Rede von
Dr.
Erich
Mende
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Aus Anlaß der Debatte über den Haushalt des Bundesarbeitsministers hat die schleppende Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes allgemeine Kritik seitens aller Parteien gefunden. Wir haben im Laufe dieser Debatte den Gesetzentwurf auf Drucksache Nr. 2148 auf den Tisch des Hauses gelegt, und ich habe die Ehre, diesen Gesetzentwurf heute in erster Lesung einzubringen.
Die derzeitige verfassungsrechtliche Situation im Kriegsopferwesen ist folgende: Laut Art. 74 Ziffer 10 des Grundgesetzes ist die Versorgung der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen Bundessache, d. h. der Bund hat sie im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung an sich gezogen. Die Ausführung der Bundesgesetze obliegt nach Art. 83 den Ländern, soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt oder zuläßt.
Es ist nun nötig, zu der derzeitigen verfassungsrechtlichen Situation sowie zur verwaltungsmäßigen und politischen Situation auf dem Gebiete des Kriegsopferwesens Stellung zu nehmen. Die Folgen der Länderverwaltung sind gerade ih der 134. Sitzung bei der Debatte über den Haushalt des Bundesarbeitsministers hier ausführlich dargelegt worden. Ich will nicht untersuchen, wo hinsichtlich des Versagens bei der Ausführung des Bundesversorgungsgesetzes mehr Schuld liegt, ob bei der Verzögerung der Ausführungsbestimmungen, also beim Bund, oder bei den Ländern. Fest steht, daß eine erhebliche Schwerfälligkeit in der
Ausführung des Bundesversorgungsgesetzes zu beobachten ist, und das wundert einen auch nicht, wenn
man weiß, daß noch im Sommer vorigen Jahres
674 000 unerledigte Anträge vorlagen, allein in
Bayern 201 800, in Niedersachsen 120 200 und in
Württemberg-Baden 78 900. Auch wenn ich berücksichtige, daß durch die Koppelung der Kriegsopferversorgung mit der Sozialversicherung, durch
die Zerstörung vieler Verwaltungsgebäude und
durch das Fehlen an Personal eine erhebliche
Hemmung eingetreten ist, muß ich trotzdem diese
hohe Zahl von noch 674 000 unerledigten Rentenanträgen als symptomatisch für die Verwaltungstätigkeit der Länder im Kriegsopferwesen ansehen.
— Nordrhein-Westfalen ist auch mit etwa 120 000 Anträgen beteiligt; im Verhältnis zur Bevölkerungszahl, Herr Kollege Horlacher, ist es wesentlich besser dran als die hier genannten Länder.
Bei der Umstellung der Renten haben wir feststellen müssen, daß weniger Versorgungs- und sozialpolitische Gesichtspunkte maßgebend waren als vielmehr bei manchem Arbeits- und Finanz minister fiskalische Gesichtspunkte. Man hat erst den Betroffenen die Rentenkürzungsbescheide zukommen lassen, d. h. man hat erst die Verschlechterungen, insbesondere bei den Leichtbeschädigten und bei den Elternrenten, effektiv werden lassen. Die Wohltaten des Bundesversorgungsgesetzes bei den schwierigen Fällen sind bisher nicht effektiv geworden.
Die Umanerkennung geht dermaßen schleppend vor sich, daß wir noch mindestens mit zwei Jahren Umanerkennungsarbeit rechnen müssen. Der Bund besitzt kein Weisungsrecht. Er kann den Ländern lediglich Empfehlungen in grundsätzlichen Dingen geben, so daß in der Auslegung des Bundesversorgungsgesetzes, in der personellen Besetzung der Landesversorgungsämter, in der Schulung der Beamten usw. erhebliche Divergenzen in den einzelnen Ländern eintreten. Trotz eines einheitlichen Bundesversorgungsgesetzes wird also die Ausführung völlig verschieden gehandhabt.
Um das abzustellen, hat der Bundesarbeitsminister versucht, eine gewisse gleichmäßige Ausführung durch ein Verwaltungsabkommen, ähnlich wie es in den Polizeifragen angestrebt wurde, sicherzustellen, mit dem Erfolg, daß die Länderarbeitsminister diesem Verwaltungsabkommen im April dieses Jahres nicht beigetreten sind, sondern nach wie vor der Bund gewissermaßen n e b en der Ausführung des Bundesversorgungsgesetzes stehen muß. Daß eine gewisse Schwerfälligkeit bei den Länderverwaltungen zu beobachten ist, daß die Erlasse des Bundesministeriums für Arbeit gewissermaßen nur als unverbindliche Mitteilung entgegengenommen werden, rundet das Bild noch ab. Wir beobachten eine uneinheitliche Gewährung von orthopädischen Hilfsmitteln trotz der Empfehlungen des Konstruktionsausschusses beim Bundesministerium für Arbeit. Wir stellen fest, daß die Kriegsbeschädigtenorganisationen viel zu wenig herangezogen werden. Gerade jene Organisationen — ich nenne hier den VdK, den Reichsbund, den Bund der Hirnverletzten, den Bund der Kriegsblinden — verfügen über die besten Fachkräfte, die in sehr idealistischer, freiwilliger Arbeit sich bisher ihren Schicksalskameraden gewidmet haben. Wir stellen eine mangelnde Bereitschaft
zur Amtshilfe, Kompetenzstreitigkeiten, keine bundeseinheitliche Regelung der technischen Arbeitshilfen, wenig richterliche Erfahrung auf dem Gebiete der Kriegsopferversorgung bei den Spruchinstanzen fest, also alles Dinge, die zum Teil schon bei der Debatte in der 134. Sitzung von mehreren Sprechern verschiedener Fraktionen sehr klar dargelegt wurden.
