Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Den 60. Geburtstag haben Herr Kollege Dr. Schachtschabel und die Kollegin Frau Stommel gefeiert. Ich darf ihnen die herzlichen Glückwünsche, des Hauses übermitteln.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat soll die Tagesordnung um den Ihnen schriftlich vorliegenden Zusatzpunkt ergänzt werden:
Beratung des Berichts und Antrags des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit
zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Schlei, Frau Filers , Glombig, Dr. Nölling, Dr. Bardens, Spitzmüller, Christ, Frau Funcke und der Fraktionen der SPD, FDP und zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU betr. Familienberatung und -planung
-- Drucksachen 7/374, 7/549, 7/1813 —Berichterstatter: Abgeordnete Frau Schleicher
— Das Haus ist damit einverstanden; die Ergänzung der Tagesordnung ist beschlossen.
Ich rufe Punkt 2 ,der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über ergänzende Maßnahmen zum Fünften Strafrechtsreformgesetz
— Drucksache 7/376 —
a) Bericht ,des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 7/1754 —Berichterstatter: Abgeordneter Krampe
b) Bericht und Antrag des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 7/1753 —
Berichterstatterin: Abgeordnete Frau Schlei
Wünscht die Frau Berichterstatterin das Wort? — Das ist nicht der Fall.
Wer wünscht das Wort zur Aussprache? — Bitte schön, Frau Abgeordnete Schlei!
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Für die sozialdemokratische Fraktion habe ich den Entwurf eines Gesetzes über ergänzende Maßnahmen zum Fünften Strafrechtsreformgesetz zu erläutern und zu begründen, und zwar in der jetzt vorliegenden Fassung, wie sie der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung beschlossen hat.Aus der Gesetzesbezeichnung läßt sich für Uneingeweihte der Gesetzesinhalt meines Erachtens kaum oder nur mißverständlich ableiten. „Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz" ist sicher ein viel zu blasser Ausdruck für das, worum es hier geht. Es handelt sich nämlich um eine bedeutsame Weiterentwicklung der Krankenversicherung in Richtung auf eine wirksamere Gesundheitssicherung, die von einer sich verstärkenden Verantwortungsbereitschaft der versicherten Männer und Frauen ausgeht. Sie erweist sich im Hinblick auf die bevorstehende Änderung des § 218 des Strafgesetzbuchs als unerläßliche Voraussetzung. Da meine Fraktion im Zusammenhang mit der Neuregelung dieses Paragraphen alle sozialen und gesundheitssichernden Maßnahmen als den wichtigeren Teil der Reform betrachtet, wird ihnen folgerichtig auch Priorität in der Verabschiedung eingeräumt.Die Regelungen dieses Gesetzentwurfs zielen darauf ab, die anstehende Reform des genannten Strafrechtsparagraphen sozialpolitisch abzusichern. Das soll nun mit aller Deutlichkeit hervorgehoben werden: ohne daß die strafrechtliche Neugestaltung hier auch nur in irgendeiner Weise präjudiziert wird. Mit anderen Worten: Dieses sozialpolitische Rahmenwerk könnte bei jedem der vier inhaltlich weit voneinander abweichenden Alternativentwürfe zur Strafrechtsreform angewendet werden, und zwar ohne daß es zu irgendeiner Veränderung kommen müßte. Ja, es behielte sogar dann seine Bedeutung, wenn es — was, wie ich meine, dieser Bundestag allerdings schlecht verantworten könnte — nicht zu einer Strafrechtsänderung käme.Die Regelungen dieses Gesetzentwurfs werden völlig zu Recht als konstruktiver Beitrag der Sozialpolitik zur Strafrechtsänderung gewertet. Durch eine gezielt aufgebaute Vorsorge werden hier die Voraussetzungen für eine verantwortliche Familienplanung geschaffen, ohne daß wir dabei das Augenmaß für das heute Mögliche verlieren. Wir fördern die ärztlich beratende Tätigkeit, um unerwünschte Schwangerschaften zu vermeiden und um gewollte
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Frau SchleiSchwangerschaften zu ermöglichen. Mit den im Gesetz vorgesehenen Maßnahmen können wir endlich den Kampf gegen das unerträgliche Elend der illegalen Schwangerschaftsabbrüche aufnehmen. Es ist klar, daß in diesem Gesetz besonders stark der sozialmedizinische Aspekt eines viel komplexeren Problems angesprochen wird.Mit den Beratungen zur Entwicklung der einzelnen Maßnahmen des Gesetzes wurde von einer Arbeitsgruppe meiner Fraktion bereits 1971 begonnen. Auch hieran läßt sich der Vorrang erkennen, den meine Fraktion den sozialen Rahmenbedingungen für eine Gesamtreform des § 218 beimißt. Die soziale Absicherung wurde also sorgfältig beraten und entwickelt, noch bevor irgendein Gesetzentwurf zur Neuordnung der Strafbarkeit bei Schwangerschaftsabbruch vorlag.Jede einzelne Maßnahme wurde ohne Zeitdruck gründlich vorbedacht und konzipiert, und unsere Überlegungen blieben weitgehend unbeeinflußt von der öffentlichen Diskussion, die sich leider fast ausschließlich auf die juristische Neuregelung verengte. Bis vor kurzem hat die breite Öffentlichkeit diesem Teil unserer Reformbestrebungen nicht einmal eine gewisse Aufmerksamkeit geschenkt, geschweige denn hat sie diese Art der Reform gefordert. So blieb den um eine sozialgerechte Reform bemühten sozialdemokratischen Parlamentariern und den sie beratenden Fachleuten auch die anregende, konstruktive Unterstützung versagt.Dies sollte um so nachdenklicher stimmen, als man wohl zu Recht von jenen Gruppierungen solche Denkanstöße erwarten dürfte, die sich aus ihrer weltanschaulichen Haltung heraus erst vor wenigen Monaten für eine Reform des § 218 überhaupt ausgesprochen haben.
Daß ein Alternativgesetzentwurf zu sozialbegleitenden Maßnahmen dieser Strafrechtsänderung bis heute noch aussteht, sei der Opposition gesagt. Ein solches Versäumnis, meine Damen und Herren, kann auch schwerlich durch die Ankündigung eines sogenannten Reformprogramms zum Schutz des ungeborenen Lebens ersetzt werden, selbst wenn uns dies noch heute morgen in aller Eile taufrisch auf den Tisch gelegt wird. Ein Entschließungsantrag mit Ihrem Text hat zu unserem Gesetz nichts zu sagen, sondern hier wird heute über präzise Gesetzesvorlagen beraten und abgestimmt.Unser mit dem Koalitionspartner Punkt für Punkt abgestimmtes Gesetz sieht im einzelnen folgende Leistungen vor, die von den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung und von den Trägern der Sozialhilfe übernommen werden:Alle Versicherten, also Männer und Frauen, können sich von einem Arzt über Fragen der Empfängnisregelung beraten lassen. Diese gründliche Beratung durch einen frei gewählten Arzt umfaßt auch die erforderliche Untersuchung sowie die Rezeptur empfängnisregelnder Mittel. Ziel unserer Familienplanung ist es, gewünschte Schwangerschaften zu ermöglichen und ungewollte Schwangerschaften zu verhindern. Nach unseren Vorstellungen sollen Kinder Wunschkinder sein; sie sollten dann geboren werden, wenn die Eltern auch zur Elternschaft bereit sind und sich dazu selbst fähig fühlen. Kinder werden sicherlich viel glücklicher aufwachsen können, wenn sie erwartete Kinder sind.Erst wenn das notwendige Wissen um die individuellen Möglichkeiten der Empfängnisverhütung sowie der Empfängnisregelung vorhanden ist, hilft es den verantwortungsbereiten Bürgern in unserem Land bei der bewußten Lebensgestaltung in diesem komplizierten Bereich besser zurechtzukommen. Eine zeitgerechte Familienpolitik hat dies zu bedenken.Noch umfassendere Hilfen zur Familienplanung sind für die Empfänger von Sozialhilfe vorgesehen. Sofern die Voraussetzungen für die Gewährung von Hilfen in besonderen Lebenslagen vorliegen — nach dem Bundessozialhilfegesetz —, werden außer den bisher genannten Leistungen auch die ärztlich verordneten empfängnisregelnden Mittel kostenfrei abgegeben. Dies ist eine Regelung, die seit 1970 in Berlin bereits gilt. Mit dieser wichtigen Entscheidung, der auch die Vertreter der Opposition im Ausschuß zugestimmt haben, wird ein wirtschaftlich weniger gut gestellter Personenkreis von finanziellen Aufwendungen für die Familienplanung entlastet.Außer der Personengruppe, die unserer besonderen Hilfe bedarf, haben die Versicherten die Kosten für ärztlich verordnete Verhütungsmittel selbst aufzubringen.Die in der Öffentlichkeit wie auch in meiner Fraktion geführte Diskussion, ob es die sogenannte Pille auf Krankenschein geben solle, wurde in der vorbereitenden Arbeitsgruppe sehr eingehend mit Sachverständigen erörtert und geprüft. Zu unserer Ablehnung des Wunsches, diese Kostenart in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufzunehmen, führten u. a. folgende Überlegungen.Die zu erwartende Kostenbelastung für die Versichertengemeinschaft wäre enorm. So müßten allein ungefähr 375 Millionen DM pro Jahr für die Abgabe oraler Antikonzeptiva aufgewendet werden. Dieser Betrag hätte aus verfassungsrechtlichen Gründen um die Aufwendungen für sonstige empfängnisregelnde Mittel, und zwar für Männer und Frauen, aufgestockt werden müssen.Nicht abzuweisen war noch jenes wesentliche Argument, daß die kostenfreie Abgabe empfängnisregelnder Mittel keinesfalls auch ,die Einnahme bzw. Anwendung garantiert. Diese sehr gravierende Erkenntnis wird belegt durch wissenschaftliche Untersuchungen, die einen sehr schichtenspezifisch differierenden Informationsstand zur Empfängnisregelung beweisen. Daher erscheint uns der Einsatz der vorhandenen Mittel rationeller und zweckdienlicher, wenn man einer breit angelegten ärztlichen Beratung aller Versicherten über Empfängnisverhütung den Vorzug gibt.Lassen Sie mich dazu noch eine interessante Zahl nennen. Im Jahre 1870 betrug die durchschnittliche
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Frau SchleiLebenserwartung einer Frau 38 Jahre. Heute liegt die durchschnittliche Lebenserwartung für eine Frau bei weit über 70 Jahren, bei fast 76 Jahren. Während dieser Lebenszeit ist sie ungefähr 30 bis 33 Jahre fertil, gebärfähig, wie man sagt. Das bedeutet, daß heute die Zeit der Fruchtbarkeit einer Frau fast der Zeit ,der früheren durchschnittlichen Lebenserwartung entspricht. Sie sehen, welch große Aufgabe in diesem Bereich zu bewältigen ist, wenn wir den Frauen in ihrer schwierigen Lebenssituation helfen wollen.Die über die kostenfreien Hilfen hinaus entstehenden Eigenbelastungen der Versicherten erschienen uns zumutbar.Zum besonders wichtigen Teil im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung wird der Anspruch der Versicherten auf ärztliche Beratung über die Erhaltung der Schwangerschaft. 60 % der kinderlosen verheirateten Frauen würden sehr gern ein Kind haben, wie Professor Prill nachweist.In den Fällen, in denen das Gesetz den Abbruch der Schwangerschaft straffrei stellt, erhält die Versicherte beim frei gewählten Arzt, also beim Arzt ihres Vertrauens, außer der erforderlichen Untersuchung und Begutachtung zur Feststellung der Voraussetzungen für den Abbruch ärztliche Beratung. Dieser Beratungskategorie mißt meine Fraktion eine ganz besondere Bedeutung zu. Hier kann ein Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patientin begründet werden, das manchen unüberlegten Schwangerschaftsabbruch verhindern hilft.Wir Sozialdemokraten haben die große Hoffnung, daß sich unsere Ärzteschaft dieser differenzierten und umfassenden Beratungsaufgabe so engagiert annimmt, wie es ein Problem mit solchen Dimensionen erforderlich macht.
Es gibt wohl kaum einen anderen Komplex der ärztlichen Berufsausübung, der in so eindringlicher Weise geeignet erscheint, mitmenschliches Verständnis, zeitgerechte Wissenschaftlichkeit, Berufsethos und Beratungsfähigkeit in Einklang bringen zu können, ja ich meine: zu müssen.Berufene Vertreter der Ärzteschaft haben uns in Gesprächen und Anhörungen versichert, daß diese große Aufgabe von ihnen gern angenommen wird und daß mit ihrem Beitrag zur sachverständigen Mithilfe gerechnet werden kann. Der Erfolg bei dieser Aufgabe könnte zu einem Ruhmesblatt für unsere Ärzteschaft werden.
Als unerläßliche Maßnahme wirksamerer Gesundheitssicherung sieht meine Fraktion die ärztliche Hilfe beim straffrei gestellten Schwangerschaftsabbruch an. Entscheidet sich die Schwangere nach der vorausgegangenen Beratung und nach der Beschreibung des Risikos eines Eingriffs dennoch für einen Abbruch, so soll dieser medizinisch fachgerecht, mit den zeitgemäßen Möglichkeiten ärztlicher Kunst erfolgen. Die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung bzw. der Sozialhilfe übernehmen alle damit zusammenhängenden Leistungskosten: nicht nurdie Behandlung selbst, sondern auch die Versorgung mit entsprechenden Arzneimitteln. Übernommen werden sowohl die bei ambulanten als auch bei stationären Abbrüchen entstehenden Kosten. Gesichert wird auch — das halte ich für besonders wichtig die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bzw. die Krankengeldleistung, so daß es für die Patientin nicht zusätzlich zu finanziellen Sorgen kommen muß.Alle straffrei gestellten Abbrüche sollen von Ärzten unter klinischen Bedingungen durchgeführt werden, um gesundheitsschädigende Folgewirkunggen zu vermeiden. Mit dieser Regelung wollen wir mit dem verhängnisvollen Kurpfuschertum der Vergangenheit aufräumen.
Fachgerecht von einem Arzt durchgeführte Schwangerschaftsabbrüche sollen nicht länger ein Privileg der Gutsituierten in unserer Gesellschaft sein.
Sie haben wohl schon immer einen Arzt gefunden; im Gegensatz zu der großen Gruppe unserer Frauen, über deren erlittene, zum Teil unheilbare Folgeschäden uns in Ärzteberichten beredtes Zeugnis abgelegt worden ist.Es wäre zu vordergründig argumentiert, wollte man die in Zukunft notwendigen Leistungen nicht durch die Krankenversicherung bzw. durch die Sozialhilfe übernehmen. Diesen Trägern sind doch bisher auch schon die zum Teil erheblichen Folgekosten aus unsachgemäß oder illegal durchgeführten Schwangerschaftsabbrüchen zugefallen. Dazu haben wir Abgeordneten in einer ganztägigen Anhörung. — selbst auf sehr drängende Fragen, wie Sie sich erinnern werden, Kollege Dr. Nölling, nach der ungefähren Höhe dieser schon jetzt ständig zu erbringenden Leistungen — nicht die geringste Aussage über einen vermuteten Umfang bekommen.Auch alle mit einer straffrei gestellten, freiwilligen Sterilisation zusammenhängenden Kosten werden für die versicherten Männer und Frauen übernommen — sowohl für die Versicherten als auch für die Sozialhilfeberechtigten. Die gesetzlichen Voraussetzungen sind noch im Strafrecht zu konkretisieren. Obwohl bei den Frauen das Operationsrisiko bei Sterilisation größer ist als bei den Männern, sind in der Bundesrepublik von je 100 Sterilisierten nur fünf Männer, aber 95 Frauen. Das mag u. a. in der bisher ungesicherten Rechtssituation begründet sein. Während in der Schweiz das Verhältnis 50 : 50 steht, sind in Amerika unter je 100 Sterilisierten 75 Männer und nur 25 Frauen. Ein umfangreiches, gesichertes Statistikmaterial läßt durchaus Hinweise auf bestimmte Bewußtseins- und Verhaltensstrukturen zu.Wir haben viele Überlegungen und Beratungen auf das Problem der Sicherstellung der ärztlichen Versorgung verwandt. Mancher Arzt sieht sich z. B. von seiner Ausbildung bzw. von seiner Art der Praxisgestaltung ader auch von seiner Praxisausstattung her nicht in der Lage, einen Eingriff dieser
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Frau SchleiArt nach den heute vertretbaren Methoden auszuführen. Auch berufsethische Grundsätze mögen eine beachtliche Rolle spielen. Die Reichsversicherungsordnung soll daher in der Weise ergänzt werden, daß ambulante Schwangerschaftsabbrüche in Zukunft auch in Krankenhäusern vorgenommen werden können.Die Koalitionspartner haben diese wichtige, grundsätzliche Entscheidung zugunsten der Ausnahmeregelung in großer gesundheitspolitischer Verantwortung getroffen; das muß hier einmal betont werden. Ich bedaure auch sehr, daß sich die Opposition, obwohl sie im Ausschuß argumentierte, alle Schwangerschaftsabbrüche müßten in Kliniken und Krankenhäusern vorgenommen werden, hier der Stimme enthalten hat.Das von den Sozialdemokraten vorrangig angestrebte Ziel, gewünschte Schwangerschaften zu ermöglichen, ungewünschte Schwangerschaften zu verhindern, straffrei gestellte Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich einer fachärztlichen Behandlung zuzuführen, belastet selbstverständlich den Aufgabenbereich der Versichertengemeinschaft stark. Die Inanspruchnahme der genannten ärztlichen Hilfen und der sonstigen Leistungen soll nach der politischen Zielsetzung meiner Fraktion aber nicht länger ein Privileg sein. Für Leistungen, die also im Interesse einer allgemeinen Gesundheitsvorsorge und einer allgemeinen Gesundheitssicherung liegen, erscheint daher eine Beteiligung des Bundes an diesen Kosten ebenso erforderlich wie angemessen. Die zunächst) für die Jahre 1975 bis 1979 mit je 55 Millionen DM jährlich vorgesehene Beteiligung an den speziellen Gesamtaufwendungen der Krankenkassen ist sehr dankbar zu akzeptieren. Ein in diesem Zusammenhang von den Koalitionsfraktionen vorgelegter Entschließungsantrag fand auch die Zustimmung der Ausschußmitglieder der CDU/CSU und wird zur Annahme empfohlen.Meine Fraktion begrüßt die aufgeführten Leistungsverbesserungen im Bereich der Reichsversicherungsordnung und des Bundessozialhilfegesetzes. Die von uns Sozialdemokraten verfolgte Politik der sozialen Erneuerung unserer Gesellschaft wird damit zugunsten eines sehr persönlichen Lebensbereichs unserer Bürger konsequent fortgesetzt. Durch diese Maßnahmen können wir wiederum ein Stück mehr an sozialer Gerechtigkeit verwirklichen — einer Gerechtigkeit, um die die Frauen in unserem Lande seit der Einführung des § 218 so lange vergeblich gekämpft haben. Mit der Annahme dieses Gesetzes können wir bewirken, daß die zahlreichen negativen Erfahrungen, die das Ausland machen mußte, von vornherein vermieden werden können.
Wenn in anderen Ländern eine lediglich juristische Neugestaltung dieser Strafrechtsparagraphen erfolgte und alle ergänzenden sozialen Maßnahmen unterblieben, ist es kein Wunder, wenn wir Greuelberichte über solche Verhältnisse in den Zeitungen lesen müssen. Bei uns wird dies von vornherein in hoher Verantwortung, — wie wir hier heute zu bescheinigen haben — vermieden werden.Ein angesehener sehr gut informierter Journalist t behauptete, daß mit den von uns angebotenen Hilfen die nun in der Bundesrepublik zu erwartende Gesamtreform die beste der Welt würde.
Wir drängen jedoch nicht auf Superlative. Wir wollen einfach glaubwürdig nachweisen, was schon Herbert Wehner dieser Tage feststellte: W i r meinen es ehrlich mit der Reform des § 218.
Und er fuhr fort: Die Frauen in der Bundesrepublik können sich auf die sozialdemokratische Bundestagsfraktion verlassen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Verhülsdonk.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute in fünf Wochen soll das Fünfte Strafrechtsreformgesetz zum § 213 verabschiedet werden. Die ergänzenden Maßnahmen zur Fünften Strafrechtsreform, eingebracht als Gesetzentwurf von den Fraktionen der SPD und FDP, werden jetzt mit aufsehenerregender Eile und gezielter Öffentlichkeitswirkung vorab durchgepaukt.Bei der abschließenden Ausschußberatung am 13 Februar wurde noch von den Koalitionsvertretern argumentiert: Dieses Gesetz müsse im Ausschuß vom Tisch, es liege lange genug vor; es werde aber im Plenum erst nach dem Strafrechtsreformgesetz verabschiedet.
Keineswegs solle es die freie Gewissensentscheidung aller Abgeordneten des Deutschen Bundestages beeinflussen. Es sei ja gerade darauf angelegt, zu allen vier vorliegenden Strafrechtsgesetzentwürfen zum § 218 zu passen, weil es die jeweils durch Gesetz legalisierten Abbrüche in die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen einbeziehe. Warum jetzt plötzlich diese Reihenfolge? Warum jetzt diese Eile?
Spätestens seit der Pressekonferenz der SPD vom vergangenen Freitag weiß es auch die Öffentlichkeit. Die SPD ist jetzt soweit, daß sie zum großen Schlußhalali für die Fristenlösung blasen kann.
Ihre Sorge, daß Mitglieder der eigenen Fraktion, die den Minderheitsantrag von Dr. Müller-Emmert unterstützen, das Reformwerk verhindern könnten, ist offenbar ausgeräumt. Man fühlt sich sicher, man ist sich einig. Diejenigen in der SPD, die noch Bedenken gegen die Fristenlösung haben, werden durch die Veröffentlichung der Wehner-Broschüre „Das Argument § 218" jetzt erheblich politisch unter Druck gesetzt.Man hat jetzt auch zur rechten Zeit die Begleitmusik von draußen: Demonstrationen, die die völlige Abschaffung des § 218 fordern. Da müßte doch
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Frau Verhülsdonkwohl das deutsche Volk eigentlich noch dankbar sein, wenn SPD und FDP jetzt schnell eine immerhin emanzipatorischen Ansprüchen gerecht werdende Reform, wie die Fristenlösung, durchsetzen, bevor der Druck von der Straße in Richtung auf viel weitergehende Liberalisierung größer wird.Von Berlin aus demonstriert ein Ärztekollektiv — offenbar sogar gegen Honorarzahlung durch eine öffentlich-rechtliche Fernsehanstalt —
dem Bundesbürger in seiner Wohnstube, wie einfach und schmerzlos es ist, ein Embryo zu töten.Wer nimmt schon Anstoß daran, daß hier ein Rechtsbruch geschehen ist? Ein paar katholische Bischöfe, die CDU/CSU und allerdings alle jene in unserer Gesellschaft, die schaudernd erkennen, wie in diesen Tagen Gewissen und Meinungen manipuliert werden.
„Das Fernsehen macht Ungeheuerliches selbstverständlich", wie Günter Böddecker in der „Welt" vom 16. März schreibt. „Abtreibung im Fernsehen: dies ist angetan, den Vorgang der Tötung einer Leibesfrucht in den Augen von Millionen selbstverständlich erscheinen zu lassen", schreibt er.Einige hundert Ärzte bezichtigen sich öffentlich, illegal Abtreibungen vorgenommen zu haben. Damit sei hinreichend erwiesen, daß es verlogen sei, wenn die Sprecher der Ärzteverbände im Namen der ganz großen Mehrheit ihrer Mitglieder auf das ärztliche Berufsethos hinwiesen, das ihnen gebiete, Leben zu schützen und nicht zu vernichten. Jetzt wisse man, sie seien ja nur gegen die Freigabe der Abtreibung, weil ihnen dadurch ein lohnendes steuerfreies Geschäft verdorben würde und weil sie außerdem als „Herrgötter in Weiß" weiterhin die Frauen bis ins letzte bevormunden wollten.Meine Damen und Herren, diese dissonante Begleitmusik — ich unterstelle, daß es auch bei der Koalition manchen gibt, dem sie nicht paßt — macht offenbar, wie makaber es ist, was durch den heute zu beschließenden Gesetzentwurf in unserer Gesellschaft eintreten wird.
