Meine Damen und Herren! Im dritten Absatz des kommunistischen Antrags heißt es
Der Bundestag steht ferner auf dem Standpunkt, daß das Recht des Wählers und das demokratische Prinzip der freien Wahl aufgehoben wird, wenn der vom Volke gewählte Abgeordnete durch Strafverfolgung oder Inhaftierung daran gehindert wird, sein Recht wahrzunehmen und seine Pflicht zu erfüllen, dem Auftrag seiner Wähler innerhalb und außerhalb des Parlaments nachzukommen und
denselben von seinem politischen Standpunkt aus zu vertreten.
— Ein sehr schöner Satz, den ich zitiert habe, Herr Kollege; ein sehr schöner Satz! Wir wären froh, wenn er von allen Mitgliedern dieses Hauses vertreten würde.
Heute morgen haben sich im Ausschuß für Immunitätsfragen alle Parteien zu diesen Grundsätzen bekannt. Sie haben erklärt, daß das Recht des Abgeordneten unteilbar ist und daß man nicht nach der Zugehörigkeit zu Parteien sehen sollte, sondern daß das Recht des Abgeordneten überall wirksam werden sollte. Und meine Damen und Hierren, wenn der Herr Kollege Müller vom Rechtsbruch, vom Bruch der Immunität und von dem Schutz sprach, der nur auf dem Papier steht, wenn er von Kolonialjustiz sprach,
so sind das alles schöne Worte, Herr Kollege Rische; es müßten nur nicht die Ostzone und OstBerlin existieren.
Das ist der Schönheitsfehler bei diesen Worten.
Sehen Sie, was nutzt es denn, wenn Sie im Lande herumlaufen, wenn Herr Reimann schöne Worte findet, wie sie folgendermaßen in der „Täglichen Rundschau", Ihrem russischen Regierungsorgan in Berlin, zu lesen sind:
Die Verhaftung des Abgeordneten Robert Lehmann ist ein Angriff auf die elementarsten demokratischen Rechte der deutschen Bevölkerung. Es ist darum die Ehrenpflicht eines jeden aufrechten Deutschen, gegen diesen Willkürakt zu protestieren und um die Freilassung Robert Lehmanns zu kämpfen.
Ich sagte Ihnen schon: die Parteien haben heute
im Ausschuß diesen Grundsatz vertreten, und
Sie sollten jetzt bei der Abstimmung über unseren Zusatzantrag beweisen, daß Sie auch zu dieser Frage grundsätzlich positiv Stellung nehmen.
— Das will ich Ihnen gleich sagen, Herr Kollege Renner. Im übrigen haben Sie schon vor einem Vierteljahr einmal gesagt, daß Sie die Frage der Insassen in den KZ's grundsätzlich prüfen wollten; Sie wollten sich deswegen mit mir in Verbindung setzen.
— Ich weiß gar nicht, warum Sie so aufgeregt sind, das hat doch gar keinen Zweck. — Wir haben folgendes festzustellen: Für uns ist hier die Frage des Grundsatzes ganz klar, und wir stimmen infolgedessen auch Ihrem Antrag zu. Wir sagen aber, wenn Sie von der Kolonialjustiz sprechen, dann sollten Sie einmal die Frage der Justiz in der Ostzone überprüfen. Einer der Staatsanwälte in der Ostzone hat in der Angelegenheit eines politischen Prozesses seine Aktentasche liegengelassen, aus der folgendes entnommen werden konnte.
Es ist ein Originalbrief der SED, der in unserem Besitz ist. Es heißt in diesem Brief:
In der Falkensache
— gemeint ist die Verfolgung der Falken, die den lizenzierten „Telegraf" im Ostsektor Berlins verteilt haben —
sind weiter Ulbricht und Edith Baumann der Ansicht, daß es wünschens wert ist, den Termin auf die Zeit vom 15. bis 20. Juni zu verlegen,
-- des Vorjahres —
und zwar sowohl mit Rücksicht auf die Pariser Verhandlungen, die durch einen früheren Termin gestört werden könnten, wie vor
allem mit Rücksicht auf das Pfingsttreffen
der FDJ in Leipzig, wo eine Sammlung der
gesamten Jugend angestrebt werden soll.
