Meine Damen und Herren! Amnestien pflegen erlassen zu werden entweder aus außergewöhnlichen festlichen Anlässen in der Geschichte eines Volkes, an deren Freude man auch solche Verurteilte teilnehmen lassen will, die, nach der Höhe des Strafmaßes zu urteilen, keine schweren Verbrecher sind, oder bei einem Systemwechsel, wenn die bisherigen Verurteilungen nicht mehr den Rechtsanschauungen entsprechen, die sich nunmehr durchgesetzt haben oder Ausnahmezuständen entsprungen sind, die nunmehr als überwunden gelten dürfen. Beide Anlässe für eine Amnestie sind heute gegeben. Fürwahr, die Gründung der Bundesrepublik Deutschland ist ein freudiger Anlaß, wenn man die Leidensgeschichte des deutschen Volkes von der bedingungslosen Kapitulation bis zum Wiedererstehen des deutschen Staates verfolgt; und es ist sicher richtig, daß man zu Beginn dieser neuen Ara alle diejenigen, die, ohne deswegen eine schwere Strafe zu verdienen, nur deshalb in den hinter uns liegenden apokalyptischen Jahren gefehlt haben, weil die beispiellosen Schicksale des Volkes sie moralisch überbeansprucht haben, nun durch einen Straferlaß zur positiven Mitarbeit gewinnen will.
Aber auch die zweite Rechtfertigung für eine Amnestie ist gegeben. Wenn man an die Wirtschaftsdelikte denkt, so muß man nunmehr, da wir mehr oder weniger zur freien Marktwirtschaft zurückgekehrt sind, die schon mehrmals in diesem Hohen Baus getroffene Feststellung machen, daß die Wirtschaftsdelikte uns heute zu einem großen Teil nicht mehr strafbar erscheinen. In einer Zeit, in der jeder, um die nackte Existenz zu erhalten, gegen die Wirtschaftsgesetze verstoßen mußte, haben wir erlebt, wie das Naturrecht des Menschen auf Selbsterhaltung die staatlichen Vorschriften ad absurdum führte. Ich habe es immer als eine furchtbare Krisenerscheinung unserer gesamten rechtlichen Zustände empfunden, wenn Richter und Staatsanwälte, deren Ehefrauen selber Kartoffeln und andere Dinge organisieren mußten, um ihre Familien am Leben zu halten, gezwungen waren, Täter wegen ebensolcher Delikte einer Bestrafung zuzuführen.
Ich freue mich besonders darüber — das muß ich im Namen der CDU sagen daß Bundesregierung und Bundesrat die Bundeszuständigkeit für diese Amnestie bejaht haben. Auf die Einzelheiten der bei der Beratung hervorgetretenen Gesichtspunkte kann ich hier nicht eingehen.
Gewiß ist die Justiz Ländersache und der einzelne Gnadenakt aus diesem Grunde den Länderregierungen vorzubehalten. Wenn aber eine allgemeine Amnestie sich als notwendig erweist, um eine neue Rechtsära einzuleiten, dann handelt es sich in Wahrheit um einen Teil der strafrechtlichen Gesetzgebung, für die der Bund Zuständigkeit beanspruchen kann.
Ich weiß, daß man unter den älteren Reichsverfassungen über diese Zuständigkeitsfrage lebhaft diskutiert hat. Aber schon damals wurden Reichsamnestien erlassen. Und die Kontinuität dieser Rechtsentwicklung zu wahren, erscheint mir notwendig und richtig.
Im Rechtsausschuß wird die Frage noch gründlich behandelt werden.
Auf zwei Dinge möchte ich noch hinweisen. Mit diesem Gesetz ist noch nicht alles geleistet, was wir im gegenwärtigen Zeitpunkt von der Bundesregierung erwarten. Es muß ein Schlußstrich unter die nationalsozialistische Strafrechtspflege von Bundes wegen gezogen werden, indem Verurteilungen, die damals stattgefunden haben und bei denen nur allzu oft der Verdacht gerechtfertigt war, daß es sich um Unrecht handelte, das in die Form des Rechts gekleidet wurde, in irgendeiner Weise korrigiert werden. Dabei ist nicht nur an die einheitliche Löschung im Strafregister zu denken, an die in manchen Ländern vorgesehen Überprüfung der urteile, die anderwärts
ganz fehlt, sondern auch an die Wiedergutmachung im weitesten Sinne. Ich war beruhigt, als mir Herr Staatssekretär Strauss versicherte, daß diesen Dingen im Zusammenhang mit einem allgemeinen Wiedergutmachungsgesetz zugunsten der politisch Verfolgten nachgegangen würde.
Im weiteren Zusammenhang mit diesem politischen Problem ließe sich auch der Zentrumsantrag betreffend die Privilegierung der Straftaten aus demokratischem Übereifer erörtern, der freilich sehr genau überlegt werden muß und nicht in dieses Gesetz eingearbeitet werden kann.
Ferner aber ist auf dem Gebiet der Strafrechtspflege auch die Amnestierung vieler sogenannter Kriegsverbrecher eine notwendige Aufgabe, deren sich unsere Regierung annehmen müßte. In der britischen Zone sind 26 000 Personen von den Spruchgerichten nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 verurteilt worden. Soweit es sich dabei um den Tatbestand der bloßen Zugehörigkeit zu sogenannten verbrecherischen Organisationen handelt, liegt in Wahrheit die Bejahung einer Kollektivschuld vor, die in einer Zeit, die die Rechte des Individuums wieder zum obersten Grundsatz erhebt, einen unerträglichen Einbruch in unser Rechtsbewußtsein bedeutet. Das müssen wir bald wieder rückgängig machen. Das Kontrollratsgesetz Nr. 10 ist ein Ausnahmerecht. Das hat sich gerade jetzt wieder bei der alliierten Anordnung gezeigt, wonach deutsche Gerichte dieses Gesetz auf Ausländer nicht anwenden dürfen. Soweit die Verurteilungen durch die Militärgerichte erfolgt sind, hat der Bund keine Zuständigkeit. Aber auch hier wird erwogen — ich erinnere an die Regierungserklärung —, ob bei dem allmählichen Abbau der Kriegsfolgen die Regierung bei den Alliierten nicht mit dem Ziele eines Gnadenerweises vorstellig werden sollte.
Zur Klarstellung ist endlich hervorzuheben, daß die Strafamnestie, die hier Gegenstand der Gesetzgebung ist, natürlich noch die große Frage offen läßt, wie die unheilvollen Wirkungen der Entnazifizierung, die trotz innerer Verwandtschaft mit der Strafrechtspflege unter dem Stichwort der politischen Verantwortung läuft, beseitigt werden sollen. Sie wissen, daß ein Antrag darüber im Rechtsausschuß bereits vorliegt. Ich hoffe, daß das Plenum alsbald mit der Sache befaßt werden kann.
Mit Rücksicht auf die große Tagesordnung, die heute zu bewältigen ist, will ich Einzelheiten der Gesetzesvorlage nicht behandeln und mich mit diesen allgemeinen Feststellungen begnügen.