Rede von
Dr.
Hermann
Pünder
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Meine Damen und Herren! „Es ist jetzt nur noch sehr wenig Zeit", so sagte wörtlich der Marshallplan-Administrator Hoffman zu den versammelten Vertretern der europäischen Empfängernationen Anfang November in Paris. Das war nicht eine nervös, schnell hingesprochene Bemerkung, sondern zweifellos eine wohlüberlegte und wohl auch berechtigte Äußerung des maßgeb-
lichen Vertreters der Vereinigten Staaten in diesem Kreise. Wie ernst es dem amerikanischen Vertreter dabei war, ging noch aus der ergänzenden Bemerkung hervor, daß die Vereinigten Staaten nunmehr Rechenschaftsberichte der europäischen Empfängernationen über das „inzwischen Veranlaßte" - also nicht etwa nur über das Geplante — für die ersten Monate des neuen Jahres erwarteten.
Dieser Ruf Amerikas ist auch an uns hier in der neuen Bundesrepublik gerichtet, und so stehen wir heute im Bundestag auch vor der Frage, ob und wie wir diesem Ruf folgen können und wollen. Insofern hat Herr Bundesminister Blücher mit vollem Recht auf die große Bedeutung dieses Gesetzgebungswerkes hingewiesen. Wenn er den 15. Dezember als den Tag erwähnte, an dem die Bundesregierung durch den Herrn Bundeskanzler die Unterschrift mit dem amerikanischen Hochkommissar McCloy wechselte, so erwähne ich den heutigen Tag, weil er so bedeutsam für unseren Bundestag ist, der heute zum ersten Male zu einem großen internationalen Vertragswerk Stellung nimmt, und zwar zu einem Vertragswerk, das uns in vertragliche Verbindung gerade zu den Vereinigten Staaten bringt und uns zu einem gleichberechtigten Faktor in der großen europäischen Marshallplanorganisation macht.
Der formelle Niederschlag dieses Vertragsinstruments liegt uns in der Drucksache Nr. 392 vor. Herr Minister Blücher hat sich vorhin eingehend über die einzelnen Artikel geäußert. Ich darf meinerseits einige Punkte herausgreifen.
Erfreulicherweise liegt völlige Übereinstimmung zwischen Bundesregierung und Bundestag dahin vor, daß hier die Form eines Bundesgesetzes notwendig ist. Die Rechtsgrundlage liegt in Artikel 59 Absatz 2 unseres Grundgesetzes. Es ist auch festzustellen, daß die Form dieses Gesetzes den herkömmlichen Formen solcher Vertragsinstrumente entspricht, ferner festzustellen, daß der Bundesrat vor einigen Tagen einstimmig diesem Gesetzentwurf zugestimmt hat.
Der Bundesrat hat verschiedene Abänderungsvorschläge gemacht, über die Herr Bundesminister Blücher sich vorhin auch schon geäußert hat. Den meisten hat die Bundesregierung zugestimmt; einer bleibt augenblicklich noch offen. Es erscheint mir nicht zweckmäßig, meinerseits zu diesen formalen Punkten des Gesetzes im Augenblick Stellung zu nehmen. Man sollte das in der zweiten Lesung tun, nachdem die Ausschußberatung, die dringlich ist, vorangegangen ist. Ich möchte deshalb auch die Frage des Artikels III, in dem die Bundesregierung oder der zuständige Bundesminister zum Erlaß von Ausführungsbestimmungen bevollmächtigt werden soll, im Augenblick nicht weiter erörtern, da auch dieser Punkt in der Ausschußberatung zweifellos besprochen werden muß.
Heute bei dieser ersten Lesung ist allein die Frage entscheidend wichtig, ob wir materiell dem zustimmen wollen, was eben in dem Artikel I des Gesetzes genannt wird, nämlich dem „Abkommen über wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik vom 15. Dezember 1949". Dieses Abkommen ersetzt, wie auch der Herr Minister vorhin sagte, die im Juli 1948 von den Militärgouverneuren der westlichen Besatzungszonen abgeschlossenen bilateralen Abkommen. Dieses neue Abkommen vom 15. Dezember ist das Ergebnis einer zielklaren Fortführung der seinerzeit in Frankfurt inaugurierten ERP-Politik.
Wir könnten uns jetzt natürlich stundenlang über viele Punkte dieses großen Vertragsinstrumentes unterhalten. Es ist nicht meine Absicht; ganz abgesehen davon, daß die Redezeit ja beschränkt ist. Ich möchte augenblicklich auch nicht eine Unmenge verwirrender Zahlen anführen und auch nicht die vielen Bedenken, die selbstverständlich heute noch obwalten, und offene Fragen der Zukunft hier erörtern. Wir würden uns damit doch nur im Augenblick die Köpfe heiß machen. Mir schiene ein solcher Streit im Augenblick auch reichlich akademisch; denn Abänderungen dieses Abkommens — das weiß jeder Eingeweihte —, nachdem monatelang über jeden einzelnen Artikel und jedes einzelne Wort verhandelt worden ist, sind heute gar nicht mehr möglich.
