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ID0106802400

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    Deutscher Bundestag. — 68. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 13. Juni 1950 2457 68. Sitzung Bonn, Dienstag, den 13. Juni 1950. Geschäftliche Mitteilungen . . . . 2457C, 2502D Mandatsniederlegung des Abg. Dr. Schlange-Schöningen 2457C Eintritt des Abg. Horn in den Bundestag 2457C Anfrage Nr. 76 der Fraktion der FDP betr. Verwendung der als erste Hypothek ausgegebenen ERP-Mittel (Drucksachen Nr. 92G und 1012) 2457C Anfrage Nr. 81 der Fraktion der BP betr. Abkommen über die Inanspruchnahme von privatem Wohnraum und von Hotels durch die Besatzungsmächte (Drucksachen Nr. 959 und 1015) 2457D Interfraktionelle Erklärung betr. Gebiet östlich der Oder-Neiße-Linie 2457D Löbe (SPD), Alterspräsident . . 2457D Dr. von Brentano (CDU) (zur Geschäftsordnung) 2458B Abstimmung 2459A Unterbrechung der Sitzung 2458C, 2459A Ausschluß des Abg. Reimann für 30 Sitzungstage 2458D Unterbrechung der Sitzung . 2458D Erste und zweite Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum Eu- roparat (Drucksache Nr. 984) 2459B Dr. Adenauer, Bundeskanzler . . . 2459B Dr. von Brentano (CDU) 2466D Dr. Schumacher (SPD) 2470B Dr. Schäfer (FDP) 2478B Dr. Seelos (BP) 2481A Blücher, Vizekanzler 2484D Frau Wessel (Z) 2485B Dr. Becker (Hersfeld) (FDP) . . . 2490A Dr. von Merkatz (DP) 2493B Tichi (WAV) 2496A Nuding (KPD) 2496C Dr. Miessner (DRP) 2500C Clausen (SSW) 2501B Dr. Dorls (SRP) 2501B Dr. Leuchtgens (DRP) (Persönliche Bemerkung) 2502C Nächste Sitzung 2502D Die Sitzung wird um 9 Uhr 24 Minuten durch den Präsidenten Dr. Köhler eröffnet.
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    Rede von Helene Wessel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Auseinandersetzung über den Eintritt der Bundesrepublik in den Europarat, wie wir sie in diesem Hohen Hause bis jetzt erlebt haben, bietet nach all dem, was in den letzten Monaten an öffentlicher Diskussion über den Europarat vor sich gegangen ist, eigentlich keine Überraschung; denn wir wußten ja, daß einer Front der Jasager, von denen nicht alle unbedenklich ja sagen, auch eine Front der Neinsager gegenübersteht, der — zu ihrem überwiegenden Teil — dieses Nein unendlich schwer fallen dürfte und die jedenfalls durch ihr Nein zum Europarat kein Nein zu Europa zum Ausdruck bringen möchte.
    Weil uns diese parlamentarische Situation nicht überrascht hat, sondern vorbereitet antrifft, sind wir, meine Damen und Herren, offensichtlich zu leicht bereit, sie als etwas Gegebenes hinzunehmen und so die wirklich ernstzunehmende Tragik - das ist auch aus diesen Verhandlungen hervorgegangen — und auch die Möglichkeit nicht mehr zu sehen, daß hier eine Einheitsfront der leidenschaftlichen Befürworter der Einheit eines freien Europas doch noch zustande kommen könnte.
    Meine politischen Freunde und ich haben uns wieder und wieder die Frage vorgelegt, ob wir uns trotz der ursprünglich gegebenen Voraussetzungen für ein Bekenntnis der überwiegenden
    Mehrheit dieses Hauses zu Europa wirklich schon unserer Pflicht entledigt haben, ob wir nicht doch noch einmal an das Hohe Haus appellieren sollten. Ich glaube, man kann es keinem derjenigen, die bisher an dieser Stelle zum Europarat gesprochen haben, absprechen, daß er in Wahrheit für Europa gesprochen hat. Wir haben uns deshalb entschlossen, noch einmal an das Hohe Haus zu appellieren, ob es sich nicht doch zu einer gemeinsamen Aktion zusammenschließen könnte, die wirklich unserer gemeinsamen europäischen Überzeugung entspricht.
    Ich habe mich vorwiegend deshalb hier zum Wort gemeldet, weil ich glaube, es könnte sowohl für die Regierungkoalition als auch für die sozialdemokratische Fraktion ein annehmbarer Vorschlag sein, einem Antrag zuzustimmen, der einerseits über unsere grundsätzliche Zustimmung zu der Vereinigung des freien Europas nicht den geringsten Zweifel läßt, der andererseits aber, wenn er durchgeführt wird, nicht etwa nur denjenigen, die heute eigentlich nein sagen wollen, sondern auch denen, die trotz Bedenken ja sen möchten, doch noch eine gemeinsame Aktion ermöglichen würde.
    Es handelt sich bei diesem Antrag der Zentrumsfraktion, der dem Herrn Präsidenten bereits vorliegt, nicht um ein faules Kompromiß. Ich habe die Überzeugung und die Hoffnung, daß es uns gelungen ist, in diesem Antrag diejenigen wesentlichen Punkte zu präzisieren, die die große Mehrheit dieses Hauses als noch ungeklärt erkannt hat und die vielen von uns ernste Sorgen bereiten. Gestatten Sie mir deshalb, daß ich Ihnen den Antrag meiner Fraktion zur Kenntnis bringe, und prüfen Sie dann einmal unvoreingenommen. Glauben Sie mir, daß uns nichts anderes leitet als der aufrichtige Wunsch, Mittel und Wege für eine Zusammenarbeit dieses Hohen Hauses zum Wohle Deutschlands und aller freien europäischen Völker aufzuzeigen. Es ist nicht ganz leicht, über die parteipolitischen Schatten zu springen. Wenn man dazu noch eine wahlpolitische Entscheidung fast unmittelbar vor sich hat, dann kann hie und da die Neigung zu Auseinandersetzungen die Bereitschaft zur Zusammenarbeit etwas überwiegen. Aber, meine Damen und Herren, der Wahlkampf verrauscht, doch die jetzt fällig gewordene politische Entcheidung bleibt bestehen. Was wir heute versäumen, ist unwiderruflich versäumt. Ich bitte Sie, Ihre Haltung zu dem vorliegenden Antrag der Zentrumsfraktion in diesem Bewußtsein abzuwägen.
    Unser Antrag lautet:
    Der Bundestag wolle beschließen:
    Die Bundesregierung wird ersucht, auf Grund der Vollmacht, die ihr von den Hohen Kommissaren zu unmittelbaren Verhandlungen mit den Regierungen anderer Staaten erteilt worden ist, mit .den Regierungen von Großbritannien, Frankreich, der Niederlande, von Belgien, Luxemburg, Schweden, Norwegen, Dänemark, Island, Irland, Griechenland, der Türkei und Italiens Verhandlungen aufzunehmen, um über folgende Punkte ein Übereinkommen zu erzielen:
    1. Die Bundesrepublik Deutschland vertritt im Europarat Gesamtdeutschland, einschließlich der deutschen Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie.


