Meine Damen und Herren, nachdem der Antrag des Herrn Abgeordneten Kriedemann mit Rücksicht darauf, daß er als Finanzvorlage Schwierigkeiten macht, zurückgezogen ist, scheint mir eine Erörterung darüber im Augenblick unzweckmäßig zu sein.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag, die Drucksache Nr. 1888 dem Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu überweisen. Ich bitte die Damen und Herren, die diesem Antrag zuzustimmen wünschen, die Hand zu erheben.
— Wir sind in der Abstimmung! Ich bitte die Damen und Herren, die der Überweisung an den Ausschuß zuzustimmen wünschen, die Hand zu erheben. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Das erste war die Mehrheit; die Überweisung ist erfolgt.
— Meine Damen und Herren, der Vorstand ist einmütig der Auffassung, daß es eine einwandfreie Mehrheit war.
— Meine Damen und Herren, es wird vorgetragen, daß nicht klar gewesen sei, worüber abgestimmt werde. Ich hatte nach meiner Überzeugung eindeutig erklärt: wir stimmen ab über den Antrag, die Drucksache Nr. 1888 an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu überweisen.
- Es konnte kein Zweifel an der Fragestellung bestehen. Die Sache ist erledigt.
Ich rufe auf Punkt 2 der Tagesordnung: Beratung der Interpellation der Fraktion der SPD betreffend Vorlage des Entwurfs eines Wiedergutmachungsgesetzes .
Der Ältestenrat schlägt für die Begründung 15 Minuten und für die Aussprache eine Redezeit von 90 Minuten vor.
Zur Begründung hat das Wort Herr Abgeordneter Dr. Schmid.
Dr. Schmid (SPD), Antragsteller: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach diesem Kriege herrschte in unserem Volk die allgemeine Erwartung, daß an den Opfern des durch die Siegermächte niedergeschlagenen Nationalsozialismus wiedergutgemacht werden sollte, was ihnen an Bösem angetan worden ist und was noch gutgemacht werden konnte. Man wußte durchaus, daß nicht alles würde wiedergutgemacht werden können. Aber man meinte doch, daß man versuchen müsse und versuchen werde, ehrenhaft zu
handeln, d. h. nach Kräften wiedergutzumachen, was versündigt wurde an den Menschen der Konzentrationslager, an den Juden, an den Leuten, die gegen Hitler gekämpft hatten, an all denen, die Schaden an Leib und Leben, an Gut und Beruf genommen haben, an all den Gefangenen, den Geschändeten, den Witwen, den Waisen, den Geschundenen dieser Zeit und auch an denen, die durch die Verbrechen dieser Zeit aus der Bahn geworfen worden sind. Ich glaube, daß damals in unserem ganzen Volk eine echte und große Bereitschaft hierfür bestanden hat.
Man wußte auch damals noch, daß der Nationalsozialismus nicht nur gegen Menschen gewütet hatte, sondern daß er seinem Wüten gegen Menschen einen ungeheuren Plünderungszug gegen ihre Güter zugesellt hat. „Arisierungen", wie man euphemistisch sagte, wurden durchgeführt, und leider — ich muß es hier sagen — fanden sich schändlicherweise in unserem Volk viele bereit, sich an diesem Raubzug zu bereichern, neben solchen, die der Versuchung nicht widerstehen konnten, weil sie zu schwach oder zu gedankenlos waren, und neben einigen, die glaubten, sie könnten durch einen Kauf jüdischen Gutes ihrem jüdischen Freunde helfen. Aber nicht alle, die heute sagen, sie hätten aus diesem Grunde „gekauft", haben es damals darum getan!
Man hat weiter politische Parteien, man hat die Gewerkschaften, man hat Genossenschaften, Kirchen und kirchliche Anstalten ihres Gutes beraubt, und man wußte in den Monaten nach dem Krieg, daß nichts in Ordnung kommen werde in Deutschland, wenn nicht wieder gutgemacht würde, was in den zwölf Jahren an Bösem geschehen war.
Wie gesagt, man fand dies im Jahre 1945 selbstverständlich, und überall gab es die innere Bereitschaft, das Notwendige zu tun. Nur war das in dem Jahr 1945 nicht so leicht zu schaffen. Es gab Schwierigkeiten: es mußte ein geordnetes Rechtsverfahren gefunden werden; es gab das Kontrollratsgesetz Nr. 52, das es den Ländern gerade auf dem Gebiet der Rückerstattung unmöglich machte, zu tun, was sie für gut hielten und was getan werden mußte. Auf örtlicher Grundlage versuchte man, meistens nach fürsorgerischen Gesichtspunkten, zu helfen, aber das hatte mit dem Problem als solchem nicht sehr viel zu tun.
