Rede von
Dr.
Max
Becker
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Meine Damen und Herren! Es ist in diesem Hause am heutigen Tag so oft von Europa gesprochen worden, daß, wenn Europa mit Deklamationen zu schaffen wäre, es längst stehen müßte. Aber ich habe immer wieder den Eindruck, daß man nur deklamiert und vergißt, zur Tat zu schreiten und zum Ziel zu kommen.
Der Herr Vertreter der Opposition Dr. Schumacher hat sein Nein damit begründet, daß er zu Europa an sich unter den und jenen Voraussetzungen ja sagte, dann aber so ein halbes Dutzend „Aber" daran knüpfte, um mit einem Nein zu enden. Und meine verehrte Vorrednerin brachte aus dem sympathischen Gedanken, eine Einheitsfront herzustellen, einen Vermittlungsvorschlag, der voller Irrealitäten steckt, während sie gleichzeitig davon spricht, man müsse den Dingen real ins Auge schauen. Da scheint es mir richtig zu sein, die Notwendigkeit, daß Europa endlich wirklich zum Zuge kommt, mit ein paar Worten zu begründen.
Die älteren unter uns werden sich aus ihrer eigenen Jugend noch an die Zeit des Boxeraufstandes
und an die Zeit erinnern, in der der deutsche Botschafter in Peking ermordet wurde, in der dann Europa geschlossen auftrat
und ein chinesischer Prinz als Sühneprinz mit all dem Gepränge, das die damalige Zeit auszeichnete, nach Berlin kommen und Kotau machen mußte. Wenn Sie sich demgegenüber überlegen, daß im August des vergangenen Jahres das letzte Kanonenboot einer europäischen Macht unter den Schüssen der Maotsetung-Armee den Jangtsekiang verließ, dann wissen wir und merken wir alle, was in diesen noch nicht fünfzig Jahren geschehen ist: ein Abstieg der europäischen Macht in einem heute noch erst von sehr Wenigen erkannten Ausmaß.
Am 27. Dezember 1949 ging in Batavia die holländische Fahne nieder, und an Stelle des niederländischen Kolonialreichs entstand der Staat Indodesien. Ein Jahr zuvor entstanden die Staaten Pakistan mit 80 Millionen und Hindustan mit 300 Millionen Einwohnern. Sie bedeuten das Ende der europäischen Kolonialherrschaft in weiten Gebieten der Erde. Eine Umstellung auch der wirtschaftlichen Gegebenheiten in den Mutterländern wird wahrscheinlich die Folge sein. Alle diese Dinge bedeuten einen Umsturz in einem Ausmaße, dessen wir uns noch gar nicht bewußt geworden sind. Und dann steht dieses Europa da mit Staaten von 4 Millionen, 7 Millionen, 8 Millionen, 250 00 usw. Einwohnern und begreift noch nicht, was die Uhr in Wirklichkeit geschlagen hat.
Kürzlich wurde bei unseren französischen Nachbarn die Erinnerung an die Schlacht auf den Katalaunischen Gefilden, an jene Zeit wachgerufen, als im Raume von Paris bei Reims der Ansturm der Hunnen aus dem Osten endlich von Westeuropa zum Stehen gebracht wurde. Die Menschheit hat leider vergessen, was von jener Zeit an späterhin, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, geschehen war. Da hat es im Laufe dieser Jahrhunderte das deutsche Volk fertiggebracht, alle diejenigen Völkerschaften, die je und je aus dem Innern des asiatischen Raumes nach Westen vorstießen, zum Stehen zu bringen. Ich nenne die Schlacht auf dem Lechfeld bei Augsburg, die Entsetzung des belagerten Wien, und zwar auch mit Hilfe des polnischen Königs Sobieski und die Eroberung von Belgrad. Und was war das Ergebnis alles dessen? Als wir älteren zur Schule gingen, lernten wir damals noch, daß die Grenzen Europas am Ural verliefen. Als der erste Weltkrieg vorbei war, verlegte man die Ostgrenzen Europas an die Pripetsümpfe, an die Ostgrenze Polens. Und wenn wir uns heute die Entwicklung der Geschichte anschauen, dann könnten wir versucht sein zu glauben, die Ostgrenze Europas sei zur Zeit auf der Linie LübeckTriest zu suchen. Das sind die Tatsachen, wenn wir nun schon mal von Realitäten und ihrer Beachtung sprechen wollen, die wir zu bedenken haben. Und wenn daraus nicht folgt, daß nun endlich nicht mehr mit den Methoden Richelieus oder Choiseuls, sondern mit den Methoden europäischer Gemeinsamkeit, europäischen Denkens außenpolitisch gehandelt werden muß, dann kann diesem Europa nicht mehr geholfen werden!
Es war uns eine besondere Freude, daß wir nach den Debatten über die Saar nun heute auch den Schuman-Monnet-Plan als einen Ausdruck echt europäischen Denkens und echt europäischen Wollens begrüßen können. Wir beglückwünschen die französische Regierung zu diesem Vorschlag. Wir beglückwünschen sie zu der Initiative und Tatkraft, mit der sie die Dinge nun in europäischem Geist zur Tat voranbringt.