Rede von
Dr.
Hermann
Schäfer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Daß der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik bestimmt, haben wir heute abend schon mehrfach vernommen. Ich unterliege trotzdem nicht der Versuchung, sämtliche denkbaren Richtlinien einer langen Erörterung zu unterziehen, sondern beschränke mich darauf, einige Bemerkungen über gewisse Grundzüge der Politik, die diesen Richtlinien zugrunde liegen, zu machen. Ich muß mich in diesem Zusammenhang mit den Dingen beschäftigen, die zunächst einmal von denen hier vorgetragen worden sind, die mit den Richtlinien nicht einverstanden waren oder die ihnen eine Deutung gegeben haben, die mir mit den Absichten der Koalition — insbesondere nicht mit den Ansichten und Absichten meiner Freunde — übereinstimmend scheinen.
Meine Damen und Herren, neidlos stelle ich fest: Es ist wesentlich angenehmer, oppositionell zu sprechen; denn man hat ja die Möglichkeit, sich über alle Dinge auszulassen und selbstgefällig immer wieder festzustellen, daß dies oder jenes nicht geschehen ist. Man kann dabei wundervoll auf das etwas flüchtige Gedächtnis der Menschen speku- lieren. Viele haben heute vergessen, daß die Weltgeschichte nicht etwa 1945 oder gar mit der Gründung der Bundesrepublik angefangen hat und daß eben diese Bundesrepublik aus einer von vielen offenbar nicht mehr als aktuell empfundenen Vergangenheit Dinge hat übernehmen müssen und mit sich schleppen muß, die das Regierungsgeschäft weiß Gott sehr mühsam und sehr schwer machen. Ich glaube, das ist einmal in den Vordergrund zu rücken; j a, einige schlechte Gedächtnisse wieder an diese Tatsachen zu erinnern, scheint mir notwendig zu sein. Vor allen Dingen ist hervorzuheben, daß es im allgemeinen doch nicht zur wirtschaftlichen Einsicht gehört, den Konkursverwalter für Schäden und Mängel verantwortlich zu machen, die einstige Bankerotteure angerichtet haben,
also für die Dinge verantwortlich zu machen, die wir heute in Form von Nöten breiter Volkskreise mit uns herumschleppen, aber auch in der Form von Bindungen innerhalb einer gespaltenen Welt, zwischen großen Machtkomplexen im Osten und Westen, die sich in bedrohlicher Weise entzweien und gegeneinanderstellen. Wir stehen als Bundesrepublik dazwischen und müssen mühsam versuchen, für dieses deutsche Volk, das nach dem Zusammenbruch nun gespalten und geschwächt dasteht, allmählich wieder Leben zu gewinnen, ge-
wissermaßen Wiederbelebungsversuche zu machen, die Kräfte zu steigern und zu bewirken, daß es wieder schreiten kann.
Ich will keine konkreten Maßnahmen und Erfolge im einzelnen hier erörtern; aber ist es nicht so, meine Damen und Herren, daß diese Schritte des Staates doch recht kräftig geworden sind, daß dieser Patient doch schon ganz tüchtige Atemzüge macht? Ich verzichte auf Details, aber man sollte dies nicht vergessen!
— Nein, nein, Herr Renner, das ist ein völliger Irrtum! Aber ich möchte mich mit Ihnen nicht unterhalten, nachdem der Sprecher, der von Ihrer Fraktion zu diesem Punkte gesprochen hat, mit einer solchen Serie von Auszügen aus dem Schimpfwörterlexikon operierte, daß mir allerdings der Geschmack insbesondere an der aus Ihrer Richtung kommenden Beratungsbereitschaft sehr weitgehend vergangen ist.
Neben der Spekulation auf das schlechte Gedächtnis gibt es nun noch die weitere Methode, Polemik zu machen, indem man die Sachverhalte vereinfacht. Das ist auch so eine schreckliche Sache, die wir übernommen haben: Wir hängen in einer unglaublich komplizierten Situation, in der ungeheuer verflochtene und verzweigte innere und äußere Bedingtheiten zu berücksichtigen sind, ehe man zu einer Entscheidung und zu einem Entschluß kommen kann. Es ist natürlich wundervoll, sich sein Urteil dadurch bequem zu machen, daß man die Flucht in die Vereinfachung antritt, daß man einige Ereignisse oder Erscheinungen des Vordergrundes isoliert betrachtet, sie gleichsam zum archimedischen Punkt befördert, an dem man seine ganze, ach so weltgeschichtliche Oppositionsentscheidung aufhängt. Eine solche Darstellungsweise ist verwerflich; denn sie ist im Grunde unrealistisch. Die Wirklichkeit, meine Damen und Herren, ist kompliziert. Nur wer die Verwickeltheit der Dinge in seine Betrachtungen hineinbezieht und nicht an einzelnen Symptomen herumkuriert, macht eine realistische Politik und stellt auch die Dinge wahrheitsgemäß dar. Eine Erscheinung, die wirklich sein mag, ist, aus dem Zusammenhang gelöst, noch nicht die Wahrheit; sondern die Wahrheit ist immer das Ganze einer Vielgestaltigkeit von Verwicklungen und Erscheinungen.
