Rede von
Dr.
Erich
Mende
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, der bisherige Verlauf der Debatte hat doch gezeigt, daß der Ältestenrat sehr schlecht beraten war, als er dieses eminent wichtige und von der Öffentlichkeit so sehr beachtete Gesetz an das Ende der heutigen Tagesordnung setzte
und diese dreistündige Debatte somit nicht in der Würde erwächst, die dieses Gesetz an sich erfordert.
Aber, meine Damen und Herren, darüber haben
schon einige meiner Herren Vorredner gesprochen.
Ich möchte noch auf einen zweiten Mangel aufmerksam machen. Ein bekannter Staatsrechtler hat
einmal gesagt: Das Wesen des Parlaments und die geistige Grundlage des Parlamentarismus ist jener diskursive Vorgang von Rede und Gegenrede, aus denen sich dann schließlich die richtige Meinung als Resultat ergibt.
Darum das Institut der parlamentarischen Redefreiheit, das Institut der Immunität und auch das Institut des § 86 unserer Geschäftsordnung — und fast aller Geschäftsordnungen der demokratischen Länder —, in dem es heißt, daß die Abgeordneten in freiem Vortrag zu den Dingen Stellung nehmen.
Ich muß sagen, daß jene Art der Vorlesungen, wie sie zum Teil hier gehalten worden sind, wider die geistige Grundlage des Parlamentarismus ist.
Denn es ist kein diskursiver Vorgang in dieser Debatte zu erkennen. Ich habe leider keinen Redner gehört, der auf seine Vorredner und deren Argumente einging, woraus sich eben die richtige Meinung bei diesem Prozeß der Auseinandersetzung ergeben sollte. Auch hier scheint mir, daß in Zukunft eine straffere Anwendung des § 86 der Geschäftsordnung im Geschäftsordnungsausschuß und im Ältestenrat doch einmal ventiliert werden müßte.
Meine Damen und Herren, es soll heute dieses wichtige Gesetz in der ersten Lesung generell besprochen werden. Über die Vorgeschichte ist schon berichtet worden. Aber ich glaube, man darf nicht vergessen, daß im Jahre 1946 bei der Zerschlagung der Kriegsopferversorgung auch deutsche politische Kräfte mit Pate gestanden oder Mithilfe geleistet haben, und, meine Damen und Herren, es sind eigenartigerweise zum Teil die gleichen Kräfte, die heute das Monopol und die alleinige Anwartschaft auf die Hilfe für die Kriegsopfer für sich in Anspruch nehmen.
Ich glaube, das ist im Lande gut genug bekannt, und die Kriegsopfer wissen am allerbesten, welche Politiker 1945 und 1946 Reden gehalten und Veröffentlichungen herausgegeben haben, von denen sie selber heute nichts mehr wissen möchten.
— Auch Ihnen, Herr Kollege Kohl, möchte ich nahelegen, einmal darüber nachzudenken, wie ihre Fraktion — Verzeihung, Sie sind es ja nicht mehr —,
wie Ihre Pseudo-Fraktion sich vor einigen Jahren zu dem Problem der Hilfe für die Kriegsopfer verhalten hat.
Die Verfassungsgrundlage dieses Bundesversorgungsgesetzes ist der Art. 74 Ziffer 10 unseres Grundgesetzes. Es ist ohne Zweifel beklagenswert, daß dieses Gesetz uns erst so spät vorgelegt wird, nachdem das Grundgesetz vorsah, daß der Bund ab 1. April 1950 alleiniger Träger der Kriegsopferversorgung werden würde. Aber ich muß hier doch bekennen, daß aus allen Fraktionen und insbesondere — da muß ich Herrn Kollegen Leddin beipflichten — aus dem Ausschuß für Kriegsopfer und Kriegsgefangenenfragen die etwas schwerfällige Maschinerie der Bürokratie immer wieder neu geölt wurde, damit sie heute endlich ans Ziel gelangte. Es haben also praktisch alle politischen Kräfte teil an dem Verdienst, daß wir dieses
Bundesversorgungsgesetz nun endlich in erster Lesung behandeln können.
