Meine sehr verehrten Damen und Herren! Namens der WAV-Fraktion zunächst eine Vorbemerkung: Es freut uns außerordentlich, daß endlich von einer Fraktion dieses Hauses ein Gesetzentwurf eingereicht worden ist, der schon lange von seiten unserer Regierungsbank dem Parlament hätte vorgelegt werden müssen.
Schon lange! Ich glaube es wagen zu können, sogar folgende Formulierung zu finden: ohne einen solchen Bundesverfassungsgerichtshof ist die Konstituierung des Deutschen Bundes überhaupt noch nicht richtig vollendet. Das Bundesverfassungsgericht ist für das Funktionieren unseres Staates und unserer Demokratie mindestens genau so wichtig wie die Wahl der Spitze des Staates, genannt Bundespräsident, wie die Wahl und Besetzung der einzelnen Ministerposten!
Ohne Bundesverfassungsgericht gibt es tatsächlich keine Möglichkeit für die Minderheit im politischen Leben — und sei die Minderheit auch nur eine Stimme schwächer als die Regierungsmehrheit —,
zu ihrem Rechte zu kommen, wenn es dieser Mehrheit, dieser Eine-Stimme-Mehrheit gefällt, die Minderheit niederzustimmen.
'Ansätze zu einer solchen Entwicklung haben wir ja leider Gottes schon mehrfach in den Monaten, seitdem der Deutsche Bund ins Leben gerufen worden ist, bemerkt. Wir haben gestern wieder einen Fall gesehen, der vielleicht von großer Folgewirkung sein wird, daß nämlich ein Antrag, der irgend jemandem, irgendeiner Zufallsmehrheit nicht paßt, weil er von jemandem eingereicht wurde — vielleicht hätte ihn jemand anders lieber vorher eingereicht —, oder vielleicht weit der Inhalt nicht paßt, einfach von der Tagesordnung abgesetzt werden kann und daß man dann sogar der betreffenden Fraktion ganz kalt sagt: „Ja, ihr könnt ihn dann nochmals einreichen!" Dann wird er wieder abgesetzt, und dann kann er nochmals eingereicht werden. Und dieses neckische Spiel kann so vier Jahre fortgesetzt werden, immer mit einer Eine-StimmeMehrheit im Parlament!
Welche Möglichkeiten gibt es denn dagegen heute? Vielleicht im Ältestenrat ein bißchen was zu sagen.
Da können Sie dann auch überstimmt werden mit der berühmten Eine-Stimme-Mehrheit. Sonst gibt es kein Recht für die Minderheit, wenn auch eine noch so kleine Mehrheit hergeht und mit ihrer einen Stimme die anderen zu überstimmen versucht!
So ist der Verfassungsgerichtshof geradezu das politische Supplement zur ganzen Staatsinstitution, zum Bundespräsidenten, zum Bundestag, zu den Bundesministerien.
Es wäre Aufgabe der Regierung gewesen, im ersten Monat ihrer Tätigkeit uns bereits einen solchen Verfassungsgerichtshof-Gesetzentwurf vorzulegen und damit die Debatte hierüber, wenigstens im Rechtsausschuß, in Gang zu bringen. Das ist nicht geschehen, und so begrüßen wir es, daß von der größten Oppositionspartei hier endlich dieser Entwurf vorgelegt wurde. Das ist besser. als wenn gar nichts geschehen wäre.
Ich teile leider nicht den Optimismus, den heute einige Redner der Regierungsparteien zur Schau getragen haben, als würde ein Gesetzentwurf der Bundesregierung schon sehr rasch zu erwarten sein. Vielleicht hat diese Vorlage jetzt endlich Dampf dahinter gemacht!
— Ich sage: vielleicht! Sonst aber wäre es wahrscheinlich nicht so rasch geschehen.
Das zur Einleitung.
— Ich rede noch lange nicht so lange zur Einleitung wie Sie, meine Herren!
