Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir bedauern, daß die unzulängliche Behandlung des Problems der Versorgung der Kriegsopfer durch die Bundesregierung den Antrag auf Änderung des Grundgesetzes ausgelöst hat. Die Einbringung dieses Antrages im Bundestag erfolgte im zeitlichen Zusammenhang mit einer sehr scharfen Kritik an den Praktiken der Bürokratie aller Verwaltungsstufen bei der Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes. Das hat zur Folge, daß seine Behandlung Gefahr läuft, in einer Atmosphäre der Spannungen und der Gereiztheit stattzufinden, die der Sache nicht zuträglich ist. Es wäre aber falsch, der antragstellenden Fraktion deshalb etwa Vorwürfe zu machen. Denn die Schuld an dieser Entwicklung trägt die Bundesregierung in vollem Umfange. Die fortgesetzte politische Fehlbewertung des Problems der Kriegsopferversorgung durch den Herrn Bundesminister für Arbeit konnte auf die Dauer nicht ohne politische Folgen bleiben, und die Notwendigkeit der Behandlung des vorliegenden Antrages ist letztlich die Konsequenz der Fehler, die in der Vergangenheit gemacht worden sind.
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir einen Rückblick auf die Entwicklung bis zum heutigen Tage. Schon in der Zeit des Frankfurter Wirtschaftsrates hatte der Herr Minister Storch, damals in seiner Eigenschaft als Direktor der Verwaltung für Arbeit, die Gelegenheit, eine umfassende Planung für all die Schritte vorzubereiten, die zur Lösung der Kriegsopferfrage eingeleitet werden mußten. Leider beschränkte er sich damals auf die Vorbereitung von Koordinierungsmaßnahmen mit ausgesprochenem Übergangscharakter. So kam es, daß nach dem Zusammentritt des Bundestages keinerlei Pläne darüber vorlagen, wie das gesamte Problem umfassend gelöst werden konnte. Deshalb war auch der Bundestag gezwungen, als erste gesetzliche Maßnahme auf diesem Gebiet das in seinem Wert ziemlich fragwürdige und so umstrittene Überbrückungsgesetz zu behandeln, welches in keiner Weise geeignet war, tie Aufgabe einer echten und dauernden Lösung näherzubringen. Aber auch nach der Verabschiedung des Überbrückungsgesetzes versäumte es der Herr Bundesarbeitsminister, eine planvolle Entwicklung einzuleiten. Deshalb konnte auch das Bundesversorgungsgesetz nicht, wie es vom Bundestag ursprünglich gefordert worden war, im April, sondern erst im Oktober verabschiedet werden.
Diese Verzögerung des Gesetzes hätte die Vorwegnahme der Neuordnung der Versorgungsverwaltung geradezu gebieterisch gefordert. Aber auch das ist versäumt worden. Das sogenannte „Organisationsgesetz" wurde dem Bundestag nach dem Bundesversorgungsgesetz zugeleitet, anstatt es vor der Verabschiedung des Bundesversorgungsgesetzes dem Hause zur Beschlußfassung vorzulegen. Das wäre aber unbedingt notwendig gewesen, um die Voraussetzungen für die reibungslose und rasche Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes rechtzeitig zu schaffen. Die Bundesregierung hat es bei der Ausarbeitung dieses Organisationsgesetzes darüber hinaus versäumt, die Möglichkeiten des Art. 84 des Grundgesetzes voll auszuschöpfen, so daß bei der Behandlung dieses Entwurfes im Kriegsopferausschuß von uns damals schon die Frage nach einer Änderung des Grundgesetzes aufgeworfen werden mußte. Die Bundesregierung hat unsere Bedenken im Kriegsopferausschuß seinerzeit mit Bestimmtheit zurückgewiesen und erklärt, ihre Vollmachten zur Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes seien durchaus ausreichend. Wir haben damals unseren Antrag zurückgestellt, um die Schwierigkeiten nicht zu vermehren, und gleichzeitig in der bestimmten Erwartung, daß die Bundesregierung ihre Zusagen halten würde.