Heute besteht nur noch die eine Frage, ob das uns vorliegende Abkommen in das Schema der uns vorschwebenden internationalen Zusammenarbeit hineinpaßt oder nicht, und daher sind in der heutigen ersten Lesung nur zu dieser Frage einige grundsätzliche Anmerkungen nötig und auch ausreichend.
Der Marshallplan hatte seinerzeit, im Frühjahr 1948, in ganz Westeuropa zweifellos allgemeine Zustimmung gefunden, war aber in seiner wahren Zielsetzung doch weithin verkannt worden. In manchen Empfängerländern waren die Marshallplangelder gern zur Schaffung neuer, mehr oder weniger fragwürdiger Produktionskapazitäten benutzt worden, aber es wurde dabei verkannt, daß den Schöpfern des Marshallplanes nichts an der Schaffung 17 neuer autarker Nationalwirtschaften liege,
aber alles an der Schaffung einer europäischen Gesamtwirtschaft.
Insofern ist heute — das klang auch in den Ausführungen des Herrn Ministers Blücher an —von einer Krise des Marshallplangedankens zu sprechen, und zwar sowohl in Europa wie namentlich auch in Amerika; in den Vereinigten Staaten deshalb, weil sie mit Recht sich darüber enttäuscht fühlen können, daß in weiten Teilen Europas dieser Grundgedanke, die große Konzeption des Marshallplans, nicht verstanden worden ist und nur geringe Fortschritte in der praktischen Durchführung gemacht worden sind. In Europa müssen wir eine Krise feststellen, weil weithin nur eine geringe Bereitschaft vorhanden selber so etwas wie eine Krisenstimmung zu gunsten eines noch ungewissen neuen Gebildes Europa zu opfern. Schließlich ist auch bei uns selber so etwas wie eine Krisenstimmung zu spüren. Eine ehrliche große Bereitschaft zur Mitarbeit in der Linie des Marshallplans bestand bei uns in den Westzonen von Anfang an, seit dem Frühjahr 1948, und besteht auch bis zur Stunde, und zwar nicht etwa deswegen, weil wir als Habenichtse etwas erben wollten, sondern weil nach unserer ehrlichen Überzeugung die Rettung Europas nur in seiner wirtschaftlichen und alsdann auch politischen Einheit gefunden werden kann.
Oft und wiederholt ist deshalb von deutscher Seite der Dank an die Vereinigten Staaten ausgesprochen worden, und ich begrüße es, daß auch Herr Minister Blücher eingangs seiner Ausfüh-
rungen diesem Dank namens der Bundesregierung besonderen Ausdruck gegeben hat. Dabei darf ich feststellen, daß gerade diese Ausführungen des Herrn Ministers den lebhaftesten Widerhall im Hohen Hause gefunden haben. Diesen Dank an die Vereinigten Staaten möchte ich auch namens meiner politischen Freunde nochmals ausdrücklich aussprechen.
Umgekehrt ist auch von den Vereinigten Staaten im Laufe dieser verhältnismäßig schon langen Zeit mehrfach anerkannt worden, daß wohl kaum mehr als bei uns in Westdeutschland der wahre Sinn des Marshallplans erkannt worden sei.
Trotz dieser ehrlichen Bereitschaft zu aktiver Mitarbeit sind uns aber — auch das darf nicht verschwiegen werden — Enttäuschungen nicht erspart geblieben. Ich will nur einige Punkte erwähnen: das späte Anlaufen des Marshallplanes, eine ungewöhnliche Bürokratisierung, die Umständlichkeit der Plangestaltung, die früher sehr geringe deutsche Zuständigkeit, die starre Bindung an den Dollar und die Dollarwaren, das vielfache Ausbleiben wirklich notwendiger Dinge und die Lieferung von uns weniger begehrter, aber in Amerika mehr oder weniger überflüssiger Waren, eine nicht genügende Berücksichtigung des besonderen Zerstörungsgrades bei uns in Westdeutschland und daher des bei uns größeren Aufbaubedürfnisses und noch vieles andere, nicht zuletzt auch die Demontagen, die ich hinsichtlich der Vergangenheit noch erwähnen muß. Zu allen diesen Dingen kam noch hinzu, daß sich das Ganze in einer für die Öffentlichkeit schwer verständlichen Überorganisation verkörperte, die
ihren Niederschlag in Wortungetümen fand wie OEEC, ECA, GARIOA, Fritalux, Officomex, Uniscan usw. usw.
Daß eine solche Krisenstimmung sowohl in Amerika wie auch in Europa besteht, ist — wie gesagt — nicht zu bestreiten. Deshalb hat auch der amerikanische Administrator Hoffman Anfang November in Paris so klare Worte gefunden.
