Rede von
Hans
Jahn
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In zwei Tagungen hat sich das Hohe Haus mit dem Problem Nr. 1, mit dem Arbeitslosenproblem theoretisch beschäftigt. Wir wollen jetzt aus der Theorie in die Praxis übergehen; denn das ist der Sinn des Antrags meiner Fraktion. Ich mache darauf aufmerksam, daß wir mit Drucksache Nr. 116, die am, 21. Oktober des vergangenen Jahres im Hohen Haus zur Beratung stand, den Anfang gemacht haben, darauf hinzuweisen, daß Entlassungen im größten Betrieb der westdeutschen Republik, in der Bundesbahn, vermieden werden müssen und daß das Arbeitslosenproblem einer dringenden Lösung bedarf. Damals wurde vom Balkon die Forderung erhoben, und die Regierung zog sich ins Schlafzimmer zurück. Heute ist die Situation sehr brennend geworden. Wir haben uns deshalb, um einen Anfang praktischer Art zu machen, mit der Lokomotiv- und Waggonbauindustrie ins Benehmen gesetzt, um mit ihr ein Arbeitsbeschaffungsprogramm aufzustellen.
Es sei vorausgeschickt, daß die Reparaturarbeiten bis zur Überrollung 1945 in den Reparaturwerkstätten der Bundesbahn selber ausgeführt wurden und daß die Lokomotiv- und Waggonfabrikation sich ausschließlich der Neufertigung unterzog. Nach der Überrollung im Jahre 1945 haben die Eisenbahner — und das ist ein Ruhmesblatt der bei der Bundesbahn beschäftigten Arbeiter und Beamten — sofort begonnen, das zerrissene Verkehrsnetz der Eisenbahn wieder herzustellen, ohne dabei nach Lohn und geregelter Arbeitszeit zu fragen. Um das Ver-
kehrsnetz möglichst schnell wieder instand zu setzen, wurden sowohl auf Befehl der Militärregierungen als auch auf Anordnung deutscher Stellen die Lokomotiv- und Waggonfabriken eingesetzt, um hier Mithilfe zu leisten. Nun ist der Zeitpunkt gekommen, wieder eine Trennung im Aufgabengebiet sowohl der Reparaturwerkstätten der Bundesbahn als auch der Fabriken der Lokomotiv- und Waggonindustrie durchzuführen. Die Lokomotiv- und Waggonindustrie ist ein unbedingt notwendiger Bestandteil der deutschen Wirtschaft. Sie war in Friedenszeiten mit etwa 50 bis 60 Millionen Mark pro Jahr exportintensiv. Wir wünschen, daß die Lokomotiv- und Waggonindustrie wieder ihrer ureigenen Aufgabe zurück- und zugeführt wird, nämlich daß sie wieder den Anschluß an den Weltmarkt findet. Dazu bedarf sie einer Überbrückungszeit. Wir wünschen und erwarten, daß das Hohe Haus durch Zustimmung zu unserem Antrag Drucksache Nr. 486 die Hand dazu bietet, daß dieser Anschluß an den Weltmarkt für die Lokomotiv- und Waggonindustrie gefunden wird.
Ich habe mich mit der Lokomotiv- und Waggonindustrie, das heißt mit ihren Organisationen zusammengesetzt. Wir haben gemeinsam ein Programm aufgestellt, das einem Wert von 220 Millionen D-Mark entspricht. Es soll ein jährliches Mindestprogramm aufgestellt werden: 250 Lokomotiven, 50 Dieseltriebwagen, 500 Personenwagen und 12 000 Güterwagen. Auch nach Auffassung der Hauptverwaltung der Bundesbahn kann mit einem solchen Programm den Anforderungen für die Wiederherstellung des Fahrzeugparks, der durch Kriegseinwirkungen erheblich gelitten hat, Rechnung getragen werden. Nach Meinung der Lokomotiv- und Waggonbauindustrie ist es ihr möglich, mit diesen Neubauaufträgen den Anschluß an den Weltmarkt zu finden. Herr Dr. Hinz von der Lokomotivindustrie hat mich ermächtigt, zu sagen, daß es durch diese Initiative möglich ist, der Lokomotivindustrie im besonderen und auch der Waggonindustrie den Anlauf und die Überbrückung zu geben, die für sie erforderlich sind, um als devisenbringende Industrie für die deutsche Wirtschaft wieder in Funktion treten zu können.
Wir haben davon gesprochen, daß mit dem bei der Bundesbahn vorherrschenden Durcheinander in der Auftragsvergebung bezüglich ihres Betriebsmittelparks Schluß gemacht werden soll. Das ist nicht so sehr auf die Leitung der Bundesbahn gemünzt, als vielmehr darauf, daß die Länderregierungen in der Vergangenheit, wie ich es auszudrücken beliebt habe, Stotteraufträge oder Stotterkredite an die Bundesbahn gegeben haben, um damit nur stoßweise die Lokomotiv-
und Waggonbauindustrie am Leben zu erhalten und, was wichtig ist, dafür zu sorgen, daß der eingearbeitete Arbeiterstand nicht ins Arbeitslosenheer gestoßen wurde. Wir wollen mit diesen Stotterkrediten und mit diesen Stotteraufträgen Schluß machen, damit sowohl die Industrie wie auch die dort beschäftigten Qualitätsarbeiter zur Ruhe kommen. Wenn über den Häuptern dieser Menschen dauernd das Damoklesschwert der Entlassung schwebt, dann können Sie keine qualifizierte Arbeit von ihnen verlangen. Wir ersuchen deshalb das Hohe Haus, diesem Antrag die Zustimmung nicht zu versagen.
