Rede von
Dr.
Wilhelm
Laforet
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei Beginn der Einzelberatung möchte ich die Berichte der Herren Referenten kurz ergänzen.
Der Entwurf des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes gibt Ihnen den Entwurf des wichtigsten verfassungsrechtlichen Gesetzes, das im Vollzug des Grundgesetzes erlassen ist. Es zeigt Ihnen die Bedeutung der Sache, daß der Herr Bundespräsident selbst ein besonderes Interesse am Fortgang unserer Arbeiten gezeigt hat und daß die beiden Vorsitzenden des Rechtsausschusses, Herr Kollege Dr. Arndt und ich, dem Herrn Bundespräsidenten am 2. Dezember 1950 über den erfolgreichen Fortgang der Arbeiten zu berichten hatten. Wir haben dabei die volle Billigung des Herrn Bundespräsidenten gefunden, als wir dargelegt haben, daß das Bundesverfassungsgerichtsgesetz so tief in unser ganzes Verfassungsleben eingreift, daß die Erlassung des Gesetzes von der Zusammenarbeit und dem Einverständnis des allergrößten Teils der Mitglieder des Bundestags getragen sein muß.
Das letzte Jahr hat den Bundestag zu einmütigen grundsätzlichen Beschlüssen in der Frage des Wohnungsbaus sowie der Versorgung der Kriegsopfer geführt. Auch die Juristen der verschiedenen Parteien, soweit sie an den Verhandlungen im Rechtsausschuß beteiligt waren, haben bei ihrer Arbeit für das Bundesverfassungsgericht gezeigt, daß sie sich in großen Aufgaben einigen können. Da mußten auch die festgegründeten Meinungen einzelner zurücktreten. Die Meinungsverschiedenheiten bestanden, wie naturgemäß bei einem solchen Gesetzgebungswerk, bei allen Fraktionen nicht nur gegenüber Angehörigen anderer Parteien, sondern auch gegenüber Freunden in der eigenen Partei. Deshalb haben sicherlich die Mitglieder des interfraktionellen Unterausschusses, die die Einigung in allen wesentlichen Fragen herbeigeführt haben, ein besonderes Verdienst. Ich darf — ich möchte um die Erlaubnis bitten — den besonderen Dank des Vorsitzenden des Rechtsausschusses an diese Mitglieder auch hier vor dem Plenum des Bundestags aussprechen.
Der Rechtsausschuß hat diesem Gegenstand 32 Sitzungen zuwenden müssen, davon eine größere Zahl von ganztägigen Sitzungen. Dazu treten die vielen Sitzungen des interfraktionellen Einigungsausschusses.
Der Bundesrat hat sich in außerordentlich bedeutsamen Darlegungen zum Sachgegenstand geäußert. Der Rechtsausschuß des Bundestags hat mit der Vertretung des Bundesrats auch in der Fortentwicklung der Verhandlungen stets Fühlung gehalten.
Über den Gang der Entwicklung und das Ergebnis haben Ihnen die Herren Referenten des Rechtsausschusses berichtet. Für die Auslegung des Gesetzes sind auch die Meinungsverschiedenheiten von Bedeutung, die heute von den einzelnen Vertretern der Parteien — auch meine Fraktion nimmt das für sich in Anspruch, und es werden andere Fraktionen folgen — hier vorgetragen werden. So möge es verstanden werden, wenn Ihnen kurz die entscheidenden Gesichtspunkte vorgetragen werden, die für die persönliche Stellungnahme Einzelner oder einer Gruppe zu den entscheidenden Fragen wesentlich waren.