Schließlich griffen die Länder und die Besatzungsmächte ein; zunächst auf dem Gebiet der Rückerstattung. Es wurden für die drei Zonen die Rückerstattungsgesetze geschaffen: in der französischen Zone die Ordonnance Nr. 120 vom 10. November 1947, in der US-Zone das Gesetz Nr. 59, erlassen von der Militärregierung am 10. November 1947, schließlich in der britischen Zone zwei Verfügungen: die Verfügung Nr. 10 vom 20. Oktober 1947, die im wesentlichen nur die Anmeldungspflicht und das Anmeldungsverfahren regelte, und erst am 12. Mai 1949 ein britisches Gesetz Nr. 59, ähnlich gefaßt wie das amerikanische Gesetz über die Rückerstattung. In Berlin erging am 26. Juni 1949 eine entsprechende Anordnung der Kommandantur.
Durch diese drei Rückerstattungsgesetze ist eine höchst uneinheitliche Rechtslage geschaffen worden. In der britischen Zone, in der amerikanischen Zone und in Berlin besteht eine einigermaßen vergleichbare rechtliche Regelung. Die Regelung in der französischen Zone ist aber völlig verschieden
von der in den anderen beiden Zonen und in Berlin.
Zum Teil besser, Herr Kollege Hilbert, aber sie ist völlig verschieden von den anderen. Man hat in der französischen Zone eine französische Verordnung erlassen in französischer Sprache: der französische Text ist der authentische Gesetzestext. Die deutsche Übersetzung ist nicht authentisch und kann von den deutschen Gerichten ihren Entscheidungen nicht zugrunde gelegt werden. Die französische Ordonnance ist nichts anderes als eine Übertragung des entsprechenden innerfranzösischen Gesetzes nach Deutschland. Es ist nicht möglich, die Rechtsbegriffe, die Rechtsfiguren der Gesetze der anderen Zonen auf die Tatbestände der französischen Zone zu übertragen und umgekehrt.
Diese Verschiedenheit der rechtlichen Regelung bedingt, daß die Anspruchsberechtigten je nach der Zone verschieden sind, daß die maßgeblichen Stichtage anders liegen; die Verfahren sind anders, die Qualifizierung der Anspruchsvoraussetzungen ist anders, die Vermutungen sind anders, die Beweislast ist überall anders, ja der Umfang der Rückerstattungspflicht ist in allen Zonen verschieden! Insbesondere ist in jeder Zone eine andere Regelung für den Fall vorgesehen, daß ein Vermögen ohne Erben geblieben ist. In einem Fall fällt es an die Länder, im anderen Fall an Organisationen, die von den verschiedenen Stellen bestimmt werden.
Das ist kein guter Zustand. Die Frage ist, ob sich auf dem Gebiet des Rückerstattungsrechts noch sehr viel wird ändern lassen. Man sollte aber wenigstens eines tun: Man sollte das, was mit diesen Gesetzen getan werden kann, so rasch als möglich tun!
Ich will nur wenige Beispiele anführen, um zu zeigen, daß man recht langsam verfahren ist und noch heute langsam verfährt, so langsam, wie es in diesem Jahre 1951 nicht mehr nachgesehen werden kann.
Noch sind eine ganze Reihe von Druckereien, die politischen Parteien gehört haben, den Eigentümern nicht zurückgegeben.
Es ergibt sich der groteske Fall, daß die SPD in Stuttgart an den Naziverleger, dem die Nazis die Druckerei der SPD „gegeben" hatten, mehr als eine Viertelmillion Miete bezahlen mußte.
Heute noch muß die SPD in Köln für das Druckereigebäude, das ihr gehört und in dem ihre Zeitung gedruckt wird, Miete bezahlen!
So wie hier verhält es sich noch an einer ganzen Reihe von Orten.
Ich meine, daß dieser Zustand nicht erträglich ist und geändert werden muß. Ich bin überzeugt, daß man ihn ändern kann, wenn man bereit ist, mit der nötigen Energie und allem guten Willen an die Sache heranzugehen!