    (Frau Wessel)

    2. Die beratende Versammlung des Europarats wird zu einem von den Regierungen der einzelnen Staaten unabhängigen europäischen Parlament ausgestaltet.
    3. Die deutsche Forderung auf Ablehnung einer Remilitarisierung Deutschlands wird anerkannt.
    4. Auf der Grundlage des Schuman-Plans soll eine vom Europarat kontrollierte politische und wirtschaftliche Vereinigung des freien Europas geschaffen werden.
    Der Bundestag setzt die Beratung des Gesetzentwurfs über den Eintritt in den Europarat aus, bis die Bundesregierung das Ergebnis ihrer Verhandlungen dem Bundestag vorlegt.
    Meine Damen und Herren! Ich möchte mit größtem Nachdruck unterstreichen, daß es sich bei dem Antrage meiner Fraktion durchaus nicht um den Versuch handelt, der Bundesregierung auf dem Gebiete der Außenpolitik irgendwelche besonderen Schwierigkeiten zu bereiten. Ich bestreite nicht, daß die außenpolitische Aktivität des Herrn Bundeskanzlers uns manchmal etwas befremdet hat und uns nicht immer zweckmäßig erschienen ist. Aber es sind nicht die außenpolitischen Probleme, sondern die wirtschafts- und sozialpolitischen Probleme, die meine Freunde und mich, wie ich gestehe, zu einer manchmal sehr erheblichen Reserve gegenüber der Bundesregierung veranlaßt haben. Die außenpolitische Entwicklung scheint uns dagegen im wesentlichen zwangsläufig zu sein. Trotzdem ist es nicht notwendig, ihr etwa mit einer solchen Eile zu folgen, daß wir Deutschen dabei, obgleich wir gemeinsam das gleiche Ziel haben, auseinandergeraten und damit wirklich fatale Gegensätze heraufbeschwören, wie wir das heute hier erlebt haben.
    Die Bundesregierung hat nicht den geringsten Anlaß, meiner Fraktion die Einbringung dieses Antrags zu verübeln; denn er behandelt alle die Fragen, die in diesem Hause schon dargelegt worden sind und die wahrscheinlich auch diejenigen, die dem Eintritt in den Europarat zustimmen möchten, noch mit Sorge erfüllen.
    Ich darf hervorheben, daß zum Beispiel der Punkt 1 unseres Antrags, wonach Anerkennung dafür angestrebt wird, daß die Bundesregierung im Europarat das ganze Deutschland einschließlich der deutschen ,Gebiete jenseits der OderNeiße-Linie vertritt, nichts anderes darstellt als die Konsequenz dessen, worüber wir heute morgen hier in diesem Hohen Hause abgestimmt haben. Wenn es nämlich auch in der Präambel zum Grundgesetz heißt, daß wir hier im Westen auch für jene Menschen handeln, denen mitzuwirken versagt ist, so ist das doch wohl eine nicht nur auf das Grundgesetz zu beziehende Feststellung.
    Darüber hinaus, meine Damen und Herren, darf ich das Hohe Haus aber auch bitten, von der allgemeinen Situation — der deutschen Lage und der europäischen Lage — die Motive herzuleiten, die meine Fraktion zur Einbringung ihres Antrags veranlaßt haben. Wir anerkennen durchaus, daß die an Deutschland ergangene Einladung nach Straßburg, international gesehen, hinsichtlich der völkerrechtlichen und staatsrechtlichen Einschränkung der deutschen Souveränität außergewöhnlich ist. Wir verschließen uns auch nicht den Ausführungen der Befürworter des Europarats, die in ihm eine Etappe zum Weltfrieden sehen möchten, wie man es auch bei der Gründung der UNO geglaubt hat und nunmehr beim Uberschauen der Weltsituation - genau wie beim Völkerbund — doch feststellen muß, daß eine Weltvereinigung zur Sicherung des Friedens eine Utopie ist. Die Machtlosigkeit der UNO, des Weltsicherheitsrats und aller damit verbundenen Gremien zeigt, daß kriegerische Konflikte nicht vermieden werden, und der Glaube daran ist evident. Wir müssen nüchtern die tatsächlichen Möglichkeiten und die Weltsituation sehen, um daran unsere eigenen Entschlüsse zu messen. Vielleicht war nie die Gefahr so groß wie heute, daß man im Gegensatz zur Wirklichkeit Hoffnungen hegt, die in einer Welt von Realitäten eben doch Hoffnungen bleiben müssen.
    Da das deutsche Volk in unserer von ungeheueren Spannungen und Drohungen erfüllten Welt mitten im Brennpunkt des Geschehens steht, ist die Verantwortung, die wir als deutsche Politiker zu tragen haben, ungleich schwerer und von einer für unser Volk geschichtlich gesehen viel größeren Bedeutung, als die Verantwortung der Politiker anderer Länder und anderer Staaten.
    Die gegenwärtige Weltenstunde, meine Damen und Herren, zeigt wieder einmal die Tragik des deutschen Menschen auf, wie es so oft schon in der langen Zeit seiner Geschichte der Fall gewesen ist. Entweder sind wir Hammer oder wir sind Amboß. Daß Europa am Leben bleibt, ist doch unser aller Anliegen. Nach welchen Methoden es geschieht, ob allein der Europarat das Gremium ist, das dazu dienen kann, das ist die Frage, die uns heute gestellt ist und mit der wir uns auseinanderzusetzen haben.
    Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schumacher hat erklärt — und es sind von dem Herrn Bundeskanzler auch Ausführungen von ihm hier angeführt worden —, daß seine Partei für Europa, aber gegen eine europäische Aktiengesellschaft sei. Nach seiner Auffassung ist der Europarat in seiner heutigen Gestalt und seine Einlagerung in die Kräfteverhältnisse der Welt nicht identisch mit Europa schlechthin; Europa als der Ausdruck der Zusammenarbeit freier Völker trage einen unerschütterlich hohen Wert in sich. - Es scheint mir doch notwendig zu sein, angesichts der Debatten, die hier geführt worden sind, dieses gemeinsame Anliegen, ich glaube auch das Anliegen des Herrn Kollegen Schumacher und seiner Partei, hinsichtlich Europas festzuhalten, damit wir uns in dieser Frage hier in diesem Hause nicht noch mehr auseinanderdebattieren, wir, die wir für den europäischen Gedanken gekämpft haben und die ihm vielleicht auch nach dem Zusammenbruch treu geblieben sind. Nicht treu geblieben sind ihm vielfach die Kreise und die Parteien, die sich heute als die „echten Europäer" gegen Straßburg erklärt haben.