Die Frage der Rechtsgrundlage ist auch in der Öffentlichkeit bestritten. Man glaubt, man müsse die Kriegsopferversorgung aus fürsorgerischen, moralischen und ethischen Gründen durchführen. Meine Damen und Herren, die Rechtsgrundlage der Kriegsopferversorgung ist der Schadensersatzanspruch, den die Schwerbeschädigten, die Hinterbliebenen, die Witwen und Waisen, an den Staat zu richten haben, und erst in zweiter Linie kommen dann die allgemeinen sozialfürsorgerischen, moralischen und ethischen Gesichtspunkte.
Ich muß Ihnen hier die erschütternden Zahlen bekanntgeben, weil ja Vergleiche mit der Regelung zum Beispiel in anderen Ländern gezogen werden. Ich erinnere an den eben genannten Streitpunkt, ob nun Kollege Bazille recht hat oder nicht. Ich will noch darauf zu sprechen kommen. Nach den Ausführungen des Bundesarbeitsministers ist ein Personenkreis von über vier Millionen Menschen zu versorgen. Darin sind 1 399 810 Schwerbeschädigte enthalten, von denen über dreiviertel Millionen — über 50 %! — beschädigt sind, also Amputationen und schwere körperliche Schäden zu beklagen haben; 626 000 Witwen, 1 200 000 Waisen, 59 000 Vollwaisen, 83 000 Elternteile und 36 000 Elternpaare. Hinzu kommen noch eine Dreiviertelmillion unerledigter Anträge, so daß die gewaltige Zahl von vier Millionen Anspruchsberechtigter schließlich zusammenkommt.
Wenn Sie einmal das Kriegsopferrecht der anderen Staaten — Englands, Amerikas, Belgiens, Frankreichs — vergleichen, dann muß man dem Kollegen Bazille objektiv recht geben. Denn es ist eine Regelung, die durchaus als vorbildlich angesehen werden kann, mit Ausnahme besonderer Bestimmungen des französischen Kriegsopferrechtes. Aber auch das französische Kriegsopferrecht könnte sich bei einer Viermillionenzahl diese Vergünstigungen nicht leisten, die es der jetzigen Zahl um 100 000 zugute kommen läßt.
Die materiellen Aufwendungen betragen dementsprechend nach diesem Gesetz 3 Milliarden 34 Millionen. Es ist hier die Zusage gehalten worden, die sowohl der Finanzminister als auch der Bundesarbeitsminister im Februar und März bei den Beratungen des Überbrückungsgesetzes gemacht haben, daß der gesamte Betrag nämlich die DreiMilliarden-Grenze überschreiten würde.
Nun lassen Sie mich einige grundsätzliche Einzelheiten zum Gesetz selbst sagen. Das Gesetz ist in seiner Systematik und in seinem Aufbau außerordentlich gut geworden. Die ersten Entwürfe waren nicht so, und ich muß hier bekennen, daß die Mitarbeit der Fraktionen dieses Hauses und auch die Mitarbeit der Organisationen der Kriegsopferbewegung mit dazu beigetragen hat, Ihnen nun diesen Entwurf hier in dieser Form vorlegen zu können.