Abtreibungen aus nichtigen Gründen auf subjektiven Wunsch der Frau werden in Zukunft durch die Beiträge der Versichertengemeinschaft subventioniert.
Jene Minderheit der Ärzte, die abtreibungswillig ist, kann künftig ohne Berufsrisiko ihr Geschäft machen, ambulant oder in Krankenhäusern; sie müssen dafür allerdings Steuern zahlen, und die Tarife werden ihnen vorgeschrieben.Nun, Herr Wehner hat gesagt: „Die SPD-Fraktion meint es ehrlich mit der Reform des § 218. Die Frauen in der Bundesrepublik können sich auf die sozialdemokratische Bundestagsfraktion verlassen." Das trifft dann auch auf jene zu, die die Möglichkeit einer solchen auf die Spitze getriebenen sozialpolitischen Gesetzgebung mißbrauchen werden. Wer bei der SPD noch schwankend war, ob die Fristenlösung überhaupt realisierbar sei, der wird jetzt überzeugt, denn die Haupthindernisse werden ausgeräumt, nämlich erstens das Problem: wer zahlt für medizinisch nicht notwendige Abtreibungen?, zweitens: wer soll sie durchführen, wenn die große Mehrzahl der Ärzte sich weigert?, und drittens: wo soll es geschehen?Die Kostenfrage ist sozial einwandfrei geregelt; am Bezahlen sollen Abtreibungen nicht scheitern. Die schwierige Frage, genug Ärzte und Krankenbetten zu beschaffen, wird heute mehr schlecht als recht geregelt. Auch wenn die meisten konfessionellen Krankenhäuser nicht mitmachen und das ärztliche und pflegerische Personal sich unter Berufung auf das Gewissen weigert: man hofft, der finanzielle Anreiz wird schon nach und nach die Widerstände bei den Ärzten brechen. Den Rest schafft dann noch eine gewisse öffentliche Meinung, die alsbald die Ärzte in zwei Kategorien einteilen wird: auf der einen Seite die reaktionären Moralisten und auf der anderen die Fortschrittlichen. Die Moralisten unter den Ärzten werden in Zukunft ihre Gewissensentscheidung in mehrerer Hinsicht, nicht nur im Hinblick auf ihre Berufschancen, teuer bezahlen müssen.Die SPD-Broschüre „Das Argument § 218" beginnt mit dem Beschluß des SPD-Parteitages vom 18. bis 20. November, der die Fristenlösung fordert. Dieser Beschluß wird folgendermaßen eingeleitet:Jeder Schwangerschaftsabbruch wirft ernste Probleme auf. Er ist ein Eingriff in werdendes menschliches Leben und in die seelische und körperliche Integrität der Frau. Er belastet den Arzt mit einer ernsten sittlichen Entscheidung. Staat und Gesellschaft sind daher aufgefordert, darauf hinzuwirken, daß Schwangerschaftsabbrüche möglichst unterbleiben.Wie wollen Sie das erreichen, wenn zwar abtreibungswillige Frauen über die Folgen eines Schwangerschaftsabbruches ärztlich beraten werden sollen, aber gleichzeitig Verharmlosungskampagnen großen Stils öffentlich stattfinden,
wenn allein schon der uneingeschränkte gesetzliche Anspruch auf Abtreibung auf Krankenschein den Frauen geradezu suggeriert, es könne sich da ja nur um eine gesundheitspolitisch unbedenkliche Sache handeln? Der Krankenschein, normalerweise das Mittel, sich Gesundheit zu verschaffen, wird jetzt auch zum Mittel, ungeborenes Leben zu vernichten, ohne daß nach der Motivation gefragt werden soll.
Die Abtreibungen sollen überwiegend — etwa auch aus Kostengründen? — ambulant durchgeführt werden. Wie soll sich die schwangere Frau des schweren Eingriffs in die „seelische und körperliche Integrität" — so haben Sie ja gesagt — bewußt blei-
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Frau Verhülsdonkben, wenn Abbrüche schnell mal zwischen Frühstück und Mittagessen abgewickelt werden können?
— Meine Damen und Herren, die Berliner Demonstration hat es ja der Öffentlichkeit so vorgeführt!
Man sagt am Schluß der kleinen Szene: „Gott sei Dank", steht auf und geht nach Hause. So wurde es doch der Öffentlichkeit vorgeführt.
Woher soll die Frau wissen, daß die medizinischen Risiken bei ambulanter Abtreibung erheblich höher sind -- nach Aussagen namhafter deutscher und ausländischer Ärzte — als bei einer stationären Behandlung? Werden es die ärztlichen Berater ihr überhaupt sagen können, daß es so ist, wenn dieses ihr kein Krankenbett vermitteln können?
Meine Damen und Herren von der Koalition, die Fristenlösung, das wissen Sie aus den Statistiken anderer Länder sehr genau, erfordert sehr schnell eine erheblich höhere Bettenkapazität, die in absehbarer Zeit nicht zur Verfügung steht.Die Regierung hat sich da zum Teil öffentlich Gedanken gemacht, wie es eigentlich um die Frage der Gewissensfreiheit beim Krankenhausträger steht. Während die Gewissensfreiheit ein Grundrecht der einzelnen Person von hohem Verfassungsrang sei, müsse die Frage des Kollektivgewissens eines Krankenhausträgers zumindest als umstritten bezeichnet werden. Es scheint jetzt, daß man sich nicht grundsätzlich mit den Trägern konfessioneller Krankenhäuser anlegen will; sie werden noch zu nötig gebraucht.Staatssekretär Westphal hat in einer Fragestunde am 16. Januar allerdings davon gesprochen, daß eine verantwortungsbewußte Bundesregierung gerade auch im Interesse der Frau unter medizinisch-gesundheitlichen Gesichtspunkten dafür Sorge tragen müsse, daß die Bundesländer entsprechende Bettenkapazitäten für Abtreibungen zur Verfügung stellen. Da wird also der Schwarze Peter an die Länder weitergegeben. Nach einer KNA-Nachricht vom 2. Februar hat inzwischen das Land Nordrhein-Westfalen gekontert, es beabsichtige nicht, spezielle Abtreibungskliniken einzurichten; es würde auch kein freier Träger gezwungen, sich an Abtreibungen zu beteiligen.Staatssekretär Westphal hat in der gleichen Fragestunde die Meinung seines Ressortministers, Frau Focke, zu diesem Problem interpretiert: Gerade wenn man die Gewissensentscheidung und das Gewissensgrundrecht ernst nehme, seien aus diesem Gesichtspunkt grundlegende Überlegungen zum Kapazitätsproblem notwendig, um zu gewährleisten, daß ein gesetzlich zulässiger Schwangerschaftsabbruch, also nach der Reform zulässiger Schwangerschaftsabbruch, unter den notwendigen und optimalen medizinischen Voraussetzungen vorgenommen werde, die Frau vor finanziellen Nachteilen geschützt werde und die notwendige Beratung imZusammenhang mit dem Schwangerschaftsabbruch sichergestellt sei. Dies bedeute einmal, daß sich die Länder bei der Aufstellung der Krankenhausbedarfspläne darüber Gedanken machen müßten, wie die notwendigen Kapazitäten bereitgestellt werden könnten. Zum anderen sei zu überlegen, in welcher Weise die Ärzte der Krankenhäuser mehr als bisher zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen im Rahmen der ambulanten Versorgung der Bevölkerung ermächtigt werden könnten. Schließlich sei zu prüfen, inwieweit durch den niedergelassenen Arzt der Schwangerschaftsabbruch unter klinischen Bedingungen unabhängig von einem Krankenhaus vorgenommen werden könne.Die Meinungsbildung in Ihren Reihen, meine Damen und Herren, scheint inzwischen in Richtung auf die medizinisch schlechteste Lösung hin, die aber zunächst am ehesten realisierbar ist, erfolgt zu sein. Die Lösung heißt: ambulante Abtreibung, wenn möglich, unter medizinischen Bedingungen.Im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung hat Frau Kollegin Schlei mit Recht darauf verwiesen, daß in anderen Ländern Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich nur in Kliniken durchgeführt werden. Die Koalition will jetzt den medizinischen Voraussetzungen bei Abbrüchen dadurch gerecht werden, daß sie solche Krankenanstalten, die zur Teilnahme an Abbrüchen bereit sind, deren ärztliches und pflegerisches Personal sich aber aus Gewissensgründen weigert, gesetzlich ermächtigt, ihre Einrichtungen ambulant praktizierenden Ärzten zur Verfügung zu stellen.Was in dieser Regelung an höheren gesundheitlichen Risiken für die Frauen, an Konfliktstoffen für die beteiligten Personen, an Ärgernissen für die Öffentlichkeit, an pressewirksamen Skandalen alles drinsteckt, meine Damen und Herren, darüber werden wir uns spätestens hier im Hohen Hause unterhalten, wenn der erste Bericht der von der CDU/CSU beantragten Sachverständigenkommission über die Auswirkung dieser neuen Gesetzgebung zum 1. Januar 1978 vorgelegt wird.
Ich kann mir nicht helfen: Das hohe Pathos, mit dem Sie immer wieder auf die gesundheitlichen Risiken der illegalen Abtreibungen hinweisen, erscheint jetzt zunehmend in fragwürdigem Lichte. Dieselben Ärzte, die bisher illegal Geschäfte machen, machen sie in Zukunft legal nur: der Markt wird größer, nämlich um jene Frauen, die mit Hilfe umfassender Meinungsmanipulation von der Unbedenklichkeit der Abtreibung überzeugt worden sind.
Einziger Vorteil: Die Preise werden kontrollierbar.Einige Krankenhausärzte werden zu gewinnen sein.Herr Dr. Wegner, Präsident des Berufsverbandes der Frauenärzte e. V., berichtete im Hearing vom 16. Januar, daß er schon jetzt Beschwerden von Chefärzten auf dem Tisch liegen habe, die von ihren Krankenhausträgern bereits die präzise Frage vorgelegt bekamen, wie sie es hielten, wenn dieses Gesetz durch sei, und die ernsthafte Bedenken um
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Frau Verhülsdonkihren Arbeitsplatz haben. Mancher junge Arzt, der vor der Frage steht, daß er einen Vertrag von einem Krankenhaus nur erhält, wenn er zu Abtreibungen ja sagt, hat zwar formal die Gewissensfreiheit, aber mit welchen Belastungen!
Aber reden wir von der Kostenfrage. Dieses Gesetz verfolgt das hockgesteckte Ziel, die Reformbestrebungen zum § 218 durch flankierende sozialpolitische Maßnahmen zu unterstützen. Kernpunkt der Lösung ist die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung und der Sozialhilfe bei ärztlicher Beratung über Fragen der Empfängnisregelung — davon wird später noch die Rede sein — und für Beratungen und ärztliche Hilfe bei Schwangerschaftsabbruch und Sterilisation.Am 16. Januar hat der Ausschuß Sachverständige, und zwar Sprecher der gesetzlichen Krankenkassen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, angehört. Die Krankenkassen haben sich dabei insbesondere eingehend zu der Frage der Finanzierung von Schwangerschaftsabbrüchen geäußert. Der Sachverständige Direktor Töns vom Bundesverband der Ortskrankenkassen nahm als Sprecher aller Kassen sehr ausführlich zu der Frage Stellung, ob einer Solidarversicherung, die durch Pflichtbeiträge der Versicherten finanziert wird, eine Aufgabe zu finanziellen Lasten der Mitglieder übertragen werden kann, die mit dem Prinzip der solidarischen Krankenversicherung, wie es bisher Gültigkeit hatte, nicht mehr das geringste zu tun hat.Direktor Töns hat dabei ausgeführt, daß die Spitzenverbände der Krankenkassen sich wiederholt klar, entschieden und übereinstimmend gegen die Übernahme der Kosten eines Schwangerschaftsabbruches in anderen als in Krankheitsfällen ausgesprochen hätten. Solche Leistungen würden „weder zum Wesen noch zu den Prinzipien, noch zum System der gesetzlichen Krankenversicherung passen". Er wies darauf hin, das Wesenselement der gesetzlichen Krankenversicherung bestehe darin, daß ein objektiv begründetes Bedürfnis nach Leistungen vorliegen müsse. Subjektiv empfundene Bedürfnisse und private Wünsche der persönlichen Lebensgestaltung könnten nicht Gegenstand der sozialen Leistungssysteme sein. Es sei der Solidargemeinschaft der Versicherten nicht zuzumuten, die gemeinschaftlich aufgebrachten Mittel für Leistungen zu verwenden, die als Privatangelegenheiten der Versicherten anzusehen seien. Es sei sogar zu fragen, ob eine Finanzierung subjektiv empfundener Bedürfnisse nicht eine grundrechtswidrige Einschränkung der eigenen Lebensgestaltung der Pflichtbeitragszahler darstelle.
Schwangerschaftsabbrüche bei Frauen, die weder krank seien, noch aus einem objektiv zwingenden Grund handelten und sich auf ihre uneingeschränkte Verfügungsberechtigung über sich selbst beriefen, müßten konsequenterweise als höchst persönliche Entscheidung auch privat finanziert werden.Mein Kollege Müller wird sich mit I diesem Fragenkomplex der Änderung der Reichsversicherungsordnung noch eingehender beschäftigen. Ich will hier vor allem auf folgenden Gesichtspunkt hinweisen. Wenn der Gesetzgeber mehrheitlich in Zukunft Schwangerschaftsabbrüche aus nichtigen Gründen -- diesen Fall wollen Sie doch in die Leistungspflicht einbeziehen — nicht mehr mißbilligt, müssen also alle Versicherten das durch ihre Beitragszahlung subventionieren. Welche Zumutung ist das für das große Heer jener Versicherten, die solche Abtreibungen im Gewissen ablehnen, sie aber in Zukunft mit finanzieren sollen!
Die vorgesehene Rückerstattung in Höhe von1 55 Millionen DM aus dem Bundeshaushalt, die auch die entstehenden Beratungskosten über Empfängnisregelung mit abdecken soll, wird von den Krankenkassen bei der nicht zu schätzenden Kostenflut, die auf sie zukommt, als ein „Klacks" angesehen.
— Sehr wohl, Frau Stommel!Die Krankenkassen fordern absolut zu Recht, daß alle aus dem Gesetz entstehenden Kosten als Auftragsleistungen aus Steuermitteln voll zurückerstattet werden. Unseren diesbezüglichen Antrag haben Sie allerdings im Ausschuß bereits abgelehnt. Mir liegen übrigens schon Briefe vor, in denen Mitglieder starker Organisationen, z. B. der Aktion „Lebensrecht für alle" mit 400 000 Unterschriften ihrer Mitglieder und die 10 000 Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft „Die Frau aller Völker", androhen, keine Beiträge und Pflichtbeiträge an die gesetzliche Krankenversicherung abzuführen, wenn diese auch zur Finanzierung von medizinisch nicht indizierten Abtreibungen verwandt werden.Ich möchte die Bundesregierung und die Koalition fragen, wie sie es mit der Gewissenslage jener hält, die nicht bereit sind, für Vernichtung von menschlichem Leben ohne triftigen Grund finanzielle Beihilfe zu leisten.
In der SPD-Broschüre heißt es auf Seite 16, daß man nach einer gesetzlichen Lösung sucht, die „jeweils ohne einen Mißbrauch des Begriffs ,Gewissen' vorgeht". Das soll doch wohl nicht nur für die Mitglieder des Parlaments, sondern für die Bürger im Lande allgemein gelten.Es versteht sich von selbst, daß die Fraktionen der CDU/CSU eine solch fragwürdige gesetzliche Regelung ablehnt. Unser Änderungsantrag, den Sie abgelehnt haben, wollte sicherstellen, daß in den Fällen einer anerkannten medizinischen Indikation Versicherte Anspruch auf Leistungen bei Abbruch der Schwangerschaft durch einen Arzt haben, d. h. im Sinne des Gesetzentwurfes der CDU/CSU-Fraktion bei Vorliegen einer medizinischen Indikation, nicht aber bei der sozialen Indikation.Während der SPD-FDP-Entwurf Abtreibung in jedem Fall voll subventioniert, ist die Kostenregelung
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5736 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Frau Verhülsdonkbei Verhütung in Ihrem Entwurf nicht so großzügig. Hier mangelt es dem Gesetzentwurf in einem entscheidenden Punkt an Konsequenz. Nur ärztliche Beratung und Rezeptur empfängnisverhütender Mittel soll von der Krankenkasse übernommen werden; das Verhütungsmittel geht zu Lasten der Frauen. Nur für Sozialhilfeempfänger wird auch das Medikament gezahlt. Aus dem Hearing wissen wir von ärztlichen Sachverständigen, daß gerade aber Einkommensschwache nur sehr schwer dazu zu bringen sind, Beratung anzunehmen und Verhütungsmittel anzuwenden. Ob die Verhütungsmoral in diesen Schichten sich durch Sonderbehandlung per Sozialamt bessert, kann man wohl mit Recht bezweifeln. Negative Erfahrungen sind aus einigen deutschen Großstädten inzwischen bereits bekannt.Aber das ist nur ein, wenn auch sehr wichtiges, Nebenproblem. Entscheidend ist, daß in ihrem Gesetzentwurf eine verräterische Inkonsequenz steckt, wenn Abtreibung besser subventioniert wird als Verhütung.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Gansel?
Bitte schön!
Frau Verhülsdonk, hätten Sie vielleicht die Freundlichkeit, in diesem Zusammenhang darauf einzugehen oder ein Wort der Erklärung zu
bringen, warum in Ihrem Antrag, der uns soeben auf den Tisch gelegt worden ist, Verhütungsmittel als Pflichtleistung der Krankenversicherung ausgelassen worden sind, nachdem verschiedene Arbeitskreise Ihrer Partei in der Öffentlichkeit diese Forderung erhoben haben?
Würden Sie diese Frage bitte beantworten, weil Sie gerade diese Auslassung in dem Konzept der Koalition kritisiert haben?
Ja, Herr Gansel, Ich bitte um wenige Sekunden Geduld; ich wollte auf dieses Problem sowieso eingehen.
Sollte die auch von Ihnen immer wieder vorgetragene Aussage, Verhütung sei besser als Abtreibung, doch nicht so ernst gemeint sein? Wer garantiert, daß nicht immer mehr Abtreibungen aus nichtigen Gründen vorkommen, wenn Abtreibung kostenlos ist, sogar Lohnfortzahlung und Krankengeld gewährt wird, Verhütung aber Geld kosten?
Gewiß spielt die Geldfrage bei der Pille für sehr viele Frauen nur eine untergeordnete Rolle. Aber es geht jetzt doch wohl darum, insgesamt in der Gesellschaft eine bessere Verhütungsmoral zu schaffen und eine sich ausbreitende Abtreibungsmoral zu verhindern.
Einige Ausschußmitglieder der Koalition haben die Entscheidung gegen eine Kostenübernahme für die Pille bedauert und darauf hingewiesen, daß die Maßnahme zu teuer werde.
Inzwischen hat sich bekanntlich der Hartmann-Bund für die Pille auf Krankenschein ausgesprochen, weil trotz noch bestehender medizinischer Bedenken gegen Ovulationshemmer die gesundheitlichen Risiken geringer seien als bei Abtreibungen.
Ich muß sagen, ich verstehe Ihre negative Entscheidung noch weniger, seit ich in der neuen SPD-Werbeschrift für die Fristenlösung auf Seite 22 gelesen habe, nur 40 % der gebärfähigen Frauen greifen zur sichersten Methode, der Pille. Unerwünschte Schwangerschaft ist die Folge versagender Geburtenplanung. Der Schritt von der unerwünschten Schwangerschaft zum Abbruch ist recht klein, so sagen Sie selbst.
Meine Fraktion hat diese Frage der Kostenübernahme von Verhütungsmitteln kontrovers diskutiert. Alle Kolleginnen und Kollegen waren sich einig, daß die öffentliche Förderung der Familienplanung sicherlich besser ist als die öffentliche Finanzierung der Abtreibung in Fällen einer nicht medizinischen Notwendigkeit.
Jedenfalls wäre der Gebrauch empfängnisverhütender Mittel durch Kostenübernahme gefördert worden. Niemand war aber gezwungen, die Mittel anzuwenden. Außerdem hätte der Arzt von Fall zu Fall seine Anordnung natürlich verantwortlich getroffen.
Ein großer Teil meiner Kolleginnen und Kollegen hatte allerdings — und ich muß sagen, berechtigte — gesundheitspolitische Bedenken gegen eine Massenverordnung von Ovulationshemmern als Langzeitmedikament für eine ganze Generation von Frauen. Angesichts der Tatsache, daß die Koalition im Ausschuß definitiv erklärt hat, daß sie die Kostenbelastung der Krankenkassen mit 200 bis 300 Millionen DM jährlich für rezeptpflichtige Verhütungsmittel für zu hoch hält und deshalb ablehnt und sich statt dessen für die Übernahme der Kosten für Abtreibung und Sterilisation in die Reichsversicherungsordnung entschieden hat, erübrigten sich verständlicherweise für die CDU/CSU weitere Überlegungen.
— Bitte, es ist Ihr Gesetzentwurf, meine Herren, zu dem wir hier Stellung nehmen!
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Gansel?
Bitte schön!
Frau Verhülsdonk, darf ich meine Frage noch einmal wiederholen: es ist sicherlich unser Gesetzentwurf, aber warum fehlt dieser Vorschlag von Ihnen, über den es ja durchaus mehr Einigkeit in diesem Hause gibt, als Sie erkennen
Deutscher Bundestag 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5737
Gansel
lassen, warum fehlt das in diesem Ihrem Entschließungsantrag, den Sie uns jetzt vorgelegt haben?
Ich möchte eben Herrn Gansel antworten. — Oder wollen Sie eine Zusatzfrage stellen? — Wie gewünscht!
Also, bitte schön, Herr Franke.
Wenn das stimmt, Frau Kollegin, was Herr Gansel hier sagt, dann frage ich Sie: warum, glauben Sie, hat Herr Gansel einen solchen Antrag nicht gestellt?
Das muß ich allerdings auch sagen, Herr Kollege Franke; die Frage ist allerdings berechtigt, da wir ja die Meinung von Herrn Gansel aus den Ausschußberatungen kennen.
Aber ich möchte Ihre Frage beantworten. Ich habe es schon am Anfang gerügt: ich halte es für unerträglich, daß dieser Gesetzentwurf, den Sie eingebracht haben, vor der Verabschiedung des Fünften Strafrechtsreformgesetzes hier verabschiedet werden soll.
Wir sind der Meinung, daß erst Klarheit über die Frage bestehen muß, wie das Strafrecht geändert wird. Danach ist Zeit genug, sozialpolitische Konsequenzen etwa im Bereich der Reichsversicherungsordnung zu ziehen. Für das, was wir in unserem Indikationsentwurf wollen, ist keine umfassende Gesetzgebung erforderlich. Die meisten Dinge sind durch bestehendes Gesetz abgedeckt. Die Kosten medizinisch notwendiger Abtreibungen werden sowieso von den Kassen erstattet. Es wäre dann nur noch die Frage der Verhütungsmittel und der Rezeptur zu bedenken. Das können Sie uns überlassen. Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, werden wir mit einem entsprechenden Antrag, den die Fraktion dann zu beschließen haben wird, aufwarten.
Gestatten Sie noch eine Frage des Herrn Abgeordneten Gansel?
Darf ich dann Ihren Entschließungsantrag so verstehen, daß Sie hieraus keine gesetzgeberischen Initiativen ableiten wollen, sondern ihn nur als ein Mittel der Propaganda in der Öffentlichkeit benutzen wollen?
Das ist eine Frage.
