Rede von
Dr.
Hans-Joachim
von
Merkatz
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(DP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung vom 20. September 1949 ausgeführt:
Durch die Denazifizierung ist viel Unglück und viel Unheil angerichtet worden. Die wirklich Schuldigen an den Verbrechen, die in der nationalsozialistischen Zeit und im Kriege begangen worden sind, sollen mit aller Strenge bestraft werden. Aber im übrigen dürfen wir nicht mehr zwei Klassen von Menschen in Deutschland unterscheiden,
die politisch Einwandfreien und die nicht Einwandfreien. Diese Unterscheidung muß baldigst verschwinden!
Diese Ausführungen im Regierungsprogramm gehören zu den wichtigsten Koalitionsvoraussetzungen, unter denen die Fraktion der Deutschen Partei damit einverstanden war,
daß zwei Fraktionskollegen die ihnen angebotenen Ministerien der Bundesregierung angenommen haben.
Bereits am 8. September 1949 hatte die Fraktion der Deutschen Partei im Bundestag einen Antrag eingebracht, in dem die Bundesregierung ersucht wurde, Gesetze zum sofortigen Abschluß der Entnazifizierung und zu einer Amnestie aller von den Folgen der bisherigen Entnazifizierung Betroffenen der Gruppen III und IV oder gleichgestellter Gruppen vorzulegen. Dieser Antrag lag in der Linie des politischen Wollens der Deutschen Partei, zu der sie sich bereits im Zonenbeirat und im niedersächsischen Landtag in den Jahren 1946 und 1947 bekannt hatte. Der Antrag hatte zum Ziel, die breite Masse aller Entnazifizierungsverfahren zum sofortigen Abschluß zu bringen und die Fortwirkung aller bei diesen Gruppen bereits erkannten Folgemaßnahmen zu beseitigen, um zunächst einmal in ihrer Breitenwirkung die politische Unterscheidung zweier Klassen von Staatsbürgern, wie das in der Regierungserklärung verlautbart war, zu beenden.
Dieser Antrag war als ein Vorläufer weiterer Maßnahmen gedacht, um auch die Frage der Behandlung der in den Gruppen I und II eingestuften Personen nach sorgfältiger Erwägung aller politischen und rechtlichen Momente einer Revision zu unterziehen. Unter den Gruppen III und IV waren die entsprechenden Kategorien des in der britischen Zone geltenden Entnazifizierungsrechts verstanden worden, die sich mit
den Kategorien des in den beiden anderen Zonen geltenden Rechts nicht deckten, denen aber doch andere Gruppen vergleichbar gegenübergestellt werden können und gegenübergestellt werden sollten.
Die Fraktion der Deutschen Partei hatte zur Beseitigung der verhängnisvollen Folgewirkungen in abgeschlossenen Entnazifizierungsverfahren sich des Begriffes einer politischen Amnestie bedient, und zwar aus rein gesetzestechnischen Gründen, ohne damit einzuräumen, daß diese Verfahren nach ihrer wohlbegründeten Rechtsüberzeugung als Recht begriffen oder akzeptiert werden konnten. Sie unterwarf sich mit dieser technischen Nomenklatur einem Faktum, das aus der Entscheidung der Sieger hervorgegangen ist, weil eine Aufhebung dieses Faktums mit rückwirkender Kraft nicht möglich und auch nicht wünschenswert erschien, zumal dann neues Unrecht, neue Ungerechtigkeit und neue Verwirrung gestiftet worden wären. Darum beschied sich die Fraktion der Deutschen Partei mit einer Wirkung ex nunc und verzichtete auf den vergeblichen Versuch einer Konstruktion der Aufhebung und Beseitigung ex tunt.
