Rede von
Dr.
Carlo
Schmid
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat Herr Minister Albertz von der niedersächsischen Regierung.
Albertz, Niedersächsischer Minister für das Flüchtlingswesen: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch wenn die niedersächsische Regierung und ich selbst durch den Herrn Bundesjustizminister eben nicht ausdrücklich genannt worden wären, hätte ich es für meine Pflicht gehalten, heute für die Landesregierung, die auf der Ebene des Bundes in der angeschnittenen Frage den Stein tatsächlich ins Rollen gebracht hat, einige Worte vor diesem Hohen Hause zu sagen.
Wir haben in der ersten Arbeitssitzung des Deutschen Bundesrats einen Antrag gestellt, die Bundesregierung möchte auf Grund von Artikel 119 eine Verordnung über das technische Verfahren der Aufnahme und Verteilung der sogenannten illegalen Grenzgänger vorlegen. Ich habe damals, als ich diesen Antrag namens der niedersächsischen Regierung im Deutschen Bundesrat zu vertreten hatte, mit großem Nachdruck darauf hingewiesen, daß eine Diskussion über das technische Verfahren der Aufnahme und Verteilung eine politische Diskussion in Gang setzen würde, die zu den schwersten gehört, die wir heute als Deutsche unter dem Schicksal der Welt zu führen haben. Daß dies bis auf den bitteren Grund der Frage geschehen ist, das haben die Verhandlungen im Deutschen Bundesrat gezeigt, und das hat auch der Bericht des Herrn Bundesjustizministers soeben bewiesen. Ich wäre der letzte, der irgendeinem, welcher in dieser Frage eine andere Auffassung hat als ich persönlich, daraus einen Vorwurf machen wollte oder könnte; denn die furchtbare Situation, in der wir in dieser Frage stehen — und das darf ich als Praktiker in dieser Frage, als der verantwortliche Minister der Landesregierung sagen, die bis zum Juli vorigen Jahres fast ausschließlich in der Verantwortung für das zentrale Flüchtlingslager Uelzen die Last dieses Problems zu tragen hatte —, ist, daß es hier nur extreme Lösungsmöglichkeiten gibt, daß wir also nur die Möglichkeit haben, zu wählen zwischen einer Verpflichtung, die praktisch bis
A) auf ganz wenige klare kriminelle Fälle eine Aufnahme der Deutschen vorsieht, die aus der Sowjetzone oder aus Berlin in das Gebiet der Bundesrepublik kommen, oder aber Sperr- und Abschubmaßnahmen. Alles, was dazwischen liegt, ist eine Haltung, bei der wir letzten Endes vor der Realität der sogenannten Abgewiesenen den Kopf in den Sand stecken, und wie sehr das Elend der in den zentralen Lagern abgewiesenen deutschen Menschen heute zu einem öffentlichen Skandal geworden ist, haben ja alle die Dinge bewiesen, die wir in den letzten Wochen und Monaten hier in Westdeutschland erlebt haben.
Ich stehe durchaus zu der Zahl, die der Herr Bundesjustizminister als von mir der Öffentlichkeit wohl einmal mitgeteilt dem Hohen Hause eben genannt hat, daß nämlich im Sinne des augenblicklichen technischen Verfahrens der Kommissionen in den beiden Lagern nur etwa 5 bis 6 Prozent als sogenannte echte politische Flüchtlinge gelten können. Aber, meine Damen und Herren, was heißt denn das? Ich weiß, daß auch Abgeordnete dieses Hohen Hauses bei Kommissionsbesuchen in den Lagern gewesen sind und daß zumindest die Damen und Herren Abgeordneten aus den Ländern an der Grenze zur Sowjetzone mit dem Problem sehr nahe vertraut sind. Jeder aber, der einmal etwas näher in die Dinge hineingeschaut hat, kann bestätigen, daß jede Entscheidung über Aufnahme oder Ablehnung in diesen Kommissionen eine Entscheidung über die bürgerliche Existenz dieser Menschen ist. Sie ist ein Ermessensurteil, und sie ist mit keinerlei Richtlinien zu binden. Darum ist es - das möchte ich namens der niedersächsischen Regierung hier feststellen — nun nicht eine plötzliche Änderung irgendeiner Auffassung in bestimmten Ländern oder bestimmten politischen Gruppen, sondern einfach das Fazit aus sehr ernsten und verantwortungsschweren Verhandlungen, daß wir letzten Endes zu keiner anderen Möglichkeit kamen, als auch namens unserer Landesregierung eine Verpflichtung für das Bundesgebiet vorzuschlagen, die vom menschlichen, politischen und gesamtdeutschen Interesse her gesehen als die einzig mögliche Lösung gegeben war.
Es ist auch keine Schande, festzustellen — das kann ich hier nicht für den Deutschen Bundesrat, aber als Mitglied dieses Bundesrats tun —, daß eine Entscheidung über diese Frage, wie die letzten Wochen bewiesen haben, über die Kräfte des Deutschen Bundesrats hinausgeht und nur von der breitesten politischen Verantwortung auf der Ebene des Bundes getragen werden kann, daß also das Parlament mit seiner politischen Verantwortung eingeschaltet werden muß. Das ist auch bis zuletzt die Auffassung zumindest einer sehr starken Minderheit im Rechtsausschuß des Deutschen Bundesrats gewesen, und es ist die Auffassung meiner Regierung, die täglich in der Frontnähe dieses Problems zu leben und zu arbeiten hat, daß wir diese Frage nur mit einem Gesetz lösen können. Darum begrüßen wir es, daß durch die Initiative einer Fraktion nun eine solche Diskussionsmöglichkeit vor dem Deutschen Bundestag gegeben worden ist. Ich darf nur bitten, bei den sicher folgenden Beratungen in den einzelnen Ausschüssen ganz klar zu sehen, daß nur eine solche Lösung praktisch vertretbar ist, die Deutschland von Bonn bis Frankfurt an der Oder und von Flensburg bis herunter nach München sieht und die praktisch durchführbar ist.
Die niedersächsische Regierung hat die Sorge, daß gerade auch durch den jetzt von der Bundesregierung vorgelegten Entwurf zwar vielleicht eine sogenannte Abschreckungsmaßnahme durchgeführt werden soll, aber keine Möglichkeit gegeben wird, in deren Rahmen wir als Deutsche leben können, vor allen Dingen auch die Länder leben können, die den äußersten Druck dieses Problems täglich auszuhalten haben. Ich bitte Sie, daß Sie — und dazu hat der Herr Antragsteller, wenn ich mich recht erinnere, keine besondere Erklärung gegeben - bei Ihren Beratungen im Ausschuß darauf Rücksicht nehmen, daß die Aufgenommenen so verteilt werden, daß die Länder des Bundesgebiets gleichmäßig belastet werden. Die Last ist tatsächlich einseitig getragen worden. Ich will Sie mit Zahlen aus den betroffenen Ländern nicht langweilen. Ich darf Ihnen nur sagen, daß ich mich für die niedersächsische Regierung bis zum Juli 1949, also bis zu der Demonstrationsmaßnahme der Schließung des Lagers Uelzen, praktisch in der Situation eines Bahnhofsoffiziers befunden habe, der immer neue Menschen in einen überfüllten Zug, richtiger gesagt: in einige Wagen dieses Zuges hineinpreßte, während andere Wagen leer standen. Diese Lage muß also durch eine Gesetzgebung des Bundes im Sinne einer gerechten Verteilung auf jeden Fall geändert werden.