Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Trotz der Bemerkung von Herrn Dr. Becker über den richtigen Zeitpunkt wage ich es doch, meine Kritik am Anfang wie folgt zusammenzufassen: Dieser Antrag steht zwar heute auf der Tagesordnung unserer Sitzung; aber er steht nicht auf der Tagesordnung der praktischen europäischen Politik.
— Ich werde Ihnen das jetzt im einzelnen darlegen.
Zunächst gestatten Sie mir einige Bemerkungen zu der Form dieses Antrags. Es heißt dort, daß die Delegierten eine solche Verfassung vereinbaren sollen „vorbehaltlich der Zustimmung der Organe der Bundesrepublik". Wenn man sagt „vorbehaltlich der Zustimmung", dann meint man also, daß diese Delegierten in Wirklichkeit die Verfassung nur ausarbeiten, einen Text festlegen sollen.
Meine Damen und Herren, um das zu tun, brauchen wir keine Ermächtigung des Bundestages. Diese Verfassung können wir, wenn es uns Spaß macht, jeden Tag niederschreiben, und wir
brauchen uns dabei nicht einmal sehr in geistige Unkosten zu stürzen; denn das haben andere schon vor uns getan. An solchen Verfassungen, die auf dem Papier stehen und auf dem Papier stehenbleiben, ist weiß Gott kein Mangel in Europa. Ich darf nur in Ihr Gedächtnis zurückrufen, daß in Interlaken 1948 eine solche Verfassung ausgearbeitet wurde. In Basel entwarf kürzlich die Internationale Parlamentarier-Union eine weitere europäische Verfassung. In Lugano machte der sogenannte Rat der Völker, der Rat der Orangerie, eine dritte europäische Verfassung. Und das sind nur die bekanntesten; es gibt daneben noch viele andere!
Wenn aber mit dem Antrag gemeint ist, daß die Delegierten in ihrer Arbeit das tun sollten, was etwa die Regierungsvertreter bei der Ausarbeitung des Textes des Schuman-Plans getan haben, dann ist doch das Pferd am Schwanze aufgezäumt. Denn man muß doch zuerst mit den anderen eine Vereinbarung darüber treffen, wie man zu Werke geht, und kann nicht von sich aus eine wichtige Frage vorentscheiden, nämlich die Frage, wer für diese Staaten und Völker beauftragt und ermächtigt sein soll, die Verfassung auszuarbeiten. Sie treffen hier eine Vorentscheidung, die in keiner Weise in sich evident ist. Daß die wenigen Vertreter im Europarat die Repräsentanten des Volkes zur Ausarbeitung einer europäischen Verfassung sein sollen, die mehr sein soll als unverbindlicher Entwurf, nehme ich doch an. Diese Entscheidung ist eine äußerst wichtige Entscheidung, und sie muß doch zuerst mit den anderen abgesprochen werden. Wie aber aus den Darlegungen von Herrn Dr. Becker hervorgeht, ist eine solche Absprache nicht erfolgt, und es handelt sich um ein völlig isoliertes Vorgehen der Regierungsparteien des Deutschen Bundestages. Es kommt also in Wirklichkeit darauf hinaus, daß dieser Antrag den Wunsch ausdrückt, daß n o c h ein Entwurf einer europäischen Verfassung zu den anderen, die es schon gibt, ausgearbeitet werde.
Herr Dr. Pünder hat hier auf die frühere Entschließung des Bundestages Bezug genommen, die vom ganzen Hause angenommen worden ist und in der der Bundestag nicht etwas forderte, sondern sich zu einem europäischen Bundespakt bekannte. Meine Damen und Herren, das war im Juli 1950! Inzwischen haben wir gesehen, und zwar gerade in Straßburg, daß es nicht möglich ist, den gesamteuropäischen Bundespakt in diesem Zeitpunkt zustande zu bringen. Wir haben gesehen, daß es überhaupt unmöglich ist, Europa von einer bundesstaatlichen Verfassung her zustande zu bringen.
