Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die sozialdemokratische Fraktion hat am 14. dieses Monats den folgenden Antrag eingebracht:
Der Bundestag wolle beschließen:
Die Bundesregierung wird ersucht, bei dem Herrn Hohen Kommissar der Vereinigten Staaten von Amerika Verwahrung wegen der Niederschlagung des Strafverfahrens gegen Kernritz einzulegen und zu erwirken, daß das gegen Kemritz als Rechtsanwalt gerichtete Ehrengerichtsverfahren unverzüglich durchgeführt werden kann.
Zur Begründung dieses Antrags habe ich die Ehre, dem Hohen Hause folgendes vorzutragen.
Nicht die Lautstärke der Entrüstung, sondern allein der Ernst und die Sachlichkeit unserer Beweggründe werden diesem Anliegen das außerordentliche Gewicht geben, das ihm zukommt.
Wir Sozialdemokraten, die wir bestrebt sind, Deutsche zu sein, die international denken und zuallererst stets menschlich zu empfinden, sind uns der Gefahr bewußt, daß Unberufene versuchen werden, auch aus dem Fall Kemritz eine nationalistische Fanfare zu machen
oder Prinzipien zu vertreten, die von ihnen selbst nicht gewahrt worden sind. Uns schreckt diese Gefahr nicht. Sie wird uns nicht hindern dürfen, zum Fall Kemritz zu reden. Aber wir werden hierbei auch nicht darüber schweigen, daß nach unserer Überzeugung hier niemand mitzusprechen befugt ist, der die Beisetzung der in Landsberg hingerichteten Ohlendorf und Schmidt zum Vorwand einer Hetze nahm, die als schamlos gebrandmarkt werden muß
und die den deutschen Namen wieder mit Schande bedeckt hat. Wir haben uns aus Treue zu unserm Grundgesetz gegen die Galgen auf deutscher Erde gewandt, und wir glauben, daß man an Gräbern schweigen soll; aber die Lebenden prangern wir an, die sich durch Kranzspenden und den Mißbrauch ehrwürdiger Sitten noch über das Grab der Täter hinaus zu mörderischen Verbrechen bekannten.
Seit Potempa ist der deutsche Name, sind Menschlichkeit und Rechtlichkeit nicht so abgrundtief entwürdigt worden wie in Höxter und Hoheneggelsen.
Verbürgten Nachrichten zufolge haben sich Vertreter auch der DP und der FDP daran beteiligt.
Wer daran mitschuldig wurde, kann auch zum Fall Kemritz nicht Gehör beanspruchen.
Diese Trennung ziehe ich messerscharf.
Was uns am Fall Kemritz bewegt, was uns zu unserem Antrag bestimmt, daß die Bundesregierung im Namen Deutschlands Verwahrung einlegen soll, ist nicht allein die Schwere der Beschuldigungen, die sich gegen Kemritz richten, sondern sind weit mehr noch Art und Inhalt der
Entscheidung, die das Rechtsamt des Hohen Kommissars
der Vereinigten Staaten von Amerika am 13. Juni dieses Jahres bekanntgegeben hat. Uns treibt die Sorge, daß durch diese Entscheidung aus dem Fall Kernritz ein Fall „Menschenrechte" werden könnte.
Kemritz, ehedem Hitlers Parteigenosse und deshalb seit 1933 in den Vorstand der Berliner An- waltskammer berufen, war während des Krieges Abwehroffizier. - Aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft konnte er wohl nur deshalb 1945 gleich entlassen werden, weil er sein Anwaltsbüro im Ostsektor Berlins zur Menschenfalle machte. Unter hinterlistigen Vorspiegelungen lockte er eine Reihe von Frauen und Männern in sein Büro, um sie dem Zugriff des sowjetischen Staatssicherheitsdienstes preiszugeben.
Das geschah 1945 und 1946. Im Jahr 1947 flogen die Amerikaner Kemritz mit seinem gesamten Hausstand aus Berlin aus,
verschafften ihm als einzigem deutschen Staatsangehörigen eine Villa am Philosophenweg in Bad Homburg und erwirkten seine Zulassung als Rechtsanwalt und seine Ernennung zum Notar.
Als 1950 ruchbar wurde, unter welch schwerem Verdacht Kemritz steht, leitete die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren ein und erwirkte richterlichen Haftbefehl. Da machte die amerikanische Besatzungsbehörde auf Grund des Besatzungsstatuts von ihrem jus evocandi Gebrauch und zog die Strafverfolgung an sich, mit der Begründung, die Interessen der Besatzungsmacht seien berührt.
