Rede von
Dr.
Max
Becker
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Und noch einen Gedanken bitte ich zu beachten, und zwar auf wirtschaftspolitischem Gebiet. Sie wissen, daß wir im Jahre 1937 einen Einfuhrbedarf an Lebens- und Futtermitteln unter Zugrundeliegen einer Kalorienhöhe von 2 700 pro Person von eindreiviertel Milliarden RM hatten. Das bedeutet: wir mußten erst Devisen in Höhe von über drei Milliarden für Einfuhr von Rohstoffen schaffen, um durch deren
1 Verarbeitung nun immer wieder neu die drei Milliarden für den Neueinkauf von Rohstoffen und die eindreiviertel Milliarden Überschuß für den Bedarf an Lebensmitteln und Futtermitteln zu schaffen. Das war damals bei 2 700 Kalorien. — Übrigens: wie lange ist es her, daß man nicht mehr von Kalorien spricht? Wir haben auch das schon wieder schnell vergessen! — Und wie sieht nun, da wir die Ostprovinzen, die landwirtschaftlichen Überschußprovinzen verloren haben, die Rechnung für Deutschland aus? Erhöhter Export ist notwendig, um uns auf dieser Höhe der Ernährung zu halten. Ferner: jedes andere europäische Land industrieller Art, Belgien, Holland, England, Italien, in gewissem Maße auch Frankreich, haben dieselbe Not. Ergebnis: Wenn alle getrennt vorgehen, ist die Folge, daß jeder getrennt mit dem andern Konkurrenz treiben muß, um seinen Export abzusetzen; denn die Absatzmärkte sind ja in der Welt geschwunden. Auch das hat sich noch nicht überall richtig herumgesprochen. Infolgedessen ist die einzige Konsequenz, die sich daraus ergibt, der Zusammenschluß der europäischen Mächte zu einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik. Denn die Summe des Einfuhrbedarfs der getrennt wirtschaftenden Länder ist größer als der Einfuhrbedarf eines Gesamteuropa, oder umgekehrt ausgedrückt: Die Summe der Exportnotwendigkeit getrennt wirtschaftender Länder ist kleiner als die Notwendigkeit des Exports für Gesamteuropa. Wir können mit dem Gesamteuropa, mit einer Gesamtwirtschaft im Innern uns von der Einfuhr etwas unabhängiger und in gleichem Maße von der Ausfuhr etwas unabhängiger machen, als wenn wir getrennt wirtschaften.
D Diese zwingende Notwendigkeit des Exports zwingt zu Europa; und deshalb sagen wir auch zu der Vorstufe eines geeinten Europa, nämlich zum Europarat ja.
Und die weitere Konsequenz. Was sagt nun die Opposition gegen diese Vorschläge? Wir haben es
heute morgen schon erörtert, insbesondere mein Freund Schäfer hat schon über die Dinge gesprochen. Abwarten, wie es der Zentrumsvorschlag mit sich bringt, ist überhaupt keine Politik.
Die Frage der Saar ist auch bereits von meinem Vorredner, dem Kollegen Schäfer, gestreift worden. Wir beharren bei dem Beschluß des Bundestags, der sich gegen diese Saarkonvention richtet. Wir beharren bei dem Protestschreiben der Bundesregierung. Wir beharren bei der Erklärung, die heute morgen hier im Hause verlesen worden ist und die dahin geht, daß Änderungen des deutschen Gebiets im Osten und im Westen nur auf der Grundlage eines Friedensvertrags anerkannt werden können. Aber wir sind der Auffassung, daß diese Frage des Saargebiets mit der Frage des Eintritts in den Europarat nichts zu tun hat. Die Sozialdemokratie steht auf dem Standpunkt und bemüht sich, zu beweisen, daß der Eintritt in den Europarat gemeinsam mit der Saarregierung eine Anerkennung der Dinge sei, unter denen die Saarregierung zustande gekommen sei, und eine Anerkennung der Saarkonvention. Meine Herren, der Ausgangspunkt ist falsch. Sie bemühen sich, dieses Axiom aufzustellen und in die Welt zu stellen, obwohl die Tatsachen, nämlich unsere Protesterklärungen mannigfacher Art, die ich aufgezählt habe, gerade dagegen sprechen, und erst dadurch, daß Sie dieses Axiom aufstellen,
schaffen Sie für eine spätere Zukunft anderen die
Möglichkeit, mit diesem jetzt von Ihnen aus besonderen Gründen aufgestellten Axiom zu operieren.