Aus dieser Beobachtung muß nun auch eine gewisse Konsequenz gezogen werden, und diese Konsequenz glauben wir zu ziehen, indem wir Ihnen diesen Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vorlegen. Nach § 1 dieses Entwurfs soll Art. 87 Abs. 1 Satz 1 so erweitert werden, daß auch eine Bundesverwaltung des Kriegsopferwesens eingerichtet wird, also der Bund Weisungen geben kann und der Bund der Alleinverantwortliche für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes wird. Damit wäre eine zentrale Lenkung sichergestellt, wir hätten das volle Weisungsrecht, und eine selbständige Versorgungsverwaltungsabteilung müßte dann im Bundesministerium für Arbeit entsprechend eingerichtet werden.
Man wird mir sagen: ja, aber damit verzögert ihr ja die jetzt anlaufende Arbeit der Länder! Meine Damen und Herren, das ist nicht der Fall. Selbstverständlich sollen die Länder in der ,jetzigen Form weiterarbeiten. Die Einrichtung der Bundesverwaltung könnte dann ja nach Verabschiedung jenes Gesetzes schrittweise so vor sich gehen, daß vielleicht eine Übergangsfrist von einem Jahr festgesetzt wird, um einen reibungslosen Übergang zu gewährleisten, ohne daß die Umstellungsarbeit stocken muß.
Über die Bedeutung dieses Gesetzentwurfs 0 brauche ich Ihnen, meine Damen und Herren, nicht viel darzulegen. Sie haben im Oktober vorigen Jahres jenes Bundesversorgungsgesetz in zweiter und dritter Lesung verabschiedet, das über 4,2 Millionen Betroffenen eine Versorgung geben soll. Wenn ich noch die Familienangehörigen einbeziehe, so ist ein Kreis von etwa 10 Millionen Menschen — das ist etwa ein Fünftel unserer Bevölkerung in der Bundesrepublik — von diesen Fragen unmittelbar betroffen. Der Bund hat für die Versorgung einen Betrag von etwa 3,3 Milliarden DM jährlich aufzubringen. Das ist der zweitgrößte Etatposten im Bundeshaushalt. Es ist verständlich, daß die Kriegsopfer — mit Recht — sehr unruhig geworden sind und daß sie ihr Vertrauen in das Parlament, in den Bund und in die Demokratie schlechthin immer mehr verlieren. Warum? — Wir haben ein gutes Gesetz, ein soziales Gesetz verabschiedet, und wir stellen fest, daß vier Monate nach der Veröffentlichung des Gesetzes — es ist bekanntlich am 21. Dezember 1950 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht worden, und am 22. Dezember sind auch schon die Ausführungsbestimmungen ergangen — jetzt, Ende April, noch die gesamte Umstellungsarbeit in den kleinsten Anfängen steckt und die Auswirkungen des Kriegsopfergesetzes bisher sehr, sehr gering sind.
Meine Damen und Herren, hier erwächst dem Parlament eine Pflicht, die Pflicht, sich nicht nur mit der Verabschiedung der Gesetze zu begnügen, sondern auch darüber zu wachen, daß der Sinn des Gesetzes nicht nachher in Ausführungsbestimmungen und Durchführungsverordnungen verfälscht wird, und vor allem darüber zu wachen, daß die ' Exekutive — und hier speziell die Exekutive der Länder — nicht das zunichte macht, was wir hier im Parlament an Vertrauen seitens der Kriegsopfer durch ein sehr soziales Gesetz erreicht haben.
Nun, diesem Gesetzentwurf, glaube ich, werden auch die Föderalisten par excellence zustimmen können. Denn, meine Damen und Herren, es geht hier nicht um irgendwelche staatsrechtliche Probleme. Wir wissen, es ist der zweite Antrag zur Änderung des Grundgesetzes. Aber wer hat nicht die Pflicht, aus den zwanzigmonatigen Erfahrungen mit dem Grundgesetz auch gewisse Folgerungen zu ziehen und dort einen überspitzten und uns zum Teil ja oktroyierten Föderalismus abzubauen, wo er sich geradezu als Strangulation des Prinzips auswirkt? Ich bitte Sie daher, diesem Antrag Ihre Zustimmung zu geben.
Ich stelle formell den Antrag, dieses Gesetz an den Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht und an den Ausschuß für Kriegsopfer- und Kriegsgefangenenfragen zu überweisen, wobei der erste federführend sein soll. Ich appelliere an Sie, meine Damen und Herren, diesem Gesetz Ihre Zustimmung zu geben, aus verfassungsrechtlichen Gründen, aus Gründen gerade der Achtung vor dem Grundgesetz, aus, verwaltungsmäßigen Gründen und nicht zuletzt auch aus politischen Motiven.