Rede von
Dr.
Ludwig
Erhard
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu 1: Der interministerielle Ausschuß, der unter der Federführung des Bundeswirtschaftsministeriums das Problem der Notstandsgebiete bearbeitet, hat in eingehenden Beratungen Notstandskriterien ausgearbeitet, die als objektive Maßstäbe für die Beurteilung und Vergleichbarkeit der Not in den besonders betroffenen Gebieten dienen sollen. Dabei wurde zunächst nicht nach den Ursachen der Not, wie Kriegszerstörungen, Flüchtlingsanteilen usw., sondern nach den gegenwärtig vorliegenden Notsymptomen, wie Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot usw. gefragt. Die Kriterien, deren Vorliegen als Mindestvoraussetzung für eine eventuelle Sonderbehandlung eines Gebietes durch die Bundesregierung gelten soll, wurden so gefaßt, daß sie Folgeerscheinungen der verschiedensten Ursachen sein können. Sie vermögen deshalb die Hilfsbedürftigkeit der einzelnen Gebiete besonders herauszustellen. Diese statistisch belegbaren Merkmale sind bewußt auf einen so hohen Notstandsgrad abgestellt, daß sie, um eine Bundeshilfe nicht in ihrem Effekt zu verwässern, nur auf wirklich überdurchschnittlich hart betroffene Gebiete zutreffen.
Die Landesregierungen sind mit Erlaß des Bundeswirtschaftsministeriums vom 16. August 1950 gebeten worden, diejenigen Gebiete zu benennen und zu beschreiben, bei denen außergewöhnliche Notstände gemäß der ihnen mitgeteilten Merkmale vorliegen. Um zu vermeiden, daß die besondere Notlage einer Vielzahl kleiner und kleinster
Gebiete an die Bundesregierung herangetragen wird, dürfen nur Gebiete einer bestimmten Mindestgröße benannt werden, die sich regional nicht mit Verwaltungsbezirken zu decken brauchen. Eine möglichst weitgehende Vergleichbarkeit der von den Landesregierungen zu benennenden Gebiete muß gewährleistet sein. Deshalb wurden von den Ländern Gebietsbeschreibungen angefordert, die nach einem vom interministeriellen Arbeitskreis in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Staatsministerium für Wirtschaft ausgearbeiteten Modellbericht über die Notlage im Gebiet des Bayerischen, Böhmischen und Oberpfälzischen Waldes angefertigt werden sollen. Die Erhebungen und Beschreibungen sind zwar teilweise schwierig zu erstellen und deshalb zeitraubend; sie sind aber notwendig, um eine möglichst gerechte und zweckvolle Auswahl derjenigen Gebiete treffen zu können, denen in erster Linie mit den beschränkten Mitteln der Bundesregierung geholfen werden muß.
Der Termin. für die Abgabe der Mitteilungen war zunächst auf den 20. September festgesetzt; er wurde jedoch auf Ersuchen der Landesregierungen auf den 30. Oktober verschoben. Obwohl die Landesregierungen bisher erst teilweise Stellung genommen haben, liegt, wenn auch noch nicht überall exakt zahlenmäßig fixiert, ein Überblick über die tatsächlich von allergrößter Not betroffenen Gebiete vor.
Die Landesregierungen sind mit dem genannten Erlaß vom 16. August auch aufgefordert worden, anzugeben, was in den Notstandsgebieten von ihnen bereits zur Linderung der Not getan wurde, welche Maßnahmen sie von sich aus weiter zu veranlassen beabsichtigen und welche Hilfestellung des Bundes sie für unbedingt erforderlich halten.