Diese Taktik ist falsch im allgemein deutschen Sinn!
Und noch eins: Wenn wir der Meinung sind, daß der Abschluß der Saarkonvention, die Schaffung eines Saarstaats ohne echte demokratische Legitimation ein Fehler war, sind wir dann verpflichtet, auch einen neuen Fehler zu machen? Doch keineswegs! Sondern die richtige Politik besteht darin, Fehler zu vermeiden. Der Fehler, den wir vermeiden müssen, ist der, nun aus einem gewissen Trotz, aus Rechthaberei nicht in den Europarat hineinzugehen, obwohl er uns die Basis geben würde, von dort aus das, was zum Saargebiet zu sagen ist, zu korrigieren und zu rügen.
Weiter wird in der Öffentlichkeit davon gesprochen: Wenn man in den Europarat hineinginge, bedeute dies ein Abschiednehmen von der Ostzone. Kein Wort ist davon wahr! Wer hat denn die Spaltung, um dieses „schöne" Wort zu gebrauchen, herbeigeführt? Doch der Osten! Der Osten hat ein politisches System des Drucks und des Terrors eingeführt und dadurch die Ostzone von uns getrennt. Der Osten hat ein wirtschaftliches System eingeführt, das mit dem westlichen nicht mehr zu vereinbaren ist. Und glaubt man umgekehrt im Volke, man müsse aus Gründen des Ressentiments diesen Schritt in den Europarat hinein unterlassen, um damit im Osten den Gedanken zu vermeiden, man werde ihn im Stich lassen, — glaubt man, daß sich, irgend etwas an dem tatsächlichen Geschehen dort ändert? Glauben Sie, daß, wenn wir heute den Beschluß nicht fassen, dann eine Spur Freiheit mehr jin der Ostzone ist? Glaubt man, daß dort etwa das Privateigentum, die freie Wahl des Arbeitsplatzes, die freie Berufswahl wieder eingeführt würde? Glaubt man, daß die wirkliche Zahl der Kriegsgefangenen und ihr Schicksal uns dann wahrheitsgemäß bekannt würden? Glaubt man, daß dieser Pakt von Warschau zerrissen werden würde?
Ich glaube, wir brauchen nur diese Fragen zu stellen, und die Antwort liegt auf der Hand.
Gambetta hat einmal gesagt: „Immer daran denken und nie davon sprechen!" Wir wollen den Satz abwandeln, wenn wir an die Ostzone, an die Gebiete östlich der Oder-Neiße denken: „Immer davon sprechen und immer daran denken und immer danach handeln!" Wenn wir in den Europarat hineingehen, wenn wir versuchen, hier den Westen wirtschaftlich gesund zu erhalten, wenn wir versuchen, hier den Geist der Freiheit hochzuhalten, dann schaffen wir wenigstens in einem Teile Deutschlands die Voraussetzungen, die es uns möglich machen, wenn der Tag der Einheit wieder gekommen ist, nun auch dem Osten wieder auf die Beine zu helfen.
Nun zu dem weiteren Einwand: der Europarat sei nur ein schwächliches Gebilde. Richtig, absolut richtig! Er kann nur Empfehlungen geben, aber aus seiner Mitte heraus, aus diesem Straßburger Parlament ist schon der Entschluß gekommen, man solle aus ihm ein Europa in Form einer Union mit begrenzten Aufgaben, aber echten Vollmachten schaffen, also praktisch eine Konföderation, einen Bundesstaat. Das ist auch unsere Überzeugung.
Es ist eine Ironie des Schicksals, daß heute, am 13. Juni, hier über Ja und Nein zum Europarat debattiert wird und daß morgen um 14 Uhr hier in diesem Hause die deutsche Sektion der Interparlamentarischen Union auf ein Referat des Herrn Kollegen Brill hin darüber debattieren wird, ob es nicht angezeigt ist, eine festere, straffere Organisation in Richtung auf einen europäischen Bundesstaat zu schaffen. Dieses Ziel entspricht auch unserer Auffassung. Ich gebe die Meinung meiner Freunde wieder, wenn ich sage: wir wünschen, daß, ähnlich wie der Parlamentarische Rat aus den Ländern Deutschlands eine einheitliche Bundesrepublik geschaffen hat, ein Parlamentarischer Rat für Europa geschaffen wird, gegründet auf allgemeine Wahlen, so daß die Bevölkerung in vollem Umfange daran teilnehmen kann, diesen Rat zu schaffen, und daß dieser Rat endlich die Konstitution schafft, die aus Europa mehr als nur dieses lockere Gebilde des Europarates macht.