    (Beifall beim Zentrum und bei den Regierungsparteien.)

    Jedenfalls darf ich, meine Damen und Herren, für die Zentrumspartei aussprechen, daß wir immer leidenschaftliche Vertreter des europäischen Zusammenschlusses gewesen sind, und ich darf für mich persönlich in Anspruch nehmen, daß ich bereits am 11. August 1946 in einer Broschüre


    (Frau Wessel)

    „Von der Weimarer Republik zum demokratischen Volksstaat" geschrieben habe:
    Das zweite große Ziel des neuen demokratischen Staates, der zukunftsbejahend seine Aufgabe sieht,
    — nachdem ich als erste Forderung die soziale Gestaltung der Demokratie gestellt habe —
    ist das Bemühen um Europa.
    Jeder spürt, daß große Wandlungen im europäischen Raum im Gange sind, und die Zahl derer, die an die Formen und an die Festigkeit des Bodens, auf dem sie stehen, glauben, wird immer kleiner. Was heute aus Asien über Rußland nach Europa einströmt, ist die große Unbekannte der Zeit. Europa ist ganz anders in Bewegung geraten als etwa zur Zeit der großen Französischen Revolution. Das Schicksal steht heute vor Europas Tür.
    Meine Damen und Herren! Es gibt Menschen — vielleicht sind sie deswegen die besten Europäer, weil sie um die Grenzen Europas wissen, weil sie den Standort kennen, den die Zeit heute bestimmt —, die in der dunkelsten Zeit an Europa glaubten und bereit waren, ihr Land in Europa aufgehen zu lassen und die heute — in der Tat gehört es zu dem, was man Tragik nennen darf —, vor der Schwelle des Europarats in Straßburg stehen und nicht wissen, ob sie eintreten sollen. Meine politischen Freunde und ich gehen in der Bewertung des Europarates auch nicht so weit — auch das möchte ich einmal erwähnen —, wie es zum Beispiel Kollege Dr. Schumacher tat, daß er nichts anderes als eine europäische Aktiengesellschaft sei. Noch weniger teilen wir die Auffassung der Kommunisten, daß der Europarat als eine amerikanische Firma zu betrachten sei, die gleichsam alle Tochtergesellschaften des amerikanischen Kapitalismus auf westeuropäischem Boden sich angliedern will, nachdem diese vorher alle pleite gegangen sind. Wir lehnen auch die nationalistischen Überspitzungen jener Rechtskreise ab, die in völliger Verkennung der Wirklichkeiten und Realitäten in der deutschen Situation sich gleichsam als den Nabel der Weltpolitik sehen.
    Wir müssen nach allem, was das Hitler-Deutschland an Schrecken und Leid über die Welt gebracht hat, dankbar sein für das, was seit den Tagen des Zusammenbruchs uns an Hilfe von den Weststaaten gewährt worden ist; wir müssen auch dankbar sein für jene politischen Freiheiten, die sich gegenüber dem Leben in der sowjetischen Besatzungszone so beglückend abheben.
    Maßgebend für die Stellung der Zentrumsfraktion zum jetzigen Eintritt in den Europarat ist vor allem die Beurteilung der deutschen Situation, wie wir sie als Kriegsfolge heute vor uns sehen. Es sind vor allem zwei Tatsachen, die die deutsche Situation charakterisieren: Die Vertriebenenfrage und die Teilung Deutschlands. Diese Tatsachen sind nicht durch die Deutschen, sondern durch die Siegerstaaten im deutschen Raum geschaffen worden. Man muß in diesem Zusammenhang auch einmal aussprechen, daß es nicht nur die Tragik Deutschlands, sondern die Tragik Europas ist, daß die Kriegsgegner Deutschlands 12 Millionen deutschen Menschen ihre Heimat und ihre Lebensexistenz genommen haben, zum Teil auch in jenen Ländern, die heute die Satelliten Rußlands sind. Diese Vertriebenen sind aber, abgesehen von aller gefühlsbetonten Beurteilung ihres menschlichen Schicksals, die stärkste Hypothek, die die deutsche Bundesrepublik einzulösen hat.