Man kann nicht mit dem Dach anfangen. Man kann nicht so verfahren, Herr Kollege, wie etwa der Parlamentarische Rat mit der Bundesrepublik. Dieser konnte eine Verfassung für das Bundesgebiet ausarbeiten, weil die Basen vorhanden waren, auf die das Dach gestützt werden konnte. In Europa sind die Basen nicht vorhanden, von denen man ausgehen muß, um schließlich bei dem Dach zu landen.
Ich habe hier ein anderes, wie mir scheint, nicht unwesentliches Argument. Sie hätten wahrscheinlich diesen Antrag nicht eingebracht, wenn Sie sich etwas mehr um das gekümmert hätten, was Sie vorher in Straßburg getan haben. Dort hat wohl im
Sommer vorigen Jahres Herr Kollege von Campe, mit Unterschrift auch der übrigen Vertreter der Regierungsparteien, in der Beratenden Versammlung einen Antrag auf Ausarbeitung einer Verfassung für einen europäischen Bundesstaat eingebracht. Welches ist das Schicksal dieses übrigens sehr viel konkreteren, sehr viel besseren Antrags im Europarat gewesen? Herr von Campe wollte, daß die Beratende Versammlung durch eine Verfassungskommission binnen drei Monaten eine bundesstaatliche Verfassung ausarbeiten lassen und daß binnen weiterer drei Monate die Beratende Versammlung im Juni 1951 zu einer außerordentlichen Sitzung zusammentreten sollte, die endgültig über diese Verfassung zu beschließen gehabt hätte.
Nun, im Juni 1951 ist diese außerordentliche Sitzung natürlich nicht zustande gekommen. Aber im September hat der für solche Verfassungsfragen zuständige politische Ausschuß der Beratenden Versammlung über den Antrag von Campe und Genossen beraten, und da hat dieser Ausschuß einstimmig, einschließlich zweier Unterzeichner, zweier Mitglieder Ihrer Parteien, nämlich der Herren Dr. Gerstenmaier und von Rechenberg, den Antrag sang- und klanglos unter den Tisch fallen lassen,
weil man der Meinung war, daß das, was hier gewollt ist, weit jenseits der wirklichen politischen Möglichkeiten im gegenwärtigen Europa liege. Und keine Stimme, auch nicht aus Ihren Fraktionen, hat sich in diesem Ausschuß, wo man mit relativ viel Sachverstand an diese Dinge herangeht, für den Antrag von Campe erhoben.
Nun, Sie erneuern heute den Antrag von Campe in anderer und keineswegs besserer Form. Ich habe hier das Dokument; Sie können es vergleichen. Der Antrag von Campe wurde aus jener Atmosphäre in Straßburg geboren, in der dort historische Erinnerungen beschworen wurden und viele begeisterte Föderalisten einen Schwur leisten wollten, wonach sie nicht eher in Straßburg auseinandergehen würden, als bis sie den europäischen Völkern eine bundesstaatliche Verfassung gegeben hätten. Aber darum ist es still geworden. Es ist auch still geblieben, nachdem der Conseil de l'Orangerie ein wenig die vor Ungeduld kochende europäische Volksseele dargestellt hatte.
Die mögliche Entwicklung in Europa ist andere Wege als die der bundesstaatlichen Verfassung gegangen; die wirkliche Entwicklung ist in Richtung auf die Einrichtung von Sonderbehörden gegangen, eine an sich nicht zu beanstandende Behelfsform für europäische Entwicklungen. Nur haben die Franzosen, die französischen Diplomaten, die geniale Entdeckung gemacht, daß man durch geschickte Auswahl der Sektoren, auf denen man solche Sonderbehörden errichtet, und auch durch überlegenes Verhandlungs- und Gestaltungsgeschick — das muß man unserer Bundesregierung sagen — nationale französische politische Belange sehr wohl in europäische Formen kleiden kann. Aus dieser Politik ist der Vorschlag der Kohle- und Stahlunion entstanden, und in diesen Vorschlag ist alles Wesentliche aus der Besatzungsinstitution Ruhrbehörde hinübergerettet worden. In der Europaarmee hat man das Mittel gefunden, um die deutsche Wehrkraft mitzuverwenden, ohne deshalb Deutschland
gleichberechtigte Mitbestimmung in der politischen und in der strategischen Verwendung der Europaarmee zuzugestehen.