Aber das ist nicht das eigentliche Thema der Interpellation. Das eigentliche Thema ist die Wiedergutmachung im engeren Sinne. Hier ist die Rechtslage noch verworrener und noch unmöglicher. Es gibt für die amerikanische Zone, für Bayern,
Bremen, Hessen und Württemberg-Baden einheitliche Ländergesetze, die alle im August 1949 verkündet worden sind. In der französischen Zone gibt es Ländergesetze in Baden, Rheinland-Pfalz und Württemberg-Hohenzollern, die alle auf einen einheitlichen französischen Entwurf zurückgehen, untereinander aber doch recht verschieden sind. Außerdem geht die französische Zone auf gewissen Gebieten weiter als die amerikanische Zone. Es gibt nämlich dort auch Gesetze für beamtenrechtliche Wiedergutmachung, eine Materie, die in der amerikanischen Zone in das allgemeine Gesetz eingebaut ist; in der britischen Zone dagegen gibt es kein allgemeines Recht für die Wiedergutmachung. Dort gibt es lediglich die fragmentarische Regelung von Teilgebieten. Aus dem Komplex der Wiedergutmachung kennt man dort nur die Wiedergutmachung von Personenschäden und für Haftentschädigung — und auch das nicht einheitlich. In Hamburg gibt es ein Gesetz vom Jahre 1948 über Sonderhilferenten, weiter ein Gesetz über die Entschädigung für Freiheitsentziehung aus politischen, weltanschaulichen, religiösen oder rassischen Gründen vom Jahre 1949; in Niedersachsen ein Gesetz über die Gewährung von Sonderhilfe für Verfolgte der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft aus dem September 1948 und ein zweites Gesetz über Entschädigung für Freiheitsentziehung durch Maßnahmen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft vom Juli 1949. In Nordrhein-Westfalen aber werden die Renten auf Grund einer Zonenanweisung der Militärregierung gewährt; daneben gibt es ein Gesetz über die Entschädigung für Freiheitsentziehung — aber nur dafür ! — aus politischen, rassischen und religiösen Gründen vom Februar 1949. In Schleswig-Holstein ist es wieder anders. Dort gibt es ein Gesetz über das Ver- fahren bei Gewährung von Sondervergünstigungen und Hilfeleistungen an politisch Verfolgte vom März 1948 und ein Haftentschädigungsgesetz vom Juli 1949. Außerdem gibt es in Schleswig-Holstein noch ein Gesetz zur Wiedergutmachung des den Beamten, Angestellten und Arbeitern der öffentlichen Dienste zugefügten Unrechts vom Juli 1949. In Berlin ist es wieder anders. Dort ist die Regelung etwa so wie in der amerikanischen Zone.
Diese verschiedenen Regelungen weisen beträchtliche Unterschiede auf, und zwar nicht nur Unterschiede von Zone zu Zone, sondern auch Unterschiede innerhalb der einzelnen Zonen. Sie werden sofort sehen, meine Damen und Herren, wie beträchtlich diese Unterschiede sind. In der amerikanischen Zone bestehen zwischen den Ländern der Zone keine Unterschiede. Die Stichtage sind gleich, die Entschädigungs-Höchstsumme ist dieselbe. In der französischen Zone aber sind die Stichtage in Baden, Württemberg-Hohenzollern, RheinlandPfalz schon verschieden und zwar gehen sie um ein Jahr auseinander. Ebenfalls sind die Höchstbeträge der Entschädigung in den einzelnen Ländern dieser Zone verschieden. In der britischen Zone sind zwar die Entschädigungsleistungen im wesentlichen gleich, aber die Stichtage für Haftentschädigung ebenfalls verschieden. Auch hier differieren sie bis zu einem Jahr.
Zum Vergleich: Der Stichtag ist in der amerikanischen Zone der 1. Januar 1947, in Berlin ebenfalls, in der französischen Zone außer RheinlandPfalz ebenfalls. In Rheinland-Pfalz ist der Stichtag der 1. Januar 1948, in der britischen Zone außer Hamburg der 1. Januar 1948, in Hamburg der 2. Januar 1949!