    Auch die andere Tatsache, die Teilung Deutschlands, wird sich zu einer Katastrophe nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa auswirken, wenn sie eine dauernde bliebe. Wir wissen es doch aus der Geschichte Europas, welch schweres Unglück schon die Teilung Polens über Europa gebracht und wie sie zu einem dauernden Unruheherd geführt hat. Gewiß, die Erfahrung der Zeit zwischen den beiden Kriegen und seit 1945 muß uns Deutschen die Lehre geben, daß es keinen Sinn hat, auch bei allem Idealismus für Europa und für den Gedanken Europas. sich über Probleme hinwegzutäuschen und der Wirklichkeit nicht ins Auge zu sehen. Die Wirklichkeit ist aber nicht nur die Teilung Deutschlands, sondern die Teilung Europas. Man spricht hier dauernd von Europa, während es sich doch in Wirklichkeit nur um Westeuropa handeln kann. Wir Deutsche müssen in diesen Debatten, wenn wir von Europa sprechen, auch das ganze, das gemeinsame Europa sehen. Ich will nicht verkennen, daß auch in der heutigen Debatte gewiß viele zwingende Gründe dafür sprechen — wie sie auch von den Vorrednern dargelegt worden sind —, daß sich wenigstens das westliche Europa, weil ihm Hilfe geboten wird, vor dem Untergang zu retten versucht. Aber ich glaube, doch aussprechen zu müssen: Alles Mühen wäre letzten Endes nutzlos, wenn nicht eine Rettung ganz Europas im Auge behalten wird.
    Sehen wir der Wahrheit ins Gesicht: Der zweite Weltkrieg hat Europa vollends um seine beherrschende Stellung in der Welt gebracht. Dieses Europa, zu dem wir nicht nur geographisch, sondern — lassen Sie mich das so ausdrücken — zu dessen Kultur- und Lebenskreis wir hier in Deutschland gehören, ist ja in Wirklichkeit nur noch ein Torso, nachdem fast die Hälfte durch den Eisernen Vorhang getrennt worden ist, fast die Hälfte, wenn sie das europäische Rußland nicht mehr zu Europa zählen.
    In wirtschaftlicher Hinsicht möchte ich die Ausführungen, die von Herrn Dr. Schumacher gemacht worden sind, noch mit einigen Zahlen unterstützen. 1913 verfügte Europa über ein Auslandsguthaben von 150 Milliarden Goldmark in der außereuropäischen Welt. Das bedeutete, daß es jährlich 10 Milliarden Goldmark allein an Zinsen verbrauchen konnte. Nachdem Europa zwei Weltkriege hinter sich hat, ist heute nichts mehr davon vorhanden. Europas Anteil an der Weltausfuhr ist seit 1913 von 60 auf 30 %, also um die Hälfte, sein Anteil an der Weltindustrieproduktion von 50 auf 25 bis 30 % zurückgegangen. Das sind die Ursachen, weshalb Europa heute immer tiefer in die Schuld der USA geraten ist. Die Reden der europäischen Staatsmänner mögen noch so interessant und gescheit sein, wenn es sich aber um die 'entscheidenden Themen der Sicherheit und des Wohlstandes ihrer Länder handelt, dann richten sie doch ihre hilfesuchenden Blicke nach Washington. Das bedeutet, daß die wichtigen Entscheidungen für Europa heute vornehmlich nicht von europäischen, sondern von außereuropäischen Staaten getroffen werden.
    Nun hat gewiß die Außenministerkonferenz, von der vor allen Dingen der Herr Bundeskanzler gesprochen hat, und auch die Tagung der am Atlantikpakt beteiligten Staaten ergeben, daß wir


