Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Tagesordnung um die in der Ihnen vorliegenden Liste aufgeführten Vorlagen ergänzt werden:
1. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von Investitionen und Beschäftigung
Drucksache 7/2979 —Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
2. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Investitionszulagengesetzes
Drucksache 7/2980 — Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
3. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Investitionszuschüsse für gemeinnützige Wohnungs- und Siedlungsunternehmen
— Drucksache 7/2981 — Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Finanzausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
4. Beratung des Antrags der Bundesregierung
betr. zusätzliche Bundesausgaben zur Förderung der Konjunktur
— Drucksache 7/2978 -Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuß Ausschuß für Wirtschaft
Ist das Haus damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Die Erweiterung der Tagesordnung ist beschlossen.
Folgende amtliche Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Vorsitzende des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit hat mit Schreiben vom 4. Dezember 1974 mitgeteilt, daß der Ausschuß gegen die nachfolgende, bereits verkündete Vorlage keine Bedenken erhoben hat:
Richtlinie des Rates zur 1. Änderung der Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für Stoffe mit antioxydierender Wirkung, die in Lebensmitteln verwendet werden dürfen
— Drucksache 7/2356 —
Überweisung von EG-Vorlagen
Der Präsident des Bundestages hat entsprechend dem Beschluß des Bundestages vom 25. Juni 1959 die nachstehenden Vorlagen überwiesen:
Entscheidung des Rates zur Verlängerung der Mindestpreisregelung für Kartoffeln und bestimmte Arten von Essig
— Drucksache 7/2910 —überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung des Rates zur Festsetzung der Orientierungspreise für die in Anhang I Abschnitte A und C der Verordnung (EWG) Nr. 2142/70 aufgeführten Fischereierzeugnisse für das Fischwirtschaftsjahr 1975
— Drucksache 7/2911 —
überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung des Rates zur Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingents für gefrorenes Rindfleisch der Tarifstelle 02.01 A II a) 2 des Gemeinsamen Zolltarifs (Jahr 1975)
— Drucksache 7/2912 —
überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung des Rates zur Festsetzung der Orientierungspreise für die in Anhang II der Verordnung (EWG) Nr. 2142/70 aufgeführten Fischereierzeugnisse für das Fischwirtschaftsjahr 1975
— Drucksache 7/2913 —
überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Jahresbericht über die Wirtschaftslage der Gemeinschaft Stellungnahme des EP vom 15. Oktober 1974
— Drucksache 7/2916 —
überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft , Haushaltsausschuß mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung des Rates zur Festsetzung für das Jahr 1975 der mengenmäßigen Ausfuhrkontingente der Gemeinschaft für bestimmte Aschen und Rückstände von Kupfer sowie für bestimmte Bearbeitungsabfälle und bestimmten Schrott aus Kupfer, Aluminium und Blei
— Drucksache 7/2948 —
überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung des Rates
betreffend den abgeleiteten Interventionspreis für Weißzucker, den Interventionspreis für Rübenrohrzucker und die Zuckerrübenmindestpreise in Irland und im Vereinigten Königreich für das Zuckerwirtschaftsjahr 1974/75
zur Änderung des in Dänemark geltenden Interventionspreises für Butter
— Drucksache 7/2949 —
überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung des Rates
zur Festsetzung des Verzeichnisses der repräsentativen
Märkte für den Schweinefleischsektor in der Gemeinschaft
zur Festlegung der Voraussetzungen für die Anwendung der Schutzmaßnahmen auf dem Sektor Schweinefleisch
9420 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 137. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Dezember 1974
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen
über die Grundregeln für die Gewährung von Erstattungen bei der Ausfuhr von Erzeugnissen des Sektors Schweinefleisch und über die Kriterien für die Festsetzung des Erstattungsbetrags
über die Grundregeln für das sogenannte „System von Leitund Folgeerzeugnissen", das die Festsetzung von Zusatzbeträgen auf dem Schweinefleischsektor ermöglicht
zur Festlegung der Liste der Erzeugnisse, für welche Einschleusungspreise festgesetzt werden, und zur Festlegung der Regeln, nach denen der Einschleusungspreis für geschlachtete Schweine festgesetzt wird
über die gemeinsame Marktorganisation für Schweinefleisch — Drucksache 7/2950 —überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Bericht der Kommission der Europäischen Gemeinschaften zur jährlichen Überprüfung des Besoldungsniveaus der Beamten und sonstigen Bediensteten
Verordnung des Rates zur Angleichung der Dienst- und Versorgungsbezüge der Beamten der Europäischen Gemeinschaften und der sonstigen Bediensteten dieser Gemeinschaften sowie der Berichtigungskoeffizienten, die auf diese Dienst- und Versorgungsbezüge angewandt werden
— Drucksache 7/2951 —
überwiesen an den Innenausschuß , Haushaltsausschuß mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung des Rates
über die gemeinsame Marktorganisation für Eier
über die gemeinsame Marktorganisation für Geflügelfleisch
über die Grundregeln für die Gewährung von Erstattungen bei der Ausfuhr von Geflügelfleisch und über die Kriterien für die Festsetzung des Erstattungsbetrags
über die Grundregeln für die Gewährung von Erstattungen bei der Ausfuhr von Eiern und über die Kriterien für die Festsetzung des Erstattungsbetrags
— Drucksache 7/2952 —
überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Ich rufe Punkt 38 der Tagesordnung
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung über Maßnahmen zur konjunkturellen Situation
und in Verbindung damit die Zusatzpunkte zur Tagesordnung auf:
1. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von Investitionen und Beschäftigung
— Drucksache 7/2979 —
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
2. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Investitionszulagengesetzes
— Drucksache 7/2980 —
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
3. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Investitionszuschüsse für gemeinnützige Wohnungs- und Siedlungsunternehmen
— Drucksache 7/2981 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Finanzausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
4. Beratung des Antrags der Bundesregierung betr. zusätzliche Bundesausgaben zur Förderung der Konjunktur
— Drucksache 7/2978 —
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuß Ausschuß für Wirtschaft
Meine Damen und Herren, die Aussprache über diese Punkte wird verbunden. Wir treten in die Beratungen ein. Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach ausführlichen Beratungen mit unseren engsten Partnern in Amerika und in der Europäischen Gemeinschaft hat die Bundesregierung vorgestern und gestern den wirtschaftspolitischen Kurs dieses Landes angepaßt, um einen stabilitätsgerechten Aufschwung unserer Volkswirtschaft anzusteuern. Die Bundesregierung hat die folgenden Initiativen ergriffen.
1. Der Bund tätigt zusätzliche öffentliche Investitionen in der Höhe von 1 130 Millionen DM.
2. Wer vor dem 1. Mai 1975 einen Arbeitslosen nicht nur vorübergehend einstellt, erhält Lohnzuschüsse in Höhe von 60 % für ein halbes Jahr. Dafür stehen 500 Millionen DM bereit.
3. Arbeitslose, die vor dem 1. Mai 1975 durch Ortswechsel oder durch Berufswechsel eine neue Tätigkeit aufnehmen, erhalten eine einmalige Mobilitätszulage von 100 DM für jeden Monat der Arbeitslosigkeit bis zu einem halben Jahr. Dafür stehen 100 Millionen DM bereit.
4. Durch Änderungen des Arbeitsförderungsgesetzes wird der Bezug von Kurzarbeitergeld von 12 auf 24 Monate verdoppelt.
5. Im Bundeshaushalt werden die Investitionen des Haushaltsjahres 1975 in das erste Halbjahr des neuen Jahres vorgezogen. Die Verpflichtungsermächtigungen für Investitionen werden in voller Höhe freigegeben.
6. Die Haushalte des Bundes und der Länder sollen expansiv gefahren und teilweise — ich komme darauf zurück — durch Auflösung von Rücklagen finanziert werden. Der expansive Effekt der Steuer-und Kindergeldreform allein bewirkt direkte Nettoeinkommenssteigerungen in der Höhe von voraussichtlich 14 Milliarden DM.
7. Unternehmen, große und kleine, Gewerbe und freie Berufe erhalten eine Investitionszulage von 7,5 %, soweit sie in der Zeit vom 30. November dieses Jahres bis zum 30. Juni des nächsten Jahres, also bis zum Sommer des Jahres 1975, neue Anlagen bestellen oder in Angriff nehmen.
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Bundeskanzler Schmidt
8. Für bestimmte energiesparende Investitionen wird künftig unbefristet und zusätzlich zu den Urigen Zulagen eine Zulage von 7,5 °/o gewährt.
9. Der nicht körperschaftsteuerpflichtige soziale Wohnungsbau wird ebenfalls für die Zeit vom 30. November 1974 bis zum 30. Juni 1975 mit einer Investitionszulage von 7,5 °/o — zu Lasten des Bundes in diesem Falle — bezuschußt.
10. Die Absatzmöglichkeiten der Wohnungswirtschaft werden durch die Gewährung der Abschreibungsmöglichkeiten nach § 7 b des Einkommensteuergesetzes auch für Zweiterwerber und durch die Befreiung von der Grunderwerbsteuer bei Zwischenerwerb verbessert.
11. Für den Küstenschutz bietet der Bund im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe zusätzlich 50 Millionen DM an.
12. Kleinere und mittlere Unternehmen werden durch Bereitstellung von 500 Millionen DM im ERP-Wirtschaftsplan und von mindestens 1 Milliarde DM Finanzierungshilfen bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau stärker gefördert.
Soweit die wesentlichen Bestandteile dessen, was die Bundesregierung einleitet.
Im engen Zusammenhang mit diesem Programm begrüßt die Bundesregierung den Willen der Bundesbank, dem angestrebten Aufschwung 1975 den unter Wahrung größtmöglicher Preisstabilität notwendigen Geldspielraum zu geben und die Zentralbankgeldmenge im Jahresschnitt 1975 um etwa 8 °/o auszuweiten. Diesen Beschluß hat die Bundesbank im Benehmen mit der Bundesregierung gefaßt, um für die Beschlüsse der Bundesregierung und alle Entscheidungsprozesse in der Wirtschaft die geldpolitischen Voraussetzungen klar abzustecken und für jedermann im Vorwege erkennbar zu machen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat diese Beschlüsse in nüchterner Bewertung der weltwirtschaftlichen Lage, in klarer Erkenntnis dessen, was zum gegenwärtigen Zeitpunkt binnenwirtschaftlich erforderlich ist, und im Einklang mit den Notwendigkeiten unserer Handelspartner auf der Welt gefaßt.
Die weltwirtschaftliche Situation gibt uns keinerlei Anlaß zur Zufriedenheit. Im Gegenteil, sie gibt uns bereits seit einiger Zeit Anlaß zur Besorgnis. Ich hatte schon in der Regierungserklärung am 17. Mai hier im Hause in einem eigenen Abschnitt die Risiken aus der Weltwirtschaft und aus der Europäischen Gemeinschaft, die uns in diesem Jahr bedrängen würden, deutlich angekündigt und beschrieben. Dem war vorausgegangen, daß seit mehreren Jahren die weltweite Inflation ein Tempo angenommen hatte, das erschreckend war. Viele Staaten in der Welt, viele Parlamente und Regierungen hatten jahrelang über ihre Verhältnisse gelebt. Viele Staaten hatten bereits seit längerem unausgeglichene Zahlungsbilanzen. Von 1971 bis 1973 war das Weltwährungssystem von Bretton Woods stückweise zusammengebrochen.
Zu all diesem kamen die gewaltigen Wirkungen der Ölpreise hinzu. Seit der Zeit der Ölpreisexplosion ist ein internationaler Einkommensumschichtungsprozeß von gewaltigem Ausmaß im Gange. Noch 1973 hatten die ölproduzierenden Länder Bruttoeinnahmen in Höhe von 25 Milliarden Dollar erzielt. 1974 werden es bereits 80 Milliarden Dollar sein. Unter der Voraussetzung gleichbleibender, stabiler Ölpreise für die Zukunft werden die ölexportierenden Länder 1975 und in den folgenden Jahren 100 Milliarden Dollar Bruttoeinnahmen erzielen. Das ist gegenüber dem Jahre 1973 eine Vervierfachung.
Diesen zusätzlichen Einkommen — 100 Milliarden Dollar sind 250 000 Milliarden DM, ein Viertel des ganzen Sozialprodukts des 60-Millionen-Volks in unserem Staat; unvorstellbare Einkommensströme! — und Überschüssen der Ölstaaten stehen zwangsläufig entsprechende Einkommensminderungen und entsprechende Defizite aller ölverbrauchenden Staaten gegenüber. Selbst wenn die Ölproduzenten die Importe in ihre eigenen Länder in Zukunft sehr kräftig steigerten, würden sie immer noch jedes Jahr 50 Milliarden Dollar Überschüsse erzielen, die frei verfügbar sind, die sie nicht selber ausgeben können. Das heißt: sie würden immer noch jedes Jahr beinahe 200 Milliarden DM zur völlig freien Verfügung haben, die den Volkswirtschaften, die das Öl bezahlen müssen, fehlen. Damit ist eine ganz neuartige Phase des ständigen, weltumspannenden Verteilungskampfes eingeleitet, und es gibt überhaupt keinen Zweifel, daß hier, abgesehen von Krieg und Frieden, eine tiefgreifende Gefährdung für den Gesamtzusammenhang der bisherigen Weltwirtschaft liegt.
Ich will über die Einzelheiten der hiermit verbundenen internationalen Problematik im Augenblick nicht sprechen, weil es zwar als Rahmenbedingung zu unserem binnenwirtschaftlichen Konjunkturprogramm gehört, wir es aber im Augenblick — weder der Bundestag noch die Bundesregierung — nicht durch eigene Entschlüsse beeinflussen können. Wir spüren gewisse erste Wirkungen auch bei uns, etwa wenn mit Ölüberschußdollars aus dem Ausland deutsche Fabrikationsanlagen gekauft werden, wogegen ja prinzipiell zunächst nichts einzuwenden ist, wenn wir auch meinen, daß andere Staaten vielleicht dringender eine Wiederanlage der Ölüberschußdollars in ihren Volkswirtschaften bräuchten als wir. Wir sehen aber auch, daß Mitbeteiligung derjenigen, die die Öleinkommen erzielen, daß Mitbeteiligung an unseren Volkswirtschaften für sie auch Mitverantwortung bedeutet. Und wer z. B. an der Daimler Benz AG beteiligt ist, kriegt dann hoffentlich im Laufe der Zeit auch ein Gefühl dafür — vielleicht in seinem Portemonnaie —, was steigende Olpreise, was steigende Benzinpreise für den Absatz und für die Beschäftigungslage der gesamten Automobilindustrie der ganzen Welt zwangsläufig bedeuten. Wir haben allerdings etwas dagegen, wenn sich solche Transaktionen im Dunkel der Geheimnistuerei abwickeln.
Wir werden auch nicht zulassen, daß unter Umständen etwa größere oder politisch oder strategisch entscheidende Teile unserer Volkswirtschaft,
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Bundeskanzler Schmidt
unseres Produktionsapparats einseitig unter Fremdbestimmung geraten.
Die Bundesregierung ist dabei, diesen Komplex zu prüfen, und ich will der weiteren Prüfung und der Entscheidung im Augenblick nicht vorgreifen. Auf jeden Fall werden wir dafür sorgen, daß die ganze Sache sehr schnell sehr viel durchsichtiger wird.
Die einseitige, kartellartige Preispolitik der Ölerzeuger hat — ich zähle es noch einmal auf — für die ganze Weltwirtschaft zu folgenden schwerwiegenden Tatbeständen geführt:
Erstens. Die Vervierfachung der Ölpreise in wenigen Wochen hat einen Kostensprung bewirkt, den kein Land durch Produktivitätserhöhung oder durch Einsparung in diesem Maß hat abfangen können.
Zweitens. Zusammen mit einem weltweiten Anstieg der Preise für Nahrungsmittelrohstoffe und industrielle Rohstoffe haben sich, über den ganzen Erdball verteilt, in den Ländern Inflationsraten ergeben, in einer kleinen Gruppe von Ländern in Höhe von etwas über 10 °/o, in einer sehr viel größeren Gruppe in Höhe von bis zu 20 °/o und in einer größeren Zahl von Staaten in Höhe von über 30 °/o. — Ich rede hier nicht von Südamerika; da sind die Raten noch ganz anders. — Allein in der Europäischen Gemeinschaft ist die Inflationsrate im Durchschnitt mehr als doppelt so hoch wie in unserem Lande. Wir sind seit langer Zeit, wie jedermann weiß, absolut an der Spitze, was die Preisdämpfung angeht.
Drittens. Die Konsumgewohnheiten der Menschen in den Staaten haben sich auf Grund all dieser Ereignisse verändert. Es wird weltweit sehr viel mehr gespart. Man könnte sagen: Der Weltsparprozeß ist zum Teil ein Zwangssparprozeß auf Grund der Öleinkommen und Ölüberschüsse. Ihm steht ein sich enorm beschleunigender Prozeß der kurzfristigen Verschuldung einer großen Zahl von Staaten gegenüber.
Viertens. Es sind schwere Strukturprobleme entstanden. Ganze Wirtschaftszweige in allen industriellen Volkswirtschaften stehen vor der Notwendigkeit beschleunigter Anpassung.
Fünftens. Dadurch wird mindestens vorübergehend oder in Teilen dieser Volkswirtschaften Stagnation und Arbeitslosigkeit bewirkt. Wenn Sie sich die Zahlen in Amerika, in Kanada, um uns herum in Europa anschauen, sehen Sie, daß dieser Prozeß die ganze industrielle Welt ergriffen hat, so daß infolgedessen in vielen Staaten die Realeinkommen der Arbeitnehmerschaft stagnieren und inzwischen in einer ganzen Reihe von Staaten die Bürger tatsächlich geringere Realeinkommen zur Verfügung haben. Ich erwähne, daß in den Vereinigten Staaten von Amerika in den letzten zwölf Monaten allein die Masseneinkommen real um 4 1/2 °/o gefallen sind.
Sechstens. Viele Volkswirtschaften haben eine schnell wachsende, gefährlich kurzfristige Auslandsverschuldung hinnehmen müssen, um ihre Defizite finanzieren zu können. Einige dieser Staaten sind an der Grenze ihrer Kreditwürdigkeit angekommen, bedürfen fremder Garantien.
Siebtens. Vor allem die Entwicklungsländer sind von diesem Prozeß existenzgefährend betroffen einige können nicht einmal mehr ihre bisherigen Nahrungsmittelimporte bezahlen. Viele Millionen Menschen hungern.
Achtens. Es wächst die Gefahr heran, daß die Defizitländer ihr Heil in handelsbeschränkenden Maßnahmen suchen.
Neuntens. In vielen Staaten — ich glaube, ich sagte es schon — ist auf Grund all dessen die Arbeitslosigkeit auf ein allzu hohes Niveau geklettert, auch hier in Europa, in unserer unmittelbaren Nachbarschaft.
Dies, meine Damen und Herren, ist die nüchterne Lage der Weltwirtschaft, die von allen verstanden werden muß, auch von denen, die sich selbst einreden möchten, der Herr Ministerpräsident in Mainz oder der Herr Ministerpräsident in Kiel hätte eigentlich die Weltwirtschaft besser steuern können.
Der deutsche Einfluß auf die wirtschaftspolitischen Entscheidungen der anderen Weltwirtschaftspartner ist begrenzt. Um so mehr müssen wir durch eine richtige Politik im eigenen Lande die Folgen abfangen, die von draußen nicht auf uns durchschlagen dürfen. Dieses Abfangen der Wirkungen von draußen aus der Weltwirtschaft auf unsere eigene Volkswirtschaft haben wir 1972 und 1973 währungspolitisch mit großem Erfolg zustande gebracht. Wir haben diese Wirkungen 1973 und 1974 preispolitisch abfangen können, und wir werden auch 1975 erfolgreich sein im Beschäftigungsaufschwung in Preisstabilität.
Die Regierungen der sozialliberalen Koalition haben seit langem dem zunehmendem Problemdruck aus der weltwirtschaftlichen Entwicklung eine umsichtige Stabilitätspolitik entgegengesetzt.
Dabei sind sie allerdings von der Überzeugung ausgegangen, daß unser Land sich aus seiner eigenen weltwirtschaftlichen Verflechtung nicht lösen kann und auch nicht lösen darf. Wir verdanken ja unseren Wohlstand zu einem großen Teil unserem erfolgreichen internationalen Wirtschaftsaustausch.
Nun kämpfen wir bei alledem nicht nur um die Stabilität des Geldwertes, wir kämpfen ebenso um die Stabilität der Beschäftigung, der Arbeitsplätze, damit die Menschen ihr Brot selbst verdienen können, was sie ja doch wollen. Wir kämpfen letzten Endes um gesellschaftliche Stabilität, d. h. um die Kontinuität des demokratischen Prozesses.
Im November haben bei uns in Deutschland die Kosten der Lebenshaltung aller privaten Haushalte um 6 1/2 % über dem Vorjahresniveau gelegen.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 137. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Dezember 1974 9423
Bundeskanzler Schmidt
Ich wiederhole, auch auf die Zwischenrufe vorhin aus der Oppositionsfraktion hin: Es gibt kein anderes Land in der Welt, das dies geschafft hat.
Die Lebenshaltungskosten werden auch im Dezember nochmals sinken.
Noch vor wenigen Monaten haben uns viele dies alles nicht glauben wollen und haben uns auch in diesem Hause öffentlich zweistellige Preissteigerungsraten vorhergesagt.
Jeder kann heute sehen, daß diese damaligen Prophezeiungen falsch gewesen sind und daß die Vorhersagen der Bundesregierung richtig gewesen sind.
Es hat zu den gegenwärtigen Schwierigkeiten in der Wirtschaft beigetragen, daß viele Menschen im ersten Halbjahr 1974, zu Beginn des Jahres, in ihren wirtschaftlichen Entscheidungen auf jene falschen Prognosen und jene falschen Erwartungen des Preisanstieges gesetzt haben.
Dadurch sind z. B. im Bauwesen, aber auch an der Lohnfront zum Teil Fehler gemacht worden, die sich heute auswirken, zum Teil bitter auswirken. Heute ist diese sogenannte Inflationsmentalität, wie man es genannt hat, sehr weitgehend verflogen; es wird sehr viel mehr gespart, und die Zinsen fallen.
Die deutschen Arbeitnehmer hatten auch 1974 bei alledem netto und real, d. h. nach Abzügen, nach der Steigerung bei den Lebenshaltungskosten, einen Einkommenszuwachs. Die Bundesregierung würde es als einen ganz großen Erfolg ansehen, wenn wir, was den realen Einkommensstand angeht, 1975 das halten könnten, das bewahren könnten, was wir 1974 erreicht haben,
mit anderen Worten: wenn wir anders als in vielen anderen Gegenden der Welt unseren realen Lebensstandard aufrechterhalten könnten.
Jeder versteht, daß ich damit von den bevorstehenden Lohnbewegungen spreche. Ich habe in letzter Zeit und noch gestern abend mit vielen Gewerkschaftsvorständen aber auch ebenso wie meine Kollegen in der Bundesregierung mit den Vorständen großer Unternehmen gesprochen, ebenso wie mit der Bundesbank, mit den Vorständen privater Banken, und dabei gespürt, daß in unserem Land eigentlich jeder weiß, daß er zu einem wichtigen Teil mitwirken muß, wenn das Ganze gelingen soll. Das gilt für den Zins, das gilt für den Lohn, es gilt für die Preisentscheidungen der Unternehmen, ebenso gilt
es aber für die Entschlüsse des Parlaments und der Regierung.
Ich möchte hier einfügen, was ich gerade in jüngster Zeit erneut sehr deutlich gehört habe: In Amerika, in Frankreich, in England, in Italien, überall in diesen Industriestaaten werden wir um unsere Gewerkschaftsbewegung beneidet.
Ohne diese Gewerkschaftsbewegung in unserem Land und ohne ihr Verantwortungsbewußtsein
hätten wir den hohen Realeinkommensstand niemals erreichen können, der uns aus den Trümmern des Krieges an die vierthöchste Stelle des Realeinkommens pro Kopf der ganzen Welt geführt hat.
Die Bundesregierung vertraut auch in dieser gegenwärtigen, wirklich schwierigen Lage erneut auf die Urteilskraft der deutschen Gewerkschaften.
Mit der Steuer- und Kindergeldreform steht den Tarifpartnern ab 1. Januar, d. h. heute in drei Wochen, eine hervorragende Grundlage zur Verfügung.
Sie hat für 1975 für die allermeisten Arbeitnehmer auch die Steuerprogression ausgeschaltet. Im übrigen, meine Damen und Herren von der Opposition, die Sie das alle schon ein Jahr früher machen wollten: diese Steuer- und Kindergeldreform kommt konjunkturpolitisch — und das sollte sie ja auch — akkurat zum richtigen, zum notwendigen Zeitpunkt.
— Ich werde mich durch die Heiterkeit auf den Bänken der Opposition nicht hinreißen lassen, meine Damen und Herren, nicht heute morgen.
Der Gegenstand, von dem jetzt geredet wird, sollte vielleicht die Heiterkeit 10 oder 15 Minuten an eine andere Stelle verschieben lassen.
Ich möchte eines sehr deutlich sagen. Die Tarifpartner müssen sich diesmal besser über die Preisentwicklung des kommenden Jahres vergewissern, als dies im vorigen Winter getan wurde.
Der falsche Preispessimismus bei den Lohnrunden
damals vor 12 Monaten darf sich nicht wiederholen.
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Bundeskanzler Schmidt
— Sie haben zu dem damaligen falschen Preispessimismus durch die Reden beigetragen, die Sie hier gehalten haben.
Sie haben dazu beigetragen, Prognosen zu verbreiten, die in keiner Weise Wahrheit geworden sind, die aber viele dazu verleitet haben, damals zu glauben, man müsse vorhalten.
— Diese Opposition, Herr Kollege Müller-Hermann, hatte ihre Unschuld schon verloren an dem Tag, an dem sie angefangen ist. Die war nie unschuldig!
Ich darf wohl den Faden wieder aufnehmen. Ich möchte annehmen, daß das ganze Haus mir zustimmt, wenn ich sage — —
— Ich möchte annehmen, daß das ganze Haus — vielleicht auch der Kasseler CDU-Abgeordnete Haase — mir zustimmt, wenn ich sage: es kommt ganz entscheidend darauf an, daß die Tarifpartner ihre Rolle in diesem Winter erkennen, damit die Investitionstätigkeit sich wieder beleben kann in unserer Volkswirtschaft. Nebenbei gesagt, unsere Ölrechnung und unsere Zahlungsbilanz insgesamt bereiten uns keine Sorgen. Wir sind eines der wenigen Länder, die ihre Auslandsrechnungen auch in Zukunft voll aus der eigenen Tasche bezahlen können.
Bundestagsmehrheit und Bundesregierung haben bei diesem Kurs ihrer Stabilitätspolitik, die ja übrigens erst vor wenigen Wochen, Herr Haase, vom Sachverständigenrat als grundsätzlich richtig gewertet und im einzelnen noch einmal rekapituliert worden ist, auch vermeintlich Unpopuläres nicht gescheut. Dem Interesse der arbeitenden Menschen kann nämlich langfristig nur durch eine offene und redliche, d. h. notfalls auch harte Politik gedient werden. Die Regierung hat dann aber auch nicht gezögert, als es galt, die Auswirkungen der Ölpreisexplosion in den Griff zu bekommen. Wir haben deshalb die harte Restriktionspolitik schon im Dezember 1973 erstmals gelockert und haben in diesem Jahr mit zwei Konjunktursonderprogrammen öffentliche Investitionen in Höhe von 2 Milliarden DM eingeleitet, haben regional und sektoral auch
den Branchen, die besonders hart betroffen waren, mit Stützung geholfen.
Wir haben aber damals, als die ölpreisbedingten Nachfrageverschiebungen spürbar wurden, nicht den großen Geldhahn geöffnet. Hätten wir die Restriktionspolitik vorzeitig und global gelockert, hätten wir keines der Probleme gelöst, sondern nur alle Probleme vor uns hergeschoben.
Wir hätten allenfalls kurzfristige Beschäftigung geschaffen, ohne sie langfristig sichern zu können. Ich denke, Sie sollten uns eigentlich für diese Nervenkraft, die wir bewahrt haben, nicht schelten.
Nun kann sich die deutsche Wirtschaft diesem weltweiten Zwang zur Anpassung und zur Umstellung nicht entziehen. Daran kann auch kein falscher Ratgeber etwas ändern. Ich möchte ausdrücklich begrüßen, daß Altbundeskanzler Professor Erhard gestern öffentlich die Zustimmung der Opposition zu unseren Vorlagen angekündigt hat.
Die notwendige Strukturanpassung wird auch in der deutschen Volkswirtschaft noch manchem eine bittere Stunde bescheren. Das hohe Maß an sozialer Stabilität, das wir erreicht haben, läßt uns diese Schwierigkeit besser überstehen als andere.
Übrigens wird ja, wenn wir auch einen Blick auf das Netz der sozialen Sicherheit, das wir in unserem Lande geknüpft haben, werfen wollen, das Arbeitslosengeld am 1. Januar auf 68 % des Nettoeinkommens angehoben werden; dazu kommt das neue Kindergeld. Man sollte das in seinen Hinterkopf nehmen: Es wird dann insgesamt, je nach Familienstand, etwa auf 75 % des Nettoeinkommens hinauslaufen.
Meine Damen und Herren, es muß offen und redlich gesagt werden, daß die Übernachfrage jetzt weitgehend abgebaut ist, daß die Nachfrage im Inland stark gedämpft worden ist und die Nachfrage aus dem Ausland nachläßt; häufig sind auch gesunde Unternehmen in Bedrängnis geraten, besonders im mittelständischen Bereich. Das hat dazu geführt, daß die Entwicklung des Beschäftigungsstandes in der Wirtschaft nun einen bedenklichen Punkt erreicht. Wir haben rund 800 000 Arbeitslose und 450 000 Kurzarbeiter.
Die Zahl der offenen Stellen ist beträchtlich zurückgegangen. Allerdings geben wir auch immer noch 2 300 000 ausländischen Arbeitnehmern Lohn und Brot und leisten damit einen großen Beitrag für unsere Nachbarvölker.
Wir können auf der anderen Seite nicht erwarten, daß aus der Weltwirtschaft bald belebende Konjunkturimpulse kämen. Und wir würden ja andere, befreundete Partnerländer zum Offenbarungseid zwingen, wenn wir bei schwacher Binnenkonjunktur unseren eigenen Import nicht steigerten.
In einer solchen Lage muß ein so zahlungsbilanzstarkes, devisenstarkes Land wie die Bundesrepublik in der Abwehr der rezessiven Kräfte in der
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 137, Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Dezember 1974 9425
Bundeskanzler Schmidt
Weltwirtschaft und in der Einleitung einer Wirtschaftsbelebung anderen Staaten vorangehen. Stabilität, so wie ich sie immer verstanden habe, im umfassenden Sinne
— ein Modewort dann, Herr Kollege, wenn es von einigen im Gegensatz zum Text des Gesetzes immer nur auf die Preise bezogen wird; dann ist es ein Modewort, jawohl —,
Stabilität wie das Gesetz sie auch meint, verlangt jetzt nach vielstrebigen Bemühungen zur Sicherung der Arbeitsplätze, verlangt nach einem neuen wirtschaftlichen Aufschwung und nach einem stabilitätsgerechten Aufschwung.
Deswegen handeln wir jetzt mit einem festen Blick
auf dieses Ziel, weil wir und nachdem wir den Preisauftrieb fühlbar und sichtbar eingedämmt haben, weil wir die weitere Entwicklung genügend sicher überschauen können und weil wir unseren Part leisten wollen im Rahmen der europäischen und der weltwirtschaftlichen Konjunkturpolitik.
Ich komme zurück auf die Investitionszulage. Die Bundesregierung verspricht sich von dieser Zulage in Höhe von 7 1/2 °/o einen nachhaltigen Anreiz der Investitionsneigung im ersten Halbjahr. Größere Investitionen — größere Investitionsneigung schon — bedeuten neue Nachfrage, damit Beschäftigung freier Kapazitäten, neue Arbeitsplätze, größere Produktion und in der weiteren Zukunft auch höhere Einkommen.
Wir haben uns für eine Investitionszulage entschieden, weil sie gegenüber der im Stabilitätsgesetz vorgesehenen Investitionsprämie das wirksamere Mittel darstellt. Die Zulage kommt nämlich auch denjenigen Unternehmern zugute, die 1975 mangels eigener Erträge — und das sind ja gar nicht so ganz wenige Unternehmen zur Zeit keine Einkommen- oder Körperschaftsteuer zu zahlen haben. Die Investitionszulage bedeutet allerdings gleichzeitig, daß Bundestag und Bundesrat, den ich heute morgen nicht vertreten sehe,
ein Gesetz verabschieden müssen, daß sie selber gesetzgeberisch mitwirken müssen.
Ich hoffe, daß der Bundesrat, den ich heute morgen leider nicht ansprechen kann, zu dieser Kooperation bereit ist,
ohne den Bund und ohne den Bundeshaushalt allein finanziell mit den Kosten der Zulage zu belasten. Bei der Investitionsprämie, wie sie im Stabilitätsgesetz griffbereit und verordnungsbereit zur Verfügung stünde, würden ja die Steuerausfälle entsprechend der Verteilung der Einkommen- und
Körperschaftsteuer von Bund, Ländern und Gemeinden gemeinsam zu tragen sein.
Ich will aber auch keinen Hehl daraus machen, daß wir ein etwa im Gesetzgebungsverfahren verändertes Investitionszulagengesetz, das etwa in der Verteilung der Finanzierungslast von der geltenden Steuerverteilung abwiche — ich sage das zugleich im Namen der beiden Koalitionsfraktionen —, nicht akzeptieren würden.
Die Bundesratsmehrheit muß wissen, daß sie uns mit solchem Verhalten zwänge,
auf das konjunkturpolitisch schwächere Instrument der Investitionsprämie auszuweichen, bei der dann niemand eine Manipulationsmöglichkeit für die Kostentragung offenbehielte.
Falls es so käme, würde dann allerdings auch die politische Verantwortung für eine so geschwächte konjunkturpolitische Wirksamkeit eindeutig und klar zugeordnet sein.
Es mag sich mancher fragen, ob denn nun diese Investitionszulage nicht nur auf die notleidenden Unternehmen beschränkt werden sollte. Ich halte die Frage für verständlich, aber die darin zum Ausdruck kommende Meinung halten wir für falsch. Denn wir wollen die Gesamtinvestitionstätigkeil beleben, wir wollen ja a 11 e Investoren anreizen ihre Aufträge zeitlich nach vorn zu ziehen, damit sich die Auftragsbücher der Lieferfirmen schnelle] wieder auffüllen und damit die gesamte Wirt schaftstätigkeit angereizt wird.
