Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren! Der Herr Präsident könnte zu der Ansicht gelangen, daß die nicht geradezu persönlichen, aber sozusagen fraktionspersönlichen Bemerkungen, die ich meinen Ausführungen zur Sache selbst vorausschicke,
außerhalb des Beratungsgegenstandes lägen. Ich bitte ihn aber, Geduld zu üben; er wird rasch erkennen, daß ein Zusammenhang besteht.
Die „Times" hat am 1. Dezember einen kurzen Kommentar ihres Sonderkorrespondenten aus Bayern veröffentlicht, in dem dieser eine „gegenwärtig", wie er wörtlich sagt, „so offensichtlich selbstsüchtige, reaktionäre Laune der Bayern" erfindet und behauptet, es sei wohl kein Zufall, daß Bayern die wildesten Männer in das Bundesparlament entsandt habe.
Diese wilden Bajuwaren sind Mitglieder dieses Hohen Hauses; sie gehen frei herum,
sind nicht nur hinter Gitterstäben und gegen Eintrittsgeld zu sehen und benehmen sich, soweit ich sehen kann, durchaus gesittet. Sie verzichten auf die urtümliche Waffe der Keule, auf die sich zwei wilde Männer auf einem alten, nichtbayerischen Staatswappen stützen, und suchen mit dem Florett auszukommen. Wir laden den Herrn britischen Sonderkorrespondenten, der offenbar noch keinen der 17 „wilden Bajuwaren" gesehen hat, ein, hierherzukommen und mit uns die Klinge — die geistige, versteht sich — zu kreuzen. Wir würden ihm dann einiges vorhalten, was seinen britischen Ohren nicht wohllautend klingen möchte, und wir würden ihn vielleicht auch auf ein reizendes deutsches Gedicht hinweisen können, in dem ein im britischen Kanada wandernder Mann zu der Erkenntnis gebracht wurde, daß die Wilden oft bessere Menschen sind — als der Herr Sonderkorrespondent der „Times", versteht sich wiederum.
Wild allerdings werden wir dann, wenn das Recht, das wir als eine Äußerung und eine Funktion der Moral ansehen, verletzt oder wenn über unverbrüchliche Grundsätze hinweggeschritten wird, und zu solchem Grimm glauben wir im Zusammenhang mit der Einführung der geheimen Abstimmung in diesem Parlament Anlaß zu haben.
Die Mehrheit des Hauses hat in der 14. Sitzung am 3. November ohne jede Debatte die förmliche Einführung der geheimen Abstimmung beschlossen. Sie hat mit dieser schwerwiegenden Änderung der Geschäftsordnung einen verhängnisvollen Weg beschritten und der jungen Demokratie einen schlechten Dienst erwiesen. Der Vorgang verliert nichts von seiner Bedenklichkeit dadurch, daß die Änderung offensichtlich nicht aus grundsätzlichen Überlegungen, sondern aus taktischen Erwägungen, zur Erreichung eines aktuellen Zweckes erfolgte. Es sollte, als es um die Bestimmung des vorläufigen Sitzes der obersten Bundesorgane ging, diese hochpolitische Entscheidung mit einem geschäftsordnungsmäßigen Kunstgriff in eine bestimmte Richtung gezwungen werden.
Nun, meine Damen und Herren von der Mehrheit, Sie haben den erstrebten Effekt erzielt und bewirkt, daß nicht der Prophet zum Berg, sondern dieser zu jenem kommen mußte, wobei der Herr Bundeskanzler die Rolle des Propheten und der Bundestag die des Berges spielte. Die massive Unmittelbarkeit und Eindeutigkeit des Vorgehens hat in der Öffentlichkeit draußen einen schlechten Eindruck gemacht; sie hat, könnte ich auch sagen, beschämend gewirkt.
Die großen Demokratien der Neuzeit haben ihre Stellung in der Welt nicht zuletzt der Erhaltung
und Entfaltung des öffentlichen Sinnes ihrer Bevölkerung zu danken. Die weltweite Politik und Wirkung der Antike wäre ohne den hochentwickelten forensischen Sinn der Masse, der um die polis und die res publica kreiste und aus forum und agora seine Kräfte zog, nicht möglich und denkbar gewesen. Schiller sagt in einer Studie über die ethischen und gesetzgeberischen Absichten des großen Atheners Solon, es sei ihm darum zu tun gewesen, den Bürgern das innigste Interesse am Staat einzuflößen; Kälte gegen das Vaterland sei ihm das Hassenswerteste an einem Bürger gewesen, und er habe nichts so sehr bekämpft wie Lauheit gegen das Gemeinwesen.
