Rede von
Hans
Tichi
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich führe Klage darüber, daß mein Antrag, den ich bereits am 18. Oktober 1949, d. h. vor sechs Monaten eingebracht habe, erst heute behandelt wird. So langsam arbeitet die Maschinerie des ersten Deutschen Bundestags, weil jeder Antrag alle möglichen Ausschüsse passieren muß, deren wir eine Überzahl haben und deren Kompetenzen sich mitunter überschneiden.
Als ich am 18. Oktober 1949 diesen Antrag Nr. 119 betreffend die Krankenfürsorge der Soforthilfe-Empfänger einbrachte, lagen die Dinge folgendermaßen. Mit dem Gesetz vom 18. August 1949 zur Milderung dringender sozialer Notstände ist das sogenannte Soforthilfe-Gesetz für das Vereinigte Wirtschaftsgebiet in Kraft getreten. Damit schieden Hunderttausende Wohlfahrts- und Fürsorgeempfänger aus der allgemeinen Fürsorge aus, die bisher von den Ländern und von den
Kommunen getragen wurde. Die Ersparnisse, die ' dadurch eintraten, gehen in die Hunderte von Millionen. Entlastet wurden nicht nur die Finanzen der Länder, sondern auch jene der Bezirke und der Gemeinden. Trotzdem war es für viele Landräte und für viele Oberbürgermeister, aber auch für die Länder eine willkommene Gelegenheit, den Kreis der Soforthilfe-Empfänger aus der bisherigen Krankenfürsorge auszuscheiden und diese Menschen im Falle ihrer Erkrankung ihrem Schicksal zu überlassen. Der Soforthilfesatz beträgt 70 DM für eine Person. Es ist unmöglich, aber auch nicht human und nicht sozial gerecht, zu verlangen, daß jemand von diesem mageren Fürsorgesatz lebt, die Miete bezahlt, Kleidung und Heizung bestreitet und im Falle des Unglücks einer längeren Krankheit auch noch den Arzt und die Medikamente zahlt.
Ich muß hervorheben, daß es Kreise und Städte gibt, die sich von Haus aus ihrer sozialen und humanen Aufgaben bewußt waren und die Krankenfürsorge für Soforthilfe-Empfänger selber übernahmen. Die Stadt Kulmbach, in der ich zweiter Bürgermeister bin, hat sofort die Maßnahme getroffen. Dasselbe hat der Landkreis Kulmbach getan. Es gibt aber ein Unzahl von Landkreisen, die dieser ihrer Fürsorgepflicht aus dem Wege gegangen sind.
Wir sind uns vollständig darüber im klaren, daß mit dieser Aufgabe keine besonderen neuen finanziellen Belastungen entstehen, wie man uns gerne vortäuschen möchte. In der Stellungnahme des Bundesministeriums für Arbeit vom 14. Februar 1950 wird angeführt, daß etwa 750 000 Unterhaltshilfeempfänger eines Schutzes für den Fall der Erkrankung bedürfen, weil nur ein Bruchteil gegen Krankheit pflichtversichert ist. Die Kosten einer krankenversicherungsmäßigen Behandlung würden nach den bisherigen Erfahrungen angeblich zwischen 4,50 DM und 6 DM, im Durchschnitt also etwa 5 DM pro Fall betragen. Es ist in dem Gutachten bei 750 000 Unterhaltshilfeempfänger von einem monatlichen Aufwand von 3 750 000 DM die Rede. Nach unseren Erfahrungen kann man annehmen, daß höchstens 5 % der Soforthilfe-Empfänger sich in der Krankenfürsorge befinden, so daß die monatliche Belastung nicht 3 750 000 DM, sondern lediglich 187 000 DM beträgt. Im allgemeinen handelt es sich überhaupt nicht um eine Neubelastung, weil die Krankenfürsorge fast bei allen in Betracht kommenden Personen bisher ohnehin von der öffentlichen Hand getragen wurde.
Wir stimmen dem Antrag des Ausschusses für Sozialpolitik zu. Wir hätten aber lieber eine festere Form als die Form einer bloßen Empfehlung gehabt. Wir glauben, daß in absehbarer Zeit ein Gesetz geschaffen \\erden muß, das alle diese Fragen mit der erforderlichen Klarheit regelt.
Ich hoffe, daß der Deutsche Bundestag den Antrag des Ausschusses einmütig annimmt. Es geht um eine soziale Tat von großer Bedeutung, für die Ihnen Tausende armer Teufel von SoforthilfeEmpfängern dankbar sein werden.