Selbstverständlich bedeutet die Investitionszu lage auch eine Ertragsverbesserung für die Unter nehmen; das soll auch so sein. Denn schließlict hatten wir doch im Boom den Unternehmen vor übergehend auch eine 11%ige Investitionsbesteue rung aufgelastet. Und — wichtiger noch —: Schor am 17. Mai hatten wir in der damaligen Regierungs erklärung im Vorwege klar und deutlich auf den Notwendigkeit der Ertragssteigerung bei den Unter nehmen hingewiesen.
Bei der Frage, ob die Investitionszulage mit eine Vermögensbildung verbunden werden kann, Her Kollege Pieroth, halten wir nach eingehender Prü fung keine bejahende Antwort für möglich. Die In vestitionszulage muß schnell und nachhaltig wir ken, sie soll und darf auch nur für einen befristete] Zeitraum gelten. Ein Vermögensbildungskonzep kann sich nun allerdings nicht auf eine sieben Mo nate dauernde Konjunkturmaßnahme stützen wol len.
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Bundeskanzler Schmidt
Im übrigen — damit es nicht mißverstanden wird —: Die Zulage erhält nur der, der wirklich investiert. Wir gewähren also im Ergebnis den Unternehmen diesen zeitweiligen Vorteil nur für die Gegenleistung der Auslösung zusätzlicher Beschäftigung. In die gleiche Richtung zielen die Lohnkostenzuschüsse für bis zu 90 000 zusätzliche Arbeitsplätze. Sie werden auch nur gezahlt, wenn sich die Belegschaft dort wirklich vergrößert. Damit dienen auch sie dem Abbau von Arbeitslosigkeit.
Von der Mobilitätszulage, deren Betrag ausreicht, um bis zu 200 000 Wiedereingliederungen vorzunehmen, versprechen wir uns eine wachsende Bereitschaft bei den Arbeitnehmern, umzuschulen oder dorthin zu fahren, wo Arbeitsplätze frei sind; es sind eine ganze Menge Arbeitsplätze frei. Diese Beweglichkeit — oder wie man heute sagt: Mobilität, horizontale Mobilität — ist eine grundlegende Voraussetzung für die Steigerung der Produktivität der ganzen Volkswirtschaft. Es muß jetzt umstrukturiert werden. Gerade jetzt also ist die Bereitschaft zur Mobilität bei den Arbeitnehmern noch wichtiger als bisher. Jede Mark für die Mobilitätszulage erspart Arbeitslosengeld und verbessert zugleich die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft.
Im übrigen ist für viele Arbeitnehmer, für Millionen von Arbeitnehmern eine solche Umstrukturierung ja nichts Neues. Ich erinnere an die vielen Millionen Arbeitnehmer, die schon in der Vergangenheit z. B. aus der Landwirtschaft oder aus dem Steinkohlenbergbau in andere Berufe oder aus bestimmten Handwerksberufen in die Industrie übergegangen sind. Dies Problem der Umstrukturierung ist also bei uns schon in der Vergangenheit vielfältig bewältigt worden, und die Menschen haben gezeigt, daß sie solche Notwendigkeiten einsehen und mittragen. Ich denke, man muß jedem, der sich so verhält, dankbar sein.
Die zusätzlichen öffentlichen Investitionen in Höhe von 1,13 Milliarden DM werden den Aufschwung unterstützen. Zusammen mit den Programmen vom Februar und vom September, die ja in der Wirtschaft zum Teil noch in der Durchführung, in der baulichen oder investitorischen Durchführung begriffen sind, mobilisieren wir damit insgesamt rund 3 Milliarden DM allein vom Bund her. Dabei gehen Konjunktureffekte und Verbesserungen der Infrastruktur, die allen Bürgern dient, Hand in Hand.
Allerdings darf bei alledem nicht übersehen werden, daß die Haushaltsfinanzierung 1975 keinesfalls einfach ist, weder für den Bund, noch für die Länder, noch für die Städte und Gemeinden. Wir werden mit Hilfe einer beweglichen Schuldenpolitik, einer beweglichen Kreditaufnahmepolitik, dafür sorgen, daß der Kapitalmarkt nicht überstrapaziert wird und daß die Zinsen nicht wieder nach oben getrieben werden. Wenn Sie sich den langfristigen Kredit in den letzten Wochen und Monaten angeschaut haben, werden Sie festgestellt haben, daß eine deutliche Abwärtsbewegung eingeleitet wurde. Die letzten Bundesanleihen sind mit 9,5 % erfolgreich emittiert worden; wir waren schon bei 10,5 % Rendite gewesen.
Wir werden nun allerdings zur teilweisen Finanzierung dieser Ausgabenprogramme für den Bund und für die Länder die Rücklagen aus dem Stabilitätszuschlag in Höhe von 3,5 Milliarden DM freigeben. Die sind ja gebildet worden für eine solche Konjunkturlage. Das ist der Zweck dieser Rücklagen gewesen.
So, wie ein ordentlicher Kaufmann in seinem Geschäft Rücklagen bildet, so hat die Bundesrepublik Deutschland als Ganzes für den Fall eines solchen Konjunkturverlaufs diese Rücklagen gebildet. Es ist jetzt der Zeitpunkt, um sie einzusetzen und zu verwenden.
Das wird bei der bestehenden Unterauslastung vieler Kapazitäten und bei der gegebenen Beschäftigungslage keine negativen Auswirkungen auf die Preisentwicklung auslösen.
Die Bundesregierung hat im Verlauf der Beratungen des Programms auch die Frage des vom Herrn Abgeordneten Strauß schon vor etwa sechs Monaten, wenn ich mich richtig erinnere, in die Debatte geworfenen Vorschlags des Verlustrücktrags sorgfältig geprüft. Wir sind dabei zu der Auffassung gekommen, daß trotz aller Probleme der Umstellung des Steuerrechts — Probleme sowohl für die Finanzämter als auch für die Firmen — und trotz der im Zeitraum der Umstellung zeitweiligen Steuerausfälle im Prinzip mehr für als gegen eine solche systematische Änderung spricht.
Allerdings muß dann natürlich der Zeitraum, für den bisher ein Verlustvortrag erlaubt war, entsprechend gekürzt werden.
— Ich sehe Kopfnicken.
Unsere Beratung hat allerdings auch ergeben, daß unser jetziges Konjunkturprogramm und daß die Notwendigkeit zu schnellem Handeln gegenwärtig keine geeigneten Voraussetzungen bieten, diese Frage in Angriff zu nehmen. Ich füge ganz freimütig und offen hinzu: So interessant das war, was wir dazu von verschiedenen Seiten gehört haben — von der Opposition, vom Deutschen Industrie- und Handelstag, auch aus Kreisen der eigenen Koalition —, das Feld ist nicht genug beackert, um auch nur abschätzen zu können, wie im Umstellungsjahr die finanziellen Wirkungen sein würden. Dies Feld ist auch nicht genug beackert, um die weiteren Konsequenzen in der Steuersystematik, die das auslösen muß, im Griff zu haben. Es liegen dem Hause bisher ja auch keine Gesetzgebungsanträge von irgendeiner Fraktion oder einer Gruppe vor, weil die Materie bisher wirklich nicht genug durchgearbeitet ist.
Wir wollen aber diesen Problemkreis im Zuge der restlichen Arbeiten an der Steuerreform — da
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ist ja noch die Abgabeordnung nach — in den Ausschüssen geprüft und auch entschieden wissen.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß und möchte ganz deutlich sagen: Wir vertrauen darauf, daß der neue Aufschwung kommt. Wir wissen: Er kommt nicht von heute auf morgen. Gerade ein Aufschwung, der nicht überstürzt und ohne negative Begleiterscheinungen möglich gemacht werden soll, braucht seine Zeit.
Mit Winterarbeitslosigkeit, mit negativen Wirkungen von draußen aus der Welt werden wir auch in den nächsten Monaten rechnen müssen. Es wäre ganz unredlich, dies zu verschweigen. Aber dies wird den Aufschwung nicht 'verhindern können, wenn wir ihn alle gemeinsam in Gang setzen.
Und deswegen soll niemand draußen im Lande sich durch etwa noch eingehende negative Meldungen irritieren lassen. Es wird einige geben, die jede —auch wegen des Winters oder des Wetters — steigende Ziffer hier oder dort hochspielen, für ihre Zwecke zu verwenden trachten werden. Aber die Bürger müssen wissen: Dieser Aufschwung kommt; er braucht Zeit. Noch nicht im Frühjahr, aber im Frühsommer werden wir sichtbar über den Berg sein. Ein Aufschwung verträgt keine Panikmache. Wer in Panik machen wollte, der macht den Aufschwung kaputt.
Wer gewollt oder ungewollt Panik oder auch nur Pessimismus unter diejenigen trägt, die ihrerseits wirtschaftliche Entscheidungen zu treffen haben,
der behindert die Investitionsneigung, er verstört auch die Verbraucher. Ich nehme das Wort auf, das mir vorhin zugerufen wurde: der steigert oder erzeugt „Angstsparen", gefährdet damit Aufträge und Arbeitsplätze, beim Einzelhandel genauso wie bei der Verbrauchsgüterindustrie.
Wir sind preispolitisch uns unserer Sache sicher; denn der Aufschwung bedeutet, daß die Kapazitätsauslastung wieder ansteigen wird, und das heißt ökonomisch, daß die Stückkosten — die Kosten pro produzierte Wareneinheit — zunächst einmal eher noch sinken als etwa steigen werden. Das ist ein zusätzlicher stabilisierender Faktor, den die Industrie nutzen und auch in Form stabiler Preise an die Verbraucher weitergeben muß.
Ich darf dem Hause mitteilen, daß Bundesregierung und Landesregierungen auch als Dienstherren einen Beitrag zur Stabilisierung dadurch leisten wollen, daß sie für zwei Jahre sogenannte Strukturverbesserungen bei der öffentlichen Besoldung aussetzen wollen.
In dem Zusammenhang nehme ich an, daß das ganze Haus begrüßt, daß wir gestern abend mit einer gewissen Befriedigung vernommen haben, daß die Tarifpartner im Bereich des öffentlichen Dienstes gestern abend ein Schlichtungsabkommen unterschrieben haben.
Ich fasse zusammen: Nachdem wir die Preissteigerungsrate heruntergedrückt haben, legen wir jetzt ein stärkeres Gewicht auf die Sicherung der Arbeitsplätze. Ich erinnere mich gern an ein Wort aus dem Jahre 1972. Zum Wort stehen, heißt, der Sicherung der Arbeitsplätze nunmehr den Vorrang zu geben.
Und zum Wort stehen, heißt auch, daß man den Kurs der Beschäftigungsstabilisierung unterstützt. Ich richte diese Erwartung, Herr Professor Carstens, auch an die Opposition. Ich will Ihnen die weit auseinandergehenden widersprüchlichen Vorschläge Ihrer Führungspersonen gegenwärtig keineswegs vorhalten.
Ich will auch keinen Detailstreit anfangen, weil ja statt dessen Weitsicht benötigt wird.
Weitsicht muß von den realen Bedürfnissen des Volkes ausgehen und muß reale, konkrete, begehbare Wege in die Zukunft aufzeigen.
Es braucht niemand vor unserer realen Zukunft Angst zu haben. Und wenn irgendwo im Lande von Resignation die Rede sein sollte, dann sage ich: Macht Schluß damit!
Und wenn irgendwo von Verunsicherung die Rede ist, dann sage ich: Macht Schluß mit der Verunsicherung!
Ich denke, daß mir auch die christlich-demokratische und christlich-soziale Opposition zustimmen wird, wenn ich sage: Wir werden weiterhin bei gesicherter Beschäftigung in Frieden und Wohlstand leben, wenn wir jetzt und wenn wir hier unsere Kräfte zusammenfassen.
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Meine Damen und Herren, nach der Abgabe der Regierungserklärung treten wir in die Aussprache ein.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Strauß. Seine Fraktion hat eine Redezeit von 60 Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat am Ende seiner Regierungserklärung nach einer langen und pannenreichen Vorgeschichte, bei der sehr viele Leute sehr lange Zeit auf sehr wenig gewartet haben, eine Formulierung gebraucht, die für den Stil der bisher sozialdemokratisch geführten Regierungen bezeichnend ist. Er sagte: Wir werden auch weiterhin bei gesicherten Arbeitplätzen in Frieden und Wohlstand leben.
Ich glaube, Helmut Schmidt hat noch genügend Fähigkeit zur Selbstkritik und eine ausreichende Gedächtnisspanne, um zu wissen, was er früher unter gesicherten Arbeitsplätzen verstanden hat. Wenn jedenfalls die Sicherung der Arbeitsplätze so wie bisher weitergeht, dann können wir uns noch auf allerhand gefaßt machen.
Es ist nur mit Ironie nachzulesen, was die SPD in einem im November 1972 zur Bundestagswahl in Massenauflage verteilten Flugblatt mit dem Bild des heutigen Bundeskanzlers verkündet hat: „Wir haben die sichersten Arbeitsplätze in Europa, Vollbeschäftigung, seit Sozialdemokraten regieren."
„So sah 1966 die Rezession aus: 673 572 Arbeitslose, 343 718 Kurzarbeiter, und Millionen Familienväter hatten Angst um ihre Existenz. Dazu darf es nicht mehr kommen."
„Sorgen Sie dafür, daß Sozialdemokraten weiter regieren. Dann bleiben die Arbeitsplätze sicher."
Ich könnte noch mehrere Zeugnisse dieser Art anführen. Ich bin überzeugt, mein Kollege Blühm, der als nächster Redner für die CDU/CSU sprechen wird, wird sich dazu noch eingehender äußern.
Nur zwei Jahre später sind die damaligen Horrorzahlen, die der CDU/CSU sowohl für die Vergangenheit als Versagen wie für die Zukunft als Absicht in der bekannten Diffamierungspropaganda unterstellt wurden, weit überschritten worden. Im November 1974 waren es 1 260 000 Erwerbsfähige, davon 800 000 Vollarbeitslose, 460 000 Kurzarbeiter — die Zahl der Umschuler nicht mitgerechnet —, die mit ihren Familien unmittelbar von Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit betroffen waren.
Der November weist aber niemals die höchste Rate der Arbeitslosigkeit im Verlaufe des Jahres aus. Das wissen sicherlich sogar die Experten der Bundesregierung. Die Höchstrate ist — durch die Witterung bedingt durchweg, jedenfalls nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, in den Monaten Januar oder Februar zu verzeichnen. Im Vergleichsmonat November hatten wir zuletzt im Jahr 1954 mehr als 800 000 Arbeitslose.
Der stellvertretende Parteivorsitzende der SPD und Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Heinz Kühn , hat in seiner skandalösen Rede von Oberhausen vor einigen Tagen dazu noch erklärt:
Mich empört die Gesinnung jener,
— das war an die Adresse der CDU/CSU gerichtet —
die die industrielle Reservearmee der Arbeitslosigkeit als Chance betrachten.
Das war ein Rückfall in die Diffamierungspropaganda,
aus der sowohl ein schlechtes Gewissen über das eigene Versagen als auch die Angst für die Zukunft um das Überleben der Regierungsgewalt der SPD in Nordrhein-Westfalen und in Bonn spricht. Die „industrielle Reservearmee" ist jedenfalls von der heutigen Bundesregierung geschaffen worden.
In derselben Rede hat der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen übrigens erklärt: Wenn CDU und CSU Wahlen gewinnen, bedeutet das die Nichtregierbarkeit des Landes.
Ich möchte mich zu diesem Ausspruch hier nicht äußern. Eines möchte ich, weil ich hier auf Kanzler Helmut Schmidt zu antworten habe, allerdings sagen: Man sollte nicht Unregierbarkeit ,des Landes mit der Regierungsunfähigkeit der SPD verwechseln.
Der Preisanstieg ist noch immer ungebrochen. Herr Bundeskanzler, ich wäre an Ihrer Stelle mit der Auswertung von Monatszahlen im Vergleich zu denen des Vorjahres etwas vorsichtiger, und zwar im eigenen Interesse.
So viel verstehen Sie sicher von der Materie und so viel Erfahrung haben Sie sicher auch,
um zu wissen, daß diese Bezüge einem zwar rhetorisch kurzfristig über Kalamitäten hinweghelfen, auf die Dauer aber doch den Ruf der Unseriosität einzubringen geeignet sind.
Zwar beträgt die Preissteigerungsrate im Vergleich
zum Vorjahr — von November 1974 zu November
1973 — weniger als 7 %; aber auch Sie wissen, daß
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diese über zwölf Monate angestellte Vergleichsarithmetik doch nur deshalb ein so günstigeres Ergebnis zeigt, weil im November 1973 durch die Folgen des Nahostkrieges und den sogenannten Ölschock, mit der Explosion der Preise für Erdöl eine abnorm hohe Steigerungsrate erreicht wurde. Naturgemäß muß also der Vergleich zwischen November 1973 und November 1974 günstiger ausfallen. Wir wären ja froh, wenn die gesicherten Dauerzahlen so aussähen. Wir können aber nicht immer von einem Grashalm der Regierungsversprechungen zum nächsten hüpfen, um uns damit selbst in trügerischer Illusion zu wiegen.
Es sieht ganz anders aus, wenn wir die Steigerungsrate gegenüber dem jeweiligen Vormonat als Grundlage nehmen. Der Vergleich von Oktober 1974 zu November 1974 ergibt einen Anstieg von 0,7 °/o. Auf das Jahr umgerechnet — ich sage dies jetzt nicht im Sinne einer Prognose, weil ich sonst den gleichen Fehler machen würde, den ich vorher kritisiert habe , ergibt das — und zwar nicht saisonbereinigt gerechnet; saisonbereinigt gerechnet, dürfte die Rate sogar noch etwas höher liegen — eine Inflationsrate von über 8 °/o.
Da Sie in Ihren Ausführungen, Herr Bundeskanzler, darauf hingewiesen haben, daß die Inflationsrate in anderen Ländern unterschiedlich höher liege, und in dem Zusammenhang den weltweiten Anstieg der Nahrungsmittelpreise genannt haben, hätten Sie hinzufügen müssen, daß bei uns die Erzeugerpreise für Nahrungsmittel in den letzten zwölf Monaten um 8 Punkte gefallen sind, während die Betriebsmittelpreise im gleichen Zeitraum um 6 bis 7 Punkte gestiegen sind. Das würde nämlich eine Klarheit darüber ergeben, daß dieser Zustand so nicht weiterbestehen kann, weil diese „niedrige" Inflationsrate nicht auf dem Rücken eines Berufsstandes mit Verminderung seines Realeinkommens, zum Teil sogar Nominaleinkommens gegenüber dem Vorjahr ausgetragen werden darf.
Ich rede hier nicht dramatisch vom Untergang des Bauernstandes oder von ähnlichen Dingen. Aber wenn man von Gerechtigkeit für alle und der Erhaltung der Realeinkommen spricht, dann muß das in einer Zeit der allgemeinen Rohstoffverknappung und der damit verbundenen langfristigen gefährdeten Aspekte für den Bauernstand und die einheimische Nahrungsmittelproduktion genauso gelten.
Da aber ein Anstieg der Nahrungsmittelpreise auch als Folge der Brüsseler Beschlüsse — die ja auch eine pannenreiche Geschichte hatten, bei der die Bundesregierung zum Schluß zweiter Sieger blieb — nicht zu verhindern ist, werden wir uns nicht lange darüber freuen können, daß bei uns die Inflationsrate zu Lasten eines Sektors niedriger gehalten werden kann, nämlich eines Sektors, der im Warenkorb immerhin fast ein Drittel der zugrunde gelegten Güter ausmacht.
Außerdem ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt durch kein Konjunkturprogramm kurzfristig zu verbessern. Ich teile hier die Auffassung, die offensichtlich — jedenfalls nach vorliegenden Zeitungsmeldungen; siehe den Artikel in der gestrigen „Süddeutschen Zeitung" von Bundeswirtschaftsminister Friderichs — im Laufe der langen Auseinandersetzungen geäußert worden ist, daß nicht etwa der Mangel an Aufträgen, sondern in erster Linie die Investitionsmüdigkeit der Unternehmer der entscheidende Grund für die gegenwärtige konjunkturelle Misere darstellt. Ich komme darauf noch zurück.
Der Sachverständigenrat, auf den sich der Bundeskanzler heute berufen hat — nun, in der Not frißt der Teufel Fliegen oder sucht man seine Bundesgenossen, auch wo sie sich nicht gerade als besonders hilfreich erweisen —, hat ausgeführt — ich zitiere wörtlich —:
Was sich an Fehlentwicklungen über Jahre hinweg angestaut hat, kann nicht binnen kurzem behoben werden.
Von wem stammen denn diese Fehlentwicklungen?
— Ach Herr Ehrenberg, Sie sollten wirklich einmal zur Kenntnis nehmen, daß die Wiederholung von dummheitsgeladenen Unwahrheiten Sie auf die Dauer nicht zu berühmten Figuren der Zeitgeschichte macht.
Es ging niemals um die Verhinderung der Aufwertung, Herr Ehrenberg. Aber damals hatten Sie sich vielleicht noch mit Personalproblemen anderer Art beschäftigen müssen.
Es ging damals vielmehr darum, keine einseitige Aufwertung der D-Mark, sondern, wenn wir durchgehalten hätten, ein allseitiges „re-alignment" durchzuführen, das uns die Verzerrungen — siehe Agrarmarkt — erspart hätte. Aber das heißt in Zusammenhängen denken zu können, und die Gabe habe ich bei Ihnen noch nie bewundert.
Im Sachverständigengutachten heißt es weiter:
Durch expansive finanzpolitische Sonderprogramme würde sich an der Arbeitslosigkeit im kommenden Winter mit Sicherheit nichts ändern.
Damit darf ich zu dem Thema, das Zielorientierung des Konjunkturprogramms ist, noch einige Bemerkungen machen. Die Bundesregierung hat bei der Inflation ihre eigene Verantwortung und Schuld damit zu vertuschen und zu leugnen versucht, daß sie zuerst den Unternehmen, dann dem Ausland und schließlich den Olmachthabern die Schuld zuschob.
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Damit wollte sie auch den hausgemachten Teil der Inflation, der nach einer Äußerung des Bundeswirtschaftsministers vor wenigen Monaten in diesem Hause, also nach seiner eigenen Schätzung, etwa die Hälfte ausmacht, anderen anlasten. Bei der Arbeitslosigkeit, Herr Bundeskanzler, kann diese Behauptung, daß das Ausland schuld sei, nicht erhoben werden.
Denn der Exportüberschuß wird 1974 mit 50 Milliarden DM fünfmal so hoch sein wie das gesamte Finanzvolumen des neuen Konjunkturprogramms mit seinen rund 10 Milliarden DM.
Das Ausland kauft 1974 bei uns für 50 Milliarden DM mehr als wir im Ausland — aus welchen Gründen auch immer. Sie liegen sicherlich nicht so sehr bei unserer ruhmreichen Wirtschaftspolitik als bei der Disziplin unserer Arbeitgeber und Arbeitnehmer und ihrer gesamtwirtschaftlichen Leistung in der Bewältigung dieser Aufgabe.
Man kann sich nur noch mit Ironie daran erinnern, daß frühere Bundesregierungen, denen Sie, Herr Bundeskanzler ja auch als Konjunkturbremser oder als Konjunkturpolitiker angehört haben, dessen Zug in falscher Richtung fuhr — ich denke nur daran, wie Sie Herrn Minister Schiller in den Arm gefallen sind, als er gerade noch rechtzeitig, vielleicht sogar schon zu spät, eingreifen wollte, und welche Rolle Sie als Bundesminister der Finanzen gespielt haben —, schon einen Exportüberschuß von 25 Milliarden DM als ungesund erklärt und seinen schnellsten Abbau verlangt haben. Bei Vorhaben der Bundesregierung ist es fast immer so, daß jeweils das Gegenteil von dem eintritt, was sie mit Worten als Ziel erstrebt.
Der Exportüberschuß ist in diesem Jahr doppelt so hoch wie damals. Aber auch die Bundesregierung weiß doch, daß dieser Zustand nicht unbegrenzte Zeit anhalten kann. Aber die Tatsache, daß er in diesem Jahre 50 Milliarden DM beträgt, bedeutet, daß wir, während wir jetzt „nur" — ich sage das ironisch — 1,2 Millionen Arbeitslose haben, ohne diesen nach Meinung sozialdemokratischer Bundesregierungen ungesunden Exportüberschuß, also ohne die Tatsache, daß wir zuviel des Produktionspotentials ins Ausland fließen lassen, wir heute mehr als 2 Millionen Arbeitslose hätten. Es läßt sich nicht genau quantifizieren, aber wir müßten mit mehreren Millionen Arbeitslosen rechnen, wenn nicht diese außerordentlich hohe Nachfrage aus dem Ausland bisher zu diesem in der Geschichte der Bundesrepublik abnorm hohen Exportüberschuß geführt hätte.
Wenn trotzdem noch 1,2 Millionen Arbeitslose
übrigbleiben, dann könnte man sagen der Exportüberschuß müßte also noch höher sein, wenn diese
1,2 Millionen Arbeitslose nicht vorhanden sein sollten.
Nein, diese Arbeitslosigkeit ist die Folge einer fehlerhaften Konjunkturpolitik, einer falschen Prognosenstellung und einer Einlullung der Bevölkerung, aber auch des eigenen Sachverstandes. Ich erinnere an jene törichte Phrase, als ob man durch ein bißchen Inflation die Arbeitslosigkeit verhindern könne und die Inflation der Preis sei, den man eben in Kauf nehmen müsse, um die Vollbeschäftigung zu erhalten.
— Herr Carstens, trösten Sie sich: Für das Lachen gibt es immer ein Motiv; man darf es nur nicht in der Öffentlichkeit sagen, weil es sonst beleidigend klingt.
Zu dem gleichen Fehlerreservoir gehört auch die Tatsache — ich kann meinen Betrachtungen hier nur die Kontinuität sozialdemokratisch geführter Bundesregierungen zugrunde legen —, daß wir im Herbst 1969, als wir vor der heraufziehenden Inflationsgefahr gewarnt und mit einer Reihe von konkreten Vorschlägen, die ich wegen der Kürze der Zeit hier nicht wiederholen kann — ich bin bereit, sie Ihnen in der Debatte ins Gedächtnis zurückzurufen —, Stabilitätspolitik verlangt haben, das damals unsinnige Argument zu hören bekamen, man müsse für die Vollbeschäftigung sorgen. In einer 1 wirtschaftlichen Periode, in der 4 Milliarden DM Kassenüberschuß vorhanden waren und der laufende Haushalt ohne Kredit finanziert werden konnte, in einer Periode, in der wir — mit steigender Tendenz — 2,3 Millionen Gastarbeiter hatten, an die 800 000 offene Stellen bei einer nicht nennenswerten Zahl statistischer Arbeitsloser, von der Notwendigkeit der Erhaltung der Vollbeschäftigung zu reden und denen, die vor der Inflation warnen, den Wunsch zur Arbeitslosigkeit zu unterstellen, gehört zu den Erzsünden und Hauptfehlern sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik in diesem Hause.
Aber Sie wissen ja auch, Herr Bundeskanzler, daß dieser Zustand, wie erwähnt, dieser hohe Exportüberschuß nur kurze Zeit anhalten kann, Denn die anderen, die bei uns so viel mehr kaufen als wir bei ihnen, können nicht lange von ihren Reserven oder vom Pump leben, auch wenn wir unseren eigenen Export durch Kredite den Kunden zum erheblichen Teil vorher finanzieren — seien es bilaterale Kredite z. B. in Richtung Italien oder in Richtung Osten, Jugoslawien usw., seien es multilaterale Kredite über alle möglichen internationalen Institutionen.
Wodurch ist diese Lage entstanden? Die gegenwärtige wirtschaftliche Lage ist das Ergebnis schwerwiegender politischer Fehler und Versäumnisse der Bundesregierung in den vergangenen Jahren. Ich möchte es nur stichwortartig zitieren.
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Aber wir werden uns nicht immer darauf einlassen, daß gesagt wird: Was würdet ihr jetzt tun, damit die Lage morgen besser wird? Wer für heute diese Frage stellt, muß die Verantwortung für seine Mitwirkung und Schuld der letzten Jahre offen anerkennen.
Die Staatsfinanzen wurden durch eine inflationäre Versprechungspolitik zerrüttet. Darüber wird noch viel zu reden sein, bei dieser Debatte und vor allen Dingen bei der Haushaltsdebatte.
Der zweite Grund: Die Steuerpolitik, zum Teil die Gesellschaftspolitik dieser Bundesregierung erprobte nach dem Rezept von Jochen Steffen die Belastungsfähigkeit der Wirtschaft und schmälerte damit ihre Investitionsfähigkeit und ihre Investitionsbereitschaft. Die Erprobung der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft erweist sich jetzt als leichtfertiges Spiel mit der Sicherheit der Arbeitsplätze, auch wenn es seinerzeit gesellschaftspolitisch getarnt vorgetragen wurde.
Der Staat lebte doch in seiner Ausgabengestaltung von der Besteuerung nominaler Einkommenszuwächse und von der Substanzbesteuerung auch der Scheingewinne. Die Tatsache, daß die Lohnsteuer im Jahre 1964 16 Milliarden DM erbrachte und in diesem Jahre — trotz zurückgehender Beschäftigung —74 Milliarden DM, zeigt doch, woher die Hauptmasse des Finanzierungsvolumens kam, nämlich von einer inflationär bedingten Steuermehreinnahme. Bei den nur auf das Doppelte gestiegenen Erträgen der veranlagten Einkommensteuer, die nur die Marke 200 erreicht haben, während die Lohnsteuer die Marke 460 in zehn Jahren erreicht hat, mußten auch die Scheingewinne herhalten, um der Regierung die Finanzmasse für ihre leichtfertige Finanzpolitik, die trotzdem zur Zerrüttung der öffentlichen Haushalte geführt hat, zur Verfügung stellen zu können.
Drittens. Der Unternehmer wurde verteufelt. Die zur Aufrechterhaltung der Investitionen und der Arbeitsplätze notwendigen Gewinne wurden als kapitalistische Profite hingestellt. Wir konnten ja nur — mit weniger Schadenfreude als vielmehr mit ironischem Ingrimm — in den letzten Monaten vernehmen, daß vom „kapitalistischen Profit" immer weniger die Rede war. Dieser Begriff wurde nur noch mit Schalldämpfer angewendet.
Man sprach wieder, ohne allzuviel Furcht vor den eigenen Reihen zu haben, von der Notwendigkeit der Erträge. Aber weh dem, der diese Meinung schon immer oder früher als die heutigen Machthaber vertreten hat!
Der war selbstverständlich ein „Vertreter des großen Geldes", ein „Kapitalistenknecht", ein „Millionärslakei" und ein „Vertreter einer soziologischen Minderheit", gegen die man als die Schuldigen am eigenen Versagen den Volkszorn zu entfesseln versuchte.
Besonders unverantwortlich waren die bösartigen Beschimpfungen aller Unternehmer und Selbständigen im Rahmen der Aktion „Gelber Punkt", hinter der damals der SPD-Parteivorstand stand. Von diesem Appell an niedrigste Neidkomplexe will der Bundeskanzler, der heute wie damals stellvertretender Parteivorsitzender ist, nichts mehr wissen. Denn sein leicht verdunkelter Ruhm würde für die Nachwelt völlig verblassen,
wenn er bei dieser Einstellung geblieben wäre. Darum handelt er heute nach dem Rezept: Am besten die eigene Partei ignorieren, sie kann ohnehin nicht mehr ohne ihn, weil er das letzte Aufgebot für sie darstellt.
Herr Bundeskanzler, Sie haben auch in Ihrer Zeit als Bundesfinanzminister und vorher als Verteidigungsminister ein Langzeitprogramm verabschiedet, das Langzeitprogramm der Langzeitkommission der SPD,
in dem die Erhöhung der Staatsquote, die heute durch die heimlichen Steuererhöhungen zwischen 24 und 25 °/o liegt, als Zukunftsorientierung auf über 30 °/o verlangt worden ist. Man stelle sich vor, welche zusätzlichen Steuerlasten das bringt. Die Sozialquote kommt ja noch hinzu. Es handelt sich hier ja nur um die Staatsquote. Mit der Sozialquote zusammen ergibt das an die 45 °/o. Das haben Sie seinerzeit mit Ihrem Namen vertreten, federführend ausgearbeitet, haben dafür noch die Prügel aus den eigenen Reihen bekommen und sich zum Schluß noch lebhaft zur Wehr gesetzt, ohne den Blödsinn abzubauen, an dessen Entstehung Sie seinerzeit führend mitgewirkt haben. Man stelle sich vor, was bei einer Staats- und Sozialquote von zusammen 45 °/o, davon 32 % Staatsquote, herauskäme, wenn bei einer Steuerbelastung zwischen 24 und 25 °/o und bei einer abenteuerlich hohen Kreditaufnahme noch zusätzlich weitere Belastungen von der Wirtschaft in Kauf genommen werden müßten.
— Ich komme zu allem. Ich weiß, daß Ihnen die Darstellung der Zusammenhänge sehr unangenehm ist.
Der Hinweis darauf bestärkt mich, davon nicht abzulassen.
Sie wissen doch selbst, daß die Produktion, wenn man das dritte Quartal 1974 mit dem dritten Quartal 1973 vergleicht, rückläufig war, im Hochbau bei 18 °/o, im Fahrzeugbau bei 11 °/o, im Bekleidungssektor bei 16 °/o. Von 20 untersuchten Industriezweigen hatten Papier, Chemie, Eisen und Stahl und ganz gering Elektrotechnik noch einen Zuwachs. Bei 16 Industriezweigen war ein echter Rückgang festzustellen.
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Die Deutschen haben weniger verdient als vorher. Das hätte seinen Niederschlag in einer geringeren Steigerung der Löhne und Gehälter als 1973 finden müssen, meinten die Bundesbank und der Sachverständigenrat. Das wäre auch möglich gewesen, wenn Sie, Herr Bundeskanzler, endlich einmal einsähen, daß die von uns im Jahre 1973 Ihnen ab 1. Januar 1974 angebotene Steuersenkung der geeignete und durchsetzbare Weg gewesen wäre, um eine weniger starke Erhöhung der Löhne und Gehälter sozialpolitisch, gewerkschaftspolitisch vertreten und durchhalten zu können. Hier haben Sie doch kraß versagt!
