Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion der SPD wird von der Bundesregierung nicht verlangen, daß sie Sozialpolitik im luftleeren Raum betreibt, aber sie muß darauf bestehen, daß in der Frage der Versorgung der Kriegsopfer bis an die äußerste Grenze der Leistungsfähigkeit des Staates gegangen wird, um die auch von den Regierungparteien anerkannte Not dieses Personenkreises zu lindern. Es ist mir unverständlich, weshalb die finanzielle Seite des Versorgungsproblems ein Übergewicht gegenüber den sozialen und allgemeinpolitischen Gesichtspunkten bekommen soll. Es kommt jetzt entscheidend darauf an, daß man den Willen zur Hilfe nicht in Worten proklamiert, sondern in Taten umsetzt. Kein sachlich denkender Mensch wird bestreiten können. daß bei allen Staatsaufgaben, die mit hohen finanziellen Aufwendungen verbunden sind, in der Regel der zu erwartende Nutzen ausschlaggebender ist als soziale Empfindungen, die einem warmen Gefühl entspringen. Aber bei der zur Erörterung stehenden Frage geht es nicht allein um den sozialen Effekt, sondern um die Befriedigung moralischer Ansprüche, an denen das deutsche Volk nicht vorbeikommen kann. und es geht um die Verwirklichung von elementaren Grundsätzen, die im Grundgesetz ihre Verankerung gefunden haben. Dabei weiß die SPD-Fraktion genau, daß nicht alles erfüllt werden kann, was Herz und Gemüt erwarten, weil die finanziellen Möglichkeiten des Staates heute noch stark begrenzt sind. Trotzdem vermißt sie bei der Regierungsvorlage den richtigen Maßstab, der allein erst auch ein an sich be-
grenztes Gesetz zur sozialen Tat macht, die der Opfer der Kriegsbeschädigten und Hinterbliebenen würdig ist.
Als Ganzes betrachtet ist die Vorlage nach den vorgeschlagenen geringfügigen Änderungen des Ausschusses für Kriegsopfer- und Kriegsgefangenenfragen ein Fragment, eine seltsame Mischung zwischen dem Versuch geblieben, die als unzureichend anerkannten Renten durch Zuschläge zu erhöhen, die mehr Oder weniger nach fürsorgerischen Gesichtspunkten gewährt werden sollen, und einer Rechtsangleichung, die einen Teil der Unterschiedlichkeiten behebt und einen andern Teil bestehen läßt. Eine einheitliche Konzeption ist darin beim besten Willen nicht zu erblicken, weder eine solche vom sozialen Standpunkt noch eine solche vom Standpunkt der Rechtsangleichung her abgeleitete.
Es wären als rechtsangleichende Maßnahmen im Sinne der von meiner Fraktion gestellten Anträge notwendig: Erstens .die Erweiterung des Kreises der anspruchsberechtigten Witwen, wie es bereits der § 2 der Vorlage vorsieht. Dazu käme zweitens in denselben Ländern die Erweiterung des Kreises der versorgungsberechtigten Verwandten der aufsteigenden Linie. Man kann nicht bei den Witwen haltmachen und die Not der Eltern übersehen. Es ist ein selbstverständliches Gebot und es ist Pflicht des Staates, insbesondere den betagten Kriegereltern, die oft den einzigen Sohn, die Stütze ihres Alters, zum Teil mehrere Söhne zugleich verloren haben und heute auf Unterstützungen durch das Wohlfahrtsamt angewiesen sind, einen Rechtsanspruch einzuräumen und ihnen eine — wenn auch unter den heutigen finanziellen Umständen freilich bescheidene - Versorgungsrente zuzuerkennen.
In dem Kapitel der Rechtsangleichung wäre schließlich noch der Paragraph zu fordern, der die Waisenrenten und Kinderzuschläge einheitlich gestaltet. Das ist im Zusammenhang mit der Rentenberechtigung der Hinterbliebenen besonders wichtig. Hier besteht ebenfalls ein dringendes Bedürfnis, das stark voneinander abweichende Recht zwischen Süd- und Norddeutschland anzugleichen und die Voraussetzungen für die Gewährung von Waisenrenten und Kinderzulagen in den noch ausstehenden Ländern zu schaffen. Das dürfte auch mit dem Wesen des Artikel 3 Absatz 1 .des Grundgesetzes übereinstimmen, wenn man sich vielleicht heute auch aus formalen Gründen noch eben daran vorbeizudrücken vermag. Endlich müßte die Einführung des Härteausgleichs im Sinne des § 3 der Vorlage einheitlich für das ganze Bundesgebiet gesichert sein. Diese Paragraphen in ihrer Gesamtheit würden den versorgungsberechtigten Personenkreis rechtseinheitlich abgrenzen und damit, wie schon einmal ausgeführt, dem Sinne des Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes entsprechen.