Der Rechtsausschuß hat bei Beratung dieses Antrages eine Entscheidung des Justizministeriums angesucht, da zweifelhaft wurde, ob der Bund in dieser Frage die Gesetzgebungskompetenz habe. Ebenso wie das Justizkollegium verneinte der Justizminister unter Billigung des Kabinetts aus rechtspolitischen und verfassungsrechtlichen Gründen die Bundeszuständigkeit. Der Herr Justizminister ließ sich bei seiner Stellungnahme nicht zuletzt von der Erwägung leiten, daß die Abschlußgesetzgebung in einigen Ländern bereits zu einer gewissen Reife gediehen war und daß das Justizkollegium zu Leitsätzen gekommen war, die die Aussicht auf eine Koordinierung dieser Abschlußgesetzgebung im Bundesgebiet bot, eine Entwicklung, die offenbar nicht gestört werden sollte durch die Inanspruchnahme einer Kompetenz des Bundes, deren Begründung dem Herrn Justizminister zweifelhaft erschien und die ob dieser Zweifel nach Ansicht des Herrn Justizministers einen Konflikt zwischen dem Bund und den Ländern hätte hervorrufen können. Zudem erschien dem Herrn Justizminister eine nicht nur zoneneinheitliche. sondern bundeseinheitliche Regelung der Abschlußgesetzgebung mit Rücksicht auf die Verschiedenheit der Systeme eine fast unlösbare Aufgabe mit der Gefahr neuer Ungleichheiten und neuer Ungerechtigkeiten. Der Gedanke der politischen Amnestie, wie sie von der DP zusätzlich gefordert worden war, um wirklich und effektiv die ungleiche Stellung zweier Staatsbürgerklassen zu beseitigen, wurde nicht weiterverfolgt.
Unterdessen waren von anderen Fraktionen dieses Hauses weitere Anträge eingereicht worden, die auf eine Beendigung der Entnazifizierung abzielten. Über sie wurde im Rechtsausschuß in der Sitzung vom 13. 12. vorigen Jahres beraten. Hierbei verneinte der Herr Abgeordnete Professor Brill im wesentlichen die Bundeszuständigkeit auf Grund einer sorgfältigen Zusammenstellung der positiven Rechtsbestimmungen und der geübten Praxis. während ich als Mitberichterstatter auf den Widerspruch zwischen dem nur aus dem Bezug zum Besatzungsrecht verständlichen Artikel 139 des Grundgesetzes und den Grundrechten hinwies, namentlich auf die
Grundnormen der Artikel 1 bis 3 sowie auf Artikel 23 des Grundgesetzes. Ferner vertrat ich die Ansicht, daß durch das auf das Besatzungsrecht begründete Entnazifizierungsrecht Grundnormen der Weimarer Verfassung, also Reichsrecht, abgeändert worden seien. Ich kam zu dem Ergebnis, daß das Entnazifizierungsrecht trotz seiner Aufsplitterung in die Zonensysteme und auf die Ländergesetzgebung nach Artikel 125 Absatz 2 Bundesrecht geworden sei. Für den Fall, daß man dieser Argumentation nicht folgen wolle, wies ich darauf hin, daß das Entnazifizierungsrecht im Querschnitt der drei Westzonen betrachtet zu drei Vierteln als materielles Strafrecht klassifiziert werden müsse. Hieraus würde sich gemäß Artikel 72 und 74 des Grundgesetzes mit Rücksicht auf das Bedürfnis einer einheitlichen Regelung die Pflicht zur Inanspruchnahme der Bundeskompetenz für die Abschlußgesetzgebung und zum Erlaß einer politischen Amnestie ergeben.
Im Ergebnis traten die Vertreter der Koalitionsparteien dieser Zielsetzung bei, zumal auch die von mir vertretene Ansicht Billigung fand, daß die vom Justizkollegium vorgeschlagene Abschlußregelung keine wirkliche Beendigung der Entnazifizierung darstelle.
Nunmehr hat die Fraktion der FDP die Initiative wieder aufgenommen, nachdem eine Initiative der Bundesregierung sowohl hinsichtlich der Bundesgesetzgebung als auch mit dem Ziel der Koordinierung der Länderabschlußgesetzgebung nicht entfaltet wurde. Die Fraktion der Deutschen Partei begrüßt diesen Schritt der ihr befreundeten Fraktion der FDP,
o wenngleich sie mit den technischen Einzelheiten der Gesetzesvorlage nicht in allen Stücken konform gehen kann. Doch ist das unwesentlich mit Rücksicht auf die grundlegende Tatsache. daß durch den Antrag der FDP die Diskussion dieser Frage aus dem Bereich allgemeiner deklamatorischer Erwägungen herausgenommen wird. Wir kommen somit endlich zur Tat.
