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ID0105008900

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Deutscher Bundestag — 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. März 1950 1749 50. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 23. März 1950. Geschäftliche Mitteilungen . . . . 1749D, 1750A Anfrage Nr. 59 der Fraktion der SPD betr. Förderung des Schiffsbaues (Drucksachen Nr. 662 und 748) 1750A Einsprüche der Abg. Wehner und Heiland gegen ihren in der 49. Sitzung erfolgten Ausschluß 1750A Beratung des Antrages der Fraktion der Bayernpartei betr. Erlaß einer Rechtsverordnung zur Verteilung der neu aus den Ostgebieten und der Tschechoslowakei kommenden Deutschen (Drucksache Nr. 723) in Verbindung mit der Beratung des Antrags der Fraktion der SPD betr. Aufnahme von Deutschen aus den Gebieten jenseits der Oder-Neiße-Linie und aus der Tschechoslowakei in das Bundesgebiet (Drucksache Nr. 727) . . 1750B, 1751C Dr. Seelos (BP), Antragsteller . . . 1750B Dr. Wenzel (SPD), Antragsteller . . 1751C Dr. Lukaschek, Bundesminister für Angelegenheiten d. Vertrieb. 1753A, 1760D Tichi (WAV) 1753D Dr. Götz (CDU) 1754D Dr. Zawadil (FDP) 1755D Paul (Düsseldorf) (KPD) 1756D Ewers (DP) 1758A Dr. Richter (DRP) 1758C Krause (Z) 1759A Strauß (CSU) 1759D Clausen (SSW) 1760C Fortsetzung der zweiten Beratung des Entwurf eines Gesetzes über die vorläufige Aufstellung und Ausführung des Bundeshaushaltsplans und über die vorläufige Rechnungsprüfung sowie über die vorläufige Haushaltsführung im Rechnungsjahr 1949 (Vorläufige Haushaltsordnung und vorläufiges Haushaltsgesetz 1949) (Drucksachen Nr. 682 und 223) mit den Mündlichen Berichten des Haushaltsausschusses (Drucksachen Nr. 670 bis 681) . . . . 1761A Abstimmungen über die Anträge Drucksachen Nr. 734 und 743 1761B Einzelplan V — Haushalt des Bundesministeriums für Angelegenheiten des Marshallplans (Drucksache Nr. 675) . 1762A, 1802A Kalbitzer (SPD) 1762A Mellies (SPD) (zur Geschäftsordnung) 1762BD Dr. Oellers (FDP) (zur Geschäfts- ordnung) 1762C Rische (KPD) 1802B Blücher, Bundesminister für Angelegenheiten des Marshallplans . . . 1806B Dr. Vogel (CDU) 1808C Abstimmungen 1809D Einzelplan VI — Haushalt des Bundesministeriums des Innern (Drucksache Nr.1762D Erler (SPD), Berichterstatter . . 1763A Maier (SPD) 1766D Dr. Decker (BP) 1771A Dr. Ehlers (CDU) 1771D Dr. Leuchtgens (DRP) 1775B Zinn (SPD) 1777D Dr. Jaeger (CSU) 1778B Loritz (WAV) 1779B Dr. Fink (BP) 1780B Dr. Hamacher (Z) 1780D Dr. Bergstraeßer (SPD) 1782A Gaul (FDP) 1783C Dr. Dr. Heinemann, Bundesminister des Innern 1784B Abstimmungen 1786A Einzelplan VII — Haushalt des Bundesministeriums der Justiz (Drucksache Nr.1786C Steinhörster (SPD), Berichterstatter 1786C Dr. Greve (SPD) 1788A Dr. Leuchtgens (DRP) 1790B Ewers (DP) 1790D Dr. Wuermeling (CDU) 1792D Nuding (KPD) 1794A Zinn (SPD) 1794B Kiesinger (CDU) 1795D Dr. Reismann (Z) 1797A Loritz (WAV) 1799A Dr. Arndt (SPD) 1800B Abstimmungen 1801D Nächste Sitzung 1810C Die Sitzung wird um 10 Uhr 30 Minuten durch den Präsidenten Dr. Köhler eröffnet.
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    Rede von Dr. Kurt Georg Kiesinger