So sind die Löhne und Gehälter im Jahre 1973 um 10 °/o gestiegen, im Jahre 1974 um 12 °/o, und die Lohnstückkosten sind von 1973 auf 1974 um 10 °/o gestiegen. Das ist wieder derselbe Satz gewesen wie im Jahre 1970, der damals doch ohne jeden Zweifel inflationär fördernd gewirkt hat.
Ich gebe Ihnen völlig recht, daß die Ölkrise, oder was man Ölkrise nennt, schwerwiegende Folgen hat. Nur kann man nicht alles in diesen Papierkorb werfen.
Die Probleme werden uns noch zusätzlich beschäftigen; sie sind kein Alibi für das, was wir bisher zu verzeichnen haben.
Eine Folge dieses Zustandes sind ja auch die 7 500 Insolvenzen des Jahres 1974. Das sind 30 °/o mehr als im Jahre der meisten Insolvenzen seit dem zweiten Weltkrieg, dem Jahre 1951. Zum Vergleich die Zahlen aus den so oft beschworenen Rezessionsjahren 1966/67: Im Jahre 1966 waren es 3 615 und 1967 4 337. Dabei ist bedauerlicherweise der Mittelstand mit Abstand am stärksten betroffen. Das ergibt eine Strukturänderung unserer Wirtschaft, die in einem geradezu schreienden Gegensatz zu dem steht, was von sozialdemokratischer Seite immer als Förderung selbständiger Existenzen und damit Förderung des Mittelstandes gegen Aufsaugung durch die Großen in verbalen Kraftleistungen herausgestellt wird. In Wirklichkeit geht der Weg umgekehrt.
Fünfter Grund: Die Führungsfunktion der Lohnpolitik wurde sträflich vernachlässigt, was 1973 zur Signalwirkung des öffentlichen Dienstes für die konjunkturell unverantwortliche Expansion führte.
Sechstens. Die von der Opposition seit Mitte 1973 geforderte Entlastung von den heimlichen Steuererhöhungen wurde von der Koalition abgelehnt. Die Vorgänge sind dem Hohen Hause bekannt. Ich habe vorhin nur kurz darauf hingewiesen. Ihre Unfähigkeit zur Einsicht, Herr Bundeskanzler, bezüglich der Steuerentlastungen zum Januar 1974 — weil damals bereits der Inflationsgrund in der Hauptsache kostenbedingt und nicht mehr nachfragebedingt war — hätte Ihnen auf der Kostenseite, nämlich an der Tariffront, etwas Entlastung um ein paar Prozentpunkte unter die 10-%-Grenze doch verschaffen können.
Und dann kann ich mir ja eine Bemerkung natürlich hier auch nicht ersparen: Wenn wir nicht durch unseren Druck auf die Bundesregierung, bei dem wir ausnahmsweise mal vom DGB und anderen Gewerkschaften unterstützt wurden, wenigstens die Vorziehung des Termins vom 1. Januar 1976 auf den 1. Januar 1975 erreicht hätten — Sie wissen: die Vorgänge bei der Arbeitnehmerkonferenz der SPD, wo ihr Vorsitzender bei der Konferenz erklärt hat „Runter mit der Lohnsteuer!", um am Freitag darauf im Bundestag gegenteilig zu stimmen —
— aber das eine war sozial, das andere war politisch, oder demokratisch —,
wenn wir nicht diesen Termin 1. Januar 1975 errungen hätten: wer glaubt denn heute ernsthaft noch, daß bei d e r Entwicklung der Finanzsituation der öffentlichen Haushalte, der parafiskalischen Haushalte, von Bahn und Post, eine Steuersenkung im Jahre 1976 überhaupt noch möglich gewesen wäre? Das Alibi war ja schon bestellt, nämlich daß die „Finanzierung der Reformpolitik", wie ja inflationäre Gestaltung der öffentlichen Haushalte immer öffentlich ausgewiesen wird, es leider nicht erlaube, diese Steuersenkung vorzunehmen. Daß die Arbeitnehmer in den Genuß dieser Steuersenkung kommen, das ist dem Vorstoß der CDU/CSU vom Sommer 1973 zuzuschreiben, nicht den guten Absichten der Bundesregierung.
Ein weiterer Grund ist die Verniedlichung der Inflation und ihrer Folgen. Ein weiterer Grund: der Bundeskanzler versucht ständig den Eindruck zu erwecken, daß die Inflation der Preis für die Vollbeschäftigung sei. Nach dem Motto „Augen zu" hat er —
— Sie kennen doch den Witz, wo das Kind neben der Mutter sitzt und sagt: „Mami, darfst die Augen aufmachen, der Lastwagen ist schon vorbei!" Nach diesem Motto handelt doch die Bundesregierung seit einiger Zeit.
Denn wenn ich das Interview des Herrn Bundeskanzlers aus der „Zeit" nehme. wo er sagt — —
— Gerne für Sie, Herr Wehner; Sie scheinen allmählich auch zweimal hören zu müssen, bis Sie etwas begreifen; das war früher besser bei Ihnen!
„Man wird zur Jahreswende", sagt der Bundeskanzler, „oder zu Beginn des Jahres 1975 noch erkennen sowohl in den Hauptquartieren der konservativen Partei" — wunderbarer Titel, Herr Bundeskanzler, das klingt so markig - „als auch in den wirtschaftswissenschaftlichen Instituten" — die
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sicher für die Nachhilfe sehr dankbar sein werden, wenn Sie sagen —: „Mein im Mai 1972 geprägtes Wort" — 5 °/o Preissteigerung sind zwar schlimm, aber eher zu ertragen als 5 °/o Arbeitslosigkeit — „war richtig, nicht nur für 72, auch für 75 ein absolut notwendiger Maßstab".
Die 5 °/o Preissteigerung haben wir längst überschritten, und in der Zwischenzeit sind wir auf dem Wege zu 5 % Arbeitslosigkeit. Sie werden, wenn sie erreicht sind, sicherlich in einem weiteren Interview in der „Zeit" zwei oder drei Jahre später, wenn Sie nur könnten, eine neue Begründung der Richtigkeit Ihrer seinerzeitigen Äußerung finden.
Aber das sind nicht nur Versuche zur Irreführung der Arbeitnehmer, sondern das ist nach der Beurteilung des Sachverständigenrates „ein folgeschweres Mißverständnis der Wirtschaftspolitik, das ein rechtzeitiges Gegensteuern verhindert hat". So der Sachverständigenrat, auf den Sie sich in Ihren Ausführungen berufen.
Geradezu grotesk ist die Vorgeschichte des jetzigen Programms. Seit Monaten wird das Ob und Wie eines Konjunkturprogramms im Regierungslager beraten. Am 27. November gab Herr Grünewald bekannt, daß die Regierung sich über das Konjunkturprogramm weitgehend einig sei. Jetzt müssen Bundestag und Bundesrat innerhalb von nur 5 Arbeitstagen über ein Programm entscheiden, das ihnen gestern mittag erst in Umrissen zugeleitet worden ist! Herr Bundeskanzler, hier vermissen wir den
) Respekt vor der Arbeitsfähigkeit des Parlamentes unter Berücksichtigung seiner Rechte und Interessen.
Schon am 19. August 1974 erklärte Minister Apel in Berlin, die Regierung werde in den nächsten Wochen ein neues Konjunkturprogramm vorlegen, das sich sehen lassen könne. Das war im August! Nur drei Tage später bezeichnete er in Köln — bezeichnenderweise bei der Eröffnung der Herrenmodemesse — die Konjunkturlage als alles in allem befriedigend. Und der Bundeskanzler sagte Anfang September in einem Interview mit dem Dortmunder Magazin „Bilanz" : Wer zu früh nervös wird oder zu große Spritzen gibt, erzeugt Preisauftrieb. Am 4. September schloß er nach einer Sitzung des SPD-Parteipräsidiums einen generellen Kurswechsel in der Konjunkturpolitik ausdrücklich aus.
Die konjunkturpolitische Argumentation beschränkte sich in den folgenden Wochen auf die ständig wiederholten Hinweise des Kanzlers auf die 10 Milliarden DM im Keller der Bundesbank, die Geheimwaffe. Er versuchte, den falschen Eindruck zu erwecken, damit einen weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit jederzeit innerhalb kürzester Zeit stoppen zu können. — Das Herbstgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute sagte in der zweiten Oktoberhälfte voraus, eine Million Arbeitslose seien unvermeidlich. Regierungspartei und Helfershelfer zeigten sofort große Entrüstung; Herr Grünewald kritisierte das Fehlen einer Begründung. Staatssekretär Schlecht vom Bundeswirtschaftsministerium
nannte die Prognose fragwürdig; ich gebe zu, es war eine schwierige Situation für ihn. DGB-Chef Vetter ging weiter: unseriös. Er sprach auf einem Kongreß der Deutschen Postgewerkschaft am 22. Oktober in Hamburg von einem Geschäft mit der Angst und warf den Instituten vor, mit ihrer Prognose einen Beitrag zum Wahlkampf in Hessen und Bayern liefern zu wollen. Zugleich ließ der DGB eine Meldung bekanntgeben — und später wieder dementieren —, sein Institut erwarte höchsten 700 000 Arbeitslose.
Noch auf dem Deutschen Genossenschaftstag in Hamburg stellte Minister Friderichs Ende Oktober die Prognose über eine Million Arbeitslose in Zweifel und lehnte eine allgemeine Konjunkturbelebung ausdrücklich ab. In der ersten Novemberwoche erklärte der Kanzler in der „Zeit" :
Je nachdem, wie sich der weltwirtschaftliche Prozeß auf unsere eigene Wirtschaft auswirkt, gehe ich davon aus, daß wir gegen Ende des Jahres 1974 oder zu Beginn 1975 in eine bewußte Umsteuerung unserer eigenen Konjunkturpolitik eintreten werden.
Jeder konnte sich aus diesem sibyllinischen Katalog das herauslesen, was er wollte. Am 13. November las man, daß der Bundeskanzler vor seiner Fraktion konjunkturstützende Maßnahmen in der zweiten Dezemberhälfte angekündigt hätte — der Termin ist jetzt sogar unterschritten worden —, was allerdings am nächsten Tag von Regierungssprecher Grünewald dementiert wurde. Nach Vorlage des Gutachtens des Sachverständigenrates, das die Prognose der Wirtschaftsforschungsinstitute bestätigte, verlangte die SPD am 22. November durch Herrn Ehrenberg im Gegensatz zu den Vorschlägen des Sachverständigenrates zügig weitere konjunkturell expansiv wirkende Investitionen unter Einsatz der Konjunkturreserven. Diese Forderung wies Finanzminister Apel in Stuttgart zurück; er sprach sich dort gegen allgemeines Durchstarten aus.
Der Kollege Kirst von der FDP beharrte noch Anfang Dezember auf der Durchhalteparole: keine dringende Notwendigkeit für zusätzliche Programme zur Konjunkturbelebung. Anfang Dezember! Der Bundeskanzler kündigte zur gleichen Zeit — am 3. Dezember — an, jetzt sei die Zeit des Umsteuerns gekommen. Die FDP am Tage danach: Wir treten allen Spekulationen entgegen, der Zeitpunkt des Umsteuerns in der Konjunkturpolitik sei gekommen.
Gleichzeitig wurden fast täglich neue Meldungen über die Beratung der Konjunkturlage innerhalb der Regierung herausgegeben, Meldungen über Gespräche im Kabinett -- 27. November: angeblich volle Einigkeit, wie immer —, über Gespräche zwischen einzelnen Ministern mit dem Bundesbankpräsidenten und wiederum zwischen Bundeskanzler und einzelnen Ministern.
Was uns hier besonders stört, ist die völlig zweckwidrige und sachfremde Orientierung an Wahlterminen. Konjunkturpolitik darf nicht nach Landtags-
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wahlterminen — auch nicht nach Bundestagswahlterminen — gemacht werden.
Sie wissen, was die „Frankfurter Allgemeine" dazu schrieb:
Werden in Wahlzeiten konjunkturpolitische Entscheidungen dringend, müssen sie getroffen werden. Fällt man sie aber nur deswegen, weil gerade eine Wahl ins Haus steht, hat der Wahlkampf nicht das Wohl, sondern die Bestechung der Wähler im Sinne.
Bezeichnend für den Führungsstil des Herrn Bundeskanzlers ist ja das, was laut „Süddeutsche Zeitung" Herr Bundeswirtschaftsminister Friderichs gesagt haben soll, als Herr Schmidt ankündigte, daß zur Jahreswende die Zeit zum Umsteuern gekommen sein müsse. Da meinte der Bundeswirtschaftsminister, durch mehrere Auslandsreisen den Kampfplatz aus der Ferne beobachtend — so heißt es —, zu Schmidts Vorpreschen: „Noch haben wir ja wohl keine Präsidialverfassung."
Ob er den Standpunkt durchhalten wird, wird der Zukunft vorbehalten bleiben.
— Manchmal läßt sich auch der Monarch huldvoll zu Untertanen herab.
Am 17. November 1974 warnte Minister Friderichs vor Hektik in der Konjunkturpolitik. Vor fünf Tagen forderte die FDP zum wiederholten Male eine Konjunkturpolitik der ruhigen Hand. Im Gegensatz dazu wird dem Parlament jetzt eine Frist bis zum kommenden Donnerstag gesetzt. Das ist ein Skandal, Herr Bundeskanzler!
Die Regierung hat Monate und Wochen gebraucht, um die Umrisse zu erarbeiten, und jetzt sollen die erste, zweite und dritte Beratung im Plenum, die Vorberatungen in Fraktionen und Arbeitskreisen, die Ausschußsitzungen und die abschließende Entscheidung des Bundesrates im Laufe von sage und schreibe sechs Tagen erfolgen. Unter diesem Zeitdruck ist eine sachliche und ausgewogene Beratung unmöglich.
Die Regierungsparteien lassen es zu, daß die Regierung den Gesetzgeber zu einer Akklamationsmaschine in beiden Kammern degradiert. Die CDU/ CSU-Fraktion hätte sich ein solches Verhalten in vergleichbarer Lage von einer ihrer Regierungen nicht gefallen lassen.
Das ist um so schlimmer, Herr Bundeskanzler, weil, wie sich jetzt herausstellt — was wir gar nicht geglaubt, gar nicht für möglich gehalten haben -, Ihre Umstellung von Investitionsprämie auf Investitionsumlage
— ich weiß, daß Sie sich an solchen Dingen erheitern können; das spricht für den Horizont, mit dem Sie die Dinge betrachten —,
die Umstellung von der Prämie zur Umlage — —
— Meine sehr geehrten Damen und Herren: von der Umlage zur Prämie.
Aber in der Umgebung wird man, na ja, ich möchte sagen: Es besteht immer die Gefahr der Assimilation an die Verwirrung.
Diese Umstellung, Herr Bundeskanzler, haben Sie heute mit schönen Worten begründet. Das wirke schneller. Sagen Sie doch die Wahrheit: Der Betriebsverlust des Volkswagenwerkes von 700 Millionen DM und mehr in diesem Jahre war entscheidend bei der Überlegung, diese Umstellung auf die Investitionszulage vorzunehmen.
Aber hier handelt es sich ja auch um ein Unternehmen, das von der Wirtschaftsführungskunst des zuständigen Landes und des Bundes in besonderer Weise geprägt ist, wie sich im Laufe der letzten Jahre gezeigt hat.
Aber bei dieser Umstellung, Herr Bundeskanzler, hätten Sie doch den Ländern und den Gemeinden vorher sagen müssen, daß die Lasten aus diesem Programm zum größten Teil von ihnen getragen werden. Es ist ein in der Geschichte des Zusammenwirkens von Bundesregierung und Bundesrat einmaliger und unerhörter Vorgang, daß man die Länder und Gemeinden darüber im unklaren läßt. Sie haben erst gestern davon erfahren. Gestern noch wußten die sogenannten Experten in diesem Hause nicht einmal, daß es so gehandhabt werden soll, daß 57 % — 43 plus 14 — bei der Einkommensteuer und 50 % Einnahmeverluste bei der Körperschaftsteuer von den Ländern und Gemeinden zusammen — im ersten Fall, die 57 % — bzw. allein von den Ländern
— im anderen Fall, die 50 % — getragen werden sollen mit dem trostvollen Hinweis, daß ja die steuerbelebenden Wirkungen dieser Maßnahmen sie über diesen Verlust eines Tages wieder hinwegtrösten würden.
Das ist ein Vorgang der Mißachtung der Länder und eine skandalöse Behandlung der Länder, eine Verletzung der notwendigen Formen der Zusammenarbeit zwischen der Bundesregierung und dem Bundesrat. Und das, Herr Bundeskanzler, gilt ja
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nicht nur für die CDU/CSU-regierten Länder. Nur haben die allein noch die Möglichkeit, ihren Unmut zur Geltung zu bringen; die anderen in ihrer Überlebensangst wagen es ohnehin kaum mehr, sich zu äußern.
Das sogenannte Konjunkturprogramm der Bundesregierung läßt sich dahin kennzeichnen: zu spät und zuviel für zuwenig. Die Folgen der jahrelangen Mißwirtschaft bei den Staatsfinanzen können ohnehin nicht allein mit einer vorübergehenden Konjunkturspritze beseitigt werden. Durch diese Mißwirtschaft ist ein Vertrauensschwund eingetreten, ein negatives Investitionsklima entstanden, das nur durch eine grundsätzliche Änderung der gesamten Politik, durch einen Neubeginn wiederbelebt werden kann. Dazu ist diese Regierung nicht mehr fähig; Sie haben den Vertrauenskredit verspielt. Es sind nicht nur materielle Gründe, wie Sie es darstellen, es sind in erster Linie Vertrauensgründe — neben den materiellen —, die zu der heutigen Situation geführt haben.
Und jetzt sagen Sie ja nicht, wie am Ende Ihrer Darlegung: „Wenn irgendwo von Verunsicherung die Rede ist, dann sage ich, macht Schluß mit der Verunsicherung!" Das ist doch die Reihenfolge der Parole: Haltet den Dieb! Wer hat denn die deutsche Wirtschaft verunsichert, wer hat denn von der Vergesellschaftung der Produktionsmittel gesprochen, wer hat denn vom Nutzungseigentum beim Boden gesprochen, wer hat denn die Unternehmer laufend beschimpft, wer hat denn Investitionskontrolle verlangt, und wer hat die Verstaatlichung von Banken und Versicherungen verlangt!? — Doch die Kreise!
— Das spricht für Ihr Niveau, lieber Herr Wehner. Ich heiße aber nicht Gscheidle, bloß damit sie es wissen.
Das zeigt doch, wie tief Sie getroffen sind und wie unendlich tief Sie gesunken sind, Herr Wehner.
Wenn Sie sich so äußern, haben diejenigen recht, die der Meinung waren, daß Sie nie in ein demokratisches Parlament gehört hätten.
Wer hat denn diese Panikmache betrieben? Darf eine Opposition nicht mehr das sagen, was sie für richtig hält? Darf eine Opposition nicht mehr für die Zukunft sagen, was dann tatsächlich eintritt? Darf eine Opposition nicht mehr warnen? Betrachten Sie uns als Gesangverein, der immer Ja und Heil schreien soll, wenn Sie falsche Prognosen ausgeben?!
So kann man die Zusammenarbeit zwischen Regierung und Bundesrat nicht wahrnehmen, wie es hier
aus diesem Stil sichtbar ist. Das muß einmal von dieser Stelle aus gesagt werden.
Oder glauben Sie auch, daß der Unternehmer, der diesen dramatischen Leserbrief — vielleicht überspitzt —, wie in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" veröffentlicht, geschrieben hat: „Ich gebe auf", von der CDU/CSU dazu angestiftet war?
Glauben Sie, daß die Tausende von Mittelständlern, die nicht mehr weitermachen wollen — zum Teil, weil sie nicht mehr können, zum Teil, weil sie entmutigt sind —, Agenten der CDU/CSU sind? Das sind die Folgen der jahrelangen gesellschaftspolitischen Drohungen, die von Ihrer Seite und Ihren Freunden hier ausgestoßen worden sind.
Trotz der Schärfe meiner Kritik, Herr Bundeskanzler, sage ich: Die Situation ist so unangenehm und so ernst, daß wir die Zusammenarbeit mit der Bundesregierung in dieser Lage nicht schlechterdings ablehnen, daß wir nicht ein Nein zu diesem Programm schlechthin sagen.
Wir sagen, daß wir gegenüber diesem Programm schwerste Bedenken haben.
— Kommt alles, kommt alles, noch habe ich zwölf Minuten Zeit. — Das deutsche Volk, das diese Debatte heute weitgehend verfolgt, soll wissen, daß hier ein einmaliger Versuch der Vernebelung, der Vertuschung und Verwischung von Schuld und Verantwortung geschieht.
Wir lassen uns nicht zu Komplizen für den Zustand machen, der heute durch dieses Konjunkturprogramm angeblich behoben werden soll.
— Der Freitag, der 13., wird für Sie noch oft ein unangenehmes Datum werden, Herr Wehner. Ich glaube, daß die Götterdämmerung auch für Sie angebrochen ist, auch ohne Freitag, den 13.
Stehen wir denn nicht vor der Zerrüttung der Staatsfinanzen?
Sind nicht Bahn und Post als Folge der inflationären Entwicklung in einer unmöglichen Finanzsituation? Ist Nürnberg nicht unfähig, zu zahlen, wenn der Bund nicht die Kredite gibt? Ist nicht die öffentlich-rechtliche Krankenversicherung heute darauf angewiesen, massive Beitragserhöhungen
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und damit Verminderung des Konsumeinkommens der Arbeitnehmer aus der sogenannten Steuerreform verfügen zu müssen? Ist denn das alles nicht wahr?! Wer hat denn die in der Großen Koalition beschlossenen Maßnahmen zur Verbesserung der Finanzsituation rückgängig gemacht und die Schuld auf die CDU/CSU abwälzen wollen?
Diese Sünden zahlen sich doch heute aus, wie sich Demagogie in der Finanzpolitik immer auszahlt, und zwar negativ. Das muß hier einmal gesagt werden.
Wir identifizieren uns nicht mit diesem Programm, aber wir werden die Teile des Programms, die mit Abstand die zweitbeste Lösung möglicher Lösungen darstellen, im Bundestag und im Bundesrat, wenn bestimmte Probleme noch geklärt werden — im Bundesrat nach meiner Kenntnis der dort vorhandenen Zusammenhänge , nicht behindern.
Die Bundesregierung ist jetzt wieder bereit, den Wert privater Investitionen anzuerkennen. Aber ob das hier vorgesehene Gießkannenprinzip geeignet ist, die Investitionsbereitschaft bei denen zu heben, die entweder nicht mehr können oder nicht mehr wollen, ist eine andere Frage. Bei den anderen ist es so, daß sie die Investitionsbegünstigung als eine willkommene Vermehrung ihrer Liquidität betrachten, ohne darauf angewiesen zu sein.
Sie wissen doch: Wenn ein Unternehmen — ein Konzern oder ein Unternehmen ähnlicher Größenordnung — eine Investitionsplanung vornimmt, ist es eine Planung über eine Reihe von Jahren hinweg. Diese Planung wird oft prozyklisch und antizyklisch durchgeführt. Sie wird meist ohne Rücksicht auf die Konjunkturlage oder auch auf die Steuerbelastung durchgeführt.
Bei den mittleren und kleinen Unternehmen ist es in der Hauptsache anders. Darum besteht doch bei diesem Programm die Gefahr, daß hier Millionen von Steuermitteln denen zugute kommen, die es nicht brauchen, und daß diejenigen, die es brauchen, mit Abstand nicht das erhalten, was zum Überleben und zu einer Ermutigung in ihrer unternehmerischen Existenz notwendig wäre.
Das ist es, was wir, ohne sie abzulehnen, gegen diese Investitionszulage hiermit an Vorbehalten und Bedenken nennen.
Wir halten die Lohnkostenzuschüsse für eine Art produktiver Arbeitslosenfürsorge. Wir werden Sie auch hier nicht behindern. Aber dann muß der Bund zuerst der Bundesanstalt in Nürnberg den Kredit geben, damit Nürnberg zahlen kann. Die Verlängerung zur Zahlung des Kurzarbeitergeldes von 12 auf 24 Monate zeigt doch, was Sie selbst von der wirtschaftlichen Entwicklung in den nächsten zwei Jahren halten. Was hier an Mittelstandsförderung über ERP-Mittel, die Kreditanstalt für Wiederaufbau, vorgesehen ist, findet unsere Billigung, unterliegt aber der Kritik, die ich vorhin schon geäußert habe.
Hier wird zu spät zuviel für zuwenig ausgegeben. Aber das Ganze ist ein Kompromiß, der nach jahrelangem Hin und Her der Konjunkturbeurteilung und nach monatelangen Kontroversen nun endlich das Licht der Welt erblickt hat. Wir werden uns in den Ausschüssen oder bei anderer Gelegenheit im einzelnen darüber unterhalten. Aber unser Hauptbedenken ist: zu spät zuviel für zuwenig. Das gilt vor allen Dingen für die investitionsfördernden Maßnahmen, die in dieser Form nach dem Gießkannenprinzip wahrlich nicht der Weisheit letzten Schluß darstellen.
Aber Sie sollen sich nicht darauf berufen können, Herr Bundeskanzler, wenn diese Maßnahmen nicht ihr Ziel erreichen.
Wir liefern Ihnen hier kein neues Alibi, wie Sie es heute bereits aufzubauen begonnen haben: Wenn die Unternehmer nicht investieren, ist die CDU/ CSU daran schuld. Wenn die Preise erhöht werden, sind es die Unternehmer. Auf dieses Spiel lassen wir uns nicht ein, daß Sie, von der Wirkungslosigkeit Ihrer Maßnahmen oder von der mangelnden Wirksamkeit heute bereits furchtmäßig befallen, von neuem Schuldige suchen, wie es früher bei der Inflation der Fall gewesen ist.
Wir nehmen auch die zweitbeste Lösung nach gründlicher Beratung und hoffentlich einigen Korrekturen in Kauf. Aber wir sagen: Das ist mit Abstand die zweitbeste Lösung.
— Sie irren; ich habe genau noch acht Minuten.
Was hätte getan werden müssen? Nach unserer Auffassung wären nicht nur kurzfristige, sondern auch Dauermaßnahmen zu treffen, die eine tatsächliche Verbesserung des Investitionsklimas herbeiführen. Ich habe eine Reihe dieser Maßnahmen genannt. Die Erhöhung der vermögensabhängigen Steuern ab 1975 für die Wirkung eines Jahres mit 2,5 Milliarden DM ist doch Gift in dieser wirtschaftlichen Situation.
Ich wundere mich darüber, wie Herr Kollege Friderichs und Frau Liselotte Funcke dazu kommen, zu sagen, die CDU/CSU hätte dem ja keine Aufmerksamkeit gewidmet, hätte nicht darum gekämpft. Ist es denn nicht so gewesen, daß im Finanzausschuß die Vorschläge der CDU/CSU-Vertreter, diese
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Vermögensteueranhebung zu unterlassen, von den Regierungsparteien einschließlich Frau Funcke abgelehnt worden sind?
Ist es denn nicht so, daß in der Nacht im Bundeskanzleramt, wo wir über den Kompromiß wegen der Behandlung der Sonderausgaben uns gestritten und dann geeinigt haben, der anwesende Herr Genscher kein Wort sagte, als ich das Thema Verzicht auf Vermögensteueranhebung ins Gespräch brachte? Ist es denn nicht wahr, daß mir gesagt worden ist, darüber könne man jetzt nicht mehr reden, der Zug sei abgefahren? Und warum war er abgefahren? Weil Sie, Herr Bundeskanzler mit Recht Angst hatten, in Ihren eigenen Reihen
sich gegen diese falsche Ideologie einer ständig stärkeren Vermögensbesteuerung zur Wehr zu setzen. Darum ist das so.
Viel wichtiger als Investitionsspritzen ist die Verbesserung der Ertragslage der Unternehmen und ihrer Liquidität aus sich selbst heraus. Das sind mittelfristige Maßnahmen. Was Sie hier vorlegen, ist eine kurzfristige Maßnahme, die als Spritze sozusagen wie ein plötzliches Aufputschungsmittel wirken soll. Was wir brauchen, ist eine langfristige Verbesserung des Klimas und eine mittelfristige Verbesserung der Liquidität. Über den Rest brauchten Sie sich dann keine Sorgen mehr zu machen. Aber die Gegner Ihres Erfolges, Herr Bundeskanzler, sitzen doch nicht hier, die sitzen doch hier, auf der Seite des Hauses .
Man hätte auch — und ich bin froh darüber, daß Sie es wohlwollend erwähnt haben — den Verlustrücktrag wenn nicht für zwei Jahre, dann für ein Jahr einbauen müssen. Das hätte sofort sowohl das Vertrauensklima wie die Liquidität verbessert.
Man kann sehr wohl auch daran denken, die Umstellung der Abschreibung nicht auf einmal vorzunehmen. Ich weiß, daß diese Maßnahmen, die ich nenne, nicht kumuliert auf einmal angewandt werden dürfen: Verbesserung der degressiven Abschreibung auf das Zweieinhalbfache der linearen Abschreibung, die Anpassung der Steuerbilanz an die Handelsbilanz, um die Besteuerung der Scheingewinne endlich einmal zu beenden, dann die Einführung des Lifo-Verfahrens für die Vorratsvermögen. Und wer eigentlich hat diese Regierungskoalition auf die abwegige Idee gebracht, die von uns seinerzeit eingeführte steuerliche Begünstigung von Investitionen auf dem Gebiete wissenschaftlicher Forschung und technischer Entwicklung ab 1. Januar abzubauen? Das ist ein geradezu schreiender Beweis dafür, wie hier verbale Beteuerungen auf der einen Seite und tatsächliches Handeln in Gesetzgebung und Regierung auf der anderen Seite in einem nicht auflösbaren Gegensatz stehen.
Was wir hier vertreten, ist keine obstruktive Opposition. Wir vertreten hier und haben immer vertreten die Stimme der wirtschaftlichen Vernunft, auch wenn wir deshalb diffamiert und denunziert worden sind. Wenn diese Stimme der wirtschaftlichen Vernunft ernstgenommen worden wäre, gäbe es heute nicht 1,2 Millionen Arbeitslose und Kurzarbeiter, wäre die Inflationsrate niedriger, und Sie bräuchten keine solchen Klimmzüge hier zu machen, Herr Bundeskanzler, wie Sie es bei dieser Rede unter völliger Leugnung Ihrer früheren Äußerungen, unter völliger Verwischung von Ursache und Wirkung, unter Vorschiebung neuer Schuldiger schon für die Zukunft bei dieser Regierungserklärung haben tun müssen. Das ist die Wahrheit, und das ist der Zusammenhang, der hier herausgestellt werden muß.
Sie können nicht sagen, die Steuerausfälle wären dann größer. Erstens weiß das kein Mensch. Sie wissen auch, Herr Bundeskanzler, daß das niemand exakt berechnen kann. Zweitens, unsere Vorschläge sollen nicht alle auf einmal kumulativ sofort durchgeführt werden, sondern der Reihe nach, und die wirksamsten sollen vorgezogen werden. Im übrigen haben wir ja an Hand der Beispiele 1967/68/69 erlebt, daß eine von innen her kommende Belebung der wirtschaftlichen Ertragsfähigkeit durch Verbesserung der Vertrauenssituation, durch Verbesserung der materiellen Faktoren, zu wesentlichen Steuermehreinnahmen führt, die dann das übertreffen, was jetzt meistens durch Zahlungsterminverschiebungen nur an Verlusten vorübergehender Art, z. T. auch an echten Verlusten, eintritt.
Das ist das, was wir an Kritik anzumelden haben, und das ist es, was wir an Gegenvorschlägen anzumelden haben.
Die Einkommenspolitik, das Verhalten der Tarifpartner, Herr Bundeskanzler, haben Sie erwähnt. Aber Sie hätten es viel leichter gehabt, wenn Sie bereits im Jahre 1973, wie heute schon erwähnt, darauf eingegangen wären. Jetzt, wo Sie diese Steueränderung am 1. Januar 1975 durchführen, sagt man Ihnen von seiten der Gewerkschaften mit Recht: Hier besteht doch kein Zusammenhang zwischen Steueränderung und Kostenverminderung auf dem Lohn- und Gehaltssektor. Im Jahre 1973 hätte man eine gewisse Verbindung herstellen können und damit den Druck, der bis heute besteht, erheblich vermindern und die Ausgangssituation für langfristige Wirtschaftsbelebung erheblich auch verbessern können.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Warum sagen Sie nichts darüber, daß die von Ihren Vorgängern und Ihnen herbeigeführte Zerrüttung der Staatsfinanzen und die damit verbundene Nettokreditaufnahme von mindestens 55 Milliarden DM für Gemeinden, Länder, Bund plus Bahn und Post ein Ausmaß erreicht, daß allein diese Kreditnehmer die Hälfte der privaten Geldkapitalbildung des Jahres 1975 in Anspruch nehmen müssen? Eine Inflations-
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quelle erster Ordnung! Diese Finanzierung kann verkraftet werden, das gebe ich zu, aber nur, wenn die Bundesbank eine Kreditexpansion ermöglicht. Wir begrüßen die Begrenzung der Zunahme des Zentralbankgeldes auf 8 °/o ausdrücklich. Nicht weil wir das etwa für eine Erleichterung, sondern weil wir das für eine wirksame Grenze halten. Aber auf dieses Konto gehen dann die Kreditexpansionen, die ein Akt der Geldschöpfung sind, auf dieses Konto geht die Freigabe der Konjunkturrücklage, auf dieses Konto geht die Flüssigmachung der Reserven der Sozialversicherung, die im Jahre 1975 erstmals wieder ins Defizit kommt, und auf dieses Konto gehen die Umwechselaktionen bei weiteren Verkäufen sei es von Schuldscheinen des Bundes an die Araber, wie leider zu überhöhten Zinsen geschehen, sei es von deutschen Aktien an die Araber, weil die gezahlten Dollars sofort in D-Mark umgesetzt werden. Wir begrüßen diese 8 N. Aber diese 8 °/o stehen nach aller Wahrscheinlichkeit in einem unauflösbaren Gegensatz zu dem, was Ihre und Ihrer Vorgänger Politik an Kreditexpansion zur Finanzierung der zerrütteten öffentlichen Haushalte einschließlich Bahn, Post, Nürnberg und öffentlich-rechtlicher Krankenversicherung herbeigeführt haben.