Herr Gansel, Sie dürfen das nicht so verstehen, daß wir das wollen, was Sie gerade gesagt haben. Sie müssen es so verstehen, daß wir zu einem Gesetzentwurf, den wir ablehnen, dargelegt haben, daß wir in einem entscheidenden Punkt eine andere Vorstellung haben. Wenn das Strafrechtsreformgesetz verabschiedet ist, werden wir zu der dann bestehenden Rechtslage unsere Vorstellungen über sozialpolitische Maßnahmen im Bereich der Reichsversicherungsordnung auf den Tisch legen.
-- Mit Finanzierungsvorschlägen, Herr Kollege Gansel.
Zu den Fragen der Finanzierung kommen wir gleich sowieso an einer anderen Stelle noch kurz.
Die Fraktion der CDU/CSU hat schon am 17. Mai 1973 bei der ersten Lesung der vier Entwürfe für ein Fünftes Gesetz zur Reform des Strafrechts andere Vorstellungen von flankierenden Maßnahmen als diese heute hier zur Debatte stehenden vorgetragen. Die SPD hat sich in ihrer Broschüre das Argument „§ 218" sehr leichtgemacht, wenn sie auf Seite 34 schreibt „Milliardenprogramm der CDU/CSU ohne erkennbares Konzept" und dann von 18 Milliarden DM spricht, die unsere Vorschläge kosten sollen. Wenn Sie redlich sind, dann müssen Sie selber zugeben: Sie wissen sehr gut, daß diese Zahl nicht stimmt, weil Sie alle Kosten unseres familienpolitischen Langzeitprogramms, das wir natürlich stufenweise verwirklichen müssen, mit eingerechnet haben. Vor allem sind darin die 11,5 Milliarden DM aus dem bisherigen Familienlastenausgleich enthalten, den Sie selber nun ja auch zum 1. Januar 1975 verbessern wollen, und zwar, wie Sie sagen, auf 15 Mililarden DM. Dann ergibt sich nach Adam Riese nur noch eine Differenz von 3 Milliarden DM, meine Herren, nämlich aus 18 minus 15 Milliarden DM.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Wehner?
Da ich noch Zeit habe, bitte schön!
Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche! Ich tue das ungern.
Sind Sie bereit, die dpa-Meldung vom 18. Januar in aller Form in dieser Weise zu dementieren, in der auf Grund der Angaben Ihrer Sozialexperten steht, daß es sich um 18,2 Milliarden DM pro Jahr handelt?
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5738 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Herr Kollege Wehner, ich habe gerade erklärt, daß in den 18,2 Milliarden DM die bisherigen 11,5 Milliarden DM des Familienlastenausgleichs enthalten sind, den ja die Regierung selber auf 15 Milliarden DM aufstocken will. Wenn man 18 minus 15 Milliarden rechnet, kommt man auf 3 Milliarden DM. Wir haben eine Gesamtdarstellung des familienpolitischen Programms gegeben, in dem natürlich der Umfang des Familienlastenausgleichs mit den Akzenten, die wir setzen wollen, enthalten ist.
Die 18 Milliarden kommen zu den 11,5 Milliarden DM nicht hinzu.
Herr Kollege Wehner, ich muß mich nur wundern, daß Sie diese Frage trotz des hohen Grades an Informiertheit, den Sie bisher immer bewiesen haben, jetzt noch einmal stellen. Denn meine Kollegen haben hier schon bei anderen Debatten immer wieder eine Korrektur dieser falschen Zahl vorgetragen.
Ich könnte Ihnen höchstens zugute halten, daß Ihre Broschüre „Das Argument" vielleicht schon vor einigen Monaten konzipiert wurde und gedruckt war, als die Zahl von uns hier korrigiert wurde. Allerdings weist Ihre heutige Frage darauf hin, daß Sie unsere Aussagen offensichtlich nicht zur Kenntnis nehmen wollen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten von Schoeler?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, gehen Sie bei der Nennung der Zahl von 3 Milliarden DM davon aus, daß das von der CDU/CSU geforderte Elterngeld nicht mehr als 3 Milliarden DM kosten würde? Denn sonst stimmt die Zahl, die Sie hier eben genannt haben, nicht.
Wir gehen davon aus, daß mit den 3 Milliarden DM das, was wir vorhaben, stufenweise, nämlich in der ersten und der zweiten Stufe, zu verwirklichen sein wird. Im übrigen wird zu diesem familienpolitischen Programm und zu dem Initiativantrag nachher noch besonders Stellung genommen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Franke?
Darf ich Sie fragen, Frau Kollegin, ob Sie aus der Wehner-Broschüre folgenden Satz unter der Überschrift „Milliardenprogramm der CDU/CSU" — er schreibt allerdings hinzu: „ohne erkennbares Konzept" — kennen? Er lautet:
Die Sozialdemokraten begrüßen es, daß sich die Union jetzt endlich auch der Marschrichtung der Regierung anschließen will, ein teures Sozialprogramm ins Auge zu fassen.
Das läßt doch darauf schließen, daß auch die Sozialdemokraten ein teures haben.
Na ja, selbstverständlich, Herr Kollege Franke, habe ich den Satz gelesen, und zwar mit Amüsement gelesen. Wenn man sich an die Geschichte des Familienlastenausgleichs seit 1969 und an die abgelehnten Anträge zurückerinnert, wird die ganze Sache noch ein bißchen makabrer.
Aber ich möchte jetzt meine Rede sehr schnell zu Ende führen. Um es klar zu sagen: Wir halten die Eckwerte der Bundesregierung für den Kinderlastenausgleich im Rahmen der 15 Milliarden DM nicht für ausreichend, schon gar nicht für die Mehrkinderfamilie.
— Hören Sie gut zu, damit Sie wissen, was wir wollen! — Wir halten es für das Minimum, daß ein Alleinverdienender mit durchschnittlichem Einkommen zusammen mit den Leistungen aus dem Familienlastenausgleich ein Gesamteinkommen erzielt, das wenigstens über der Sozialhilfeschwelle liegt.
Eine solche Regelung erfordert dann die laufende Anpassung der Ausgleichsleistungen an die wirtschaftliche Entwicklung. In den letzten Jahren haben wir ja bekanntlich fast alle sozialpolitischen Leistungen dynamisiert. Nur der Familienlastenausgleich ist unter Ihrer Regierung immer mehr heruntergekommen.
Im übrigen wird — ich sagte es schon — meine Kollegin Frau Dr. Wex zu unserem familienpolitischen Konzept noch sprechen und unseren heute eingebrachten Initiativantrag begründen.Abschließend möchte ich noch folgendes sagen. Ihr Optimismus, meine Damen und Herren von der Koalition, keine Frau werde bei Bestehen der Fristenlösung den Eingriff leichtfertig an sich vornehmen lassen — siehe SPD-Broschüre Seite 50 und oft wiederholte einschlägige Aussagen von Frau Kollegin Funcke und Herrn Mischnick —, ist angesichts der Angebote dieses Gesetzentwurfs und vor dem Hintergrund der Demonstrationen des vergangenen Wochenendes geradezu unglaublich.
Sie selbst scheinen das langsam zu erkennen, denn in mehreren Presseerklärungen von Mitgliedern der SPD-Fraktion aus den letzten Tagen wird davon gesprochen, es sei jetzt notwendig, die Diskussion wieder zu versachlichen. Wahrscheinlich, weil sie sehen, daß die Fristenlösung auf ein falsch vorbereitetes Feld stößt, ist wohl Ihre Bemühung angelaufen.Dieser Optimismus, von dem ich gerade sprach, steht aber auch in krassem Widerspruch zu anderen
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5739
Frau Verhülsdonkpolitischen Tendenzen, mit denen Sie jüngst Schlagzeilen gemacht haben. Wenn man sich an den hohen moralischen Anspruch erinnert, mit dem Regierung und Koalition für die Festsetzung einer Höchstgeschwindigkeit auf Straßen und Autobahnen gefochten haben,
wie sie mit einseitigen Statistiken und Argumenten für eine Einschränkung der persönlichen Freiheit plädiert haben und dem deutschen Autofahrer die Fähigkeit zu verantwortungsvollem Handeln abgesprochen haben und ihn reglementieren wollten, dann kann man sich nicht genug wundern, daß Sie den Frauen gegenüber dem ungeborenen Leben eine uneingeschränkte Verfügungsfreiheit gesetzlich zugestehen wollen.
Und nicht nur das: es wird öffentlich auch da Finanzbeihilfe geleistet, wo Leben ohne triftigen Grund vernichtet werden soll. Mir fällt da gerade noch ein Beispiel ein: Viele von Ihnen haben sich sehr dafür eingesetzt, daß die Pornographie weitgehend freigegeben worden ist.
aber niemand von Ihnen hat die Subventionierung durch den Staat gefordert. Das wäre etwa eine parallele Frage.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten de With?
Bitte!
Muß ich aus Ihren Ausführungen schließen, daß Sie grundsätzlich den Autofahrern in bezug auf etwaige Verkehrstote trauen, grundsätzlich aber den Frauen mißtrauen?
Nein, das können Sie nicht daraus schließen. Ich habe nur versucht, einmal die Schizophrenie Ihrer Argumente aufzuzeigen und nachzuweisen,
wie Sie je nach politischer Agitation die Akzente setzen. Im einen Fall sagen Sie: Freiheit muß eingeschränkt werden, im anderen Fall sagen Sie: Emanzipation über alles! Das ist hier der entscheidende Punkt.
Meine Fraktion stimmt grundsätzlich einer gesetzlichen Regelung für ärztliche Beratung über Fragen der Geburtenplanung zu. Das möchte ich hier ausdrücklich betonen. Wir wollen, daß in allen ernsthaften Konfliktfällen im Sinne unseres Indikationsentwurfs bei Abtreibungen die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen eintritt. Für entsprechende gesetzliche Regelungen — ich sagte es schon — ist nach der Strafrechtsreform noch genügend Zeit.
Den vorliegenden Gesetzentwurf lehnen wir aus allen hier vorgetragenen Gründen ab.
Das Wort hat der Abgeordnete Hölscher.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen der Kollegin Frau Verhülsdonk geben mir Veranlassung zu einer Vorbemerkung. Wir beraten heute nicht, Frau Verhülsdonk und meine Damen und Herren von der Opposition, den § 218, sondern die ergänzenden Maßnahmen, die sozialpolitische Absicherung der Strafrechtsreform.
Dieser Hinweis erscheint mir notwendig, denn die Opposition versucht offensichtlich, die erst in fünf Wochen stattfindende Behandlung des strafrechtlichen Problems heute zu vollziehen. Ich werde mich, Frau Kollegin Verhülsdonk, hierauf nicht einlassen, sondern meine Ausführungen auf das beschränken, was heute auf der Tagesordnung steht.
Herr Kollege Hölscher, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Verhülsdonk?
Frau Verhülsdonk : Herr Kollege Hölscher, ist Ihnen entgangen, daß die Presse in großem Umfang die heutige Entscheidung als d i e Vorentscheidung für die Strafrechtsreform betrachtet?
Frau Kollegin Verhülsdonk, der Deutsche Bundestag ist nicht der Erfüllungsgehilfe von Presseorganen.
Ich glaube, wir bestimmen hier selbst, welche Gesetzesvorlagen an welchem Tag verabschiedet werden.
Im übrigen wurde Ihre Tendenz ja auch bereits in den Ausschußberatungen sichtbar. Zunächst hatten wir uns nämlich mit der Opposition dahin gehend geeinigt, daß unser Auftrag unabhängig von der gesetzlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs zu verstehen ist. Wir waren alle der Meinung, auch Sie — wenigstens in den ersten Ausschußsitzungen —, daß die versicherungsrechtlichen Maßnahmen so zu gestalten sind, daß sie auf jede Form der Änderung des § 218 anwendbar sind. Diesen Grundsatz haben Sie verlassen. Sie haben ihn heute wieder verlassen. Sie machen den Versuch, über die flankierenden Maßnahmen eine präjudizierende
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5740 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
HölscherWirkung für die Entscheidung in der Strafrechtsreform zu erreichen. Wir werden dem heute morgen, denke ich, mit guten Argumenten zu begegnen verstehen.Wir Freien Demokraten begrüßen es — und damit möchte ich zu dem Kern meiner Ausführungen kommen --, daß durch diesen Gesetzentwurf alle Versicherten Anspruch auf ärztliche Beratung über alle Fragen der Empfängnisregelung sowie auf die Untersuchung und Verordnung von empfängnisregelnden Mitteln haben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Verhülsdonk?
Herr Kollege Hölscher, wollen Sie sich bitte daran erinnern, daß wir im Ausschuß eindeutig gesagt haben, daß wir natürlich einem Gesetzentwurf, der sich auf Indikationen bezieht, zustimmen würden, wenn das eingegrenzt wird, daß aber die ganze Diskussion im Ausschuß speziell um die Frage lief, daß Sie subjektiv gewünschte Schwangerschaften mit einbezogen haben. Das war doch der Streitpunkt des Ausschusses.
Das ist doch gerade das, was wir als präjudizierende Wirkung verstehen müssen.
Das wissen Sie ganz genau, Frau Kollegin Verhülsdonk. Wenn Sie diese Einschränkung machen, die Finanzierung über die Krankenkassen nur auf anerkannte Indikationen zu beziehen, dann präjudizieren Sie selbstverständlich. Die heutige Vorlage der Koalitionsfraktionen bringt in diesem Punkt überhaupt keine Wertungen.
Dort steht weder etwas von Indikationenregelungen, noch von einer Fristenlösung.
— Frau Kollegin Frau Verhülsdonk, ich komme gerne darauf zurück, weil ich mir das ohnehin als einen besonderen Punkt für meine Ausführungen notiert habe. Vielleicht können Sie Ihre Frage zurückstellen. Ich komme darauf zurück; ich möchte das dem Hause gern im Zusammenhang darlegen.
Wir begrüßen es, daß darüber hinaus nach dem Bundessozialhilfegesetz wirtschaftlich Schwache ärztlich verordnete empfängnisregelnde Mittel kostenlos erhalten können. Allein dieser Katalog von Hilfen zeigt deutlich, daß es sich hierbei ganz und gar nicht -- wie auch von Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, immer wieder unterstellt wird --- um ein Förderungsprogramm für den Schwangerschaftsabbruch handelt, sondern um einProgramm, das Schwangerschaftsabbrüche durch verstärkte Beratung und Hilfe letzten Endes verhindern hilft. Darüber hinaus wird es sich bei diesen Beratungen in vielen Fällen ja nicht einmal darum handeln, Empfehlungen zur Verhütung unerwünschter Schwangerschaften zu geben, sondern um ärztliche Hilfen zur Erfüllung des Wunsches auf Schwangerschaft. Das sollten alle diejenigen zur Kenntnis nehmen, die uns im allgemeinen so leichtfertig unterstellen, uns ginge es immer nur darum, in einer außergewöhnlichen Konfliktsituation den Schwangerschaftsabbruch zu legalisieren. Gerade die in diesem Gesetz verankerten Hilfen durch Beratung, aber auch die Vorhaben der Bundesregierung zur Schaffung eines breit gefächerten qualifizierten Beratungsangebots werden entscheidend dazu beitragen, daß es in Zukunft weniger Schwangerschaftabbrüche geben wird.Lassen Sie mich auch ein Wort zur „Pille auf Krankenschein" sagen. Besser wäre es allerdings, das einmal geschlechtsneutral als empfängnisregelnde Mittel zu formulieren; denn warum sollten eigentlich immer nur die Frauen in die Verantwortung genommen werden?! Sicher wäre es vom Denkansatz her konsequent gewesen — da stimme ich dem Kollegen Gansel zu —, diese empfängnisregelnden Mittel nicht nur ohne Kosten für den Versicherten zu verschreiben, sondern auch die Mittel selbst kostenlos zur Verfügung zu stellen. Die Frage ist nur, ob die hierfür erforderlichen erheblichen finanziellen Aufwendungen in einem vertretbaren Verhältnis zu den Wirkungen stehen. Ich kann mir im übrigen auch nicht denken, daß jemand nur deshalb nicht zu empfängnisregelnden Mitteln greift, weil ihm die Kosten hierfür zu hoch sind.Wir halten es daher für zumutbar, wenn die Versicherten die Kosten hierfür selbst tragen, zumal ja im Rahmen der Hilfen in besonderen Lebenslagen für wirtschaftlich Schwache auch die kostenlose Abgabe vorgesehen ist.Nach dem Gesetzentwurf haben die in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Frauen Anspruch auf ärztliche Beratung über die Erhaltung der Schwangerschaft. In den Fällen, in denen das Gesetz den Abbruch der Schwangerschaft straffrei stellt, erhalten sie ärztliche Hilfe und sonstige medizinische Leistungen, die im Falle des Abbruchs der Schwangerschaft erforderlich sind. Anspruch besteht hier also auf ärztliche Beratung, ärztliche Untersuchung und Begutachtung der Voraussetzungen für den Schwangerschaftsabbruch. Insbesondere werden die Kosten für die ärztliche Behandlung, also auch für den Schwangerschaftsabbruch selbst, die Versorgung, die Krankenhauspflege, die Nachuntersuchung und eine eventuelle erforderliche Nachbehandlung von der Krankenkasse übernommen.Während die Koalitionsfraktionen diese Leistungen für alle straffrei gestellten Schwangerschaftsabbrüche einführen wollen — also diese Regelung anwendbar machen wollen auf jedes Ergebnis bei der Novellierung des § 218, gleich ob nun ein Indikationsmodell oder die Fristenlösung verabschiedet wird —, versucht die Opposition, in diesem Punkt über die sozialen Maßnahmen—ich sagte es schon
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5741
Hölscherdie Entscheidung im strafrechtlichen Bereich vorwegzunehmen. Nach dem Antrag der Opposition haben Versicherte nur in Fällen einer anerkannten Indikation Anspruch auf Leistungen durch die Krankenversicherung. Wenn es schon vom Verfahren her höchst bedenklich ist, das Parlament über die flankierenden Maßnahmen zu einer Entscheidung in der Sache zu bringen, so macht der Inhalt dieses Antrags aber auch deutlich, worum es der CDU/ CSU-Fraktion in Wirklichkeit geht.Wir wollen die Reform des Strafrechts im gesamten Umfang sozialpolitisch absichern, weil wir davon ausgehen, daß jeder straffreie Schwangerschaftsabbruch Folge einer außergewöhnlichen Konfliktsituation ist. Die Opposition differenziert: Für sie darf nur dort ein Anspruch an die Krankenversicherung bestehen, wo besondere, von ihr bestimmte Voraussetzungen vorliegen. Wollen Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, denn wirklich alle anderen Frauen insofern im Stich lassen, als diese die Kosten für einen straffreien Schwangerschaftsabbruch selbst tragen, dann also möglicherweise wieder zu einem billigen Pfuscher gehen müssen, weil sie die höheren Kosten für eine ärztliche Behandlung oder einen Klinikaufenthalt nicht aufbringen können?Die Konsequenz aus Ihrem Antrag ist eine nicht vertretbare sozial unterschiedliche Behandlung und damit auch eine Diskriminierung der Sozialversicherten. Alle Versicherten müssen die gleichen Leistungen bekommen können. Sonst sind es gerade die wirtschaftlich Schwachen, die nach dem Antrag der Opposition im Stich gelassen werden. Derjenige, der Geld hat, kann als Privatpatient die Leistungen für einen straffrei gestellten Schwangerschaftsabbruch in Anspruch nehmen. Die versicherte Frau mit wenig Geld hat diesen Ausweg nicht. Was nutzen alle wohlklingenden familienpolitischen Programme, wenn die Opposition paßt, wenn es um die konkrete Hilfe für sozial schwache Schichten geht?
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Verhülsdonk?
Bitte schön!
Herr Kollege Hölscher, erinnern Sie sich daran, daß wir dieses Problem im Ausschuß unter dem Gesichtspunkt besprochen haben, daß man hier die Dimension des Ethischen nicht aus dem Spiel lassen kann? Daß sich derjenige, der Abtreibungen aus nichtigen Gründen für sittlich nicht verantwortbar hält, die Frage stellen muß, ob er dieses sogenannte Privileg, Unrecht zu tun mit dem Geld, das man hat, aus sozialpolitischen Gründen allen Schichten ermöglichen muß, die dieses Geld nicht haben? Kann man ein Privileg zum Unrechttun als einen Grund ansehen, es zum Prinzip der sozialen Gerechtigkeit zu erheben? Obwohl wir alle miteinander wissen
— ja, hören Sie mal weiter zu!— daß es Leute
gibt, die viel Geld haben und Steuern hinterziehen können,
habe ich von Ihnen noch nie gehört, daß man dieses Privileg auch den Lohnsteuerzahlern eröffnen müsse.
Ich weiß jetzt nicht, wo da die Frage war.
Ich möchte nur feststellen, Frau Kollegin Verhülsdonk, daß das Ihre ehrlicherweise hier einmal offen geäußerte Meinung ist. Die offizielle Argumentation der Opposition zielt auf die Problematik ab, die in der zusätzlichen Belastung der Krankenversicherungen liegt, und nicht auf das, was Sie hier gerade vorgetragen haben. Sie bestätigen ja damit die Berechtigung meines Vorwurfs, den ich hier gemacht habe, nämlich daß Sie bereits über die sozialpolitischen Maßnahmen präjudizieren wollen. Sie haben das hier noch einmal deutlich gemacht.
Herr Kollege Hölscher, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Schleicher?
Bitte schön!
Wie sehen Sie bitte die rechtliche Lage für einen Arzt, der einen Schwangerschaftsabbruch durchführt, den er medizinisch nicht begründen kann, für den aber die Krankenkasse bezahlen muß?
Frau Kollegin Schleicher, wenn ich Sie richtig verstanden habe, sprechen Sie das Gewissen des Arztes an.
Nein, die rechtliche Lage des Arztes, der eine Operation oder einen Eingriff durchführen muß, den er medizinisch nicht empfehlen kann!
Er muß doch nicht! Wir zwingen keinen Arzt, wir zwingen keinen Krankenhausträgerich komme darauf noch einmal zurück —, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. Das ist in das freie Ermessen eines jeden Arztes gestellt.
Wir möchten uns auch — ich danke Ihnen insofern für diese Frage — gegen die Unterstellung wehren, der wir immer wieder begegnen müssen, als wenn hier Ärzte gezwungen würden, irgend etwas durchzuführen, was sie mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren können.
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5742 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Gestatten Sie noch eine Frage der Frau Abgeordneten Schleicher?
Ich habe nur nach der rechtlichen Lage gefragt, in die ein Arzt kommt, wenn er einen Eingriff durchführt, den er medizinisch nicht begründen kann, der aber trotzdem von der Krankenkasse bezahlt werden soll.
Frau Kollegin Schleicher, wenn wir in fünf Wochen hier die rechtliche Voraussetzung so oder so schaffen, wird ein Arzt selbstverständlich in diesem Rahmen handeln können, wenn er es überhaupt will.
Die Opposition, meine Damen und Herren, wendet ein — das ist ihre offizielle Begründung, die auch aus dem Bericht zu der Ausschußvorlage hervorgeht —, die Solidargemeinschaft der Versicherten könne die Kosten für einen Schwangerschaftsabbruch nicht übernehmen, da eine Schwangerschaft keine Krankheit. sei. Wenn es sich hierbei um versicherungsrechtliche Argumente handelt, so kann man sich, meine ich, hiermit sachlich auseinandersetzen, und wir helfen den Versicherungen ja auch durch die Zahlung des Bundeszuschusses von zunächst 55 Millionen DM bei der Finanzierung der Leistungen.
Schlimm, so meine ich — und einiges, was die Kollegin Frau Verhülsdonk hier vortrug, war in der Tat schlimm —, sind aber Argumente, die mit dem übereinstimmen, was Herr Töns, Direktor des Bundesverbandes der Ortskrankenkassen, im Hearing vorgetragen hat. Da Sie, Frau Kollegin Verhülsdonk, diesen Namen hier in die Debatte eingeführt haben, möchte ich auch dazu etwas sagen, handelt es sich doch, wie ich annehmen darf, um die Argumentation eines legitimierten Vertreters. Insofern, Frau Kollegin Verhülsdonk, sollte man das, was Sie hier bereits dargelegt haben, noch ergänzen. Nach Herrn Töns haben z. B. diejenigen Frauen keinen Anspruch auf Krankengeld, die, wie er sagte, aus einem subjektiven privaten Grund ihr Kind nicht austragen wollen. Die Kassen müßten die Zahlung von Krankengeld versagen, „da sich die Frau die Krankheit durch den Schwangerschaftsabbruch vorsätzlich zugezogen hat, d. h. zugleich ohne objektiv zwingenden Grund". Das, was Sie hier in Ihren Ausführungen sagten, deckt sich ja wohl mit dem, was Herr Töns vorgetragen hat.