Aber solange dieses lockere Gebilde als Vorstufe, als Entwicklungsphase besteht, wollen wir mit hineingehen. Draußenstehen ist eine Inaktivität, die nie Politik gewesen ist.
Der Herr Kollege Schumacher hat mit Recht darauf hingewiesen, daß dieser Europarat sehr schwach konstruiert ist, daß er wenig Rechte gibt. Aber Herr Kollege Schumacher hat in merkwürdigem Widerspruch mit sich selber dann ausgeführt, daß dieser Eintritt in den Europarat uns zwangsläufig in den Atlantikpakt und zwangsläufig — gegen unseren Willen sogar zur Wiederaufrüstung führen wird. Das ist eine innere Unlogik, mit der kaum jemand fertig werden kann.
Der Europarat ist auch in der verbesserten Form einer Union, eines Bundesstaates, wie wir es uns vor stellen, verglichen mit dem Atlantikpakt, also mit einem Staatsvertrag zwischen den ihm angeschlossenen Mächten, doch etwas Grundverschiedenes.
In einem allerdings gehe ich mit Herrn Dr. Schumacher ebenso wie mit Herrn von Brentano einig, daß wir alle einer Politik der Neutralität — etwa als einer andern Lösung — absagen wollen. Neutralität — ein sehr guter Gedanke, schön, berauschend, aber gefährlich. Wenn es nur an uns läge, wir würden sofort neutral bleiben, denn das deutsche Volk wünscht nie wieder einen Krieg, weil es weiß, daß es das letzte Dach, das es über seinem Kopfe hat, aufs Spiel setzen würde, daß ein Krieg sich in seinem Lande abspielte. Aber die Neutralität hängt ja auch von anderen ab, von der Garantie, die andere geben können, und in letzter Linie hängt sie von der geopolitischen Lage ab, in der sich ein Volk befindet. Wenn Völker, wenn Heere von dem Osten nach dem Westen und von dem Westen nach dem Osten durch Europa ziehen, so müssen sie immer nördlich der Alpen ziehen, und es ist sicher, daß sie immer durch Deutschland, Frankreich und Polen ziehen werden. Es besteht die Gefahr, daß dann, wenn sich hier ein machtpolitisches Vakuum bildet, der Anreiz, diese Durchmarschmöglichkeit zu benutzen, sehr viel stärker als sonst ist. Infolgedessen sehe ich in einer Neutralitätserklärung, mit der oft im Volke gespielt wird, nichts als den Versuch, klares Denken zu vernebeln.
Bei der Bildung des Europarates ist England erfreulicherweise beteiligt. Ich glaube freilich, annehmen zu sollen, daß diese Beteiligung Englands zur Folge gehabt hat, daß eine schärfere Zusammenfassung zu einer Konföderation im Augenblick seiner Entstehung nicht möglich war. Wir wünschen aber, daß auch in einem konföderierten Europa, wie wir es uns vorstellen und wie es sich aus dem Europarat entwickeln mag, England beteiligt ist. Wir wünschten, daß es auch bei dem Schuman-Monnet-Plan beteiligt wäre. Wir wünschen es unter anderem deshalb, weil dieses England im Jahre 1940, völlig auf sich allein gestellt gegenüber uns und unseren Verbündeten, die Idee der menschlichen Freiheit hochgehalten hat. Dieses Verdienst wollen wir als seine damaligen Gegner offen und rückhaltlos anerkennen. Gerade wegen dieses Bewußtseins der Freiheit, gerade deswegen, weil England den Geist der Freiheit damals geschützt und hochgehalten hat, soll es in einem künftigen Europa dabei sein. Es wird allerdings einer besonderen Regelung für England bedürfen, weil es zum Teil kontinental denken und handeln muß und zum Teil als Haupt des Commonwealth andere Interessen hat. Aber es wird andererseits nur dann eine Beteiligung an einem geeinten Europa möglich sein, wenn sich England entschließen kann, einen Teil der Souveränität an diese Konföderation Europa abzugeben. Diese Abgabe der Souveränität braucht in diesem Falle ebensowenig wie bei dem Monnet-Schuman-Plan zu schrecken; denn man muß sich immer wieder darüber klar sein, daß bei beiden ja nicht nur eine rein verwaltungsmäßige Spitze, eine pouvoir exécutif allein als Leitung vorhanden sein wird, sondern daß in beiden - auch im Monnet-Schuman-Plan — eine pouvoir juridique, eine rechtsprechende Gewalt geschaffen werden muß als Hort der Rechte und Freiheit der einzelnen damit verbundenen Länder, Korporationen und Personen.
