Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist unzweifelhaft, daß Amnestien im Strafrecht und in der Strafjustiz grundsätzlich bedenkliche Einrichtungen sind, da sie den Strafrechtsanspruch des Staates, der aus Gründen der öffentlichen Ordnung unabhängig von der Person grundsätzlich den Gesetzen entsprechend aufrechterhalten bleiben muß, gefährden. Es ist aber ebenso klar, daß bei besonderen staatsumstürzenden Anlässen Amnestien, die bei minderwichtigen Straftaten einen Strich unter die Vergangenheit ziehen, um der ganzen Nation ein neues Leben zu ermöglichen, angebracht und historisch von alters her begründet sind.
Solche Anlässe sind in der Vergangenheit unseres neuen deutschen Staatswesens schon zweimal verpaßt worden. Das erstemal nach der Kapitulation im Mai 1945, als unzweifelhaft, wie wir es alle erlebt haben, eine zwar sehr dunkle, sehr unklare, aber sicherlich völlig neue Zeit anbrach. Wenn damals ein deutscher Strafgesetzgeber vorhanden gewesen wäre, hätte er zweifellos über die Justiz der Vergangenheit sich zu Gericht gesetzt und unter vieles, was bis dahin an Strafen verhängt worden war, einen Strich gezogen. Der zweite Anlaß wurde bedauerlicherweise verpaßt, als die Währungsreform durchgeführt wurde und damit, was wir alle ja gleich einem Wunder erlebt haben, im Wirtschaftsleben unserer Länder tatsächlich eine völlig neue Ara heraufzog. Daß nicht gleichzeitig mit dem Währungsumstellungsgesetz mindestens für alle in der Reichsmarkzeit begangenen Wirtschaftsvergehen eine sehr weitgehende Amnestie erlassen wurde, ist tief bedauerlich und hat ohne Zweifel die Moral bei Beginn der neuen Zeit nicht gerade gestärkt, sondern viele moralische Übelstände in die Zeit der neuen Währung mit hinübergetragen.
Jetzt, nach der Bildung unserer westdeutschen Bundesrepublik, ist es allerhöchste Zeit, den Erwartungen der deutschen Menschen, daß die Vergangenheit irgendwie ausgebügelt und ausgefegt wird, Rechnung zu tragen. Nun ist eine Amnestie ihrem Wesen nach zwar ein Gnadenakt, jedenfalls ein Akt, der nicht aus reinen Rechtsgründen erfolgt, sondern der aus der Gnadensonne herabstrahlt. Wenn aber eine Amnestie, wie es in einer Demokratie gar nicht anders möglich ist, weil es keinen Selbstherrscher gibt, der von oben Gnade für die Allgemeinheit regnen lassen kann, durch ein Gesetz erlassen werden muß und erlassen wird, dann ist sie eben gleichzeitig ein Strafrecht, nämlich ein Recht, das in gewissem Umfange die Strafbarkeit ausschließt. Aus diesem Grunde hat meine Fraktion keine Bedenken, daß diese Amnestie, die sich in erster Linie auf Vergehen gegen das in allen Ländern gleicherweise geltende Strafrecht bezieht, sehr wohl Bundessache zu sein hat. Denn es wäre im höchsten Maße mißlich und unangebracht, wenn in einem Lande etwas, was in der Vergangenheit geschehen ist, nach wie vor bestraft würde, was in einem anderen Lande nicht mehr irgendwie gesühnt wird. Diese Rechtsungleichheit unseres einheitlichen deutschen Strafrechtes wäre nach unserer Auffassung geradezu unerträglich, allen Föderalismus vorbehalten.