Das ist die Situation, und mit dieser Situation, Herr Bundeskanzler, müssen Sie fertig werden. Dafür müssen Sie die Verantwortung übernehmen. Wir sind bereit, Ihnen dabei zu helfen, aber unter ganz klarer Einhaltung der Grenzen, wie heute geschildert.
Herr Bundeskanzler, Sie haben heute eine Regierungserklärung vorgetragen, bei der uns Ihre zwei Welten wieder in Erscheinung getreten sind. Nun, Sie haben ja begonnen, mit Hilfe publizistischer Büchsenspanner ein neues Image aufzubauen - ich sage es humorvoll, nicht gehässig —, so ein Image zwischen Napoleon und Kissinger, andere würden sagen: zwischen Blücher und Bismarck.
Offensichtlich besteht bei Ihnen und den Ihren ein Bedürfnis, nach der mehr seelentröstenden Heilsfigur Ihres Vorgängers, des letzten Kanzlers, nun einen irdischen Helden mit pragmatischem Western-Look aufzubauen.
Aber das, was Sie heute vorgetragen haben, und die Darstellung der Vorgeschichte ist kein Heldenstück, auch wenn es manchmal so ein bißchen im Hamlet-stil vorgetragen worden ist. Das ist sozialdemokratische Seelenmassage zur Bewältigung der Vergangenheit, zu einem selbsthypnotischen Vergessen der eigenen Schuld und Verantwortung, und das ist auch wieder ein Stück astrologischer Zukunftsverheißung, und all das auf dem Rücken unserer Wirtschaft. Darum sind wir Ihnen, Herr Bundeskanzler, nicht neidisch. Aber was unser Teil ist, werden wir Ihnen helfen, im Interesse unseres Volkes, unserer Arbeitnehmer und unserer Wirtschaft.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Graf Lambsdorff. Seine Fraktion hat ebenfalls eine Redezeit von 60 Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Bis auf die letzten 8 Minuten Ihrer Ausführungen, Herr Kollege Strauß, war ich etwas geneigt, das in Düsseldorf erscheinende „Handelsblatt", jedenfalls seine Ausgabe von vorgestern, für ein Märchenblatt zu halten; denn bis dahin hatten wir von den Vorschlägen, die Sie gemacht haben und die dort im „Handelsblatt" nachzulesen sind, kein Wort gehört.
Wir werden uns mit diesen Vorschlägen auseinandersetzen. Wir haben, nachdem wir heute gehört haben, das sei nur so nach und nach einzuführen, das müsse nicht alles auf einmal kommen, den Eindruck, Herr Strauß, daß Ihre Fraktion Sie ein wenig zurückgepfiffen hat. Inzwischen hat offensichtlich auch mal jemand gerechnet, was bei diesen Vorschlägen denn wohl herauskommen könnte.
Im übrigen, Herr Kollege Strauß, haben Sie uns mit dem berühmten und bekannten Rundumschlag auch heute nicht enttäuscht. Wir werden Gelegenheit nehmen, darauf zu antworten.
Zunächst einmal haben Sie hier die Vorbereitung dieses Konjunkturprogramms in der politischen Diskussion sowohl in der Öffentlichkeit wie innerhalb der Koalitionsparteien gerügt. Herr Kollege Strauß, wir werden Sachfragen auch in Zukunft miteinander diskutieren, und wir wollen auch der Öffentlichkeit sagen, daß es eine bare Illusion wäre, zu glauben, man könne eine solche Maßnahme so hinter verschlossenen Türen diskutieren, daß keinerlei Ankündigungseffekt und keinerlei Wirkung nach draußen möglich sind. Dies ist nicht möglich. Solche Wirkungen lassen sich nicht vermeiden. Ich möchte dies insbesondere auch im Interesse all derjenigen sagen, die gedanklich, arbeitsmäßig durch die Vorbereitung von Papieren und Plänen mit einer solchen Aktion beschäftigt sind und immer wieder in den ungerechtfertigten Verdacht geraten, sie könnten nach draußen den Mund nicht halten und würden die Öffentlichkeit informieren. Machen wir uns nichts vor: Anders geht es nicht.
Herr Kollege Strauß, Sie haben zweitens zur Kenntnis zu nehmen, daß die sozialliberale Koalition aus zwei Parteien besteht, die selbständige und unabhängige Partner sind und die durchaus auch mit unterschiedlichen Ideen an ein solches Konjunkturprogramm herangehen.
Meine Damen und Herren, wir waren in einem Punkte, wie wir ja auch gar nicht verschwiegen und bestritten haben, unterschiedlicher Meinung, nämlich in der Frage der Höhe der öffentlichen Investitionsausgaben und des Umfangs der Aufgaben. Wir haben uns selbstverständlich auch in dieser Frage, wie es immer geschieht, in gegenseitiger Unabhän-
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gigkeit und gegenseitigem Respekt auf ein Ergebnis geeinigt. Dieses Ergebnis liegt Ihnen heute vor.
Herr Kollege Strauß, ich kann Ihnen versichern — ich bin natürlich überzeugt davon, daß Sie dies nicht glauben und daß Sie es, selbst wenn Sie es glauben, kaum zugeben werden —, daß Überlegungen im Hinblick auf Wahlzeiten und Wahlzeitpunkte bei der Befristung und beim Termin dieses Programms in der Tat keine Rolle gespielt haben.
Es haben vielmehr andere Überlegungen, die dann auch zu der von uns nicht gerade mit großer Begeisterung aufgenommenen Eile und dem Zeitdruck geführt haben, eine Rolle gespielt, nämlich die im übrigen auch von Ihnen in der öffentlichen Diskussion verlangte notwendige Abstimmung mit unseren Partnern sowohl auf der anderen Seite des Atlantiks als auch in der Europäischen Gemeinschaft. Es ist immer klar gesagt worden — und zwar schon vor Wochen —, daß die Bundesregierung ihre Entscheidung treffen wird, wenn die Gipfelkonferenz Gelegenheit gehabt hat, Stellung zu nehmen, und wenn unsere Partner die Möglichkeit gehabt haben, sich zu diesen Vorschlägen zu äußern. Meine sehr verehrten Damen und Herren, dies ist geschehen. Sie wissen aus der Diskussion von vorgestern, daß die Partner der Bundesrepublik im Bündnis sich zu diesen konjunktur- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen nicht nur zustimmend geäußert haben, sondern daß sie auch ihr eigenes Interesse daran bekundet haben, daß wir konjunkturpolitisch einen neuen Aufschwung ansteuern und ihn hoffentlich auch in absehbarer Zeit erreichen.
Ich frage mich allerdings, Herr Strauß, aus welcher Position heraus Sie über die angeblichen Meinungsbildungsschwierigkeiten innerhalb der Koalition sprechen.
— Herr Kollege Vogel, ich gebe in der Tat zu, daß die Einigkeit der Opposition in Fragen der Konjunkturpolitik in den letzten Wochen deutlich demonstriert worden ist. Alle die zahlreichen wirtschaftspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion haben sich offensichtlich Schweigen geboten. Das war wohl die einzige Möglichkeit, Einigkeit zu demonstrieren. Selbst der Fraktionsvorsitzende hat sich diesmal zu wirtschaftspolitischen Überlegungen nicht geäußert.
Die einzigen beiden Ausnahmen sind die Kollegen Pieroth und Blüm mit ihrem sehr sinnreichen Vermögensbildungsvorschlag zu einem Zeitpunkt, in dem wir die Gewinne verbessern wollen.
Sie haben dann die passende Antwort von Herrn
Strauß selber bekommen. Ich glaube, wir sollten uns
hierüber nicht noch länger unterhalten. In unserem Namen möchte ich Herrn Pieroth mit Deutlichkeit folgendes sagen. Man kann auch die beste Sache der Welt bei besten Absichten zu Tode reiten, wenn man sie fortgesetzt zum ungeeignetsten Zeitpunkt präsentiert.
Die Uneinigkeit in Ihren Reihen, meine Damen und Herren, ist dann aber erst recht deutlich geworden, als Herr Strauß sich vorgestern im „Handelsblatt" geäußert hat. Man darf doch wohl daran erinnern, daß Sie am 5. November noch erklärt haben, es werde keine zusätzlichen Haushaltsbelastungen geben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Sofort! — Am i i . November hat Herr Strauß einen Katalog von Forderungen aufgestellt, die zu einem zusätzlichen Steuerausfall von rund 6 Milliarden DM führen würden.
— Herr Jenninger, so steht es im „Handelsblatt". Lesen Sie es bitte nach.
Die Abschwächung heute haben wir wohl gehört. Die Verwirklichung dieser Forderungen bedeutet einen Steuerausfall von — vorsichtig gerechnet und sehr zurückhaltend geschätzt — 6 Miliarden DM.
Bitte, Herr Müller-Hermann!
Herr Kollege, wäre es dann nicht wirklich angemessen, wenn Sie zu den mindestens 50 unterschiedlichen, widersprüchlichen Äußerungen zum Konjunkturprogramm aus dem Lager der Regierung, der Koalition etwas mehr sagen würden? Das ist, glaube ich, viel schlimmer als das, was aus dem Lager der Opposition möglicherweise an unterschiedlichen Auffassungen kommt.
Herr Kollege Müller-Hermann, ich habe gerade eben — falls Sie die Geneigtheit gehabt haben zuzuhören — ausgeführt, daß wir natürlich in einzelnen Punkten mit unterschiedlichen Vorstellungen an die Erarbeitung dieses Programms herangegangen sind und daß das auszudiskutieren war.
— Sie machen den einen fehlerhaften Unterschied: wir sind eine Koalition aus zwei Parteien, während Sie, obwohl Sie auch aus zwei Parteien bestehen, eine Fraktion sein wollen.
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Dr. Graf Lambsdorff
— Meine Damen und Herren, ich glaube, bevor Sie uns Ratschläge über die Einheitlichkeit der Meinungsbildung innerhalb der Koalition geben, sollten wir Ihnen empfehlen, das bei sich selber zu versuchen und uns mit diesem Rat jedenfalls zu verschonen.
Herr Kollege Strauß, Sie haben den Staatsbankrott
- die Wirtschaft ist ruiniert, der Staat ist bankrott;
das kennen wir alles — diesmal wie üblich damit begründet, daß Sie das Defizit der öffentlichen Hände von 55 Millionen DM für 1975 hier kritisiert haben.
— Ja, Milliarden! Entschuldigen Sie vielmals. Ich habe immer etwas Schwierigkeiten mit den Nullen, vor allem wenn sie rechts stehen.
Meine Damen und Herren, die CDU-Vorschläge zur Steuerreform haben das Defizit und den Einnahemausfall ganz beträchtlich erhöht. Wir brauchen wohl nicht im einzelnen daran zu erinnern, was letztlich im Vermittlungsausschuß an zusätzlichem Einnahmeausfall aus der Steuerreform durch das Wirken Ihrer Parteifreunde, insbesondere der Länderministerpräsidenten, herausgekommen ist.
Zum zweiten. Sie haben sich eben, Herr Kollege Strauß hier noch einmal zur Frage der Vermögensteuer geäußert. Ich darf darauf hinweisen, daß sowohl Sie wie der Vorsitzende der CDU beim Kompromiß im Bundesrat der Wiederanhebung der Vermögensteuer für die juristischen Personen um die geht es hier in erster Linie — zugestimmt haben. Sie haben damals als Ergebnis dieses Kompromisses selber festgehalten, es gebe weder Sieger noch Besiegte. Dann wäre es doch sehr dankenswert, wenn Sie sich nicht heute nachträglich als den Besiegten hinstellten.
- Eben. Dieses ganze Steuerreformpaket ist natürlich auch in den Einnahmen und Ausgaben ein Paket.
Wenn Sie es von einer Seite her aufbrechen oder aufdröseln wollen, müssen Sie auf der anderen Seite natürlich auch die Konsequenzen sehen. Diese Problematik ist aber allen, Ihnen ganz besonders, immer wieder bekannt gewesen.
— Darüber werden wir uns gleich unterhalten, was die Investitionsumlage kostet und wie sie finanziert wird.
Nun, meine Damen und Herren, hier ist vorhin großes Gelächter in der Oppositionsfraktion aufgekommen, als der Bundeskanzler davon sprach, daß die Steuererleichterungen mit der Steuerreform am 1. Januar 1975 zum konjunkturpolitisch richtigen
Zeitpunkt kommen. Ich darf mit Erlaubnis der Frau e Präsident hier kurz aus dem Sachverständigengutachten zitieren:
Auch aus diesem Grunde ist es ein glücklicher Umstand, daß dauerhafte Steuersenkungen gerade Anfang 1975 in Kraft treten, der größere Teil der vorgesehenen expansiven Impulse der Finanzpolitik also über die Einnahmenseite gehen und damit die privaten Ausgaben anregen wird.
— Habe ich gesagt, daß das unser Verdienst ist? Wir haben die objektive Feststellung getroffen — der Bundeskanzler vorweg —, daß der Zeitpunkt konjunkturpolitisch günstig ist. Dies wurde von Ihnen bestritten. Es wäre gut, wenn Sie Ihre Meinung in diesem Punkt revidierten.
Im übrigen haben sowohl der Sachverständigenrat — immerhin, ich gebe das zu, mit dem Hinweis auf Virtuosität, die diesem Geschäft dann unterlegt werden müsse — wie auch die Deutsche Bundesbank in ihrem bekannten Beschluß erklärt, daß die Defizitfinanzierung des nächsten Jahres an den Kapitalmärkten möglich ist. Aber, Herr Kollege Strauß, es geht immer ein wenig durcheinander. Mal ist das bei Ihnen Kreditschöpfung, mal ist es bei Ihnen Geldschöpfung. Ich habe versucht, sehr sorgfältig zuzuhören. Wieso die Aufnahme von Krediten Geldschöpfung sein soll und wieso sie per definitionem inflationsfördernd sein muß, das sollten Sie zunächst einmal begründen.
Zweitens weist das Sachverständigengutachten, wenn auch in sehr dezenter Form, darauf hin, daß auch ausländische Kapitalmärkte zur Finanzierung dieses Defizits zur Verfügung stehen. Auch hier geht es um die alte Diskussion, die ich mit Ihnen und mit Ihrer Fraktion vor einigen Wochen geführt habe, daß natürlich auch eine solche Kreditaufnahme in D-Mark keine zusätzliche Geldschöpfung in der Bundesrepublik bedeutet.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe die Aufgabe, namens der Fraktion der FDP die Gesetzesinitiative der Koalition zu begründen. Ich will das mit einigen Strichen versuchen und auf die Einzelheiten des heute vorgelegten Programms eingehen, aber nicht ohne vorher mit allem Nachdruck zu betonen, daß wir bei unseren Vorstellungen und Vorschlägen mit der Deutschen Bundesbank in voller Übereinstimmung sind. Die Deutsche Bundesbank, bei den entscheidenden abschließenden Beratungen vertreten durch ihren Präsidenten, hat gegen diese Vorstellungen, gegen dieses Programm keine Einwendungen erhoben, und einer der zentralen Bestandteile dieses Konjunkturprogramms ist die Entscheidung des Zentralbankrates über die Begrenzung der Geldmenge, die ich namens der FDP ausdrücklich begrüße und nur mit der Bitte verbinde, dazu beizutragen, die Definition, was in der Bundesrepublik eigentlich Zentralbankgeldmenge ist, vielleicht etwas zu intensivieren, damit wir hier aus Definitionsunklarheiten herauskommen.
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Dr. Graf Lambsdorff
Wir haben uns zu der Investitionszulage entschieden und von der Prämie Abstand genommen. Der Kollege Strauß hat es für richtig gehalten, zu sagen, dies hätten wir wohl wegen des Volkswagenwerks getan. Natürlich ist eines richtig, Herr Strauß: Die Zulage setzt nicht voraus, daß das begünstigte Unternehmen in der Gewinnsituation ist. Es geht uns ja zur Zeit um die Verbesserung der Gewinnsituation, und es hat keinen Sinn, jemandem, wie es der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages ausgedrückt hat, Wasser per Termin zu verkaufen, d. h. ihm eine Prämie anzubieten, wenn er nämlich mangels Gewinn gar keine Gelegenheit hat, sie steuerlich zu verrechnen. Ich wundere mich aber
— ich will hier die generelle Aufwertungsdiskussion nicht fortsetzen —, daß Sie, Herr Strauß, nun ausgerechnet das Volkswagenwerk hier anführen. Denn wenn sich an einem Beispiel falscher wirtschaftspolitischer Entscheidungen deutlich machen läßt, wohin so etwas führen kann, so an der Aufwertungsentscheidung für VW. Denn auf der Basis des falschen Wechselkurses, den Sie lange vertreten haben, den Sie zum Gegenstand eines Wahlkampfes gemacht haben, sind die Exporte getätigt worden, die nun heute bei realistischer Wechselkursbewertung, nicht mehr möglich sind.
Ich sage Ihnen, Herr Strauß — ich hätte dies nicht gesagt, wenn Sie nicht dieses Beispiel erwähnt hätten —: Ein guter Teil der Leute, die dort, bei den zu exportierenden Käfern, beschäftigt waren und es heute nicht mehr sind, darf sich auch bei Ihnen für Ihre wirtschaftspolitische Entscheidung bedanken.
Herr Kollege Strauß, das gleiche gilt natürlich auch für die Abschreibungen, mit denen Sie hier aufgewartet haben. Was nutzen denn Abschreibungen, wenn ich keinen Gewinn habe? Wenn es richtig ist, daß wir die Gewinnsituation der Unternehmen verbessern sollen, dann können wir doch nicht Methoden ersinnen, die die Gewinnlage und die steuerliche Verrechnungsmöglichkeit bei Gewinnen voraussetzen. Ihre köstliche Formulierung „Bei denen, die nicht wollen, hilft's nichts, und bei denen, die nicht können, hilft's nichts" ist selbstverständlich richtig. Aber selbst die schönsten Anregungsmittel aus japanischen Hafenstädten helfen nicht bei denen, die nicht wollen.
Herr Kollege Strauß, Sie erheben dann den Vorwurf, der im übrigen auch von Ihrer Fraktion als Zwischenruf gemacht worden ist, hier handle es sich um „Gießkannen-Politik". — Sind eigentlich Abschreibungen in diesem Zusammenhang keine Gießkannen-Politik? Sind nicht alle Mittel der globalen Konjunktur- und Niveausteuerung, Herr Strauß, irgendwo Gießkannenmittel? Wollen Sie eigentlich
— das müssen Sie uns bitte sagen —, wenn Sie von den globalen Steuerungsmitteln wegkommen, gezielt entscheiden, ob die Aktiengesellschaft Y in den Genuß von Förderungsmaßnahmen kommt, die Aktiengesellschaft X aber nicht? Wichtig in diesem Zusammenhang, meine Damen und Herren, ist für uns die Überlegung, daß wir durch die Fristbegrenzung auf ein halbes Jahr den Versuch unternehmen wollen, in der deutschen Wirtschaft durch solche Anreize einen erneuten Investitionsstoß zu produzieren. Allein darauf kommt es uns an.
Natürlich kann man dagegen einwenden, daß hier auch solche Investitionen begünstigt werden, die ohnehin getätigt werden würden. Sie haben schon recht, Herr Strauß, daß Investitionspläne natürlich langfristig aufgestellt werden. Aber dies gilt insbesondere in den großen Unternehmen. Die kleinen und mittleren Unternehmen, auf die diese Maßnahme deswegen hinsichtlich ihrer Wirkung, die wir erhoffen und erwarten, in besonderer Weise zielt, lassen sich durch solche Anreize, weil sie eben schneller in ihren Entscheidungen, weil sie mobiler sind, auch schneller motivieren, zu Investitionen zu kommen.
— Ich habe Ihnen ja gesagt, daß ich in diesem Punkte nicht anderer Meinung bin. Ich ergänze es nur dadurch, da Sie dauernd beklagen — Herr Carstens hat das vor allem auch getan —, daß die mittleren und kleinen Unternehmen hier zu wenig berücksichtigt seien, daß diese Investitionszulage hinsichtlich ihrer Wirkung, Herr Professor Carstens, diesen Bereich der Wirtschaft deutlicher ansprechen soll und wird als nur die großen Unternehmen.
— Herr Kollege Müller-Hermann, dies ist ja eine Maßnahme, die Liquidität zur Verfügung stellen soll, die Ansprüche zur Verfügung stellt und bei denen sie sich natürlich mit Liquidität versorgen können. Wenn Sie in Ergänzung dazu die Ausweitung
— Herr Strauß hat das begrüßt — des ERP-Programms durch den Bundeswirtschaftsminister nehmen, haben Sie genau die komplementären Maßnahmen, die notwendig sind. Damit möchte ich Ihre Frage beantworten.
Darüber hinaus haben wir — und auch dazu habe ich von Herrn Strauß nichts gehört; ich nehme an, Schweigen bedeutet Zustimmung; das nehme ich nicht immer an, Herr Strauß, damit wir uns nicht mißverstehen — für die Energieinvestitionen, für die energiesparenden Investitionen hier sowohl eine Sonderregelung, was die Fristen anbelangt, getroffen als auch den grundsätzlichen Vorschlag auf den Tisch des Hauses gelegt, die Investitionen in diesem Bereich um 7,5 % dauerhaft im Investitionszulagengesetz anzuheben. Ich kann mir nicht vorstellen, daß wir nach der Energiedebatte vor 10 oder 14 Tagen darüber grundsätzlich verschiedener Meinung sind.
Sie haben nach der Finanzierung gefragt, meine Damen und Herren. Zunächst einmal, Herr Strauß: Der Finanzplanungsrat ist selbstverständlich eingeschaltet worden, hat sich selbstverständlich dazu
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Dr. Graf Lambsdorff
geäußert. Wenn wir nach dem Stabilitätsgesetz, nämlich mit der Investitionsprämie, verfahren wären, so hätte — das wissen Sie — der Bundesrat nur die Möglichkeit gehabt, Einspruch mit Verzögerungswirkung einzulegen. Hier hingegen sieht es ja anders aus. Das heißt also: Wir — wir, die Koalition — haben uns im Grunde genommen in eine Situation gebracht, in der wir von der Zustimmung des Bundesrates in weit größerem Maße abhängig sind. Deswegen der richtige Hinweis des Bundeskanzlers: Wenn wir die Zustimmung nicht bekommen sollten, bleibt uns nichts anderes übrig, als auf das nach unserer Überzeugung zweitbeste Mittel der Investitionsprämie nach § 26 des Stabilitätsgesetzes zurückzugehen.
— Wir haben uns mit dem Finanzplanungsrat, in dem bekanntlich die Länder vertreten sind, Herr Professor Carstens, ausführlich darüber unterhalten. Dies wird auch weiterhin noch geschehen. Selbstverständlich werden wir uns in dieser Frage mit dem Bundesrat abstimmen. Wir haben bisher allerdings den Eindruck, daß von dorther Kooperation gezeigt werden wird.
Nun aber zu der grundsätzlichen Frage: Wie wird das denn finanziert? Was kostet das? Herr Kollege Strauß, das kostet schätzungsweise zirka 6 bis
7 Milliarden DM. Herr Müller-Hermann, streiten wir
nicht, es können 7,5 Milliarden, es können auch
8 Milliarden DM sein
— nein, 10 Milliarden können es nicht sein —, kassenwirksam 1976, was von Bedeutung ist. Wenn diese Maßnahme funktioniert, wovon wir ausgehen und wovon wir überzeugt sind, dann wird sie natürlich durch Steuermehreinnahmen schon im Jahre 1976, aber erst recht in den Folgejahren in ihrer finanzpolitischen Wirkung kompensiert. Dies ist der entscheidende Punkt. Deswegen sind wir der Meinung, daß eine solche Maßnahme auch bei der gegenwärtigen Haushaltssituation der öffentlichen Hände vertretbar ist.
Die Lohnkostenzuschüsse, meine Damen und Herren, die Mobilitätszulagen und die Verlängerung des Kurzarbeitsgeldes, die bei der Addition nicht den öffentlichen Investitionen hinzugezählt werden sollen und können, sind natürlich ein Kernpunkt dieses Programms. Der Herr Bundeskanzler hat dies hier deutlich gemacht. Da es uns im wesentlichen darum geht, die sehr bedrückenden Erscheinungen auf dem Arbeitsmarkt in den Griff zu bekommen, sind Hilfen, die hier angesetzt werden können, von großer Bedeutung. Es kommt aber hinzu, meine Damen und Herren — und dies ist wichtig zu wissen und zu sehen —, daß diese Beträge nur dann abfließen werden, wenn die Maßnahmen auch unmittelbaren Erfolg haben. Wer keinen Beschäftigungslosen beschäftigt bekommt ja auch keine Lohnkostenzuschüsse. Wir könnten also eigentlich nur hoffen, daß diese 500 Millionen DM für die Lohnkostenzuschüsse voll abfließen, voll in Anspruch genommen werden, weil dann die beschäftigungspolitische Wirkung unmittelbar zustande kommt.
Die zusätzlichen Ausgaben aus dem Bereich der öffentlichen Hand haben wir Ihnen — Schwerpunkte Energie und Bau — vorgelegt. Für meine Freunde und mich ist dies ein wesentlicher Gesichtspunkt: Die Finanzierung erfolgt bis auf eine kleine Spitze aus dem Stabilitätszuschlag, den 1,545 Milliarden DM, die bei der Bundesbank liegen, zuzüglich eines nicht nennenswerten Restes — 13 Millionen DM — aus der Investitionsteuer. Hier müssen wir sehen, Herr Strauß, daß wir eine geldpolitisch unbedenkliche Finanzierung dieser öffentlichen Investitionen zustande bringen und daß diese Vorschläge und diese Finanzierung stabilitätspolitisch neutral sind. Dies halte ich für wichtig, und dies halten wir für wichtig, weil wir eines jedenfalls nicht tun dürfen: wir dürfen nicht Maßnahmen einleiten, die eines der wesentlichen Ergebnisse unserer Stabilitätpolitik, nämlich die Tendenzwende im Preisanstieg, wieder gefährden oder gar in Frage stellen könnten. Da stellt sich eben die Frage, ob wir nach den Erfahrungen der Jahre 1967/1968 heute gleich verfahren können. Wir sind der Meinung: nein. Wir sahen 1967/ 1968 nahezu ausschließlich konjunkturelle Gründe für solche Maßnahmen. Wir sehen heute im wesentlichen strukturelle Gründe, und wir glauben, daß man mit den alten Rezepten des seligen Herrn Keynes der Situation nicht so gerecht werden kann, wie das damals vielleicht noch möglich war, damals vielleicht auch zu schnell und zu früh, wenn man an den Inflationssockel, der noch vorhanden war, und die Inflationswirkung, die später kam, denkt.
Ganz sicher sind die Maßnahmen zu § 7 b des Einkommensteuergesetzes, die den Zweiterwerb möglich machen sollen, angesichts der Situation am Baumarkt wohl kaum großer Erläuterungen bedürftig. Dies gilt in dem Zusammenhang auch für die Vorschläge zur Grunderwerbsteuer. Wir möchten deutlich machen, daß wir nicht vorhaben, die Verluste von Betonspekulanten zu sozialisieren. Dies kann nicht das Ziel unserer Politik sein.
Wir wollen vielmehr dem Baumarkt eine gezielte Hilfe geben, aber nicht denjenigen, die durch die Inflation verlockt wurden. Es gibt überhaupt kein besseres Beispiel für die Fehlleitung von Kapital als diese Fehlleitung in das sogenannte Betongold in der Inflation. Wir wollen nicht, daß diese Spekulanten ihre Verluste auf den Steuerzahler abwälzen können. Dazu werden wir unsere Hand nicht geben.
Wir machen allerdings darauf aufmerksam, daß der Herr Bundesfinanzminister zusammen mit den Aufsichtsbehörden eine Initiative ergreifen sollte, um das Problem der Bewertung solcher Investitionen und der Kredite in solchen Objekten zum 31. Dezember dieses Jahres in den Bilanzen der Kreditinstitute zu besprechen und anzupacken, um zu einer einheitlichen und vernünftigen Bewertung zu kommen. Es kann nicht in unserem Interesse sein, daß wir durch einen zeitlichen konjunkturellen Tief-
Dr. Graf Lambsdorff
punkt nachher mit einer Reihe von großen öffentlichen und privaten Kreditinstituten dastehen, die das Kapital auf der falschen Seite stehen haben.
Ich habe auf die Beschlüsse bezüglich der ERP-Mittel hingewiesen; ich wiederhole das hier nicht. Ich sage aber einmal deutlich und mit allem Nachdruck, daß wir dem Herrn Bundeskanzler für seine Stellungnahme zum Verlustrückgang außerordentlich dankbar sind. Sie wissen, Herr Strauß und Herr Professor Carstens, daß wir angeregt haben, dies bis zu einer Größenordnung von 5 Millionen DM zu tun, es also nach oben zu begrenzen, und nicht für zwei Jahre, sondern für ein Jahr vorzusehen. Für zwei Jahre bereitete dies erheblich mehr steuertechnische Schwierigkeiten. Wir kappen dadurch den Verlustvortrag. Sie haben vorhin mit dem Kopf genickt, Herr Strauß. Es hat aber auch seine Probleme, wenn man eine Vergünstigung um 20 °/o zurücknimmt.
Aber wir sind uns darüber klar, Herr Kollege Wehner
— ja, wir sind uns einig —, daß die Technik in dieser Frage und auch die sorgfältigen Schätzungen, was denn nun dabei finanzwirksam, haushaltswirksam herauskommt, zunächst einmal untersucht werden müssen. Dieses Problem kann in dem schnellen Aufgalopp, in dem wir die anderen Dinge behandeln müssen und behandeln wollen, nicht gelöst werden.
Bei all dem, meine Damen und Herren, was wir hier vorzuschlagen und vorzutragen haben — und meine Fraktion hat dies ausdrücklich begrüßt —, stellt sich natürlich die Frage, wo eigentlich die Alternativvorschläge von anderer Seite sind.
Ich kann mich mit der Opposition kurz fassen: Opposition, Fehlanzeige wie gehabt. Den einzigen, wie mir scheint, wirklich ernst zu nehmenden Diskussionsbeitrag hat der Deutsche Industrie- und Handelstag, den meine Freunde und ich als einen durchaus kompetenten Gesprächspartner in wirtschaftspolitischen Dingen betrachten, geliefert. Er erwartet und schlägt den vollen Verlustrücktrag vor — der kostet nach unserer Schätzung 715 Millionen DM, wohlgemerkt einmalig —, er schlägt das Lifo-Verfahren vor. Darin findet er die Unterstützung der Opposition. Oder ist es Herr Strauß? Ich weiß es nicht ganz genau, Herr Carstens, inwieweit er in diesem Falle für die Opposition spricht.
Und er schlägt Abschreibungsverbesserungen vor.
Meine Damen und Herren, hier gibt es zunächst einmal — das auch zu den Grundvorstellungen, die der Kollege Strauß geäußert hat — den Einwand, daß wir im Rahmen eines konjunkturpolitischen Programms, das allenfalls mittelfristig, eher aber kurzfristig angelegt ist, natürlich keine dauerhaften Änderungen der Steuerstruktur vornehmen können und wollen. Das wäre auch nicht richtig. Es kann sein, daß sich aus einer bestimmten konjunkturpolitischen
Lage heraus die Überlegung ergibt, das eine oder andere zu ändern. Aber wir müssen über den Tag, ja, über die Jahre hinaus denken, wenn wir auf diesem Gebiet etwas ändern wollen.
Heute geht es um Konjunkturpolitik. Das eine ist doch wohl klar: Wer auf der einen Seite das Defizit der öffentlichen Hände beklagt und auf der anderen Seite Vorschläge macht, die dieses Defizit noch um Milliarden erhöhen, der gibt uns wirklich Steine statt Brot, wenn wir an die wirtschaftspolitische Diskussion denken.
— Herr Kollege Müller-Hermann, so die Opposition zur Dynamik und zu dynamischer Betrachtung findet, steht dem sicherlich nichts im Wege.
Ich möchte noch auf das Thema Lifo-Vorratsbewertung eingehen. Herr Strauß, bei 4 % Preissteigerung kostet Lifo im Jahr 100 Millionen DM. Dafür müssen Sie also erst einmal einen Deckungsvorschlag bringen. Wo soll es denn herkommen? Ist es eigentlich in einer Zeit, in der wir behaupten — Sie bestreiten das auch noch; ich komme noch darauf zurück —, daß die Tendenzwende bei den Preissteigerungsraten erreicht ist, richtig, ein Bewertungsverfahren einzuführen, das eine gewisse Inflationsmentalität und ein gewisses Abheben auf Preissteigerungsentwicklungen — und zwar dauerhafte Preissteigerungsentwicklungen — beinhaltet?
— Auf die Scheingewinne kommen wir gleich zurück. Ich habe meine Bedenken. Die Scheingewinne haben mit Lifo nichts zu tun, Herr Strauß. Die Scheingewinne spielen natürlich beim Problem der Abschreibungen eine Rolle. Ihr Abschreibungsvorschlag —oder: der Abschreibungsvorschlag des Deutschen Industrie- und Handelstages, den Sie übernommen haben — kostet 1,4 Milliarden DM.
Hier möchte ich ein Wort zu dem sagen, was Sie zu den Abschreibungen und den Scheingewinnen immer wieder vortragen. Herr Kollege Strauß, wir haben uns immer dagegen ausgesprochen, daß die Steuerdiskussion um Abschreibungen auf dieser Basis geführt wird. Es gibt in der Bundesrepublik sehr unterschiedliche Stimmen, auch in der dafür betroffenen Wirtschaft.
Der Deutsche Betriebswirtstag sagt: Vollständige Anpassung an Wiederbeschaffungswerte! In der Stahlindustrie ist zu hören: Einmalige Anhebung! Die chemische Industrie sagt: Bitte nichts dergleichen! Herr Kollege Strauß, wer diesen Vorschlag hier bringt und — wenn ich das vielleicht sagen darf — andere beschuldigt, sie stünden Arm in Arm mit der Großindustrie,
der muß auch sagen, wie sehr die Inflation dafür
eine Hilfe ist, sich von den Schulden auf der Passiv-
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Dr. Graf Lambsdorff
seite zu erleichtern. Das muß doch mindestens mit in diese Rechnung einbezogen werden.
Sie können nicht immer nur die eine Seite sehen.
Herr Kollege Strauß, Ihre Interpretationsfähigkeit ist zweifellos groß. Aber wir müssen uns noch einmal darüber unterhalten, daß hier nicht immer nur nach Ihrem Verfahren vorgegangen werden kann: Es gibt nur zwei Meinungen — meine, Strauß' Meinung und die falsche. Es gibt auch noch ein paar andere Meinungen.