Das Bundesverfassungsgericht ist kein oberes Bundesgericht, sondern nach § 1 ein Verfassungsorgan in der Reihe der durch das Grundgesetz geschaffenen Verfassungsorgane: Bundestag, Bundes-
rat, Bundespräsident, Bundesregierung. Aber es ist ein Gerichtshof des Bundes, der gegenüber den übrigen Verfassungsorganen selbständig und unabhängig ist. Das Bundesverfassungsgericht ist ein echtes Gericht, dessen Mitglieder nach Artikel 97 Absatz 1 unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen sind. Es ist nach meiner Ansicht unrichtig, davon zu sprechen, daß seine Entscheidungen politische Entscheidungen im Gewande eines Richterspruches seien. Unter einem politischen Akt sind Akte zu verstehen, die das öffentliche Leben nach Ermessen gestalten. Auch die Gesetzgebungsakte sind insoweit politische Akte, weil sie vom gesetzgeberischen Ermessen bestimmt werden. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts haben gewisse Wirkungen besonderer Art für das öffentliche Leben und für die obersten Staatsorgane, ja sie haben sogar in bestimmten Fällen aus Gründen der Rechtseinheit und Rechtssicherheit Gesetzeskraft. Aber das Bundesverfassungsgericht hat nicht die Aufgabe, das Recht zu gestalten. Es hat keine Willensentscheidung nach gesetzgeberischem Ermessen zu treffen, sondern eine Auslegung und Anwendung des gegebenen Rechts vorzunehmen wie jedes Gericht. Es hat als Grundlage zu nehmen, was bereits rechtlich gestaltet ist. Es hat nur dieses gestaltete Recht auszulegen und für das Verfassungsleben anzuwenden.
Es ist auch eine Rechtsentscheidung, wenn zum Beispiel festgestellt wird, ob die Regelung einer Angelegenheit durch ein Landesgesetz die Interessen anderer Länder oder der Gesamtheit beeinträchtigt oder ob die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit, insbesondere die Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse eine Regelung über das Gebiet eines Landes hinaus erfordert und ob deshalb nach Artikel 72 Absatz 2 Ziffer 3 des Grundgesetzes ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung besteht und ein danach erlassenes Gesetz verfassungsmäßig ist. Auch die Gerichte haben darüber zu entscheiden, ob nach den tatsächlichen Verhältnissen ein von der Gesetzgebung gestellter Rahmen eingehalten oder überschritten ist. Auch hier liegt nichts anderes vor als das, was man im ganzen Rechtsleben in der Anwendung der sogenannten „unbestimmten Rechtsbegriffe" kennt, wie wir sie beispielsweise bei den Begriffen „Treu und Glauben", „Anforderungen des Gemeinwohls" und „angemessene Entschädigung" kennen.
Meine Damen und Herren! Es ist heute nicht mehr darüber zu entscheiden, ob der Parlamentarische Rat nicht die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts zu umfangreich gestaltet hat. Der Blick auf den ganz außerordentlichen Umfang der Geschäftslast des Bundesverfassungsgerichts hat für einen Teil der Mitglieder des Rechtsausschusses eine Rolle gespielt, als zu entscheiden war, ob eine Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht eingeführt werden soll. Die Aufgaben mußten die Gestaltung des Gerichts, wie die Zahl und die Anforderungen entscheiden, die an die Richter zu stellen sind. Aus diesen Erwägungen ist die Einigung erfolgt, wie sie Ihnen jetzt im Gesetzentwurf vorliegt. Sie will ebenso die Einheitlichkeit des Gerichtshofs klarstellen wie das Ziel erreichen, daß nicht dieses höchste Gericht unter der Zahl und der Wucht seiner Aufgaben zusammenbricht.
Es ist nicht unrichtig, wenn man gesagt hat, daß es zwei Gerichte sind, die zu einem einheitlichen Organismus vereinigt sind; denn die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts sind auf zwei Senate verteilt. Es war nur zu regeln, welcher Senat für ein anhängiges Verfahren zuständig ist, wenn nach den gestellten Anträgen sowohl der erste wie der zweite Senat zuständig sind oder wenn die Zuständigkeit sonst zweifelhaft ist. Darüber entscheidet nach § 16 Abs. 3 das Plenum. Die Mitglieder des Ausschusses waren sich darüber klar, daß dadurch namentlich in der ersten Zeit eine besondere Geschäftslast für das Plenum entsteht.
Außer Zweifel stand, daß die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, soweit dies überhaupt möglich ist, nur einheitlich sein kann. Der § 16 Abs. 1 gibt deshalb die klare Regelung, daß das Plenum entscheidet, wenn einer der beiden Senate von der Rechtsauffassung abweichen will, die in einer Entscheidung des anderen Senats enthalten ist. Es ist selbstverständlich, daß dies auch für jede Abweichung gilt, die gegenüber der Rechtsauffassung des Plenums eingetreten ist.
Der Umfang der Geschäftsaufgaben des Bundesverfassungsgerichts hat die Mitglieder des Rechtsausschusses überzeugt, daß gleiche Anforderungen an alle Richter des Bundesverfassungsgerichts gestellt werden müssen. Der Gedanke nebenamtlicher Tätigkeit im Bundesverfassungsgericht, wie wir sie im Staatsgerichtshof der Länder sehen und wie sie auch im Parlamentarischen Rat als Möglichkeit erörtert worden ist, mußte aufgegeben werden.