Eine andere Art der agitatorischen Auseinandersetzung ist eine Polemik in der Weise, daß man gegen Dinge polemisiert, die eigentlich gar nicht vorhanden sind, indem man dem politischen Gegner, in diesem Falle der Bundesregierung, Absichten unterstellt, die gar nicht vorhanden sind. Umso kräftiger zieht man gegen sie vom Leder. Dazu gehörte heute die Geschichte von der Politik der Vorleistungen, obwohl sie nie ausgesprochen, nie gefordert, nie getan worden sind. Dazu gehört die Geschichte *von der Saarerklärung, bei der man aus einer bestimmten Form der Behandlung einer bestimmten Note eine Zustimmung zu einer Auffassung erdichtet, die in einer bestimmten Erklärung der franzöischen Regierung enthalten gewesen ist. Nichts davon ist klar. Darüber aber herrscht doch wohl Klarheit, daß die Außenpolitik etwas Komplizierteres ist als einfach ein spontanes Reagieren auf irgendwelche Äußerungen. Auch in solchen Fragen wie die der Saar ist — ich glaube, in diesem Hause besteht über die Frage der Ansprüche, die , wir zu stellen haben, über die Forderungen und Erwartungen, die immer der Hintergrund unserer Haltung sind, überhaupt keine Meinungsverschiedenheit — der Blick sehr sorgfältig auf die verwickelten Zusammenhänge zu richten, die diese auch an sich einfach erscheinende Angelegenheit verwickelt machen.
Ferner ist über die mangelnde Koordinierung des Kabinetts, über die mangelnde Koordinierung der Koalitionsparteien gespöttelt worden. Ich habe schon einmal früher an dieser Stelle erklärt, daß ja eine Regierungskoalition schließlich kein gleichgeschalteter Verein ist. In Wirklichkeit ist eine Koalition eine Summe von Individuen, oder man kann — nachdem das Wort von der Opposition in der Koalition gefallen ist — es auch eine Addition von Individualoppositionen nennen. Sie ist zugleich eine Integration, indem nämlich aus einer Reihe von Auseinandersetzungen sich eine bestimmte Einheitlichkeit der Grundauffassungen und der Entscheidungen im Einzelfall herausbildet. Und das ist in fast allen wesentlichen Dingen bisher der Fall gewesen. Und von ihr, meine Damen und Herren, ist doch im Grunde genommen die eigentliche staatliche Entwicklung der Bundesrepublik getragen worden.
Denn was ist denn unsere Pflicht gewesen, seitdem wir hier zusammengekommen sind? Wir hatten eine ungeheure Fülle von Gesetzen zu machen. Der Staat war ja nicht mit dem Grundgesetz da. Im Grundgesetz waren nur ein paar Aufrisse, nach denen das staatliche Leben sich entwickeln soll. Davon ausgehend mußte die Fülle der konkreten Dinge gemacht werden. Es war nicht an eine Entwicklung der Vergangenheit anzuknüpfen. Es war ganz anders als in Weimar. Da machte man eine Verfassung, fuhr nach Berlin, und im Grunde genommen konnte man sich auf einen vorhandenen Apparat stützen, der weiterging. Hier war das nicht möglich, sondern die Apparatur mußte überhaupt erst errichtet werden. Es mußte eine Fülle von Gesetzen gemacht werden, die die auseinandergelaufene Rechtsentwicklung umkehrte oder anhielt. Es mußte die finanzielle Grundlage und aus ihr die Möglichkeit geschaffen werden, nun mit der Behebung der ungeheuer vielen Nöte und Mängel, die aus der Vergangenheit überkommen waren, zu beginnen. Wenn man die Dinge so sieht und in den geschichtlichen Zusammenhang rückt und dann die weltpolitische Situation würdigt, dann, glaube ich, hat man erst die richtigen Maßstäbe, um zu sagen, ob richtig, ob schlecht oder falsch gehandelt worden ist.