Herr Töns meinte weiter, ebensowenig könnten die Frauen die Weiterzahlung des Arbeitsentgeltes fordern. Sie müßten — jetzt kommt ein Satz, der allein von der sprachlichen Formulierung her zeigt, welcher Geist dahintersteckt — „zusehen, wie sie dem Arbeitgeber ihr Fernbleiben erklären". An anderer Stelle meinte Herr Töns:
Bloß subjektiv empfundene Bedürfnisse und private Wünsche zur persönlichen Lebensgestaltung und Lebensführung können ... nicht Gegenstand der sozialen Leistungssysteme sein. Das Opfer, das der Allgemeinheit mit der Finanzierung dieser Leistungssysteme auferlegt wird, ist nicht zumutbar, ja, dürfte eine grundrechtswidrige Einschränkung der eigenen Lebensgestaltung darstellen, wenn die Mittel dieser Systeme für Leistungen der privaten Lebensgestaltung verwendet würden. Aus diesem Grunde
jetzt kommt ein Satz, meine Damen und Herren, bei dem sich einmal die Millionen AOK-Mitglieder fragen sollten, ob das wirklich ihre Meinung ist, die in ihrem Auftrag hier vorgetragen wurde; auch die Selbstverwaltungsorgane sollten dieser Frage doch einmal nachgehen —
zahlt die Krankenkasse nicht die Kosten einer kosmetischen Operation und ähnlicher Leistungen.
Man sollte annehmen, daß diejenigen — Frau Kollegin Verhülsdonk, entschuldigen Sie, ich muß Sie nach Ihren Ausführungen in diesen Kreis einbeziehen —, die die Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch als Folge einer anders nicht lösbaren Konfliktsituation in die Nachbarschaft oberflächlicher privater Lebensbedürfnisse, ja sogar kosmetischer Manipulation bringen,
sich nie ernsthaft mit der Not befaßt haben, in die Frauen kommen können.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Verhülsdonk? Bitte!
Ich habe zwei Zwischenfragen. Sind Sie nicht auch der Meinung, daß wir die Fälle ernsthafter Not eben über Indikationen lösen müssen und nicht, indem wir eröffnen, daß jedermann auf subjektiven Wunsch von diesen gesetzlichen Möglichkeiten Gebrauch machen kann?
Sind Sie zweitens bereit, hier zu sagen, daß nach Rückfrage bei allen Krankenkassenträgern diese bestätigt haben, daß die Ausführungen von Herrn Töns, die Sie hier so darstellen, als ob es nahezu seine Privatmeinung sei, von allen anderen Krankenkassenvertretern mitgetragen werden?
Frau Kollegin Verhülsdonk, ich möchte bestreiten, daß die Ausführungen, die ich soeben zitiert habe, wirklich von den Selbstverwaltungsorganen abgedeckt sind und auch sicher nicht von den AOK-Mitgliedern und anderen Krankenkassenmitgliedern, für die Herr Töns ja auch gesprochen hat.
Ich kenne die Schreiben, die auf eine Rückfrage des Ausschußvorsitzenden eingegangen sind. Dort wurde bestätigt, daß die Ausführungen des Herrn Töns im Grundsatz gebilligt werden.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5743
Hölscher„Im Grundsatz" heißt — und damit setzen wir uns auseinander —: die finanziellen Belastungen der Krankenkassen, nicht aber die ideologischen Wertungen,
die Herr Töns allerdings für die Krankenkassen abgegeben hat. Ich habe ihm persönlich die Frage gestellt, ob das abgedeckt ist mit der Beschlußlage der Selbstverwaltungsorgane. Er hat gesagt: Jawohl, alles, was er sagt.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Eyrich?
Bitte schön!
Herr Kollege, sind Sie bereit, das, was Sie gerade eben über die außergewöhnliche Konfliktsituation gesagt haben, in fünf Wochen dahin zu verwirklichen, daß Sie mit denen stimmen, die diese außergewöhnliche Konfliktsituation nur dann beachtet haben wollen, wenn sie ihre Rechtfertigung hat?
Herr Kollege, ich möchte jetzt eigentlich nicht selber durch eine lange Antwort dazu beitragen, daß wir in die Kerndebatte über die Fristenlösung kommen. Ich darf nur eines sagen -und das auch noch zu Frau Kollegin Verhülsdonk, weil ich den Teil Ihrer Frage nicht beantwortet habe —: Wir müßten von Ihnen dann allerdings wissen: Welches Indikationenmodell meinen Sie denn? Da gibt es ganz erhebliche Unterschiede.
Herr Kollege, sind Sie bereit, mir zuzugestehen, daß die CDU/CSU-Fraktion dadurch ihren Willen zum Ausdruck gebracht hat, daß sie ein solches Modell dem Deutschen Bundestag vorgelegt und damit auch Ihnen zur Kenntnis gebracht hat?
Ich weiß nicht, welches Sie meinen. Ich weiß nicht, ob es vier oder fünf oder sechs gibt.
Im übrigen weigere ich mich, jetzt über Indikationenmodelle zu sprechen, weil das nicht Punkt der Tagesordnung des heutigen Vormittags ist.
Ich möchte auch keine weiteren Fragen zu diesem Problem beantworten, sehr gern aber Fragen zu den flankierenden Maßnahmen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich insofern noch etwas zu der Belastung der Krankenkassen sagen. Wir verschließen uns nicht den Problemen,
die in dieser zusätzlichen finanziellen Belastung der Krankenkassen liegen. Es ist aber keineswegs so, daß bei der gesetzlichen Krankenversicherung ausschließlich der alte Krankheitsbegriff die Grundlage für Leistungen darstellt. Die von der Solidargemeinschaft bezahlte Mutterschaftshilfe und in gewisser Weise auch die Gesundheitsvorsorge gehen über diesen Begriff hinaus. Letztlich sollen ja auch die im Gesetzentwurf vorgesehenen Leistungen der Krankenversicherung dazu beitragen, daß es nicht zu unerwünschten Schwangerschaften kommt und daß Schwangerschaften nicht illegal abgebrochen werden.
Meine Damen und Herren, ich will hier keine Kostenrechnung aufmachen. Aber es wäre doch einmal interessant, zu prüfen, wieviel Mittel denn von den Krankenkassen für die Behandlung verpfuschter Fälle bei illegalen Abbrüchen aufgewandt werden.
Insofern wird es in Zukunft eben auch Kostenentlastungen geben.
Die Finanzierung der Beratung und der ärztlichen Behandlung ist, so meine ich, sowohl eine Aufgabe der Solidargemeinschaft der Versicherten als auch eine Aufgabe der Allgemeinheit.
Diesem Verständnis wird dadurch Rechnung getragen, daß den Trägern der Krankenversicherung aus Haushaltsmitteln zunächst ein Betrag von 55 Millionen DM jährlich zu den Aufwendungen zur Verfügung gestellt wird. Darüber hinaus fordern wir die Bundesregierung im Entschließungsantrag des Ausschusses auf, bis Ende 1977 nicht nur einen Bericht über die Erfahrungen mit den ergänzenden Maßnahmen vorzulegen, sondern auch zu prüfen, in welchem Umfang die Ausgaben durch den Bundeszuschuß gedeckt worden sind und welche zusätzlichen Belastungen für die Krankenversicherungsträger bei einem Wegfall des Bundeszuschusses entstehen würden.
Meine Damen und Herren, ich gehe davon aus, daß auch über 1979 hinaus Zuschüsse gezahlt werden. Wenn es also der CDU/CSU-Fraktion tatsächlich um die Finanzierungssubstanz der Kassen gegangen wäre, hätte sie auf ihren Abänderungsantrag verzichten können, denn der Bund zahlt ja. Wenn es ihr tatsächlich hierum gegangen wäre, hätte sie heute einen Antrag mit dem Ziel einbringen können, der Bund solle die gesamte Mehrbelastung der Kassen übernehmen. Ein solcher Antrag liegt nicht vor. Der Opposition geht es — das haben wir gerade bei den Ausführungen der Kollegin Verhülsdonk zur Kenntnis nehmen müssen — um etwas anderes: sie will bereits mit diesem Gesetz die Fristenregelung verhindern. Aber das, meine Damen und Herren von der Opposition, können Sie in fünf Wochen versuchen, nicht heute, nicht mit solchen Tricks.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Verhülsdonk?
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5744 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Herr Kollege Hölscher, haben Sie nicht zur Kenntnis genommen, daß ich darauf hingewiesen habe, daß wir den Antrag im Ausschuß gestellt haben .. .
Der Ausschuß ist nicht der Deutsche Bundestag, Frau Verhülsdonk.
...daß Sie ihn
aber abgelehnt haben, und hätten Sie einen solchen Antrag heute hier annehmen können? Diese Frage interessiert mich wirklich.
Hätten Sie es doch einmal mit einem Antrag versucht, Frau Kollegin Verhülsdonk!
Meine Damen und Herren, wir Freien Demokraten begrüßen, daß im Zuge der Beratungen auch die freiwillige Sterilisation in den Leistungsauftrag der Kassen aufgenommen wurde.
Wir werden auch der Regelung zustimmen, die die ambulante Behandlung im Krankenhaus vorsieht. Auch hier, Frau Kollegin Verhülsdonk, liegt kein Antrag von Ihnen vor; Sie haben sich ja gegen diese ambulante Behandlung gewendet. Die parlamentarische Konsequenz wäre dann allerdings ein Änderungsantrag gewesen.
Wir Freien Demokraten sehen hierin nicht etwa einen ersten Schritt zum Ambulatorium, ganz und gar nicht, sondern eine einmalige Ausnahmeentscheidung im Interesse einer optimalen Versorgung der Hilfesuchenden. Im übrigen sind wir davon überzeugt, daß sich genügend Ärzte bereit erklären werden, in der Praxis oder im Krankenhaus Beratung und Behandlung durchzuführen; denn auch die Vertreter der Ärzteschaft haben bei der Anhörung bestätigt, daß damit zu rechnen ist, daß sich das Verhalten vieler Ärzte ändern wird und daß sich immer mehr Ärzte bereit finden werden, diese Hilfen zu leisten. Dabei ist für uns selbstverständlich — das möchte ich hier ausdrücklich betonen —, daß dies in das freie Ermessen der Ärzte und auch der Krankenhausträger gestellt ist.
Wir wissen, wie wichtig es ist, daß vor allem die frei praktizierenden Ärzte, die Ärzte also, die auch sonst durch den unmittelbaren und häufigen Kontakt zu ihren Patienten deren Vertrauen haben, beratend wirken. Wir sind sicher, die Ärzte werden ihre Hilfe nicht versagen. Aber auch in diesem Zusammenhang ist es unabdingbar, daß die Krankenkassen für die Behandlung aller straffrei gestellten Schwangerschaftsabbrüche aufkommen; denn wir wollen nicht die Gewinnkliniken, die zwangsläufig die Folge einer Versicherungsregelung wären, die zumindest einen Teil der Frauen auf den Privatbereich abdrängt.
Zu dem familienpolitischen Programm, das uns erst heute morgen auf den Tisch gelegt wurde, will ich nicht viel sagen, weil hierzu meine Kollegen Schmidt und Christ noch Stellung nehmen werden. Nur soviel: wir werden das sicher an den Ausschuß überweisen und darüber auch im einzelnen sprechen. Aber ich möchte Ihnen doch die Frage stellen: Warum haben Sie uns nicht gleich einen Gesetzentwurf vorgelegt? Machen Sie es sich als Opposition nicht eigentlich etwas zu einfach, wenn Sie von der Bundesregierung jetzt womöglich auch noch erwarten, daß sie für die Opposition Gesetzentwürfe anfertigt?
Der Grund wird wohl darin liegen, daß Sie sich selbst über die finanzielle Tragweite Ihres Antrags im klaren sind und genau wissen, daß dies kaum finanziert werden kann. Die Zahlen über das Gesamtvolumen haben Sie ja auch gleich weggelassen.
Eines möchte ich noch feststellen: Dieses Programm ist keine Alternative zu den flankierenden Maßnahmen. Auch durch die Gewährung von Erziehungsgeld und anderen Hilfen ist doch nicht ausgeschlossen, daß Frauen in Notlagen geraten, die ärztliche Hilfe erfordern und Kassenleistungen notwendig machen.
Meine Damen und Herren, mit der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs schaffen wir im sozialen Bereich die Grundlage für die von allen Fraktionen so oder so angestrebte Änderung des § 218. Dieses Gesetz muß heute verabschiedet werden, weil das Haus noch vor der endgültigen Beratung im strafrechtlichen Bereich wissen muß, in welchem Umfang Leistungen durch die Krankenversicherung gewährt werden, und nicht umgekehrt. Dabei wird offengelassen — das möchte ich zum Abschluß noch einmal betonen —, für welche Regelung sich der Bundestag im Strafrecht entscheidet. Wir stellen mit diesem Entwurf aber sicher, daß jeder Ratsuchende unabhängig von seiner wirtschaftlichen Situation ärztliche Beratung und Behandlung in Anspruch nehmen darf. Eben darauf kam es uns aber auch an.
Das Wort hat Frau Bundesminister Focke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Entwurf eines Gesetzes über ergänzende Maßnahmen zum 5. Strafrechtsreformgesetz gehört zu den bedeutenden Gesetzesvorlagen dieser Legislaturperiode. Mit ihm werden wichtige sozial- und gesellschaftspolitische Aufgaben verwirklicht, die auch unabhängig von der Strafrechtsreform zu einer Lösung anstehen. Der Entwurf ist unabhägig davon konzipiert, welche strafrechtliche Regelung endgültig bei der Reform des § 218 zustande kommen wird. Er präjudiziert die Strafrechts-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5745
Bundesminister Frau Dr. Fockereform nicht. Er bezieht sich auf die jeweils gesetzmäßige Situation,
und er hat seinen Wert und seine Bedeutung auch bei der gegebenen Rechtslage.Es ist deshalb nicht nur richtig, sondern auch notwendig, daß die Entscheidung über diesen Gesetzentwurf so bald wie möglich getroffen wird. Unsere Bürger haben ein Recht darauf, die im Gesetzentwurf enthaltenen Leistungen in Anspruch nehmen zu können. Er ist zugleich auch Ausdruck einer humanen Politik; denn er entspringt bei uns allen, die ihn in diesem Hause tragen, zutiefst dem Wunsch, Not und Konflikt zu verhindern und in Not geratenen Menschen zu helfen. Ich wäre dankbar, wenn auch die Opposition erkennen würde, daß dies kein Gesetz für oder gegen den Schwangerschaftsabbruch ist, sondern daß hier vorrangig Regelungen geschaffen werden, die dazu beitragen sollen, daß unerwünschte Schwangerschaften und damit letztlich auch Schwangerschaftsabbrüche vermieden werden.
Das Kernstück des vorliegenden Gesetzentwurfes ist der Anspruch auf eine umfassende ärztliche Beratung, die nunmehr als Leistung der Sozialversicherung und der Sozialhilfe verankert wird. Diese umfaßt die Beratung über Fragen der Familienplanung, insbesondere der Empfängnisregelung, und über alle Fragen im Zusammenhang mit der Erhaltung und dem Abbruch einer Schwangerschaft.Was die einzelnen Leistungsverbesserungen angeht, die der Gesetzentwurf enthält, so möchte ich dazu kurz folgendes bemerken: Eine wichtige Aufgabe einer Familienpolitik, wie sie unseren Vorstellungen entspricht, ist es, unerwünschte Schwangerschaften zu verhüten. Wer sich das große Unglück vergegenwärtigt, welches eine unerwünschte Schwangerschaft häufig für die Betroffenen bedeutet, und wer weiß, wie das Leben unerwünschter Kinder häufig aussieht, der kann es nur begrüßen, wenn die Möglichkeiten zur Familienplanung verbessert und intensiviert werden. Hier wird der Entwurf mit dem neu geschaffenen Anspruch des Versicherten auf ärztliche Beratung über Fragen der Empfängnisregelung einschließlich der erforderlichen Untersuchung und der Verordnung von empfängnisregelnden Mitteln einen bedeutenden Fortschritt bringen. Verantwortungsvolle Ärzte haben auch in der Vergangenheit den ratsuchenden Frauen und Männern geholfen, übrigens auch, wenn es darum geht, bei Kinderlosigkeit Kinder zu bekommen. Sie haben damit zu erkennen gegeben, daß sie eine solche Beratung als eine echte ärztliche Aufgabe ansehen. Ich meine, daß hier nur eine längst fällige Entwicklung nachvollzogen wird.Ich werde alles tun, den Ärzten diese Beratungsaufgabe durch entsprechende Informationen zu erleichtern. Ich bin darüber hinaus dankbar für die Bereitschaft, die z. B. die Bundesärztekammer erkennen ließ, in Maßnahmen für die Weiterbildungder Ärzte den neuen Aufgaben eine besondere Aufmerksamkeit zu widmen.In verstärktem Maße gilt dies für die Beratung im Zusammenhang mit der Erhaltung und dem Abbruch der Schwangerschaft. Wir halten diese Beratung deshalb für so wichtig, weil sie Frauen in Notsituation Gelegenheit bieten soll, vertrauensvoll im Gespräch mit dem Arzt ihrer Wahl alle Probleme zu erörtern, die eine Frau bewegen, den Abbruch der Schwangerschaft als einen letzten Ausweg in Erwägung zu ziehen. Bisher hat es an solchen Möglichkeiten weithin gefehlt. Entscheidendes wird allerdings davon abhängen, ob die neue Regelung auch zur Bereitschaft führt, den Frauen wirklich zu helfen.
Frau Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Lenz?
Ja, gern.
Frau Minister Focke, Sie sprechen davon, daß schon in der Gegenwart die Beratung der Schwangeren auch mit dem Ziel des Schwangerschaftsabbruchs verantwortungsvolles Handeln gewesen sei. Habe ich Sie da richtig verstanden?
Nein, Sie haben mich falsch verstanden, Herr Kollege. Ich habe gesagt: Beratung über Erhaltung und Abbruch der Schwangerschaft.
Also habe ich doch richtig verstanden: auch über den Abbruch?
Wenn eine Frau mit dem Problem und dem Konflikt einer in Erwägung gezogenen Schwangerschaftsunterbrechung zu einem Arzt kommt: ja.
Darf ich dann die Frage an Sie richten, Frau Minister, ob diese Ihre Aussage bezüglich der Beratung zum Schwangerschaftsabbruch angesichts des geltenden Rechts, das den Schwangerschaftsabbruch unter Strafe stellt, eine Äußerung ist, die ein Mitglied der Bundesregierung tun kann, welches auf das Grundgesetz und die Gesetze dieses Landes vereidigt ist.
Herr Kollege, ich kann nicht verstehen, wie Sie es als eine gesetzwidrige Äußerung eines Mitgliedes der Bundesregierung erachten können, daß ich meine, daß ein Arzt ja wohl auch schon in der Vergangenheit berechtigt,
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5746 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Bundesminister Frau Dr. Fockeja verpflichtet war, sich mit den Nöten einer Frau, die ihn aufsucht und zu den Problemen einer Schwangerschaft Rat zu holen versucht, auseinanderzusetzen.
— Herr Kollege, Ihre Frage und auch die Bemerkung, die Sie jetzt eben gemacht haben, beweisen mir, wie fixiert Sie in einem Vorurteil in bezug auf diese Fragen sind,
weil Sie sich offenbar die Beratungssituation zwischen Arzt und Patientin in einer solchen Konfliktslage einfach nicht vorstellen können, ohne sofort an kriminelle Delikte zu denken.
Herr Kollege, trotz dieser Ihrer Bemerkung vertraue ich auf den Willen und die Fähigkeiten unserer Ärzte;
denn die humanitäre Grundeinstellung, welche für die Haltung der Ärzte maßgebend ist, wird sie auch befähigen, diese äußerst schwierige Aufgabe wahrzunehmen.Die Vielfalt der Probleme macht es notwendig, hier allerdings auch neue Formen der Zusammenarbeit zwischen dem Arzt und anderen Einrichtungen wie z. B. zwischen Arzt und Beratungsstellen zu entwickeln. Auf dieses Problem komme ich allerdings heute noch in einem anderen Zusammenhang zurück.Eine weitere Neuerung des Gesetzentwurfs ist die Gewährung von Leistungen beim straffrei gestellten Schwangerschaftsabbruch. Es ist in der vergangenen Diskussion vielfach vorgebracht worden, daß der Schwangerschaftsabbruch, sofern er nicht im engsten Sinne medizinisch indiziert sei, nicht zu den Leistungen gehöre, die von der gesetzlichen Krankenversicherung gewährt werden können. Dieser Auffassung vermag ich mich nicht anzuschließen, weil wir in der Gesundheitspolitik nicht mehr von einem Begriff der Krankheit, sondern von einem Gesundheitsbegriff auszugehen haben, der nicht nur das körperliche Wohlbefinden für einen unverzichtbaren Bestandteil dieses Gesundheitsbegriffs hält. Ich meine, daß eine moderne Gesundheitspolitik in einem sozialen Rechtsstaat nicht mehr an dem traditionellen und eng ausgelegten Begriff der Krankheit als ausschließlichem Grund für die Leistung einer sozialen Krankenversicherung festhalten kann, und dies geschieht in Wirklichkeit auch bei uns schon seit längerem nicht mehr. Geburt und Entbindung z. B. sind keine Krankheiten in diesem Sinne, und die Leistungen zur Früherkennung gewisser Krankheiten führen bei der Mehrheit der Untersuchten Gott sei Dank zu dem Ergebnis, daß sie gesund sind.Es kommt hinzu, daß die in der Illegalität vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüche — das ist hierauch schon gesagt worden — ein außerordentlich hohes Krankheitsrisiko nach sich ziehen. Wie hoch dieses Risiko ist, hat kürzlich eine Untersuchung des Kieler Instituts für gerichtliche und soziale Medizin ergeben; danach zeigt sich eine deutliche Abhängigkeit vom Zeitpunkt des Eingriffs. Im Durchschnitt muß nach dieser Untersuchung mit einer Morbidität von weit mehr als der Hälfte der illegalen Eingriffe gerechnet werden, und nach Ablauf der 16. Schwangerschaftswoche besteht sogar ein Risiko von 100 %. Das heißt, fast jeder Eingriff hat Krankheiten zur Folge, die bei Sozialversicherten in aller Regel von den gesetzlichen Krankenkassen getragen werden dürften. Wo wegen der geringen Zahl legaler Schwangerschaftsabbrüche die Kosten, die von den gesetzlichen Krankenversicherungen hierfür aufgewendet werden müssen, verhältnismäßig gering sind, schlagen andererseits die Krankheitskosten als Folge illegaler Eingriff besonders stark zu Buche. Diese Kosten mögen zwar nicht unter der Rubrik „Folgen eines Schwangerschaftsabbruches" erscheinen, aber dies ändert nichts daran, daß es Kosten sind, die bereits heute von den gesetzlichen Krankenkassen getragen werden.Allerdings dürfen bei der Entscheidung über diese Frage die finanziellen Erwägungen natürlich nicht im Vordergrund stehen. Viel wichtiger scheint mir zu sein, daß diese Neuregelung dazu beitragen kann, daß Frauen nicht aus finanziellen Erwägungen Schwangerschaftsabbrüche unter Bedingungen vornehmen lassen müssen, die unter gesundheitlichen Gesichtspunkten keinesfalls verantwortet werden können.