Die Alternative, Herr Kollege Strauß, die Sie im „Handelsblatt" vorgeschlagen haben, bedeutet bei dem Steuerausfall von mindestens 6 Milliarden DM bei den Zinsen auf Dauerschulden noch einen weiteren Steuerausfall bei der Gewerbekapitalsteuer von 1,6 Milliarden DM ausschließlich bei den Kommunen. Wie wollen Sie eigentlich die Kommunen, deren Finanzlage Sie fortgesetzt beklagen, entschädigen? Wie wollen Sie das in Ordnung bringen?
— Wir wollen eine Gewerbesteuerreform im Zusammenhang mit der Harmonisierung der europäischen Steuern; denn irgendwo müssen wir das natürlich hernehmen, was Sie da wollen. Sie können nicht immer nur sagen: Weg mit der Steuer!, ohne zu sagen, wo die Finanzmittel herkommen sollen. Sie können doch dann nicht im gleichen Atemzug erklären, dieser Staat sei durch die Finanzpolitik der sozialliberalen Koalition in den Bankrott getrieben worden. Diese Argumentation ist zu billig.
Solche Vorschläge ohne Deckungsanregungen sind gefährlich, sie sind leichtsinnig, und ich sage ich weiß, was ich sage —: sie sind auch nicht zu verantworten.
Wir fragen uns, Herr Kollege Strauß, ob Sie eigentlich den Staatsbankrott, den Sie dauernd beschwören und den Sie uns dauernd vorhalten, selber herbeiführen wollen. Gehen Sie eigentlich so weit, den Staatsbankrott zu wollen, nur um Ihr politisches Ziel, wieder auf dieser Bank zu sitzen, zu erreichen?
Herr Kollege Strauß, noch fragen wir Sie! Sie dürfen sich nicht wundern, daß ich Ihnen, wenn Sie gestern abend gesagt haben — darf ich das mit Genenhmigung der Frau Präsidentin zitieren —:
Die Stunde der politischen Abrechnung mit den Kräften, die den Staat und seine Gesellschaft systematisch, und das heißt: vorsätzlich in den Ruin treiben, ist angebrochen,
sage: So wie Sie abends in die Mercatorhalle hineinrufen, so schallt es Ihnen aus dem Plenum des Deutschen Bundestages wieder zurück.
Wenn Sie meinen, Herr Strauß, der Bundeskanzler sei das letzte Aufgebot der SPD, dann werden die Sozialdemokraten darauf antworten. Aber Sie sind das allerletzte Aufgebot für Herrn Köppler; der hat's auch nötig.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen diese Diskussion und unser konjunkturpolitisches Programm doch auch vor dem Hintergrund der Weltwirtschft sehen. Ich will diese zwei Zahlen — es mag einen noch so sehr langweilen — wiederholen und muß sie wiederholen: 60 Milliarden Dollar Einkommensübertragung für höhere Ölpreise aus den industrialisierten Ländern in die ölproduzierenden Länder; 20 Milliarden DM im Jahre 1975 für genau dieselbe Menge 01 wie bisher aus der Bundesrepublik in die ölproduzierenden Länder. Dies ist eine massive Wohlstandsübertragung, dies ist eine massive Einkommensübertragung, und das trifft jeden einzelnen von uns. Wir können das nicht — und die Bundesregierung will das auch nicht — durch Inflation, nicht durch Tariferhöhungen, nicht durch irgendwelche Kniffe oder durch irgendwelche Tricks ändern.
Hier liegt natürlich auch — insofern begrüßen wir, was der Herr Bundeskanzler gesagt hat — die Verantwortung der Tarifpartner; hier liegt die Einsieht begründet, die sie zu dieser Verantwortung führen muß und, wie ich erfreulicherweise sagen kann, zu dieser Einsicht geführt hat. Wir wiederholen von dieser Stelle aus diesen Appell; wir richten ihn besonders an die Verantwortlichen im öffentlichen Dienst. Das Schlichtungsabkommen wird von uns ausdrücklich begrüßt. Und wir begrüßen ebenso die Erklärungen, die hier zum Aussetzen von Strukturverbesserungen im öffentlichen Dienst von der Bundesregierung abgegeben worden sind.
Für die Fraktion der FDP wiederhole ich, was ich hier mehrfach gesagt habe und was wir heute auch in der Rede des Herrn Bundeskanzlers gehört haben: Eine Wirtschaftspolitik kann sich, Herr Bundeswirtschaftsminister, erfolgreich nennen, wenn sie unter den gegebenen weltwirtschaftlichen Umständen am Ende des Jahres 1975 mit derselben realen Situation der Volkswirtschaft — durchschnittlich gesehen — dasteht wie Anfang 1973. Und wir sind dabei, dies zu schaffen. Wir müssen einfach erkennen, meine Damen und Herren, daß die Ölpreise das Gefüge der Weltwirtschaft und damit auch die Rahmenbedingungen, unter denen wir hier arbeiten, verändert haben.
Ich liebe und schätze militärische Vergleiche nicht, aber ich glaube, dies ist nur vergleichbar mit dem Einfluß, den die Entwicklung nuklearer Waffen auf strategisches Denken gehabt hat; es ist eine neue Welt.
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Dies ist für uns kein Anlaß, in Pessimismus zu verfallen; es ist eine Aufforderung an unsere Tatkraft sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft. Die deutsche Volkswirtschaft kann mit dieser Herausforderung fertig werden. Meine Damen und Herren, wer soll es denn sonst schaffen, wenn es diese Volkswirtschaft nicht schafft?
Wir müssen uns doch unsere Position in einer so veränderten Welt auch vergleichsweise ansehen. Oder sind denn solche Vergleiche nicht erlaubt? Ich hatte bei den Ausführungen des Kollegen Barzel vorgestern diesen Eindruck. Er hat hier gesagt — ich darf das mit Genehmigung der Frau Präsident zitieren —:
Mit der Ausrede, woanders ist es noch schlimmer, kommt keiner von uns im beruflichen Leben durch. Hier wird von jedem Qualitätsarbeit verlangt, . . .
Ich weiß nicht, ob Herr Barzel dies aus seinen reichen wirtschaftlichen und geschäftlichen Erfahrungen geschöpft hat, aber eines kann ich sagen: diese Feststellung ist falsch. Wenn Sie sich in einer Branche wirtschaftlich betätigen, und die ganze Branche macht Verlust, und Sie schließen noch mit plusminus Null ab, dann ist das Qualitätsarbeit, und dieser Vergleich ist — auch wirtschaftspolitisch — erlaubt.
Auch wirtschaftspolitische Erfolge sind doch natürlich relative Erfolge; wir leben nicht auf der berühmten Insel der Seligen.
Für meine Fraktion stelle ich fest: Die vergleichsweise gute Position ist das Verdienst dieser Bundesregierung, und die Opposition hat so gut wie nichts dazu beigetragen.
Im Gegenteil, Herr Strauß, ich kann es wirklich nicht anders als eine Dreistigkeit bezeichnen, wenn ich mir das im „Handelsblatt" ansehe und wenn Sie sich heute beklagen, im Tarifstreit 1973 habe politische Führerschaft gefehlt. Wo sind Sie denn gewesen? Sie haben doch diesen Tarifstreit noch angeheizt, Sie, Herr Filbinger und Herr Katzer
haben doch dazu beigetragen, diese Forderungen zu erhöhen, vor denen wir heute stehen.
— Herr Kollege Strauß, die Steuern werden jetzt gesenkt. Ich warne noch einmal — und hier bin ich auch etwas anderer Auffassung als der Bundeskanzler; ich habe das immer gesagt — vor der Kombination von Tarifproblemen und Steuererleichterungen. Wollen Sie das denn jedes Jahr als Lockspeise zur Verfügung stellen? Das können Sie doch gar nicht!
Meine Damen und Herren, die Politik der Bundesregierung war und ist eine Konjunkturpolitik der ruhigen Hand, und sie ist es auch dann gewesen, als die Energiekrise — und da hat der Bundeswirtschaftsminister vorbildliche Arbeit geleistet — schnelles, entschlossenes Handeln und Zupacken notwendig machte.
Darf ich das noch einmal in Erinnerung zurückrufen? Das Stabilitätsprogramm vom Februar 1973, das zweite Stabilitätsprogramm vom Mai 1973; und noch einmal, Herr Kollege Müller-Hermann, auch wenn Sie das noch so häufig bestreiten wollen: Stabilitätspolitik war vor Mai 1973 wirksam nicht möglich. Das können Sie nun im Sachverständigengutachten nachlesen.
Ich darf noch einmal ein Zitat bringen, und zwar von Professor Niehans:
Manche Nationalökonomen geben dem Wirtschaftspolitiker immer wieder zu verstehen, die Welt sei viel komplizierter, als er sich träumen lasse. Ich glaube,
— so Niehans —
in bezug auf die heutigen Stabilisierungsprobleme ist vielleicht ausnahmsweise das Gegenteil wahr. Durch Übergang zu flexiblen Wechselkursen ist die Welt zwar nicht unbedingt besser, aber sie ist einfacher geworden. Ich glaube, sie ist heute einfacher, als manche Politiker, die vor dem Inflationsproblem die Hände ringen, sich träumen lassen. Wir wissen, was wir tun können. Wir brauchen es nur zu tun.
Ich stelle ganz nüchtern fest: Die Bundesregierung hat das getan, was sie tun konnte bei diesen Problemen.
Wir haben am 19. Dezember 1973, vor beinahe einem Jahr, mit den Entschlüssen des Kabinetts und der anschließenden Debatte in diesem Hause als Folge auf die Ölpreiskrise die richtige Reaktion gezeigt. Wir haben auch mit den beiden Sonderprogrammen von beinahe zwei Milliarden DM, die der Herr Bundeskanzler erwähnt hat, im Jahre 1974 das Ansteuern eines neuen Aufschwungs, den wir jetzt erreichen müssen, sauber und korrekt vorbereitet. Das geht hin bis zur heutigen Vorlage: eine konsequente konjunkturpolitische Linie dieser Bundesregierung.
Wie sieht denn das Ergebnis aus? Preisstabilität: Wir sind Nummer eins in der Welt. Der Kollege Strauß, der sich bemüht, auch noch dieses Ergebnis zu zerfleddern, weist darauf hin, daß die Nahrungsmittel daran mit einem Rückgang von 0,8 % beteiligt waren. Diese Zahl ist unbestritten. Aber, Herr Strauß, es muß schon etwas mehr Redlichkeit erbeten werden. Sie müssen dann auch sagen, welchen Anteil die Nahrungsmittel bei der Berechnung des Lebenshaltungskostenindex insgesamt ausmachen; sonst erwecken Sie doch falsche Vorstellungen. Das wollen Sie ja auch.
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— Mit 22 °/o, Herr Kollege Strauß. Ich weiß, daß Sie gerne Zahlen in die Welt setzen und dann behaupten, sie seien richtig. Aber sie sind nicht immer richtig, und diese ist falsch.
Der Anteil geht also von 0,8 °/o auf ein Fünftel zurück.
Es ist völlig richtig und unbestritten, daß wir nicht einem Berufsstand eine solche Last auferlegen lassen können. Dieser Bundeslandwirtschaftsminister — das wissen Sie, meine Damen und Herren von der Opposition — kämpft im Augenblick für die Einkommenssituation der deutschen Landwirtschaft beinahe alleine.
— Mit unserer Rückendeckung und mit meiner Rückendeckung, wenn Sie mich persönlich meinen, Herr Kollege.
Vielleicht darf ich Ihnen eine Ausfertigung der FDP-Beschlüsse zur Frage des Grenzkostenausgleiches zuleiten.
— Auch mit Kabinettsrückendeckung; denn Sie wundern sich darüber und werden sich immer wieder wundern, daß Beschlüsse, die wir in der Fraktion fassen, und Beschlüsse, die in der Fraktion des Koalitionspartners gefaßt werden, merkwürdigerweise mit der Politik des Kabinetts übereinstimmen. Das können Sie, glaube ich, gar nicht verstehen.
Es ist unangenehm — das gebe ich der Opposition ja zu —, stabilitätspolitische Erfolge einzuräumen, nachdem man zwei Jahre lang mit Kassandrarufen durch die Welt gezogen ist: Die Sozialliberalen können das überhaupt gar nicht; die können nur Inflation machen, nur Preistreiberei veranstalten. Nun steht man vor einem anderen Ergebnis. Vielleicht, Herr Kollege Strauß, nehmen Sie gelegentlich auch einmal Kenntnis von der Entwicklung der Tatsachen.
Außenwirtschaftlich haben wir eine beängstigend gute Position. Ich sage mit Bewußtsein: beängstigend gute Position. Wir sehen die Risiken, die Sie, Herr Strauß, zum Teil auch erwähnt haben. Aber Sie behaupten, das seien nicht die Folgen der Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung. Sie sagen, das helfe bei Arbeitslosigkeit und beim Beschäftigungsproblem. Richtig. Aber nicht die Folgen dieser Wirtschaftspolitik? Warum ist denn eigentlich die deutsche Exportindustrie in der Lage, in alle Märkte der Welt zu liefern, neben der Lieferfähigkeit und dem technischen Standard?
Deswegen, weil hier die Inflationsraten um ein so bedeutendes Maß niedriger sind, daß die Preiserhöhungsspielräume und die Verkaufsmöglichkeiten im Ausland so groß sind; ja beinahe zu groß sind, wenn wir uns unsere Situation ansehen.
Trotz dieser energiepolitischen Belastungen haben wir in der Frage des Wachstums der Volkswirtschaft auch in diesem Jahre noch ein reales Wachstum im Bruttosozialprodukt. Wir haben auch in der Einkommenssituation, bei den Einkommenszuwächsen einen realen Zuwachs in 1974. Und Sie werden sich wundern, meine Damen und Herren: Wir bringen ihn auch in 1975 zustande.
Was die Vollbeschäftigung angeht, so ist auch hier die Situation besser als anderswo. Aber kein Wort der Verniedlichung: die Situation ist bedrückend
— auch in unseren Augen —, deswegen diskutieren wir hier dieses Programm.
— Herr Müller-Hermann, wenn Sie doch wenigstens zuhören würden! Ich habe soeben Herrn Strauß gesagt, daß wir die Beschäftigung in den Exportindustrien und den Zusammenhang mit der Beschäftigungslage sehen. Das habe ich soeben gesagt, das ist zwei Minuten her.
Meine Damen und Herren, wir sagen noch einmal: Der strukturelle Umstellungsprozeß, der in dieser Wirtschaft notwendig ist — der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen, wir haben es hier schon unzählige Male getan —, ist doch erst auf der Basis der sozialen Absicherung möglich, die die sozialliberale Koalition den Arbeitslosen und den von solchen Krisen Betroffenen zur Verfügung gestellt hat und die wir heute verbessern.
Dem Ziel der Wiederherstellung der Vollbeschäftigung dienen die heutigen Maßnahmen. Wir wissen
— wir machen niemandem etwas vor —: Es wird keine Soforthilfe geben. Man kann hier nicht auf den Knopf drücken und Zündung erreichen, aber wir werden dieses Ziel lang- und mittelfristig erreichen. Wir haben die klare ökonomische und auch wirtschaftspolitische Erkenntnis — ich gebe zu, dies war nicht immer auf einen Nenner gebracht —, daß die Gewinnsituation der Unternehmen — ich darf ganz deutlich sagen: der Unternehmen, nicht der Unternehmer; wir wollen nicht irgend jemandem Luxusreisen finanzieren — zu verbessern ist, und die Unternehmen bestehen ja wohl nicht zuletzt aus den Beschäftigten. Die Verbesserung der Gewinnsituation der Unternehmen, führt zu Investitionen, und diese Investitionen sichern die Arbeitsplätze; dies ist heute wohl unbestritten. Dazu bedarf es eines besseren Investitionsklimas. Wir können uns im gegenwärtigen Zeitpunkt keine neuen Belastungen für die Wirtschaft leisten, und wir können uns auch
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Dr. Graf Lambsdorff
— ich stimme dem Herrn Bundeskanzler nachdrücklich zu — keine Verunsicherungen leisten.
Unsere Frage ist nur, ob wir die Opposition auffordern sollen, daran mitzuwirken. Meine Damen und Herren, meine Freunde und ich kommen mehr und mehr zu der resignierenden Erkenntnis, daß eine solche Aufforderung vergeblich sein wird. Sie werden, wie Sie es im bayerischen Landtagswahlkampf getan haben, weiter alles tun, um das Klima zu zerstören, weil Sie zunächst einmal Ihre parteipolitische Suppe kochen wollen.
— Herr Kollege Müller-Hermann, wenn Sie sich einmal ein bißchen angesehen haben oder ansehen wollten, was so in den bekannten Prospekten, z. B. in dem schönen grünen Prospekt zum bayerischen Wahlkampf alles stand, dann — ich will das hier nicht wiederholen — werden Sie wohl zugeben müssen, daß ich nicht so unrecht habe.
Wir sind gerne bereit, auf ein solches Angebot und auf solche Möglichkeiten einzugehen. Aber Sie können nicht erwarten, daß wir solchen Versicherungen — in der Tonart, wie es jetzt geschieht — Glauben schenken; dann werden wir uns aber darum bemühen, daß die Suppe, die Sie auf diesem Feuer kochen, Ihnen den Magen verderben wird.
Für die Fraktion der Freien Demokraten, meine Damen und Herren, erkläre ich: Wir sind zuversichtlich, daß dieses Konjunkturprogramm wirkt. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Regierung Schmidt/Genscher wird das dargestellte Ziel, nämlich den stabilitätsgerechten Aufschwung, erreichen. Wir stimmen der Überweisung an die Ausschüsse zu.
Das Wort hat der Abgeordnete Ehrenberg.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion steht voll hinter dem von der Bundesregierung vorgelegten Programm zur Förderung von Beschäftigung und Wachstum bei Stabilität. Die Regierungsfraktionen werden für eine zügige Realisierung durch Initiativgesetzgebung sorgen.
Die Bundesregierung setzt mit diesem breitgefächerten und wohlabgewogenen Programm ihre auf eine Verstetigung der wirtschaftlichen Entwicklung gezielte Politik fort,
eine Politik der Anpassung an sich sehr schnell ändernde Bedingungen dieser Politik.
So wie vor mehr als einem Jahr beim Ausbruch des Nahost-Konflikts und seinen ökonomischen Folgen die Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung dafür gesorgt hat, daß die Bundesrepublik Deutschland, ihre Wirtschaft und ihre Arbeitnehmer die Folgen dieser explosionsartigen Veränderung des Weltmarktes in sehr viel besserer Verfassung überstanden haben als viele andere, so werden wir auch mit dem neuen Programm dafür sorgen, daß dieser hervorragende Standort erhalten wird.
— Verehrter Herr Carstens, das mache ich garantiert öfter als Sie. Das dürfen Sie mir aus meiner Wahlkreisarbeit und aus meiner Verbundenheit mit dieser Arbeiterbewegung glauben.
Aber, verehrter Herr Carstens, wenn Sie der Bundesregierung und den Regierungsfraktionen nicht glauben, empfehle ich Ihnen, wie Herr Strauß das getan hat, das Sachverständigengutachten zu studieren, allerdings etwas breiter und gründlicher, als es aus den Zitaten von Herrn Strauß zum Ausdruck kam.
Es heißt dort in der Ziffer 32 nach einer sehr deutlichen und drastischen Schilderung der „Nöte der Welt", wie die Sachverständigen das bezeichnet haben — ich darf mit Genehmigung der Frau Präsidentin zitieren —:
Das Ordnungssystem in der Bundesrepublik und die Autorität ihrer staatlichen Institutionen haben sich als belastbar erwiesen. Durch die gegenwärtigen Schwierigkeiten hindurch kann man sehen, daß die Wirtschaft unseres Landes in einem gute Zustand ist. All dies sollte ausreichen, die Belastungsprobe auch in ihrem Höhepunkt, der im kommenden Winter zu erwarten ist, mit Erfolg zu bestehen.
So der Sachverständigenrat vor wenigen Wochen.
Die Bundesregierung hat mit dem jetzt vorgelegten Programm dieser vom Sachverständigenrat angekündigten Belastungsprobe prophylaktisch entgegengewirkt. Dieses Programm wird dafür sorgen, daß die Prognose über das gute Bestehen dieser Belastungsprobe zu den wenigen wirklich zutreffenden Prognosen, die abgegeben werden, gehört.
Das von der Bundesregierung vorgelegte Programm, diese Kombination aus gezielten Maßnahmen zur Stärkung der Investitionskraft der Unternehmen, direkten Hilfen zur Wiedereinstellung beschäftigungslos gewordener Arbeitnehmer, strukturverbessernden und energiesparenden Investitionen, Hilfen zur Rationalisierung der Bundesbahn, zusätzlichen Maßnahmen zur Modernisierung der Wohnungswirtschaft und zusätzlichen öffentlichen Aufträgen — hier liegt im Gegensatz zu dem oppositionellen Gerede von der Gießkanne eine sehr gezielte Hilfe für die mittelständische Wirtschaft vor, denn
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Dr. Ehrenberg
gerade mittlere und kleine Bauunternehmen werden von diesen Maßnahmen profitieren ,
entspricht den wirtschaftspolitischen Notwendigkeiten. Das Programm dient dazu, die Stabilitätserfolge, die unbestreitbar sind und auch von niemandem mehr ernsthaft bestritten werden, zu sichern, die Investitionsneigung zu stärken und die Beschäftigungslage Schritt für Schritt wieder zu verbessern.
Wenn die Opposition der Regierung und den Regierungsfraktionen vorwirft, daß wir zu lange gewartet haben — „zu spät" hat Herr Strauß gesagt, „zuwenig —,
muß man sich doch fragen, ob denn eigentlich, Herr Kollege Strauß, bei Ihrer knappen Redezeit von 60 Minuten, die sie noch überzogen haben, zum Thema wirklich nicht mehr zu sagen war.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Strauß?
Bitte sehr!
Ich hätte mich nicht gemeldet, Herr Kollege Ehrenberg, wenn Sie meine Aussagen nicht gefälscht hätten. Ich habe gesagt: zu spät und zuviel für zuwenig Ergebnis. Ich habe nicht gesagt: zuwenig.
Jedenfalls haben Sie auch „zu spät" gesagt, und das habe ich angeführt. Wenn schon „zu spät" und „zuwenig", Herr Strauß, muß ich noch einmal wiederholen:
Bei mehr als 60 Minuten Redezeit waren acht Minuten zum Thema nun wirklich zuwenig.
Ich habe sehr gut zugehört, Herr Strauß. Einiges von dem, was ich gehört habe, möchte ich jetzt in diesem Hause noch kommentieren.
Die Versäumnisse, Herr Strauß, die Sie der Bundesregierung vorwerfen, und die immer wieder vorkommende Vokabel von der Zerrüttung der Staatsfinanzen möchte ich mit der Gegenfrage kommentieren: Wie steht das im Zusammenhang mit Ihren Vorschlägen, die rund sieben Milliarden DM kosten oder, wenn wir die Vorschläge des DIHT hinzunehmen, fast 17 Milliarden DM?
Und 7 bis 17 Milliarden DM nicht einmalig als befristete, gezielte Konjunkturhilfe, sondern mit der
nun wirklich allerbreitesten Gießkanne übers Land gestreut, für immer und ewig!
Allein diese Tatsache zeigt doch, daß diese Vorschläge mit Konjunkturpolitik überhaupt nichts zu tun haben, sondern daß sie ausschließlich dem Zweck dienen, eine Korrektur der Steuerreform herbeizuführen, das, was an Steuergerechtigkeit ab 1. Januar 1975 eintreten wird, mit konjunkturpolitischer Begründung durch die Hintertür wieder zurücknehmen zu wollen.
Bei diesen Maßnahmen werden die Fraktionen der sozialliberalen Koalition weder Herrn Strauß noch dem Deutschen Industrie- und Handelstag, noch sonst jemandem folgen.
Und eines, verehrter Herr Kollege Strauß — auch wenn Sie es nicht hören mögen , eines muß hier wiederholt gesagt werden: Von Versäumnissen der sozialliberalen Regierung beim gegenwärtigen Zustand zu sprechen, das heißt doch, die Sozialdemokraten, die sozialliberale Regierung dafür verantwortlich zu machen, daß beispielsweise Großbritannien im ersten Halbjahr 1974 ein Handelsbilanzdefizit von 4,3 Milliarden Dollar hat, daß Japan 3 Milliarden und die USA 2,3 Milliarden Defizit aufweisen, während die Bundesrepublik Deutschland 4,9 Milliarden Handelsbilanzüberschuß in diesem Jahr erzielt hat.
Meine Kollege Graf Lambsdorff hat schon sehr deutlich gesagt, wie eng diese Überschußposition mit der Stabilitätspolitik der Bundesrepublik zusammenhängt, daß nur durch diese Stabilitätspolitik und den damit erreichten größer werdenden Wettbewerbsvorsprung der deutschen Wirtschaft auf dem Weltmarkt diese herausragende Positon der deutschen Wirtschaft erreichbar war. Von allen von der OECD-Statistik erfaßten Staaten haben nur Skandinavien, die Schweiz und die Bundesrepublik k e in Handelsbilanzdefizit; überall anderswo ist es aufgetreten. Bei dieser Sachlage von Versäumnissen der Bundesregierung zu sprechen, das ist nichts anderes als billige Polemik.
Nicht mehr billige Polemik, sondern entweder eine vorsätzlich falsche Darstellung oder aber auch eine Unkenntnis der Zusammenhänge ist festzustellen,
wenn Herr Strauß hier, den Orientierungsrahmen der Sozialdemokratischen Partei zitierend, Staatsquote und Steuerquote miteinander verwechselt. Auch Herr Strauß sollte wissen, daß die Staatsquote den Anteil der staatlichen Aufgabenerfüllung am Bruttosozialprodukt enthält und daß das eine völlig andere Größenordnung ist als die Steuerquote; denn auch der öffentlichen Hand sollte es ja inzwischen erlaubt sein, einen Teil ihrer Investitionen über den Kapitalmarkt zu finanzieren. Nicht nur erlaubt, sondern notwendig ist es im Sinne ökonomischer Vernunft, so zu handeln.
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Dr. Ehrenberg
Zur Steuerquote kommen Einnahmen aus Gebühren und Beiträgen hinzu. Erst alles zusammen ergibt dann den Gesamtbereich des Anteils der öffentlichen Hand am Sozialprodukt. Herr Strauß polemisiert hier gegen eine Steuerquote und verwechselt sie dabei mit der Staatsquote. Mit solchen Orientierungen könnte man allerdings einen Orientierungsrahmen nicht erarbeiten, und nicht ohne Grund hat sich ja auch die CDU/CSU an eine solche Aufgabe noch nie herangetraut.
Eine letzte Bemerkung zu den acht Minuten, die Herr Strauß zur Sache gesprochen hat.
— Nein! Das ist nicht unangenehm, sondern belanglos, Herr Carstens,
und mit Belanglosigkeiten sollte man dieses Haus am Freitag um 12 Uhr nicht mehr aufhalten.
Wenn Herr Strauß ,den Umfang der Inanspruchnahme des Kapitalmarktes durch die öffentliche Hand für zu groß hält, so ist vieles nicht zu verstehen, was anderswo gegen das Recycling, gegen die Wiederanlage der von den ölproduzierenden Staaten eingenommenen Gelder, gesagt worden ist. Ich darf für meine Fraktion erklären, daß wir es sehr dankbar empfinden, daß der Bundeskanzler hier von diesem Platz aus eindeutig diese notwendige Wiederanlage von durch die ölproduzierenden Staaten eingenommenen Geldern als positiv bewertet, gleichzeitig aber auch angekündigt hat, daß die Bundesregierung daran arbeitet, gefährliche Tendenzen durch geeignete Maßnahmen abzublocken.
In dieser nüchternen Beurteilung allein liegt die richtige Behandlung dieses Problems.
Vielleicht eine Bemerkung am Rande für die Öffentlichkeit, aber auch für die Kollegen der Opposition und für das angesehene Wirtschaftsblatt „Frankfurter Allgemeine Zeitung", das bei dem Kauf der Mercedes-Aktien durch Kuwait von der Gefahr der Überfremdung gesprochen hat: Ein sehr wirksames Mittel, sich vor Überfremdung des Einflusses auf den Aufsichtsratsbänken der großen Unternehmen zu bewahren, ist die Einführung der paritätischen Mitbestimmung in allen Großunternehmen.
Dann ist sichergestellt, daß mindestens 50 % der Aufsichtsratsmandate nationale Interessen vertreten.
Meine Damen und Herren, bei der engen Weltmarktverflechtung der Bundesrepublik wird jedes nationale Konjunkturprogramm um so wirksamer werden, je mehr es gelingt, unsere Handelspartner zu einer gleichgerichteten Wirtschaftspolitik zu bewegen. Darum hat der Bundeskanzler sehr richtig gehandelt, als er vor Beschluß dieses Programms die notwendigen, aus europäischer Solidarität und aus
ökonomischer Vernunft gleich notwendigen Abstimmungen in Washington und in Paris gesucht und erst dann die eigenen Entscheidungen hier herbeigeführt hat.
Wenn auch bei den so großen Unterschieden in der ökonomischen Situation nicht überall eine völlig parallele Politik zu erwarten ist, so ist doch schon die Übereinstimmung in den Grundlinien der Wirtschaftspolitik entscheidend wichtig, und diese ist gefunden worden.
Gestatten Sie mir darum ein Zitat aus dem gemeinsamen Kommuniqué zum Abschluß des Besuchs von Bundeskanzler Helmut Schmidt in den Vereinigten Staaten. Dort heißt es - ich darf mit der Genehmigung der Frau Präsidentin zitieren —:
Der Präsident und der Bundeskanzler stimmten überein, daß unter den derzeitigen Bedingungen beide ihre Binnenwirtschaftspolitik so gestalten müssen, daß Produktion und Beschäftigung gestärkt und neue inflationäre Impulse vermieden werden. Sie bekräftigen, daß beide Länder die Investitionstätigkeit fördern, die steigende Arbeitslosigkeit bekämpfen und Maßnahmen ergreifen müssen, um das Vertrauen in die kreditpolitische und wirtschaftliche Entwicklung zu stärken.
Meine Damen und Herren, überzeugender kann die Übereinstimmung der Wirtschaftspolitik unseres größten, ökonomisch und politisch mächtigsten Bündnispartners mit der hier betriebenen Politik nicht dargestellt werden. In diesem gemeinsamen Kommuniqué liegt auch ein großes Stück Anerkennung für die bisher durchgeführte und die zukünftige Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik.
Es täte der Opposition sicher gut, wenigstens ein bißchen davon zur Kenntnis zu nehmen.
— Ich weiß nicht, wen Sie damit meinen.
— Vielleicht erkundigen Sie sich einmal. Im übrigen bin ich um die verteilungspolitischen Erfolge der Politik der sozialliberalen Koalition nicht bange. Die Bilanz kann sich sehen lassen.
— Das ist ein überzeugendes Argument, für mich jedenfalls;
Sie dürften andere Maßstäbe haben, und Ihre Maßstäbe zu übernehmen, bin ich nicht bereit.
Meine Damen und Herren, dieses Programm entspricht der Konjunkturlage. Es ist die Fortsetzung einer konsequenten Stabilitäts- und Wachstumspolitik gleichermaßen. Diese Politik wurde unmittelbar nach der Ölpreiskrise mit der Aufhebung der
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Dr. Ehrenberg
Investitionsteuer, mit der Wiederzulassung der degressiven Abschreibung, mit der Wiederinkraftsetzung der Sonderabschreibung nach § 7 b und mit der vollen Ausführung des 1973 aus stabilitätspolitischen Gründen gestoppten Mittelstandsprogramms der Kreditanstalt für Wiederaufbau eingeleitet. In Fortführung dieser Beschlüsse sind die beiden Sonderprogramme zur regionalen Abstützung der Konjunktur verabschiedet worden. Mit all diesen wohldosierten Maßnahmen ist es der Bundesrepublik gelungen, auf jener traurigen Weltrangliste der internationalen Preissteigerungen den ehrenvollen letzten Platz unangefochten zu belegen, und wir werden das mit diesem Programm auch weiterhin tun.
Das neue Konjunkturprogramm bringt die Weichenstellung für einen Aufschwung bei Stabilität. Die wichtigsten Eckpunkte dieser Weichenstellung möchte ich hier noch einmal kurz umreißen.
Aus gutem Grund steht zu Beginn des Maßnahmenkatalogs der Bundesregierung der Hinweis auf eine ausreichende Geldversorgung durch die Bundesbank, eine Geldversorgung, die gleichzeitig die Chance gibt, den Preisauftrieb schrittweise weiter abzubauen, aber auch die expansiven Maßnahmen der Zukunft ausreichend zu finanzieren. Vor dem Hintergrund der Zentralbankratsbeschlüsse vom 5. Dezember wird die Bundesbank in der Lage sein, die vom Weltmarktzinsniveau her gebotenen Zinssenkungsspielräume voll auszunutzen, um damit die Liquiditätsversorgung der kommenden wirtschaftlichen Entwicklung sicherzustellen. Dieser geldpolitische Kurs ist die notwendige und inzwischen sichergestellte Basis für die anderen Maßnahmen, die der Belebung der Konjunktur dienen werden.
In diesem Zusammenhang muß auch noch einmal auf die konjunkturellen Wirkungen der Steuerreform hingewiesen werden. Durch die Steuerreform wird ab 1. Januar 1975 die Kaufkraft der Bürger in diesem Lande um mehr als 1 Milliarde DM monatlich gestärkt werden. Von den rund 14 Milliarden jährlicher Steuerentlastung entfallen fast 11 Milliarden DM auf die Arbeitnehmer in diesem Lande. Das war das Ziel dieser Steuerreform.
Diesen Impulsen auf der Nachfrageseite steht die zum 1. Dezember rückwirkend in Kraft tretende Investitionszulage von 7,5 % gegenüber. In der veröffentlichten Meinung, aber auch in den Vorschlägen, die vom DIHT bis hin zu Franz Josef Strauß gereicht haben, wird diese Investitionszulage etwas abträglich als Maßnahme nach dem Gießkannenprinzip behandelt, merkwürdigerweise immer von jenen Leuten, die gleichzeitig eine viel weiterreichende Maßnahme nach dem Gießkannenprinzip, nämlich die degressiven Abschreibungen anbieten. Diesen Widerspruch kann man vielleicht im „Bayernkurier" erklären. In diesem Hause ist das jedenfalls bis jetzt nicht gelungen.