Es ist hier eben von der Opposition ein Klagelied angestimmt worden, als man sagte: das wäre so schrecklich, daß man sich gar nicht bemühe, die Opposition zu verstehen. — Doch, meine Damen und Herren, wir haben sehr oft versucht, Sie zu verstehen; denn uns lag an diesem Verstehen. Wir waren der Meinung, daß zumindest in den Dingen der Außenpolitik eine gemeinsame Linie sein müßte und daß außenpolitische Maßnahmen und Geschehnisse niemals Gegenstand einer innerpolitischen Rivalität werden dürften. Das ist uns aber nicht möglich gewesen. Sehen Sie einmal: ich habe relativ früh mit politischer Betätigung angefangen und bemühe mich nun jetzt an die 40 Jahre im Sinne einer Demokratisierung des deutschen Lebens. Da haben wir sehr oft diesen Weg auch an der Seite der Sozialdemokraten beschritten. Ich muß Ihnen sagen, meine Damen und Herren, das ist heute in diesem Hause nicht mehr verständlich. Wir haben im Gegenteil das Gefühl, daß viel wichtiger als die
Idee der Demokratie bei ihnen der Wille geworden sei, alle Dinge irgendwie machtpolitisch zu sehen,
und daß hier aus einem Mißverstehen des Wesens der Macht in der Demokratie Haltungen und Handlungen entstehen, die letzten Endes von einer verhängnisvollen Wirkung für unser gesamtes staatliches Leben sind.
Wir sehen j a schon die ersten Wirkungen, indem sich nämlich anknüpfend an dieses Unmaß oppositioneller Kritik nun Bewegungen und Strömungen hervorwagen, die unzweideutig das Zeichen restaurativer Tendenzen an der Stirn tragen. Ich weiß nicht, ob das gut und klug ist, eine Form der innerpolitischen Auseinandersetzung zu betreiben, bei der letzten Endes die Republik in Gefahr gerät. Es kommt nicht nur auf die republikanischen Bekenntnisse an, sondern es kommt auf eine republikanische Haltung an, die aus dem Willen geboren sein muß, den Staatsgedanken höher zu stellen als die parteipolitische Macht.
Meine Damen und Herren, das sollte uns auch immer wieder veranlassen, alles zu vermeiden, was letzten Endes unsere Auseinandersetzung unnötig kompliziert. Ich habe eben gesagt: die Gefahr ist, daß man ein paar Details herausgreift und sein Urteil über die ganze Gegenwart an ein paar Äußerlichkeiten orientiert. Aber eine andere Gefahr liegt auch darin, daß man nämlich über unnötige Details redet. Ich glaube, wenn eben noch einmal die Frage angeschnitten worden ist, ob die republikanische oder die monarchistische Staatsform zur Debatte stehe, dann sind wir uns doch alle darüber klar, daß das nur ein Spiel mit Reminiszenzen ist, was bestenfalls dabei herauskommen könnte, aber niemals eine Erkenntnis, die für das deutsche Volk einen aussichtsreichen Weg in die Zukunft darstellt. Darauf kommt es letzten Endes an und nicht auf rückwärtige Orientierung, also auf eine verschiedenartige Vorstellung von dem, was in der Vergangenheit war.
Es ist überhaupt immer wieder die Gefahr, sich auseinanderzureden, wenn man auf historische Betrachtungen kommt. Nichts ist umstrittener als eine wahrheitsgemäße geschichtliche Darstellung. Man kann nämlich die Ereignisse so wundervoll je nach Bedarf aneinanderreihen und deuten und dann zu diesem oder jenem Ergebnis kommen. Die Historie ist für die praktische Politik ein sehr, sehr fragwürdiges Instrument. Man kann gewisse negative Erfahrungen gelten lassen. Man kann sagen: man wiederholt bestimmte Dummheiten der Vergangenheit nicht. — Schön, meine Damen und Herren; einverstanden! Aber sind wir nicht im Begriff, bestimmte Dummheiten zu wiederholen,
— ja doch! —, gewisse Töne wieder zu erleben? Da weiß ich nicht, meine Damen und Herren auf der Linken, ob nicht manchmal bei Ihnen die Töne, namentlich wenn sie allmählich einen geradezu chauvinistischen Charakter anzunehmen drohen, auf einem falschen Geschichtsbild, oder wie Sie das nennen wollen, beruhen. Ich habe bisher nicht an die Seelenwanderung geglaubt; aber wenn ich manchmal gewisse Töne aus Ihren Reihen höre, dann habe ich das Gefühl, als wenn etwa der
unselige Helfferich wieder lebendig geworden sein könnte.
Ich möchte nur nicht, daß diese Töne und die Zuspitzung der Leidenschaften im innerpolitischen Leben dann wieder zu Ergebnissen führten, die wir schon einmal durchgemacht haben.
So ergibt sich bei all diesen Betrachtungen hier immer wieder nicht nur die Bewertung der konkreten Details, sondern wir müssen zu gleicher Zeit die Grundzüge der Entwicklung sehen. Wir stehen alle in der Gefahr, uns hier fortgesetzt in Einzelheiten zu verlieren, weil wir täglich zu einer solchen Fülle von praktischen Entscheidungen Stellung nehmen müssen. Aber wir dürfen doch den Blick auf die großen Zusammenhänge nicht verlieren. Meine Freunde und ich sind der Überzeugung, daß wir dann, wenn wir in einer ebenso eigenwüchsigen wie kritischen Beteiligung an dieser Koalition mitwirken, einer Aufwärtsentwicklung des deutschen Volkes dienen.