Rede von
Anton
Storch
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Wiederherstellung der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung ist seit Beendigung des Krieges in der gesamten Wirtschaft von den Beteiligten wiederholt eindringlich gefordert worden. Mit vollem Recht; denn das Führerprinzip eines autoritären Staates, das nach 1933 die Selbstverwaltung verdrängt hat, widersprach dem Wesen der deutschen Sozialversicherung. Ihre Schöpfer waren der Überzeugung, daß die soziale Sicherung der werktätigen Bevölkerung nur in der Form einer Selbsthilfe wirksam durchgeführt werden kann. Die Beteiligten sollten sie als eigene Angelegenheit mitgestalten und mitverwalten Deshalb gaben sie den Trägern der Sozialversicherung Organe der Selbsverwaltung, deren Mitglieder nach demokratischen Grundsätzen zu wählen waren.
Nach dem Zusammenbruch stand zunächst der Rückkehr zu dem ursprünglichen Rechtszustand die Absicht des Kontrollrats im Wege, die deutsche Sozialversicherung neu zu regeln. Erst als zweifelsfrei feststand, daß die soziale Gesetzgebung wieder ausschließlich eine deutsche Angelegenheit war, konnte die Wiederherstellung der Selbstverwaltung der Sozialversicherung in Angriff genommen werden. Sehr bald haben dann auch die Länder der französischen Zone und das Land Bayern entsprechende Gesetze erlassen, die aber manche Unterschiede aufwiesen.
Die Sozialversicherung ist immer reichseinheitlich gewesen, und sie verträgt ihrer Natur nach keine Rechtszersplitterung. Aus diesem Grunde hat sich der Wirtschaftsrat bereits mit der Angelegenheit befaßt und am 25. Mai vorigen Jahres ein Gesetz zur Wiederherstellung der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung beschlossen. Es ist nicht in Kraft getreten, weil die Besatzungsmächte ihm die erforderliche Zustimmung versagt haben. Sie wollten diese Frage einem Gesetz des Bundestags vorbehalten. Dieses Gesetz ist inzwischen äußerst vordringlich geworden. Die werktätige Bevölkerung kann es nicht verstehen, daß viele Sozialversicherungsträger heute, fünf Jahre nach Einstellung der Feindseligkeiten, immer noch autoritär verwaltet werden.
Der vorliegende Entwurf will diesem Bedürfnis entsprechen. Er übernimmt weitgehend Inhalt und Wortlaut des Wirtschaftsratsgesetzes und bezieht sich wie dieses in der Hauptsache auf die Wiederherstellung des Rechtszustandes aus der Zeit vor 1933. Eine Erweiterung der Selbstverwaltung ist nur für die Träger der Unfallversicherung vorgesehen, in deren Organen ehedem die Arbeitgeber allein vertreten waren. Zwischen ihren Verbänden und den Gewerkschaften besteht heute weitgehend Übereinstimmung darüber, daß künftig den Arbeitnehmern eine Vertretung in den Organen der Unfallversicherung billigerweise nicht vorenthalten werden darf. Die Verteilung der Beitragslast allein kann nicht mehr der Maßstab für die Vertretung in diesen Organen sein. Auszugehen ist vielmehr von dem Grundsatz der gleichberechtigten Zusammenarbeit der Arbeitnehmer und Arbeitgeber als den Trägern der gesamten Volkswirtschaft.
Der Entwurf erweitert das Gesetz des Wirtschaftsrats dadurch, daß er auch die frühere Vorschrift über die Ehrenämter allgemein wiederherstellt und so die Besetzung der Versicherungsbehörden mit Beisitzern aus den Kreisen der Versicherten und ihrer Arbeitgeber sowie die Bildung der übrigen in den Sozialversicherungsgesetzen vorgesehenen Ausschüsse ermöglicht. Ferner räumt er den Trägern der Krankenversicherung in allen Ländern des Bundesgebiets wieder das Recht ein, Beiträge und Leistungen selber festzusetzen. Er entspricht damit einem wesentlichen Erfordernis echter Selbstverwaltung. Außerdem enthält er Vorschriften über die Durchführung der Wahlen, insbesondere über die Bestellung von Wahlbeauftragten.