Für die Bildung des Bundesverfassungsgerichts waren die Bestimmungen des Art. 94 Abs. 1 des Grundgesetzes zugrunde zu legen. Die Schwierigkeiten, wie sie sich daraus ergeben, daß die eine Hälfte der Richter vom Bundestag und die andere Hälfte vom Bundesrat zu wählen ist, hat der Entwurf wohl überwunden. Bei der Wahl des Präsidenten und seines Stellvertreters ist im § 9 eine Lösung vorgeschlagen, die allerdings die Zufälligkeiten des Lebens nicht ausschließen kann, daß für die gleiche Zeit sowohl der Präsident wie sein Stellvertreter aus einer Wahl des gleichen Wahlkörpers hervorgegangen sind.
Über die allgemeinen Verfahrensvorschriften ist Ihnen berichtet worden, vor allem auch darüber, daß für die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts die Offizialmaxime - der Grundsatz des Amtsbetriebs — entscheiden muß, der im Gegensatz zum Zivilprozeß den öffentlichen Prozeß bestimmt. Das Bundesverfassungsgericht erhebt nach § 26 Abs. 1 den zur Erforschung der Wahrheit erforderlichen Beweis von Amts wegen.
Zu bedeutsamen Erörterungen hat, wie der Herr Referent betonte, die Frage geführt, ob es ermöglicht werden soll, daß überstimmte Richter nicht nur im inneren Geschäftsbetrieb eine Sonderäußerung abgeben, sondern diese Sonderäußerung auch nach außen mitgeteilt wird, — mitgeteilt werden kann oder auf Forderung mitgeteilt werden muß. — Es ist nicht zu verkennen, daß die Gründe der Weiterbildung des Rechts für eine solche Regelung sprechen und daß Vorbilder in fremdem Recht gegeben sind. Dagegen sprechen die Gründe der Wahrung der Rechtsautorität des Gerichtshofs als solchem und die Gefahren, die namentlich in politisch erregter Zeit aus einem solchen Sondergutachten für die Überzeugung von der unbedingten Unparteilichkeit des Bundesverfassungsgerichts im Volke entstehen können. Zu den Gegenständen der Einigung gehört auch der Verzicht auf solche Sonderäußerungen. Dazu gehört auch der Verzicht auf die Aufstellung des Vertreters des öffentlichen
Interesses, so bedeutsam dieser im verwaltungsgerichtlichen Verfahren — im Gegensatz zu dem von den Beteiligten begonnenen und von ihnen geführten verfassungsgerichtlichen Verfahren — sein kann.
In den besonderen Verfahrensvorschriften ergeben sich naturgemäß dort besondere Schwierigkeiten, wo der Parlamentarische Rat als Gesetzgeber völliges Neuland betreten hat. Er hat die Auslegung des Art. 18 über die Verwirkung von Grundrechten wie des Art. 21 Abs. 2 über die Verfassungswidrigkeit von Parteien dem Bundesverfassungsgericht zugewiesen. Hier wird, erst die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Grundlagen für die Staatspraxis geben können.
Die entscheidende Abweichung des Entwurfs gegenüber der Stellungnahme des Bundesrats ergibt sich in der grundsätzlichen Einführung der Verfassungsbeschwerde. Die Zulässigkeit der Bestimmung ist im Hinblick auf Art. 93 Abs. 2 des Grundgesetzes nicht zu bestreiten. Ich gehöre zu denjenigen, für die es ein großes Opfer ist, sich der Einigung zu unterwerfen und die Verfassungsbeschwerde uneingeschränkt einzuführen, insbesondere hinzunehmen, daß nach der Wahl des Berechtigten gleichzeitig die Verfassungsbeschwerde zum Länderverfassungsgericht wie zum Bundesverfassungsgericht zulässig ist, wenn im Einzelfall die Voraussetzungen für jeden Weg gegeben sind. Die Verfassungsbeschwerde ist ein Kind des alten bayrischen Verfassungsrechts. Sie hatte eine große Bedeutung in einer Zeit, als die Rechtsgrundsätze über die Rechtmäßigkeit der Verwaltung noch nicht unbeschränkt anerkannt waren. Heute ist im verwaltungsgerichtlichen Verfahren aller Länder uneingeschränkt die Anfechtungsklage gegeben. Die Verwaltungsgerichte, zuletzt die Verwaltungsgerichtshöfe, haben zu befinden, ob ein Eingriff in die Freiheit und das Eigentum vom Recht getragen ist oder nicht, und haben den Verwaltungsakt aufzuheben, wenn er diese Anforderung eines Rechtsstaates nicht erfüllt.