Nunmehr hat die amerikanische Besatzungsbehörde drei Entscheidungen getroffen. Erstens hat sie in Berlin die Klagen auf Schadenersatz verboten, die gegen Kemritz von den Hinterbliebenen seiner Opfer angestrengt waren; zweitens hat sie das ehrengerichtliche Verfahren der Rechtsanwaltskammer Frankfurt untersagt; drittens hat der amerikanische Oberstaatsanwalt die Untersuchung fallengelassen.
Ich gehe der Reihe nach auf die einzelnen Entscheidungen ein. Das Verbot des Zivilprozesses der Hinterbliebenen ist unzulässig, da es die Interessen der Besatzungsmacht nicht berühren kann, ob und welche Ansprüche die Hinterbliebenen gegen Kemritz haben. Das ohnehin längst in seinen Grundlagen erschütterte Besatzungsstatut vermag einen solchen Eingriff in private Rechtsbeziehungen zwischen Deutschen nicht zu decken und sollte nicht in einer Weise angewandt. werden, die Erinnerungen wachruft, welche sehr bedenklich stimmen.
Ich entsinne mich, daß ich 1934 eine Klage gegen die Deutsche Arbeitsfront, vertreten durch Robert Ley, angestrengt habe, und zwar im Auftrage der Hinterbliebenen des an den Folgen der sogenannten „Schutzhaft" umgekommenen letzten Direktors der Arbeiterbank, in Berlin. Auch die Nationalsozialisten hatten sich damals durch ein besonderes Gesetz ein jus evocandi vorbehalten für alle Ansprüche, die mit der sogenannten „nationalen Re-
volution" zusammenhingen. Davon wurde in diesem Prozeß zum erstenmal in Deutschland Gebrauch gemacht. Die NS-sogenannte-„Regierung" erhob Einspruch gegen die Verhandlung vor dem Landgericht Berlin und zog die Sache an sich. Nach einigen Monaten erhielt ich ein Schreiben des Polizeipräsidenten von Berlin. Darin teilte mir der Polizeipräsident von Berlin mit: „Ich", der Polizeipräsident, „erachte die Ansprüche der Witwe Bachem für unbegründet." Das war- alles.
Ich denke, es sollte im Interesse der Besatzungsmacht liegen, derlei Beispiele nicht nachzuahmen.
Ich denke, die Besatzungsmacht sollte auch kein Interesse daran haben, gegen das Finanzamt Herrn Kemritz den Genuß der amerikanischen Zahlungen für geleistete Dienste unversteuert zu erhalten.
Auch das Verbot des ehrengerichtlichen Verfahrens ist unzulässig. Wer nach deutschem Recht deutscher Rechtsanwalt sein kann, ist eine ausschließlich deutsche Angelegenheit.
Der Hinweis auf das Gesetz Nr. 14 des Rats der Alliierten Hohen Kommission geht fehl. Nach Art. 3 Ziffer 12 dieses Gesetzes wird bestraft, wer gegen eine Person wegen ihrer Zusammenarbeit mit den Alliierten Streitkräften eine disziplinarische Maßnahme einleitet. Unter der hier mit Recht gegen nationalistische Werwölfe geschützten Zusammenarbeit kann doch nach einer Rechtsauffassung, die sich den Freiheiten der westlichen Welt und den Menschenrechten verpflichtet weiß, allein eine solche Zusammenarbeit verstanden werden, die die Menschenrechte und die Menschenwürde wahrt.
Ich bekenne mich zu einer solchen Zusammenarbeit, seit ich im August 1945 zusammen mit der verehrten Frau Kollegin Helene Weber dazu aufgefordert wurde, in Marburg an einer solchen Zusammenarbeit teilzunehmen. Wir glauben daran, daß in aller Welt die Demokratie unteilbar ist, und sind stolz darauf, als Demokraten mit den. Demokraten aller Nationen für den Frieden, die Freiheit und die Völkerversöhnung von ganzem Herzen zusammenzuarbeiten.
Aber was hat das mit Kemritz zu tun?
Man kann. es doch unmöglich Zusammenarbeit nennen, wenn da einer sich auf eigene Faust und aus schäbigem Eigennutz zum Hund der Besatzungsmächte macht.
Nichts anderes hat Kemritz, wenn die Beschuldigungen gegen ihn wahr sind, getan. Er hat sich verkauft und insbesondere seine früheren eigenen Untergebenen aus seiner Dienststelle in verräterischer Weise in seine sowjetzonale Menschenfalle gelockt, indem er den ihm arglos Vertrauenden vortäuschte, er wolle und könne ihnen beruflich oder kameradschaftlich behilflich sein. — Wahrhaftig, wir wollen doch beiderseits etwas mehr Achtung vor dem haben, was wir mit dem schönen Wort „Zusammenarbeit" bezeichnen!