Es wäre ein fataler Gedanke, wenn der Schutz werdenden Lebens auch damit bewerkstelligt werden sollte, daß man Frauen zwingt, aus finanziellen Gründen einen Schwangerschaftsabbruch von einem Pfuscher unter menschenunwürdigen Bedingungen vornehmen zu lassen.
Ich bin sicher, daß damit für den Schutz des werdenden Lebens nichts erreicht würde, daß aber für viele Frauen schwerwiegende Folgen für ihr ganzes weiteres Leben eintreten könnten,
wie das bisher der Fall war. In diesem Sinne ist die hier durch den Gesetzentwurf angebotene Leistung eine humanitäre Aufgabe.Die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung bei einem straffrei gestellten Schwangerschaftsabbruch sind aber auch eine Gewähr dafür, daß solche Eingriffe nicht mehr zum Tummelfeld von skrupellosen Geschäftemachern werden. Nur so können Auswüchse bekämpft werden, die nach den Erfahrungen in anderen Staaten sowohl im Bereich legaler als auch illegaler Schwangerschaftsabbrüche zu entstehen drohen.Es ist in der Vergangenheit oft ,die Frage gestellt worden, ob die Kapazität an Einrichtungen und Personen ausreiche, um die zu erwartenden Ansprüche
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5747
Bundesminister Frau Dr. Fockeauf Leistungen bei Schwangerschaftsabbruch erfüllen zu können. Im Ausschußbericht ist zu Recht davon abgesehen worden, konkrete Zahlen vorzulegen. Wir bewegen uns bei der Schätzung der illegalen Schwangerschaftsabbrüche in der Bundesrepublik in einem Bereich, in .dem die Dunkelziffer sehr hoch ist; auch der Rückgriff auf die Erfahrungen in anderen Staaten hilft uns hierbei nur in begrenztem Umfang. Aber auch hier gilt für die Kapazitätsbetrachtung, ,daß eine geringe Zahl von legalen Schwangerschaftsabbrüchen nicht zugleich bedeutet, daß die vorhandenen Kapazitäten der gesundheitlichen Versorgung, insbesondere in den Krankenhäusern, entsprechend kaum in Anspruch genommen werden würden. Vielmehr ist zu berücksichtigen, daß die Folgen illegaler Abbrüche selbstverständlich nicht nur Kostenfolgen sind, sondern auch die Kapazität in Krankenhäusern betreffen, die dann unter Umständen sogar für eine längere Zeit in Anspruch genommen werden.Wir haben nach sorgfältiger Prüfung aller in Betracht kommenden Möglichkeiten kaum Zweifel, daß die Kapazitäten ausreichen, um — welche Entscheidung über die strafrechtliche Regelung auch immer getroffen wird — die Ansprüche auf Leistungen beim Schwangerschaftsabbruch erfüllen zu können. Die Entwicklung neuer Methoden zwingt nach den Erfahrungen, die damit in anderen Staaten bereits gemacht wurden, nicht mehr dazu, in jedem Einzelfall einen mehrtägigen stationären Aufenthalt vorzusehen. Die Eingriffe sollten allerdings — das möchte ich hier nachdrücklich betonen — unter klinischen Bedingungen vorgenommen werden, was nicht in jedem Fall gleichbedeutend ist mit stationärer Aufnahme. Es ist daher in diesem Zusammenhang besonders begrüßenswert, daß durch den während der Beratungen in den Ausschüssen des Bundestages neu eingefügten Abs. 6 des § 368 n der Reichsversicherungsordnung den Krankenhäusern die Möglichkeit eingeräumt wird, die Leistungen bei Schwangerschaftsabbruch im Rahmen der kassenärztlichen Verorgung auch ambulant zu erbringen. Damit, meine Damen und Herren der Opposition, können die Ärzte in den Krankenhäusern nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft im Einzelfall darüber entscheiden, ob eine stationäre Aufnahme zwingend notwendig ist oder nicht, und nur dies ist gewollt.Die vorhandene Kapazität wird allerdings sehr wesentlich mit durch das Verhalten der Ärzte bestimmt, der Schwestern und Krankenhausträger bei der Gewährung der Leistung beim straffrei gestellten Schwangerschaftsabbruch. Wir haben immer wieder betont, daß es keinen Zwang geben kann, gegen die eigene persönliche Gewissensüberzeugung an Schwangerschaftsabbrüchen mitzuwirken. Dies gilt in gleicher Weise für Ärzte, Schwestern und sonstiges Personal. Bei unseren Überlegungen ist berücksichtigt, daß es Gruppen von Krankenhausträgern gibt, für die die Mitwirkung bei Schwangerschaftsabbrüchen ebenfalls eine Gewissensfrage aufwirft. Auch ohne diese Kapazitäten gehen wir davon aus, daß die Leistungen in medizinisch ausreichender und zweckmäßiger Weise gewährt werden können, wenn auch zeitweise und regionale Engpässe je nach derEntscheidung über die Reform des § 218 nicht ganz ausgeschlossen werden. Die bereits erwähnte Untersuchung des Kieler Instituts für gerichtliche und soziale Medizin hat im übrigen neben anderen Einsichten erkennen lassen, daß die Mitwirkung an den Leistungen beim straffrei gestellten Schwangerschaftsabbruch von den Ärzten durchaus nicht in so breitem Umfange abgelehnt wird, wie dies in der öffentlichen Diskussion von Vertretern der Ärzteschaft behauptet worden ist.Ich möchte bei dieser Gelegenheit noch einmal ausdrücklich klarstellen, daß wir die Gewissensbedenken derjenigen Krankenhausträger, die an einem Schwangerschaftsabbruch nicht mitwirken wollen, anerkennen. Aber nicht nur demjenigen, der den Schwangerschaftsabbruch ablehnt, sollten hohe ethische und moralische Gründe zugebilligt werden, sondern auch dem andern, der bereit ist, einem Menschen in Not zu helfen.
Dies, meine ich, sollte vor allem bei einem Konflikt zwischen ablehnendem Trägergewissen und leistungsbereitem Arztgewissen bedacht und berücksichtigt werden.
Frau Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Nordlohne?
Ja, gerne.
Frau Minister, Sie ha-haben gesagt: Es wird kein Zwang auf die Ärzte ausgeübt. Darf ich Sie fragen, ob in dem Zusammenhang auch kein Zwang darin zu erblicken ist, daß Ärzte beispielsweise bei ihrer Anstellung danach gefragt werden, ob sie Abtreibungen in Zukunft bewirken würden?
Ich weiß nicht, ob Sie eine solche Frage tatsächlich für einen Zwang halten, Herr Kollege.
Darf ich dann zitieren, was mir schriftlich in Form einer Äußerung eines SPD-Abgeordneten dieses Hauses und Landrates vorliegt,
— entschuldigen Sie, ich habe gefragt, ob ich das zitieren darf und ob die Frau Minister diese Auffassung zurückweisen würde — daß bei ihm kein Arzt am Krankenhaus angestellt wird, der sich einer Abtreibung in dem Sinne nicht zur Verfügung stellt?
Herr Kollege, ich hätte gerne genau gewußt, was welcher Abgeordnete wortwörtlich gesagt hat. Aber dem Sinne nach bin ich gerne bereit, Ihnen folgendes zu antworten für das Problem, das Sie hier aufwerfen. Ich glaube, es
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5748 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Bundesminister Frau Dr. Fockeliegt im Interesse aller Beteiligten, der Träger, der Ärzte, der Frauen usw., daß möglichst eine gewisse Identität in Gewissensfragen zwischen Trägern und dort tätigen Ärzten und Schwestern besteht.
Ich hoffe, Sie stimmen mit mir darin überein, daß eine entsprechende Aussprache zu einer so wichtigen Frage dann auch herbeigeführt wird.
Frau Bundesminister, gestatten Sie eine Frage des Herrn Abgeordneten Burger?
Ja.
Frau Minister, hat diese Auskunft nicht auch umgekehrt eine Konsequenz?
— Herr Wehner, ich habe eine Frage gestellt.
Herr Burger, dies gerade versuchte ich ja darzulegen.
Und würden Sie diese Konsequenz billigen?
Ich weiß jetzt nicht ganz, welche Konsequenz Sie meinen.
Darf ich noch einmal fragen? Ich habe Ihrer Antwort entnommen, daß Sie die Auskunft des Landrats billigen. Der Landrat möchte also Ärzte haben, die im Sinne des Gesetzes handeln. Sie haben gesagt, Frau Minister, daß Sie es verstehen, daß Häuser und Ärzte etwa gleicher Meinung sind, wenn ich es so ausdrücken darf. Würden Sie auch die umgekehrte Konsequenz Ihrer Aussage billigen, daß also Krankenhäuser Ärzte nicht aufnehmen, die bereit sind abzutreiben?
Herr Burger, könnten wir uns, ohne uns jetzt in Einzelheiten zu verlieren, vielleicht auf das verständigen, was ich eben ausgeführt habe: es wird im Interesse der Träger und der Ärzte liegen, in diesen Fragen der Gewissensentscheidung zum Problem des straffrei gestellten Schwangerschaftsabbruchs möglichst auf einer Linie zu liegen. Das gilt von dem einen wie von dem anderen aus gesehen.
Ich möchte noch fortführen, um Mißverständnisse aufzuhellen, soweit sie entstanden sein mögen — und ich hatte den Eindruck, daß auch Frau Verhülsdonk heute noch einmal darauf zu sprechenkam —: die Anerkennung der Gewissensgründe von Trägern bedeutet, daß kein Krankenhaus mit der Begründung, daß es aus Gewissensgründen Leistungen beim Schwangerschaftsabbruch nicht erbringt, von einer Förderung durch den Staat ausgeschlossen werden kann. Ich will dies so klar und ausdrücklich sagen, weil darüber Zweifel angemeldet worden sind.Andererseits — und das ist die Kehrseite der Medaille, meine Damen und Herren von der Opposition — kann natürlich der Staat auf seinen verschiedenen Ebenen nicht auf seine Verantwortung verzichten, über die Krankenhausbedarfsplanung sicherzustellen, daß die notwendige stationäre Versorgung gewährleistet ist. Dazu gehört auch, daß die Leistungen nach § 200 f in dem Umfang gewährt werden können, den die Berechtigten auf Grund der zu treffenden strafrechtlichen Regelung in Anspruch nehmen.Es ist selbstverständlich, daß der große soziale Fortschritt, der durch die Erweiterung der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung durch diesen Gesetzentwurf herbeigeführt werden wird, nicht auf den Kreis der Sozialversicherten beschränkt bleiben kann. Gleiche, wenn nicht noch größere soziale Notwendigkeit besteht, solche Leistungen auch denjenigen zugänglich zu machen, die zu den Berechtigten im Sinne des Bundessozialhilfegesetzes gehören. Der Entwurf trägt dem Rechnung. Über die Leistungen hinaus, die den Sozialversicherten zu gewähren sind, sieht der Entwurf für die Sozialhilfeberechtigten vor, daß auch die Kosten ärztlich verordneter empfängnisregelnder Mittel übernommen werden. Damit wird an eine Praxis angeknüpft, die vereinzelt durch die Sozialverwaltung wegen der besonderen Situation der betroffenen Personenkreise entwickelt worden ist. Es sollte eigentlich zu keiner Diskussion darüber kommen, daß diese Praxis allgemein zu einer Leistung der Sozialhilfe ausgestaltet wird.
Es gibt gewiß noch vieles, was sich zu dem vorliegenden Gesetzentwurf und zu seiner Bedeutung für die Gesundheits- und für die Sozialpolitik sagen ließe. Das wichtigste aber scheint mir dies: hier haben die Koalitionsfraktionen schnell und konkret durch eine Gesetzesvorlage gehandelt. Hier werden Leistungsansprüche für eine große Zahl von Versicherten geschaffen, und dies im Zusammenhang mit Fragen, Problemen, Nöten und Konflikten, die jeder von uns hat oder haben kann. Bisher wurden sie verdrängt, verdeckt oder vernachlässigt. Sie einzugestehen war häufig tabu. Ich hoffe, dieses Gesetz wird etwas daran ändern. Ich weiß zugleich: außer diesem Gesetz und ergänzend zu ihm bleibt uns noch vieles zu tun. Aber, meine Damen und Herren von der Opposition, weder Bundesregierung noch Koalitionsfraktionen brauchen einen Entschließungsantrag — übrigens ohne soliden Finanzierungsvorschlag —, um über Weiterentwicklungen und Lösungsmöglichkeiten nachzudenken und Vorarbeiten zu leisten. Das gilt für Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschußkassen wie für andere Maßnahmen, die längst z. B.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5749
Bundesminister Frau Dr. Fockevon der Sozialdemokratischen Partei vorgeschlagen worden sind.
Ein Entschließungsantrag zu solchen wünschenswerten Weiterentwicklungen ersetzt aber nicht die Entscheidung über den heute vorliegenden Gesetzentwurf.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Müller .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bitte um die Genehmigung, Frau Präsidentin, daß ich in dieser zweiten Runde gleichzeitig auch unsere Änderungsanträge hier begründe. Das scheint mir zweckmäßiger zu sein, weil ich hier ohnehin im wesentlichen zu den sozialversicherungsrechtlichen Fragen Stellung nehmen wollte.
Wenn ich so vorgehen darf, dann bitte ich Sie zunächst einmal, die heute verteilten Drucksachen 7/1839 und 7/1840, die gleichlautend sind, nur andere Gesetzentwürfe betreffen, um ein Wort zu ergänzen, das beim Übertragen vergessen worden ist. In dem Satz „In den Fällen einer anerkannten Indikation . . ." muß es in der fünften Zeile jeweils heißen: „einer anerkannten medizinischen Indikation". Ich möchte das gleich zu Beginn hier deutlich machen.
Meine Damen und Herren, die Regierungskoalition hat diesen Gesetzentwurf im März 1973 eingebracht. Seit dieser Zeit erklären Sie uns, wo immer Sie zu diesem Thema sprechen und was immer Sie an Broschüren in einer Riesenauflage drucken lassen, daß es die Zielsetzung dieses Gesetzentwurfs sei, die Reformbestrebungen des Fünften Strafrechtsreformgesetzes zu § 218 StGB durch flankierende sozialpolitische Maßnahmen zu unterstützen.
Als Kernpunkt Ihrer Lösung wollen Sie den Anspruch jeder abtreibungsbereiten Frau bei Schwangerschaftsabbruch ohne medizinische Notwendigkeit als Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung und der Sozialhilfe aufzwingen. Meine Freunde haben heute morgen gesagt, ein Teil des Gesetzes verdiene sicher eine andere Überschrift, vielleicht diese: „Gesetz zur wirtschaftlichen Erleichterung der Abtreibung zu Lasten der Versichertengemeinschaft".
— Das hören Sie nicht gern. Aber ich sage es trotzdem.
Die Erhaltung des Lebens hat Vorrang. Ich unterstelle das im übrigen auch weiterhin für alle Mitglieder dieses Hauses.
Die Erhaltung des Lebens hat Vorrang und nicht die versicherungstechnische Begünstigung der Tötung des Lebens.
Dann aber haben wir die Pflicht, alles, aber auch alles zu tun, um mit entsprechenden begleitenden und vorbereitenden Maßnahmen die Frauen in die Lage zu versetzen, ein Kind auszutragen, oder so weit Vorsorge zu treffen, daß es nicht erst zu einer unerwünschten Schwangerschaft kommt.
Staat und Gesellschaft haben auf Grund ihrer sozialen Verantwortung und in Erfüllung des Verfassungsauftrags die Pflicht, Ehe und Familie und damit Kinder zu schützen und zu fördern. Eben aus diesem Grundsatz heraus werden meine Fraktion und ich diesem Teil des Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetzes die Zustimmung verweigern. Denn wir haben die große Sorge, daß die nach diesem Ihrem Gesetzentwurf vorgesehenen Pflichtleistungen der Krankenkassen Anreiz zu unbegründeten Schwangerschaftsabbrüchen geben und damit die Versichertengemeinschaft zu Leistungen gezwungen wird, die ihr weder aus familienpolitischen noch aus versicherungsrechtlichen Gründen zugemutet werden können.
Meine Damen und Herren, Aufgaben und Grundsätze der gesetzlichen Krankenversicherung sind eindeutig und klar. In der vom Bundesarbeitsminister herausgegebenen Schriftenreihe „Sozialpolitik in Deutschland" wird das so formuliert:
Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist es, den von ihr betreuten Personen bei Krankheit, Mutterschaft und Tod die durch Bundesgesetz oder Satzung der einzelnen Krankenkasse vorgesehenen Leistungen zu gewähren. Der Versicherungsschutz umfaßt sowohl Leistungen, die der Wiederherstellung der Gesundheit dienen, die Wiedergenesung des Erkrankten fördern und die der Erhaltung der Gesundheit von Mutter und Kind dienlich sind, als auch wirtschaftliche Hilfe zum Ausgleich für den infolge Krankheit oder durch die Mutterschaft ausgefallenen Arbeitslohn.
Jeder Versicherte hat Anspruch auf diejenige ärztliche Versorgung, die zur Heilung oder Linderung nach Regeln der ärztlichen Kunst zweckmäßig und ausreichend ist.
Leistungen, die für die Erzielung des Heilerfolges nicht notwendig oder die unwirtschaftlich sind, darf der Kassenarzt nicht bewirken oder verordnen.
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5750 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Müller
Vielleicht können Sie sich mit Ihrem Herrn Kollegen darüber einmal abstimmen, was nun eigentlich Auffassung dieser Bundesregierung ist.
Wenn ich das alles, was Sie in Ihren Broschüren selbst sagen, richtig verstehe, dann setzen Sie doch, wie natürlich auch wir, einiges voraus: das Vorliegen von Krankheit, die geheilt oder gelindert werden soll. Vielleicht kann der Herr Bundesarbeitsminister hier einmal klarmachen, wie Sie eine auf der freiwilligen Entscheidung der einzelnen Frau beruhende Schwangerschaftsunterbrechung ohne medizinische Notwendigkeit zur Krankheit hochstilisieren und die damit verbundenen Kosten der Versichertengemeinschaft als Pflichtleistung auferlegen wollen.
Ich weiß, meine Damen und Herren, daß Sie in diesem Bereich freischwebend formulieren, wenn es Ihnen in den Kram paßt.
Sie behaupten — so Herr Rhode in der Ausschußsitzung und heute morgen Frau Schlei und Frau Minister Focke —, in einer Reihe von Leistungsbereichen der gesetzlichen Krankenversicherung gehe man über den traditionellen Krankheitsbegriff hinaus, z. B. bei der Mutterschaftshilfe und der Gesundheitsvorsorge. Dem halte ich entgegen — und dabei befinde ich mich in völliger Übereinstimmung mit den Vertretern der Krankenkassenverbände, wie die Sachverständigenanhörung eindeutig gezeigt hat —, daß alle Maßnahmen, die wir bisher in der gesetzlichen Krankenversicherung als Pflichtleistungen vorgesehen haben, auf das eigentliche Risiko der Krankenversicherung bezogen sind oder aber ausdrücklich familienpolitischen Zielen dienen. Dies gilt auch für die Früherkennung und Verhütung von Krankheiten. Krankheit können Sie aber, meine Damen und Herren, für diese Ihre heutigen Vorstellungen wirklich nicht heranziehen.
Sie alle, meine Damen und Herren der Regierungskoalition, die Sie sich mit den versicherungsrechtlichen Fragen im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung beschäftigt haben, wissen, daß sich sämtliche Vertreter der Krankenkassen eindeutig und unmißverständlich gegen die Übernahme von Kosten des Schwangerschaftsabbruchs und der Nachfolgekosten ohne Prüfung der medizinischen Notwendigkeit als Pflichtleistung der Krankenkassen ausgesprochen haben. Auch die Vertreter der Selbstverwaltungsorgane, Herr Kollege Geiger, vertreten diese richtige Auffassung, wie wir aus dem Briefwechsel auf Grund der Auschußberatungen wissen. Wenn sich also sämtliche Spitzenverbände der Krankenkassen wiederholt klar gegen die Übernahme der Kosten eines Schwangerschaftsabbruchs in anderen als in Krankheitsfällen ausgesprochen haben, weil solche Leistungen weder zum Wesen noch zu den Prinzipien noch zum System der gesetzlichen Krankenversicherung gehören und weildas Erfordernis eines objektiv begründeten Bedürfnisses nach Leistungen in diesen Fällen nicht gegeben sei, dann haben wir als Abgeordnete und als Gesetzgeber schon aus diesen Gründen keine Möglichkeit, Ihren Vorstellungen zu folgen.Daß wir als CDU/CSU-Fraktion darüber hinausgehende schwere Bedenken gegen Ihren Vorschlag deswegen haben, weil Sie mit der Vorwegnahme der versicherungsrechtlichen Lösung Ihre Fristenlösung bei § 218 vorentscheiden wollen, habe ich schon bemerkt, und ich betone das an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich.Die deutsche gesetzliche Krankenversicherung ist eine Pflichtversicherung. Sie beruht auf dem Grundsatz der Solidarität ihrer Mitglieder. Dieser Grundsatz der Solidarität kommt vor allem in der Art der Finanzierung zum Ausdruck. Die für die Finanzierung der Leistung erforderlichen Mittel werden durch Beiträge aufgebracht. Diese hier von mir noch einmal ausdrücklich festgestellte Anmerkung zu Wesen und Aufgaben der sozialen Krankenversicherung verbietet es, subjektiv empfundene Bedürfnisse und private Wünsche zur persönlichen Lebensgestaltung und Lebensführung zum Gegenstand der sozialen Leistungssysteme zu machen.
Wenn Sie die Verknüpfung zwischen Krankheit und Zahlungspflicht der Krankenkassen lösen wollen, dann machen Sie doch aus der Sozialversicherung staatliche Hilfskassen und verwischen die Grenzen zwischen Solidargemeinschaft und Fiskus endgültig. Dann sollten Sie konsequent sein und die Rolle des Beitragszahlers insgesamt sofort den Steuerzahler übernehmen lassen. Lesen Sie doch einmal nach, was Albert Müller in der „Welt" vom 19. 3. unter der Überschrift „Ein Schwangerschaftsabbruch auf Krankenschein" geschrieben hat!Weil mit Ihrem Vorschlag der Solidaritätsgedanke auf das äußerste belastet wird, lassen Sie mich an dieser Stelle zum Prinzip der Solidarität ein paar Bemerkungen machen. Solidarität, das ist wechselseitige Verbundenheit der Menschen, Rücksicht auf das Wohl des sozialen Ganzen, Solidarität als Doppelbindung des einzelnen an die Gesellschaft und der Gesellschaft an den einzelnen. Ursprung, Träger und Ziel aller gesellschaftlichen Wirklichkeit ist der Mensch inmitten der Gesellschaft. Auf die ist er hingeordnet, und für die ist er mitverantwortlich. Die Gesellschaft bleibt aber auch auf die Entfaltung ihrer Glieder als Personen bezogen. Dieses unser Verständnis von Solidarität, unser Verständnis von einer sozialen Krankenversicherung, unser Verständnis vom Wert des Lebens und unser Verständnis von der Tötung des Lebens verbieten es, daß ein Schwangerschaftsabbruch ohne Rücksicht auf die medizinische oder ethische Notwendigkeit von der Allgemeinheit der Versicherten finanziert wird.
Die SPD ist in ihren Papieren und Broschüren, z. B. in der Broschüre „Das Argument zu § 218" auf der Seite 33, herausgegeben vom Vorstand der SPD, immer schnell bereit, uns so etwas wie mangelnden
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5751
Müller
Sinn für soziale Gerechtigkeit zu unterstellen, wenn sie schreibt:Die Opposition hat lediglich einer Beratung der Versicherten über Empfängnisregelung und der kostenfreien Abgabe empfängnisregelnder Mittel an Sozialhilfeempfänger zugestimmt.Ich habe gerade zwischendurch einen Beitrag gehört: das brauche man uns nicht zu unterstellen. Herr Kollege Nölling, ich lasse mich in der Frage der sozialen Gestaltung dieser Gesellschaft auch von Ihnen nicht übertreffen.