Zu Punkt 2: Die Bundesregierung wird dem Bundestag in Kürze den Entwurf eines Gesetzes über den Finanzausgleich unter den Ländern für das Jahr 1950 vorlegen. Durch dieses Gesetz sollen die Länder, die wegen mannigfacher, hauptsächlich kriegsverursachter Notstände finanzschwach sind, zur Erfüllung ihrer lebenswichtigen Hoheitsaufgaben befähigt werden; es handelt sich um die Länder Baden, Bayern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein. Neben den Flüchtlingslasten, die naturgemäß vorwiegend in den Notstandsgebieten überdurchschnittlich hoch sind, wird die Zahl der Arbeitslosen in den Arbeitsamtsbezirken mit hoher Dauerarbeitslosigkeit zusätzlich berücksichtigt. Damit wird der erhöhten finanziellen Belastung, die sich durch den hohen Grad der Arbeitslosigkeit in bestimmten Bezirken ergibt, zugunsten der betroffenen Länder besonders Rechnung getragen. Zu diesen Gebieten mit hochgradiger Arbeitslosigkeit gehören vor allem Schleswig-Holstein, ferner die Arbeitsamtsbezirke Wilhelmshaven und Salzgitter, Ostfriesland und Uelzen, der Bayerische Wald und größtenteils die nördlichen Randgebiete Bayerns, Teile von Nordhessen und in Rheinland-Pfalz der Bezirk IdarOberstein.
Es ist außerdem geplant, für jedes derjenigen Gebiete, die nach Überprüfung der eingesandten Unterlagen ein helfendes Eingreifen des Bundes dringend geboten erscheinen lassen, ein besonderes Sanierungsprogramm in Zusammenarbeit mit den Ländern auszuarbeiten. Die Programme müssen so gestaltet werden, daß sie den individuellen Ursachen der Not und den besonderen Gegebenheiten der Gebiete — wie z. B. den aus der Grenzlage erwachsenen besonderen wirtschaftlichen Schwierig-
keiten — weitgehend Rechnung tragen. Die Programme sollen dann vom Bundeskabinett beschlossen werden.
Als Grundlage für die Kabinettsbeschlüsse ist an ein Rahmengesetz gedacht, in welchem festzulegen wäre, welche Mittel zur Behebung der Notstände von der Bundesregierung bereitgestellt werden können. Nach einer vorliegenden Stellungnahme des Herrn Bundesministers der Finanzen vom 19. Juli 1950 können Mittel aus dem ordentlichen Haushalt nach dem Grundgesetz nicht bereitgestellt werden. Es kämen demnach nur Mittel aus dem außerordentlichen Haushalt in Betracht.
Zu Punkt 3: Es ist zu erwarten, daß das Rahmengesetz Ende dieses Jahres zur Vorlage kommen kann. Die Ausarbeitung der Sanierungsprogramme für die einzelnen Gebiete wird zwischenzeitlich vorbereitet werden, so daß sie nach dem Erlaß des Rahmengesetzes in kurzer Zeit zur Durchführung gelangen können.
Zu Punkt 4: Wie zu Punkt 1 bereits gesagt wurde, besitzt die Bundesregierung Kenntnis von den schlimmsten Notstandsgebieten, wenn auch deren genaue Abgrenzung im einzelnen noch nicht vollständig vorliegt. Aus dieser Kenntnis heraus hat sie zur Linderung der Not in den am härtesten betroffenen Gebieten folgendes unternommen:
a) Es sind unter dem ausdrücklichen Gesichtspunkt der Förderung der Notstandsgebiete im Jahre 1949 an Schleswig-Holstein 9,1 Millionen für wasserwirtschaftliche Vorhaben bereitgestellt worden und im Jahre 1950 die nachstehenden Beträge vorgesehen:
Schleswig-Holstein:
zur Förderung besonderer Vorhaben auf dem Gebiete der
Wasserwirtschaft und der Landeskultur 9 500 000 DM
zur Wiederherstellung der durch
Kriegseinwirkungen besonders
beschädigten Bauten und Liegenschaften des früheren Reichsvermögens 3 200 000 DM