Herr Renner, was ist mit diesen jugendlichen
Menschen geschehen, die weiter nichts getan haben, als eine westlich lizenzierte Zeitung im Ostsektor Berlins zu verteilen? Die Jugendlichen
Gerhard Sperling, Lothar Otter, Horst Glank und
Günter Schlierf sind am 7. Juli 1949 zu je 25
Jahren Zwangsarbeitslager verurteilt worden.
25 Jahre, ohne daß diese jugendlichen Menschen das Recht hatten, überhaupt einen Verteidiger zu haben,
ohne daß sie überhaupt die Möglichkeit hatten, vor einem ordentlichen Gericht zu erscheinen!
Nun darf ich Ihnen zum Schluß folgendes sa- gen. Sie haben im vorigen Jahre an die Straßenzäune und an die Mauern geschrieben: „Freiheit für Reimann!" Freiheit für Reimann? Warum so bescheiden? Freiheit für den Mann, der zu drei Monaten Gefängnis verurteilt wurde und der nach vier Wochen Gefängnisaufenthalt wegen guter Führung entlassen worden ist?! Es ist Ihnen bekannt, daß dieser Herr Reimann, der Vorsitzende der Kommunistischen Partei, die Möglichkeit hatte, am ' zweiten Tage seine Frau zu empfangen; daß er die Möglichkeit hatte, Briefe zu senden und zu empfangen, und daß er nach den Berichten der kommunistischen Presse in Berlin sogar „auf den Druck der werktätigen Massen" Delegationen aus der Ostzone empfangen konnte.
Das ist hier in Westdeutschland.
Wissen Sie, Herr Renner, wir sind nicht so bescheiden. Wir fordern Freiheit für alle Männer und Frauen,
die die Freiheit in der Ostzone erkämpfen wollen. Wir fordern Freiheit für die, die heute in
Kellern und in Bunkern, in Gefängnissen, Zuchthäusern und KZ's für ihre Überzeugung schmachten demokratische Organisationen wieder aufnach der Zerschlagung der Hitler-Diktatur glaubten demokratische Organisationen wieder aufrichten zu können; sie schmachten heute, ohne die
Vorteile Reimanns zu genießen, sie hatten nicht
die Möglichkeit, irgendeinen Familienangehörigen
zu empfangen, sie hatten nicht die Möglichkeit
-- seit viereinhalb Jahren nicht die Möglichkeit —, Nachrichten zu senden oder zu empfangen.
Und darum sagen wir, daß Sie bei aller Berechtigung Ihres Antrages in der Begründung sehr vorsichtig sein und daß Sie vor allen Dingen den Versuch unternehmen sollten, hier die Freiheit eines Abgeordneten wieder zu beschaffen, der jetzt im vierzehnten Monat spurlos verschwunden ist. Herr Kollege Renner, unser Zusatzantrag sagt schon, daß dieser Abgeordnete Werner Rüdiger verhaftet worden ist, weil er auch wieder im Besitz der im Westen Berlins lizenzierten Zeitung „Telegraf" gewesen sein soll. Sie reden große Worte von der Einheit Deutschlands und Sie verfolgen hier wegen des Besitzes einer lizenzierten Zeitung die Menschen auf das grausamste. Werner Rüdiger ist nach Aussage entlassener KZ-Häftlinge nach Rußland abtransportiert worden.
Sie haben dank Ihrer guten Verbindungen also hier die Möglichkeit, dafür zu sorgen, daß Werner Rüdiger genau so wie der Abgeordnete Lehmann sein Mandat ausüben kann. Wenn es Ihnen ernst ist um die Freiheit des Abgeordneten, dann werden Sie nicht nur darum reden und dafür kämpfen, daß Lehmann wieder in Freiheit gesetzt wird, sondern dann werden Sie mit allen anständigen demokratischen Kräften auch dafür sorgen, daß das gleiche für Werner Rüdiger der Fall ist.