Rede von
Margot
Kalinke
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(DP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Herren und Damen! Wenn die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung neben der Selbstverwaltung in der Gemeinde die Hohe
Schule der Demokratie darstellt, so ist es für uns alle, die wir seit 1945 um wirklich souveräne Formen der Demokratie ringen, unerträglich — und das ist hier schon mehrfach ausgesprochen worden —, daß diese demokratische Selbstverständlichkeit in der Selbstverwaltung der sozialen Versicherung in allen ihren Formen nicht schon verwirklicht werden konnte. Seit Beendigung des Krieges ist und das ist hier auch schon historisch dargestellt worden — von allen Trägern des öffentlichen Lebens, den politischen Parteien wie den Gewerkschaften, die Wiederherstellung der Selbstverwaltung gefordert worden. Wir haben es bedauert, daß die so vielfachen Bemühungen des Wirtschaftsrates an der Militärgesetzgebung bzw. am Veto der Militärregierung gescheitert sind, und wir können heute zurückblickend nur mit Bedauern feststellen, daß überall da, wo schon Gesetze der Selbstverwaltung erlassen worden sind, in der französischen Zone und in Bayern, diese fortschrittlichen Gesetze nicht nur eine Zersplitterung der Gesetzgebung, sondern auch eine Rechtszersplitterung der Selbstverwaltung gebracht haben, die nun schnellstens beseitigt werden soll.
Insofern begrüßt meine Fraktion die Vorlage der Bundesregierung, die sich weitgehend auf den Entwurf des Wirtschaftsrates stützt und die Wiederherstellung des Rechtszustandes in der Form, wie er vor 1933 bestanden hat, erstrebt.
Wir sehen in einer echten Selbstverwaltung das Fundament des staatlichen Aufbaus überhaupt. Das Haus unseres neuen Staates wird nur dann ein tragfähiges Gebäude sein, wenn 0 dieses Fundament fest und gesund ist. Jede Freiheit trägt verantwortliche Verpflichtungen in sich, und die Verwirklichung einer echten sozialen Versicherung aus dem guten Geist genossenschaftlicher Selbsthilfe erfordert eine tatsächliche verantwortliche geistige Mitarbeit und Gestaltung. Auf dem Wege der Mitarbeit und Mitverantwortung wachsen Männer und Frauen, Arbeiter und Angestellte, Arbeitgeber und Arbeitnehmer in jenes echte Bewußtsein des Mitverantwortlichseins hinein, das der letzte und tiefste Sinn der Demokratie überhaupt ist.
So erzieht die Selbstverwaltung die Staatsidee
tragende Bürger und formt eine echte verantwortliche und staatserhaltende Gesinnung, die
immer da einen Wall aufrichten wird, wo Zwang
und Diktatur jemals drohen könnten. In diesen
Wall, in dieses Fundament des Hauses der deutschen Sozialversicherung dürfen an keiner Stelle
Breschen geschlagen werden. Gerade unsere Arbeit in diesem Hause zeigt, wie nötig wir schöpferische Menschen brauchen. Wir brauchen sie in
allen Schichten und Ständen unseres Volkes. und
Herr Kollege Wellhausen hat eben gerade darauf
hingewiesen, wie notwendig es ist, diese Menschen zu finden. daß es leider aber auch eine
reale Weisheit ist. daß Gott nicht jedem, dem er
ein Amt gibt, auch den Verstand gegeben hat.
Wenn es uns nun in der Selbstverwaltung gelingt, ausgehend von dem Grundsatz, den der Herr Bundesminister für Arbeit in seiner Begründung vorgetragen hat — dem Grundsatz nämlich der gleichberechtigten Zusammenarbeit der Arbeitgeber und Arbeitnehmer als den Trägern der gesamten Wirtschaft —, die schöpferische Initiative zu fördern und die Verantwortung zu stärken, dann ist die höchste Aufgabe der Selbstverwaltung erfüllt. Ich selbst habe in dieser Selbstverwaltung der sozialen Krankenversicherung vor 1933 in einem echten und unmittelbaren Kontakt mit den Versicherten meine ersten entscheidenden sozialpolitischen Anregungen empfangen. Ich möchte jene Erfahrung aus der Lebensnähe niemals entbehren. Ich ,weiß aus dieser Erfahrung, daß der Geist echter demokratischer Verantwortung auch jedem Bürokratismus am besten entgegenwirkt und Menschen formt, bei denen der Geist mehr gilt als der Buchstabe des Gesetzes, Menschen formt, bei denen eben der Geist den Buchstaben oder den Paragraphen der Reichsversicherungsordnung erst Inhalt gibt.
Wir wollen beim Aufbau unserer Selbstverwaltung auch dafür Sorge tragen, daß wir die Jugend für echte demokratische Lebensformen gewinnen und begeistern.
Wir wünschen, daß bei der Besprechung der Frage des Vorschlagsrechts im Ausschuß dafür Sorge getragen wird, daß nicht nur gewerkschaftliche Spitzenorganisationen, sondern daneben auch alle im Aufbau befindlichen Berufsverbände, die Organisationen der Arbeitgeber wie der Arbeitnehmer, herangezogen werden und daß darüber hinaus vor allen Dingen auch jene jungen Menschen. die jungen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, die noch keiner Organisation angehören und ihr noch fernestehen, für die echten staatsbürgerlichen Tugenden der Selbstverwaltung gewonnen werden.
Meine Fraktion ist der Auffassung, daß wir überall dort auf die Wiederherstellung des Zustandes vor 1933 Wert legen sollten. wo die damals gemachten Erfahrungen ausreichend erscheinen. Sie meint aber. daß in der Beratung des Ausschusses darüber hinaus neue Wege gesucht werden sollten, um mit offenem Blick für die zukünftigen Notwendigkeiten die Grenzen der Verantwortung abzuwägen. Arbeitgeber und Arbeitnehmer sollen gemeinsam bedenken, was not tut. und sollen gemeinsam diese neuen Wege suchen.
Einig bin ich auch mit dem, was der Herr Minister über die Verteilung der Verantwortung sagte, daß nämlich für die Verteilung der Verantwortung niemals etwa nur die materielle Beteiligung der Arbeitgeber durch Beitragsleistung allein entscheidend sein darf.
Wir sind vielmehr der Auffassung, daß die wirklich übergeordneten Gesichtspunkte, die ja auch Sie sehen wollen,
— ja, mit der wahren demokratischen Auffassung, die die übergeordneten Gesichtspunkte und nicht nur das Interesse des einzelnen oder einer Gruppe sieht—, daß diese übergeordneten Gesichtspunkte eben bei der Vorbereitung
und Schaffung einer neuen Sozialordnung,. die Sie doch auch anstreben, maßgebend sein sollen.