Die Ausführungen des Herrn Abgeordneten Gerstenmaier können meine Fraktion nicht vollinhaltlich befriedigen.
Wir begrüßen an diesen Ausführungen den gemeinsamen Willen, hier endlich zu einem Abschluß zu kommen. Es gibt aber Dinge. bei denen man weder rechts noch links zu sehen hat, bei denen man einfach geradeaus zu marschieren hat und weiter gar nichts.
Wir haben diesen Rechtsgedanken verfolgt ohne
Rücksicht auf den Beifall oder das Mißfallen des
Aus- oder Inlands. Hier handelt es sich um
grundsätzliche Fragen des Rechts, die wir in aller
Ruhe zum Abschluß bringen wollen. Es kommt
uns nicht darauf an, Lippenbekenntnisse zu
machen. Wir legen den allergrößten Wert darauf, daß der Gedanke der gleichen Chance und
der Aufhebung der verschiedenen Klassen der
Staatsbürger auch effektiv gemacht wird, und
zwar ausnahmslos, und daß man dann nur diejenigen faßt, die Verfehlungen begangen haben.
Die Fraktion der Deutschen Partei hat, um die Frage weiter zu fördern, auch eine Gesetzesvorlage ausgearbeitet, die ich hiermit dem Herrn
Präsidenten übergeben darf und die am besten zusammen mit der Vorlage der FDP der Beratung unterzogen werden kann. Es handelt sich dabei — ich möchte darauf hinweisen — nicht um grundsätzliche Unterschiede zu dem Gesetz der FDP, sondern lediglich um juristische Verfeinerungen, die den uns gemeinsamen Gedanken verwirklichen, insbesondere die große Verschiedenheit des in der britischen Zone und des in der amerikanischen Zone geltenden Rechts auf einen Generalnenner zu bringen.
Bei aller Wertschätzung des Herrn Justizministers und der hervorragenden juristischen Facharbeit des von ihm geleiteten Ministeriums,
bin ich zu meinem Bedauern einmütig mit dem Willen meiner Fraktion nicht in der Lage, seinen gewiß wohldurchdachten rechtspolitischen Überlegungen zu folgen, daß man in dieser unser ganzes Volk tief bewegenden Frage auf dem Wege des Justizkollegiums fortfahren sollte. Sie führen zwar zu einer allmählichen Beendigung der Entnazifizierung; sie löschen aber nicht dieses moderne Hexentreiben endgültig aus. Sie wälzen nicht den Stein auf das Grab einer gefährlichen Abschweifung der westlichen Zivilisation in die Gefilde totalitärer Praxis.
Sie löschen nicht endgültig diese Mißgeburt aus totalitärem Denken und klassenkämpferischer Zielsetzung aus, als die sich die Entnazifizierung entpuppt hat. Sie schlagen nicht die heimtückische Waffe der Entnazifizierung endgültig aus der Hand derer, die bisher im Konkurrenzkampf der politischen Willensbildung der Parteigegensätze sich ihrer zu bedienen wußten.
Gehen wir den Weg des Justizkollegiums weiter, dann wird das Gespenst der Entnazifizierung immer wieder aus dem Grabe aufstehen und umgehen,
aus einem Grab. das ihr die öffentliche Meinung des deutschen Volkes bereitet hat.
Die fachlichen Überlegungen des Justizkollegiums und mit ihm auch des Justizministeriums des Bundes leiden an dem grundsätzlichen Fehler, daß sie eine Beendigung der Entnazifizierung aus der Fortentwicklung dieser in der Ländergesetzgebung kultivierten Wucherung einer Rechtsentartung erzielen wollen. Dieser Fremdkörner in unserem Recht, diese Beleidigung unseres Rechtsgewissens,
diese auf bürokratischem Wege geplante kalte Rache und soziale Revolution muß als totalitäre Verirrung erkannt und. nachdem einmal die reine Siegermaßnahme, nämlich die Säuberung vollzogen ist und nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, in ihrer rechtlichen Verbrämung endgültig und entschieden aus unserem Rechtssystem herausgetrennt werden.