Seit dieser Zeit beobachten wir ein energisches Vorantreiben des ursprünglichen Marshallplangedankens durch die Vereinigten Staaten. Meine politischen Freunde, in deren Auftrag ich sprechen darf, sind trotz aller hinter uns liegenden nicht durchweg erfreulichen Erfahrungen absolut bereit, einer solchen wirklich auf Europa ausgerichteten ERP-Politik nachdrücklichst zuzustimmen.
Zwei große Probleme, die auch Herr Minister Blücher eben hervorgehoben hat, stehen dabei im Vordergrund: die Liberalisierung des Handels, von der jetzt schlagwortartig soviel gesprochen wird, und der erstrebte einheitliche internationale Zahlungsverkehr. Ich will diese Fragen im einzelnen nicht zu sehr vertiefen, aber auf die darin liegenden Gefahren möchte auch ich ganz kurz hingewiesen haben wie auch auf unser absolutes Verlangen nach Wahrung der Gegenseitigkeit. Jedenfalls sind die überfüllten Schaufenster voll der köstlichsten Überflüssigkeiten für uns nicht das Ziel der erstrebten Liberalisierung des Handels.
Vielmehr möchten wir schwere Schädigungen unserer Landwirtschaft und Gärtnerei, die doch auch in Zukunft wichtigste Säulen unserer Gesamtwirtschaft bleiben müssen, unter allen Umständen vermieden sehen.
Auch in diesem Zusammenhang darf ich den Herrn Marshallplan-Administrator Hoffman zitieren, der bei derselben Rede in Paris gesagt hat, die größtmögliche Steigerung der deutschen landwirtschaftlichen Produktion sei eine der Hauptaufgaben der deutschen Bundesrepublik im Rahmen der europäischen Zusammenarbeit.
Noch zwei Schlußbemerkungen darf ich mir erlauben.
Durch den uns vorliegenden Gesetzentwurf wird die Frage der aktiven Teilnahme des Bundestags an der künftigen Verplanung der in der Folge anlaufenden sehr großen Kreditmittel aus den Gegenwerten in keiner Weise präjudiziert. Diese Frage klingt ja bereits in Artikel III des Gesetzentwurfes an, eine Frage, die auch bereits in verschiedenen Ausschüssen des Bundestags zur Sprache gekommen ist.
Schließlich möchte ich noch einen Punkt berühren, den der Herr Minister im Drang der knappen Zeit wohl nicht erwähnen konnte. Ich meine unser liebes Berlin! Berlin wird in dem Vertragsentwurf im Artikel VII besonders behandelt. Eine unmittelbare Teilnahme Berlins am Marshallplan ist nicht möglich, da Berlin, wie wir ja alle wissen, formell vorerst noch nicht Teil unserer Bundesrepublik ist. Deshalb wäre vielleicht eine Sonderbehandlung Berlins à la Triest in Betracht gekommen. Aber auch das wäre durchaus unerwünscht gewesen
bei der engen Verbundenheit, die zwischen uns hier und Berlin nun einmal besteht. Deshalb ist nach unserer Meinung der richtige Mittelweg darin gefunden worden, eine Verpflichtung der Bundesregierung zu stipulieren, wonach den drei Westsektoren Berlins in größtmöglichem Umfang die Hilfe zuteil werden soll, deren Ausmaß auf Grund von Beratungen zwischen Bundesregierung und Berlin für dessen wirtschaftliche Erhaltung und Entwicklung als erforderlich angesehen wird. Wie ich persönlich aus dem Munde des Herrn Oberbürgermeisters Reuter weiß, hat auch Berlin im Bundesrat dieser Formulierung durchaus zugestimmt, und ich kann meiner Befriedigung Ausdruck geben, daß auf dieser Basis inzwischen bereits ein Vertragsentwurf zwischen Berlin und der Bundesregierung im Aushandeln begriffen ist. Ich möchte schließlich der Hoffnung Ausdruck geben, daß der Artikel IV, den der Bundesrat in der uns vorliegenden Drucksache vorschlägt, nicht eine neue Schwierigkeit für Berlin entstehen läßt, über welchen Punkt wir wohl im Ausschuß noch beraten müssen.
Zum Schluß noch ein letzter Gedanke! Das uns vorliegende Abkommen enthält über seinen rein wirtschaftlichen Inhalt hinaus eine stark außenpolitische Note. Wenn wir die schroff ablehnende Haltung des Ostens gegen diese westlichen Aufbaupläne für Europa bedenken, bedeutet das am 15. Dezember vergangenen Jahres abgeschlossene Abkommen ein starkes Bekenntnis zum Westen, dem wir durchaus zustimmen.
Wir empfehlen Überweisung des Gesetzentwurfs an den Ausschuß, der nach Verabredung
zwischen den Parteien wohl schon morgen zusammentreten wird.