Endlich erforderten die Vorschriften des Grundgesetzes und die Einbeziehung der französischen Zone in das Bundesgebiet Abweichungen vom Wirtschaftsratsgesetz. Auf sie wird in dem besonderen Teil hingewiesen.
Für die Beurteilung des Entwurfs kann dieselbe Forderung erhoben werden, die schon bei der Beratung des Selbstverwaltungsgesetzes in der 31. Vollversammlung des Wirtschaftsrats ausgesprochen worden ist, daß nämlich der Blick auf die Notwendigkeiten der Zukunft zu richten ist. Heute sind andere Gesichtspunkte maßgebend als bei der Einführung der deutschen Sozialversicherung. Wurde damals nur ein verhältnismäßig kleiner Teil aller Deutschen durch die Sozialversicherung erfaßt, so sind gegenwärtig nahezu 75 Prozent der gesamten Bevölkerung des Bundesgebiets in dieser oder jener Form an der Sozialversicherung beteiligt. Die Sozialversicherung der Zukunft muß von dem Gedanken der sozialen Gerechtigkeit in der Wirtschaft getragen werden. Der Entwurf will die Voraussetzungen dafür schaffen, daß die in der Wirtschaft maßgebenden Faktoren der Arbeitgeber und Arbeitnehmer in höherem Maß- als in der Vergangenheit die Sozialversicherung in eigener Verantwortlichkeit übernehmen.
Zu dieser Frage liegt ja auch das Initiativgesetz der Sozialdemokratischen Partei vor. Wenn Sie die beiden Gesetzesvorlagen genauer ansehen, werden Sie feststellen, daß sich die Auffassungen eigentlich nur dadurch unterscheiden : der sozialdemokratische Gesetzentwurf geht von dem Gedanken aus, daß in der Sozialversicherung
der Arbeitgeberbeitrag kein echter Beitrag sei,
sondern ein aus dem Produktionsergebnis entnommener Teil des gemeinschaftlich Erarbeiteten. Man geht aus diesen Gesichtspunkten in dem Initiativ-Gesetzentwurf dazu über, zu sagen, daß in der Krankenversicherung und in den Rentenversicherungen nur die Versicherten selber die Selbstverwaltung übernehmen sollen. Der Gesetzentwurf der Regierung geht von dem Gesichtspunkt aus, daß in unserer Volkswirtschaft Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Produktionsprozeß zusammenarbeiten.
Der Herr Bundeskanzler hat bereits in der Regierungserklärung klar zum Ausdruck gebracht, daß die Rechtsverhältnisse der Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Zukunft sehr stark in die Eigenverantwortlichkeit dieser Faktoren übergeführt werden sollen.
Von diesem Gesichtspunkt aus haben wir in unserem Gesetzentwurf vorgeschlagen, daß in der Selbstverwaltung aller Versicherungsträger Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleich stark tätig sein sollen. Wir gehen dabei auch von dem Gedanken aus, die großen Fragenkomplexe, die momentan unter dem Stichwort Mitbestimmungsrecht in der Wirtschaft eine Rolle spielen, und die Fragen der Gestaltung einer Wirtschaftsdemokratie auch auf den anderen Gebieten so zu lösen, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleichberechtigt tätig sein sollen. Aus diesen Erwägungen haben wir Ihnen den Gesetzentwurf in der vorliegenden Form vorgelegt.
Es würde zu weit führen, wenn ich Ihnen jetzt den gesamten Gesetzentwurf in allen seinen Einzelheiten vortragen würde. Ich habe veranlaßt, daß Ihnen noch heute im Laufe der Sitzung eine ausführliche Begründung für sämtliche Paragraphen gegeben wird. Ich hoffe, vor allem den Mitgliedern des zuständigen Ausschusses damit so viel Material in die Hände gegeben zu haben, daß durch die Ausschußverhandlungen möglichst bald ein Gesetz zustande kommt, das den berechtigten Wünschen aller gerecht wird.