Herr Präsident, meine Damen und Herren! Der Platz des Herrn Bundesjustizministers ist leer. Aber seien Sie unbesorgt; ich habe nicht die Absicht, den Antrag zu stellen, den Herrn Bundesjustizminister herbeizurufen, denn auch ein leerer Stuhl kann unter Umständen eine ominöse Bedeutung haben.
Meine Damen und Herren, als ich den Herrn Kollegen Kiesinger hörte, war ich in Versuchung, ihm zu applaudieren; denn alles, was der Herr Kollege Kiesinger positiv gesagt hat, deckt sich im wesentlichen mit den Auffassungen, die meine
Freunde und ich vertreten, mit einer einzigen Ausnahme, Herr Kollege Kiesinger, daß die Lehre von der normativen Kraft des Faktischen eine sozialdemokratische ist.
Das Ist Ihnen wahrscheinlich in dem Augenblick eingefallen, als Sie hier sprachen. Georg Jellinek ist ganz sicherlich kein Sozialdemokrat gewesen, und im übrigen wissen Sie, daß diese Lehre zurückgeht auf die konservative Staatsauffassung, auf den Positivismus und bis auf Stahl zurück, der alles andere als Sozialdemokrat war. Ich nehme das nur als einen lapsus linguae.
— Das ist mir sehr zweifelhaft, ob sie Anhänger des Positivismus gewesen sind. Aber das ist ja wohl überhaupt die juristische Zeitkrankheit bis 1945 gewesen, und heute, glaube ich, sollten wir alle oder fast alle über den Positivismus hinweg sein.
Aber wenn ich mich bei dieser ohnehin schon sehr langen Debatte hier doch noch zum Wort gemeldet habe, so deshalb, weil ich glaube, nicht unwidersprochen lassen zu können, was Sie negativ gesagt haben, Herr Kollege Kiesinger, oder was Sie wenigstens haben durchblicken lassen, indem immer so getan wird, als ob der Rechtsstaat und die richterliche Unabhängigkeit die Domäne der Rechten sei und auf der Linken lauter böse wilde Männer sitzen, die nun alles das nicht zu schätzen wissen.
Ich werde das gleich kurz beweisen, daß es doch weitgehend so ist. Wenn Sie sagen, wir müßten endlich lernen, ein Urteil hinzunehmen, auch wenn es uns nicht gefiele, auch wenn es uns als unbillig erschiene, dann ist das zweifellos richtig. Aber darum hat es sich ja hier heute und in der jüngsten Vergangenheit nicht gehandelt, denn Urteile, die Verbrechen sind — und wir haben solche Urteile vor 1933, nach 1933 und auch heute gehabt —, sind wir unter gar keinen Umständen hinzunehmen gewillt.
Auch heute ereignen sich ja noch solche Dinge.
Meine Damen und Herren, ich bin im Besitze eines deutschen Urteils aus dem Februar dieses Jahres. Ich kann es Ihnen hier vorlegen. Aus ihm ergibt sich der Sachverhalt, daß in einem kleinen bayerischen Ort in einer Mietstreitigkeit zwischen zwei Einwohnern, von denen der eine das Unglück hatte, jüdisch zu sein, der Rechtsanwalt des nichtjüdischen Teiles schriftsätzlich vorgetragen hat, es sei unter Juden üblich, ihren Osterkuchen mit einem Tropfen Christenblut zu würzen.
Nun, was meinen Sie, was ist mit dem Anwalt da geschehen? Van der Anklage der Aufforderung zum Rassenhaß, oder nach dem besonderen bayerischen Gesetz, das gegen Rassenwahn ergangen ist, wurde er freigesprochen. Eine Anklage wegen Verleumdung wurde gar nicht erst erhoben und von der Anklage wegen übler Nachrede wurde er amnestiert, da es zu einem Straf-
maß von mehr als sechs Monaten nicht ausreichte. Das ist ein Urteil aus dem Februar dieses Jahres. Das ist nicht bloß unbillig, oder es ist nicht bloß so, daß das Urteil uns nicht gefällt, sondern ein solches Urteil müssen wir zur Sprache bringen
und müssen es als das kennzeichnen, was es ist. Genau das hat auch mein Kollege Zinn hier getan.
Nach Ihrer nicht so direkt ausgesprochenen Unterstellung, als ob er „die" Richter angriffe, als ob wir den Teufel an die Wand malten, als ob wir eigentlich unsererseits kein Recht hätten, hier zu diesen Fragen zu sprechen, wozu noch diese Sache mit der sogenannten Selbsthilfe kommt, die Sie, Herr Kollege Kiesinger, haben anklingen lassen, wird uns so ungefähr das Existenzrecht abgesprochen,
weil es das gerade nicht gewährt, was Sie das ideologische Existenzminimum zu nennen pflegen — Herr Kollege von Brentano, Sie brauchen nicht mit dem Kopf zu schütteln; ich komme gleich noch in diesem Zusammenhang auf gewisse Ausführungen zurück, die Sie von dieser Stelle aus gestern gemacht haben.