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen des Herrn Abgeordneten Zinn veranlassen mich, doch noch ein paar grundsätzliche Worte zu dieser Angelegenheit zu sagen, die uns allen am Herzen liegt. Der Herr Kollege Zinn hat, indem er einige außerordentlich betrübliche Beispiele deutscher richterlicher Rechtsprechung zitiert hat, doch wieder ein-


    (Kiesinger)

    mal glaube ich, den Teufel an die Wand, gemalt.

    (Zuruf von der SPD: Gestern ist in München ein neues Beispiel passiert!)

    könnte Ihnen dafür Tausende von Ut teilen sagen, die von deutschen Richtern streng und gut nach dem Recht gesprochen worden sind. Ich will ja gar nicht allen Bemühungen entgegentreten. derartige Urteile in Zukunft möglichst unmöglich zu machen, aber ich fühle mich zur Ehre des deutschen Richterstandes verpflichtet, auf einige Dinge hinzuweisen.
    Ich darf vielleicht mit dem Hinweis darauf beginnen, daß es Adolf Hitler war, der vielleicht keinen deutschen Berufsstand so sehr in jener berüchtigten Rede verunglimpft hat, wie gerade den hat, wie gerade den deutschen Richterstand.

    (Sehr richtig! in der Mitte.)

    Ich weiß genau, daß es ein großer Teil der deutschen Richter war, die in ihrer Rechtsprechung wirklichen energischen Widerstand gegen die Tendenzen des Dritten Reiches geleistet haben. Es wäre nicht nötig gewesen, Leute, nachdem sie von einem deutschen Strafgericht freigesprochen worden waren, an der Treppe des Gerichts von den Schergen ins KZ abholen zu lassen, wenn diese Richter so schlecht gewesen wären, wie Sie sie jetzt machen wollen. Ich- sage das aus folgenden Gründen. Die Justizkrise, von der nun schon so lange in Deutschland die Rede ist, wird nicht dadurch verbessert, daß wir die Dinge übertreiben. Wir müssen doch die Kirche im Dorf lassen. Wir müssen sehen, wie die Dinge wirklich liegen, wo die Wahrheit ist, und da sollten wir uns nicht auseinanderreden.
    Sie haben den Geist Montesquieus beschworen. Sie haben recht, Herr Kollege Zinn: Montesquieu hat seinen Ruf „tout serait perdu" auch dagegen geschleudert, daß der Richter unabsetzbar sei, aber gerade in diesem Punkt hat ihm die Geschichte unrecht gegeben. Während das 19. Jahrhundert sonst seine ganze politische Konzeption angenommen hat: diese hat es abgelehnt, und ich glaube_ — die Geschichte hat uns darüber belehrt —: mit Recht abgelehnt. Auch in England gibt es noch jene Klausel, daß Richter unabsetzbar seien, „quamdiu se bene gesserint" — solange sie sich recht aufführen. Aber seit Jahrhunderten hat man drüben die Unabhängigkeit eines Richters nicht angetastet, obwohl theoretisch das Recht dazu bestand, weil dieses politisch kluge Volk weiß, was es daran hat, daß seine Richter wirklich königliche, wirklich unabhängige Richter sind.
    Nun aber sagen Sie: was nützen uns unabhängige Richter, wenn diese unabhängigen Richter nicht innerlich unabhängig sind? Sie haben recht, Herr Kollege Zinn; aber wie schwer haben es diese Richter gehabt! Darf ich Sie daran erinnern, daß nicht zuletzt auch aus dem Kreis der sozialdemokratischen Rechtstheoretiker, wenn ich so sagen darf, jene furchtbare Lehre von der normativen Kraft des Faktischen entwickelt worden ist? Jene Lehre, die da sagte: Recht hat, wer die Macht hat.

    (Unruhe und Widerspruch bei der SPD.) Denn das bedeutete es ja. Es war erschütternd für mich, zu sehen —


    (Weiterer Widerspruch bei der SPD)

    - doch, so war es letztlich! —, wie ein von mil
    verehrter Mann wie Gustav Radbruch am Ende
    seines Lebens nun doch mutig eine Vorlesung ansetzte, die wieder jenes alte verpönte Wort vom
    Naturrecht aufnahm, das ein „anständiger" Jurist am Ende des vergangenen Jahrhunderts gar nicht mehr in den Mund nehmen durfte, wenn er nicht von seinen Kollegen verachtet werden wollte. Es ist doch jene Lehre von der ewigen Wandelbarkeit des Rechts nach den jeweiligen Auffassungen der jeweiligen Mehrheit, die das Unheil geschaffen hat, die das Recht entleert hat und die das Recht zum Spielball der politischen Machthaber gemacht hat. Wie schwer haben es daher diese Richter gehabt, die, von einem politischen System ins andere hinüberwechselnd, das Recht anzuwenden hatten. Die Krise liegt in der Tat tiefer, als das hier in den Diskussionen mitunter in Erscheinung zu treten vermag. Es liegt an der großen weltanschaulichen Krise unserer Zeit, die eben auch das Richtertum mit erfaßt hat. Gerade im Richtertum muß es sich am allerstärksten zeigen.

    (Sehr richtig bei der CDU.)

    Ich habe jüngst in diesem Hause davon gesprochen, daß wir, wenn wir alle es mit der Demokratie ernst meinen, dann wirklich versuchen sollten, uns ein ideologisches Existenzminimum zu erarbeiten. Das gilt auch für die Rechtsprechung. Ich will nicht Herrn Kollegen Greve den Vorwurf machen, daß er seine Anklage gegen das Richtertum allgemein nur etwa aus parteipolitischen Gesichtspunkten vorgetragen hätte. Aber natürlich klang bei ihm, es kann ja gar nicht anders sein, sehr stark durch — er sagte, daß die Richter die sozialen Spannungen nicht begriffen -, daß er nun einmal eine sozialistische Konzeption der Demokratie hat. Das ist sein gutes Recht. Aber es ist auch das gute Recht der anderen, eine andere Konzeption der Demokratie zu haben.' Was verlangen Sie denn vom Richter? Der Richter, der unabhängig sein soll, muß wirklich über der Parteien Streit und Haß stehen. Das ist ein unendlich schweres Amt, und wir sollten ihm dieses Amt nicht noch dadurch schwer machen, daß wir eine übertriebene Kritik an seiner Arbeit üben.
    Nichts soll uns daran hindern. bei der jetz kommenden Arbeit der Justizreform, etwa gemeinsam in den Ausschüssen, alles zu tun, um derartige furchtbare Beispiele richterlicher Verirrung - und vielleicht sogar richterlicher Verbrechen — in Zukunft in unserem Volk unmöglich zu machen. Aber ein ernstes Wort muß ich noch einmal wiederholen. Es ist nun einmal nicht anders möglich, das Recht zu achten, als dadurch, daß man sich entschließt, einen Rechtspruch hinzunehmen, auch wenn er einem zunächst nicht paßt. Das ist eben das Wesen der Rechtskraft, die um des Friedens, um des Gemeinsamen willen in Kauf nimmt, daß einmal im einzelnen richterlichen Spruch Unbill gesprochen wird. Das ist das Wesen der Rechtskraft, und das muß uns alle zusammenhalten; denn wir werden immer und immer wieder in einer ganzen Reihe von Fragen sachlich auseinandergehen. Hier liegt wirklich eine Gefahr, und, Herr Kollege Zinn, ich sage Ihnen, daß der Warnruf Montesquieus „Alles wäre verloren" in unseren Tagen aufgegriffen werden muß, wenn die Neigung wüchse, aus vielleicht berechtigten und verständlichen Motiven heraus, voreilig von Instanzen Recht sprechen zu lassen, die dazu nicht berufen sind.
    Die Legislative soll ihre Aufgabe der Kontrolle, der Überwachung der Justiz, der Überwachung dessen, was in Deutschland an Recht gesprochen wird, ruhig wahrnehmen, aber sie soll sie ruhig, das heißt: in Ruhe und mit Würde wahrnehmen;


    (Kiesinger)

    und zu allerletzt dürfte es die Legislative sein, die selbst ein Beispiel gibt, daß sie da zur Selbsthilfe greift, wo das Recht diese Selbsthilfe nicht erlaubt. Wenn wir uns nicht gemeinsam dieser wichtigen Haltung erinnern -- denn es ist ja unser Jahrhundert, das doch dazu drängt, diese Schranken zu durchbrechen, diese Ordnungsschranken, die wahrhaftig schwach und kümmerlich genug sind, um den gewaltigen chaotischen Kräften, die in unserer Zeit stecken, Widerpart zu bieten —, wenn wir diese schwachen Schranken niederreißen, kommen wir gar nicht mehr zur Arbeit, denn dann wird das Chaos früher über uns hereinbrechen, als uns lieb ist.

    (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)



Rede von Dr. Hermann Schäfer
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Reismann.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Bernhard Reismann


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (None)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FU)

    Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde, daß sich die Diskussion im Eifer für oder gegen den Richterstand von dem eigentlichen Thema der Erörterung, nämlich von der Debatte um den Etat, reichlich weit entfernt hat. Es sind die Vergangenheit und große Ideen von Leuten beschworen worden, die reformierend auf dem Gebiete des öffentlichen und privaten Rechts tätig gewesen sind. Wir sollten uns nach meiner Meinung mehr Gedanken darüber machen, wie wir für die Zukunft den Richterstand so ausgestalten und so einrichten und so erziehen und geistig führen können, daß er in größerer Übereinstimmung mit den Bedürfnissen der gegenwärtigen Zeit und in größerer Übereinstimmung mit der Stimmung der Bevölkerung ist, als das gegenwärtig der Fall ist. Dabei spreche ich nicht bloß von dem Richterstand. Alle, die sich bisher mit der Justiz befaßt haben, scheinen zu vergessen, daß es darüber hinaus noch andere juristische Berufe gibt, mit denen wir uns hier auch intensiv zu befassen haben, nämlich vorzüglich mit den Staatsanwälten.
    Wenn man sich die Tätigkeit dieser weisungsgebundenen 'Staatsanwälte zur Zeit einmal etwas näher ansieht, von denen ungefähr alle im Amt geblieben sind, die es während der Nazizeit auch waren, dann ist es gar nicht verwunderlich, daß der Stein, der von ihnen ins Rollen gebracht wird, in einem Sinne läuft, wie er keineswegs dem Chef dieser Verwaltung und der öffentlichen Meinung heute entspricht. Es ist eine auffällige Erscheinung, daß seit 1945 eine reichlich große Zahl von Strafverfahren gegen solche Leute in Gang gebracht wird, von denen man glaubt, daß sie sich in irgendeinem Sinne vergangen haben. Aber gerade mit besonderem Eifer werden diese Vorwürfe herausgesucht, wenn es sich um solche handelt, die irgendwie gegen den Nationalsozialismus aufgetreten sind. Ich habe es selbst wiederholt erlebt, daß man gerade mit f r ü h e r en Nazis mit großer Nachsicht verfährt. Wenn der gleiche, wenn ein schwerwiegender Verdacht ihnen gegenüber auftaucht, so neigen die Staatsanwaltschaften viel eher dazu, das Verfahren als belanglos und nebensächlich einzustellen, als wenn ein Nazi schwört und sich das Verfahren gegen einen Antinazi richtet. Woher kommt z. B. die in ganz Deutschland notorisch bekannte Welle von Einschüchterungen gegenüber der Entnazifizierung und gegenüber Belastungszeugen, die gegen die Nazis aussagen sollen. Es kommt doch lediglich daher, daß sich die Staatsanwaltschaften bereit gefunden haben, Anklagen
    zu erheben und zum mindesten die Untersuchungen, soweit es nur möglich ist, in den Fällen
    voranzutreiben, wo sich Belastungszeugen — es
    war wirklich schwer genug, überhaupt welche
    aufzutreiben - bereit fanden, über Vergehen,
    Verbrechen und politische Schand- und Übeltaten von früheren Nazis überhaupt auszusagen.

    (Sehr richtig! bei der SPD.)

    Es gehört inzwischen Mut dazu, noch etwas gegen Nazis auszusagen. Denn wenn Sie sich heute etwa unterstehen sollten, gegenüber einem früheren sogenannten Ortsgruppen- oder Kreisleiter noch zu bekunden, er habe in der Kristallnacht dies oder das getan oder er habe diesen oder jenen angezeigt, dann müssen Sie damit rechnen, daß dieser Mann aus der „Verschworenen Gemeinschaft", wie Adolf Hitler seinen Klub nannte, einen, einen zweiten oder dritten aufbringt, der sich bereit erklärt, als Zeuge auszusagen, das wäre alles nicht wahr, was die Belastungszeugen gesagt haben. Dann gibt es mit tödlicher Sicherheit gegen sie ein Meineidsverfahren, noch bevor die anderen geschworen haben. Ich habe sowohl als früherer Vorsitzender des Justizausschusses im Lande Nordrhein-Westfalen wie auch als Anwalt gerade auf diesem Gebiet reichlich Erfahrungen gemacht. Kritik in dieser Hinsicht ist durchaus angebracht. Gerade vor diesem Forum muß es einmal gesagt werden, daß nicht bloß heute von richterlicher Unabhängigkeit die Rede sein darf, sondern daß auch in der Nazizeit die Rede davon gewesen sein sollte. Dieselben Richter, die sich heute auf ihre Unabhängigkeit berufen, haben damals allzu oft vergessen, daß sie die Unabhängigkeit auch in Anspruch nehmen konnten. Ich erinnere mich noch sehr genau an den Richter, vor dem NaziReferendare ihre Verachtung zum Ausdruck brachten, weil er am Tase nach dem 30. Juni sich mit ihnen über die Mörderei des Adolf Hitler unterhalten hatte, im nächsten Augenblick aber einen Haftbefehl unterschrieb, als ihm ein Mann vorgeführt wurde, der dasselbe gesagt hatte.
    Es ist mir immer wieder unangenehm aufgefallen, daß in Erwiderung auf ungerechtfertigte Angriffe gegen den Stand der Juristen eine noch ungerechtfertigtere Verteidigung gekommen ist. Dagegen wehre ich mich. Ich will keineswegs verkennen, daß sich die große Zahl der Juristen wie auch der Verwaltungsbeamten — sagen wir einmal — so durchgeschlängelt hat, um schlecht und recht in der Nazizeit ihre Pflicht zu tun. Aber man soll die Dinge nun nicht so hinstellen,
    a) als hätte es in der Nazizeit nur gute Richter und nicht auch böse Staatsanwälte gegeben, und
    b) als wäre alles, was damals geschehen ist, in Ordnung. Denn wovon sind schließlich die regulären Gefängnisse mit politischen „Verbrechern und Vergehern" gefüllt worden? Das waren doch Resultate der ordentlichen Justiz.
    Aber gestatten Sie mir auch, auf die Gegenwart jetzt noch in anderer Hinsicht, als es bisher geschehen ist _einen Blick zu werfen. Es fällt doch schließlich dem ganzen Haus auf, daß nach und nach alle prominenten Vertreter der bayerischen Nicht-Regierungsparteien in Immunitätssachen vor das Forum dieses Hohen Hauses kommen. Das kann doch nicht nur daran liegen, daß sich die Kriminellen bloß bei der Opposition in Bayern befinden. Ich kann mich des Gedankens


    (Dr. Reismann)

    nicht erwehren, daß es der richterlichen Unabhängigkeit nicht ganz entspricht, wenn hier bloß Immunitätsanträge a) aus Bayern und b) gegen Abgeordnete der Nicht-Regierungsparteien vorgetragen werden.
    Es scheint mir aber auch noch einer weiteren Erwähnung wert, daß man den richterlichen Stand hier übermäßig betont. Wir müssen dabei folgendes unterscheiden: den Richterstand, wie er ist, und den Richterstand, wie er sein sollte. Wir haben zur Zeit einen Richterstand, der der Zahl nach viel zu groß ist, als daß er von der Qualität sein könnte, wie er in der Idealvorstellung der deutschen Menschen lebt. Die Folge davon ist, daß die große Mehrzahl der Mitglieder dieses Standes durchaus mittelmäßig ist und sogar mit subalternen Arbeiten beschäftigt wird, so daß diese Richter im Drange der täglichen kleinlichen Geschäfte den Blick für das Große verlieren. Von ,dem überlasteten Richter, von dem Richter, der mit Kleinkram zugepackt wird, können Sie nicht erwarten, daß er sich in den großen und entscheidenden Fragen so einstellt, wie Sie es von einem souveränen Richterkönig erwarten sollten, und wenn Sie dieses souveräne Richterkönigtum gerade auf solche Leute übertragen, dann kann das nichts als eine große Verstimmung, eine große Enttäuschung zur Folge haben. Wir bedürften deswegen - und das ist mein Appell an den Herrn Justizminister — einer Justizreform, die den Spruchrichter von dem verwaltenden Richter unterscheidet, die die freiwillige Gerichtsbarkeit deutlich von der Spruchtätigkeit der Gerichte absetzt, die aber auch die Sachverteilung so vornimmt, daß eine Überlastung
    der einzelnen Richter nicht mehr stattfindet. Es ist außerdem erforderlich, daß namentlich bei den Strafgerichten die Beteiligung des Laienelementes in einer ganz anderen und viel intensiveren Art und Weise wieder eingeführt wird, als das zur Zeit der Fall ist. Jetzt kommen die Bagatellen an das Schöffengericht. Die mittleren Sachen, und zwar solche von erheblicher Bedeutung, werden fernab von jeder Beteiligung des Volkes vor den Strafkammern erledigt, und zwar in einer trockenen, behördenmäßigen Art und Weise, die aber auch alles zu wünschen übrig läßt.
    Und was für Richter sitzen dort? Es ist eben mit Recht gesagt worden, daß 90 % der Richter dieselben sind, die sich in der Nazizeit nicht auf ihre richterliche Unabhängigkeit berufen haben. Aber mit welcher Befangenheit stehen sie heute diesen Fragen der gegenwärtigen Zeit gegenüber? Ich kann Ihnen aus meiner eigenen Erfahrung ein Beispiel zeigen. Es klagte eine Persönlichkeit, die im öffentlichen Leben steht, privat. Darauf war sie angewiesen, weil sich kein Staatsanwalt für ausreichend interessiert hielt, um eine öffentliche Klage zu erheben —, weil man die verleumderische Behauptung verbreitet hatte, in der Nazizeit als prominentes Parteimitglied verdient zu haben. Da sagte der Richter, als ich mit ihm über den Fall sprach, zu mir: Das ist doch keine Beleidigung, wenn er Parteimitglied gewesen sein soll; das ist ein ganz neutraler Tatbestand; ich bin ja auch Parteimitglied gewesen. Ich habe weiter gesagt, es sei doch wohl zweckmäßig, daß er sich unter diesen Umständen für befangen erkläre, und das hat er dann getan.