    (Frau Wessel)

    an einem Wendepunkt unserer Nachkriegspolitik stehen, von dem es wesentlich abhängt, ob wir auf einen Zusammenschluß Europas und den Frieden oder auf dem bisherigen Weg der Zweiteilung der Welt mit der Gefahr eines dritten Weltkrieges marschieren. Gleichsam über Nacht hat das Thema Europa ein anderes Gesicht bekommen, und die Verfechter der Rettung Europas um des europäischen Geistes und Erbes willen sind doch in etwa aus dem Sattel geworfen worden. An ihre Stelle sind getreten die Befürworter des Kalten Krieges und der totalen Diplomatie. Der Zusammenschluß Europas steht doch nicht mehr, wie es heute vielfach aus den Reden durchgeklungen ist, einzig und allein im Zeichen kultureller Gemeinschaft, wirtschaftlicher Vernunft oder politischer Thesen. Seine leitende Idee ist doch heute die Verteidigung, noch genauer gesagt, das Verteidigungspotential geworden.
    Der kürzlich verstorbene Franzose Emanuel Monier, dessen ganze Arbeit von. echt europäischem Geist erfüllt war, hat in einem Artikel „Versäumte Gelegenheiten" die europäische Stellung und Aufgabe Deutschlands mit folgenden Sätzen charakterisiert:
    Es ist als neues Reich der Mitte berufen, die endgültige Spaltung Europas zu verhindern, die auch die endgültige Spaltung des deutschen Vaterlandes und wahrscheinlich ein neues Blutbad auf seinem Boden mit sich bringen würde. Wenn aber Europa in sich selbst die Mittel finden kann, sich dieses Unglück zu ersparen, so ist Deutschland durch seine geographische Lage dazu berufen, diese Mittel aufzuspüren.
    Wir im Zentrum glauben, daß wir dem europäischen Gedanken am tiefsten dienen, wenn wir die endgültige Spaltung Europas verhindern. Wir müssen unser Bemühen darauf richten, daß wir aus der Versteifung und Erstarrung wieder herauskommen, in die Ost und West immer mehr hineingeraten sind. Nur dann wird die Welt zur Ruhe kommen, nur dann wird Europa aus einer wirklichen oder vermeintlichen Gefahr der Bedrohung seiner Existenz herauskommen. Was für ein Gewinn würde das für die gequälten und in Angst lebenden Menschen unserer Zeit sein!
    Wir haben deshalb die Forderung begrüßt, die McCloy in der Richtung auf gesamtdeutsche Wahlen ausgesprochen hat. Wir dürfen, wenn auch das Echo darauf bisher aus der Ostzone nicht so laut geworden ist, trotzdem nicht darauf verzichten, für diese Forderung das ganze deutsche Volk in seiner Gesamtheit zu gewinnen und den Willen zur Einheit Deutschlands so stark zum Ausdruck zu bringen, daß sich in absehbarer Zeit doch alle Besatzungsmächte gezwungen sehen, sich mit dieser deutschen Bewegung auseinanderzusetzen.
    Sie werden sich erinnern, meine Damen und Herren, daß ich wiederholt in diesem Hohen Hause versucht habe, die Mauer der Gegensätze zwischen Ost und West nicht höher zu ziehen, vielmehr eine Brücke zwischen den beiden Deutschland diesseits und jenseits der Zonengrenze zu schlagen. Diese' wohlabgewogene Haltung der Zentrumsfraktion in der Ostfrage schien mir notwendig zu sein aus der Erkenntnis, daß ohne diese Entwicklung es nie zu einer Einheit Deutschlands kommen kann.
    Wir denken aber nicht daran — und ich möchte das ebenso deutlich aussprechen —, wenn wir von der Notwendigkeit einer Verständigung zwischen Ost und West gesprochen haben, mit dem Gedanken zu spielen, daß man eines Tages mit den Russen gehen könne, etwa auf der Ebene von Rapallo. Seit dem Vertrag von Rapallo hat sich vieles zwischen Deutschland und Rußland ereignet, wobei nicht zuletzt das Verhalten Rußlands in der Kriegsgefangenenfrage und seine Verwaltungsmethoden in der Ostzone zu erwähnen sind, als daß uns eine solche Politik möglich erscheint. Gewiß wird ein geeintes Deutschland seine Beziehungen zum russischen Volk und zur russischen Regierung haben, wie es entsprechende Beziehungen zu anderen Völkern der Welt hat; aber es muß Klarheit darüber bestehen, daß wir uns jeder Beeinflussung unseres nationalen Eigenlebens oder gar der Russifizierung unseres Landes mit allen Mitteln widersetzen werden und hier zu keinerlei Kompromissen mit einer SED bereit sein können. Wohl aber haben wir .die Realitäten zu erkennen. Wir wissen, daß vieles an eigenen Ideologien und an fremden Befehlen in den beiden Deutschland diesseits und jenseits der Zonengrenze herrscht. Wir können weder die Realität der verschiedenen Besatzungsregime aus der Welt räumen, noch können wir es verhindern, daß drüben andere Gesetze gelten als hier. Aber wir sollten doch auch sehen, daß es noch vieles gibt, was die Menschen der Ost- und Westzone verbindet, was in dem Lärm und dem Haß um die Gegensätze in der Welt nicht untergehen darf. Deutschland gehört uns immer noch gemeinsam, uns, den 40 Millionen und mehr Menschen hier in den Westzonen und den 18 Millionen drüben in der Ostzone. Mögen wir auch verschiedene politische Vorstellungen haben, .die Idee Deutschland darf nie in der Diskussion untergehen. Das gemeinsame, das einheitliche Deutschland für die Zukunft zu retten, ist auch uns hier im Bundestag als die entscheidende Aufgabe gestellt. Es ist eine schwere Aufgabe, vielleicht die schwerste, die jemals deutschen Staatsmännern und deutschen Abgeordneten gestellt worden ist.
    Meine Damen und Herren! Die in der Politik wesentliche Kunst des Abwartens und des Erwartenkönnens beherrschen wir Deutschen leider nur spärlich. Wir sollten sie mehr üben. Wenn je die Notwendigkeit dazu bestand — und ich glaube, daß das auch aus der Debatte hervorgegangen ist —, die Dinge auf uns und zu uns sich entwickeln zu lassen, dann besteht sie heute.
    Von dieser Haltung aus sehen meine politischen Freunde und ich auch die Frage des Eintritts Deutschlands in den Europarat. Lassen Sie mich hier noch eine ausländische Stimme anführen, die des „Manchester Guardian", der dazu feststellte, daß jede Konzeption Westeuropas und seiner Beziehungen zum Osten in starkem Maße von der Rolle abhängt, die man Deutschland zudiktiert. Er sagte wörtlich:
    Wenn wir die Bundesrepublik in die EuropaUnion aufnehmen und diese Partnerschaft darüber hinaus noch auf gleicher Ebene sein soll, d. h. mit gleichen politischen Rechten und einer Armee, so tragen wir erheblich dazu bei, daß die Spaltung Deutschlands nie behoben wird.
    Und in der „Times" vom 5. April 1950 heißt es: Wenn Westdeutschland in ein vereinigtes