Lassen Sie mich noch ein Wort zur Wirksamkeit der Investitionszulage sagen. Die Investitionszulage ist wirksamer als alle anderen vorgeschlagenen
Maßnahmen. Sie setzt dort an, wo die Arbeitsplätze der Zukunft gesichert werden, nämlich bei den Investitionen. Die Maßnahmen aus dem hier und dort vorgeschlagenen Bündel — beispielsweise die Abschreibungen — könnte nur der in Anspruch nehmen, der auch Gewinne gemacht hat, nicht aber der, der heute bei knapper Liquidität gute Absatzerwartungen in der Zukunft hat, dem es also nur an der Liquidität fehlt, um heute Investitionen durchzuführen. Außerdem gäbe es bei jenen Unternehmen, die noch große Gewinne machen — auch sie gibt es —, keine Gewähr dafür, daß Abschreibungserleichterungen auch für Investitionen genutzt würden. Die dadurch gewonnenen Mittel könnten genauso zur Konsolidierung der Bilanzen oder auch für den privaten Verbrauch verwendet werden. Die Zulage dagegen setzt genau und ausschließlich bei den Investitionen an, und gerade dies ist zur Zeit zur Verbesserung der Ertragskraft der Unternehmen nötig.
Man sollte auch damit aufhören, in diesem Zusammenhang über die unterschiedliche Behandlung von Ersatz-, Rationalisierungs- und Neuinvestitionen zu philosophieren. Für die Zulieferindustrie ist es völlig gleichgültig, wie die Volkswirte die einzelnen Investitionen bezeichnen. Jeder Auftrag — ob es sich dabei um Ersatz-, Rationalisierungs- oder Neuinvestitionen handelt — ist ein zusätzlicher Auftrag für die Hersteller von Anlagen. Es spielt gar keine Rolle, ob er sich in die Reihe der Neu- oder Ersatzinvestitionen eingliedert. Bei dem Tempo der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung in der Bundesrepublik gibt es außerdem keine Ersatzinvestitionen, die nicht gleichzeitig auch zur Modernisierung und Rationalisierung des Unternehmens beitrügen. Wenn man neue Maschinen bestellt, kauft man ja keine Maschinen mit dem Produktionstempo von vorgestern, sondern solche mit dem Tempo von heute.
Mit diesen zu erwartenden positiven Impulsen durch die Investitionszulage ist die Entscheidung der Bundesregierung, die in den öffentlichen Haushalten vorgesehenen Investitionen auf das erste Halbjahr vorzuziehen, in engem Zusammenhang zu sehen. Wie die Investitionszulage dem Zweck dient, auch schon geplante Investitionen in ihrer Abfolge zu beschleunigen, so wird dieser Beschluß der Bundesregierung dazu führen, daß die öffentlichen Investitionen so weit wie möglich in das erste Halbjahr verlagert werden. Dieser kumulative Effekt wird so viel positive Impulse auslösen, daß sich die Konjunktur im zweiten Halbjahr 1975 selber trägt.
Unterstützend kommen die direkten Hilfen zur Wiedereinstellung arbeitslos gewordener Arbeitnehmer hinzu. Die Richtlinien des Bundesarbeitsministers stellen sicher, daß dort kein Mißbrauch auftreten wird. Beides zusammen wird dafür sorgen, daß sich — nicht schon in den nächsten Wochen, aber schrittweise zum nächsten Frühjahr hin und über den Sommer hinweg — die Beschäftigungslage nachhaltig bessert und das wirtschaftliche Wachstum auf solider Grundlage wieder einsetzt.
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Dr. Ehrenberg
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit ein paar Anmerkungen zur Verteilungsproblematik der Investitionszulage machen. Diese Problematik muß gesehen werden. Es kann gar kein Zweifel daran sein, daß in der Investitionszulage so etwas liegt wie eine Förderung der Vermögensbildung in Unternehmerhand. Aber es ist bei der gegenwärtigen Ertragslage eine notwendige Förderung. Zu dem konjunkturpolitischen Instrumentarium, von dem die Bundesregierung in den letzten Jahren kräftig Gebrauch gemacht hat — die Instrumente der Investitionsteuer und der Stabilitätsabgabe geben ja allein die solide Finanzierungsbasis der gegenwärtigen Maßnahmen ab —, gehört auf der anderen Seite als notwendiges Gegenstück in einer anderen Konjunkturlage die Investitionszulage.
Beides sind Instrumente des gleichen antizyklischen Konjunkturinstrumentariums. Auf keines kann verzichtet werden.
Mein Kollege Lambsdorff hat schon eine Bemerkung zu den Vorschlägen von Herrn Pieroth gemacht. Ich kann mich dem nur anschließen, wenn er gesagt hat, daß man diesem so dringlichen Problem durch eine Verquickung mit der Konjunkturpolitik keinen guten Dienst tut, sondern beide Probleme nur vernebelt und nirgendwo zu einer Lösung kommt. Nicht ohne Grund sind ja Herrn Pieroths Vorschläge auch in seiner eigenen Fraktion nicht ernst genommen worden.
Aber was wird an wirtschaftspolitischen Aussagen der CDU/CSU denn überhaupt noch ernst genommen? Das muß man sich beispielsweise im Hinblick auf Äußerungen von Herrn Stoltenberg ernsthaft fragen, der sich sehr oft zur Wirtschaftspolitik meldet. Ich hatte gehofft, ihn heute hier zu sehen, den wirtschaftspolitischen Sprecher der CDU/CSU. Aber er ist nicht vorhanden.
— Der meldet sich ja nicht so oft zur Wirtschaftspolitik. Der hat sich noch nie als wirtschaftspolitischer Sprecher bezeichnet, wie Herr Stoltenberg das tat. Aber Sie haben viele Sprecher. Entschuldigung!
Jedenfalls hat Herr Stoltenberg, der dieses Recht für sich in Anspruch nimmt, am 24. November in einem Rundfunkinterview erklärt — ich darf mit Genehmigung der Frau Präsidentin zitieren —:
Ich glaube, daß man ernsthaft prüfen muß, ob man Anfang nächsten Jahres in einer Größenordnung von 1 bis 2 Milliarden DM in strukturpolitischen Bereichen tätig wird.
Anfang nächsten Jahres wollte Herr Stoltenberg prüfen. Herr Strauß sagte: Zu spät, zu spät, was die Regierung tut! Nur wenige Tage später, am 29. November, hat Herr Kohl im „Handelsblatt" eine ganz andere Auffassung vertreten. Herr Kohl sagte nämlich, das Ansteigen der Arbeitslosenzahl in diesem Winter sei nicht mehr zu verhindern; zusätzliche Ausgaben des Staates würden wahrscheinlich eher die Inflation beschleunigen als die Beschäftigung
anheben. Wen wundert es bei dieser Spannweite gegenteiliger Äußerungen noch, daß Herr Strauß in mehr als 60 Minuten konkret zu dem, was jetzt getan werden muß, nichts gesagt hat, abgesehen von dem Steuersegen, den er ausbreiten wollte!
Man braucht sich nicht zu wundern. Man sollte auch auf die sonstigen Ausführungen, die Herr Strauß im Vorfeld der Konjunkturdebatte gemacht hat, nicht mehr eingehen. Wir erinnern uns noch allzu sehr an das, was er auch beim Beginn der Erdölkrise gesagt hat, an den Vorschlag, den halben Mehrwertsteuersatz für die Automobilindustrie einzuführen, und vieles mehr.
Auf alles dies kann sich die sozialliberale Koalition nicht einlassen. Sie hat ein Programm vorgelegt, das mit einer Vielzahl von Maßnahmen Schritt für Schritt die Beschäftigungslage bessern, die Investitionsneigung stärken und damit die Grundlagen für einen stabilitätsgerechten Aufschwung geben wird.
Einen Fehler allerdings hat dieses Programm, nur hat diesen Fehler nicht die Bundesregierung zu vertreten: Dieses Programm bietet keine direkten Hilfen für den Ausbau der kommunalen Infrastruktur. Bei den Kommunen gibt es sehr viele vergabereife Projekte, deren Durchführung positive Impulse für die Bauwirtschaft enthalten würde ebenso wie ein wesentliches Stück Verbesserung der Lebensqualität. Die Bundesregierung hat auch in ihren beiden Sonderprogrammen eine Vielzahl solcher Projekte gefördert. Aber diese Maßnahmen fanden von Bayern bis Schleswig-Holstein bei den Landesregierungen nur wenig Resonanz.
Und das Land Bayern trat wiederum mit einem Erweiterungsantrag den Gang nach Karlsruhe an, um den Städtebauminister dafür zu verklagen, daß er es gewagt hatte, die Wohnungswirtschaft in Bayern zu fördern.
Die Bürger in Bayern werden darüber sicher anders denken.
Der Bundesregierung kann man es nicht verargen, wenn bei dieser Art von formalem Verfassungsverständnis das gegenwärtige Programm ein ausschließliches Bundesprogramm ist und keine Mischfinanzierung mehr enthält. Da gibt es nur wenige Ausnahmen. Ich erwähne nur z. B. die 50 Millionen DM für den Deichschutz. Ich hoffe sehr, daß diese 50 Millionen DM für den Deichschutz von den Ländern, die dafür in Frage kommen, angenommen und mit der notwendigen komplementären Finanzierung versehen werden.
Es bleibt für die Gemeinden in diesem Lande eine weitere Hoffnung. Es bleibt die Hoffnung, daß wenigstens die progressiven Länder die Chance dieses Programms nutzen werden. Denn mit der Auflösung der Mittel aus der Stabilitätsabgabe werden für Länder und Gemeinden 1,9 Milliarden DM frei, und wir hoffen sehr, daß sie in der gleichen konjunkturexpansiven und strukturverbessernden Richtung
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Dr. Ehrenberg
ausgegeben werden, wie es die Bundesregierung mit ihren Mitteln aus der Stabilitätsabgabe tun wird.
— Das können Sie vielleicht selber nachlesen; ein CDU-regiertes Land ist damit von mir sicher nicht gemeint.
— Das ist sicher auch ein Indiz, aber nicht für Progressivität.
Eine letzte Bemerkung zu den häufig befürchteten kumulativen Auswirkungen dieses Programms: In allen Rechnungen, die eine Stabilitätsgefährdung von diesem Programm erwarten, die eine kumulative Anhäufung der Nettokreditfinanzierung des Bundes und der Maßnahmen aus diesem Programm unterstellen, wird folgendes übersehen. Die Steuerschätzungen vom November und der sich aus diesen Steuerschätzungen errechnende Nettokreditbedarf gehen von dem gegenwärtigen Stand der Wirtschaftslage aus. Wirkt das Konjunkturprogramm
— und das ist so angelegt, daß es wirken wird —, dann verschieben sich die dort geschätzten Einnahmen zugunsten der Gebietskörperschaften. Mit jedem Beschäftigungserfolg erhöht sich die Einnahme bei der Lohnsteuer. Mit jeder neuen Investitionsbestellung fällt neue Umsatzsteuer an, und der Nettokreditbedarf, wie er heute geschätzt wird, wird um so kleiner, je größer der konjunkturpolitische Erfolg dieses Programms ist. Darum ist es absurd, das kumulativ zusammenzurechnen und daraus Gefahren für die Stabilitätspolitik zu befürchten.
Wer so intensiv wie die Bundesregierung und die Regierungsfraktionen in den letzten Jahren stabilitätspolitisch gearbeitet hat — mit diesen greifbaren Stabilitätserfolgen —, der ist von dem Verdacht frei, sich jetzt über die Stabilität hinwegzusetzen, sondern legt ein Programm wohlabgewogener Wachstums- und Stabilitätspolitik vor.
— Was steht denn darin?
— Den Zusammenhang müssen Sie mir erst klarmachen.
Ich habe von den positiven Stabilitätserfolgen dieser Bundesregierung gesprochen, und zwar vor dem unsicher gewordenen weltwirtschaftlichen Hintergrund. Wenn Sie auch nur einen Teil von diesem Hintergrund in sich aufgenommen hätten, dann hätte Ihr Zwischenruf ebensowenig erfolgen können wie die Ausführungen von Herrn Franz-Josef Strauß, bezogen auf die erste Hälfte oder auch Mitte der sechziger Jahre, wo in der westlichen Welt eine Weltmarktidylle herrschte und nicht die heutige Zerrüttung dieses Weltmarktes gegeben war. Das sollte sich langsam bis nach Südoldenburg herumgesprochen haben, hoffe ich.
— Ja, das können wir gern tun.
Meine Damen und Herren, dieses Programm, das die Bundesregierung vorgelegt hat, wird seine Wirkungen Schritt für Schritt zeigen. Es wird zu einem stabilitätsgerechten Aufschwung in diesem Lande führen. Darum stimmt die SPD-Bundestagsfraktion der Überweisung an die Ausschüsse zu. Wir hoffen sehr, daß sowohl die Opposition als auch die Bundesratsmehrheit die Mithilfe nicht versagen werden, so daß es möglich sein wird, das Programm noch vor Weihnachten zu verabschieden, damit es voll in Kraft treten kann.
Wer sich dem entgegenstellt,
der muß sich sagen lassen, daß er den stabilitätsgerechten Aufschwung nicht will. Herr Strauß hat sich vorhin beim Bundeskanzler darüber beklagt, daß dieses Tempo die Arbeitsfähigkeit des Parlaments überfordern würde. Ich kann für meine Fraktion erklären: Wir sind arbeitsfähig genug,
um das in der nächsten Woche zu schaffen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Blüm.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich mit Ihrer Erlaubnis mit einem Zitat beginnen:
Erinnern Sie sich noch an die letzte Krise. Es war im Februar 1967. Fast 700 000 Arbeitnehmer hatten ihre Stellung verloren — ohne Aussicht auf neue Arbeit. Fast 350 00 konnten nur noch mit Kurzarbeit das Notwendigste zum Leben verdienen . . . Die Wirtschaftskrise war perfekt.
So der Text einer Wahlanzeige aus dem Jahre 1969. Inzwischen, einige Jahre später, hat die sozialdemokratische Regierungspraxis einen neuen Text geschrieben: 800 000 Arbeitslose und rund 450 000 Kurzarbeiter.
Meine Damen und Herren, um die Arbeitsmarktsituation, die jetzige, zu charakterisieren, braucht
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 137. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Dezember 1974 9453
Dr. Blüm
die Opposition sich gar nicht in geistige Unkosten zu stürzen, sondern sie muß nur die Flugblätter aus dem Keller holen, die Sozialdemokraten 1967 und später verteilt haben.
Wir verhalten uns dabei noch zurückhaltend, denn die Krise war damals, wie die Zahlen beweisen, nicht so hart wie heute.
— Und kürzer.
Ich trage dies ohne Schadenfreude vor. Es gibt auch nicht die Spur einer oppositionellen Genugtuung; denn es gibt keine lachenden Dritten der Arbeitslosigkeit, jedenfalls nicht unter Demokraten. Uber das Schicksal von Arbeitslosen und die Not ihrer Familien kann sich niemand freuen und freut sich aus diesem Hause auch niemand.
Aber wie im privaten Leben, so gilt auch für das politische Leben: Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung. Um genau diese ungeschminkte Selbsterkenntnis geht es heute. Nur dann, wenn den Tatsachen nüchtern ins Auge geschaut wird, können die Kräfte mobilisiert werden, die dem Ernst der Situation angemessen sind.
Diese Wirklichkeitsdarstellung ist auch deshalb notwendig, weil sozialdemokratische Nebelwerferkompanien, wie auch heute morgen gezeigt wurde, ja ständig unterwegs sind, um die Sicht zu verhindern.
— Ich komme gleich auf die einschlägigen Zitate, Herrn Ehrenberg. Sie werden es erwarten können.
Seit einem halben Jahr erzählt der Herr Bundesarbeitsminister mit bewundernswerter Ausdauer, zur Schwarzmalerei bestehe kein Anlaß. Ich habe nicht gezählt, aber ich schätze, so zwanzigmal hat er diesen Selbstberuhigungsslogan inzwischen verwandt. Sein Fraktionskollege, Herr Ehrenberg, wiederholt mit schöner Gleichmäßigkeit, die Arbeitsmarktlage sei nicht alarmierend. So zuletzt am 23. Oktober in der „Bilanz"-Sendung, als bereits 600 Arbeitslose auf der Straße standen.
— Ich finde, eigentlich sollten Sie sich mehr darüber unterhalten, wie angepaßt Sie die Arbeitsmarktlage beschrieben haben, und nicht über meinen Versprecher.
Nun, der Herr Bundeskanzler, wie immer seiner Zeit voraus, hält die jeweils erreichte Arbeitslosenzahl für weniger schlimm als die folgende mögliche. 1972: „Wir würden 2 % Arbeitslosigkeit als eine schwere Fehlentwicklung der Wirtschaft ansehen." So am 23. August in „Handelsblatt". Im gleichen Jahr waren es dann schon 3 °/o, die er als unerträglich bezeichnet hat. Inzwischen hat sich seine Toleranzgrenze für Unerträglichkeit immer weiter nach oben verschoben.
Er ist inzwischen bei 5 °/o angelangt, jedenfalls nach den neuesten „Spiegel"-Meldungen, jedenfalls nach denen vom 19. August.
Helmut Schmidt ist also mit seinen beruhigenden Voraussagen immer auf der Flucht vor der Wirklichkeit. Es ist wie im Märchen vom Hasen und Igel, nur ist in der sozialdemokratischen Variation die sogenannte Unerträglichkeit immer schon enteilt, wenn sie von der Wirklichkeit eingeholt wird.
— Immer auf der Flucht.
Als besonders viel verwendeter Trost ist in letzter Zeit der Verweis auf andere Länder und auf die schlimmere Lage dort benutzt worden. Das ist für die Arbeitnehmer ein schwacher Trost, zumal wir, was die Beschäftigungslage angeht, nicht der Spitzenreiter sind, als der wir häufig ausgegeben werden. In Japan, Großbritannien und Frankreich ist die Arbeitslosigkeit geringer als bei uns. Zum anderen erinnert dieser internationale Vergleich an den Zuspruch, das Feuer sei zwar im Nachbarhause bereits im Parterre angelangt, man solle aber ruhig sein, wenn es im eigenen Hause erst den Dachstuhl erfaßt habe.
Es ist bei uns schlimm genug, und wenn es nicht überall besser wird, wird es auch bei uns noch schlimmer werden. Das ist jedenfalls meine Überzeugung. Wir werden vielleicht die Ruinen etwas später besichtigen können.
— Herr Ehrenberg, gedulden Sie sich, ich habe noch etwas Redezeit.
Die europäischen Nationen werden nur in einer gemeinsamen Anstrengung die wirtschaftliche Misere meistern können. Das gemeinsame Europa wird nicht in spektakulären Spitzengesprächen von Spitzenpolitikern, auch wenn sie Helmut Schmidt heißen, erreicht,
sondern nur durch die Stärkung europäischer Institutionen,
und zwar durch die Stärkung europäischer Institutionen, die auch wirklich etwas zu sagen haben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
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Bitte!
Kollege Blüm, können wir damit rechnen, daß Sie sehr konkrete faßbare Vorschläge zur Bewältigung der Situation machen, die wir und die Arbeitnehmer draußen in den Betrieben begreifen?
Herr Kollege Urbaniak, ich kann es verstehen, daß Sie nervös werden, wenn wir etwas ausführlicher von der Arbeitslosigkeit und der wirklichen Lage sprechen. Daß wir von den Fakten sprechen, halte ich aber für die Voraussetzung, wenn sich die Lage bessern soll.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Lassen Sie mich meinen Gedanken zu Ende führen.
Statt aber die Europäische Kommission zu stärken, hat der Herr Bundeskanzler alles getan, ihr Ansehen zu schmälern. Zuviel Bürokratie: ja, freilich, wenn man ihr so wenig Aufgaben gibt. Die Zufriedenheit oder gar der Stolz, der sich auf den Vergleich mit der Situation in den Nachbarländern bezieht, könnte sich sehr schnell als auf Sand gebaut herausstellen, denn ein Teil dieser Unterschiede und ein Teil unserer Vorteile beruht auf dem Exportüberhang, durch den nicht nur das binnenländische Angebot vernachlässigt, sondern auch die internationalen Spannungen vergrößert wurden.
— Nein, ich habe das Manuskript zu dem Thema, auch wenn es Ihnen nicht paßt.
Das außenwirtschaftliche Gleichgewicht ist außer Balance gebracht, und deshalb ist unsere Beschäftigungslage mehr und mehr von der Aufnahmefähigkeit der Exportmärkte abhängig geworden und ist deshalb auch labiler, als es auf den ersten Blick aussieht.
Die Arbeitslosigkeit ist auch nicht wie ein Wolkenbruch über uns gekommen. Das schlechte Wetter war schon lange erkennbar. Die Anzeichen ließen sich am Horizont schon vor der Ölkrise ausmachen. Seit 1969 stieg die Zahl der beschäftigungslosen Arbeitnehmer von 119 000 im November 1969 über 208 000 im Jahre 1971 auf die Zahl 332 000 im vorigen Jahr. Die jetzige Rekordmarke ist in aller Ohr.
Die Bundesregierung hat sich immer wieder bemüht, den erschreckenden Zahlen sozusagen mildernde Umstände abzugewinnen. Sie hat auf Teilzeitarbeitskräfte hingewiesen, die nur ein Zubrot
verdienen wollten und jetzt arbeitslos geworden seien.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Rapp?
Bitte schön!
Herr Kollege Blüm, erinnern Sie sich, daß es eineinhalb Jahre her ist, daß wir genau das umgekehrte Problem, nämlich Überbeschäftigung, hatten und Sie uns damals vorgeworfen haben, daß wir zu wenig gegen die Überbeschäftigung getan hätten?
Bei 332 000 Arbeitslosen, wie im letzten Jahr, kann ich nicht von Überbeschäftigung reden. Es ist rührend, solche Entlastungsversuche zu sehen; denn auf der Kehrseite der Medaille, dort, wo das ungünstige Licht nicht hinfällt, befinden sich jetzt 450 000 Kurzarbeiter. In 6 600 Betrieben wird kurzgearbeitet. Die Kurzarbeiter sind die Teilarbeitslosen jetzt und, womöglich, die potentiellen Totalarbeitslosen von morgen. Die 3,5 °/o Arbeitslosen, die die Statistik ausweist, sind nur ein Mittelwert. Wie alle Durchschnittswerte lenkt er von Extremfällen ab. Aber auch Extremfälle sind konkrete Fälle, weil lebendige Menschen davon betroffen sind.
In Coesfeld beispielsweise sind bereits 6 °/o der Arbeitnehmer arbeitslos. Jeder sechzehnte Arbeitnehmer ist dort ohne Arbeit. Coesfeld steht aber nicht allein. In Gelsenkirchen sind es 5,6 °/o. Hier entstehen Inseln beschäftigungspolitischer Hoffnungslosigkeit, denn wo jeder sechzehnte Arbeitnehmer ohne Arbeit ist, da gibt es nicht um die Ecke herum eine Möglichkeit, einen Ersatzarbeitsplatz zu bekommen.
Abseits und geradezu verniedlicht von diesen Durchschnittszahlen hat die Arbeitslosigkeit bei Frauen und Jugendlichen eingeschlagen. 69 000 junge Arbeitnehmer unter 20 Jahren waren Ende September dieses Jahres ohne Arbeit. Von Mai bis September ist die Arbeitslosigkeit in diesem Kreis der Arbeitnehmer, also bei den jugendlichen Arbeitnehmern, von 9,6 °/o auf 12,5 °/o hochgeschnellt. Davon war fast die Hälfte, rund 32 000, auf der Suche nach der ersten Stelle. 54 °/o der jungen Arbeitslosen hatten keine abgeschlossene Berufsausbildung. Wo bleibt das Berufsbildungsprogramm der Bundesregierung, frage ich da.
Der Briefwechsel zwischen Herrn Minister Rohde und Herrn Minister Friderichs ist ja noch kein Berufsbildungsprogramm.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 137. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Dezember 1974 9455
Dr. Blüm
Vorerst spielt die Regierung offenbar noch das Spiel: Wer hat den Schwarzen Peter? Das wäre an sich Ihr Vergnügen, wenn nicht die Leidtragenden dieses in letzter Zeit so beliebten Koalitionsspiels die arbeitslosen Jugendlichen wären.
Im übrigen hat die Opposition schon im März einen Antrag zur Reform der beruflichen Bildung und zur Novellierung des Berufsbildungsgesetzes vorgelegt. Wir können schließlich mit diesem Programm nicht warten, bis der Bundesbildungsminister von seinem alten Arbeitsplatz auf seinen neuen umgeschult ist und das Thema im Griff hat.
In der relativ hohen Frauenarbeitslosigkeit zeigt sich auch, so meine ich, daß die Gleichbehandlung von Mann und Frau in unserer Arbeitswelt noch ein Stück Rhetorik ist. Die fehlende Ausbildung, die vielerorts der Auslöser für Arbeitslosigkeit ist, bildet mit einen Grund für die hohe Zahl der arbeitslosen Frauen. Mangelnde berufliche Qualifikation vieler Frauen ist die Folge eines alten Vorurteils, für das die Frauen zahlen müssen.
Bei den älteren Arbeitnehmern fällt auf, daß sich die Zahl derjenigen, die ohne Arbeit sind, zwar stärker als in der Vergangenheit der Durchschnittszahl genähert hat, daß aber die, die es erwischt hat, länger arbeitslos sind als früher. Das beschäftigungspolitische Programm, das uns heute vorgelegt wird, ist viel zu wenig differenziert, um der unterschiedlichen Lage unterschiedlicher Gruppen der Arbeitslosigkeit angepaßt zu sein. Das ist unsere Forderung. Und, meine Damen und Herren, ein wirksames beschäftigungspolitisches Programm, ein Programm, das tatsächlich Arbeit schafft, wird von der Opposition jederzeit unterstützt werden.
Für die ausländischen Arbeitnehmer plant die SPD, wie ich der gestrigen Ausgabe des „Handelsblattes" entnommen habe, eine Wirtschaftsabgabe. Sie soll von den Unternehmern gezahlt werden, die ausländische Arbeitnehmer beschäftigen. Ich bewundere die Phantasie der Sozialdemokraten, wie sie Steuererhöhungen mit immer neuen Namen in die Diskussionen einschmuggeln. Eine solche Wirtschaftsabgabe ist ja auch nichts anderes
als die Einladung zur Entlassung der ausländischen Arbeitnehmer. Die Erfinder solcher Ideen sollten sich wenigstens die Unkosten der Scheinheiligkeit sparen.
Diese in Watte gepackte Ausweisung ist eine Deformation der Solidarität und nichts anderes als nationaler Egoismus, der bei unseren europäischen Nachbarn nicht gerade Begeisterung zur Integration wecken wird.
Ich wollte die Lage der Arbeitslosen hier deshalb so ausführlich schildern, weil ich der Meinung bin, daß jede erfolgreiche Therapie auf einer genauen Diagnose beruhen muß. Die Heilung der Arbeitslosigkeit wird jedenfalls nicht mit dem Holzhammer von Globalmaßnahmen, sondern nur durch ein differenziertes Arbeitsbeschaffungsprogramm und durch die Ankurbelung der Investitionen dort, wo sie ohne Hilfen nicht zustande kämen, zu schaffen sein.
Alle Hilfsmaßnahmen können aber nur Initialzündung sein. Die Dauerleistung des Motors Vollbeschäftigung ist von einer gesunden Wirtschaft abhängig, und die gilt es wieder in Fahrt zu bringen.
Das Ergänzungsstück zur Wirtschaftspolitik ist die Sozialpolitik. Unser soziales Sicherungssystem, auf das wir mit Recht so stolz sind und dessen Ausbau nicht erst, wie manche Legendenproduzenten uns weiszumachen versuchen, 1969 begann, verliert angesichts der inflationären Wirtschaft seine Zuverlässigkeit.
Es ist nicht sehr beruhigend, daß ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, zu dem auf die Arbeitslosenversicherung die größten Belastungen zukommen, diese Arbeitslosenversicherung nicht mit einem soliden Fundus von Liquidität ausgestattet ist.
Für das Haushaltsjahr 1974 müssen 2,2 bis 2,3 Milliarden DM der Rücklage entnommen werden, und die Bundesregierung muß 1975 wahrscheinlich mit einem Darlehen von 500 Millionen DM einspringen, damit die Bundesanstalt ihren gesetzlichen Verpflichtungen aus dem Arbeitsförderungsgesetz überhaupt noch entsprechen kann.
Diejenigen, die schon vor Jahresfrist auf die Finanzbedürfnisse der Bundesanstalt und auf den reduzierten Beitragssatz aufmerksam gemacht haben, sind leider Gottes durch die Entwicklung bestätigt worden. Aber der Herr Bundesarbeitsminister hat es ja angeblich immer besser gewußt. Noch am 7. Januar 1974 hat er sehr selbstbewußt in der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung" erklärt, der Beitragssatz von 1,7 O/0 reiche aus, alle Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit zu finanzieren. Jetzt — und zu spät — werden 2 0/o Beitrag, wie ihn das Arbeitsförderungsgesetz vorsieht, unumgänglich. Ich erinnere daran nicht aus irgendeiner Art von Rechthaberei, sondern damit die Chance genutzt wird, aus Erfahrungen klüger zu werden, und damit die sozialdemokratischen Gesellschaftspolitiker endlich vom hohen Roß ihrer Selbstüberschätzung herabsteigen.
Diejenigen jedenfalls, die ausgezogen sind, das Jahr 2000 planerisch zu bewältigen, waren unfähig, das Jahr 1974 richtig einzuschätzen.
Ich bin nicht gegen Futurologie, aber ein Schuß Gegenwartskunde hätte dieser Regierung gut getan. Im übrigen: Das schönste Arbeitslosengeld — darin stimmen wir sicherlich alle überein – kann nicht das Recht auf Arbeit ersetzen, und die Arbeitslosigkeit ist nicht nur ein materieller Mangel, sondern wird von vielen als eine soziale Deklassierung empfunden.
9456 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 137. Sitzung, Bonn, Freitag, den 13. Dezember 1974
Dr. Blüm
Um so mehr muß auch von dieser Stelle der Appell an alle Arbeitsämter gehen, auf das manchmal leider angeschlagene Selbstwertgefühl ihrer „Kunden", der Arbeitslosen, Rücksicht zu nehmen. Jeder kann sich die Belastungen des Personals in Arbeitsämtern vorstellen, vor allen Dingen auch deshalb, weil die Anzahl der dort Beschäftigten für ganz andere Zeiten gedacht war, jedenfalls für bessere Zeiten, als wir sie heute haben. Deshalb muß jetzt geprüft werden, wie die Rationalisierung der Arbeitsämter und die Auszahlungen des Arbeitslosengeldes beschleunigt werden können, wie womöglich ein Abschlag im voraus gezahlt werden kann, damit die Arbeitslosen nicht so lange auf ihr Geld warten müssen. Die deprimierend langen Wartezeiten, bis die Hilfe in Gang kommt, müssen jedenfalls verkürzt werden.
In dieser Zeit geraten auch andere Sozialgesetze auf den Prüfstein der Bewährung. Ich denke hier ganz besonders an den sozialen Kündigungsschutz. Arbeitgeber, aber auch Arbeitnehmer dürfen ihre beschäftigungspolitischen Probleme nicht auf Kosten der Schwächsten lösen wollen. Gerade in der Not muß sich soziale Gesinnung beweisen. Unsere behinderten Mitbürger dürfen nicht die ersten sein, die ausgesucht werden, wenn Arbeitskräfte freigesetzt werden sollen. Dennoch ist die Zahl der arbeitslosen Behinderten überdurchschnittlich hoch. Wir haben 130 000 behinderte Arbeitslose; das sind 23 °/o.
Doch jetzt zum Herzstück des regierungsamtlichen Konjunkturprogramms. Über die finanzielle Dekkung macht die Regierung Angaben, die aus nichts anderem als aus vagen Hoffnungen bestehen. Ich zitiere aus der heutigen Vorlage:
Die durch die befristete Gewährung dieser Investitionszulage unmittelbar eintretenden Steuerausfälle werden durch Steuereinnahmen aus der erwarteten Belebung der Wirtschaftstätigkeit voraussichtlich mindest ausgeglichen.
Eine solche Angabe ist mindestens voraussichtlich, sozusagen vielleicht, unzuverlässig.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ehrenberg?
Herr Kollege Ehrenberg, ich darf das noch im Zusammenhang darstellen.
— Sie haben schon bessere Witze gemacht, Herr Dr. Ehrenberg.
Die Investitionszulage — um darauf zu sprechen zu kommen — soll auf Gute und Schlechte, auf Große
und Kleine, auf Arme und Reiche die Sonne der Zuwendung von 7,5 °/o scheinen lassen. Das Vorhaben steht in Gefahr, biblische Dimensionen anzunehmen: Wer hat, dem wird noch gegeben werden; denn in den Genuß dieser Zulagen werden ja überhaupt nur die kommen, die investieren können.
Ich will nur einmal ein paar Zahlen nennen. Veba plant — schon vor der Investitionszulage — für 1975 2,2 Milliarden DM Investitionen, RWE 2 Milliarden DM, BASF 1,7 Milliarden DM — alles vor der Zulage —, Siemens 1,4 Milliarden DM, Daimler-Benz 700 Millionen DM. Wenn die das alle zum richtigen Zeitpunkt einbringen können und daran habe ich keinen Zweifel —, dann wären sie dumm, wenn sie diese Investitionszulage nicht mitnehmen wollten. Nur, für sie war sie eigentlich nicht gedacht;
denn sie war gedacht für die Unternehmen, die von der Pleite bedroht sind. Und das sind eben nicht die großen Flaggschiffe der deutschen Wirtschaft, sondern vornehmlich die mittelständischen Unternehmen. Wir haben 7 500 Pleiten als neue Nachkriegshöchstleistung in dieser Zeit produziert.
Die Investitionszulage ist eine besondere Variante der Erfahrung, die der Volksmund in den Satz gefaßt hat: Die Kleinen hängen und die Großen laufen lassen. Jetzt werden die Großen besonders gefördert und die Kleinen saufen eben ab. Das ist die Variation.
Ist das, so frage ich jedenfalls, Herr Kollege Ehrenberg — um Ihrem Betätigungsdrang Objekte zu geben , die Vorstellung von der Strukturpolitik dieser Regierung? Nach der Rezession werden die Großen wahrscheinlich noch größer und die Starken wahrscheinlich noch stärker sein. Das ist das alte Darwinsche Gesetz, auf die Wirtschaft bezogen: Die großen Fische fressen die kleinen Fische, und das wird zum Muster Ihrer Wirtschaftspolitik. Mit sozialer Marktwirtschaft hat das jedenfalls nichts zu tun.