Was die Entschädigungsleistungen anbetrifft: hinsichtlich der Haftentschadigung ist der Betrag in allen Zonen gleich, nämlich 150 DM im Monat. Aber was die sonstigen Geldleistungen anbetrifft — Schaden am Eigentum, am Vermögen usw. —, so ist der Höchstbetrag in der amerikanischen Zone 75 000 DM, in Berlin 40 000 DM, in Baden, Rheinland-Pfalz 20 000 DM, in Württemberg-Hohenzollern — ich geniere mich, denn ich bin aus diesem Lande — 10 000 DM. Für Beamte sind die Höchstbeträge in der amerikanischen Zone 25 000 DM, in Berlin 15 000 DM, in Baden 20 000 DM, in Württemberg-Hohenzollern 10 000 DM. Rheinland-Pfalz wiederum kennt zwar ein Recht auf Wiedereinstellung wie die übrigen Länder, jedoch keine Nachzahlung von Ruhegehaltsbezügen. Im Verhähnis zwischen der amerikanischen und der französischen Zone ist noch ein weiterer Unterschied bemerkenswert: in der französischen Zone sehen die Gesetze im Gegensatz zur amerikanischen Zone auch Vorschriften über die Beseitigung von Eingriffen in das Familienleben, in das Erbrecht, über die Wiederherstellung von Firmen und Namen und über die Wiederaufnahme bürgerlich-rechtlicher Streitigkeiten vor.
Gewiß haben sich die Länder bemüht, durch Verwaltungsvereinbarungen diese Ungereimtheiten zum Teil auszugleichen; aber praktisch ist der Ausgleich nur bei dem Problem der Stichtage gelungen. Dort, wo es um Geld geht, läßt sich eben ein Ausgleich durch Verwaltungsvereinbarungen nicht so leicht finden.
Meine Damen und Herren! Es scheint uns ein unmöglicher Zustand, daß es ausschließlich vom Zufall des Wohnsitzes abhängen soll, ob ein Opfer des Nationalsozialismus Wiedergutmachung bekommt oder nicht,
in welchem Umfange dieser Mensch Wiedergutmachung erhält, ob für Haftentschädigung, für Personenschäden, für Sachschäden, ob er einen Anspruch haben soll, in seine früheren Rechte eingesetzt zu werden, ob der Verdienstausfall und die Vernichtung der Existenz ebenfalls unter die Wiedergutmachung fallen oder nicht. Es ist unerträglich, daß es vom Zufall des Wohnsitzes abhängt, nach welchem Verfahren man die Wiedergutmachung erkämpfen muß, unter welcher Beweislast man dies tun muß; und noch unerträglicher ist, daß von diesem Zufall abhängen soll, in welcher Art und Weise die Wiedergutmachung im einzelnen zu erfolgen hat.
Hier muß geholfen werden; und es kann nur geholfen werden durch den Erlaß eines Bundesgesetzes.
Das Grundgesetz sieht in Ziffer 9 des Art. 74 vor, daß der Bund im Wege der konkurrierenden Gesetzgebung die ganze Materie durch eigene Gesetze regeln kann. Wir glauben, daß diese Materie vom Bund geregelt werden muß , und zwar sehr bald.
Aber da müssen wir leider feststellen, daß die ursprüngliche Bereitschaft einer Art von fiskalischem Geiz gewichen ist. Gewiß wird niemand vom Fiskus Generosität verlangen; aber man kann auch vom Fiskus verlangen, daß er sein Denken nicht nach dem Schäbigkeits-Prinzip reguliert!
Man sollte die Staatsraison nicht in zu kleine Münze ausprägen wollen!
Ich weiß, daß man sich von Bundes wegen scheut, die Wiedergutmachung auf den Bund zu übernehmen. Man fürchtet, daß damit ein Run sämtlicher anderer Gläubiger des Deutschen Reiches ausgelöst werden könnte, und deswegen meint man, daß es besser sei, diese Last bei den Ländern zu belassen; die Länder sind ja ohne Frage nicht indentisch mit dem Reiche. Nun ist es vielleicht sehr intelligent gedacht, so zu verfahren, wenn man den Bundes-säckel schonen will; aber meines Erachtens ist so viel fiskalische Intelligenz angesichts des elementaren Phänomens „Konzentrationslager" fehl am Platze.
Wenn man den Run der Gläubiger des Reiches fürchtet, meine Damen und Herren: kann man denn dann nicht eine Rangordnung unter den Gläubigern unseres Vaterlandes Deutschland aufstellen?
Und darin haben jene, die in besonderem Maße gelitten haben, jene, die keine Schuld hatten, auch nicht die Schuld des Gewährenlassens, eine Priorität zu beanspruchen!