Sie unterschlagen erstens, daß wir natürlich zur ärztlichen Beratung auch die erforderlichen Untersuchungen und die Verordnung von empfängnisregelnden Mitteln zählen, und Sie unterschlagen zweitens, daß wir einen eigenen Änderungsantrag im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung eingebracht haben, der im Gegensatz zu Ihrem Vorschlag mit der Änderung des § 200 f der Reichsversicherungsordnung nicht die Fristenlösung bei § 218 durch die Sozialversicherung vorwegnimmt. Wir sprechen uns in diesem Antrag dafür aus, daß Versicherte Anspruch auf ärztliche Beratung über die Erhaltung und den Abbruch der Schwangerschaft, auf ärztliche Untersuchungen und Begutachtung zur Feststellung der Voraussetzungen für einen Schwangerschaftsabbruch oder für eine Sterilisation haben.
Herr Abgeordneter Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Nölling?
Ich möchte bitte zunächst den Inhalt unseres Anrags vortragen; dann stehe ich sofort zu Fragen zur Verfügung.
Wir befürworten im Gegensatz zu Ihnen den Anspruch des Versicherungsnehmers auf Leistungen bei Abbruch ,der Schwangerschaft durch einen Arzt nur für die Fälle einer anerkannten medizinischen Indikation. Das gilt auch für eine notwendige Sterilisation. Es ist selbstverständlich, daß wir ärztliche Behandlung, Versorgung mit Arznei-, Verbands- und Heilmitteln sowie Krankenhauspflege durch die Versicherung gewährleisten wollen. Nach unserem Antrag besteht auch der Anspruch auf Krankengeld, wenn der Versicherte wegen Sterilisation oder wegen Abbruchs der Schwangerschaft durch einen Arzt arbeitsunfähig wird. — Ich wäre jetzt bereit, die Frage entgegenzunehmen.
Herr Kollege Müller, worauf stützen Sie Ihre heute morgen wiederholt vorgetragene Behauptung, daß durch diesen Gesetzentwurf, der jetzt zur Abstimmung ansteht, eine Präjudizierung der strafrechtlichen Lösung vorgenommen wird?
Das kann ich Ihnen sehr deutlich sagen: Weil Sie überhaupt nicht
differenzieren, weil Sie hier das vorwegnehmen, was am 25. und 26. April hier beraten wird, und weil Sie damit alle diejenigen praktisch beruhigen wollen, .die vielleicht in Ihren eigenen Reihen der sehr weitgehenden Fristenlösung nicht zustimmen, damit Sie dann für alle Fälle, ganz gleichgültig, welche Änderung des Gesetzes beschlossen wird, — —
— Darf ich den Satz zu Ende bringen?
Praktisch hat, wenn das Gesetz in anderer Form beschlossen wird — auch bei der Fristenlösung -die Versichertengemeinschaft ,die Finanzierung zu tragen.
Sie haben behauptet, dieser unser Antrag werde eine soziale Differenzierung und Diffamierung zur Folge haben. Das ist falsch. Wir weisen diesen Vorwurf zurück. Sie müssen unterscheiden zwischen dem, was strafrechtlich nicht verboten bzw. strafgerichtlich nicht verfolgt wird, und dem, was materielle Unterstützung durch die Solidargemeinschaft der Versicherten in Bund, Ländern und Gemeinden ist und was man damit erreichen will.
Unser Antrag ist mehr als die bloße Zurückweisung eines unzumutbaren Vorgehens. Unser Antrag ist die sozialethisch und versicherungsrechtlich allein tragbare Lösung. Frauen, die ein Kind erwarten und die Schwangerschaft aus beliebigen Gründen abbrechen wollen, sind weder krank noch handeln sie aus einem objektiv zwingenden Grund. Wer sich dann aber für den Schwangerschaftsabbruch nicht auf solche zwingende Gründe, sondern ,auf die uneingeschränkte Verfügungsberechtigung über sich selbst beruft, der sollte konsequenterweise .die Kosten seiner höchstpersönlichen Entscheidung nicht der Versichertengemeinschaft auferlegen sollen und können, einer Solidargemeinschaft, die — ich wiederhole es — aus Zwangsbeiträgen finanziert wird.
Ich halte also im Grundsatz noch einmal. fest: Die Krankenversicherung ist eine Solidarversicherung. Die Gemeinschaft der Versicherten erbringt die Leistungen. Die Leistungen werden für Krankheit und ihre Folgen einschließlich der Existenzsicherung erbracht. Mit diesem Gesetzentwurf, den Sie heute verabschieden wollen, wird der Versichertengemeinschaft allerdings eine Leistung auferlegt, die die meisten Versicherten mit ihrem Gewissen und mit ihrer ethischen Einstellung zum Leben nicht vereinbaren können.
— Hier wird Leben nicht erhalten, hier wird Leben vernichtet,
ohne nach dem Grund des Eingriffs zu fragen.
Herr Abgeordneter Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Nölling?
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5752 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Bitte schön!
Herr Kollege Müller, glauben Sie, daß die Versichertengemeinschaft darüber informiert ist bzw. danach gefragt wurde, in welchem Maße die gesetzliche Krankenversicherung heute schon für Kosten unsachgemäß zustande gekommener Aborte aufkommen muß?
Herr Kollege Nölling, ich will Ihnen auch darauf eine ganz klare Antwort geben. Wenn es Ihnen in den Kram paßt, sagen Sie, wenn Sachverständige Ihre Meinung vertreten haben, natürlich: Das ist die Meinung aller Versicherten. Wenn aber die Vertreter der Krankenkassenverbände und der Selbstverwaltungsorgane ganz eindeutig einmal unsere Auffassung vertreten, ist das auf einmal nicht mehr die Meinung der Versicherten.
Sie müssen sich entscheiden, was Sie eigentlich wollen: Wenn die Selbstverwaltungsorgane von den Versicherten gewählt sind und wenn wir das Wesen der Demokratie auch in der Versicherung haben, dann müssen Sie auch von der Wahl dieser Selbstverwaltungsorgane ausgehen und ihre Entscheidungen übernehmen.
Herr Abgeordneter Müller, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Nölling?
Wenn mir das nicht auf die Zeit angerechnet wird.
Das ist doch eine Floskel. Das wissen Sie doch, Herr Kollege Müller.
Beantworten Sie bitte meine Frage!
Einen Augenblick bitte, Herr Kollege Nölling! Herr Abgeordneter Müller, gestatten Sie die zweite Zwischenfrage?
Bitte sehr!
Entschuldigen Sie.
Herr Kollege Müller, beantworten Sie bitte meine Frage und weichen Sie nicht in der Weise aus, wie Sie das soeben getan haben!
Ich bin nicht ausgewichen. Ich bin davon überzeugt, wenn man der Versichertengemeinschaft nicht Sand in die Augen streut, wenn man ihr ganz klar sagt, daß sie ihre Zwangsbeiträge für die Tötung des Lebens
ausgeben soll, wird die Mehrheit der Versicherten das ablehnen.
Wir haben im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung gegen diesen fragwürdigen Gesetzentwurf gekämpft. Wir haben einen Änderungsantrag eingebracht, der abgelehnt wurde. Wir wiederholen den Änderungsantrag hier, um deutlich zu machen, daß bei einer anerkannten medizinischen Indikation die Versicherten Anspruch auf Leistung bei Abbruch der Schwangerschaft durch einen Arzt haben.
Herr Abgeordneter Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dürr?
Ich möchte jetzt meine Gedanken zu Ende führen, und ich möchte nicht, daß ich während eines Gedankens, den ich gerade versuche darzustellen, dauernd durch Zwischenfragen gestört werde.
Ich wiederhole: Wir stellen unseren Änderungsantrag erneut, um deutlich zu machen, daß bei einer anerkannten medizinischen Indikation die Versicherten Anspruch auf Leistung bei Abbruch der Schwangerschaft durch einen Arzt haben, nicht aber bei einer Fristenlösung und einer weit gefaßten Indikationslösung.Natürlich haben wir als Unions-Abgeordnete des Ausschusses den Anspruch des Versicherten auf ärztliche Beratung über Fragen der Empfängnisregelung mit beschlossen. Zur ärztlichen Beratung gehören, wie ich soeben ausgeführt habe, ebenso selbstverständlich auch die erforderlichen Untersuchungen und die Verordnung von empfängnisregelnden Mitteln. Aber wir stimmen einem Gesetzentwurf nicht zu, der dem gewollten Schwangerschaftsabbruch durch Vermeidung eines jeden finanziellen Risikos praktisch Vorschub leistet. Wir entscheiden hier und heute über die Änderung der Krankenversicherung, wir entscheiden heute nicht — das stelle ich mit aller Eindeutigkeit und Entschiedenheit fest — über den § 218 des Strafgesetzbuches, aber wir vorentscheiden ihn.Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, noch auf einen besonderen Punkt zu sprechen kommen, der in der Diskussion des Krankenversicherungsergänzungsgesetzes eine Rolle spielt; ich meine die Leistung zur Familienhilfe in der sozialen Krankenversicherung. Diese vorbildliche Familienhilfe wird dem Versicherten für seine Familienangehörigen gewährt. Besondere Beiträge werden nicht erhoben, auch nicht in Form von Zuschlägen zum Beitrag des Versicherten. Aber auch das entspricht dem Solidaritätsgedanken der Verpflichtung der Gemeinschaft für die Familie. Denn die Kinder der heutigen Familien erbringen später, wenn die heutigen Beitragszahler alt, krank oder arbeitsunfähig geworden sind, die Beiträge zur sozialen Krankenversicherung, damit die dann alt und krank Gewordenen ihre Leistungen erhalten. Mit diesem von der Koali-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5753
Müller
tion eingebrachten, im Ausschuß durchgesetzten und heute zur Verabschiedung stehenden Gesetzentwurf sollen aber nicht künftige Beitragszahler in der Familienhilfe unterstützt werden, sondern es wird nach unserer Auffasssung die Zahl der Beitragszahler durch Abtreibung werdenden Lebens weiter reduziert werden. Und das ist — lassen Sie mich das auch mit der notwendigen Deutlichkeit sagen — das Gegenteil von Familienhilfe: eine familienpolitische Leistung besonderer Art, mit der man die Versichertengemeinschaft geradezu herausfordert.Ich wiederhole noch einmal: Das Problem des Schwangerschaftsabbruchs lösen Sie nicht durch eine Reform des Strafrechts allein, Sie lösen es aber erst recht nicht durch eine vorweggenommene versicherungsrechtliche Lösung. Wir legen in unserer Argumentation und in unseren Änderungsanträgen den entscheidenden Wert auf echte begleitende Maßnahmen zu § 218, und die müssen eben anders aussehen als Schwangerschaftsabbruch auf Krankenschein. Frau Dr. Wex wird das im einzelnen darstellen.Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen. Sie wollen dieses Gesetz möglichst umgehend in Kraft treten lassen, wie Sie das immer dann tun, wenn Sie Ihrer eigenen Argumente unsicher sind und der Öffentlichkeit keine Gelegenheit geben wollen, die Schwäche Ihrer Argumente weiter abzuklopfen.
Nur, wenn Sie eine solche Eile haben, müssen Sie sagen, wie Sie das finanzieren wollen. Die Krankenversicherungen können diese Mehrleistungen nicht aus eigener Kraft erbringen. Darüber sind Sie sich im klaren und schlagen deshalb einen Bundeszuschuß für fünf Jahre vor. Wenn ich es aber richtig sehe, schreiben wir jetzt das Jahr 1974, und für dieses Jahr ist keine D-Mark für Ihr zweifelhaftes Projekt in den Bundeshaushalt eingestellt. Trotzdem wollen Sie der Öffentlichkeit zumuten, Ihren Gesetzentwurf als Sozialtat feiern zu müssen, obwohl Sie in diesem Jahr nicht einen einzigen Pfennig zur Realisierung zur Verfügung stellen können. Niemand weiß wirklich, welche anreizende Wirkung von Ihrem Vorschlag hinsichtlich des Schwangerschaftsabbruchs mit Krankenschein auf versicherte Frauen ausgehen wird. Ich befürchte, er ist groß genug, um neben den schwerwiegenden rechtlichen und ethischen Bedenken auch die finanziellen Probleme überdeutlich werden zu lassen. Wie der von Ihnen geforderte Bericht nach Ablauf von fünf Jahren aussehen wird, kann man sich schon vorstellen.Sie haben also die volle Kostenübernahme durch die Krankenkassen vorprogrammiert. Die Beitragszahler müssen sich also, wenn Sie bei Ihren Beschlüssen bleiben, darauf einstellen, daß jeder erlaubte Schwangerschaftsabbruch aus ihrem Solidarbeitrag finanziert wird. Die präjudizierende Wirkung, die Sie damit für immer neue Wünsche an die Krankenversicherung herantragen, ist außerordentlich groß. Albert Müller sagt dazu in der „Welt" vom 19. März den einzig notwendigen Satz:Der Staat zerstört diese Art von Versicherung in dem Maße, wie er die Eigenverantwortung der Versicherten weiter aushöhlt.Und ich füge hinzu: Sie zerstören durch diesen Teil Ihres Gesetzes das Kernstück unserer Sozialversicherung: die Solidarität zwischen Gesunden und Kranken.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Glombig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sicherlich müssen wir Respekt vor unterschiedlichen Auffassungen gerade in der Frage, die uns hier heute morgen beschäftigt, haben. Aber, meine Damen und Herren, wer so kühl, so schneidend und teilweise so zynisch die seelische und auch gesundheitliche Not der Frauen behandelt, wie es die Sprecher der CDU/CSU-Opposition, insbesondere Frau Kollegin Verhülsdonk, getan haben,
der kann nicht für sich behaupten, die Menschlichkeit sei allein auf seiner Seite. Im Gegenteil!
Herr Abgeordneter Glombig, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Franke ?
Herr Kollege Glombig, täusche ich mich, oder sehe ich es richtig, daß Sie das, was Sie jetzt gerade verlesen haben, gestern schon aufgeschrieben haben, ohne die Rede von Frau Verhülsdonk zu kennen?
Herr Kollege Franke, vielleicht sind Sie so freundlich, einmal hier heraufzukommen und meine Notizen durchzulesen, die ich auf Grund der Rede von Frau Verhülsdonk gemacht habe. Dann würden Sie eine so unverschämte Behauptung, wie Sie sie hier aufgestellt haben, sicherlich sofort zurücknehmen.
Sie müssen mich nun wirklich nicht für so dumm halten, wie Sie zu sein scheinen.
Das ist eine Unterstellung, die man nur auf das schärfste zurückweisen kann.
Herr Abgeordneter Glombig, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Maucher?
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5754 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Herr Kollege Glombig, würden Sie wenigstens zugeben, daß das vom Kollegen Franke keine Behauptung war, sondern eine Frage?
Herr Kollege Maucher, wir beide sind doch nun lange genug in diesem Hause
— bei dem Herrn Kollegen Franke ist das noch nicht so lange —, um zu wissen, welche Behauptungen man in Frageform kleiden kann. Da müssen wir uns doch nichts vormachen.
Ich will auch versuchen, die Behauptungen, die ich hier aufstelle, zu beweisen, meine Damen und Herren. Das sauge ich mir doch nicht aus den Fingern.
Ich möchte nun erst einmal etwas zu dem so oft strapazierten, vor allem von seiten der Opposition immer so strapazierten Begriff der Pressefreiheit sagen, soweit hier der Norddeutsche Rundfunk in Frage kommt. Meine Damen und Herren, ich meine, man kann doch hier nicht eine Behauptung in die Welt setzen, ohne daß diejenigen, die in Frage kommen, die Möglichkeit haben, dazu Stellung zu nehmen.
— Ach nein, was meinen Sie denn? Ich mache doch hier keine Panorama-Sendung. Mit dieser Panorama-Sendung haben doch Sie hier angefangen. Ich möchte mich mit dem auseinandersetzen, was Frau Verhülsdonk im Zusammenhang mit dieser Sendung des NDR gesagt hat. Der NDR-Intendant, Herr Neuffer, hat am 15. März dazu folgende Darstellung gegeben:
Dem Norddeutschen Rundfunk geht es bei der Ausstrahlung dieser Sendung weder um Sensation noch um die Beschönigung oder die Befürwortung strafbarer Handlungen.
— Das kommt ja jetzt. Warten Sie doch ein bißchen!
Es geht ihm darum, angesichts der bevorstehenden Revision des § 218 im Deutschen Bundestag seiner Pflicht zur Berichterstattung auch insoweit nachzukommen, . . .
— Lassen Sie mich doch ausreden, bevor Sie anfangen zu lachen! Das zeugt doch nicht von sehr großer Toleranz.
... als er eine aus Überzeugung begangene rechtswidrige Schwangerschaftsunterbrechung zeigt und die dafür Verantwortlichen zu Wort kommen läßt.
Was hier geschehen ist, ist in vielen Ländern
der westlichen Welt ein alltäglicher, völlig legaler Eingriff. Ob er es auch bei uns wird, liegt in der Entscheidung des Gesetzgebers. Befürwortern wie Gegnern einer Änderung des § 218 geht es letzten Endes um das gleiche Ziel: den besseren Schutz des ungeborenen Lebens.
Ich identifiziere mich nicht in allen Teilen mit dieser Stellungnahme. Ich wollte das zumindest aber einmal zu Gehör bringen, weil ich meine, daß man über einen solchen Vorgang nicht so in Bausch und Bogen reden kann, wie es Frau Verhülsdonk in dieser — auch sehr frauenfeindlichen — Art und Weise heute morgen hier getan hat.
Herr Abgeordneter Glombig, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Verhülsdonk?
Ja, bitte schön!
Herr Kollege Glombig, Sie haben zitiert. Kennen Sie auch die Stellungnahme von Herrn Josef Augstein, die in der „Welt am Sonntag" vom 17. März abgedruckt ist und die folgende Passagen enthält:
Solange Paragraph 218 besteht, hat man sich daran zu halten. Man sollte sich hüten, dien Rechtsstaat gewaltsam zu demontieren ... Das Fernsehen hat die allgemeinen Gesetze genauso zu beachten wie jeder andere auch. Wenn Paragraph 218 grundgesetzwidrig wäre, bestände er seit langem nicht mehr.
Später wird die Frage aufgeworfen:
Sollte im Fernsehen alles gezeigt werden dürfen, was nicht strafbar ist? Gibt es nicht auch sonstige Schranken?
Zum Schluß heißt es:
Sind wir schon {so weit, daß ein Skandal droht, weil ein — noch — strafbarer Schwangerschaftsabbruch zunächst nicht als provozierender Gesetzesbruch im Fernsehen gezeigt werden durfte?
Meine Damen und Herren, ich hoffe, daß mir die Zeit für diese Unterbrechung — Frau Verhülsdonk hält schon seit heute morgen fast ohne Unterbrechung längere Reden — nicht von meiner Redezeit abgezogen wird.
— Frau Verhülsdonk, ich habe hier nicht juristische Meinungen zu diesem Vorgang wiedergegeben, sondern ich habe gesagt, es müßten zumindest auch die Überlegungen des Norddeutschen Rundfunks mit ins Spiel gebracht werden, die zu dieser Sendung geführt haben. Um diesen Vorgang allein geht es. Wenn Herr Kollege Lenz der Meinung ist, daß die bloße Erwähnung des Wortes „Schwangerschaftsabbruch" durch einen Vertreter der Bundesregie-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5755
Glombigrung gegen das Gesetz verstoße, dann muß man einer solchen Tendenz energisch entgegentreten;
denn Sie, Herr Kollege Lenz, sprechen ja in Ihrem Antrag zu § 200 f ebenfalls von „Schwangerschaftsabbruch". Aber Sie sprechen nicht mehr von den anerkannten Indikationen, sondern nur noch von der medizinischen Indikation. Insofern ist hier durch Herrn Müller eine dankenswerte Klarstellung erfolgt. Sie wollen noch nicht einmal eine soziale Absicherung für die in Ihrem Reformmodell vorgesehenen Fälle. Ich gehe davon aus, daß das Ihr Reformmodell ist, was von der Mehrheit der CDU/ CSU-Fraktion unterzeichnet wurde. Es gibt ja noch ein zweites Reformmodell aus Ihren Reihen.
Wenn man also davon ausgehen kann, muß man annehmen, daß Ihrer Meinung nach im Falle der kriminologischen Indikation keine soziale Absicherung erfolgen soll. Ich finde, das ist ein beachtlicher Vorgang, auf den wir die Öffentlichkeit in diesem Zusammenhang hinweisen müssen.
Lassen Sie mich, bevor ich versuche, auf die Dinge einzugehen, die uns heute morgen eigentlich beschäftigen sollten, nämlich auf den Gesetzentwurf der sozialliberalen Koalition über ergänzende soziale Maßnahmen im Zusammenhang mit der Reform des § 218 — und das allein steht heute zur Debatte —, folgendes sagen: Herr Kollege Müller hat im „DUD" vom 18. Februar 1974 einen Aufsatz veröffentlicht.
— Ja, ich lese Ihre Aufsätze mit großer Aufmerksamkeit, Herr Müller, weil sie sonst sehr sachlich sind; sie zeichnen sich sonst durch große Sachlichkeit aus. In diesem Fall haben Sie eine Ausnahme gemacht, eine Ausnahme, die, wie ich meine, eigentlich weit unter Ihrem Niveau liegt.
— Ich veranschlage Ihr Niveau viel höher.
Sie fangen schon einmal mit folgender Terminologie an:Die Fraktionen der sozialistisch-liberalistischen Regierung Brandt/Scheel
haben am 31. März 1973 den Entwurf eines Gesetzes über ergänzende Maßnahmen zum Strafrechtsreformgesetz eingebracht.Na gut, das ist eine reine Geschmackssache. — Aber dann haben Sie da etwas geschrieben, was Sie jetzt wiederholten, nämlich:Mit diesem von der Koalition eingebrachtenund von ihr im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung durchgesetzten Gesetzentwurf sollaber nicht künftig die Zahl der Beitragszahler durch Abtreibung werdenden Lebens weiter reduziert werden.Das meinte ich, als ich von „unter Ihrem Niveau liegend" sprach.
Wenn Sie nämlich genauso wie ich und wie alle in diesem Hause, die sich mit dieser Frage beschäftigt haben, wissen, daß die Dunkelziffer, um die es geht, doch sicherlich sehr, sehr hoch ist -- wir wissen nicht genau, wie hoch sie ist, wir wissen nur, daß sie hoch ist —, dann muß es doch auch stimmen, daß künftig nicht mehr und nicht weniger Kinder zur Welt kommen werden. Nur die Umstände, meine Damen und Herren, unter denen diese Kinder zur Welt kommen, werden menschlicher, wenn sich das durchsetzt, was wir uns vorstellen und was wir Ihnen hier heute vorschlagen. Darum geht es.
Als die SPD-Fraktion die Initiative zu dem vorliegenden Gesetzentwurf der sozialliberalen Koalition ergriff, ging sie von der Überzeugung aus, daß wirksame sozialpolitische Maßnahmen erforderlich sind, um erwünschte Schwangerschaften durch Beratung zu erhalten und um ungewollte Schwangerschaften und Schwangerschaftsabbrüche durch Beratung und Hilfen zur Empfängnisregelung zu verhindern. Bislang hat das deutsche Sozialrecht keinerlei solche Leistungen gekannt. Wenn wir dieses Gesetz verabschieden, meine Damen und Herren, wird es ein Gesetz sein, das einmalig in der Welt dasteht.
Der Entwurf des Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetzes begibt sich hier auf Neuland. Es handelt sich um eine wichtige sozialpolitische Weichenstellung, die es verdient, nicht nur als Beiwerk zur Strafrechtsreform gesehen zu werden. Die Koalitionsfraktionen wollen ein Reformgesetz schaffen, das um seiner selbst willen von großer Bedeutung ist, unabhängig davon, welche Ausgestaltung der § 218 des Strafgesetzbuches künftig erhalten wird. Darum werden auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, Sie, Frau Kollegin Verhülsdonk, wenn Sie es wirklich ernst und gut meinen mit den Frauen in unserem Lande, diesem Gesetz zustimmen können; denn es würde sogar für Ihr Modell passen.
