Herr Präsident! Meine Damen und Herren!. Als am 3. November 1949 die Fraktion der CDU in diesem Hohen Hause den Antrag stellte, um den es sich hier handelt und der der Geschäftsordnung einverleibt worden ist, waren wir wirklich der Auffassung, es handele sich um eine lex specialis. Aber schon in der Sitzung des Geschäftsordnungsausschusses, in der der Antrag der Bayernpartei auf Aufhebung dieser beiden Absätze des § 103 zur Diskussion stand, und heute zu meinem Erstaunen wiederum durch den Herrn Berichterstatter, den Herrn Kollegen Gengler, wurde eine prinzipiell andere Haltung eingenommen. Der Herr Kollege Gengler gab zu, daß es sich hier um einen Sonderfall handele, also sagen wir: um den Fall Bonn—Frankfurt, der, wie ich gehört habe, den lang verstorbenen Frankfurter Lokaldichter Stolze am Abend dieser Abstimmung veranlaßt haben
soll, sich im Grabe herumzudrehen und zu erklären:
Des will mir net in den Kopp hinei; Des kann ka Demokratie mehr sei.
Aber daß nun die Fraktion der CDU entgegen anderen Informationen offensichtlich doch gewillt ist, an dem ergänzten § 103 festzuhalten, macht uns stutzig. Bei allem Verständnis für die damalige Situation glauben wir doch. daß aus prinzipiellen Gründen unter keinen Umständen eine derartige Bestimmung in der Geschäftsordnung des Bundestages erhalten bleiben sollte; denn praktisch wäre damit die Möglichkeit gegeben, alle sachlichen Abstimmungen durch eine Mehrheit des Hauses der öffentlichen Abstimmung zu entziehen und eine geheime Abstimmung zu voll-. ziehen.
Wir von der sozialdemokratischen Fraktion sind der Auffassung, daß kein Beispiel eines demokratischen Staates. auch wenn es so sein sollte, wie der Herr Kollege Gengler von der Schweiz berichtete — was sich meiner Kenntnis im Augenblick entzieht —, dazu verleiten darf, eine Abstimmung in wichtigen Sachangelegenheiten der öffentlichen Kontrolle zu entziehen.
Ich glaube sagen zu dürfen, daß das Recht des Volkes unter anderem auch darin besteht, zu wissen, wie die Abgeordneten des Bundestages zu dieser und jener Frage Stellung nehmen,
und die Stellungnahme vollzieht sich nicht nur in Reden und Zwischenrufen, sondern entscheidend in der Abstimmung.
Aus diesen Gründen sind wir der Meinung: diese Bestimmung m u ß fallen!
Wir haben unseren Antrag erst dann gestellt, als sich im Geschäftsordnungsausschuß eine Mehrheit fand, die für eine Vertagung der Entscheidung bis zur Neuregelung der Geschäftsordnung überhaupt eintrat und dementsprechend beschloß.
Meine Damen und Herren, die Auffassung, die ich Ihnen vortrage, ist weithin im deutschen Volk vertreten. Der Vorsitzende der CDU-Fraktion, Herr von Brentano, hatte ja Gelegenheit, in den Auseinandersetzungen mit der Deutschen Wählergesellschaft entsprechende Informationen einzuholen. Ich glaube, es wäre nützlich, wenn sich die Parteien, die am 3. November diesem Antrag zum Erfolg verholfen haben, heute darauf besinnen würden, daß man dieses Spiel nicht fortsetzen sollte. Es ist die Aufgabe jedes Abgeordneten jeder Fraktion, die Verantwortung, die der einzelne in sich trägt, die er spürt, auch so zum Ausdruck zu bringen, daß daraus keine Geheimpolitik bei den Abstimmungen gemacht wird. Das Volk hat ein Recht darauf, zu wissen, wie der von ihm gewählte Abgeordnete in ganz bestimmten Sachfragen urteilt, wie er stimmt; denn der Abgeordnete, der sich in die Anonymität hüllt, kann nachher leicht sagen: ich war dafür oder dagegen. Kein Mensch kann ihm das beweisen. Der Wähler aber hat ein Recht darauf, zu wissen, was der Abgeordnete in Tat und Wahrheit getan hat.
Eine Abstimmung enthält schließlich vor allem auch das Element des Willens, sich der öffentlichen Kritik auszusetzen. Ich glaube, es ist ein Wesensfaktor von entscheidender Bedeutung, daß der Abgeordnete sich mit der öffentlichen Kritik und vor allem mit seinen Wählern und seinem Wahlkreis auseinandersetzt und sich. dort für das verantwortet, was er getan oder was er unterlassen hat. Ich gebe zu, es bedarf dazu des Mutes, es bedarf dazu des Verantwortungsbewußt-seins. Ich unterstelle, daß wir alle diesen Mut und dieses Verantwortungsbewußtsein haben. Wir wollen, wenn wir unserer Pflicht genügen, nicht den Kopf in den Sand stecken, wir wollen keine Vogel-Strauß-Politik machen, wir wollen zu dem stehen, was wir übernommen haben zu tun, und wir wollen das Rechte tun.
Aus diesem Grunde ist es klug, wenn auch die Mehrheit dieses Hauses, die Regierungsmehrheit, von dem damaligen Notausgang keinen Gebrauch mehr macht und es auch gar nicht darauf ankommen läßt, daß eventuell in eine Prüfung der Frage eingetreten wird, ob bei weiter Interpretation nicht unter Umständen sogar eine Verletzung des Artikel .42 des Grundgesetzes mit dem Beschluß vom 3. November vorliegt. Ich hebe darauf heute nicht ab, sondern ich erkläre nur namens meiner Fraktion: nachdem eine Mehrheit. die sich aus den Regierungsparteien zusammensetzte, im Geschäftsordnungsausschuß bei Behandlung des Antrags der Bayernpartei für die Aufrechterhaltung einer Geschäftsordnungsbestimmung für den Sonderfall Bonn—Frankfurt für längere Zeit gestimmt hat, erst dann haben wir es für notwendig, und zwar zwingend notwendig erachtet, einen eigenen Antrag einzubringen. Ich bitte Sie, nicht auf den Ausweg zu verfallen, nun diesen Antrag etwa auch noch dem Ausschuß für Geschäftsordnung und Immunität zu überweisen, sondern durch eine _klare und offene Abstimmung hier und heute zu bekennen, ob Sie gewillt sind, den Notausgang zu verschließen, den Sie aus Anlaß der Entscheidung Bonn—Frankfurt gewählt haben, und ob Sie gewillt sind, zu einer ordentlichen Behandlung und dementsprechend offenen Abstimmung in Sachfragen zurückzukehren, oder ob Sie wirklich wünschen, daß die Entscheidung bis zu der noch Wochen - wir wissen nicht, wieviel Wochen dauernden Neuregelung der Geschäftsordnung zurückgestellt wird, von der wir dann erst recht nicht wissen, ob nicht wieder eine Mehrheit des Hohen Hauses bereit ist, diesen Paragraphen zu verewigen.