Der Personenkreis ist sehr weit gefaßt. Es ist vorher gerade der Streit gewesen, ob die Angehörigen der Waffen-SS mit zu den Versorgungsberechtigten gehörten oder nicht. Dieser Streit beruht auf einem Mißverständnis. Der Bundesrat hat den Passus „Waffen-SS" gestrichen, weil er der richtigen Auffassung ist, daß die Waffen-SS als ein Teil der Gesamtwehrmacht ohnehin schon in die Rubrik der Versorgungsberechtigten fällt; und es ist bedauerlich, daß ein Pressechef dieses Gesetz scheinbar nicht so eingehend gelesen hat und dann diese falsche Orientierung der Öffentlichkeit erfolgt ist. Eine solche Behandlung eines Teiles der Wehrmacht wäre ja auch verfassungsrechtlich ein Verstoß gegen die Gleichheit aller vor dem Gesetz, rechtlich ein Verstoß gegen die Frage des individuellen Schuldnachweises. Denn die Kollektivschuldbegriffe Nürnberger Art sind noch nicht oder Gott sei Dank nicht in das deutsche Recht rezipiert worden; sondern es ist ein fundamentaler Grundsatz, daß die individuelle Schuld dem einzelnen nachgewiesen werden muß. Es wäre schließlich auch moralisch und ethisch untragbar und politisch gefährlich, hier eine Kampfgruppe gegen die Demokratie zu schaffen, indem man eine Gruppe der Verbitterten zurückläßt, die ja letzten Endes als Amputierte und Schwerbeschädigte nicht minder Anspruch auf Hilfe seitens der Gemeinschaft ihrer Mitbürger hatten als die andern auch.
Die Frage des § 8 muß in den Beratungen des Ausschusses geklärt werden; und ich muß heute schon sagen, in dieser Form, wie hier der § 8 gefaßt ist, werden wir ihm nicht zustimmen können. Es heißt darin, daß, soweit ein Anspruch auf Zahlung von Versorgungsbezügen wegen politischer Belastung nicht besteht, auch der Anspruch auf Geldleistungen nach diesem Gesetz entfällt. Meine Damen und Herren! Das würde eine Prolongierung der Entnazisierung mit schweren vermögensrechtlichen Folgen für die Angehörigen bedeuten.
Ich empfehle Ihnen, einmal in der heutigen Ausgabe der „Welt" den Aufsatz über die „Innere Kapitulation" zu lesen. Es ist unbestritten, daß das einzige Verdienst oder vielmehr der einzige Erfolg der Entnazisierung der ist, daß man sich in unserem Volk zur Demokratie nicht in dem Maße bekennt, wie man es an sich müßte, weil man nicht weiß, ob nicht auf die Entnazisierung des Jahres 1945 eines Tages die Entdemokratisierung kommen könnte.
Und da eine gewisse Gruppe der politischen Richtung von da drüben noch versucht, immer wieder diese Angst, diesen Seelenterror noch jetzt mit ihren Organisationen in die Öffentlichkeit zu tragen, darum diese innere Kapitulation, von der die heutige Ausgabe der „Welt" schreibt. Ich glaube, wenn wir diesen Paragraphen so lassen, tun wir der Nationalen Front des Herrn Kohl einen guten Dienst und schaffen eine neue Gruppe, die letzten Endes nicht mit dem Staat geht, sondern gegen unsern demokratischen Staat angeht. Insofern muß dieser § 8 verschwinden; denn wie gesagt, selbst Herr Oberbürgermeister Henßler hat eines Tages in richtiger Erkenntnis im Düsseldorfer Landtag die Entnazisierung als das „liederlichste Werk der deutschen Nachkriegsgeschichte" bezeichnet.
Meine Damen und Herren! Es ist dann noch die Frage der Einbeziehung Berlins hier angeklungen. Ich hoffe, daß wir staatsrechtlich und auch außenpolitisch in der Lage sind, Berlin einzubeziehen.
Denn Berlin kann keinen Sonderstatus in diesem Bundesversorgungsgesetz einnehmen. Also auch wir werden, soweit keine staatsrechtlichen oder außenpolitischen Bedenken dagegen stehen, der Einbeziehung Berlins in den Kreis der Versorgungsberechtigung zustimmen.