Es ist doch überhaupt nicht einzusehen, warum Sie die soziale Absicherung der Frauen, die in Not sind, hier ablehnen wollen.
— Ja, das ist wahr.
Herr Abgeordneter Glombig, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Verhülsdonk?
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5756 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Ja, bitte schön!
Herr Kollege Glombig, wollen Sie endlich zur Kenntnis nehmen, daß wir gerade wollen, daß Frauen, die wirklich in Not sind, diese gesetzlichen Leistungen erhalten, und daß wir uns nur dagegen wehren, daß Frauen, die nicht in Not sind, sondern aus Bequemlichkeit oder anderen Gründen, die mit der Manipulation der Meinungen in unserer Gesellschaft zusammenhängen können, Leistungen in Anspruch nehmen, deren Bezahlung für die Versicherten nicht zumutbar ist?
Frau Kollegin Verhülsdonk, ich habe mich schon daran gewöhnt, daß Ihre Fragen an diesem Vormittag immer wieder kleine Reden sind.
Sie bringen kaum noch etwas Neues. Sie müssen doch dann aber auch zur Kenntnis nehmen, daß das, was Sie eben in eine Frage gekleidet haben, nicht stimmt, und daß es, wenn Sie den Frauen wirklich helfen wollen, die in Not sind, Ihnen dann doch nicht passieren dürfte, daß Sie ausgerechnet die kriminologische Indikation, die Indikation z. B. auf Grund einer Vergewaltigung, bei der sozialen Absicherung auslassen. Und das tun Sie; diese Klarstellung hat der Herr Kollege Müller hier heute morgen vorgenommen.
Lassen Sie uns doch in dieser Auseinandersetzung wahrhaftig bleiben. Es geht doch wirklich um die Not dieser Frauen und nicht um die Frauen, die von dieser Not im Grunde genommen nichts wissen.
Herr Abgeordneter Glombig, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Lenz?
Ich bin gern bereit, Zwischenfragen zu beantworten. Die Hauptsache ist, daß ich mit meiner Redezeit zurechtkomme.
Herr Kollege Glombig, würden Sie mir darin folgen, daß die ganze Diskussion, die zwischen Ihnen und Frau Kollegin Verhülsdonk gelaufen ist, nicht stattgefunden hätte, wenn man erst über die Hauptsache und sodann über die flankierenden Maßnahmen entschieden hätte?
Herr Kollege Dr. Lenz, ich bin ja bereit, an dieser Nachhilfestunde für Sie persönlich weiter mitzuwirken. Es ist Ihnen wiederholt gesagt worden, welche Motivation diesem Vorgangzugrunde liegt. Ich komme darauf noch; gedulden Sie sich einen Moment.
Die von uns angestrebte sozialpolitische Absicherung der Strafrechtsreform zu § 218 — und darum geht es hier doch — ist im übrigen sehr viel breiter angelegt. Darüber wird beim nächsten Tagesordnungspunkt noch gesprochen werden. Wir sollten das, weil hier von einem so großen Familienprogramm die Rede war, auch bei dieser Gelegenheit unterstreichen.
Sie umfaßt eine große Zahl von Erleichterungen für Familien; darauf hat meine Fraktionskollegin Frau Schlei bereits hingewiesen.Es war eine unabdingbare Grundvoraussetzung dieses Gesetzes, die begleitenden sozialpolitischen Maßnahmen so auszugestalten — ich wiederhole es, auch zum Mitschreiben —, daß sie auf jede strafrechtliche Regelung anwendbar sind. Das haben Sie doch nicht widerlegen können!
Zwar ist eine strafrechtliche Neuregelung des § 218 ohne die ergänzenden sozialpolitischen Maßnahmen nicht denkbar, andererseits könnten die von uns geplanten sozialen Leistungen in der Krankenversicherung und der Sozialhilfe selbst dann voll zur Anwendung kommen, wenn es keine Strafrechtsänderung gäbe.
Darauf sind Sie gar nicht eingegangen, vielleicht auch gar nicht gekommen. Sie müßten eigentlich darauf kommen. Was meine Fraktion angeht, so sage ich Ihnen in diesem Zusammenhang aber auch folgendes: Wir werden alles versuchen zu verhindern, daß es in diesem Punkt zu keiner Änderung des Strafrechts kommt.
Wenn durch Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der Sozialhilfe eine Strafrechtsänderung auch nicht präjudiziert wird — ich wiederhole es —, so wird sie doch, ganz gleich, für welches Strafmodell sich die Mehrheit dieses Hauses entscheiden wird — wir alle miteinander, jeder nach seinem Gewissen —, leichter gemacht. Das ist doch vorweg festzustellen, Herr Dr. Lenz. Diese Frage haben Sie mir gestellt. Sie haben gefragt: Warum werden die sozialen Ergänzungsmaßnahmen der Entscheidungen zur Sache selbst vorgezogen? — Darum, weil immer behauptet worden ist, übrigens auch von Ihnen und gerade von Ihnen, die sozialen Ergänzungsmaßnahmen seien doch eigentlich das Kernstück solcher Überlegungen.
Nun respektieren wir das, und dann wollen Sieauf einmal davon überhaupt nichts mehr wissen.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5757
GlombigMöchten Sie als Abgeordneter, wenn Sie eine Entscheidung über die Reform des § 218 treffen, nicht vorher wissen — und nicht erst nachher —, was wir tun wollen, um das sozial abzusichern?
Herr Abgeordneter Glombig, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Lenz?
Darf ich aus Ihren Worten entnehmen, daß Sie mir darin zustimmen, daß die Frage der sozialen Sicherung zwar sehr wesentlich, ja sogar die Hauptsache ist, daß aber — ich lese hier den Titel vor — eine Maßnahme zum Fünften Strafrechtsreformgesetz denklogisch doch nicht vor demjenigen Gesetz verabschiedet werden kann, dessen Maßnahmen es eigentlich ergänzen soll?
— Das ist Ihre Logik, Herr Kollege Wehner, nicht meine!
Herr Kollege Dr. Lenz, da die Mehrheit dieses Hauses entschlossen ist, eine Strafrechtsänderung vorzunehmen — ich sage noch einmal: nach welchem Modell, wird sich zeigen —, ist es geradezu logisch und notwendig zu sagen: es gibt kein Präjudiz, ganz gleich, was wir heute verabschieden. Wir können das nachweisen, das trifft für alle Modelle zu. Das können wir verantworten, und das sollten Sie wissen, wenn Sie Ihre Entscheidung — gleichgültig, in welcher Weise — treffen.
Der Änderungsantrag der Opposition sieht vor, das Leistungsverbesserungsgesetz, das wir hier vorgelegt haben, nur im Zusammenhang mit dem von der CDU/CSU vorgelegten §-218-Reformgesetz in Kraft treten zu lassen. Sehen Sie sich doch einmal den vorliegenden Antrag im Hinblick auf das Inkrafttreten an! Ich finde — so muß ich sagen —, das ist ein einmaliger Vorgang.
Dieser Antrag kann in der Tat nur als ein unzulässiger Versuch der Vorwegnahme einer Entscheidung über die Art der Strafrechtsreform gewertet werden.
Ich weiß nicht, ob hier bei mir die rote Lampe brennt, damit ich zum Schluß kommen soll, das kann ich mir wirklich nicht vorstellen. Ich habe eine längere Redezeit beantragt; außerdem bin ich wiederholt unterbrochen worden. Herr Präsident, ich bitte, das zu berücksichtigen.
Herr Abgeordneter Glombig, Sie hatten eine Reihe von Zwischenfragen auch größeren Umfangs. Ich verlängere Ihre Redezeit.
Ich habe um eine längere Redezeit als 15 Minuten gebeten,
und ich bitte das zu berücksichtigen, Herr Präsident.
Herr Kollege Glombig, ich hatte für Sie eine Redezeit von 20 Minuten vorgesehen. Ich verlängere Ihre Redezeit darüber hinaus um weitere fünf Minuten.
Die von uns vorgesehene soziale Absicherung läßt keinen Versicherten und auch keinen Sozialhilfeempfänger nach einer Strafrechtsänderung hilflos. Den Vorrang, den wir Sozialdemokraten den sozialen Maßnahmen innerhalb der Reform beimessen, bringen wir daher auch in der Priorität bei der Verabschiedung zum Ausdruck. Festzuhalten bleibt: Die Opposition hat diesem Gesetzentwurf — darüber können auch die Ausführungen des Kollegen Müller nicht hinwegtäuschen — bis heute nichts Vergleichbares entgegenzusetzen. Ihr sogenanntes Programm zur Förderung der Familien und zum Schutz des ungeborenen Lebens, wie es so schön heißt, läßt an Unverbindlichkeit nichts zu wünschen übrig.
Wäre dieses Programm konkret und solide, hätte es die Opposition ganz sicher in Gesetzesanträge umgesetzt, und das gilt natürlich auch für die Pille auf Krankenschein.
Daß es sich hierbei eher um ein SeifenblasenProgramm handelt — ich komme darauf noch einmal gesondert zurück, weil das hier eine Rolle gespielt hat —, beweisen schon die geschätzten Kosten, die sich jetzt, nachdem dieser erweiterte Antrag hier auf dem Tisch des Hauses liegt, wie ich sage, auf 22 Milliarden DM belaufen werden.
— Ja, das sind überschlägige Berechnungen.
Sie haben bisher überhauapt noch keinen Ansatz einer Berechnung Ihres Programms vorgenommen. Sie haben bisher nur auf die 15 Milliarden DM des Familienlastenausgleichs hingewiesen,
und das Familiengeld mit 300 DM monatlich und dessen Auswirkungen haben Sie verschämt verschwiegen; sind darauf im einzelnen überhaupt nicht eingegangen. In dem Antrag, den Sie hier in dem Entschließungsantrag haben, ist etwas drin.
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5758 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Glombig— Ich habe gar nicht die Zeit; ich muß ja gleich aufhören.
Aber wir werden uns darüber Sicherlich noch unterhalten denn dieser Antrag kommt in den Ausschuß. Da haben wir die Möglichkeit, das im einzelnen nachzuweisen.
Herr Abgeordneter Glombig, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich möchte das zu Ende führen.
— Lassen Sie mich das erst einmal zu Ende führen; dann können Sie 'darauf später noch einmal eingehen! Herr Kollege Müller hat hier fortwährend gesagt: Ich lasse mich nicht unterbrechen, und Sie glauben, mich dauernd stören zu können. Ich möchte das hier zusammenhängend abhandeln. Ich fürchte mich doch nicht vor Ihren Fragen!
Herr Kollege Lenz, es ist ,das Recht des Redners, Zwischenfragen zu verweigern.
Ich wollte nur sagen, daß es kurios ist, daß die CDU/CSU-Opposition dieses Programm nicht mit Steuererhöhungen, sondern vielmehr mit drastischen Steuersenkungen finanzieren möchte.
Das ist natürlich auch ein besonders interessanter Vorgang.
Lassen Sie mich dazu in diesem Zusammenhang mit Genehmigung des Herrn Präsidenten etwas aus dem reichen Zitatenschatz Ihres sehr geschätzten Vorsitzenden Kohl zur Diskussion beitragen.In der Frankfurter Allgemeinen vom 20. Februar dieses Jahres steht folgendes:Der CDU-Vorsitzende Kohl hat in einer Erklärung zur Wirtschaftslage den Bundeskanzler am Dienstag aufgefordert, sich den sozialen Gruppen zu stellen und im Interesse des Ganzen sich wieder Geltung zu verschaffen. Die Regierung müsse, so betonte Kohl, der Bevölkerung endlich reinen Wein darüber einschenken, wo die Grenzen unserer Leistungsfähigkeit lägen.
Sie müsse auf unrealistische Reformen und gesellschaftspolitische Sandkastenspiele verzichten.
Dies sei die notwendige Voraussetzung für eine Umkehrung der Inflationsmentalität.Da kann ich nur sagen: Herzlichen Glückwunsch für die CDU/CSU-Opposition! Sie sollte sich diese weisen Worte ihres Vorsitzenden endlich einmal hinter die Ohren schreiben;
denn das sind doch Worte an die völlig falsche Adresse.
Nun, meine Damen und Herren, die SPD-Fraktion besteht im Gegensatz zur Opposition nicht aus Fantasten, die alles Mögliche oder besser: alles Unmögliche versprechen, wie es die CDU/CSU heute morgen mit ihrem oberflächlichen Entschließungsantrag erneut unternimmt. Wir empfinden es als eine Zumutung, daß die Opposition glaubt, wir würden einem in Windeseile zusammengezimmerten Milliardenpapier unsere Zustimmung geben. Wir denken nicht daran. Dieses Papier geht in den zuständigen Ausschuß und dort wird es beraten.
Meiner Fraktion, meine Damen und Herren, geht es mit ihrem Gesetzentwurf darum, konkrete Hilfen anzubieten. Dabei messen wir dem zweifach gestaffelten System der Beratung eine ganz besondere Bedeutung bei.1. Alle Versicherten und Sozialhilfeempfänger können sich durch einen Arzt ihres Vertrauens über Empfängnisregelung beraten lassen.2. die leistungsberechtigten Frauen haben auch einen Anspruch auf ärztliche Beratung mit dem Ziel, eine Schwangerschaft zu erhalten.Wenn es trotzdem aber zu einem straffrei gestellten Schwangerschaftsabbruch kommt, dann soll dieser auch medizinisch fachgerecht durchgeführt werden, ohne Kurpfuscher und ohne gesundheitliche Folgeschäden.
Denn für uns Sozialdemokraten ist es ein Gebot der Solidarität, die in Not geratenen Frauen nicht allein zu lassen, und von diesem Gebot der Solidarität sollte Herr Kollege Müller eigentlich mehr wissen, als er hier kundgetan hat.
-- Ja, das ist ein Einwand, den ich gegen Herrn Müller erhebe; ich muß darauf nicht antworten.Nach den Vorstellung meiner Fraktion, meine Damen und Herren, sollen straffrei gestellte Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich von einem entsprechend vorgebildeten Arzt unter klinischen Bedin-
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Glombiggungen durchgeführt werden. Daher haben wir einen entsprechenden Anspruch für alle Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung bzw. für alle Sozialhilfeempfänger vorgesehen. Einer solchen generellen sozialrechtlichen Absicherung wollte die Opposition bisher nicht folgen. Im Grunde genommen möchte sie ja — das hat der Kollege Müller eindeutig gesagt — die ärztliche Hilfe beim Schwangerschaftsabbruch ausschließlich auf Krankheitsfälle begrenzt sehen, und sie hält eine Kostenübernahme dann für systemwidrig, wenn Schwangerschaftsabbrüche medizinisch nicht zu begründen sind.
— Ja, Herr Kollege, ich komme noch darauf. Sie mögen ja von allen möglichen Dingen etwas verstehen, aber ich glaube, davon nur sehr wenig.
Herr Abgeordneter Glombig, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie zu Ende kommen würden. Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ja, man ist zu großzügig im Verschenken seiner Redezeit; ich sehe das ein.
Künftig werde ich keine Redezeit mehr verschenken.
Selbst wenn man den Krankheitsbegriff sehr eng definiert, meine Damen und Herren: ein durch einen ärztlichen Eingriff herbeigeführter „regelwidriger Körperzustand", der eine Behandlung erforderlich macht, stellt eine Krankheit im Sinne der Reichsversicherungsordnung dar. Doch von diesem tatsächlichen Krankheitsbegriff sind wir schon lange abgerückt; das muß doch Herrn Müller auch aufgefallen sein. Wie anders ließen sich sonst Leistungen bei der Mutterschaftshilfe und bei den Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge begründen? Frau Minister Focke hat das hier ausgeführt. Diesen Leistungen der vorbeugenden Gesundheitssicherung lassen sich die Einzelleistungen, die unser Gesetzentwurf vorsieht, eindeutig zuordnen.
Das wird die weitere Entwicklung zeigen. Das gilt sowohl für die Beratung über Empfängnisregelung als auch für die ärztliche Hilfe bei einem Schwangerschaftsabbruch.
Lassen Sie mich nun zum Schluß kommen! Ich fasse zusammen. Das Recht auf verantwortliche Elternschaft darf nicht dem Wohlhabenden oder einem „Wort zum Sonntag" vorbehalten bleiben.
Deshalb müssen nach unserer Auffassung die gesetzliche Krankenversicherung und die Sozialhilfe die Kosten für ärztliche Beratung über die Erhaltung der Schwangerschaft und über Fragen der Empfängnisregelung sowie die Kosten für den straffrei gestellten Schwangerschaftsabbruch und die freiwillige Sterilisation tragen. Ohne diese neuen Sozialleistungen wäre das Recht auf verantwortliche Elternschaft
für die große Mehrheit unserer Bevölkerung auch in Zukunft nicht mehr als eine Deklamation.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Frau Kollegin Verhülsdonk, Sie haben heute eine große Chance: stimmen Sie diesem Gesetzesantrag der sozialliberalen Koalition zu!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmidt .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Herr Kollege Müller und auch die Frau Kollegin Verhülsdonk haben in ihren Ausführungen für die Opposition mehrmals das Recht in Anspruch genommen, in diesem Saal allein für die Erhaltung des Lebens und des ungeborenen Lebens zu sprechen. Für die sozialliberale Koalition möchte ich zunächst einmal eindeutig feststellen, daß dies auch für uns der Grundsatz für alle Überlegungen und für alle Entscheidungen ist, die wir heute im sozialpolitischen Teil und in vier Wochen im rechtspolitischen Teil in dieser Frage anzustellen bzw. zu fällen haben.
Jawohl, „handelt entsprechend", ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie mir gleich ein Stichwort geben. Denn die sozialiberale Koalition war es, die genau heute vor einem Jahr — am 21. März 1973 — diesen Gesetzentwurf eingebracht hat, der heute hier zur Verabschiedung ansteht.
Genau vor einem Jahr haben wir aus diesem Grundsatz, alles zu tun, um Schwangerschaftsabbrüche überhaupt nur dort notwendig zu machen, wo sie aus sozialen und aus den vielen anderen Gründen, die wir alle kennen — ich komme noch darauf —, wirklich erforderlich sind, diesen Antrag vorgelegt. In einjähriger Beratung haben wir uns bemüht, diese Probleme zu lösen. Und Sie, meine Damen und Herren von der Opposition? Wo war denn in diesem einen Jahr der wirklich wertvolle Beitrag von Ihnen zu den hier auf dem Tisch liegenden sozialpolitischen Problemen? Wo war er denn? Höchstens heute in diesem Entschließungsantrag, in einem Entschließungsantrag, der ja auf einem Programm beruht, das vor einiger Zeit einmal diskutiert wurde. Aber Sie haben doch nicht in einem einzigen Gesetzentwurf oder Gesetzesvorschlag gesagt, wie Sie die Dinge zu regeln gedenken. Die sozialliberale Koalition hat sich um diese Fragen ein Jahr lang Gedanken gemacht. Sie haben ein Jahr lang versucht, diese Diskussionen einzuengen. Sie haben versucht, daraus Munition für andere Diskussionen zu holen, und haben sich sehr wenig um die Lösung der sozialpolitischen Probleme bemüht. Denn Ihr Entschließungsantrag — es ist genug dazu gesagt wor-
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Schmidt
den — kann doch sicher nur als ein wenn auch in vielen Fragen sehr wünschenswerter, aber überhaupt nicht durchdachter, im Detail überhaupt nicht überschaubarer und vom Finanziellen her überhaupt nicht durchrechenbarer Versuch angesehen werden, jetzt noch in letzter Minute plötzlich in dieser Frage ein sozialpolitisches Gewissen zu Haben.
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, wollen den Eindruck erwecken und haben es hier erklärt, wir wollten die in diesem Hause in vier Wochen zu fällende Entscheidung vorwegnehmen. Davon ist — das wissen zumindest die Mitglieder der damit befaßten Ausschüsse sehr genau — in keiner einzigen Ausschußdebatte je die Rede gewesen. Nicht ein einziges Mal hat man sich über diese Frage unterhalten oder sie tangiert, sondern es war völlig klar, daß hier vorweg eine sozialpolitische Entscheidung getroffen werden soll, die für alle Lösungen, die in diesem Hause in vier Wochen in rechtspolitischer Hinsicht zur Entscheidung anstehen, paßt. Das war eine völlig klare Sache.
— Ja, Herr Kollege! Ich habe allerdings den Eindruck, daß Sie — und nun muß ich einiges zu dem sagen, was Frau Kollegin Verhülsdonk ausgeführt hat —, daß Sie diese Entscheidung zu einer Vorentscheidung für den in vier Wochen zu fassenden Beschluß machen möchten, meine Damen und Herren.Frau Kollegin Verhülsdonk, es tut mir leid, wenn ich zu dem ersten Teil Ihrer Ausführungen sagen muß: „Thema verfehlt". Im ersten Teil Ihrer Ausführungen sind Sie völlig an dem vorbeigegangen, was hier heute auf dem Tisch liegt. Sie haben doch die Debatte über die noch unterschiedlichen Auffassungen gewisser Mitglieder dieses Hauses zu der zu treffenden Entscheidung zunächst einmal hervorgerufen. Ich habe Verständnis dafür, wenn es den Sprechern der Opposition etwas schwerfällt, die Ablehnung sozialpolitischer Maßnahmen zu begründen, und wenn sie dazu solche Argumente brauchen, wie sie Frau Kollegin Verhülsdonk vorgegebracht hat.Ich bitte um Verzeihung, Frau Kollegin Verhülsdonk — — Sie ist leider gar nicht da. Ich hätte mir von ihr in diesem Zusammenhang eigentlich einen etwas qualifizierteren Beitrag gewünscht,
weil ich sie aus den sehr sachlichen Diskussionen im Ausschuß sehr schätze. Ich hätte mir gewünscht, daß sie mit ihren Ausführungen, die eigentlich am Thema vorbeigingen, nicht eine inzwischen bei uns allen doch wohl auf ein sehr sachliches, der Sache der Frau dienendes Maß zurückgeführte und von allen so gewünschte Diskussion von diesem Pult aus wieder mit Emotionen aufgeheizt hätte und nicht wieder das daraus zu machen gedenkt, was wir im Zusammenhang mit der von allen bestätigten Notwendigkeit einer Neuregelung des § 218 in der Öffentlichkeit leider erlebt haben.Ich hätte mir gewünscht, daß gerade Frau Verhülsdonk etwas mehr Respekt vor der Entscheidung einer werdenden Mutter, eines Mädchens, einer Frau, die mit diesem Problem ringt, gehabt und nicht einfach von abtreibungswilligen Frauen gesprochen und es nicht einfach so dargestellt hätte, als ob sich der größte Teil unserer Frauen und Mädchen mit dieser Frage, für die wir hier Regelungen treffen wollen, nur aus Jux und Dollerei befaßten. Meine Damen und Herren, hier sollten wir doch wohl mit etwas mehr Respekt von denen denken, um die es letztlich geht.
Ich hätte mir auch gewünscht, daß man hier nicht so frivol von Abbrüchen zwischen Frühstück und Mittagessen spricht, meine Damen und Herren. Wer an diesem Pult die Diskussion über die Notwendigkeit der Änderung des § 218 so führt, unterscheidet sich leider sehr wenig von dem, was wir draußen erlebt haben und was wir bei dieser Diskussion wohl alle ablehnen.
Diese Entscheidung, meine Damen und Herren — hier stehe ich, wie ich glaube, mit Ihnen allen auf dem gleichen Standpunkt — muß in vier Wochen allein vom Gewissen jedes einzelnen gefällt werden. Aber wenn man dann so frivol, mit Formulierungen wie „zwischen Frühstück und Mittagessen" hier in diesem Hause spricht und das alles besser weiß, dann, muß ich sagen, will man sich anscheinend um die sozialpolitischen Fragen, die wir heute hier regeln wollen, herumdrücken und dafür in Wirklichkeit Emotionen hochspielen.
— Es tut mir sehr leid, Herr Kollege, ich muß dann dazu noch einiges sagen; ich wollte eigentlich damit diese Bemerkungen beenden.