Nun zum Inhalt des Gesetzentwurfes! Hier müssen wir allerdings erhebliche Bedenken geltend machen, Bedenken vor allem mit Rücksicht darauf, wie nach diesem Gesetzentwurf das oberste Richterkollegium zusammengesetzt werden soll.
Wir können uns de lege et constitutione ferenda nicht damit einverstanden erklären, daß 5 von den 10 ständigen Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts vom Bundestag gewählt werden sollen, und zwar — ganz klar — nach den Prinzipien der Mehrheitswahl. Diejenigen Bundesrichter, die nicht vom Bundestag gewählt werden, werden
Deutscher Bundestag — Sitzung. Donn, Donnerstag, den 10. Januar 1950 871
auch mehr oder minder durch die Zusammensetzung der Mehrheit in diesem Hause bestimmt werden, wenn auch nicht direkt, so doch auf dem Umwege über den Richterwahlausschuß. Wir bekommen dann, wie einige der Vorredner ganz richtig gesagt haben, mit den 10 Bundesrichtern am Schluß nichts anderes als wiederum einen Abklatsch der politischen Zusammensetzung, wie sie sich in diesem Hause jeweils darstellt.
Gerade da möchte ich der sozialdemokratischen Fraktion, der Antragstellerin, zu bedenken geben: Riskiert Ihr von der SPD nicht etwa gerade mit diesem Euerem. Vorschlag, in eine hoffnungslose Minderheit gedrängt zu werden? Riskiert Ihr nicht gerade, etwa bei den allerwichtigsten Fragen überstimmt zu werden, die durch diesen Verfassungsgerichtshof entschieden werden, bei den Fragen, bei denen es sich um die Anwendung und Auslegung der Verfassung und um die Anwendung all der demokratischen Freiheitsrechte dreht, die in der Verfassung vorgesehen sind?
Wir müssen, meine sehr verehrten Damen und Herren, Gerichte schaffen, oberste Gerichtsbehörden, die der Fluktuation und den Fluktuationen des politischen Lebens möglichst weitgehend entrückt sind. Wir müssen einen obersten Gerichtshof für die Entscheidung der Verfassungsstreitigkeiten schaffen, der nichts zu tun hat mit den parteipolitischen Kämpfen, wie sie sich im Bundestag oder in anderen parteipolitischen Gremien abspielen und abspielen können.
Was gibt es hier für Möglichkeiten? Es dreht sich um die Wahl der Richter! Zwei Möglichkeiten nur wurden heute genannt; zwischen denen geht die Kontroverse und der Streit, nicht seit heute, schon seit Jahrzehnten, in der Theorie über die Verfassungsgerichtshöfe. Die eine Richtung will die Richter direkt durch das Parlament oder indirekt durch das Parlament auf dem Wege über einen Wahlausschuß wählen lassen, der dann wieder vom Parlament gewählt wird. Es gibt auch kombinierte Lösungen, so wie sie hier der Antrag der SPD vorsieht. Ergebnis: die Richter werden weitgehend nach politischen Prinzipien ausgewählt werden, und die Zusammensetzung der Richterkollegien wird mehr oder minder einen Abklatsch der jeweiligen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag darstellen.
Die zweite Möglichkeit: man geht her und schaltet das Parlament aus, läßt die Regierung diese Vorschläge machen, wobei es ganz egal ist, ob man sagt: die Regierung, oder: der Herr Justizminster. Der zweite Weg ist nur scheinbar der bessere. In Wirklichkeit ist er genau so geeignet, hier das politische Moment, das wir unter allen Umständen in das Bundesverfassungsgericht nicht hineingetragen wissen wollen, dort hineinzubringen. Denn wer ist denn der jeweilige Bundesjustizminister? - Nichts anderes als ein Politiker, nichts anderes als ein Exponent entweder der stärksten politischen Partei oder jedenfalls der Regierungskoalition in diesem Hause, und wir bekommen, wenn wir den Justizminister zur Auswahl dieser obersten Richter im Verfassungsgerichtshof nehmen, auf einem Umwege nur dieselben Schwierigkeiten, die wir zuerst, bei dem ersten Wege, angedeutet haben.