Im Zuge dieser französischen Politik, die Besatzungspolitik in europäische Formen umkleidet, ergab sich nun eine Lücke. Das Besatzungsstatut bröckelt ab und wird vielleicht gerade in dem entscheidenden Punkt über die Kontrolle der deutschen Außenpolitik abgeschafft. In Frankreich hat man wegen dieser Entwicklung große Sorgen, um so mehr, als das Problem der deutschen Einheit auf der Tagesordnung der Politik steht und als die Saar bei einem schlechten Gewissen auch sehr viel Sorge bereitet. Man überlegt sich in Paris, wie man auch weiterhin die deutsche Außenpolitik kontrollieren kann, so wie man es bisher mit dem Besatzungsstatut getan hat.
Aus dieser Überlegung ist der zweite Schuman-plan geboren. Das ist der Kern des ganzen Vorschlags eines politischen Pools, wie ihn Außenminister Schuman kürzlich gemacht hat, .und sehr viel weniger die sicher nicht geringen Schwierigkeiten, die auch die französische Politik mit der Verwirklichung des Schuman- und des PlevenPlans hat. Diese unsere Erfahrung mit den Tendenzen, die im Schuman-Plan und im Pleven-Plan enthalten sind und die doch auch von Ihnen nicht geleugnet werden, wenn Sie sie auch verkleinern, müßte uns zur Vorsicht mahnen. Wenn ein solcher Vorschlag aus Paris kommt, dann ist es nicht Aufgabe der deutschen Außenpolitik, sofort begeistert ja dazu zu sagen, sondern dann ist es die Aufgabe, so etwas sehr aufmerksam zu prüfen und mit seinem Urteil zurückhaltend zu sein.
Das Gegenteil ist aber der Fall. Heute zeigt es sich ja auch, daß der Antrag, der hier zur Debatte steht, als eine Unterstützung des zweiten SchumanPlanes gedacht ist. Dabei ist Ihnen aber eine Verkennung unterlaufen. Sie verkennen, daß der Vorschlag Schumans keineswegs ein Vorschlag zur Bildung der Kontinentalföderation in Europa ist, sondern er ist der Vorschlag zur Bildung einer neuen Sonderbehörde auf außenpolitischem Gebiet, und das ist etwas ganz anderes. Sie stellen sich mit Ihrem Vorschlag vor, daß die Föderation sehr vieles enthält, nicht nur die gemeinsame Außenpolitik; das darf ich doch annehmen. Sie meinen, daß da auch der gemeinsame europäische Markt geschaffen wird. Sie denken sicher nicht daran, daß es dann noch der Visen bedarf, um über die französische Grenze zu reisen. Der Schuman-Plan, so wie er jetzt entwickelt worden ist, enthält die Sonderbehörde, und Frankreich wird Ihnen weiterhin den Jugendpaß verweigern, wenn Sie ihn durch den Außenminister und Bundeskanzler beantragen sollten. Das ist also alles andere als eine europäische Föderation, das ist eine supranationale Sonderbehörde, in der mit Mehrheitsbeschlüssen auch über die deutsche Außenpolitik einschließlich der Fragen der deutschen Einheit und der Saar und der Oder-Neiße-Linie usw. beschlossen werden soll. Wenn Ihr Antrag auch in Straßburg wiederholt wird, läuft er Gefahr, das gleiche und doch nicht gerade rühmliche Schicksal zu erleiden wie der Antrag von Campe, der vor einem Jahr eingereicht wurde. Die Gefahr ist um so größer, als Sie ja nicht vergessen sollten, daß der Herr Außenminister Schuman mit seinem Vorschlag etwas voreilig gewesen ist und sich in Frankreich sehr viel Kritik dafür zugezogen hat. Sein eigenes Kabinett hat ihm die Erlaubnis versagt, seinen Plan auf der
kommenden Session in Straßburg als einen neuen französischen Vorschlag zur Einigung Europas vorzutragen.