Aber gestatten Sie mir, als Interpret der 500 000 Eisenbahner einige Worte für diese braven Leute zu sagen. Auch hier droht seit Jahr und Tag das Arbeitslosenelend. Der Personalkörper der Bundesbahn ist nach dem Währungsschnitt durch sehr starke Entlassungen auf einen Stand zurückgeführt, den wir jetzt zu halten versuchen. Es gehört sehr viel Verantwortungsfreudigkeit dazu, sich mit einem Appell an die Solidarität und an die Opferwilligkeit des Personals zu wenden und danach zu Vereinbarungen mit der Bundesbahn über die 45-Stunden-Woche zu gelangen. Damit haben die Eisenbahner selbst, indem sie auf 6 Prozent ihres Lohnes verzichteten, Arbeitsplätze für 20 000 Menschen erhalten.
Sie haben nicht gewartet, bis die Regierung hilft, sie haben sich selbst geholfen!
Man sollte das anerkennen, indem man auch hier dem von mir ausgesprochenen Wunsche Rechnung trägt und die Betriebsrechnung der Bundesbahn, die doch unter täglichen Defiziten leidet, dadurch in Ordnung bringt, daß man die Bundesbahn von den sogenannten politischen Lasten befreit. Noch muß die Bundesbahn 174,5 Millionen an die Bundeskörperschaften abführen.
Dieser Betrag ist im letzten halben Jahr nicht mehr abgeführt worden, weil die Bundesbahn dazu nicht in der Lage war. Außerdem bringt die Bundesbahn noch 70,2 Millionen auf an Pensionen für aus dem Osten vertriebene Beamte; ihre Leistungen für Kriegsopfer machen 53,4 Millionen Mark pro Jahr aus, und die Tarifermäßigungen aus sozialen Gründen belaufen sich auf einen Betrag in Höhe von 60 Millionen pro Jahr. Das sind zusammen 358,1 Millionen in der Betriebsrechnung der Bundesbahn, die als sogenannte politische Lasten abgeführt werden müssen. Ich glaube, es ist nicht nur recht und billig, sondern es ist notwendig, die Bundesbahn von diesen politischen Lasten zu befreien durch Übernahme dieser Posten auf den allgemeinen Haushalt; denn nicht die Eisenbahner allein haben den Krieg verloren, sondern das deutsche Volk in seiner Gesamtheit.
Aus dieser Gesamtsituation entspringt die Bitte an das Hohe Haus, zunächst einmal die 220 Millionen zu bewilligen, damit die Lokomotiv- und Waggonbauindustrie den Anschluß an den Weltmarkt findet. Ich habe hier Telegramme und Schreiben aus beiden Industrien, in denen dringend darum ersucht wird, Sorge zu tragen, daß keine Entlassungsmaßnahmen in diesen Industrien durchgeführt werden. Ich glaube, daß der Bundestag nach den theoretischen Erwägungen in diesem Hause auch bereit . ist, hier praktisch zu helfen, damit keine Entlassungsmaßnahmen durchgeführt zu werden brauchen. Auch Herr Professor Erhard sagte ausdrücklich: Es kommt nicht so sehr darauf an, neue Arbeitsplätze zu schaffen, als vielmehr darauf, die vorhandenen rationell auszunutzen. Deshalb wäre es falsch, Arbeitsplätze freizumachen auch dort, wo die Möglichkeit besteht, sie zu erhalten.
Dasselbe gilt auch für die Beschäftigten bei der Bundesbahn. Auch hier sollte, wie es der Antrag wünscht, zum Ausdruck gebracht werden, daß Entlassungen nicht mehr durchgeführt werden dürfen. Durch die von mir vorhin mitgeteilte Vereinbarung über die 45-Stunden-Woche ist vertraglich festgelegt, daß Entlassungsmaßnahmen bis zum 31. Dezember 1950 nicht mehr erfolgen dürfen. Aber wir sind vorsichtig. Wir
wünschen, auch der Bundestag soll zum Ausdruck bringen, daß ein für allemal das Arbeitslosenproblem in konstruktiver Weise geregelt wird dadurch, daß Arbeitsplätze, die besetzt sind, nicht mehr freigemacht werden und das Arbeitslosenheer dadurch vergrößert wird.
Diesem Ziele dient der Antrag Drucksache Nr. 486. Da die Zeit drängt, ersuchen wir den Bundestag, diesem Antrag zuzustimmen, damit das deutsche Volk sieht, daß es dem Bundestag mit der Lösung des Problems Nr. 1 ernst ist.