Wilhelmshaven:
zur Wiederherstellung der durch
Kriegseinwirkungen besonders in
Mitleidenschaft gezogenen Bauten
und Liegenschaften des früheren Reichsvermögens 2 994 000 DM
Emsland:
zur Erschließung des Emslandes 4 000 000 DM Watenstedt-Salzgitter:
zur Behebung der Notstände in
dem Notstandsgebiet dieses Bereichs 500 000 DM
Zuschuß an die Verkehrsbauten
GmbH in Braunschweig für den
Ausbau der Eisenbahnstrecke
Lichtenberg-Lebenstedt - Immendorf, I. Teilbetrag 2 000 000 DM
b) Im Rahmen des ersten Arbeitsbeschaffungsprogramms wurden 300 Millionen DM in die Schwerpunktgebiete wirtschaftlicher Not, insbesondere die von der Arbeitslosigkeit betroffenen Gebiete, geschleust. Folgende Länder partizipierten entsprechend dem Gewicht ihrer Arbeitslosigkeit an der Gesamtsumme: Bayern mit 105 Millionen DM, Niedersachsen mit 102,5 Millionen DM, Schleswig-Holstein mit 77,5 Millionen DM, Hessen mit 15 Millionen DM. Innerhalb Bayerns wurden die Notstandsgebiete des Bayerischen und des Fränkischen Waldes, innerhalb Hessens das Gebiet von Nordhessen, innerhalb Niedersachsens die Brennpunkte Watenstedt-Salzgitter und Wilhelmshaven besonders berücksichtigt. Die für Schleswig-Holstein bestimmten Mittel kamen einem großen Teil des Landes zugute, das nahezu in seiner Gesamtheit als Notstandsgebiet anzusehen ist.
c) Bei der Vergebung der ERP-Mittel bestand nur eine beschränkte Möglichkeit, Notstandsgebiete zu bevorzugen, da die Bundesregierung an eingehende Weisungen der ECA gebunden war. Eine ausdrückliche Berücksichtigung notleidender Gebiete war jedoch bei der Verteilung der ERP-Mittel für den Wiederaufbau kriegszerstörter landwirtschaftlicher Betriebsgebäude und für die Ergänzung und Beschaffung von totem und lebendem Inventar für die landwirtschaftlichen Betriebe dennoch möglich.
d) Durch die Kabinettsbeschlüsse vom 2. Mai 1950 und vom 12. Mai 1950 sind die Gebiete Berlin, Watenstedt-Salzgitter, der Bayerische Wald und Wilhelmshaven zu Notstandsgebieten im Sinne der Verdingungsordnung für Leistungen und der Verdingungsordnung für Bauleistungen erklärt worden, wodurch eine Bevorzugung dieser Gebiete bei der Vergebung öffentlicher Aufträge gegeben ist.
e) Um die besonders schwierige Lage Schleswig-Holsteins zu lindern, hat die Bundesregierung ein Gesetz über eine vorläufige Finanzhilfe für das Land Schleswig-Hostein im Rechnungsjahr 1950 eingebracht, das am 15. September vom Bundestag angenommen wurde. Der Bundesrat hat jedoch diesem Gesetz nicht zugestimmt.
f) Erfahrungsgemäß sind durch die Nachkriegsentwicklung die Randgebiete der Bundesrepublik, insbesondere die an die Sowjetzone angrenzenden Gebiete, von der strukturellen Arbeitslosigkeit am härtesten betroffen. Diesem Tatbestand wurde dadurch Rechnung zu tragen versucht, daß die Tarifgestaltung der Bundesbahn in ihrer Staffelung in besonders gelagerten Fällen den weitab liegenden Gebieten Vergünstigungen gewährt.
Wie bereits zu Punkt 2 der Interpellation ausgeführt wurde, ist es grundsätzlich nicht möglich, zur Behebung regionaler Notstände im Rahmen des ordentlichen Haushalts besondere Mittel vorzusehen. Die genaue, vor dem Abschluß stehende Tatbestandsaufnahme der Bundesregierung wird ergeben, welche Mittel außerhalb des ordentlichen Haushalts im Hinblick auf die gesamte Ausgabengestaltung des Bundes bereitgestellt werden können.