Noch eine weitere Chance hat der Herr Bundesminister für Arbeit versäumt, indem er den von ihm selbst geschaffenen Beirat für Versorgungsrecht nicht in der Weise wirksam werden ließ, wie dies im Interesse der Sache geboten gewesen wäre. In diesem Beirat für Versorgungsrecht sind neben den Vertretern der Länder zugleich die Vertreter der Kriegsopferorganisationen, so daß die Möglichkeit bestehen würde, alle Maßnahmen der Verwaltung mit den Beteiligten, und zwar sowohl mit den betroffenen Kriegsopfern als auch mit den beteiligten Verwaltungsorganen der Länder, durchzusprechen. Aber dazu wäre es notwendig gewesen,
Deutscher Bundestag — 13e. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. April 1951 5463
diesem Beirat für Versorgungsrecht auch das politische Gewicht zu geben, das seiner Bedeutung entspricht. Das ist von dem Herrn Bundesminister für Arbeit versäumt worden. Denn er hat, glaube ich, außer an der konstituierenden Versammlung an keiner Sitzung des Beirats teilgenommen und ist auch nicht durch seinen Staatssekretär vertreten worden. Dadurch wurde die ganze Tätigkeit des Beirates von vornherein auf eine sekundäre Funktion beschränkt, und eine politische Wirksamkeit der Beschlüsse, die in diesem Beirat gefaßt worden sind, ist nie zutage getreten.
Nun stehen wir — und ich glaube, mit uns auch die übrigen Teile des Hauses — durch die unerfreuliche Entwicklung der Dinge vor der Frage, ob eine Änderung des Grundgesetzes der richtige Weg ist, um die aufgetretenen Schwierigkeiten an der Wurzel zu beheben. Der Herr Bundesminister für Arbeit hat bei der Behandlung seines Haushalts hier im Hause bittere Klagen darüber geführt, daß die Länder nicht bereit seien, das Bundesversorgungsgesetz entsprechend dem Willen des Gesetzgebers und der Bundesregierung durchzuführen. Wenn man sich den Art. 84 des Grundgesetzes genauer ansieht, muß man die Frage aufwerfen, mit welcher Berechtigung der Herr Bundesminister für Arbeit sich in diesem Hause darüber beklagt. Aber nicht allein das, er hat sich darüber hinaus zu Vorwürfen verstiegen, die nicht ohne Widerspruch der Länder geblieben sind. Wir müssen in diesem Falle den Ländern recht geben. Denn was der Herr Bundesminister von den Länderbeamten verlangt hat, war nicht mehr und nicht weniger als ein glatter Verfassungsbruch. Er hat nämlich den Landerbeamten zugemutet, daß sie nach Richtlinien arbeiten, die den vorgeschriebenen Weg des Grundgesetzes noch nicht gegangen sind und damit praktisch auch keine rechtliche Bedeutung haben. Es kann den Länderbeamten beim besten Willen nicht zugemutet werden, ein Gesetz nach Richtlinien zu handhaben, die lediglich informatorischen Charakter besitzen und zu denen sich die im Grundgesetz vorgesehenen Körperschaften noch nicht geäußert haben. Wir sind sehr erstaunt gewesen über den gewagten Sprung, mit dem sich der Herr Bundesminister für Arbeit neulich über die Hürden des Grundgesetzes hinweggesetzt hat. Wir sind der Auffassung, daß er das nicht wieder tun sollte; denn er könnte dabei leicht ins Stolpern kommen.