    (Frau Wessel)

    Europa eingegliedert wird, muß es selbstverständlich eines Tages seinen Anteil an den Verantwortungen und an den Vorrechten der Verteidigung übernehmen. Der Europarat ist ein kooperatives Element des Atlantikpaktes. Das Ganze ist ein konstruktives System. Innerhalb eines solchen Systems kann man sich nicht das eine aussuchen und das andere meiden.
    Meine Damen und Herren! Das sind genau die Fragen, die uns bewegen, daß der Eintritt Deutschlands in den Europarat jetzt und zu dieser Zeit in seiner weittragenden Konseqeunz auch die Einbeziehung Deutschlands in den Atlantikpakt und als weiteres unsere Wiederaufrüstung zur Folge haben könnte. Und das, meine Damen und Herren, zu einer Zeit, in der der Kriegszustand mit Deutschland, fünf Jahre nach seiner totalen Kapitulation, noch nicht für beendet erklärt ist! Ich möchte deshalb hier im Namen der Zentrumsfraktion unabhängig davon, wie die Frage des Eintritts in den Europarat entschieden wird, erklären, daß wir uns mit aller Leidenschaft und Entschiedenheit gegen jede Remilitarisierung und Wiederaufrüstung Deutschlands aussprechen.

    (Beifall beim Zentrum.)

