Meine Damen und Herren! Wenn man von Justizkrise spricht, meint man damit nicht etwa, daß unsere deutschen Richter käuflich wären, daß sie in Prozessen zwischen Meier und Schulze nicht unparteiisch entscheiden. Man meint damit nicht, daß unsere Richter etwa nicht genügend juristische Kenntnisse hätten, um gutes Recht zu sprechen. Man meint damit etwas anderes. Man versteht darunter, daß unsere Richter nicht immer dem Anliegen, das das Volk als Träger unseres Gemeinwesens an die Rechtsprechung stellen darf, gerecht werden. In vielen Fällen geschieht es; aber in einer Reihe von sehr sichtbaren Fällen ist es nicht geschehen.
Das Pathos des Richteramtes wird nicht dort in Anspruch genommen, wo sich gleichgültige Leute vor der Richterbank um ihr Recht streiten. Das Pathos des Richteramtes wird dort in Anspruch genommen, wo „Richtersein" zu einer gefährlichen Sache wird, dort also, wo der Richter den Schwachen gegen den Übermächtigen zu schützen hat, dort, wo er sich mit seinem Urteil gegen den Druck der Straße zu stemmen hat. Ja, Herr von Thadden!
Aber der Druck der Straße nimmt in dieser Zeit mannigfache Gestalt an. In Neumünster oben war es nicht der Druck der Straße von irgendwoher, sondern der Druck der Straße von Neumünster, der auf das Gericht gewirkt hat!
Das Pathos des Richteramtes wird auch dort in Anspruch genommen, wo sich der Richter gegen die gängigen Meinungen seiner Standesgenossen stellen muß, wenn wirklich Recht gesprochen werden soll, dort, wo er unter Umständen riskieren muß, gesellschaftlich boykottiert zu werden,
wenn er eine bestimmte Stellung einnimmt. Und auch hier weist die jüngste Vergangenheit leider Gottes einige böse Beispiel auf.
In dem Wort Justizkrise ist noch ein weiterer Vorwurf beinhaltet, nämlich der, daß viele Richter dem Geist der Zeit -- ich meine das nicht im banalen Sinne, sondern in dem tiefen Sinn, in dem Hölderlin von „Zeitgeist" spricht -- dem Geist der Zeit gegenüber nicht genügend „offen" sind, daß sie sich zu sehr in ihren Wertungen von Tafeln bestimmen lassen, die in ihrer Jugend vielleicht „Geist der Zeit" gewesen sein mögen, die es aber heute nicht mehr sind. Das alles beinhaltet der Vorwurf, daß es eine Justizkrise gebe.
Ich glaube, meine Damen und Herren, daß man diese Dinge schon sehr ernst nehmen sollte. Denn es geht dabei um mehr als um die Frage, ob eine Säule unseres Staatsapparates auch integer ist oder nicht. Es geht dabei vielmehr um Charakter und Wesen unseres neuen Staates selbst!
Man kann schlechterdings die Rechtsprechung in diesem, Lande nicht Menschen anvertrauen, die zu dieser unserer deutschen Republik keine positive Einstellung haben!
Es genügt nicht, neutral in Gänsefüßchen zu sein; so einer ist weder Fisch noch Fleisch. Ein Richter muß schon an die humanen, moralischen und politischen Werte glauben, die in unserem Grundgesetz einen gesetzgeberischen Ausdruck gefunden haben,
sonst gehört er nicht auf die Richterbank!
Leider Gottes findet man aber da und dort noch — oder wieder? — Richter, die ganz anders sind, als wir es wünschen müssen. Man findet bei sehr vielen von ihnen noch etwas, was ich die deutschnationalen Eierschalen nennen möchte, sehr vieles noch, was Residuum aus der Wilhelminischen Zeit ist, und man findet auch noch viel, was aus den Konventsreden auf den Stiftungsfesten stammt.
Ich glaube, daß das Problem des deutschen Richters im wesentlichen eine Erziehungsfrage ist. Ich fürchte, daß wir viel zuviele Richter haben. Wahrscheinlich ist ein Volk von 45 Millionen nicht imstande, in solcher Zahl Menschen zu produzieren, die alle Voraussetzungen erfüllen, die erfüllt sein müssen, wenn einer Recht sprechen soll.
In unserem Richterkorps wie auch an anderen Stellen unseres öffentlichen Lebens — es bildet da keine Ausnahme nach unten! — findet sich bei sehr viel gutem Willen und bei vieler ausgezeichneter fachlicher Tüchtigkeit leider noch viel Subalternität, und so glaube ich, daß das Problem des Richters im wesentlichen ein Bildungsproblem ist. Der deutsche Richter hatte in der Welt -- und mit Recht — einmal einen hohen Ruf. Ich denke nicht nur an den Richter, an den der Müller von Sanssouci appelliert hat. Ich denke auch an dieses großartige Parlament, das es einmal im Königreich Preußen gab und das man einst ein bißchen verächtlich das Kreisrichterparlament genannt hat. Dort saßen wirklich Männer, die wußten, was es heißt, Richter zu sein, Männer, die wußten, daß es in erster Linie heißt, Rückgrat zu zeigen -Rückgrat zu zeigen überall dort, wo einer versucht, es mit der Gewalt zu probieren, überall dort, wo man versucht, an die Stelle des Urteilens das Vorurteil, das Privileg oder die Stumpfheit des Pöbelsinns zu stellen.
Aber wie bei so manchem andern hat es auch dort ein Dekrescendo gegeben. An die Stelle des großen Geistes dieser Zeit ist der kleine Geist des Wilhelminismus getreten, und von ihm, von seinem Mangel an echtem Gefühl, an echter Humanität, an edler Bildung sind viele Richter unserer Zeit leider Gottes noch zu sehr bestimmt. Ich sage nicht: alle; ich sage auch nicht: die Mehrheit. Wer könnte hier mit Ziffern operieren?
Aber es gibt bei uns in Deutschland einen bestimmten Typus von Richtern, der durch den Wilhelminismus von vorgestern, gestern und heute leider Gottes sein Gepräge erhalten hat.
Und dann glaube ich, daß die Diskussion des Richterproblems letzten Endes — es kann heute hier nicht geschehen; ich weiß es — einmünden müßte in eine Diskussion des Problems des deutschen Erziehungswesens, dessen große Gegenwartsaufgabe doch ist, uns endlich, endlich von den Residuen des Wilhelminismus zu befreien.