Wenn uns heute die Entwicklung zwingt, eine Änderung des Grundgesetzes ins Auge zu fassen, dann trägt dafür letztlich die Bundesregierung die Verantwortung. Die sachliche Notwendigkeit des vorliegenden Antrages kann heute nicht mehr bestritten werden. Sie ergibt sich aus der Tatsache, daß das Bundesversorgungsgesetz dem Hause mit sehr großer Verspätung vorgelegt und demgemäß mit sehr großer Verspätung in Kraft gesetzt worden ist. Darüber hinaus mußte das Bundesversorgungsgesetz auf Grund der prekären Finanzlage der Bundesrepublik bei der Bemessung der Leistungen die sozialen Verhältnisse im Einzelfalle so stark in den Vordergrund treten lassen, daß eine weitgehende Individualisierung bei der Rentenzumessung die Folge ist. Durch diese Kompliziertheit des Bundesversorgungsgesetzes besteht die große Gefahr, daß die vom Gesetzgeber vorgesehenen Renten den Kriegsopfern erst nach sehr langer Zeit zukommen. Ja, es besteht die große Gefahr, daß die Notlage der Kriegsopfer durch die weiten Wege des Grundgesetzes geradezu verewigt wird. Die dadurch hervorgerufene Unzufriedenheit in einem Personenkreis, der mehr als vier Millionen Menschen umfaßt und mit den Familienangehörigen nahezu 10 °/o der gesamten Bevölkerung der Bundesrepublik ausmacht, kann zu einer Gefahr für den Staat werden. Es muß deshalb ein Weg gefunden werden, auf dem die notwendigen Anweisungen zur Durchführung des Gesetzes so schnell als möglich in die Praxis umgesetzt werden können.
Herr Kollege Laforet, wenn Sie sich das Grundgesetz in seiner gegenwärtigen Fassung ansehen, werden Sie erkennen, daß es zum Teil nahezu zu einem „circulus vitiosus" führt, weil immer wieder der Bundesrat eingeschaltet werden muß. Jede Ablehnung einer Vorschrift durch den Bundesrat führt zwangsläufig zu einer neuen Behandlung im Ministerium und in den Unterausschüssen des Bundesrats. Bei dem gegenwärtigen Stande der Entwicklung auf diesem Gebiet, bei dem nahezu 90 % aller Versorgungsberechtigten noch die gleiche Rente bekommen, wie sie im Jahre 1947 Rechtens war, bei den ständig steigenden Lebenshaltungskosten ist es einfach nicht zu verantworten, daß Verzögerungen in der Herausgabe von Verwaltungsvorschriften oder -richtlinien für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes eintreten. Denn letztlich sind doch nicht die Menschen für die Gesetze da, sondern die Gesetze für die Menschen, und ich darf hier ein Goethewort zitieren, das sagt: Not ist stärker als Gesetze. Meine Damen und Herren! Wir dürfen unser Gewissen nicht damit beruhigen, daß wir den deutschen Kriegsopfern mit dem Bundesversorgungsgesetz eine Besserung ihrer Rentenversorgung gegeben haben. Denn diese Verbesserung ihrer Rentenversorgung steht auf dem Papier,
wenn sie nicht in kürzester Zeit in die Praxis umgesetzt wird.
Tausende und aber Tausende von Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen leiden heute in des Wortes buchstäblichster Bedeutung Hunger und haben nicht genügend, um sich sattessen zu können. Jede Aussprache in diesem Hause verliert an Wert, wenn sie für diese Menschen nur deklamatorischen Charakter besitzt und nicht zu. einer sichtbaren Besserung ihrer Lebensverhältnisse führt.
Wir müssen also einen Weg suchen, der den Verwaltungsweg vom Gesetz zu den Beschädigten und Hinterbliebenen so kurz wie möglich macht, damit hier zeitraubende Umwege den deutschen Kriegsopfern erspart bleiben. Ob dieser Weg allein in der Weise beschritten werden muß, in der es der Antrag des Herrn Kollegen Mende vorsieht, mag noch offen sein. Meine Fraktion wird auf jeden Fall alle Wege gehen, die zum Ziel einer Beseitigung der gegenwärtigen Schwierigkeiten und der Befreiung der Kriegsopfer aus ihrer unerträglichen Notlage führen.
Wir beantragen deshalb die Überweisung der Drucksache an den Ausschuß für Kriegsopfer- und Kriegsgefangenenfragen federführend, und zwar deshalb federführend, weil in diesem Ausschuß zunächst einmal die praktische Auswirkung einer solchen Maßnahme untersucht werden muß, und darüber hinaus die Überweisung an den Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht.