Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem Ausschuß für Geschäftsordnung und Immunität haben zwei Anträge vorgelegen, der Antrag der Fraktion der Kommunistischen Partei, Drucksache Nr. 689, und der Antrag der Sozialdemokratischen Partei, auf gesonderter Drucksache. Der Antrag der Fraktion der Kommunistischen Partei verlangt einen Beschluß des Bundestages, der einen Protest gegen die Verhaftung des Abgeordneten Lehmann im Gebäude des Niedersächsischen Landtags zum Inhalt hat und die sofortige Freilassung fordert. Die Bundesregierung soll beauftragt werden, der Hohen Kommission bekanntzugeben, daß der Bundestag diese Beschlüsse gefaßt hat. Die Absätze 2 und 3 des Antrags auf Drucksache Nr. 689 befassen sich im wesentlichen mit einer rechtlichen Motivierung des in Absatz 1 dargelegten Wunsches.
Der Antrag der Sozialdemokratischen Partei ist als Zusatzantrag bezeichnet. Er wünscht, dem Absatz 3 des Antrags auf Drucksache Nr. 689 den Vorfall der Verhaftung des Berliner Abgeordneten Werner Rüdiger hinzuzufügen. Rüdiger ist am 25. Februar 1949 von der Polizei des Ostsektors verhaftet worden. Er war am 20. Oktober 1946 als einer der sozialdemokratischen Spitzenkandidaten im Ostsektor gewählt worden. Nach Berichten, die der sozialdemokratischen Fraktion zugegangen sind, ist der Stadtverordnete Rüdiger wegen des angeblichen Besitzes der Berliner lizenzierten Zeitung „Telegraf" zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. Der Wunsch, den dieser Zusatzantrag zum Ausdruck bringt, deckt sich mit dem Wunsch der Fraktion der Kommunistischen Partei.
Der Ausschuß für Geschäftsordnung und Immunität ist in eine sehr sorgfältige Prüfung beider Anträge eingetreten. Er hat zunächst ihre Zulässigkeit und sodann die Zuständigkeit des Bundestags geprüft. Der Ausschuß ist übereinstimmend zu dem Ergebnis gekommen, daß beide Anträge zulässig sind und daß auch die Zuständigkeit des Bundestags gegeben ist. Der Bundestag ist nach Auffassung des Ausschusses Repräsentant der inneren Bundesgewalt, während die äußere Bundesgewalt
durch den Bundespräsidenten repräsentiert wird. In dem Bundestag wurzeln die Regierung und die rechtsprechende Gewalt. Als Träger dieser inneren Bundesgewalt ist der Bundestag zur Wahrung des verfassungsmäßigen Zustandes im Geltungsgebiet des Grundgesetzes und damit auch in den Ländern zuständig. Das ergibt sich aus Artikel 28 des Grundgesetzes.
Hinsichtlich der Stadt Berlin hat der Ausschuß folgende Rechtsansicht vertreten. Berlin ist Stadt und Land zugleich. Gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes gilt das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland auch für Berlin. Die von den Alliierten bei Anerkennung des Grundgesetzes erlassenen Einschränkungen berühren nicht den hier zur Entscheidung stehenden Rechtsfall, bei dem es sich um die Wahrung und Gewährleistung des Rechts der Immunität handelt.
Der Ausschuß für Geschäftsordnung und Immunität ist zu dem Ergebnis gekommen, daß beide Anträge, sowohl derjenige auf Drucksache Nr. 689 als auch derjenige auf gesonderter Drucksache, nicht in allen Stücken so redigiert sind, daß der Ausschuß darin einen Ausdruck seiner Rechtsauffassung finden konnte. Er ist daher zu dem Ergebnis gekommen, beide Anträge miteinander zu verbinden und in einem Vorschlag zu vereinigen, den ich nachher Ihnen zu unterbreiten die Ehre habe. Der Wunsch, der in beiden Drucksachen zum Ausdruck gebracht worden ist, nämlich die Erhebung eines Protestes und das Verlangen der sofortigen Freilassung der unter Bruch des Immunitätsrechts verhafteten Abgeordneten, ist der gleiche. Dennoch unterscheiden sich die Tatbestände in tatsächlicher Hinsicht. Der Abgeordnete Robert Lehmann ist im Gebäude des Niedersächsischen Landtags verhaftet worden. Der Stadtverordnete Rüdiger ist im Ostsektor der Stadt Berlin, die nach Ansicht des Ausschusses ein einheitliches Land ist, durch Polizei verhaftet worden. Obwohl die tatsächlichen Unterschiede des Falles gegeben sind, wird das Recht auf Immunität in beiden Fällen verletzt.
Der Ausschuß hat sich unter anderem bei der Würdigung des Rechtsfalles mit der Entschließung befaßt, die zur gleichen Zeit bei der Besprechung sämtlicher Landtagspräsidenten in München gefaßt worden ist. Dieses Gremium hatte unter anderem das vom Präsidenten des Niedersächsischen Landtags am 5. Januar 1950 dem United Kingdom High Commissioner General Robertson zugeleitete Schreiben betreffend Immunitätsprivileg des Niedersächsischen Landtags zur Beratungsgrundlage. Die Landtagspräsidenten hielten in Übereinstimmung mit der Auffassung der von ihnen vertretenen Landtage die Achtung des von den Besatzungsmächten mit der Billigung der Verfassung anerkannten Immunitätsrechts der frei gewählten Volksvertretung für unerläßlich. Die Landtagspräsidenten haben nunmehr den Inhalt und den Umfang dieser Immunitätsrechte in folgender Weise definiert, eine Definition, der sich der Ausschuß für Geschäftsordnung und Immunität des Bundestages angeschlossen hat: Hierzu gehört das Recht des Parlaments, über die Verfolgbarkeit seiner Mitglieder zu entscheiden, die Anerkennung des Hausrechts und der Polizeigewalt des Präsidenten und die absolute Unverletzlichkeit des Parlamentshauses.
Die Umredaktion der beiden Anträge mußte auch noch aus folgendem Grunde erfolgen. Die Fraktion der Kommunistischen Partei hatte in ihrem Antrag ausgeführt, daß die Verhaftung des Abgeordneten Lehmann im Gebäude des Niedersächsischen Landtags unter Beihilfe von deutscher Polizei
und unter Gewaltanwendung vorgenommen worden sei.
Der Ausschuß hat beim Büro des Niedersächsischen Landtags eine Erhebung angestellt, um festzustellen, ob diese Angaben stimmen. Nach Auskunft des niedersächsischen Landtagsbüros ist deutsche Polizei bei der Verhaftung des Abgeordneten Lehmann nicht beteiligt gewesen.
Wegen dieser tatsächlichen Feststellung mußte davon abgesehen werden, den Text des vorgelegten Antrags zum Gegenstand des Beschlusses vorzuschlagen.
In rechtlicher Hinsicht hat der Ausschuß unterschieden einmal das Recht auf Immunität des Hauses, das heißt die Unantastbarkeit und Unverletzlichkeit des Parlamentsgebäudes, zum andern das Recht der Immunität, das, wie es der kontinuierlichen Auffassung des Ausschusses entspricht, ein Recht des Parlaments ist. Beide Rechte sind im Falle des Abgeordneten Lehmann verletzt worden. Im Falle des Abgeordneten Rüdiger ist die Funktionsfähigkeit des Berliner Parlaments verletzt worden.
Der Ausschuß ist dabei in Fortentwicklung seiner Rechtsansicht zu der Feststellung gekommen, daß es sich bei dem Recht der Immunität nicht um ein Privileg handele, sondern um die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Körperschaften. Aus dieser Rechtsanschauung ergibt sich unter anderem auch die Pflicht der parlamentarischen Körnerschaft, über dieses Recht zu wachen und Angriffe, die gegen dieses Recht des Hauses in der Person eines Abgeordneten oder in Verletzung der Räumlichkeiten vorgenommen werden, abzuwehren. In diesem Recht und in dieser Verpflichtung ist der Ausschuß der Ansicht, daß der Bundestag hier die notwendige Unterstützung zu gewähren hat, die angesichts der Schwere dieser beiden Fälle gewährt werden muß. Diese Unterstützung kann in wirksamer Weise nur dadurch erzielt werden, daß der Bundestag zu einem Beschluß kommt, da der Verkehr mit der Hohen Kommission, unter deren Entscheidung und zu deren Würdigung dieser Fall gehört, über die Bundesregierung geht. die in diesem Fall als beauftragtes Organ den Protest des Bundestags und den Antrag auf Freilassung weiterzuleiten hat.
Hinsichtlich der rechtlichen Lage, inwieweit die Immunität gegenüber den Besatzungsrechten geltend gemacht werden kann und geltend gemacht werden muß und inwieweit die Besatzungsmächte von diesem Recht der Immunität sowohl des Hauses als auch des Abgeordneten Notiz zu nehmen haben, ist der Ausschuß in Übereinstimmung mit den in München versammelten Landtagspräsidenten zu folgendem Ergebnis gekommen. Die Besatzungsmächte haben das Grundgesetz und die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern anerkannt. Im Besatzungsstatut haben sie sich das Recht vorbehalten und damit auch die Pflicht übernommen, für die Aufrechterhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung im Bund und in den Ländern einzutreten. In diesem Sinne haben sie sich selbst eine Beschränkung auferlegt und sich verpflichtet, diese Selbstbeschränkung zu achten.
A) Der Ausschuß für Geschäftsordnung und Immunität hat die Gesamtheit der Diskussion und der von ihm gewürdigten Gesichtspunkte in der Drucksache Nr. 700 formuliert, die Ihnen hiermit zur Annahme vorgelegt wird. Da ich Wert darauf lege, daß dieser Antrag in das stenographische Protokoll kommt, bitte ich den Herrn Präsidenten um Genehmigung, den Antrag verlesen zu dürfen.