Rede von
Dr.
Erich
Mende
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf Grund eines Schreibens des Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages vom 22. September 1950 hat sich der Ausschuß für Geschäftsordnung und Immunität in seiner Sitzung vom 5. Oktober 1950 mit einem Antrag des Innenministeriums des Landes Württemberg-Hohenzollern vom 13. September 1950
befaßt. Dieser Antrag hat die Aufhebung der Immunität des Abgeordneten Kalbfell zum Ziele. Ich habe die Ehre, dem Hohen Hause über die Stellungnahme des Ausschusses zu berichten.
Der Abgeordnete Kalbfell hat in seiner Eigenschaft als Oberbürgermeister von Reutlingen am 31. August 1950 an das Innenministerium des Landes Württemberg-Hohenzollern als für ihn zuständige Dienstaufsichtsbehörde den Antrag gestellt, die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen ihn zu beantragen. Der Antragsteller berief sich hierbei auf die in der Essener Wochenzeitung „Der Fortschritt" Nr. 33 vom 18. August 1950 gemachten Vorwürfe, daß er im Jahre 1945 bei Geiselerschießungen mitgewirkt hätte. Es sei bereits früher im gleichen Zusammenhang gegen einen Herrn Jacob Steiger seitens ,des Innenministeriums Strafantrag gestellt worden. Das damals seitens der Staatsanwaltschaft eingeleitete Verfahren sei jedoch durch das französische Militärgericht auf Grund des ihm zustehenden Evokationsrechtes an sich gezogen und später mit dem Hinweis auf das Amnestiegesetz eingestellt worden.
Der Ausschuß hat sich zunächst mit der Frage befaßt, ob auch für die Einleitung von Disziplinarverfahren die Aufhebung der Immunität gemäß Art. 46 des Grundgesetzes erforderlich sei. Er ist bereits in früheren Sitzungen zu dem Ergebnis gekommen, daß auch für Dienststrafverfahren eine Aufhebung der Immunität erforderlich ist. Dies war bereits in der Reichstagspraxis der Weimarer Republik unbestritten.
Dem vorliegenden Fall liegt folgender Sachverhalt zugrunde. Am 20. 4. 45 stand eine französische Panzerspitze unmittelbar vor Reutlingen. 1 Unter Einsatz seines Lebens gelang es dem in der Stadt als aufrechter Demokrat und Antifaschist bekannten Herrn Oskar Kalbfell, Straßenkämpfe und Zerstörungen zu vermeiden, indem er die Sperren öffnen ließ und sich den einmarschierenden Truppen für die Aufrechterhaltung der Ordnung mit seinem Leben verbürgte. Kalbfell wurde durch die französischen Truppen als kommissarischer Oberbürgermeister eingesetzt.
Am 22. 4. 45, also zwei Tage später, zog hinter der Kampftruppe ein sogenanntes bataillon de choc in die Stadt ein, und am 24. 4. 45 mittags gegen 12 Uhr wurden vier Reutlinger Bürger: der Oberfeldarzt der Reserve Dr. Wilhelm Ekloff, der Architekt Wilhelm Schmidt, der Redakteur Ludwig Ostertag und der Schreinermeister Jakob Schmidt, als Geiseln festgenommen und zwischen 15 und 16 Uhr erschossen.
Die Veröffentlichung des „Fortschritt" läßt die Tendenz erkennen, Oberbürgermeister Kalbfell für die Namhaftmachung der Geiseln verantwortlich zu machen. Unter anderm wird das Faksimile eines Briefes des Schreinermeisters Jakob Schmidt an seine Frau und Kinder veröffentlicht, in dem zum Ausdruck kommt: „Ich bin mir nicht bewußt, für was ich als Opfer dienen soll. K. hat es so bestimmt und mich ausgesucht". Der „Fortschritt" veröffentlicht ebenfalls die vier Bilder der Erschossenen und erwähnt, daß ein katholischer Geistlicher als einziger Zeuge bei der Erschießung zugegen war.
Diese Veröffentlichung hat in der Umgebung Reutlingens großes Aufsehen erregt, zumal über 10 000 Exemplare dieser Zeitung in der Gegend verkauft, zum Teil auch kostenlos verteilt wurden. Das Motiv
für die Geiselerschießungen ist nach der Stellungnahme der französischen Militärbehörden darin
zu suchen, daß ein französischer Soldat durch ein
Attentat umgekommen sei. Inzwischen sind jedoch
große Zweifel an dieser Feststellung aufgetaucht.
Aus den Diskussionen in der Öffentlichkeit scheint
sich vielmehr zu ergeben, daß der französische
Soldat das Opfer eines Motorradunfalls wurde.