Was bleibt offen? Der Vorschlag ist heute noch von keiner Seite gekommen. Darf ich Ihnen kurz eine Anregung de constitutione ferenda skizzieren? — Dabei bin ich mir klar, daß die Details in dieser Sache Gegenstand einer Beratung des Rechtsausschusses sein können. Eine grundsätzliche Anregung, ausgehend von dem Gedanken, von dem ich überzeugt bin, daß der größere Teil der Bevölkerung seine Verwirklichung wünscht, und der deshalb auch eine verfassungändernde Mehrheit gewinnen könnte, nämlich unabhängige Richter zu haben, die nichts zu tun haben mit den Fluktuationen der jeweiligen Tagespolitik. Und wir können hier nur eines machen: wir müssen ein Wahlgremium schaffen, das erstens befähigt und geeignet ist, wirklich gute Leute auszusuchen — dazu gehört bereits ein profundes Fachwissen auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts —, und das zweitens der Tagespolitik möglichst entrückt ist.
— Nein, Herr Zwischenrufer, da täuschen Sie sich schwer! Das soll nicht die WAV, das soll gar keine politische Partei sein. Wir von der WAV haben in unserem politischen Programm seit je und je gefordert, daß gerade die wichtigsten Stellen und die wichtigsten Richterposten im Staate von Leuten besetzt werden, die überhaupt keiner politischen Partei angehören, heiße sie WAV oder CDU oder wie sonst auch immer. Das zur Richtigstellung, Herr Zwischenrufer! Ich spreche keineswegs für die WAV, sondern ich spreche für eine Ausschaltung aller politischen Parteien bei der Besetzung dieser Richterstellen. Denn eine Stelle muß es im Staate geben, die den politischen Zänkereien und Streitigkeiten entrückt ist und die allein dadurch schon besser als alle anderen geeignet ist, Recht zu finden.
Meine Damen und Herren! Kann man für das a Gremium, das diese eminent wichtige Wahl der Verfassungsrichter vornehmen könnte, nicht die juristischen Fakultäten der deutschen Universitäten einschalten?
Kann man nicht ein Kollegium von Wahlmännern bilden, das sich aus den Verfassungsrechtlern der deutschen Universitäten zusammensetzt?
- Darf ich Ihnen sagen, Herr Kollege Renner: Damit Sie eine möglichst große Garantie dafür bekommen, daß die Tagespolitik nicht vielleicht doch durch ein Hintertürchen hereinkommt, gibt es eine Möglichkeit, nämlich die, solche Persönlichkeiten entweder von der Wahl, also vom passiven Wahlrecht, auszuschließen, die irgendeiner politischen Partei angehören, oder aber für dieses Wahlgremium überhaupt nur Persönlichkeiten hinzuzuziehen, die nicht Mitglieder irgendeiner politischen Partei des Hauses sind. Es gibt keine andere Möglichkeit. Gewiß, es gibt noch andere Gremien, aber sie müssen der Tagespolitik entrückt sein, sie dürfen nichts zu tun haben mit Bundestag, mit Bundesrat, mit Regierungsbänken, sei es hier des Bundes, sei es der einzelnen Länderregierungen. Sonst besteht immer wieder dieselbe große Gefahr, daß auch das Bundesgericht nichts anderes sein wird als ein politisches Gremium.
Wir in Bayern haben ja unsere Erfahrungen auf diesem Gebiet schon gemacht,
872 Bundestag — 28. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1950
mit den Entscheidungen des bayerischen Verfassungsgerichtshofes. Ich erinnere Sie nur an die Entscheidung des Verfassungsgerichts über die Gültigkeit des neuen bayerischen Landeswahlgesetzes, wobei gerade Sie von der SPD, meine sehr verehrten Damen und Herren, sich mit Recht gegen diese Praxis und gegen diese Auffassung des bayerischen Verfassungsgerichts gewendet haben, die aber nur dadurch zustande kommen konnte, daß eben das Verfassungsgericht mehrheitlich auch aus politischen Richtern zusammengesetzt war, aus Abgeordneten, die Verfassungsrichter wurden, bzw. aus Richtern, von denen jeder im Lande genau weiß, daß sie Politiker sind oder jedenfalls Anhänger prominenter politischer Parteien. Das grundsätzlich zu der ganzen Frage.