    Da sehen Sie, meine Damen und Herren, daß man keineswegs mit der nötigen Unvoreingenommenheit an diese Fragen herantritt. Denken Sie sich selber einmal in diese Lage hinein. Glauben Sie nicht, daß das eine Beleidigung ist, wenn Sie etwa in einem KZ oder einem Gefängnis gesessen haben, wenn Sie die ganze Zeit gegen den Nationalsozialismus gestanden haben, wenn Ihnen einer sagt, Sie seien Pg gewesen? Halten Sie das nicht für eine Beleidigung? Der Richter sagt: Nee, ich war selber einer; das war keine Beleidigung für mich.
    Wenn man also jetzt die Justiz neu aufbauen will, so halten wir es für erforderlich, daß man bei dieser Gelegenheit die Laienbeteiligung in ganz anderer, intensiver Art und Weise einschaltet, als es bisher der Fall ist.
    Wir vermissen in der jetzigen Vorlage des Herrn Bundesjustizministers neue, schöpferische Ideen für die Neugestaltung des Prozeßrechts. Es ist eben gesagt worden, daß das nicht beabsichtigt gewesen sei. Wir rügen aber, daß es nicht beabsichtigt gewesen ist. Wir wünschen für diese Gelegenheit von dem Herrn Justizminister zumindest in den Grundzügen, wenn auch noch nicht in allen Details, daß er das Prozeßrecht in gewissem Sinne reformatorisch ausgestaltet. Wir haben insbesondere zu den Grundzügen einige Forderungen anzumelden, die von der bisherigen Praxis der deutschen Gerichte abweichen. Es ist hier nicht die Zeit, im einzelnen darauf einzugehen; wir möchten aber hier zum Ausdruck bringen, daß wir es unter Anerkennung der Schnelligkeit der Arbeit doch bedauern, daß schöpferische Gedanken in dem jetzt vorgelegten Entwurf nicht enthalten sind. Vor allem bedauern wir es auch, daß sich der Bundesjustizminister ebensowenig wie die Länderjustizminister um die geistige Heranführung des Richterstandes an die Demokratie und an die gegenwärtigen Verhältnisse bemüht hat. Er hat sich, wie uns scheint, in einer Verteidigung des Richterstandes, so wie er ihn vorgefunden hat, erschöpft und verausgabt. Er hat bislang in seinem Amt noch nicht die Initiative gefunden, auf eine Entwicklung des Richterstandes und überhaupt der Justizbeamtenschaft und der Justizeinrichtungen zum Neuen hinzusteuern.
    Lassen Sie mich nun mit dem Bedauern darüber abschließen, daß gerade der Justizminister es gewesen ist, der im Anschluß an die Debatte Hedler die Veranlassung zu einer Erörterung gerade jenes Falles gab, und zwar dadurch, daß er selber von dem bewährten Grundsatz abgewichen ist, daß man nichtrechtskräftige Entscheidungen nicht zur Debatte stellt. Indem er seinerzeit dazu überging, das Gericht zu verteidigen, hat er. die Angriffe gegen dieses Gericht gerade heraufbeschworen, und zwar in einer Situation zu verteidigen, in der die Verteidigung hoffnungslos war. Was inzwischen über den mündlich verkündeten Inhalt der Entscheidung des ersten Gerichts bekannt geworden ist, ist ein ganz böses Zeichen für den Geist jener Richter, die zu verteidigen der Herr Justizminister für nötig befunden hat. Wir möchten ihm deswegen bei dieser Generaldebatte, die sich nun in der Etatberatung unbeabsichtigt und gegen die getroffenen Abreden entwickelt hat, zurufen, daß er in Zukunft seine Aufmerksamkeit darauf lenken möge, wie er die Justiz an das


    (Dr. Reismann)

    Volk heranführe, und nicht darauf, wie er die bestehenden Zustände verteidige, die uns keineswegs konservierenswert erscheinen.

    (Beifall beim Zentrum, bei der WAV, der SPD und der BP.)