Eine sehr wichtige und in den Kriegsopferverbänden hart umstrittene Bestimmung ist die Frage der Freigrenze. Hier ist eine unglückliche Lösung gewählt. Wenn man 60 und mehr DM verdient, wird dieser Verdienst auf den Kriegsopferrentenbezug angerechnet. Das bedeutet volkswirtschaftlich, daß der Beschädigte entweder durch einen Abzug seiner Rente für seine Arbeit bestraft wird oder gezwungen ist, durch irgendwelche formellen Manipulationen zu versuchen, doch keine Abzüge auferlegt zu bekommen. Es kommt doch darauf an, aus diesem großen Kreis von vier Millionen Berechtigten so viel wie möglich für unsere Volkswirtschaft zu mobilisieren. Das kann man nicht, indem man eine solche engherzige Bestimmung schafft und indem man für Arbeit bestraft; sondern man kann es dadurch, daß man die Freigrenze so hoch wie nur irgend möglich ansetzt. Uns schwebt für den Ledigen ein Betrag von 200 DM und für den Verheirateten ein Betrag von 300 DM vor. Wir hoffen, daß das im Ausschuß und hier im Plenum durchzusetzen sein wird.
Ich darf zur Kapitalabfindung meine Kollegin Dr. Probst ergänzen. Diese Kapitalabfindung ist von den Verbänden sehr gewünscht und sehr begrüßt worden. Es wird sich vielleicht empfehlen, sie zu erweitern, indem man die jüngeren Witwen einbezieht, die durch eine Teil-Kapitalabfindung in die Lage versetzt werden können, eine Berufsausbildung nachzuholen.
Ich darf zum Schluß noch einige allgemeine Bemerkungen an Sie richten. Es ist eben hier von dem Herrn Kollegen Kohl mit dem Marsch der Kriegsopfer auf Bonn gedroht worden. Ich glaube, Herr Kollege Kohl, die Kriegsopfer legen am wenigsten Wert darauf, daß Sie sie zu diesem Marsch auffordern, sondern sie werden wissen, was sie zu tun und wie sie sich zu diesen Beratungen zu verhalten haben.
Wir haben leider jetzt in der Öffentlichkeit beobachten müssen, daß nach einer anfänglichen Zufriedenheit mit diesem Entwurf nunmehr in einem Rivalitätskampf der verschiedenen Kriegsopferverbände versucht wird, den Entwurf eben als nicht zufriedenstellend zu bezeichnen.
Die einzelnen Verbände überbieten sich nunmehr in Erhöhungsanträgen. Ich glaube, das führt am Ende nicht dazu, daß die Kriegsopfer davon einen Vorteil haben. Es ist daher zu wünschen, daß die Vertreter des VDK, des Reichsbundes, des Bundes der Kriegsbeschädigten, Hirnverletzten und Kriegsblinden Gelegenheit haben, im Ausschuß ihre Wünsche vorzubringen, und daß es dann zu dem endgültigen Gesetz in der dritten Lesung kommt, das für beide Teile vertretbar und zufriedenstellend ist.
Es wird sich auch noch empfehlen, das, was der Kriegsopferausschuß in Tübingen, in Bad Pyrmont und in München an erschütternden Bildern von Hirnverletzten, von Schwerstamputierten, von den Methoden, sie wieder in das Leben hineinzuführen, gesehen hat, möglichst einem großen Kreis, möglichst dem ganzen Parlament vorzuführen. Da wir im Zeitalter der Technik leben und wir auch die Technik in den Dienst unserer demokratischen Sache stellen sollten, empfehle ich dem Präsidium, doch zu überlegen, ob es möglich ist, einen vor Jahresfrist in den Landeskrankenanstalten Pyrmont gedrehten Film über die Frage der Kriegsopferversorgung der Schwerstamputierten, der Hirnverletzten vorzuführen, und zwar möglichst vor der zweiten oder dritten Lesung, damit der Ernst und die Bedeutung des Kriegsopferproblems allen unseren Kollegen wesentlich nachdrücklicher zum Bewußtsein gebracht werden kann, als das leider heute kurz vor 21 Uhr möglich war.