In Deutschland, meine Damen und Herren, hat sich mit dem Aufkommen des Untertanenstaates ein folgenschwerer Mangel an Gemeingeist ententwickelt. Nicht nur die Massen, ganz ihrem Beruf und Geschäft, ihrer Arbeit hingegeben, auch viele der Besten entzogen sich zweiflerisch oder angewidert. zum Schaden des Ganzen mehr und mehr der Beschäftigung mit den öffentlichen Dingen oder ergriffen ohne Zögern und Bedenken die politischen Formeln, die andere für sie erfanden und bereithielten.
Zu den unerläßlichen Bedingungen, Voraussetzungen und Elementen der Demokratie gehört volle Publizität der Verantwortungen und Handlungen der Abgeordneten. Ihre Beschränkung oder Ausschließung ist eine Sünde wider den Geist der Demokratie. Dieser Sünde hat sich die Mehrheit des Hauses durch die Einschaltung des Absatzes 2 des § 103 der Geschäftsordnung schuldig gemacht. Niemals hätte sie sich dem Verdacht aussetzen dürfen, daß ihr darum zu tun war oder ist, gegebenenfalls — übrigens welcher Art sind diese Fälle, da doch nach Absatz 3 die Abstimmung über Gesetzesvorlagen nicht geheim sein soll? — im Zwielicht politische Geschäfte zu machen, wo allein volle Klarheit und Öffentlichkeit am Platz sind.
Nie hätte sie das Mißverständnis hervorrufen dürfen, daß ein Abgeordneter des Deutschen Bundestags seiner Abstimmung wegen Furcht oder Bedrängnis empfinde, also des bürgerlichen, moralischen und politischen Mutes ermangele. Wie sollen Würde und Unabhängigkeit des Parlaments und seiner Abgeordneten gewahrt bleiben, wenn es ihnen erlaubt ist, sich hinter der abschirmenden Anonymität der Abstimmung zu verstecken? Wie soll die Integrität des politischen Lebens erhalten bleiben, wenn dem Parlament, den Parteien und den Abgeordneten ermöglicht wird, unter dem Schutz der Dunkelheit geheimer Abstimmung politischen Handel zu treiben?
Wozu solche Geheimniskrämerei, die innerhalb des
Parlaments selbst zu gegenseitigem Mißtrauen,
Argwohn und gegenseitiger Unaufrichtigkeit führt?
Auch die Politik kann der Ethik nicht entraten. Das Grundgesetz spricht immer wieder — so in den Artikeln 9, .73, 87, 126, 143 — von verfassungsmäßiger Ordnung und von Verfassungsschutz, und der Bundestag hat einen Ausschuß zum Schutz der Verfassung geschaffen.
Seine Berechtigung und Zuständigkeit sind in
Frage gestellt, wenn das Parlament selbst gegen
einen unverzichtbaren Grundsatz der Demokratie,
nämlich die volle Publizität des Handelns und der
Verantwortung der Abgeordneten verstößt. Es
gibt keinen besseren Schutz der Verfassung als den entwickelten öffentlichen Sinn und die innere Beteiligung der Bürger am Gemeinwesen.
Meine Damen und Herren von den Mehrheitsparteien! Sie haben am 3. November ihren Willen durchgesetzt. Lassen Sie es dabei, bitte, bewenden! Zeigen Sie menschliche Größe und demokratische Gesinnung! Geben Sie freimütig und großzügig Ihren Irrtum zu und berichtigen Sie ihn! Reinigen Sie sich von einem häßlichen Verdacht!
Begegnen Sie dem Mißverständnis, als fürchteten Sie die Freiheit, weil Sie sich ihr nicht gewachsen fühlen!
Halten Sie es für unvereinbar mit Ihren sittlichen und politischen Grundsätzen, ungerührt und unbelehrt immer wieder mit der Walze einer Mehrheit über die Minderheit und ihre Argumente hinwegzugehen!
Stimmen Sie zu, daß die Absätze 2 und 3 des § 103 wieder gestrichen werden! Erkennen Sie bitte, daß es sich im Kern nicht um eine Bestimmung der Geschäftsordnung, sondern um eine Grundfrage der Demokratie handelt! Beweisen Sie Fairneß! Sie brauchen sich ihrer nicht zu schämen. Geben Sie zu, daß es hier um eine Grundlage geht, auf der sich Verantwortung und Freiheit begegnen