    Wenn wir uns so entschieden gegen diese Wiederaufrüstung aussprechen, dann denken wir an die Millionen unserer Toten, die Millionen der Opfer der Heimat, an die Kriegsverletzten und Kriegshinterbliebenen. an die Witwen und Waisen und die Millionen unserer Vertriebenen. Sie fordern von uns, daß wir ihr Schicksal über all unserm Tun nicht vergessen. Die deutschen Frauen und Mütter, die schon zweimal die Schrecken eines Krieges erlebt haben und ihre liebsten Menschen hergeben mußten, fordern von uns, alles daran zu setzen, daß nicht ein drittes Mal die Blüte unseres Volkes auf den Schlachtfeldern Europas vermodert.
    Mit allem Nachdruck, meine Damen und Herren, möchte ich hier auch das unterstreichen, was die letzte Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland erklärt hat:
    Kriege entstehen nicht von selbst. Menschen sind es, die den Krieg beginnen.
    Und wer die Mentalität unseres Volkes kennt, wird sich über eine so selbstverständliche Feststellung nicht wundern. Die Apathie und die so häufig gehörte Meinung, Kriege seien eben Schicksal für die Völker, so wie Gewitter und Sturmfluten kommen, lähmen so leicht die Wachsamkeit und die Widerstandskraft gegen alle tatsächlichen Kriegsvorbereitungen.
    Wir bitten deshalb — so fährt die Synode der Evangelischen Kirche fort —
    alle Glieder unseres Volkes: Haltet euch fern von dem Geist des Hasses und der Feindschaft! Laßt Euch nicht zum Werkzeug einer Propaganda machen, durch die Feindschaft zwischen den Völkern gefördert und der Krieg vorbereitet wird. Verfallt nicht dem Wahn, es könne unserer Not durch einen neuen Krieg abgeholfen werden! Wir begrüßen es dankbar, daß die Regierungen der Welt diesen Schutz gewähren. Wer um des Gewissens willen den Kriegsdienst verweigert, soll der Fürsprache und der Fürbitte der Kirche gewiß sein.
    Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal daran erinnern, daß die Zentrumsfraktion bereits am 6. 12. 1949
    mit dem Antrag Drucksache Nr. 276 die Bundesregierung aufgefordert hat, in einem Gesetz die im Grundgesetz garantierte Kriegsdienstverweigerung zu manifestieren. Wir stellen diese Forderung heute erneut an die Bundesregierung.
    Lassen Sie mich noch eine Stimme anführen, die auch, glaube ich, bezeichnend für die Situation ist, in die man Deutschland hineinbringen möchte. In der „Daily Mail" las man vor einigen Wochen eine verblüffende Begründung für die Notwendigkeit einer deutschen Aufrüstung. Bliebe Deutschland abgerüstet — so hieß es darin, so wäre es von einer ungeheuren Finanzlast befreit und könnte es die anderen Länder von allen Weltmärkten verdrängen. Wenngleich dazu zu sagen ist, daß auch ohne Aufrüstung Deutschland als Folge der beiden Weltkriege genug Finanzlasten zu tragen hat, die es nicht gerade zu einem leichten Sturm auf den Weltmarkt befähigen — ich brauche hier nur auf die Ausführungen des Herrn Bundesfinanzministers Schäffer hinzuweisen, daß der Staat den Unterhalt von rund 15 Millionen Rentenempfängern und Versorgungsberechtigten zu tragen hat —, so lohnt es sich immerhin, festzustellen, welche Arten der Argumentation heute möglich sind.
    Meine Damen und Herren! Ich glaube, in meinen Ausführungen dargelegt zu haben, welche Stellung und welche Aufgaben wir der Bundesrepublik zur Befriedung Deutschlands, aber auch zur Befriedung Europas zuerkennen. Wir haben mit großem Interesse die Reden von London gehört. Wir verstehen, daß dort angesichts der allgemeinen politischen Lage nach einem Westeuropa gerufen wird. Wir aber verlangen Europa schlechthin. Wir sind für kein Westeuropa und für kein Osteuropa; denn wir wissen, daß Europa nur in der Einheit das wahre Europa ist, das geistige Europa, einerlei wie gestern oder heute oder morgen infolge irgendwelcher vorübergehender Erscheinungen die Kräfte in einem Lande spielen. Wir alle leben in einem kleinen und begrenzten Zeitabschnitt; aber die Völker haben alle eine Substanz, die in der Geschichte entstanden ist und sich in der Geschichte auswirkt. Auch Europa ist nicht von heute auf morgen geworden. Es befindet sich in ständiger Entwicklung, und wir hoffen doch alle: auch in ständigem Fortschritt. Und wenn der Sinn der Menschheitsgeschichte Fortschritt bedeutet, dann haben wir die Hoffnung, daß Europas Rolle trotz aller Schicksalsschläge nicht ausgespielt ist.
    Und so komme ich zum Schluß. Ich möchte noch einmal, meine Damen und Herren, den Antrag meiner Fraktion zur Erwägung stellen, in dem Fragen aufgeworfen sind, von denen ich weiß, daß sie nicht nur manches Mitglied dieses Hohen Hauses, sondern auch die deutsche Öffentlichkeit stark bewegen. Der Antrag meiner Fraktion enthält konkrete Vorschläge, wie diese Fragen, von denen hier gesprochen worden ist, gelöst werden können. Ich meine, daß er darüber hinaus auch Anregungen dafür bietet, wie Straßburg wirklich zum Ausgangspunkt und zur Wiege des vereinten und freien Europas gestaltet werden kann.
    Wir sind gewiß bereit, uns auch mit anderen Fraktionen dieses Hohen Hauses darüber zu verständigen, daß einige Formulierungen vielleicht noch geändert und anders gefaßt werden. Wir möchten deshalb vorschlagen, daß unser Antrag in der für morgen, Mittwoch, vorgesehenen Sitzung des außenpolitischen Ausschusses mit behandelt wird.
    Noch einmal möchte ich Sie bitten, meine Damen und Herren, diesen Zentrumsantrag unvorein-


    (Frau Wessel)

    genommen zu prüfen und nicht das Gefühl zu haben, unter irgendwelchem Zeitdruck sofort und unaufschiebbar handeln zu müssen. Es ist doch besser, einen Schritt ganz und in voller Klarheit als ihn halb und in Ungewißheit zu tun.
    Wir stehen — davon bin ich überzeugt — mit unseren Sorgen um Europa keineswegs allein, und wir brauchen nicht zu befürchten, die westliche Welt würde verkennen, daß eine Zustimmung dieses Hohen Hauses zu dem von uns vorgelegten Antrag den Ausdruck eines Bekenntnisses zu Europa und zu einem aufrichtigen Friedenswillen bedeutet und letztlich von dem Ziel bestimmt ist, in diesem Hohen Hause eine entsprechend breite Front für diesen Gedanken zu gewinnen.

    (Lebhafter Beifall beim Zentrum, bei der SPD und bei der WAV.)