So bejahen wir an sich die Zuständigkeit des Bundes und begrüßen die Amnestie als Ganzes, allerdings nicht ohne jedenfalls mein persönliches Bedauern, daß sie jetzt, wenn sie raschestens verabschiedet wird, erst zu Weihnachten kommt. Es ist richtig, so etwas mag wie ein Weihnachtsgeschenk wirken. Aber es wäre überaus bedenklich, wenn daraus im Volke etwa die Ansicht aufkommen könnte, als ob jeweils zu Weihnachten, zum Fest des Friedens, neue Amnestien in Aussicht stünden. Davon kann nach unserer Auffassung schlechterdings keine Rede sein. Dieses Zusammentreffen ist vielmehr rein zufällig und beruht auf der Zeitnot, in die wir mit unserer Gesetzgebung gekommen sind.
Im übrigen machen sich, glaube ich, die nicht Rechtsbeflissenen keine richtige Vorstellung davon, welch tiefe Störung unseres Rechtslebens durch das Ausbleiben dieser seit nunmehr bald einem Vierteljahr erwarteten Amnestie eingetreten ist. Die Rechtspflege und die Rechtsdisziplin der Gerichte haben schon jetzt schwersten Schaden erlitten. Es gilt im allgemeinen für den Anwalt als unwürdig, dilatorische Anträge zu stellen und den Ablauf eines geordneten Verfahrens durch irgendwelche Winkelzüge zu verhindern. Trotzdem hat jeder gewissenhafte Anwalt bei unwichtigen kleineren Straftaten — seiner Pflicht entsprechend, für seine Klienten zu sorgen — alles daransetzen müssen, um eine Hauptverhandlung und damit zunächst einmal eine Bestrafung, die ja ins Strafregister kommt, auch wenn sie nicht verbüßt wird, hintanzuhalten. Derartige Einbrüche in den normalen Ablauf der Rechtspflege sind für unsere Justiz außerordentlich schädlich, und so möchte ich dem Herrn Justizminister in jeder Beziehung beipflichten, wenn ich erkläre, daß diese Vorlage das Eiligste ist, was der Bundestag überhaupt verabschieden kann. Jeder Tag, den sie früher kommt, ist ein Heil für unsere Rechtspflege. Nur weil sie so unbedingt eilbedürftig ist, kann es überhaupt hingenommen werden, daß wir hier heute über eine Vorlage beraten, die vom ersten bis zum letzten Wort durchzulesen kein Abgeordneter dieses Hauses meines Wissens
bisher Gelegenheit hatte. Ich selbst habe lediglich die Protokolle des Bundesrats gesehen und mich daher darüber unterrichten können, welche Gesichtspunkte bei der zu erwartenden Vorlage maßgebend waren. Aber die Vorlage selbst finde ich heute morgen um 10 Uhr hier auf meinem Tisch liegen; sie kann also von niemandem durchgearbeitet sein, und schon deshalb erscheint es mir ausgeschlossen, in dieser Generaldebatte auf Einzelheiten einzugehen. Ich möchte mich insoweit daher nur auf einige ganz wenige Bemerkungen beschränken.
Mir ist es sehr zweifelhaft, ob es richtig ist, Disziplinarvergehen, also Beamtenvergehen, von der Amnestie vollständig auszuschließen. Wir haben hier im Wort berechtigte und außerordentlich warmherzige Dankeserklärungen gegenüber unserem unbestechlichen Beamtentum gehört. Es ist aber auch den braven Beamten in der Vergangenheit in der einen oder anderen Beziehung nicht möglich gewesen, ihren Dienst immer so zu verrichten, wie es gefordert werden muß. Daß man schlechthin gegenüber jeder kleinen Entgleisung eines Beamten keine Nachsicht üben will, daß man zu Ehren des Beamtenstandes überhaupt jedes kleinste Delikt, das mit irgendwelchen kleinen Strafen geahndet werden müßte, heute noch weiter verfolgen will, das bedauere ich; das ist meines Erachtens nicht der richtige Dank an unsere Beamtenschaft. Selbstverständlich sind diejenigen Disziplinarstrafverfahren auszunehmen, die eventuell mit einer Dienstentlassung enden könnten; aber alle übrigen Strafen, von der Geldstrafe bis zur Verwarnung oder zum Verweis, sollten meines Erachtens ebenso amnestiert werden wie kriminelle Delikte, und man sollte damit die Beamten nicht unter ein Sonderrecht stellen.