Im Rahmen der nunmehr in der Öffentlichkeit beginnenden Diskussionen, in die auch verschiedene Reutlinger Zeitungen, so die „Reutlinger Nachrichten" und der „Reutlinger Generalanzeiger", eingriffen, wurde das Für und Wider hinsichtlich der Haltung Kalbfells erörtert. Unter anderm wurde zum Ausdruck gebracht, daß die Bevölkerung dem Oberbürgermeister dadurch eindeutig ihr Vertrauen ausgesprochen habe, daß sie ihn 1948, also drei Jahre später, mit über 80% der Stimmen erneut zum Oberbürgermeister und im August 1949 in direkter Wahl zum Bundestagsabgeordneten gewählt habe. Die Gegner des Abgeordneten Kalbfell erheben hingegen den Vorwurf, daß Kalbfell durch die Nominierung oder durch die Aushändigung einer Geiselliste eine Beihilfehandlung geleistet und sich damit eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit im Sinne des Kontrollratgesetzes Nr. 10 schuldig gemacht habe. Abgeordneter Kalbfell war bemüht, wiederholt festzustellen, daß er mit den Vorkommnissen des 24. 4. 45 auch nicht die geringste Verbindung habe, sondern von der Festnahme der Geiseln und ihrer Erschießung vielmehr erst erfahren habe, als das Unglück bereits geschehen war. In einigen Veröffentlichungen wird erwähnt, daß ein berüchtigter Agent, Terboven-Graeber, einzelnen Zeitungen Skandalmaterial durch einen Mittelsmann anbieten ließ. Terboven-Graeber soll in Haft sein und demnächst wegen Erpressung vor Gericht stehen. Auch ein Ausschußmitglied erklärte, daß man bereits vor Jahren versucht habe, ihm Material gegen den politischen Gegner Kalbfell für seine Zeitschrift zur Verfügung zu stellen, was er entschieden abgelehnt habe. Es scheint sich demnach bei der Veröffentlichung des „Fortschritt" um eine bewußt gesteuerte, tendenziöse Kampagne gegen den Abgeordneten Kalbfell zu handeln. Die Aufmachung des Artikels und die Art der Berichterstattung lassen diese Auffassung gerechtfertigt erscheinen.
Den Bemühungen des Abgeordneten Kalbfell um Aufklärung des Sachverhalts stand das Evokationsrecht der französischen Behörden entgegen. Es ist zweifelsohne festzustellen, daß die Geiselerschießungen von Reutlingen für die französischen Behörden einen schwer belastenden Vorwurf darstellen, zumal jene Geiselerschießungen ohne Verfahren erfolgt sind, den Erschossenen keine Möglichkeit der Rechtfertigung gegeben wurde,
ein Erschossener, der Oberfeldarzt Dr. Wilhelm Ekloff, als Sanitätsdienstgrad noch unter den besonderen Schutzbestimmungen des Internationalen Roten Kreuzes stand und auch die Rot-KreuzBinde sichtbar an seiner Uniform trug
und ein anderer Erschossener, der Architekt Wilhelm Schmidt noch nicht von seinen schweren Ver-
wundungen genesen war. Vielleicht ist dieser die französischen Stellen schwer belastende Umstand mit dafür verantwortlich, daß die Aufklärung des Sachverhalts bisher seitens der französischen Stellen nicht mit der Gründlichkeit gehandhabt wurde, die die Ehre der Erschossenen und des Abgeordneten Kalbfell gefordert hätte.
Entscheidend ist jedoch die Veröffentlichung des französischen Protokolls vom 7. 11. 1949, in dem Kapitän Rouché, der seinerzeit an dem bewußten Tage eine Kommandogewalt in Reutlingen hatte, folgendes zu Protokoll gegeben hat. Ich darf mit Genehmigung des Herrn Präsidenten Ihnen Auszüge aus diesem Protokoll vorlesen:
Verhandlungsniederschrift vom 7. 11. 1949: Vor mir, CANTAREL, Rene, Commissaire Principal, Officier de Police judiciaire, auxiliaire de M. le Procureur de la République, erschien heute auf Ladung in der gegen. STAIGER, Jacob, wegen Beleidigung geführten Strafsache, in Erledigung des Ersuchens vom 25. 10. 1949 des Herrn Untersuchungsrichters von Reutlingen, das mir durch den Herrn Untersuchungsrichter in Bordeaux, Cabinet 3, zugegangen ist,
Herr ROUCHÉ, Max, geb. 3. April 1902 in Merville , professeur d'allemand à la Faculté des Lettres, wohnhaft 94 Avenue du Parc de Lescure, Bordeaux.
Dieser hat nach seiner Erklärung, daß er mit dem Beschuldigten weder verwandt noch verschwägert noch sonst für ihn interessiert sei, und nachdem er den Eid dahin geleistet hatte, die volle Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen, folgendes ausgesagt:
Es ist richtig, daß ich am 24. 4. 1945 die Funktion des Chefs du deuxième Bureau des Armeekommandanten in Reutlingen ausübte.
Frage: Hat Herr KALBFELL, Bürgermeister von Reutlingen, die vier Personen, die wegen eines auf eine französische Militärperson ausgeübten Attentats erschossen werden sollten, bezeichnet?
Antwort: Nein.
Frage: Hat Herr Oberbürgermeister Kalbfell den französischen Dienststellen eine Geiselliste übergeben?