Mit Recht hat deshalb der hessische Justizminister
Zinn Kemritz das Betreten der Gerichte verboten
und ihn als Rechtsanwalt und Notar ausgestoßen.
Meine politischen Freunde und ich erklären uns mit unserem Freunde Georg August Zinn solidarisch!
Ich komme nun zuletzt zu der Verlautbarung vom 13. Juni, mit der das Rechtsamt des amerikanischen Hohen Kommisssars die Einstellung des amerikanischen Strafverfahrens gegen Kernritz begründet hat. Diese Verlautbarung hat eine neue und sehr ernste Lage geschaffen, deren Bedeutung über den Einzelfall Kemritz hinausgeht. Ich glaube sagen zu dürfen, daß eine Verlautbarung so nicht abgefaßt worden wäre, hätte Mr. McCloy selber die Amtsgeschäfte führen können. Ich bin überzeugt, daß weder Mr. MoCloy noch das in der großen Tradition seiner Unabhängigkeitserklärung und der Menschenrechte lebende amerikanische Volk und seine Repräsentanten mit dem bösen Geist dieser Verlautbarung in Verbindung gebracht werden können. Das ist der Geist, den wir aus der Einwirkung auf die Denazifizierung kennen, aus dem Bestreben, die Bestätigung der Auslandsschulden zum Anerkenntnis eines separaten Weststaates zu machen, aus der verspäteten Morgenthau-Ideologie,
die mit einer falschen Dekartellisierung insbesondere die europäische Idee einer Montanunion kompromittierte, ein Geist, der unamerikanisch, der — jedenfalls im Ergebnis — prosowjetisch ist.
Auf drei angebliche Gründe stützt sich diese Verlautbarung. Erstens: Alle von Kemritz den Sowjets ausgelieferten Deutschen hätten zwangsläufig der Verhaftung unterlegen. Zweitens: Eine Unterstützung bei den Verhaftungen sei deshalb „legal" gewesen. Drittens: Kemritz habe einen wertvollen Beitrag zur Sicherheit des Westens geleistet.
Bereits die erste Behauptung ist unzutreffend. Erich Klose und Reinhard Dannenberg, beide von Kemritz in seine Menschenfalle gelockt und beide in sowjetzonalen Konzentrationslagern umgekommen, waren schon durch schriftlichen Bescheid der zuständigen amerikanischen Besatzungsbehörde bedingungslos aus dem automatischen Arrest entlassen.
Bei dem ebenfalls verschleppten und umgekommenen Bürgermeister a. D. Rieckenberg ist kein Grund für einen automatischen Arrest ersichtlich. Ich glaube, das gleiche gilt für den Physiker Dr. Faust, der sich mit Raketenerfindungen beschäftigt hat. Sonst war bisher nur bekannt, daß den „RaketenDeutschen" nach dem Einmarsch besondere Vorrechte eingeräumt wurden.
Keines der Opfer war übrigens Nationalsozialist, — einzig Kernritz selbst!
Auch die zweite Behauptung geht fehl. Ich habe schon ausgeführt, daß die Art und Weise, wie Kemritz die sowjetrussischen Verhaftungen unterstützte, arglistig und verwerflich war. Überdies ist doch die hier herausgestellte Legalität keine andere als die, die im Nürnberger Hauptprozeß die angeklagten Repräsentanten der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft für sich in Anspruch zu nehmen suchten. Will man sich schon formalistisch an den Buchstaben des Besatzungsrechtes halten, so besaß der sowjetrussische Staatssicherheitsdienst keinerlei Rechte, in den Westsektoren Berlins Personen festzunehmen, die dort sogar ordnungsmäßig gemeldet und registriert waren. Weshalb hat denn der sowjetrussische Staatssicherheitsdienst die Auslieferung nicht bei dem zuständigen Kommandanten beantragt,
wenn alles mit rechten Dingen zuging?
Aber auch das ist noch nicht das Entscheidende. Kemritz hat ja Beihilfe nicht nur zu Verhaftungen, sondern zu Ermordungen geleistet.