Ein anderer Punkt, der vielleicht nicht sehr viele trifft, aber von um so mehr die Gerechtigkeit störender Bedeutung ist, ist die Höhe der Geldstrafen, die hier amnestiert werden sollen. Geldstrafen haben bekanntlich das eigentümliche Gesicht, daß derselbe Strafausspruch nicht die gleich schwere Tat ahndet; das liegt in der Natur der Sache. Ein sehr reicher Mann wird in Geldstrafen ganz anders angefaßt als der normale Durchschnittsstaatsbürger, der eben auf normaler Basis sein Leben fristen muß. Wenn man dann aber bei der Geldstrafe, die bei einem Wohlhabenden seines Reichtums wegen so hoch bemessen ist, bei summenmäßiger Gleichheit von gleich schwerer Bestrafung ausgeht, so wird damit ein Unrecht begangen. Der richtige Vergleich ist meines Erachtens allein der, daß alle Geldstrafen, deren Ersatzfreiheitsstrafe innerhalb der Amnestiegrenze liegt, erlassen sein müssen; sonst wird mit zweierlei Maß gemessen.
Es gibt noch eine Reihe von sonstigen Einwendungen. Ich möchte meinem Herrn Vorredner nur eines entgegnen. Wenn wir in die Amnestie irgendwelche Vorausetzungen der Gesinnung oder des subjektiven Straftatbestandes einbauen, so gefährden wir nicht nur das ganze Gesetz, sondern machen damit einen Apparat bei der Staatsanwaltschaft und bei den-Gerichten notwendig, der die ganze Vorlage in der Praxis unter Umständen über den Haufen wirft. Der Herr Justizminister hat vollkommen recht: Amnestien müssen einen sehr einfachen, klaren Tatbestand haben, damit sozusagen auf den ersten Blick gesehen werden kann: fällt dieses Urteil im Tenor unter die Amnestie oder nicht? Eine Durcharbeitung von Akten nach ihrem Inhalt und eine Abwägung der Motive
des Täters ist bei einer wahrhaften Amnestie aus praktischen und rechtspolitischen Gründen nicht zweckmäßig.
Ich möchte nur um eines bitten. Zur Amnestievorlage wird jeder Jurist diese oder jene Wünsche haben. Mit einer Durcharbeitung aller solcher Wünsche würde die Vorlage in ihrer eiligen Abwicklung gefährdet. Ich möchte daher bitten, sich im Ausschuß darüber zu einigen, daß man sich zur raschen Arbeit auf der Basis der Vorlage anhält und sich insoweit in den Einzelbestimmungen abstimmt. Ich erkläre ebenso wie mein Herr Vorredner, daß wir eine Amnestie, die sich bei allgemeinen Delikten auf nur 6 Monate Gefängnis bezieht, für die unterste Grenze des Möglichen halten, wenn wir bedenken, wie sehr wir heute beim Beginn eines neuen Staates sind.
Was die Zentrumsvorlage anlangt, so lehnt sie meine Fraktion schon deshalb ab, weil ihre Diktion Nazigesetzen entnommen ist. Man kann ihren Wortlaut aus dem Nazirecht ohne weiteres ablesen. Solche Bezugnahme auf die frühere Zeit mit umgekehrten Vorzeichen lehnen wir grundsätzlich ab. Wit glauben auch, daß praktisch alles, was dort gefordert wird, durch die Amnestievorlage der Regierung schon erledigt wird. Ich würde daher empfehlen, daß das Haus über die Zentrumsvorlage zur Tagesordnung übergeht, weil sie durch den Regierungsentwurf sachlich erledigt ist. Ich beantrage dies hiermit.