Wenn wir so den Wunsch haben, daß auch England beteiligt sein möge, und aus vollem Herzen zu diesem Europarat „ja" sagen, so wollen wir uns doch am Schluß noch über einen Punkt klar werden. Das ist der: Alle noch so guten Institutionen, aller so geschaffene wirtschaftliche Wohlstand hat auf die Dauer keinen Bestand, wenn hinter den Dingen nicht eine tragende Idee steht. Wir müssen darauf sehen und müssen insbesondere unsere Jugend damit erfüllen, daß hinter diesem Europa eine tragende Idee steht, eine Idee, die gegenüber der kommunistischen Idee, der Idee der Unfreiheit, der Idee des totalitären Staates, gegenüber diesem Irrlicht aus dem Osten ein wirklich leuchtendes Ideal darstellt.
Dieses Ideal ist auf dem Boden der christlichabendländischen Kultur gewachsen, umfaßt die Freiheit der Persönlichkeit, den Geist der Humanität, rechtsstaatliches Denken und soziales Handeln.
Diese unsere Jugend braucht — und das sei an die Adresse der Besatzungsmächte gesagt — zu den Ideen auch Symbole, die diese Ideen versinnbildlichen. Wenn von Einigkeit und Recht und Freiheit die Rede ist, dann darf man es vielleicht auch noch singen.
Es wird auch die Zeit kommen müssen — hoffentlich bald —, da sich aus dem Besatzungsstatut ein anderes Statut entwickelt. Wir sind gegen Neutralität. Wir verlangen für uns aber, weil wir entwaffnet worden sind, weil wir uns bedingungslos haben ergeben müssen, daß uns diese Siegermächte schützen. Wenn zu unserm Schutz hier im Lande Truppen gehalten werden, dann werden sie gleichzeitig noch zu einem andern Zweck gehalten, nämlich im Rahmen derjenigen Außenpolitik, die die
Besatzungsmächte nun von sich aus befolgen. Das wird dahin führen müssen, daß man uns im größtmöglichen Ausmaß Souveränität des Handelns auf allen Gebieten gibt, soweit es eben nur mit der Tatsache zu vereinbaren ist, daß hier zu unserm Schutz Garnisonen gehalten werden müssen. Man wird dann in aller Freundschaft auch die Frage der Kosten dieser Garnisonen aushandeln müssen.
Dieser Gedanke der Souveränität gehört mit zu diesen tragenden Ideen, die wir für Europa und vor allen Dingen für unsere Jugend haben wollen. Wir möchten, daß sich die Jugend nicht in Drill und Dressur irgendwo trifft, sondern wir möchten, daß vielleicht die Jugend aller Nationen, insbesondere die Jugend von Frankreich und Deutschland, zusammenkommt, um sich gegenseitig kennenzulernen, vielleicht am Straßburger Münster, am Kölner Dom, auf dem Römer-Platz in Frankfurt am Main oder vor jenem eindrucksvollen Totendenkmal auf den Schlachtfeldern von Verdun. Dann mag unsere Jugend aus der Vergangenheit lernen; dann mag ihr erzählt werden, wie schon vor 25 Jahren Stresemann auf der Tribüne des Völkerbundes in Genf danach fragte: Wo bleibt die europäische Münze, wo bleibt die europäische Briefmarke? Man wird ihr davon sprechen, daß Stresemann damals, weil er sich mit Nein-Sagern herumschlagen mußte, von diesen als den Ewig-Gestrigen sprach. Man wird ihr erzählen, daß damals — 1924 — der Zentrums-Reichskanzler Marx in London und daß die sozialdemokratische Fraktion von damals in all den Jahren von damals mit dafür eingetreten sind, auch damals schon Völkerbundsideen zu verbreiten und für ein einheitliches Europa einzutreten.
Dann wird aus diesen Strömungen und Zusammenkünften heraus der Geist geboren werden, der den Wiederaufbau in Europa leiten wird und der dann für unsere Jugend ein Ansporn sein wird, diesen Gedanken hochzuhalten, der ihr auch einen Halt geben wird, wenn gegenüber diesem Ideal der christlich-abendländischen Kultur das Irrlicht aus dem Osten wieder leuchten will.