Dazu tritt, daß nach Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes der Rechtsschutz durch die ordentlichen bürgerlichen Gerichte gegeben ist, soweit nicht eine verwaltungsgerichtliche Zuständigkeit bestehen sollte. Der Rechtsschutz der Grundrechte ist gegenüber Akten der richterlichen Gewalt durch die ordentliche und sonstige Gerichtsbarkeit gegeben. Er ist heute im verwaltungsgerichtlichen Verfahren gegen die Verwaltungsakte in vollem Umfang erreicht.
Die Verfassungsbeschwerde schafft eine ganz außerordentliche Mehrung der Geschäftsaufgaben des Bundesverfassungsgerichts. Diese Last ist, wie der Bundesrat mit Recht dargelegt hat, ohne jede Minderung des Rechtsschutzes vermeidbar. Ich möchte das nur zur Feststellung der geschichtlichen Wahrheit hervorheben. Wir unterwerfen uns den Beschlüssen der Mehrheit des Rechtsausschusses. Ich bin mit dem Bundesrat einverstanden, in der Grundrechtsklage den besonderen Rechtsschutz des Bundesverfassungsgerichts gegen Akte der gesetzgebenden Gewalt einzuführen. Der Entwurf führt jedoch die Verfassungsbeschwerde auch gegenüber jedem Urteil, auch gegenüber dem Urteil eines öberen Bundesgerichtes ein. Nach meiner Überzeugung wird die Praxis zeigen, daß diese Überordnung des Bundesverfassungsgerichts über jedes Gerichtsurteil trotz seiner Rechtskraft, die Überordnung des Gedankens des Rechtsschutzes über den Gedanken der Rechtssicherheit, einen Weg führt, von dem ich nur wünsche, daß die Anwendung des Gesetzes die Gefahr mildert.
In dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz ist für die Ausgestaltung des Verfahrens nur ein allgemeiner Rahmen gegeben. Das geschieht, wie der Herr Referent ausgeführt hat und wie ich als Vorsitzender ergänzend bestätigen darf, in dem Vertrauen, daß das Bundesverfassungsgericht in den einzelnen Gruppen von Gegenständen den richtigen Weg findet.
Zu den Fragen über die besonderen Verfahrensvorschriften möchte ich von meinem Fachgebiet des Verwaltungsrechts aus nur noch einen kleinen Ergänzungsbeitrag zu den Ausführungen des verehrten Herrn Referenten, Kollegen Neumayer, im Interesse der Auslegung des Gesetzes geben. Es handelt sich um die Auswirkung der Vorschriften über die Normenkontrolle in § 79 für den Fall, daß ein Gesetz für nichtig erklärt ist, der Verwaltungsakt aber auf dem für nichtig erklärten Gesetz beruht. Stützt sich ein Verwaltungsakt, der einen Eingriff in Freiheit und Eigentum vornimmt, auf ein Gesetz, das für nichtig erklärt wird, so ist der Verwaltungsakt fehlerhaft und muß aufgehoben oder geändert werden, wenn er noch änderbar Er ist nur dann nicht mehr änderbar, wenn der Beteiligte oder ein Dritter gutgläubig aus dem Verwaltungsakt einen Rechtsanspruch oder eine rechtlich begründete Eigenschaft erlangt hat.
Meine Damen und Herren! Die Verhandlungen über das Bundesverfassungsgericht waren sehr schwierig. Es gibt kaum eine grundsätzliche Frage des Verfassungsrechts oder Verwaltungsrechts, die nicht in den Bereich der Erörterungen einbezogen werden mußte. Ein Gesetz wie das vorliegende kann nicht fehlerlos abgeschlossen werden. Wir werden manche Lücke gelassen haben, aber es kann hier vor dem Plenum des Bundestags nur betont werden, daß die Mitglieder des Ausschusses aller Parteien einig waren in den demokratischen Grundanschauungen, in den Grundgedanken des Rechtsstaates und in dem Willen, diesen Rechtsstaat weiter zu bauen und zu sichern. Möge dieser Erfolg dem Gesetz beschieden sein!