Über diese Maßnahmen hinaus, die vom Standpunkt der Rechtseinheitlichkeit aus dringend notwendig sind, wären folgende soziale Maßnahmen zu fordern, die ebenfalls ihren Niederschlag in den Anträgen meiner Fraktion gefunden haben. Erstens die Gewährung eines Teuerungszuschlages. Die Frage eines Teuerungszuschlages ist nicht neu. Die Körperbeschädigten-Leistungsgesetze sind 1947 in Kraft getreten. Seit dieser Zeit haben sich Lohn- und Preisgefüge erheblich verändert. Es ist also allerseits anerkannt worden, daß die
Berechnungsgrundlage der Kriegsopferrenten an das veränderte Lohn- und Preisgefüge angepaßt werden muß. Wenn meine Fraktion davon Abstand genommen hat, die Erhöhung des der Rentenberechnung zugrunde liegenden Jahresarbeitsverdienstes zu verlangen, so aus ,der Erwägung, daß das im Augenblick eine zu hohe finanzielle Belastung sein könnte. Die Orientierung nach dem Grundsatz, daß Politik die Kunst des Möglichen ist, hat meine Fraktion daher angeregt, zu beantragen, daß die Gewährung der Teuerungszuschläge an alle rentenberechtigten Beschädigten und Hinterbliebenen erfolgt, deren Rente nicht wegen des Bezugs von sonstigem Einkommen einer Kürzung unterworfen ist. Jede weitere Einschränkung dieser Bestimmung wird von meiner Fraktion aus grundsätzlichen Erwägungen abgelehnt. Es würde dadurch nicht nur neues Recht, sondern neues Unrecht geschaffen. Und da Unrecht in der Regel von den Menschen stärker empfunden wird als Recht und da dieses Unrecht einen größeren Personenkreis treffen würde, ist schon aus allgemeinpolitischen Gesichtspunkten eine derartige Einschränkung des Personenkreises nicht zu vertreten. Aber ganz abgesehen davon würden weitere unerfreuliche Nebenwirkungen auftreten, nämlich a) die Aufsplitterung des rentenberechtigten Personenkreises, der seither eine ungekürzte Rente bezog, in solche Rentenberechtigten, die den Zuschlag bekommen, und solche, die ihn nicht bekommen. Die ganze Art der Verquickung des Arbeitseinkommens mit der Rente, wie sie dem geltenden Recht entspricht, wird von meiner Fraktion grundsätzlich verurteilt. Sie zersetzt die Arbeitsmoral, weil sie den Fleißigen bestraft und den Faulen belohnt. Ein Wechselverhältnis zwischen Arbeitseinkommen und Rente ist in Notzeiten im Versorgungssystem eine verständliche Maßnahme, die nicht umgangen werden kann. Aber die Lösung, wie sie im geltenden Recht ihren Niederschlag gefunden hat, ist unglücklich, und wir verurteilen dieses System. Durch Annahme des Vorschlages des Ausschusses, Kürzungsvorschriften neu einzuführen, würde zusätlich ein erheblicher Verwaltungsaufwand entstehen, da in jedem Einzelfalle nachgeprüft werden müßte, wie hoch das sonstige Einkommen ist. Die Durchführung der noch ausstehenden zahllosen Verfahren würde dadurch weiter verzögert. Das kann vom Gesetzgeber nicht gewollt sein. Außerdem entsteht ein unverhältnismäßig hoher Verwaltungsaufwand, der in umgekehrter Relation zu den gewährten Rentenverbesserungen steht. Meine Fraktion hat deshalb beantragt, daß bei der Gewährung der Teuerungszuschläge auf Einschränkungen im Hinblick auf die von mir geschilderte Sachlage grundsätzlich verzichtet wird.
Meine Fraktion hat ferner die Beseitigung der Anwendung der §§ 559 und 595 der Reichsversicherungsordnung für die Rentenberechtigung der Kriegsbeschädigten und Hinterbliebenen beantragt. Diese Einschränkungen, die im Recht der Reichsversicherungsordnung mit ihrem versicherungsrechtlichen Charakter und ihren anderen Voraussetzungen einen Sinn haben, sind im Versorgungsgesetz der Kriegsopfer sinnwidrig und können ebenfalls nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprechen. Die Waisen eines Gefallenen, die Eltern, soweit sie einen Versorgungsanspruch haben, besitzen diesen selbständig und ohne Verbindung zu einer fiktiven Summe, die beim gel-
tenden Recht als Jahresarbeitsverdienst zugrunde liegt. Der Bundesarbeitsminister hat den Standpunkt vertreten, daß es nicht zu verantworten wäre, wenn die Hinterbliebenen mit ihren Waisen mehr Rentenbezüge erhalten als etwa ein Erwerbstätiger in der untersten Einkommenstufe. Uns erscheint eine solche Auffassung abwegig. Wenn ein Erwerbstätiger mit einem Monatsverdienst von 120 DM glaubt, eine sechsköpfige Familie ernähren zu können, so fällt das in den Bereich seiner eigenen Verantwortlichkeit. Der Gesetzgeber kann hieraus nicht das Recht ableiten, daß Familien, die vor Jahren gegründet worden sind und bei denen die Versorgung der Kinder durch das Einkommen des Ernährers jederzeit sichergestellt war, nun auf diesen Stand herabgedrückt werden. Das Versorgungsrecht der Kriegsopfer - kann billigerweise nicht nach der schmalsten Lohntüte bemessen werden; denn es handelt sich nun einmal um einen Personenkreis, der allen Schichten unserer deutschen Bevölkerung zugehörig ist.