In dem Entwurf der SPD gibt es nun einige Bestimmungen, die - jedenfalls nach unserem Dafürhalten - so nicht Gesetz werden können. Ich erinnere nur an den § 17 Ziffer 2, wo es ausdrücklich heißt, daß antragsberechtigt nur sind eine Gruppe von Wahlberechtigten zum Bundestag, die mindestens 1 Prozent aller Wahlberechtigten umfaßt — scheint mir viel zu hoch gegriffen — oder ein Zehntel der gesetzlichen Zahl der Mitglieder des Bundestags; das sind also über 40 Abgeordnete. Ich sehe hier überall gewisse Dinge, die es gerade den kleinen Parteien unmöglich machen könnten, zu ihrem Recht zu gelangen. Und eines möchte ich Ihnen sagen, und vielleicht stoße ich diesmal nicht auf Widerspruch: Wenn wir Deutsche der Welt gegenüber verlangen, daß uns Gerechtigkeit widerfährt, wenn wir sagen, wir sind klein und schwach, und Ihr anderen seid so groß, und gerade deshalb, weil ihr die Großen seid, sollt ihr auf uns Kleine Rücksicht nehmen, uns nicht zugrunde gehen lassen und uns anhören, — wenn wir das von der Welt verlangen, dann müssen wir zuerst in unserem eigenen Hause uns schützend gerade vor die Kleinen und Schwachen stellen. Dann ist es gerade das no-bile officium der Großen und Starken des Parlaments, der großen Parteien, sich schützend auch vor kleinere politische Gruppierungen zu stellen. Dann aber scheint es mir unmöglich zu sein, mit solchen Bestimmungen wie etwa im § 17 durchzukommen.
Das gleiche gilt für § 36 und § 40, wo gar von einem Drittel der Mitglieder des Bundestags gesprochen wird usw. Hier überall scheinen mir die Ziffern zu hoch gegriffen zu sein, allzuhoch für kleine Parteien, allzuhoch auch für den quivis ex populo, diesen anständigen deutschen Mann von der Straße, der nach dem Gesetzentwurf leider nur in völlig unzureichendem Maße die Möglichkeit bekommt, mit seinen Beschwerden in allen Dingen, nicht bloß in denen, die hier aufgezählt sind, an den Verfassungsgerichtshof zu gelangen.
Das sind, in kurzen Zügen dargelegt, unsere Einwendungen , zu dem Entwurf der SPD. Wir begrüßen es, daß der Stein wenigstens ins Rollen gekommen ist. Wir hoffen, daß die Sache nicht usque ad infinitum in den Ausschüssen verzögert wird, sondern daß das Verfassungsgericht so rasch als möglich geschaffen wird. Wir werten den Vorschlag der SPD als Diskussionsgrundlage. Wir werden uns ebenfalls erlauben, eine ganze Reihe von Dingen in den Ausschüssen zur Diskussion zu stellen.
Eines müßte bei all diesen Besprechungen Leitstern sein: Rücksicht zu nehmen auf das Recht gerade des einzelnen Staatsbürgers und, was politische Gruppierungen anlangt, Rücksicht zu nehmen gerade auch auf die Kleinen und Schwachen. Denn nur dann können die Starken sagen, daß sie wirklich im Recht sind und im Einklang mit den Prinzipien der Humanität und der Demokratie, die allein uns im Innern und auch nach außen hin wieder aufwärts und herausführen können aus der furchtbaren Katastrophe, die über unser Land hereingebrochen ist!