Gewiß, der Opfer des Dritten Reiches sind viele, man kann sagen: fast alle, die übriggeblieben sind, gehören dazu. Man sollte es sich aber nicht zu leicht machen und vergessen, daß es unter ihnen Unterschiede gibt. Man beginnt dies zu vergessen. Es ist doch allmählich so geworden, daß auch der ehemalige SS- und SD-Mann sich als Opfer des Nationalsozialismus zu betrachten beginnt
und daß man die durch die Spruchkammern Verurteilten als „Denazifizierungsgeschädigte" bereits unter die Opfer des Nationalsozialismus zu rechnen beginnt! Und es gibt Leute, die meinen, daß ihn en die Prioritätsansprüche zustünden! Ich fände es traurig, wenn man diesem Trend eines Teiles, eines kleinen, schlechten Teiles unserer öffentlichen Meinung nicht rechtzeitig ein Paroli bieten würde! Dieser Trend ist ernst zu nehmen: kann man doch spüren, daß sich, wenn man von diesen Dingen redet, da und dort schon Unwille und Unmut regen, und daß man sich entrüstet abwendet, wenn sich die besonderen Opfer des Nationalsozialismus überhaupt zu melden wagen.
Da häuft sich ein Berg seelischen Schuttes an, der uns in die Gefahr bringt, nicht mehr sehen zu können, wie denn eigentlich die moralischen Koordinaten verlaufen und an welchem Ort ihres Bezugssystems die einzelnen Tatbestände liegen.
Hier ist der Ort, von den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus zu sprechen. Ich will heute nicht reden von der großartigen Fruchtbarkeit des Zusammenlebens der jüdischen Menschen mit den anderen Menschen in Deutschland, auch nicht davon, was diese Symbiose in Deutschland an Frucht für die ganze Menschheit hervorgebracht hat. Ich will heute nicht davon reden, aber es wird einmal darüber gesprochen werden müssen — von diesem Platz aus —, denn es scheint vergessen worden zu sein — genau so wie vergessen worden zu sein scheint, wie man diese Menschen gejagt und vernichtet hat, wie man diese Menschen in die Gaskammern schickte, Männer, Frauen und Kinder, darunter Menschen, die im ersten Weltkrieg, für ihr deutsches Vaterland kämpfend, ihre Glieder verloren haben!
Wir möchten nicht, daß man über diese Dinge so hinweggeht, wie es mancherorts in Deutschland üblich zu werden scheint. Einige Reaktionen auf Vorfälle, die ihr Unerfreuliches haben mögen, zeigen, daß wir in unserem Volk heute zu gerne bereit sind, Vergangenes und Verschuldetes aus unserem Bewußtsein zu verdrängen.
Wir möchten offenbar nicht, daß uns ins Gedächtnis zurückgerufen wird, daß es da und dort noch ein Besonderes zu tun gibt, daß da noch eine besondere moralische Schuld neben der materiellen und mit der materiellen zu begleichen ist.
Unter dem, was uns das Naziregime auferlegt hat, sind die an den jüdischen Menschen begangenen Verbrechen das schrecklichste, nicht nur wegen des Umfangs dieser Morde, nicht nur, weil es sich hier um Millionen Opfer handelt, nicht nur wegen der methodischen Erbarmungslosigkeit der Vergasungen in Auschwitz und Maidanek, nicht nur, weil diese Schlächtereien auch Frauen und Kinder trafen, sondern weil dieses ganze Dritte Reich doch im Grunde, in seinem Kern, aufgerichtet wurde, um die Juden zu vernichten!
Das Dritte Reich war doch sehr viel mehr antisemitisch als etwa „prodeutsch" — man schämt sich, das Wort auszusprechen — integriert!
Nun, es ist sicher: viele Deutsche haben unter Gefahr ihres Lebens einzelnen Juden zu helfen gesucht und haben ihnen geholfen; aber immerhin, Millionen von Deutschen waren doch Mitglieder der Partei, deren Führerschaft diese Morde angeordnet und durchgeführt hat! — und damit, daß sie Mitglieder dieser Partei wurden, haben sie zu diesem Teil der Staatsmetaphysik, zum antisemitischen Teil der Staatsmetaphysik des Dritten Reiches ein Bekenntnis abgelegt, wenn vielleicht in vielen Fällen auch nur ein Lippenbekenntnis. Sicherlich wußten nur wenige von ihnen etwas von Auschwitz, aber die Schuld liegt darin, daß man, daß wir alle den Anfängen nicht und nicht genügend gewehrt haben! Darum erst konnten die Verbrecher das Verbrechen von Auschwitz wagen.