Antwort: Ich habe eine Liste von notorischen
Nazis in Händen gehabt, unter
welchen die vier Geiseln ausgewählt
wurden. Ich kann mich nicht erinnern, wie diese Liste aufgestellt
wurde, aber ich fühle mich veranlaßt zu glauben, daß diese Liste
nicht von Herrn Kalbfell stammte.
Frage: Hat der Oberbürgermeister Kalbfell
in irgendeiner Weise an der Aufstellung einer Geiselliste mitgewirkt?
Antwort: Unter den Vorbehalten, wie ich sie
soeben formulierte, bin ich davon
überzeugt, daß der Oberbürgermeister Kalbfell nicht an der Aufstellung der Geiselliste beteiligt war.
Ich bin unbedingt sicher, was die
Antwort auf die erste Frage anlangt. Was die Antwort auf die zwei
anderen Fragen betrifft, kann ich
nicht ebenso bestimmt aussagen, da meine Erinnerung hieran ungenau ist.
Vorgelesen, genehmigt und unterschrieben
Le COMMISSAIRE PRINCIPAL aux Délégations Judiciaires:
gez. Rouché; gez. Cantarel.
Abgeordneter Kalbfell hat zu diesem Protokoll noch an Eidesstatt erklärt, um jeden Zweifel auszuschließen, daß er mit keiner Liste, die Namen von Nationalsozialisten enthielt, etwas zu tun hätte und somit auch keine Liste für Geiseln aufgestellt haben könne.
Es ist nicht Sache des Ausschusses für Geschäftsordnung und Immunität, in eine materielle Würdigung des Sachverhalts einzutreten. Entscheidend ist vielmehr nach den bisher aufgestellten Grundsätzen die Frage, ob der Abgeordnete seiner ungestörten Parlamentsarbeit erhalten bleiben soll oder der gegen ihn gerichtete Vorwurf so schwerwiegend ist, daß im Hinblick auf eine ungestörte Ausübung der Rechtspflege eine Aufhebung der Immunität erfolgen soll. In den früher hier aufgestellten Grundsätzen hat sich das Haus zu der Auffassung bekannt, daß alle Verfahren dann nicht zu einer Aufhebung der Immunität führen sollten, bei denen offenkundig das Verfahren politisch infiziert und eine tendenziöse Verfolgung des Abgeordneten erkennbar ist. Es ist nach der Art der Presseberichterstattung unstreitig, daß die Absicht einer politisch-tendenziösen Verfolgung des Abgeordneten Kalbfell vorliegt. Mithin hätte nach den bisherigen Grundsätzen der Aufhebung der Immunität nicht stattgegeben werden dürfen. Der schwere kriminelle Vorwurf jedoch, der dem Abgeordneten Kalbfell zur Last gelegt wird, insbesondere aber die Tatsache, daß auf andere Weise die durch die Presseangriffe verletzte Ehre des Abgeordneten Kalbfell nicht wiederhergestellt und die Aufhellung des seinerzeitigen Tatbestandes nicht ermöglicht werden können, stellen so gravierende Momente dar, daß sie zu einer Abweichung von der bisherigen Regel Anlaß geben. Der Ausschuß hat daher einstimmig beschlossen, dem Hohen Hause die Aufhebung der Immunität des Abgeordneten Kalbfell zu empfehlen.
Abschließend möchte ich noch davon Kenntnis geben, daß der Abgeordnete Kalbfell von sich aus durch ein Schreiben vom 20. 9. 1950 den Bundestag urn die Aufhebung seiner Immunität ersucht hat. Es ist unstreitig, daß zu dem Kreis der Antragsberechtigten auch der Abgeordnete gehört, er selbst also die Aufhebung seiner Immunität beantragen kann. Nach der Praxis des früheren Reichstags, der sich auch der Bundestag angeschlossen hat, sind solche Anträge für die Entscheidung völlig unerheblich. Im Ausschuß für Geschäftsordnung und Immunität ist zum Ausdruck gekommen, daß die turbulenten Verhältnisse beim Einmarsch in Reutlingen und die Panikstimmung unter der Bevölkerung es kaum wahrscheinlich erscheinen lassen, daß das französische „bataillon de choc", dessen Schock- und Schreckwirkungen heute noch in Reutlingen in grausiger Erinnerung sind,
sich an die deutschen .Dienststellen und den Oberbürgermeister gewandt hat. Dagegen spricht der
ganze Ablauf des Verfahrens. Es wurde im Aus-
schuß ferner zum Ausdruck gebracht, daß die französischen Behörden von sich aus alles daransetzen sollten, um den Fall restlos aufzuklären, und daher von dem Evokationsrecht keinen Gebrauch machen sollten, damit der aus den Kriegsereignissen tief bedauerliche „Fall Reutlingen" nicht nur im Interesse der Gerechtigkeit, sondern auch der Ehre des Abgeordneten Kalbfell seiner Klärung entgegengeführt und Pressekampagnen hier vorliegender Art in Zukunft unmöglich gemacht werden.