Niemand wehrt sich gegen Strukturpolitik, und niemand wehrt sich gegen notwendige Anpassungen. Nur, wenn die so rabiat und so rücksichtslos durchgeführt werden, wie Sie es tun — denken Sie an die Automobilindustrie —, dann sind die Leidtragenden in erster Linie die Arbeitnehmer, und die werden sich bei Ihnen zu bedanken haben.
Wenn wir, meine Damen und Herren, aus der Talsohle, in die uns diese Politik geführt hat, mit Investitionszulagen herauskommen sollen — was ja nicht sicher ist , dann wird auch die Vermögensverteilung einen weiteren Verzerrungsimpuls erhalten haben. Mit der Inflation und mit der Überwindung der Rezession ist Vermögensverschiebung verbunden. Es ist also falsch, der Regierung vorzuwerfen, sie betreibe keine Vermögenspolitik. Sie betreibt Vermögenspolitik — eine sehr massive so-
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 137. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Dezember 1974 9457
Dr. Blüm
gar —, nur keine soziale Vermögenspolitik. Das ist der Punkt, den wir ihr vorzuwerfen haben.
Sie können gar nicht soviel soziale Vermögenspolitik betreiben, wie Sie andererseits durch Inflation schon umverteilt haben. Das ist der erste Punkt einer Vermögenspolitik.
Unvorbereitet steht die Regierung den sozialen Aufgaben eines möglichen Aufschwungs gegenüber. Sie hat noch nicht einmal für die Unternehmen, die freiwillig Vermögenspolitik betreiben wollen, die ihre Arbeitnehmer an dem Zuwachs freiwillig beteiligen wollen, bessere Möglichkeiten der Beteiligung und bessere Möglichkeiten der Vermögensbildung sozialer Natur geschaffen. Die vielen eigentumspolitischen Pläne, die die Regierung von einer Schublade in die andere geschoben hat, nützen den Arbeitnehmern gar nichts, Null Komma nichts. Sie waren, wie ein Großteil der sozialliberalen Reformpolitik, von papierenem Wert.
- Die Wahrheit werden Sie doch wohl noch ertragen können. —
Doch inzwischen hat sich auch bei den Arbeitnehmern herumgesprochen, daß das sozialliberale Ankündigungsgegacker nichts, aber auch gar nichts über das Zustandekommen der Ankündigung sagt. Klammheimlich hat der Herr Bundesarbeitsminister der „Wirtschaftswoche" am 29. November — ich zitiere — eingestanden:
Mit der Verabschiedung der vermögenspolitischen Gesetze ist in dieser Legislaturperiode nicht mehr zu rechnen.
Herr Ehrenberg, Sie stehen nicht nur jetzt vermögenspolitisch mit leeren Händen da, sondern Sie stehen für die ganze Legislaturperiode vermögenspolitisch nackt und bloß da.
Meine Damen und Herren, es ist mehr als merkwürdig, daß ausgerechnet diejenigen, die der CDU vorwerfen, sie habe in Sachen Vermögenspolitik zuwenig getan, gar nichts machen. Ich meine, die müßten erst einmal vor ihrer eigenen Tür kehren, bevor sie sich die Mühe machen, unsere Türe zu besuchen.
Vermögenspolitik ist jedenfalls nur noch im Museum sozial- und freidemokratischer Hoffnungen zu besichtigen. Es muß aber — das ist unsere Meinung — Vorsorge getroffen werden, daß der Aufschwung verteilungspolitisch korrigierbar bleibt. Für die Zukunft muß dafür gesorgt werden, daß nicht weniger Kapital gebildet wird, aber mehr Kapitalgeber entstehen. Das ist unser ordnungspolitisches Angebot in der sozialen Marktwirtschaft.
— Dazu hat die CDU nicht nur einen, sondern schon mehrere Vorschläge, wie Sie wissen, vorgelegt — auch in der letzten Legislaturperiode.
Dank Ihrer Blockade sind den Arbeitnehmern pro Jahr 7 Milliarden DM Vermögen verlorengegangen, das zustande gekommen wäre, wenn der Burgbacher-Plan verwirklicht worden wäre.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte!
Herr Kollege Blüm, würden Sie mir recht geben,
wenn ich sage, daß die Vorlage von Vermögensbildungsplänen in diesem Hause — so gut sie auch sein mögen — überhaupt nicht effektiv werden kann, weil sich die Sozialdemokraten und die Freien Demokraten dazu entschlossen haben, den Arbeitnehmern in Sachen Vermögensbildung in dieser Legislaturperiode überhaupt nichts mehr zu bieten?
Ja, — —
- Vielleicht hat der Herr Breidbach nur dafür sorgen wollen, daß Sie die Mitteilungen Ihres Arbeitsministers auch zur Kenntnis nehmen. Denn der hat genau das gesagt, was auch Herr Breidbach hier gerade angeschnitten hat.
Manchmal können Sie die Opposition auch als Briefträger von regierungsamtlichen Mitteilungen benutzen, wenn sie bei Ihnen nicht angekommen sind.
Den Arbeitnehmern wird niemand einen Lohnstopp einreden können, schon gar nicht, wenn nicht auch die Preise gestoppt werden. Das eine wie das andere paßt nicht in die Ordnungsvorstellungen der sozialen Marktwirtschaft und hat sich zudem in den Ländern, in denen es versucht wurde, als unwirksam erwiesen. Aber was haben die Arbeitnehmer von Lohnerhöhungen, die durch höhere Preise wieder aufgefressen werden? Es kommt nicht darauf an, was in der Lohntüte ist, sondern darauf,
was man mit dem machen kann, was in der Lohntüte ist.
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Dr. Blüm
— Vielleicht muß man auch diese Erkenntnisse wiederholen, wenn sie in Vergessenheit geraten sollten.
Die Arbeitnehmer werden darauf achten müssen, daß in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit die Verteilungskämpfe nicht in Wirklichkeit Kämpfe sind zwischen denjenigen, die in Arbeit stehen, und denjenigen, die arbeitslos sind, und sich die tatsächliche Umverteilung nur zwischen diesen beiden Gruppen abspielt und durch die Zahl der Arbeitslosen reguliert wird. Darauf haben die Arbeitnehmer auch in dieser Situation zu achten.
Der Herr Bundeskanzler hat heute morgen die Arbeitnehmer mit der Hoffnung zu trösten versucht, daß ja am 1. Januar Steuer- und Kindergeldreform ins Haus stünden und damit eine — ich zitiere mit Genehmigung der Frau Präsidentin — „hervorragende Grundlage" zur Verfügung stehe. Ich meine, es müßte darauf hingewiesen werden, daß vor einem Jahr, als die Opposition auf den Zusammenhang zwischen steuerpolitischer Entlastung und Lohn hingewiesen hat, der Großteil der Sozialdemokraten — ich kenne gar keinen, der gegenteiliger Meinung war — dies als Ablenkungsmanöver bezeichnet hat und Herr Ehrenberg sogar die Tarifautonomie in Gefahr sah.
Ich hätte mir gewünscht, daß Sie dies heute morgen in der Debatte Ihrem Herrn Bundeskanzler gesagt hätten. Es kann in diesem Hause ja nicht der Satz gelten: Wenn zwei dasselbe tun, dann ist es nicht dasselbe. Was aus der Sicht der Opposition nicht erlaubt ist, das muß sie auch ihrem Bundeskanzler verbieten.
— Es hat sich nichts anderes geändert, als daß die Arbeitslosigkeit größer geworden ist. Das ist die einzige Änderung.
Im übrigen: Was durch Steuerentlastung in die eine Tasche hineingegeben wird, ist durch die erhöhten Sozialabgaben in der Gefahr, aus der anderen Tasche wieder herausgeholt zu werden. Allein die Krankenversicherung hat eine Kostenexplosion, die wahrscheinlich im nächsten Jahr die astronomische Summe von 90 Milliarden DM erreichen wird. Wir werden wahrscheinlich, wie die Ortskrankenkassen angegeben haben, durchschnittliche Krankenkassenbeitragssätze von 13 % haben.
Angesichts dieser Lage spricht der Herr Bundesarbeitsminister davon, die Lastquote der Sozialabgaben sei nun erreicht, es dürfe gar nichts mehr verändert werden. In der Rentenversicherung ändert sich tatsächlich nichts; das hält er offenbar fest, auch mit Hilfe eines Sozialbudgets, das die Wachstumsraten mehr im Blindflug als auf Grund der tatsächlichen Wachstumschancen einkalkuliert hat.
Man kann dem Herrn Bundesarbeitsminister nur sagen: Dem Arbeitnehmer ist es relativ gleichgültig, wo die Sozialabgaben steigen, bei der Krankenversicherung oder bei der Rentenversicherung. Der Arbeitnehmer hat nur ein Interesse: daß die Abgaben nicht steigen. Der Arbeitnehmer hat nicht einen Geldbeutel für die Rentenversicherung und einen anderen Geldbeutel für die Krankenversicherung. Er bezahlt alles aus einem Geldbeutel, und der wird durch diese Politik immer schmäler.
Es wird in diesen Tagen viel nach der Alternative der Opposition gefragt. Sie haben es ja auch als eiligste Frage getan und uns gleichzeitig eingeladen, mit Ihnen zu handeln. Was wollen Sie jetzt eigentlich? Wollen Sie, daß wir nicht nein sagen, oder wollen Sie das Kontrastprogramm?
Ich kann nur sagen: Wenn jemand einen Herzinfarkt hat, hilft es nichts, auf die Nützlichkeit von Vorsorgeuntersuchungen hinzuweisen. Jetzt gilt es, die Krise zu meistern.
Die eigentliche Alternative der Opposition liegt hinter uns. Die hieß nämlich, diese Krise zu verhindern.
Das war die Alternative der Opposition.
Diese Alternative wurde weder von der SPD noch ihren freidemokratischen Anhängern genutzt.
Wir können jetzt nicht den gesellschaftspolitischen Stillstand reklamieren. Die Entwicklung geht weiter, mit und ohne uns.
Eine aktive Politik kann sich nicht mit der Zuschauerrolle begnügen. Das Wort „sozial" im Namen unserer Wirtschaftsordnung hat sich gerade jetzt zu erweisen. Ich bin gegen eine Reformpolitik, die in der Hochkonjunktur — dem Wetterfrosch vergleichbar — so hoch auf die Leiter des politischen Ansehens gesetzt wird, daß der Frosch schon keine Sprossen mehr unter sich hat. Und was dann passiert, das haben wir ja gerade erfahren. Und dann, in schlechten Zeiten, wird diese Reformpolitik völlig aus dem Verkehr gezogen. Wenn das jetzige Programm der Regierung nicht mehr ist als ein Krisenmanagement, dann steckt im nächsten Aufschwung schon der Keim zum nächsten Abschwung, und das Ankurbeln ist nur die Vorbereitung für die nächste Krise oder Krisenkette.
Was wir brauchen, ist mehr Kooperation und mehr Partnerschaft, und das nicht nur hierzulande, sondern weltweit. Wir können uns den Luxus brutaler Klassenkämpfe gar nicht mehr leisten, weder den von oben, noch den von unten. Mit dem Mittel des brutalen Machteinsatzes werden die sozialen Konflikte der Zukunft nicht gelöst werden, weder die traditionellen Konflikte zwischen Arbeit und Kapi-
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Dr. Blüm
tal noch die neuen, oft unbemerkten, beispielsweise die zwischen Leistungsfähigen und denen, die nicht die Chance zur gleichen Leistung haben und die wir etwas sehr überheblich unter „Randgruppen" rubrizieren und damit unsere eigene Selbstüberschätzung entlarven. Armut, Not und Ungerechtigkeit befinden sich keineswegs dort, wo wir sie in unserem Bewußtsein placiert haben, nämlich am Rande, sondern leben mitten unter uns, sind unser Nachbar. Und der Hunger ist in der Welt kein Randproblem. Zwei Drittel der Menschheit hungern, so daß eher die Satten in dieser Welt eine Randgruppe sind.
Wenn wir uns allein auf Machteinsatz verlassen, so könnten wir noch von unliebsamen Überraschungen eingeholt werden; denn nicht immer werden wir diejenigen sein, die die Stärkeren sind. Es könnte auch sein, daß die armen Habenichtse dieser Erde sich auf das Wenige, was sie exklusiv besitzen, besinnen und es als Monopol gebrauchen. Was den Ölländern recht war, das wird den Kupfer- und anderen Rohstoffländern womöglich billig sein. Im Verlaufe eines solch globalen Freistilringkampfes könnte es sogar passieren, daß wir, die muskelprotzenden Industrienationen, mit dem Rücken auf dem Boden liegen. Vor dem Rückzug in eine politische Eiszeit wird uns nur das Modell der Partnerschaft bewahren, eine Welt, in der jedermann jedermanns Partner sein kann und niemand vor der Tür steht.
Das Wort hat der Herr Bundesminister Friderichs.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte auf den Blümchen-Strauß, so kann man das, glaube ich, nennen, doch kurz eingehen, möchte aber, bevor ich zur Sache etwas sage, eine Vorbemerkung machen.
Herr Abgeordneter Dr. Strauß, ich komme nicht umhin, eines zu sagen. Ich fand, daß Ihre Bemerkung, die sich auf den Abgeordneten Wehner bezog, in der Sie glaubten, in einer nicht ungeschickten Formulierung darstellen zu sollen — ich habe das Protokoll nicht gelesen, ich muß aus dem Gedächtnis zitieren —, „diejenigen zweifeln, ob er in ein demokratisches Parlament gehöre", eine bedauerliche Entgleisung des heutigen Vormittags war.
Ich weiß nicht, ob es Stil unter Demokraten ist, so etwas zu sagen, und ich weiß nicht, woher Sie, Herr Dr. Strauß, das Recht nehmen — gerade Sie —, dies hier zu sagen.
— Ich bitte um Entschuldigung: Ich habe ein bestimmtes Verhältnis zur parlamentarischen Demokratie.
— Ich habe ausdrücklich gesagt, daß ich — —
— Herr Dr. Strauß, ich hätte niemals den Mut — Sie können es auch anders nennen —, bei irgendeinem Mitglied dieses Hauses zu zweifeln, ob es legitimiert sei, in einem demokratisch gewählten Parlament zu sitzen. Dies ist schlechter Stil, und den sollten wir uns in diesem Hause nicht angewöhnen.
Die Generation, die die Zeit bis 1945 nicht mit Bewußtsein miterlebt hat — ich gehöre ihr an —, reagiert auf so etwas vielleicht besonders empfindlich.
Zu den wirtschaftspolitischen Fragen. Herr Abgeordneter B 1 ü m , ich habe Ihre Ausführungen
— das ist Ihre Beurteilung, Herr Mertes, die können Sie machen, wie Sie wollen — nicht in einen klaren Kontext mit den übrigen Ausführungen stellen können, die Ihr wirtschaftspolitischer Sprecher vorgetragen hat. Sie verlangen — ich zitiere aus dem, was ich mitgehört habe — differenzierte Beschäftigungspolitik. Sie sagten: Diese Globalpolitik ist Holzhammerpolitik, wir brauchen gezielte — und, und, und — Maßnahmen. Nun muß ich Ihnen sagen: Es gibt ein Gesetz über Stabilität und Wachstum, und es gibt eine Wirtschaftsordnung, die Marktwirtschaft heißt. Diesen beiden ist nun einmal eigentümlich, daß zur Konjunktur-, zur Prozeßpolitik zunächst und primär die Globalsteuerung gehört. Zu der hat sich Ihre Partei in der Großen Koalition mit der Einführung dieses Gesetzes bekannt.
Ich bekenne mich auch heute dazu.
9460 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 137. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Dezember 1974
Bundesminister Dr. Friderichs
Herr Strauß hat an anderer Stelle die ganz klare, ordnungspolitisch saubere Maßnahme der Investitionszulage abwertend als „diese Gießkanne" bezeichnet, und Sie Herr Blüm, haben mit nicht ungeschickten Worten der Popularitätshascherei gesagt: Das trifft die Großen, die werden immer reicher, usw. - Globalsteuerung ist eben so angelegt!
Das Tolle ist: Wenn wir selber mittels strukturpolitischer Maßnahmen differenzieren oder wenn das, was Sie hier in Ihrer Kritik vortragen, von anderen vorgeschlagen wird, dann schreien Sie: Investitionslenkung! Was wollen Sie eigentlich?
Zweite Bemerkung. Sie haben die Bundesregierung für die Lage in der deutschen Automobilindustrie verantwortlich gemacht. Zuständig ist sie natürlich für alles. Wir haben einen Rückgang der Zulassungen von Automobilen in der Bundesrepublik von 20 Oh. Ich habe die Liste der relevanten Länder der Welt vor mir liegen. Da gibt es drei Länder mit positivem Vorzeichen, das ist Schweden mit - 26 % Zulassungen, das ist Spanien mit ± 0 -
da steht aber noch ein Plus davor , und das ist Australien mit + 5 °/o. Alle anderen Länder der Welt haben in diesem .Jahr einen Rückgang der Zulassungen von Automobilen. Die Zahlen schwanken zwischen den eben genannten Plus-Zahlen und der höchsten Minus-Zahl, der Zahl Japans, von - 32 °/o. Noch viel wichtiger für Deutschland ist die Zahl der Vereinigten Staaten, - 26 %. Wollen Sie der deutschen Öffentlichkeit etwa ernsthaft weismachen, daß, wenn die Welt nach den energiepolitischen Ereignissen des letzten Winters weniger Automobile kauft — aus sehr wohl erwogenen Gründen weniger Automobile kauft , dann eine Bundesregierung sagen könne: Wir produzieren einfach 20 °/o mehr, damit sichern wir die Arbeitsplätze? So etwas können Sie doch der deutschen Öffentlichkeit nicht verkaufen!
— Das haben Sie hier klipp und klar dargelegt. Ich werde mich gleich zu den anderen Dingen äußern.
Sie haben die Investitionszulage - -
- Sie kämen schneller zum nächsten Redner, wenn
Sie mich ausreden ließen. Aber das ist Ihr Problem. Ich habe Zeit.
Herr Blüm, Sie haben die Investitionszulage in Höhe
von 7,5 °/o kritisiert. Dazu ist zweierlei zu sagen.
Erstens: Sie haben die Möglichkeit, sie abzulehnen.
Zweitens: Herr Stoltenberg hat sie nicht kritisiert; er plädiert aber für eine Erhöhung auf 10 %.
Ich muß es einfach so sagen, wie es ist.
Worum es hier geht, ist doch, eine Entwicklung herbeizuführen, die zu verstärkten privaten Investitionen zu einem möglichst frühen Zeitpunkt des .Jahres 1975 führt. Wenn Sie private Investitionen anreizen wollen, müssen Sie die Rahmenbedingungen dafür schaffen. Im Stabilitäts- und Wachtumsgesetz ist das Instrument der Prämie vorgesehen. Der Bundeskanzler hat klar gesagt, warum er die Investitionszulage der Prämie vorzieht. Ich teile seine Meinung. Die Anlastungsfragen sind bei beiden Instrumenten die gleichen. Insofern war das Argument von Ihnen, Herr Dr. Strauß, die Länder hätten nicht gewußt, von wem die Investitionszulage aufzubringen ist, unrichtig, denn die Länder wußten dies aus dem Konjunkturrat und dem Finanzplanungsrat natürlich exakt. Im übrigen entspricht dieser Aufbringungsmodus exakt der Regelung des § 26 des Stabilitätsgesetzes. Insofern kann es in dieser Hinsicht überhaupt keinen Irrtum geben.
Herr Blüm, Sie haben hinzugefügt, dieser Aufschwung müsse verteilungspolitisch korrigierbar sein. Sie haben weiter gesagt: Was nutzt es den Arbeitnehmern — dies ist auch so eine beliebte Floskel —
Moment, ich will mit Ihnen jetzt darüber sprechen, ob das stimmt, was Sie gesagt haben —, wenn Ihre Lohnerhöhungen unverzüglich durch die Inflation wieder aufgefressen werden? Mit dieser Fragestellung möchte ich mich jetzt einmal beschäftigen. Sie haben mir eben zugerufen: Das stimmt! Das Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit ist 1969 um 12,7 °/o, 1970 um 17,7 °/o, 1971 um 13,3 °/o, 1972 um 9,7 °/o und 1973 um 13,5 "/o gestiegen. Es wird geschätzt, daß es 1974 um 10,4% steigt. Wollen Sie der deutschen Öffentlichkeit ernsthaft weismachen, die Inflationsraten in den Jahren seit 1969 seien höher gewesen als die von mir eben vorgetragenen Zahlen? Wollen Sie ernsthaft die Statistik korrigieren?
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Blüm?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wenn mir die Opposition gestattet, den Satz zu Ende zu führen, gestatte ich nach dem Satz die Zwischenfrage.
Wollen Sie ernsthaft behaupten, daß es in der Bundesrepublik Deutschland nicht jedes Jahr einen
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 137. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Dezember 1974 9461
Bundesminister Dr. Friderichs
realen, also einen Netto-Einkommenszuwachs der Arbeitnehmer gegeben habe? Wollen Sie die Zahlen aller wissenschaftlichen Institute, des Statistischen Bundesamtes und all derjenigen, die sich mit diesen Fragen befassen, in Zweifel ziehen?
Bitte schön, Herr Blüm!
Herr Minister, wollen Sie in Abrede stellen, daß die Zahlen, die Sie genannt haben, noch nichts über das reale Einkommen der Arbeitnehmer aussagen? Auf nichts anderes als auf diesen Zusammenhang wollte mein Satz im Blick auf die kommenden Verteilungskämpfe aufmerksam machen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, ich stelle nicht in Abrede, daß die Realwerte andere sind. Aber ich sage Ihnen: Die Realwerte weisen in der Bundesrepublik Deutschland — im Gegensatz zu den Nachbarländern — in jedem Jahr ein Plus aus. Das können Sie nicht bestreiten, weil es niemand mit gutem Gewissen bestreiten kann, denn es wäre falsch, dies zu bestreiten. Es geht hier um den realen Zuwachs, um ein Netto-Plus. Oder wollen Sie etwa behaupten, die Arbeitnehmereinkommen in diesem Lande seien in einem der letzten Jahre real nicht gestiegen? Eben das mußte ich Ihrer Aussage doch entnehmen.
- Nein, ich lasse jetzt keine Frage mehr zu, bis ich den Gedanken zu Ende geführt habe.
Eine zweite Bemerkung. Ich will auch zu dem verteilungspolitischen Gesichtspunkt etwas sagen. Es gibt eine interessante Zahl, aus der man die verteilungspolitischen Relationen ablesen kann. Ich meine die bereinigte Lohnquote. Ich glaube, dies ist die unbestechlichste Zahl. Die Ökonomen jedenfalls sind sich darüber einig. Die Steigerung der bereinigten Lohnquote seit dem Jahre 1969 — ich nehme bewußt wieder denselben Zeitraum wie vorhin — stellt sich wie folgt dar: 61,0, 61,8, 62,9, 62,9 63,5 65,1. Das bedeutet, daß sich die Verteilungsrelationen in den letzten viereinhalb oder fünf Jahren verändert haben. Wenn nämlich die bereinigte Lohnquote steigt, muß konsequenterweise, da sie sich auf das Volkseinkommen bezieht, die andere Einkommensart um denselben Anteil sinken. Das hat Herr Strauß gar nicht bestritten. Im Gegenteil, Herr Strauß hat auf diesen Zahlen seine ganze Rede aufgebaut und gesagt: Das ist so gestiegen, daß sie nicht mehr investieren können. Wissen Sie, diese Doppelzüngigkeit, daß der eine der Wirtschaft etwas sagt und der andere den Arbeitern
— und das soll geglaubt werden —, dieses Spektakel können Sie nicht vorführen. So einfach geht das nicht.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müller-Hermann?
Sollte Sie dann nicht aber hinzufügen, daß die Regierung ihre Argumentation genau auf der gleichen Tatsache aufbaut, daß nämlich jetzt zunächst etwas mehr für die Investitionsbelebung getan werden muß?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Genau dieser Meinung bin ich,
und zwar in Übereinstimmung mit den Bundeskanzler.
- Ich stimme Ihnen insoweit zu, Herr Müller-Hermann: Wenn ich mich in einer und derselben Rede mit Herrn Strauß und Herrn Blüm befassen muß, muß ich mit zwei Zungen sprechen. Das geht leider nicht anders.
Wissen Sie, diese Methode — wir kennen doch die Strategie, und wir wissen, was in den letzten Tagen in Ihrer Fraktion gelaufen ist —,
hier den einen hinzustellen, der den gewerblichen Mittelstand streichelt, während der andere die anderen streichelt, die ist doch geradezu lächerlich.
Herr Blüm hat klar und deutlich gesagt - das war
einer Ihrer Sätze; ich finde sie alle für die Diskussion sehr wichtig , der Verteilungskampf spiele sich nur noch zwischen den Arbeitslosen und den Nichtarbeitslosen ab, und das Regulativ sei am Ende die Höhe der Zahl.
Herr Bundesminister gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Minister, ist es Ihnen entgangen, daß ich dies als eine Warnung ausgesprochen habe, damit die bevorstehenden Lohnrunden nicht so geführt werden, daß sie nur Verteilungskämpfe zwischen den Arbeitnehmern, die in Arbeit sind, und denjenigen, die nicht in Arbeit sind, darstellen? Sie dürfen meine Warnungen nicht als Tatsachenbeschreibungen ausgeben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bitte um Entschuldigung. Wenn es so war, daß es nur eine Warnung war, dann habe ich Sie mißver-
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Bundesminister Dr. Friderichs
standen. Dann würde ich meine Behauptung darauf nicht aufbauen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zu der Gesamtsituation noch ein paar Bemerkungen machen. Sie kommen doch, meine Damen und Herren von der Opposition, um einen Tatbestand nicht herum: daß sich diese deutsche Volkswirtschaft, eingebettet in die gesamten weltwirtschaftlichen Beziehungen, davon nicht loslöst. Damit will ich von Problemen im Inland überhaupt nicht ablenken. Aber diese äußeren Rahmenbedingungen müssen Sie zur Kenntnis nehmen. Ich wundere mich, mit welcher Selbstverständlichkeit heute und hier darüber geredet wird. Als ob sich im letzten Jahr in den Außenbeziehungen, in den „terms of trade", in den Bedingungen des Wirtschaftens dieses Landes nahezu nichts verändert hätte!
— Aber Sie haben keine Konsequenzen daraus gezogen.
Ich meine damit folgendes. In dem Augenblick, in dem eine Volkswirtschaft plötzlich und ohne eigenes Zutun Milliardentransfers in andere Länder vornehmen muß — ich will jetzt gar nicht werten, warum, ob politisch oder ökonomisch —, ist doch überhaupt eines unbestritten: daß dies auf die innere Substanz der Volkswirtschaft einen gravierenden Einfluß hat.
Und es ist völlig unbestritten, daß im letzten Herbst und in diesem Jahr die deutsche Volkswirtschaft diesen abrupten Tatbestand mindestens im Ausmaß nicht zur Kenntnis genommen hat; sonst wäre das Verhalten mehrerer Gruppen unverständlich gewesen.
Was will ich damit sagen? Wir haben alle geglaubt, dies gleiche sich irgendwo sehr fix aus. Das ist eben nicht der Fall. Wir alle haben miteinander so getan, als ob das, was an 20 Milliarden in die Ölländer oder an anderen -zig Milliarden in die Rohstoffländer geht, im Inland verteilungspolitisch noch einmal zur Verfügung stünde. Das ist einfach nicht der Fall, und daran muß man sich dann eben ausrichten.
Und wenn Sie, Herr Blüm, sagen: zu schnell, zu rapide, zu gemein gebremst — und dann kommen diese berühmten Konkursziffern —, dann kann ich nur eines sagen: Hätten wir im Mai, nach Freigabe der Wechselkurse, nicht so gebremst, wäre uns
das ist richtig — möglicherweise — ich würde sogar sagen: wahrscheinlich — die letzte Spitze an Konkursen und die letzte Spitze an Arbeitslosen erspart geblieben. Das ist unbestritten — in diesem Jahr! Es ist aber genauso unbestritten, daß wir dann in eine Inflationsrate hineingelaufen wären, die höher wäre als die jetzige, und damit die beschäftigungspolitischen Risiken aus dem Jahre 1974 in das
Jahr 1975 verlagert und potenziert hätten. Diese Volkswirtschaft hat im Moment doch den einen großen Vorteil — den können Sie doch nicht bestreiten —, daß sie in der Relation zu ihren Wettbewerbsvolkswirtschaften Japan, Frankreich, England, Italien, USA, Schweiz — die derzeit stabilste in der westlichen Welt ist. Das ändert nichts an der Tatsache, daß mir eine niedrigere Preisrate als 6,9 lieber wäre.
Sie wissen doch ganz genau, daß Sie sich in der Frage Preise und Beschäftigung bei einem solchen Schock von außen niemals konzentrieren können und nach meiner Meinung auch nicht konzentrieren dürfen auf die kompromißlose Durchsetzung nur einer Komponente. Ich habe vor diesem Haus x-mal gesagt, daß das ein schmaler Weg ist und daß ständig neu zu definieren ist: Wo ist die erträgliche Rate der Preissteigerung, und wo ist die erträgliche Rate des Beschäftigungsrisikos?
Hier so zu tun, als ob darüber nicht unablässig diskutiert und danach gehandelt worden wäre, ist doch geradezu — — Na, ich will es nicht bewerten.
Ich verstehe die Argumentation der Opposition in einem Punkt auch nicht. Auf der einen Seite sagen Sie: Hätten wir den Export nicht, hätten wir ja noch mehr Arbeitslose. Ich teile akut und ad hoc diese Meinung. Sie sagen: Durch den Export verschieben, übertragen wir reales Sozialprodukt nach draußen, das eigentlich im Inland zur Verfügung stehen sollte.
— Ja natürlich, das ist auch meine Meinung, Herr Müller-Hermann. Nur müssen Sie sich doch in der akuten Situation des Jahres 1974 entscheiden, was Sie wollen. Sie müssen zu deutsch eine vorübergehend zu hohe außenwirtschaftliche Leistungsbilanz in Kauf nehmen. Das ändert aber doch nichts an der dauerhaften Richtigkeit der Zielsetzung, die Relation des Sozialprodukts zwischen Inland und Ausland zu verändern.
Mein Kollege Graf Lambsdorff hat in der Antwort auf Herrn Strauß am Beispiel VW — ich sage bewußt nur: am Beispiel VW — eine Frage angesprochen. Es ist doch unbestritten, daß die Kämpfe in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre — nicht vorher — um die Frage der richtigen Wechselkurspolitik -- ich meine jetzt nicht nur die simplere Frage, ob aufwerten oder nicht, um wieviel, zu spät oder zu früh; das alles ist doch gar nicht so entscheidend wie die Frage: Freigabe der Wechselkurse, ja oder nein, hält das Währungssystem, ja oder nein? — zu einem geführt haben: daß wir über einen nicht korrekten Wechselkurs, insbesondere zwischen D-Mark und Dollar, zunächst grandiose Exportvorteile auf dem amerikanischen Markt hatten. Nur so war die Eroberung des amerikanischen Marktes allein durch ein Produkt mit 500 000 Ein-
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Bundesminister Dr. Friderichs
heiten pro Jahr vorstellbar: auf der Basis dieses Wechselkurses — mit der Folge, daß Gastarbeiter in dieses Land geströmt sind, um die Autos hier zu fertigen, die wir dann auf der Basis eines falschen — Sie können auch sagen: eines subventionierten — Wechselkurses nach draußen geschickt haben. Nun wird der Wechselkurs korrigiert, nämlich durch Flexibilität. Er pendelt sich frei ein. Der Preis drüben reicht nicht mehr aus, und die Dinge schlagen zurück.
Um Ihnen klar meine Meinung zu sagen: Ich bin der Überzeugung, daß bei einer früheren Freigabe oder richtigeren Aufwertung dieses Unternehmen sich wahrscheinlich nicht entschlossen hätte, die letzten Zusatzkapazitäten hier zu bauen, sondern daß es sie dort gebaut hätte, wo entweder der Markt vorhanden oder der Arbeismarkt verfügbar war.
Damit hätten wir uns hier natürlich Risiken vom Hals gehalten. Wenn ich das auf dieses Unternehmen beziehe, meine ich nicht nur dieses, sondern das ist ein durchgängiger Trend bei uns gewesen. Das ist doch unbestritten. Das bestreitet kein vernünftiger Volkswirt. Die Zusammenhänge müssen Sie sehen.
— Aber Sie tun doch so, als ob all diese Fakten nicht bestünden, Herr Müller-Hermann.
— Sie persönlich nicht; das gebe ich zu. Aber das, was heute morgen hier geboten wurde, ging doch in die Richtung: Wir sitzen hier in Deutschland; ringsum findet nichts statt; wir machen unsere Politik.
Wenn ich in der Sowjetunion säße, könnte ich diese Politik betreiben, weil dieses Land vom Außenhandel kaum abhängig ist. Selbst wenn Sie in Amerika die Zuständigkeit hätten, könnten Sie wenigstens so reden, weil auch dort der Anteil des Bruttosozialprodukts, der in die Welt geht, unvergleichlich kleiner ist als bei uns und daher die Abhängigkeiten von draußen einfach nicht bestehen.
Bei uns aber ist folgender Tatbestand zu verzeichnen. Wir exportieren im Augenblick ein bißchen Stabilität und importieren Instabilität. Das ist unser Beitrag zur Lösung der Probleme unserer Nachbarn. Ich kann nichts dazu; es ist einfach ein Faktum. Schauen Sie sich doch die Steigerung der Importpreise an: in diesem Jahr über 36 °/o. Die Lebenshaltungskosten steigen in unserem Lande derzeit um 6,5 % und im Jahresdurchschnitt um 713/0. Sie kommen doch nicht um die Tatsache herum, daß wir zum erstenmal seit 1966 mit einem geringeren Preisüberhang in das nächste Jahr gehen, als wir ihn beim vorangegangenen Jahreswechsel hatten. Das ist einfach ein Faktum. Wenn Sie die Statistik im Februar sehen, werden Sie das nicht bestreiten können.