Darum sollten wir den Juden gegenüber — jenen, die zu uns zurückgekehrt sind, jenen, die ausgewandert sind, und jenen, die sich in Israel eine neue Heimat, einen eigenen Staat bauen — eine besondere moralische Verpflichtung zur Wiedergutmachung anerkennen und ihnen ein besonderes Recht auf das geben, was wir zu leisten vermögen. Denn sie waren neben einigen politischen Parteien und jener ihrer Mitglieder, die verfolgt und gejagt wurden, nicht Opfer „nebenbei", nicht akzessorische Opfer des Dritten Reiches, sondern sie waren der ausgewählte Gegenstand des Verbrechens, das man blasphemisch das „Dritte Reich" nennt.
Wir können da, auch bei größter Anstrengung, nicht alles leisten, was wir schulden. Aber was wir leisten können, das müssen wir leisten, auch wenn es schwer fällt, auch wenn es dabei Transferschwierigkeiten und andere Schwierigkeiten geben sollte. Auch bei der Inangriffnahme der Schwierigkeiten gibt es ein Gesetz der Rangordnung!
Da ist noch ein besonderer Fall zu erwähnen, der Fall der Ansprüche, für die keine Erben mehr
da sind, weil die ganze Familie bis ins dritte Glied ausgemordet worden ist. Nach dem bestehenden Recht fallen solche Ansprüche teils an die Länder — die dann die Verpflichtung haben, ein Sondervermögen zu errichten, aus dem den Opfern des Nationalsozialismus etwas gegeben werden soll —, teils fallen diese Ansprüche an Nachfolgegesellschaften, etwa die IRSO, die von der amerikanischen Militärregierung errichtet wurde, oder, wie in der französischen Zone, an Organisationen, die von den Landesregierungen zu bestimmen waren. Auch das scheint mir kein guter Zustand zu sein. Es ist klar, daß sich bei diesem Pluralismus der anspruchsberechtigten Organisationen Unstimmigkeiten ergeben müssen und daß es so kaum möglich sein kann, die aufkommenden Mittel rational zu verwenden. Wir schlagen deswegen vor, daß nach Verhandlungen mit den Alliierten — die sich ja diesen Sachbereich vorbehalten haben — durch ein Bundesgesetz der Saat Israel zum Rechtsnachfolger für alle erblosen Rückerstattungs- und Wiedergutmachungsansprüche gemacht werden möge. Dort ist der Staat der Juden, und auch jene Juden, die Bürger anderer Länder bleiben wollen, der Länder, in denen sie geboren oder in die sie gewandert sind, anerkennen über seine moralische Autorität hinaus seine Legitimation, für alle die Juden zu handeln, die sich nicht anderswohin gebunden fühlen. Wo die Anspruchsberechtigten leben, wo Erben vorhanden sind, sollen diese über die Ansprüche verfügen. Aber über die Ansprüche der ausgemordeten Familien ohne Erben sollte das organisierte Gemeinwesen verfügen, das sich die Juden der Welt als Heimstätte ihres Volkes geschaffen haben. Denn schließlich sind ja unsere jüdischen Mitbürger gerade darum ermordet worden, weil ihre Mörder sie diesem Volk der Juden zugerechnet haben.
Wir haben noch lange nicht genug getan, um unsere moralische und unsere rechtliche Schuld abzutragen. Noch ein Wort: Auch wenn wir eines Tages alles getan haben sollten, was in unseren Kräften steht, wird es nicht ausreichen, um vergessen zu machen, was geschehen ist. Es würde nicht einmal eine Sühne sein, und es gäbe uns noch keinen Anspruch auf die Bereitschaft zur Versöhnung von der anderen Seite her. Aber was man schuldet, muß man bezahlen, ohne zu fragen, wie der Gläubiger sich menschlich zu uns zu verhalten wünscht.
Wir haben — und mit Recht — gegen manches Volk den Vorwurf erhoben, es habe uns gegenüber das Rechte um eine Gelegenheit oder um eine Idee zu spät und daher wirkungslos getan. Machen wir uns nicht auf die gleiche Weise schuldig, auf daß man uns nicht einmal denselben Vorwurf machen könne! Gut gibt nur der, der rasch gibt.