Kemritz hat auf eigene Faust und zum eigenen Vorteil Menschen, die er in die Falle lockte, an eine Macht ausgeliefert, von der er wußte, daß sie totalitär ist, daß sie keine rechtsstaatlichen Grundsätze ihres Verfahrens kennt, daß sie die Menschenrechte nicht achtet. Kemritz wußte, daß die von ihm Verratenen im Dunkel und Elend eines Lagers verschwanden, wo die Zeitdauer ungewiß, Mißhandlungen aber gewiß und der Tod wahrscheinlich waren. Aus diesen selben Lagern .sind 1950 nach der sogenannten Entlassungsaktion etwa 3500 Menschen wehr- und schutzlose Objekte einer gelenkten Justiz der berüchtigten Waldheimer Prozesse geworden, wo jeweils innerhalb weniger Minuten befohlene Urteile ausgesprochen wurden, die insgesamt viele Jahrtausende Zuchthaus verhängten.
32 Todesurteile wurden im November 1950 auf deutschem Boden vollstreckt.
Wie sollen wir denn noch gegen diese sowjetzonale Schreckensjustiz protestieren, wenn manderlei Verhaftungen als „legal" bezeichnen will?
Und ungezählt sind darüber hinaus die Toten der Konzentrationslager. Erich Klose, Reinhard Danneberg, Jürgen von Hake, Bürgermeister Rieckenberg, Dr. Faust, Opfer der Kemritzschen Menschenfalle, sind sogar ohne jeden Schein eines Urteils umgekommen und irgendwo verscharrt worden.
Wenn das legal war, dann heißt dies: der Nurnberger Prozeß hat nicht stattgefunden!
Oder es heißt: es gibt Verbrechen gegen die Menschlichkeit allein von Deutschen, aber nicht an Deutschen.
Die dritte Behauptung schließlich, Kemritz habe einen wertvollen Beitrag zur Sicherung des Westens geleistet, ist nicht schlüssig. Ich will davon ausgehen, daß dieser Beitrag wertvoll war. So unmöglich es aber ist, die Entscheidung darüber, ob Menschenraub ein Unrecht ist, von der Politik abhängig zu machen, Menschenraub also nur dann für rechtswidrig zu erklären, wenn er zugunsten einer feindlichen Macht, nicht aber zugunsten eines vermeintlich Alliierten verübt wird, ebenso unmöglich und unheilvoll ist es doch, die Frage nach Recht oder Unrecht einer Tat mit dem Nutzen zu verknüpfen, den man von einem Täter hatte.
Denn hierin würde sich nichts anderes offenbaren als das krasse Eingeständnis, daß die Staatsräson über dem Recht stehe, daß ein Zweck die Mittel heilige, daß Recht sei, was der Macht nütze.
Ich kann nicht anerkennen, um einen in diesem Hohen Hause vielleicht unliebsamen Vergleich zu ziehen, daß die Beihilfe zu befohlenen Festnahmen, die einer dadurch leistete, daß er dabei mitwirkte, jüdische Menschen durch die ZwangsVornamen Sara und Israel in Form einer Verordnung und eines Kommentars dazu für den Häscher zu kennzeichnen, daß eine solche Beihilfe zur Unmenschlichkeit durch geheime Dienste ausgeglichen würde. Man kann die Freiheit, man kann Würde und Recht des Menschen nicht verteidigen, indem man vor der Ideologie des Totalitarismus kapituliert. Es ist jedoch eine bedingungslose Kapitulation vor dem Totalitarismus, wenn man wie Klaus Fuchs und andere Atomspione aus einer Ideologie heraus dem Wahn huldigt, daß jedes Mittel recht ist, wenn es nur die Macht der über alles gesetzten Ideologie vermehrt.
Hier findet sich auch der tiefste Grund, warum die Enthüllungen über Kemritz und mehr noch jene unselige Verlautbarung vom 13. Juni wie ein seelisches Erdbeben die Menschen in Deutschland erschüttern. Ich glaube, selten hat eine Zeitschrift eine solche Aufmerksamkeit gefunden, wie die Berliner Illustrferte, als sie ihren Tatsachenbericht über den Fall Kemritz brachte. Die Menschen fragen sich, ob ihre Menschenrechte davon abhängen, welche Mächte untereinander militärisch und politisch befreundet oder ver feindet sind. Die Menschen fragen sich, ob sie nur wechselseitig Opfer gnadenloser Machtansprüche sind.
Was erwarten die Menschen aus allen Teilen Deutschlands, aber ganz besonders aus der sowjetischen Zone in dieser Stunde von uns? Daß wir ihnen und aller Welt eindeutig und unerschrocken sagen: Wir verwahren uns dagegen, daß Menschenrecht und Menschlichkeit von der Politik oder von irgendeiner Staatsräson abhängig sein sollen.
Wir machen vor jedermann und vor jeder Macht auf dieser Welt geltend, daß die Deutschen wie die Angehörigen aller anderen Völker der Erde als Menschen vor den Gesetzen der Menschlichkeit gleich sind.