Merkwürdig ist nun wirklich: Als wir den Boom zu bremsen suchten, im Sinne der Stabilisierung des Geldwertes, wurden wir kritisiert: zu spät und zu wenig. Richtig ist eines: Was diese Bundesregierung nicht wußte, war, daß mitten in ihr eigenes Stabilisierungsprogramm mit scharfer Restriktion der Geldmenge und der Kreditkosten eine weltwirtschaftliche Problematik hineinplatzte, ausgelöst am Nahostkrieg, die unsere Volkswirtschaft tief getroffen hat.
Dies wußte ich im Mai nicht.
Das ist richtig. Wenn wir das alles gewußt hätten, hätten wir unter Umständen sogar die eine oder andere Maßnahme in anderer Form getroffen, vielleicht die eine oder andere Maßnahme unterlassen. Ich gebe das zu.
— Aber Sie nehmen den Tatbestand häufig nicht zur Kenntnis. Das ist der Unterschied.
Als es im November passiert war, haben wir die eigenen Restriktionsmaßnahmen des Staates im Dezember aufgehoben, übrigens unter der Kritik Ihrerseits, es sei zu früh, wir dürften sie noch nicht aufheben. Wir haben es gleichwohl getan.
Was bestehenblieb, war die Politik der Bundesbank. Diese Politik der Bundesbank hat dazu geführt, daß in diesem Lande eines nicht möglich war, nämlich die Überwälzungsspielräume so zu öffnen, daß wir in zweistellige Raten wie unsere Nachbarn hineinrutschten. Die Bundesbank — und das muß hier klar gesagt werden — hat entscheidend dazu beigetragen, daß die Nachfragedecke nicht groß genug war, um wieder hemmungslos über die Preise überwälzen zu können und am nächsten Wochenende das Spiel von neuem zu beginnen.
Das ist doch ein Tatbestand. Nun jammern Sie draußen — ich war ja auch im Wahlkampf in Bayern und in Hessen —: diese Hochzinspolitik! Hier kritisieren Sie: nicht genügend Stabilitätspolitik. Vor den Betroffenen, den mittelständischen Unternehmern, deren Probleme ich nicht verkenne, sagen Sie, an dieser Hochzinspolitik sei diese Bundesregierung schuld. Sie können nicht beides haben: billige Zinsen und Stabilisierung in einem solchen Zeitraum.
Die Bundesbank — ich sage bewußt etwas zu dieser autonomen Organisation — war bereit, nachdem die äußeren Bedingungen in den letzten Monaten geregelt waren, kontinuierlich etwas dafür zu tun, daß die Zinsen sinken, aber eben erst in einem Zeitpunkt, wo eine Senkung der Zinsen nicht sofort wieder in neue Inflationsraten umschlägt. Die Bundesbank ist bereit, zum erstenmal seit ihrem Bestehen - ein ordnungspolitisches Novum —, im vorhinein die Zuwachsrate der Zentralbankgeldmenge zu nennen. Das bedeutet, daß alle wissen — Staat, Unternehmer, Gewerkschaften, autonome Gruppen —, was im nächsten Jahr finanziert werden kann und was nicht, und daran muß man sich halten. Sie sehen, daß die Rate mit + 8 % an einem realen
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Wachstum des Sozialprodukts von etwa 2 bis 2 1/2 % und entsprechendem höherem nominalem Wachstum ausgerichtet ist. Bei 8 °/o können Sie das ungefähr finanzieren. Das bedeutet, daß die Bundesregierung bereit ist und das sind doch die Rahmenbedingungen dieses Programms —, einen Aufschwung in Stabilität zu finanzieren, daß sie aber nicht bereit ist, einen Aufschwung zu finanzieren, bei dem das Spiel wieder von vorne losgeht, bei dem sie nämlich — und das war Ihre Unterstellung — wieder in den nächsten Boom hineinsteuern. Genau dies soll nicht geschehen.
Herr Blüm, lassen Sie mich noch ein Wort zu der Investitionszulage sagen. Es gibt eine Reihe anderer Modellvorstellungen, um dasselbe Ziel zu erreichen. Ich frage Sie aber ernsthaft: Können Sie mir in dieser konkreten Lage zur Anregung der Investitionen eine andere realisierbare bessere Maßnahme ohne Nebenwirkungen vorschlagen, die also nicht ähnliche Wirkungen hat? Das ist doch die entscheidende Frage.
Wenn Sie sagen, die Reichen bekommen das auch, die Großen bekommen das auch: Glauben Sie wirklich, wenn die Farbenfabriken Bayer oder Hoechst oder BASF oder Siemens oder AEG morgen investieren, daß davon die mittleren Werkzeugmaschinenbauer in Baden-Württemberg, in Nordrhein-Westfalen oder die Elektrohersteller in Berlin nicht profitieren? Wenn Sie kappen und sagen, daß gebe ich nur den Kleinen — ich will die verfassungsrechtlichen Dinge einmal ganz weglassen —, erreichen Sie jedenfalls eines nicht, was Sie hier vorgegeben haben, nämlich einen höheren Beschäftigungsstand. Diese ständige Verwechselung aus Kreisen der Opposition stört mich. Professor Erhard hat ja den heutigen Vormittag miterlebt, und ihm war sicher bei einigen Punkten nicht ganz wohl, daß ausgerechnet Sie nun anfangen, langfristige Dinge, strukturpolitische Dinge, Strukturkomponenten schön mit ein bißchen Prozeßpolitik als „policy mix" zu verkaufen, alles, was Sie jahrelang auf Teufel komm heraus kritisiert haben: Nun machen wir es richtig, und jetzt sind Sie plötzlich anderer Meinung.
Ich war nach der Rede von Herrn Strauß zu diesem ordnungspolitischen Teil geneigt — Sozialdemokraten mögen mir dies verzeihen -, zu sagen, nun wird er auch noch der Senior-Juso.
— Aber wirklich! Was da ordnungspolitisch geboten wurde, hatte einfach nichts mehr mit einer Fortentwicklung — ich betone: Fortentwicklung der klassischen Marktwirtschaft zu tun. Natürlich Strukturpolitik!
— Herr Müller-Hermann, wenn Sie mir die Frage stellen, will ich sie Ihnen gerne beantworten.
— Wenn Sie keine Antwort haben wollen, brauchen Sie auch keine Fragen zu stellen, aber ich will es Ihnen trotzdem gerne beantworten: Ich bin mir in diesen Fragen mit meinen wirtschaftspolitischen Gesprächspartnern in der sozialdemokratischen Fraktion über Strukturpolitik, Prozeßpolitik, die Unterschiede und die Interdependenzen absolut einig. Und deswegen bin ich um so überraschter, daß hier und das ist doch das, was heute morgen die Debatte nicht gerade befruchtet hat — lauter Reizworte wie Gießkanne, Holzhammer, global, gebraucht worden sind, von denen Sie genau wußten, daß sie gerne gehört werden, und obwohl Sie wissen, daß sie falsch sind. Dies ist kein Beitrag zu einer vernünftigen Wirtschaftspolitik.
Das Wort hat der Abgeordnete Junghans.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum Schluß der Debatte möchte ich mich auch noch einmal an die Opposition wenden mit ihrer heute hier vorgeführten, wie ich meine, verhängnisvollen Arbeitsteilung. Auf der einen Seite wird Herr Strauß aufgeboten, um die Arbeitgeber oder die Unternehmen weiter zu verunsichern, auf der anderen Seite wird Herr Blüm hier eingesetzt, um den Arbeitnehmern weiszumachen, es ginge in diesem Jahre mit den Arbeitnehmern bergab. Herr Kollege Blüm, Sie müssen zur Kenntnis nehmen, das reale Einkommen der Arbeitnehmer und der Rentner ist in diesem Jahr immer noch um 2,5 °/o gestiegen und wird auch im nächsten Jahr steigen, insbesondere dank der Steuerreform, die wir gemacht haben.
Meine Damen und Herren, die Opposition hat uns hier eine Suppe à la Tartuffe mit dem gelben Currypulver von Herrn Blüm vorgeführt. Ich möchte mich dem auch anschließen. Sie tun draußen so, als ob die Marktwirtschaft in Gefahr sei. Hier wird so argumentiert, als ob — ich zitiere das — „die Bundesregierung die industrielle Reservearmee geschaffen habe". Das hat Herr Strauß so gesagt. Des weiteren tun Sie so, als ob die Preise von der Bundesregierung festgesetzt werden. Außerdem argumentieren Sie noch so, als ob die Bundesregierung für die Leitung bestimmter Unternehmen verantwortlich wäre. Sie wecken in diesem Hause den Eindruck, als sei die Marktwirtschaft nicht mehr existent, als hätten wir eine zentrale Planwirtschaft, in der die Bundesregierung alles bestimmte, was in der Wirtschaft draußen passierte.
Sie tun auch so, als gäbe es keine außenwirtschaftlichen Einflüsse. Sie argumentieren so, als könne die Bundesregierung bestimmen oder gar befehlen, wie sich die Amerikaner, die Franzosen, die Briten, die Sowjetrussen, die Polen und die Araber zu verhalten hätten. Im Gegenteil, meine Damen und Herren: Es gibt kein Land der Welt, das so von außenwirtschaftlichen Einflüssen abhängig ist, wie gerade die Bundesrepublik Deutschland. Die Bundesrepublik Deutschland hat heute einen Anteil am
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gesamten Welthandel von rund 12 %. Das ist etwa der gleiche Anteil wie ihn die Vereinigten Staaten von Nordamerika haben. Insgesamt haben diese beiden Länder einen Anteil von 25 % am gesamten Welthandel. Das bedeutet mit anderen Worten, daß wir — die Vereinigten Staaten haben 240 Millionen Einwohner; wir haben 60 Millionen Einwohner
viermal so abhängig sind wie das Land mit einem gleich großen Anteil am Welthandel.
Meine Damen und Herren, Sie tun auch so, als hätte die Bundesregierung Befehlsgewalt über die Arbeitgeberverbände, die Gewerkschaften und nicht zuletzt auch über die Bundesbank. Der Bundeskanzler hat heute morgen mit Recht darauf hingewiesen, daß es bei einem solchen Zusammenwirken vieler auf das verantwortungsbewußte Handeln eines jeden ankomme. Wir können Ihre Auffassung nicht durchgehen lassen. Ich möchte deshalb eindeutig feststellen: Die Bundesregierung hat ein ausgewogenes Programm mit wesentlichen strukturpolitischen Elementen vorgelegt.
Bei genauem Hinsehen stellt sich heraus, daß die Bundesregierung nicht mit der Gießkanne über das Land gegangen ist. Es sind neue sektorale Impulse gegeben worden. Die Infrastruktur hat Anstöße erhalten. Die regionale Wirtschaftsförderung wird zusätzlich ausgebaut. Es ist also eine Reihe von strukturellen Elementen in das vorliegende Programm aufgenommen worden. So wirkt z. B. die Investitionszulage von 7,5 % zusammen mit den bisherigen Vergünstigungen im Zonenrandgebiet, für Berlin und in den übrigen Fördergebieten. Wir geben der Hoffnung Ausdruck, daß hiermit positive Anreize gegeben werden, die Förderungsmöglichkeiten verstärkt auszunutzen, um gerade in diesen Gebieten zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen, die Unternehmen zu festigen und zu modernisieren. Dies ist ein wichtiges, gewolltes strukturpolitisches Element, das wir ausdrücklich begrüßen. Die Chancen sollten genutzt werden!
Herr Kollege Blüm, es hat überhaupt keinen Sinn, der Bundesregierung Vorwürfe zu machen, wenn hier und dort regional die Arbeitslosigkeit gestiegen ist. Das können Sie weder durch einen Kabinettsbeschluß noch durch eine andere Regelung verhindern.
Es kommt darauf an, daß die Bundesregierung für diese Gebiete die Chancen schafft und daß sie dann auch genutzt werden. Das ist der Punkt! Das haben Sie nie begriffen.
— Bitte sehr, Sie können noch mehrere kriegen!
In anderen Elementen trägt das Programm dem Problem der zukünftigen Energieversorgung Rechnung. Ich nenne hier die einmaligen Beihilfen für den Steinkohlebergbau, ich nenne hier die Begünstigung der Fernwärmeschiene Ruhr — das ist eine Rohrleitung —, und ich nenne die Demonstrationsanlage Kohlevergasung. Auch das Investitionszulagengesetz mit dem zweiten Teil, wo nämlich bestimmte energiesparende Investitionen als Dauerinstitut eingerichtet werden, dient der besonderen
Förderung und dem besonderen Schwerpunkt der Energievorsorge in diesem Lande.
Weiter werden die Abrechnungszeiträume — das ist auch wichtig für die Energieversorgung — in Zukunft bei Energieanlagen und bei Investitionen für Energieversorgungsunternehmen sogar bis 1977, bis 1978 ausgedehnt. — Insgesamt ist — und das muß man erkennen — der Schwerpunkt „Energievorsorge" unverkennbar.
Als weiteres besonderes strukturpolitisches Instrument ist zu begrüßen, daß dem Verkehr in diesem Programm eine besondere Rolle zugemessen worden ist. Ich erinnere hier an den Beitrag zur Modernisierung und Rationalisierung der Deutschen Bundesbahn — Rangierbahnhöfe, Instandsetzung von Bundesbahnstrecken —; vor allen Dingen aber ist es wichtig, anzumerken, daß hierbei sorgfältig darauf geachtet worden ist, daß sich damit nicht automatisch die Folgekosten erhöhen.
Als weiteres strukturpolitisches Element ist die Verbesserung der Infrastruktur mit der Förderung der überbetrieblichen Ausbildungsstätten anzuführen. Auch ist — in der gleichen Reihe — zu begrüßen, daß der soziale Wohnungsbau durch ein Sondergesetz auch in das vorliegende Programm einbezogen wird. Ich meine, daß die gemeinnützigen Wohnungsbauunternehmen in die Lage versetzt werden, jetzt im sozialen Wohnungsbau mehr zu tun, und dies wird sicherlich über preiswertere Mieten weiten Kreisen der Bevölkerung zugute kommen.
Die besondere Förderung der überbetrieblichen beruflichen Ausbildung habe ich schon erwähnt. Hier wie auch an anderen Stellen sind die Bundesländer und die Gemeinden aufgefordert, in eigener Zuständigkeit und aus eigenen Mitteln für zusätzliche Investitionen, z. B. für Berufsschulen, ihren Anteil beizusteuern. Das Programm der Bundesregierung ist eben ein Angebot an die privaten Unternehmer ebenso wie an die Gebietskörperschaften.
Meine Damen und Herren, Strukturpolitik ist keine Befehlswirtschaft, Strukturpolitik ist ein Angebot des Staates, um bestimmte Veränderungen zu erreichen. Wir haben das damals vor langen Jahren in diesem Hause verteidigt, und ich glaube auch, daß es hier keine Schwierigkeiten gibt, das im Rahmen der Marktwirtschaft einzuführen.
Ich begrüße, was den mittelständischen Teil anbetrifft, in diesem Zusammenhang auch, daß die Bundesregierung erklärt hat, das ERP-Programm derart umzustrukturieren, daß der Förderung des Mittelstandes zusätzliche Mittel zufließen. Die Konstruktion des ERP-Vermögens ist so flexibel, daß Aufstockungen in Teilbereichen jederzeit vertretbar sind. Auch dies ist ein wichtiges strukturpolitisches Element dieses Programms.
Zum Schluß noch einmal: Ich bitte sehr herzlich darum, daß Sie damit aufhören, die wirtschaftliche Lage der Bundesrepublik isoliert zu betrachten. Wir haben bei uns im Vergleich zu anderen Ländern immer noch einen günstigen Standard, der dieser Bundesregierung nicht in den Schoß gefallen ist. Ich
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weiß, daß das für einen Arbeitslosen kein Trost ist. Aber zwischen Arbeitslosigkeit bei uns und Arbeitslosigkeit in weiten Teilen der übrigen Welt ist dank unseres sozialen Sicherungssystems ein Unterschied wie zwischen Diät und Verhungern. Davon werden in Zukunft Zwänge ausgehen, vor denen wir uns zu bewähren haben.
Meine Damen und Herren, ein alter Hase unter den Bonner Wirtschaftsjournalisten, der wohl nicht dafür bekannt ist, daß er zu Sentimentalitäten neigt, hat dieser Tage bei der Rückkehr aus den Vereinigten Staaten und aus der Dritten Welt folgendes gesagt:
Wenn die Menschen in den europäischen Industrieländern nicht lernen, ihren Alltag am Weltmaßstab zu messen, dann werden sie Nabelschau und Selbstgefälligkeit in gar nicht ferner Zeit teuer bezahlen. Die Verteuerung und Lieferbeschränkung bei Rohöl haben nur einen Vorgeschmack gegeben. Die Welt wird nicht wieder so sein wie vor dem Herbst letzten Jahres. Es besteht die Chance, aus dem sich abzeichnenden Schlamassel herauszukommen, aber nur, wenn wir uns an den Tatsachen dieser Welt orientieren.
Eine Wohlstandsvermehrung im gewohnten Stil und ohne größere Anstrengung wird es nicht mehr geben. Damit müssen wir uns abfinden. Die Opposition bringt sich um jede Chance,
- immer noch der Journalist; ich zitiere immer noch —
ernst genommen zu werden, wenn sie die heutige wirtschaftliche Lage aus taktischen Gründen mit der von 1966 in Vergleich setzt. Das hieße Äpfel und Birnen zusammenzählen.
So weit der Journalist.
Ich kann nur feststellen, die Opposition hat die Chance vertan.
Ich habe dem nichts mehr hinzuzufügen. Bundeskanzler Helmut Schmidt und seiner Regierung ist recht zu geben.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir haben nun noch die Überweisungen vorzunehmen. Die Überweisungsvorschläge liegen Ihnen vor; ich glaube, ich brauche sie jetzt nicht zu wiederholen. Änderungsanträge dazu werden nicht gestellt? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Damit sind die Überweisungsvorschläge angenommen.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: Fragestunde
— Drucksache 7/2927 —
Meine Damen und Herren, obwohl unsicher war, zu welchem Zeitpunkt die Fragen heute aufgerufen würden, haben doch noch einige Fragesteller ausgeharrt.
Ich rufe zunächst den Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen auf. Die Fragen 51 des Abgeordneten Niegel, 52 des Abgeordneten Hösl, 53 und 54 des Abgeordneten Hoffie, 56 des Abgeordneten Josten und 57 des Abgeordneten Haase werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Die Frage 55 des Abgeordneten Tillmann ist vom Fragesteller zurückgezogen worden.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und Bundeskanzleramts auf. Die Fragen 103 des Abgeordneten Dr. Wittmann , 104 des Abgeordneten Dr. Abelein und 105 des Abgeordneten Jäger (Wangen) sind gemäß Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde unzulässig, weil die darin angesprochenen Probleme bereits unter dem Tagesordnungspunkt 2 behandelt wurden.
Die Frage 106 des Abgeordneten Nordlohne wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich danke Ihnen, Frau Staatssekretärin, für Ihre Anwesenheit.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Die Fragen 107 und 108 des Abgeordneten Opitz, 109 des Abgeordneten Dr. Hupka, 110 und 111 des Abgeordneten Dr. Czaja werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau auf. Die Fragen 58 und 59 des Abgeordneten Dr. Schneider und 60 des Abgeordneten Niegel werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Es bleiben aus diesem Geschäftsbereich die Fragen 61 und 62 des Abgeordneten Dr. Evers. — Der Abgeordnete Evers ist nicht im Saal, so daß auch diese beiden Fragen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit auf. Die Fragen 63 des Abgeordneten Dr. Holtz, 65 des Abgeordneten Collet und 66 des Abgeordneten Dr. Probst werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Die Frage 64 des Abgeordneten Stahl ist zurückgezogen worden.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 137. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Dezember 1974 9467
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern. Die Fragen 67 und 68 der Abgeordneten Frau Grützmann, 69 und 70 des Abgeordneten Hansen, 71 des Abgeordneten Dr. Hupka, 72 des Abgeordneten Gansel, 73 des Abgeordneten Dr. Wittmann , 74 und 75 der Abgeordneten Frau Berger und 77 des Abgeordneten Jäger (Wangen) werden auf Wunsch der Fragestellerinnen bzw. der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Die Frage 76 des Abgeordneten Tillmann ist zurückgezogen worden.
Ich komme zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz. Die Fragen 78 des Abgeordneten Thürk, 79 des Abgeordneten Dr. Schmitt-Vockenhausen und 80 und 81 des Abgeordneten Löffler werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Jetzt käme die Frage 82 des Abgeordneten Schlaga. - Ich habe Herrn Abgeordneten Dr. Schlaga doch noch vor wenigen Minuten gesehen. Er ist im Augenblick nicht da. Ich stelle die Frage zur Beantwortung zurück.
Ich rufe die Frage 83 des Abgeordneten Dr. Penner auf:
Haben die auf Grund von Fahndungsaktionen nach Mitgliedern krimineller Vereinigungen, wie der Vereinigung Baader-Meinhof, eingeleiteten Ermittlungs- bzw. Strafverfahren bereits zu Verurteilungen geführt und mit welchem Ergebnis?
Herr Staatssekretär de With steht zur Verfügung. Bitte, Herr Staatssekretär!
Gestatten Sie, daß ich die gestellten Fragen im Zusammenhang beantworte?
Der Fragesteller ist einverstanden. Dann rufe ich auch die Frage 84 des Abgeordneten Dr. Penner auf:
Sind auch Unterstutzer und Helfer derartiger Gruppen von der Justiz zur Rechenschaft gezogen worden?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Die Strafverfolgungsbehörden der Länder und des Bundes haben die in ihrem Zuständigkeitsbereich angefallenen Ermittlungs- und Strafverfahren mit dem gebotenen Nachdruck und der vom Umfang und der Schwierigkeit der Ermittlungen her bestimmten Beschleunigung betrieben und zum großen Teil zum Abschluß gebracht.
Von den z. B. von dem Generalbundesanwalt gegen Mitglieder krimineller Vereinigungen geführten Ermittlungsverfahren haben bisher zwei mit einem rechtskräftigen Urteil geendet. Der ehemalige Rechtsanwalt Mahler ist wegen Gründung einer kriminellen Vereinigung und Banküberfällen durch Urteil des Kammergerichts in Berlin vom 26. Februar 1973 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt worden.
Diese Strafe hat das Landgericht Berlin in das am 29. November 1974 gegen Horst Mahler wegen der
Befreiung Andreas Baaders verkündete Urteil einbezogen und eine Gesamtfreiheitsstrafe von 14 Jahren verhängt.
Das Oberlandesgericht Düsseldorf erkannte gegen ein weiteres Gruppenmitglied wegen Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung, Banküberfalls und Einbruchdiebstahls in zwei Rathäusern auf eine Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten.
Zu den Ergebnissen der von den Strafverfolgungsbehörden der Länder geführten Ermittlungsverfahren haben mir die Justizminister der Länder folgendes mitgeteilt.
Bisher sind 16 Personen, die als Gründer bzw. Mitglieder einer kriminellen Vereinigung, wie die der Vereinigung Baader-Meinhof, Rote Armee-Fraktion, der Bewegung 2. Juni und des Sozialistischen Patientenkollektivs Heidelberg, SPK, angesehen werden müssen, rechtskräftig verurteilt worden.
Zu ihnen zählt z. B. Heinrich Jansen, ein Mitglied der kriminellen Vereinigung Baader-Meinhof, welches wegen versuchten Mordes an zwei Polizeibeamten und Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte zu zehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Ein Angehöriger der Bewegung 2. Juni, einer der Vereinigung Baader-Meinhof nahestehenden Organisation, Rolf Putnik, erhielt wegen Banküberfalls eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren. Das Landgericht Karlsruhe hat gegen die Gründer des Sozialistischen Patientenkollektivs Heidelberg, das Arztehepaar Dr. Wolfgang und Dr. Ursula Huber, wegen Gründung einer kriminellen Vereinigung und Vorbereitung von Sprengstoffverbrechen Freiheitsstrafen von je vier Jahren und sechs Monaten verhängt.
Carmen Roll, die sowohl als Angehörige des Sozialistischen Patientenkollektivs als auch der kriminellen Vereinigung Baader-Meinhof gilt, wurde wegen Vorbereitung von Sprengstoffdelikten und Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte sowie Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt.
Weitere zehn Personen, die zum Kreis der Helfer und Unterstützer zu rechnen sind, sind zwischenzeitlich rechtskräftig verurteilt worden. Die Strafen bewegen sich — je nach dem Grade des Verschuldens und dem Gewicht der Tat — zwischen Freiheitsstrafen von sechs Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung und Geldstrafen von 1 500 DM.
Dieser Personenkreis hat z. B. den Mitgliedern krimineller Vereinigungen Unterkünfte verschafft oder gewährt, Pkws zur Verfügung gestellt, Geldmittel beschafft, Personalpapiere zum Zweck der Herstellung gefälschter Ausweise überlassen und konspiratives Material, z. B. Fälscherwerkzeuge, Waffen, Kleidungsstücke, auch Perücken und ähnliches, für diese aufbewahrt.
Darüber hinaus sind noch nicht rechtskräftige Urteile gegen weitere 14 Mitglieder krimineller Vereinigungen wegen zum Teil schwerster Verbrechen, wie versuchten Mordes, Banküberfällen unter Waffenverwendung und fortgesetzter illegaler Waffen-
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Parl. Staatssekretär Dr. de With
besehaffung, zu Freiheitsstrafen zwischen 13 Jahren und 9 Monaten ergangen.
Zu diesem Personenkreis zählen u. a. Ulrike Meinhof und Monika Berberich, Eric Grusdat und HansJürgen Bäcker. Gegen weitere fünf Personen sind wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung durch noch nicht rechtskräftige Urteile Strafen zwischen acht Monaten Freiheitsstrafe und Geldstrafe von 500 DM verhängt worden.
Haben Sie Zusatzfragen, Herr Kollege? — Nein.
Dann rufe ich — ich hatte doch richtig gesehen, daß der Herr Kollege Schlaga noch im Hause war — die Frage 82 des Herrn Abgeordneten Schlaga auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß nur in den seltensten Fällen Mietkautionen auf einem Sonderkonto festgelegt und verzinst werden und daß statt dessen Kautionen meist als zusätzliche zinslose Finanzierungsquelle benutzt werden, über die der Vermieter nach Gutdünken verfügt, und welche Maßnahmen wird die Bundesregierung wann ergreifen, um den Mieterschutz auszudehnen und allen Kautionszahlern eine gerechte Verzinsung zu sichern?
Herr Staatssekretär!
Der Bundesregierung ist bekannt, daß Vermieter von Wohnraum von den Mietern häufig Mietkautionen fordern. Das ist an sich nicht zu beanstanden, soweit ein Sicherungsbedürfnis für die Ansprüche aus dem Mietverhältnis besteht. Die Kautionen müssen dann aber wie Sicherheitsleistungen behandelt werden, sie müssen insbesondere auf einem Sonderkonto angelegt und zugunsten des Mieters verzinst werden. Das aber geschieht offensichtlich in den meisten Fällen nicht: die Vermieter benutzen das als Sicherheit gegebene Geld als zusätzliche Finanzierungsquelle; das ist nicht gerechtfertigt.
Die Gerichte haben in einigen Fällen entschieden, daß Mietkautionen zu verzinsen sind, sofern im Mietvertrag nichts Gegenteiliges vereinbart worden ist. Das heißt also: Ist über die Verzinsung nichts vereinbart, so ist die Kaution zu verzinsen. Von einer gefestigten Rechtsprechung wird man allerdings nicht sprechen können. Auch die Meinungen im rechtswissenschaftlichen Schrifttum sind geteilt. Eine Klarstellung im Gesetz scheint daher erwünscht. Bei den Beratungen des Zweiten Wohnraumkündigungsschutzgesetzes ist diese Frage ausgeklammert worden, da wegen des Zeitdrucks, unter dem die Beratungen standen, alle Bemühungen darauf konzentriert werden mußten, den Kündigungsschutz und die Regelungen über die Miethöhe als Dauerrecht zu sichern.
Entsprechend der vom Deutschen Bundestag bei der Verabschiedung des Zweiten Wohnraumkündigungsschutzgesetzes gefaßten Entschließung ist das Wohnraummietrecht zu bereinigen und für die Betroffenen verständlich und übersichtlich zusammenzufassen. Die Arbeiten hierfür sind nach Abschluß des Gesetzgebungsverfahrens zum Zweiten Wohnraumkündigungsschutzgesetz aufgenommen worden. Die Frage einer gesetzlichen Regelung der Mietkautionen wird hierbei, Herr Kollege Schlaga, überprüft werden. Dabei wird allerdings auch zu bedenken sein, daß eine gesetzliche Regelung möglicherweise einen Anreiz geben kann, die gesetzlich zugelassenen Kautionsmöglichkeiten voll auszuschöpfen.
Es läßt sich naturgemäß heute noch nicht sagen, wann die Arbeiten hierüber abgeschlossen sind und ein Gesetzentwurf zur Bereinigung des Wohnraummietrechts vorgelegt werden kann.
Für den Bereich des sozialen Wohnungsbaus darf ich die Antwort im Einvernehmen mit dem Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau noch wie folgt ergänzen. Hier ist die Zulässigkeit von Mietkautionen durch die Neubaumietenverordnung eingeschränkt und, soweit hiernach Sicherheitsleistungen überhaupt erbracht werden dürfen, die Verpflichtung zur Verzinsung zugunsten des Mieters nachdrücklich festgelegt.
Herr Kollege, Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist .der vom ehemaligen Bundesminister der Justiz, Herrn Jahn, in seiner Rede vor dem Zentralverband der Deutschen Haus-, Wohnungs- und Grundeigentümer im Mai 1973 geforderte und angekündigte Mustermietvertrag, der die Verzinsung von Kautionen zwingend vorsehen sollte, inzwischen verwirklicht? Ist mit diesem genannten Zentralverband eine wirksame Vereinbarung getroffen worden?
Ich kann Ihnen diese Frage konkret nicht beantworten. Nach meinen Informationen ist insoweit noch einiges an Arbeit erforderlich. Aber ich bin gern bereit, Ihnen diese Frage konkret schriftlich zu beantworten.
Dafür wäre ich Ihnen dankbar. Darf ich eine zweite Zusatzfrage stellen?
Bitte, Herr Kollege!
Die Mieterschutzvereine, die ja einen Schutz der Mieter darstellen sollen, haben sich des öfteren mit der Bitte um Bezuschussung ihrer Arbeit an die Öffentlichkeit gewandt. Sehen Sie, wenn schon das Rechtsberatungsmißbrauchgesetz nicht durchlöchert werden soll, kann oder darf, eine Möglichkeit, den Mieterschutzvereinen Zuschüsse in einem bescheidenen, aber doch immerhin wirksamen Rahmen zukommen zu lassen, der es ihnen besser ermöglicht, gerade den kleineren unbedarften bzw. unbemittelten Mietern Rechtsberatung zukommen zu lassen?
Soweit ich sehe, ist diese Frage noch nicht entschieden worden. Möglicherweise wird darüber beraten werden, wenn die Beratungen über
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 137. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. Dezember 1974 9469
Parl. Staatssekretär Dr. de With
die Frage der Rechtsberatung für die unterbemittelten Kreise zu einem Ende geführt werden. Ich bitte um Verständnis, wenn ich deswegen hier zu diesem Punkt nichts Konkretes sagen kann.
Die Fragen 85 und 86 der Frau Abgeordneten Dr. Riede sind von der Fragestellerin zurückgezogen worden.
Ich rufe die Frage 87 des Herrn Abgeordneten Dr. Schweitzer auf:
Würde es die Bundesregierung nach Fühlungnahme mit den zuständigen Stellen der Länder begrüßen, wenn gegebenenfalls eine Kommission der Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland an Ort und Stelle die Haftbedingungen für Angehörige der kriminellen Baader-Meinhof-Vereinigung überprüft, damit auf diese Weise vor der inländischen und ausländischen Öffentlichkeit die tatsächlich vorherrschenden Verhältnisse von einem im Vergleich zu gewissen Philosophen sicherlich mit einer unangefochtenen Autorität ausgestatteten Gremium zweifelsfrei klargestellt werden können?
Der Herr Abgeordnete ist im Saal. Herr Staatssekretär!
Die Bundesregierung begrüßt jede objektive und unvoreingenommene Information über die Haftbedingungen für Angehörige der kriminellen Baader-Meinhof-Vereinigung. Es ist jedoch darauf zu verweisen, daß die Entscheidungen über Maßnahmen im Vollzug der Untersuchungshaft allein den zuständigen unabhängigen Gerichten obliegen. Diese haben schon bisher großzügig Besuchserlaubnisse für Repräsentanten kirchlicher und karitativer Stellen, für Mediziner und Journalisten erteilt.
Ich gehe deshalb davon aus, daß auch künftig damit gerechnet werden kann, daß solche Besuche kirchlicher Stellen in angemessenem Umfang genehmigt werden würden. Offen bleibt allerdings, ob die Häftlinge ihrerseits jeweils bereit sind, derartige Besucher zu empfangen.
Die Bundesregierung würde es darüber hinaus außerordentlich begrüßen, wenn die Personen, die Gelegenheit hatten, sich über die Haftbedingungen zu informieren, anschließend die Öffentlichkeit über die von ihnen getroffenen Feststellungen mehr, als das bisher geschehen ist, umfassend und objektiv unterrichten würden.
Sie haben eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wäre die Bundesregierung bereit, in Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden der Länder recht bald
einmal eine umfassende Dokumentation über die tatsächlichen Haftbedingungen für die hier zur Diskussion stehenden Häftlinge im Bundesgebiet zusammenzustellen und der breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen?
Was Berlin anlangt, ist dies, so meine ich, schon umfänglich geschehen. Ich sehe keinen Grund, der eine solche Dokumentation hindern sollte.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Die Fragen 88 und 89 des Abgeordneten Spranger sowie die Frage 90 der Abgeordneten Frau Pack werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen damit zur Frage 91 des Abgeordneten Dr. Kunz. Ich sehe den Herrn Fragesteller nicht im Saal. Die Frage wird deshalb schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesminister der Justiz beantwortet. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf. Die Fragen 92 und 93 des Abgeordneten Maucher sind vom Fragesteller zurückgezogen worden.
Die Fragen 94 des Herrn Abgeordneten Rollmann, 95 des Herrn Abgeordneten Wolf, 96 und 97 des Herrn Abgeordneten Dr. Schöfberger und 98 und 99 der Frau Abgeordneten Funcke werden wunschgemäß schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung auf.
Herr Abgeordneter Dr. Weber hat die von ihm eingereichte Frage 100 zurückgezogen, ebenso Herr Abgeordneter Dr. Schwencke die Fragen 101 und 102.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Fragestunde.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 18. Dezember 1974, auf 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.