Es hat einen zweiten französischen Fehlstart mit diesem Plan gegeben. Der Vorsitzende des allgemeinen Ausschusses der Beratenden Versammlung, der französische Sozialist Guy Mollet, hat versucht, den allgemeinen Ausschuß dazu zu bewegen, diesen Plan dem Europarat vorzuschlagen. Es zeigte sich aber eine so kritische Aufnahme, daß Guy Mollet darauf verzichten mußte. Die Kritik bei der Aufnahme des Plans war so groß, daß auch ein „eingeschrumpfter" Pool-Antrag, wie ihn der Belgier Struye vorschlug und der sich auf die Fragen beschränken wollte, die unmittelbar mit der Europa-Armee in Zusammenhang stehen, nicht der Beratenden Versammlung vorgelegt werden kann. Alle diese Pläne sind gescheitert.
Ich hatte geglaubt, daß Sie vielleicht in dieser Sache Verbindung mit den Italienern aufgenommen hatten. In jenem politischen Ausschuß der Beratenden Versammlung wurde von einem italienischen Delegierten ein Vorstoß in Richtung auf die Verwirklichung des zweiten Schumanplans gemacht. Aber auch die Italiener sind sich des Unterschiedes bewußt, der zwischen einer außenpolitischen Sonderbehörde und einer kontinental-europäischen Föderation besteht. Ich darf Ihnen einen Satz aus einem Dokument vorlesen, das der italienische christlich-soziale Delegierte Sandero unterbreitete. Da heißt es:
Wenn auch in diesem Augenblick eine Kontinentalföderation nicht zu empfehlen zu sein scheint, so ist doch eine engere Verbindung namentlich auf bestimmten Gebieten der Außenpolitik unerläßlich.
Er tritt also für den Vorschlag Schumans ein, sagt aber: „Eine Kontinentalföderation steht nicht auf der Tagesordnung der möglichen Politik".
Wenn der Vorschlag doch in Straßburg zur Debatte stehen sollte, so können wir Sozialdemokraten jetzt schon sagen, daß wir so, wie wir gegen den Pleven-Plan sind, konsequenterweise auch gegen den neuen Vorschlag von Robert Schuman sind.
— Warten Sie, ich sage es Ihnen. — Die SPD steht zu der großen Föderation so, wie wir seinerzeit in der Drucksache Nr. 1193 unseren Willen ausgedrückt haben. Diese Föderation steht aber nicht auf der Tagesordnung der möglichen Politik.
Wir sind für alle praktischen Schritte, die man in Richtung auf Abbau der Schranken zwischen den europäischen Nationen tun kann. Diese Schritte können groß oder klein sein; es kann sich um Visen oder um die Post oder um wirtschaftliche und soziale und politische Dinge handeln.
Die Voraussetzung dafür ist, daß Europa nicht mehr erneut aufgespalten wird, daß nicht zu der Spaltung in Ost und West noch eine Spaltung in Nord und Süd hinzutritt; und Voraussetzung ist, daß Deutschland gleichberechtigt — rechtlich und tatsächlich gleichberechtigt — in jede europäische Kombination eingehen kann.
Was im Augenblick verfassungsrechtlich möglich ist, wird in dem Bericht über ein neues Statut zusammengefaßt sein, das vom politischen Ausschuß
des Europarats jetzt der Session unterbreitet werden wird. Jedem, der sich dafür interessiert, kann ich dieses Dokument zum Studium empfehlen. Dort sind die Ideen des englischen Delegierten Mackay und des Italieners La Malfa verwertet. Dort werden Anfänge einer europäischen Exekutive vorgeschlagen. Dieser Vorschlag zeigt, wie verhindert werden kann, daß Europa weiter auseinanderfällt. An diesem Statut, das das äußerst Mögliche festhalten will, haben zwei Sozialdemokraten aktiv mitgearbeitet, und wir werden weiter überall da, wo praktische Schritte möglich sind, aktiv mitarbeiten.
Wir widersetzen uns der Politik Klein-Europas, und wir widersetzen uns auch jener Politik, die versucht, altmodische Besatzungspolitik in modische europäische Gewänder zu kleiden.
Wir halten uns außerdem fern von allen europäischen Konstruktionen über den Wolken. Wir glauben, daß es sich bei dem Anliegen dieses Antrags um SQ etwas handelt, und wir stimmen deshalb gegen diesen Antrag.