Es handelt sich darum, dies aufzuzeigen, weil das maßgebend für die Rechtspolitik des wieder anwesenden Herrn Bundesjustizministers und für die Gedanken sein muß, die er sich um eine große Justizreform machen sollte, die er uns zwar in Aussicht gestellt, über die er aber uns Näheres bisher nicht gesagt hat, wozu doch eigentlich die Etatdebatte der Anlaß gewesen wäre. Wogegen ich mich aber immer wehren muß, sind gewisse Unterstellungen, ist z. B. die Gegenüberstellung dessen, was hier mein Kollege Greve in seiner Rede ausführte, in der er sich zum Rechtsstaat bekannte, aber forderte, daß dieser Rechtsstaat auch verwirklicht werden müsse, während Herr Kollege Ewers von der Deutschen Partei dann mit einer sehr deutlichen Angriffsrichtung erwidert hat: der rücke dem Rechtsstaat zu Leibe, der die Bestrafung eines Richters fordere, der nach seinem Gewissen Recht gesprochen habe! Als ob es hier im Hause Abgeordnete gäbe, die etwas Derartiges gefordert hätten. Es kann eine solche Forderung nur erhoben werden, wenn der Richter nicht nach dem Gesetz gerichtet hat. Das lag der Forderung zugrunde. Das ist es, was wir fordern, und hier wird die Anklage erhoben, aber gegen keinen Richter, der nach dem Gesetz Recht gesprochen hat; denn der Richter ist dem Gesetz unterworfen, und es steht weder im Grundgesetz noch in den Verfassungen, abgesehen von der Verfassung von Rheinland-Pfalz, etwas darüber drin, daß der Richter nach seinem Gewissen vom Gesetz abweichen dürfe. Auch darüber hätten wir allerdings gerne etwas von dem Herrn Bundesjustizminister . gehört; denn einer seiner nächsten Mitarbeiter, Herr Senatspräsident Rotberg, hat soeben in einer Schrift über das kommende Richtergesetz geschrieben, das Richtergesetz müsse die Vorschrift bringen, daß ein Richter, der das Gesetz nicht vor seinem Gewissen verantworten könne, nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet sei, sowohl im Einzelfalle als auch in ganzen
Gruppen von Fällen von dem Gesetz abzuweichen.
Sehen Sie, Herr Kollege Kiesinger, das ist ein Angriff auf die richterliche Unabhängigkeit. Denn eine solche Auffassung realisiert, wirkt wie Dynamit und würde dahin führen, daß wir hier einen Konflikt bekämen zwischen dem verfassungsmäßig zur Gesetzgebung berufenen Organ und einer Richterschaft, die es sich herausnehmen würde, die Anwendung dieser Gesetze, da sie mit ihrem Gewissen nicht übereinstimmen, zu verweigern.
Aber sonst müßte ich Sie bitten, Ihre freundlichen Aufforderungen wie die des Herrn Kollegen Ewers, daß wir hier doch zu einer gegenseitigen Achtung kommen sollten, die des Herrn Kollegen Wuermeling, man sollte endlich im Plenum eine Atmosphäre der sachlichen Arbeit schaffen, die des Herrn Kollegen Kiesinger, daß ein ideologisches Existenzminimum notwendig wäre — diese Auffassungen auch zu realisieren und nicht Selber immer dadurch zu torpedieren, daß man gerade der Oppositionspartei allen guten Willen und alle guten Grundsätze abspricht, daß man sie der „Sabotage" bezichtigt und daß man erklärt, sie befleißige sich einer Verantwortungslosigkeit, die an Gewissenlosigkeit grenze.
Sehen Sie, das sind Töne, die wir ja auch von dem Herrn Kanzler zu hören gewohnt sind, der uns zu sagen pflegt, daß der Mangel an Pflichtbewußtsein, den wir an den Tag legten, ihn auf das tiefste zu erschüttern pflegte. Ich möchte meinerseits auch, nicht annähernd ein solches Wort gegen die Regierung auszusprechen wagen, denn es werden ja hier im Hause sehr leicht Ordnungsrufe erteilt
und auch speziell dafür, daß man eine Meinung äußert, zum Ausschluß gegriffen.
— Nun, der Herr Kollege Seuffert ist ausgeschlossen worden wegen einer Äußerung, die, wenn Sie das Protokoll nachlesen, nie und nimmer dazu hätte Anlaß geben können,
daß man ihn hier aus dem Saale verwies. Aber es wird da eben zweierlei Recht geübt. Wenn Sie also hier ein ideologisches Existenzminimum wünschen, Herr Kollege Kiesinger, dann richte ich doch den dringenden Appell an Sie: Hören Sie zuerst einmal hier im Hause damit a, daß hier immer zweierlei Recht gilt, und dann -sorgen Sie in Zukunft, daß solche tiefbedauerlichen Äußerungen unterbleiben, wie sie Ihr Nachbar Herr von Brentano getan hat, der von der Verantwortungslosigkeit sprach, die an Gewissenlosigkeit grenze.