Die sinnlose Anwendung des § 595 der Reichsversicherungsordnung hat in nächweisbaren Fällen zu schweren gesundheitlichen Schädigungen von Kriegerwaisen geführt. Es wäre besser, wenn der Gesetzgeber dem bewährten Grundsatz folgen würde, daß hier Vorbeugen besser ist als Heilen. Darüber hinaus müssen diese Mittel in einer großen Zahl von Fällen ohnehin aus der öffentlichen Fürsorge aufgebracht werden.
Ein Standpunkt, daß hier Divergenzen zwischen dem Arbeitseinkommen der Erwerbstätigen auf der einen Seite und dem Rentenbezug der Beschädigten und Hinterbliebenen auf der anderen Seite entstehen, wird bei der Reform des gesamten Rechts auf Bundesbasis zweifelsohne Beachtung finden müssen. Es muß aber in diesem Gesetz zunächst auf den altbewährten Rechtsgrundsatz zurückgegriffen werden, der da besagt: in dubio pro reo!
Die Einführung der Krankenversicherung für Hinterbliebene ist eine Forderung, die auf einen Antrag der Regierungsparteien zurückgeht, eine Forderung, die der Bundesrat bereits behandelt und zum Gegenstand eines Entschließungsantrages gemacht hat. Uns will es abwegig erscheinen, den Entschließungsantrag des Bundesrates etwa so auszulegen, als wäre er im Hinblick auf die bundeseinheitliche Regelung der Kriegsopferversorgung gefaßt worden. Die Debatte über die finanziellen Auswirkungen einer solchen Maßnahme im Bundesrat läßt deutlich erkennen, daß sich die Ländervertreter mit dieser Frage vom Gesichtspunkt der Finanzierung durch die Länder aus befaßt haben. Daraus sollte eigentlich ersichtlich sein, daß es sich um die Hereinnahme eines entsprechenden Paragraphen in das Überbrückungsgesetz handelt. Es ist ein ungewöhnlicher Vorgang, der beinahe als provozierend empfunden werden muß, daß es die Bundesregierung trotz einer Anfrage in der 29. Sitzung des Bundestags am 20. 1. 1950 nicht für notwendig gehalten hat, dem Bundestag Aufschluß über die Vorgänge im Bundesrat zu geben.
Der Standpunkt des Herrn Bundesarbeitsministers, daß er von einem solchen Entschließungsantrag offiziell keine Kenntnis habe, läßt berechtigten Zweifel an der Loyalität der Bundesregierung gegenüber dem Parlament aufkommen.
Oder glaubt der Herr Bundesarbeitsminister, daß sich an dem Tatbestand etwas ändert, wenn er von sich, aus mit einem entsprechenden Auskunftersuchen an den Bundesrat herantritt?
Die Einführung der Krankenversicherung für Hinterbliebene würde einen Betrag erfordern, der im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten durchaus verantwortet werden könnte und einem dringenden sozialen Notstand abhelfen würde. Dasselbe gilt für die Krankenversicherung der erwerbsunfähigen Beschädigten, soweit diese ihren Lebensunterhalt aus ihrer Versorgungsrente bestreiten. Auch hier besteht ein zwingendes soziales Bedürfnis, und der hierfür erforderliche Aufwand ist im Rahmen der gesamten Versorgung ebenfalls belanglos.
In der Zusammenfassung habe ich im Auftrag meiner Fraktion festzustellen, daß die von der Bundesregierung vorgesehenen 80 Millionen D-Mark eine Verbindung der rechtsangleichenden Maßnahmen mit den vordringlichen sozialen Maßnahmen nicht erlauben. Die SPD-Fraktion beantragt daher sämtliche Maßnahmen, sowohl die rechtsangleichenden wie auch die sozialen; denn sie ist der Auffassung, daß der hierfür notwendige Gesamtaufwand bei größter Sparsamkeit in der Verwendung öffentlicher Mittel und bei gerechter Belastung des Steuerzahlers durchaus aufgebracht werden kann.