Rede von Dr. Hermann Schäfer
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Becker.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Max Becker


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Meine Damen und Herren! Es ist in diesem Hause am heutigen Tag so oft von Europa gesprochen worden, daß, wenn Europa mit Deklamationen zu schaffen wäre, es längst stehen müßte. Aber ich habe immer wieder den Eindruck, daß man nur deklamiert und vergißt, zur Tat zu schreiten und zum Ziel zu kommen.
    Der Herr Vertreter der Opposition Dr. Schumacher hat sein Nein damit begründet, daß er zu Europa an sich unter den und jenen Voraussetzungen ja sagte, dann aber so ein halbes Dutzend „Aber" daran knüpfte, um mit einem Nein zu enden. Und meine verehrte Vorrednerin brachte aus dem sympathischen Gedanken, eine Einheitsfront herzustellen, einen Vermittlungsvorschlag, der voller Irrealitäten steckt, während sie gleichzeitig davon spricht, man müsse den Dingen real ins Auge schauen. Da scheint es mir richtig zu sein, die Notwendigkeit, daß Europa endlich wirklich zum Zuge kommt, mit ein paar Worten zu begründen.
    Die älteren unter uns werden sich aus ihrer eigenen Jugend noch an die Zeit des Boxeraufstandes

    (Zurufe von der KPD)

    und an die Zeit erinnern, in der der deutsche Botschafter in Peking ermordet wurde, in der dann Europa geschlossen auftrat

    (erneute Zurufe von der KPD)

    und ein chinesischer Prinz als Sühneprinz mit all dem Gepränge, das die damalige Zeit auszeichnete, nach Berlin kommen und Kotau machen mußte. Wenn Sie sich demgegenüber überlegen, daß im August des vergangenen Jahres das letzte Kanonenboot einer europäischen Macht unter den Schüssen der Maotsetung-Armee den Jangtsekiang verließ, dann wissen wir und merken wir alle, was in diesen noch nicht fünfzig Jahren geschehen ist: ein Abstieg der europäischen Macht in einem heute noch erst von sehr Wenigen erkannten Ausmaß.

    (Abg. Rische: Trotzdem gibt es noch Tschiangkaischeks!)

    Am 27. Dezember 1949 ging in Batavia die holländische Fahne nieder, und an Stelle des niederländischen Kolonialreichs entstand der Staat Indodesien. Ein Jahr zuvor entstanden die Staaten Pakistan mit 80 Millionen und Hindustan mit 300 Millionen Einwohnern. Sie bedeuten das Ende der europäischen Kolonialherrschaft in weiten Gebieten der Erde. Eine Umstellung auch der wirtschaftlichen Gegebenheiten in den Mutterländern wird wahrscheinlich die Folge sein. Alle diese Dinge bedeuten einen Umsturz in einem Ausmaße, dessen wir uns noch gar nicht bewußt geworden sind. Und dann steht dieses Europa da mit Staaten von 4 Millionen, 7 Millionen, 8 Millionen, 250 00 usw. Einwohnern und begreift noch nicht, was die Uhr in Wirklichkeit geschlagen hat.

    (Lachen bei der KPD.)

    Kürzlich wurde bei unseren französischen Nachbarn die Erinnerung an die Schlacht auf den Katalaunischen Gefilden, an jene Zeit wachgerufen, als im Raume von Paris bei Reims der Ansturm der Hunnen aus dem Osten endlich von Westeuropa zum Stehen gebracht wurde. Die Menschheit hat leider vergessen, was von jener Zeit an späterhin, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, geschehen war. Da hat es im Laufe dieser Jahrhunderte das deutsche Volk fertiggebracht, alle diejenigen Völkerschaften, die je und je aus dem Innern des asiatischen Raumes nach Westen vorstießen, zum Stehen zu bringen. Ich nenne die Schlacht auf dem Lechfeld bei Augsburg, die Entsetzung des belagerten Wien, und zwar auch mit Hilfe des polnischen Königs Sobieski und die Eroberung von Belgrad. Und was war das Ergebnis alles dessen? Als wir älteren zur Schule gingen, lernten wir damals noch, daß die Grenzen Europas am Ural verliefen. Als der erste Weltkrieg vorbei war, verlegte man die Ostgrenzen Europas an die Pripetsümpfe, an die Ostgrenze Polens. Und wenn wir uns heute die Entwicklung der Geschichte anschauen, dann könnten wir versucht sein zu glauben, die Ostgrenze Europas sei zur Zeit auf der Linie LübeckTriest zu suchen. Das sind die Tatsachen, wenn wir nun schon mal von Realitäten und ihrer Beachtung sprechen wollen, die wir zu bedenken haben. Und wenn daraus nicht folgt, daß nun endlich nicht mehr mit den Methoden Richelieus oder Choiseuls, sondern mit den Methoden europäischer Gemeinsamkeit, europäischen Denkens außenpolitisch gehandelt werden muß, dann kann diesem Europa nicht mehr geholfen werden!

    (Sehr gut! in der Mitte.)

    Es war uns eine besondere Freude, daß wir nach den Debatten über die Saar nun heute auch den Schuman-Monnet-Plan als einen Ausdruck echt europäischen Denkens und echt europäischen Wollens begrüßen können. Wir beglückwünschen die französische Regierung zu diesem Vorschlag. Wir beglückwünschen sie zu der Initiative und Tatkraft, mit der sie die Dinge nun in europäischem Geist zur Tat voranbringt.

    (Abg. Rische: Von Tatkraft kann keine Rede sein, sondern von Befehlen! Abg. Euler: Dummschwätzer! — Zuruf von der Mitte: Sie müssen nicht von sich auf andere schließen! — Abg. Rische: Denken Sie an die Abstimmung im außenpolitischen Ausschuß in der französischen Kammer!)