Ich glaube, in diesem Hause ist niemand, der nicht von der Situation, in die — ob verschuldet oder unverschuldet — ein junges Mädchen oder eine Frau in bestimmten Fällen kommen kann, schon einmal erfahren hat und der sich nicht schon einmal selbst mit diesen Fragen innerlich auseinandergesetzt hat und seine Gewissensentscheidung in dieser oder jener Richtung daran orientiert. Aber da das ein Problem ist, das jedem an die Nieren geht, sollte hier auch eine sachliche Diskussion möglich sein und sollten nicht neue Emotionen erregt werden.Nun aber, meine Damen und Herren, zu dem, was Tagesordnungspunkt ist und wozu es noch einiges
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Schmidt
zusätzlich zu dem, was bereits der Kollege Glombig gesagt hat, zu sagen gibt.Herr Kollege Müller , Sie haben die zweifellos immer wieder einmal zu prüfende Frage, wieweit gewisse sachfremde Leistungen in unser Krankenversicherungssystem hineinpassen — eine Frage, die wir beim Mutterschutz des öfteren diskutiert haben —, hier in den Raum gestellt, dabei aber doch wohl nicht berücksichtigt, als Sie hier die Belastung der Solidargemeinschaft ansprachen, daß wir mit dieser Frage in ein Neuland vorstoßen, und auch nicht oder zuwenig berücksichtigt, daß mit dem Beitrag des Steuerzahlers von 55 Millionen DM zunächst einmal ein gewisser Ausgleich gegenüber der Solidarität geschaffen werden soll und daß nach dem Entschließungsantrag des Ausschusses darüber hinaus nach einer bestimmten Zeit ein Bericht über diese Fragen erfolgen muß, auf Grund dessen wir dann weitere Überlegungen in dieser Richtung anstellen müssen.Ich würde es aber nicht für glücklich halten, Herr Kollege Müller — und hier habe ich Sie gut verstanden; wir kennen uns ja schon sehr lange —, wenn man in dem vom Ausschuß mit Mehrheit beschlossenen Vorschlag ein Gesetz zur wirtschaftlichen Erleichterung des Schwangerschaftsabbruches sieht. Das haben Sie wörtlich gesagt; ich habe es mir aufgeschrieben.
Herr Kollege Müller, ich möchte jetzt nicht die Frage stellen, ob es ein reiner Druckfehler war, daß in dem Änderungsantrag Drucksache 7/1839 das Wort „medizinische" fehlte, oder ob hier eine Korrektur auf Druck erfolgt ist. Diese Frage können Sie sich aber selbst beantworten, denn denselben Antrag ohne „medizinisch" haben Sie im Ausschuß gestellt. Inzwischen klammern Sie plötzlich all das aus, was der Kollege Glombig bereits angesprochen hat: die Indikation aus kriminellen Gründen, die Indikation aus ethischen Gründen, wenn Sie das Wort „medizinisch" einfügen. Ich habe es bedauert, Herr Kollege Müller, daß Sie gesagt haben „zur wirtschaftlichen Erleichterung des Schwangerschaftsabbruchs".Ich habe vorhin bereits gesagt, daß ich mehr Respekt vor den Mädchen und Frauen in unserer Gesellschaft habe, die in eine solche Situation kommen und sich mit dieser Frage auseinandersetzen müssen. Ich glaube nicht — dieser Glaube stützt sich auf viel Erfahrung in dieser Richtung —, daß dadurch die Entscheidung, ob man sich zu einem Schwangerschaftsabbruch entschließt, in irgendeiner Form beeinflußt wird. Deshalb bedauere ich es, daß Sie mit dem Wort „medizinisch" hier den Kreis so eingeengt haben, daß Sie praktisch all diejenigen ausklammern, von denen Sie, wie ich doch annehme, wissen, daß sie einen Schwangerschaftsabbruch nicht so einschätzen, als ob das nichts wäre, sondern bei denen soziale oder familiäre Gründe, die aus unserer Gesellschaft kommen, vorliegen. Alle diejenigen, die zu einem großen Teil gerade zu den nicht sehr Begüterten unserer Gesellschaft gehören, klammern Sie aus, für sie lassen Sie nicht die Möglichkeit, in diesem Rahmen eine krankenversicherungsmäßigeAbsicherung zu erhalten; Sie weisen sie wieder zumKurpfuscher, Sie weisen sie wieder in die Illegalität,weil sie die Mittel einfach nicht aufbringen können.
Ich glaube, Sie sollten sich noch einmal — unabhängig davon, wie die Entscheidung in vier Wochen fällt — sehr überlegen, ob Sie mit der Einfügung dieses Wortes „medizinisch" in Ihren Antrag nicht sogar ein ganzes Stück hinter das zurückgegangen sind, was in Ihrer Fraktion — zumindest wenn ich an gewisse Aussagen von Herrn von Weizsäcker usw. denke — schon gedacht wurde. Denn ich glaube nicht, daß Herr von Weizsäcker das, was er an Vorstellungen hat, unter dem Beiwort „medizinisch" abgedeckt findet, wenn ich seine Äußerungen richtig sehe.
— Vielleicht könnte Herr von Weizsäcker selber etwas dazu sagen.
Meine Damen und Herren, die Änderungsanträge, die die CDU/CSU im Ausschuß gestellt hat und die hier mit einem kleinen Druckfehler — unter Druck — noch einmal vorgelegt wurden, scheinen uns nicht geeignet, die sozialpolitischen Probleme zu lösen und die sozialpolitischen Möglichkeiten, die wir brauchen, zu schaffen, mag die Entscheidung in vier Wochen nach diesem oder jenem Modell — wenn ich so sagen darf — ausfallen. Diese Änderungsanträge scheinen uns nicht geeignet, einen guten Weg für die Betroffenen zu finden. Sie scheinen uns nicht geeignet, die Änderung des § 218 echt flankierend zu begleiten. Die FDP-Fraktion wird diese Änderungsanträge ablehnen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Lenz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich wollte nicht zur allgemeinen Aussprache sprechen, sondern zu § 5 b dieses Gesetzentwurfs. Wenn man den Buchstaben a liest, kann man das nicht richtig verstehen. Ich will es einmal im Klartext sagen. Wenn das so beschlossen wird, heißt das: „Der Anspruch eines Angestellten auf Vergütung kann für den Krankheitsfall sowie für .die Fälle der Sterilisation und des Abbruchs der Schwangerschaft durch einen Arzt nicht durch Vertrag ausgeschlossen oder beschränkt werden."Meine Damen und Herren, was bedeutet das? — Das bedeutet zunächst einmal — ich meine jetzt die Worte „Abbruch der Schwangerschaft durch einen Arzt" —, daß eine durch einen ärztlich vorgenommenen Schwangerschaftsabbruch verursachte Abwesenheit durch den Arbeitgeber zu vergüten ist.
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5762 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Dr. Lenz
Ich darf noch einmal sagen: jeder ärztlich vorgenommene Schwangerschaftsabbruch. Also nicht nur ein Abbruch nach den von der CDU/CSU eingebrachten Entwürfen, nicht nur ein Abbruch nach dem vom Kollegen Müller-Emmert eingebrachten Entwurf, nicht nur ein Abbruch nach dem Fristenregelungs-Entwurf der Mehrheit der Koalitionsparteien, sondern auch eine darüber hinausgehende Abtreibung wird hier sozialrechtlich behandelt und zu einem sozialrechtlichen Tatbestand gemacht, der Leistungen auslöst. Man kann also hier die völlige Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs, die völlige Abschaffung des § 218 abdecken. Ich glaube, dieser Punkt mußte hier einmal klargestellt werden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Hölscher?
Herr Kollege, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß der gesamte Gesetzentwurf abgestellt ist auf straffreie Schwangerschaftsabbrüche, und nichts anderes,
und würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß das, was Sie jetzt betreiben, eigentlich' eine Unterstellung ist, die Sie aus den Beiträgen, die heute morgen gemacht worden sind, nicht entnehmen können?
Herr Kollege Hölscher, zu der Frage, die Sie angesprochen haben, komme ich jetzt.Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, ist folgender. Die Rechtsfolge, von der ich soeben gesprochen habe, nämlich die Leistungsverpflichtung des Arbeitgebers — in diesem Falle des Dienstberechtigten, um mit dem BGB zu sprechen —, kann auch nicht durch Vertrag ausgeschlossen werden. Das steht in dieser Vorschrift. Da wir in unserem Rechtssystem normalerweise davon ausgehen, daß Vertragsfreiheit gilt und daß der Wille der Vertragsparteien d'as Höchste ist, was es gibt, und dieser Grundsatz nur in ganz seltenen Fällen durchbrochen wird, um höherwertige Rechtsgüter zu schützen, muß ich aus dieser Vorschrift schließen, daß das Recht auf Schwangerschaftsabbruch ein höheres Rechtsgut ist als die Vertragsfreiheit, wenn wir den Paragraphen so annehmen.'Das bringt mich zu 'einigen Ausführungen, Herr Kollege Hölscher, die Parteifreunde von Ihnen gemacht haben. Hier heißt es z. B. in einer Äußerung der Frau Kollegin Funcke vom 19. März dieses Jahres:Eine begrenzte Straffreiheit 'gibt 'keinen Rechtsanspruch gegen den Staat oder einen Krankenhausträger auf aktive Mitwirkung.Ganz 'sicherlich 'aber gibt es nach der Vorschrift des § 616 BGB, wenn sie so beschlossen werden sollte, einen Anspruch gegen den Dienstberechtigten.Zweitens hat Herr Kollege Mischnick — ähnlich wie Sie soeben — davon gesprochen, daß die sogenannte Fristenregelung der Frau in den drei ersten Monaten der Schwangerschaft einen ,straffreien Bereich schaffen soll. Und Herr Kollege Mischnick hat in einer Presseverlautbarung vom 28. Februar 1974 verdeutlicht:Straffreiheit bei Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten bedeutet nicht Zustimmung oder gar Aufforderung zur Abtreibung, sondern eine nachdrückliche Aufforderung zur umfassenden Information und Beratung .. .
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5763
— Wenn die Fraktion der CDU darum bittet, verfahren wir so. Ich sage nur: es erleichtert den Abstimmungsvorgang nicht. —Wir stimmen also jetzt über die Nr. 6 a ab. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen.— Gegenprobe! — Der Antrag des Ausschusses ist angenommen.
— Enthaltungen? — Bei zahlreichen Enthaltungen in der Fraktion der CDU/CSU angenommen.
Ich rufe die Nr. 7 auf. Wer der Nr. 7 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Reihe von Gegenstimmen und einer Reihe von Enthaltungen ist die Nummer angenommen.Ich rufe die Nr. 8 auf. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — In diesem Falle ohne Stimmenthaltungen angenommen.
Ich rufe die Nr. 8 a auf. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei wenigen Gegenstimmen und zahlreichen Stimmenthaltungen angenommen.Kann ich die Nr. 9 bis 12 zusammen aufrufen?
— Ich rufe die Nr. 9, 10, 11 und 12 und gleichzeitig den § 2 auf. Ist das möglich?
— Gut, dann stimmen wir also jetzt nur über die Nr. 9 bis 12 ab. Wer den Nummern zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei Stimmenthaltungen der CDU/CSU angenommen.Ich rufe den § 2 auf. Wer § 2 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Es ist so beschlossen.Ich rufe den § 3 auf und stelle zunächst die Nr. 1 zur Abstimmung. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Ohne Stimmenthaltungen angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über die Nr. 2. Hierzu liegt ein Änderungsantrag auf der Drucksache 7/1840 vor. Wer dem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.Wer Nr. 2 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Die Ausschußfassung ist damit beschlossen.Ich frage nun ausdrücklich, ob über die Nr. 3 und 4 auch gesondert abgestimmt werden soll.
Wer den Nr. 3 und 4 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen.— Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Ohne Stimmenthaltungen so beschlossen.Ich rufe § 4 auf. — Das Wort hat der Abgeordnete Franke .
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5764 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zur Verdeutlichung: Wir stimmen gegen den § 4, aber deshalb, weil wir sämtliche Leistungen für die Krankenkassenträger aus dem Bundeshaushalt ersetzt haben wollten. Nachdem vorher so von Ihnen beschlossen worden ist, wollten wir die sachlichen Leistungen, die den Krankenkassenträgern hier aufgebürdet werden, in voller Höhe ersetzt wissen. Aber da Sie dazu nicht bereit waren, stimmen wir gegen diesen § 4 in der jetzigen Fassung.
Meine Damen und Herren, wir kommen zur Abstimmung über § 4.
Wer § 4 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltung? — Bei drei Stimmenthaltungen und im übrigen gegen die Stimmen aus der CDU/CSU ist § 4 so beschlossen.
Ich rufe § 5 auf. Kann ich die Nr. 1, 2 und 3 gemeinsam aufrufen?
Ich rufe die Nr. 1, 2 und 3 gemeinsam auf. Wer
zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen.
— Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei einer Reihe von Gegenstimmen und einer Reihe von Stimmenthaltungen ist so beschlossen.
Ich rufe Nr. 4 auf und lasse zunächst über den Änderungsantrag auf Drucksache 7/1841 zu Nr. 4 abstimmen. Wer dem Änderungsantrag zustimmt, den bitte ich um das Zeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über Nr. 4 in der Ausschußfassung. Wer zustimmt, den bitte ich um das Zeichen. Gegenstimmen! — Stimmenthaltungen?
— Ohne Stimmenthaltungen gegen die Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion ist damit die Nr. 4 gebilligt.
Wir kommen nunmehr zu Nr. 5. Wer der Nr. 5 in der Auschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen.
— Sie wünschen, daß über § 37 b BSG gesondert abgestimmt wird. Ich komme diesem Antrag nach.
Wer aus Nr. 5 dem § 37 b BSG zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — § 37 b ist bei einer Stimmenthaltung, im übrigen vom gesamten Haus gebilligt.
Dann rufe ich den gesamten übrigen Teil dieser Nr. 5 und die §§ 5 a bis 5 f auf. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen! — Danke. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Ohne Stimmenthaltungen mit der Mehrheit der SPD und FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU sind die aufgerufenen Bestimmungen gebilligt.
Ich rufe nunmehr § 6 auf. Wer § 6 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. — Danke. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei wenigen Stimmenthaltungen in der CDU/CSU-Fraktion ist auch § 6 gebilligt.
Ich rufe § 7 auf. Hierzu liegt ein Änderungsantrag auf Drucksache 7/1842 vor. Wer dem zustimmt, den bitte ich um das Zeichen. — Danke. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.
Ich kann nunmehr über § 7 sowie Einleitung und Überschrift abstimmen lassen. Einverstanden? — Jawohl. Wer dem zustimmt, den bitte ich um das Zeichen. — Danke. Gegenprobe! — Danke. Stimmenthaltungen? — Damit sind § 7 sowie Einleitung und Überschrift gebilligt.
Meine Damen und Herren, wir stehen am Ende der zweiten Beratung und treten in die
dritte Beratung
ein. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Professor Dr. Schellenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Namens der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion gebe ich zur dritten Beratung folgende Erklärung ab.Erstens. Dieser Gesetzentwurf trägt die bescheidene Überschrift: „ergänzende Maßnahmen zum Fünften Strafrechtsreformgesetz". Dem Inhalt nach geht es aber um weit mehr als um eine Ergänzung strafrechtlicher Vorschriften. Erstmals werden in der Sozialgesetzgebung unseres Landes auch Fragen der Familienberatung und -planung geregelt. Die Erfahrungen haben nämlich gezeigt, daß die einzelne Familie, die einzelne Frau und auch der Mann in diesem höchstpersönlichen Bereich Rat und Hilfe der Gesellschaft benötigen. Wir Sozialdemokraten sind deshalb gemeinsam mit unserem Koalitionspartner der Auffassung, daß der Deutsche Bundestag hier sozial- und gesundheitspolitisch endlich zu gesetzgeberischem Handeln verpflichtet ist.
Zweitens. Durch den vorliegenden Gesetzentwurf sollen Versicherte, ihre Familienangehörigen und auch Sozialleistungsempfänger einen Rechtsanspruch auf ärztliche Beratung in allen Fragen der Empfängnisregelung haben; dies sowohl zur Erfüllung des Wunsches nach einem Kind als auch zur Verhütung unerwünschter Schwangerschaft. Ferner gewährt der Gesetzentwurf auch gesundheitliche und soziale Hilfen bei Schwangerschaftsabbruch und Sterilisation.Meine Fraktion stellt ausdrücklich fest, daß dem Inhalt des Fünften Strafrechtsreformgesetzes in keiner Weise vorgegriffen wird. Vielmehr schafft der Entwurf, über den wir heute abstimmen, erst die notwendigen gesellschaftspolitischen Grundlagen für die Reform des Strafrechts. Meine Fraktion stellt ausdrücklich fest, daß der vorliegende Gesetzentwurf auf jedes Modell der Strafrechtsreform anwendbar ist. Er hätte sogar sozial- und gesundheitspolitische Bedeutung, falls überhaupt keine Straf-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5765
Dr. Schellenbergrechtsreform zustande kommen sollte. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion ist allerdings der Ansicht, daß ein Scheitern der Strafrechtsreform politisch unerträglich wäre.
Dies ist, so hoffen wir, die gemeinsame Auffassung des gesamten Hauses.Drittens. Gegenwärtig besteht in der gesetzlichen Krankenversicherung grundsätzlich kein Leistungsanspruch in Fragen der Familienplanung und Empfängnisregelung. In diesen Dingen werden aber besonders von den Frauen vielfältige soziale und gesundheitliche Hilfen dringend benötigt. Unser System der gesetzlichen Krankenversicherung geht von einem antiquierten Krankheitsbegriff aus.
Erst muß die Frau durch illegalen Schwangerschaftsabbruch krank geworden sein, um nach geltendem Recht Leistungen erhalten zu können.
Oft entstehen durch illegale Eingriffe schwerste gesundheitliche Dauerschäden, die dann entsprechend hohe Aufwendungen der sozialen Sicherung erfordern. Nach Auffassung meiner Fraktion sind sozialrechtliche Vorschriften, die zu solchen Konsequenzen führen, unsinnig und absurd. Sie widersprechen den Grundsätzen einer modernen Sozial-und Gesundheitspolitik.Viertens. Der Gesetzentwurf baut die sozial- und gesundheitspolitische Vorsorge weiter aus, die in der letzten Legislaturperiode zur Früherkennung bestimmter Krankheiten eingeleitet wurde. Die Sozialversicherung soll künftig einen Rechtsanspruch auf kostenfreie ärztliche Beratung in allen Fragen der Empfängnisregelung einschließlich der Verordnung von Verhütungsmitteln gewähren. Für sozial Schwache sollen darüber hinaus die Kosten für ärztlich verordnete empfängnisregelnde Mittel übernommen werden.Dadurch, daß die Familien- und Sexualberatung zu einem sozialrechtlichen Anspruch wird, erhält sie den Rang, der den tatsächlichen gesellschaftspolitischen Gegebenheiten von heute entspricht. Das soll dazu beitragen, einerseits den Willen zum Kind zu stärken, andererseits die schlimme Flut von Schwangerschaftsabbrüchen einzudämmen.Fünftens. Durch diesen Gesetzentwurf erhalten Frauen, die ein Kind erwarten, einen Rechtsanspruch auf uneingeschränkte ärztliche Beratung in allen Fragen, die der Erhaltung der Schwangerschaft dienen. Erstmals legt der Gesetzgeber einen solchen Rechtsanspruch auf umfassende Beratungsleistungen für schwangere Frauen ausdrücklich fest.Die sozialdemokratische Fraktion hat mit großem Erstaunen davon Kenntnis genommen, daß die CDU/ CSU durch die generelle Ablehnung des § 200 f Reichsversicherungsordnung gleichzeitig auch gegen den gesetzlichen Anspruch auf uneingeschränkte ärztliche Beratung von Frauen, die ein Kind erwarten, gestimmt hat. So verhält sich eineFraktion, die wie die CDU so viel vom Schutz des ungeborenen Lebens redet, dann, wenn es um die Abstimmung im Parlament geht!
Ein solches Verhalten halten wir für politisch höchst bedenklich.
Der von der sozialliberalen Koalition beschlossene umfassende Beratungsanspruch hat besondere Bedeutung für Frauen, die durch eine unerwünschte Schwangerschaft in eine ihnen ausweglos erscheinende Situation geraten sind. Die Beratung mit einem frei gewählten Arzt ihres Vertrauens kann diesen Frauen auch in ihrer seelischen Not helfen und sie möglichst vor unüberlegten Panikhandlungen bewahren. Nach Auffassung meiner Fraktion — wir befinden uns auch hier in voller Übereinstimmung mit unserem Koalitionspartner, mit dem dieser Entwurf gemeinsam erarbeitet wurde — bildet die Gewährung von Rechtsansprüchen auf dieses vielfältige Angebot an ärztlicher Beratung einen Schwerpunkt dieses Gesetzentwurfs.Sechstens. Die freiwillige Sterilisation und der legale Schwangerschaftsabbruch sollen durch den Gesetzentwurf zu Leistungen der sozialen Krankenversicherung werden. Die Gewährung dieser Leistung liegt durchaus im Rahmen der Aufgaben, die von der Solidargemeinschaft einer modernen Krankenversicherung zu erfüllen sind.
Meine Fraktion will durch den Gesetzentwurf erreichen, daß auch die ärztlichen Leistungen für freiwillige Sterilisation und den legalen Schwangerschaftsabbruch stets nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durchgeführt werden, und zwar unabhängig von der wirtschaftlichen Lage der Patienten. Das ist für uns Sozialdemokraten ein gesundheitspolitisches Erfordernis und ein unbedingtes Gebot sozialer Gerechtigkeit.
Siebtens. Nach Auffassung meiner Fraktion muß alles getan werden, damit unsere Industriegesellschaft endlich kinder- und familienfreundlicher wird. Wir wissen, daß dies noch große politische Anstrengungen erfordert. Aber die sozialliberale Koalition hat hier bereits Wichtiges erreicht. Dafür nur einige Beispiele:— die gesetzliche Festlegung des Rechtes der Mütter oder Väter auf umfangreiche Vorsorgeuntersuchungen für ihre Kleinkinder,— die Freistellung erwerbstätiger Mütter oder Väter bei Erkrankung ihres Kindes unter gleichzeitiger Krankengeldgewährung,— die Gewährung von Haushaltshilfe für Mütter oder Väter mit Kleinkindern bei Krankenhausaufenthalt oder Kuren,— die Schaffung eines kinderfreundlichen Adoptionsrechts.Durch die Reform des Familienlastenausgleiches im Rahmen der Steuerreform soll die wirtschaft-
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5766 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Dr. Schellenbergliche Lage der Familien mit Kindern verbessert werden. Das wird die sozialliberale Koalition zum 1. Januar nächsten Jahres durchsetzen,
damit im Steuerrecht endlich mehr Familiengerechtigkeit geschaffen wird.Gegenüber diesen vielfältigen Leistungen der sozialliberalen Koalition im Dienste des Kindes und der Familie hat die CDU/CSU an Gesetzesvorlagen fast nichts zu bieten. Ein Programm in Milliardenhöhe, wie es die CDU/CSU jetzt angekündigt hat, hilft den Familien erst einmal wenig. Auch mit ihrem noch schnell eingebrachten Entschließungsantrag kommt die CDU/CSU an der gesetzgeberischen Entscheidung, die jetzt zur Abstimmung ansteht, nicht vorbei.
Herr Abgeordneter Professor Schellenberg, ich darf Sie auf den Ablauf der Redezeit hinweisen.
Dr. 'Schellenberg : Ja, ich komme zum Schluß.
Hier und heute geht es um einen konkreten Gesetzgebungsbeschluß des Deutschen Bundestages über soziale und gesundheitliche Hilfen für Frauen, Männer und die Familien. Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein Schritt zu dem großen Ziel, daß die Kinder in unserem Land erwünscht, als Wunschkinder geboren werden.
Wegen der Bedeutung dieses Gesetzentwurfs beantragt meine Fraktion namentliche Abstimmung.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Wex.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unser Nein zu diesem Gesetzentwurf ist kein Nein zur ärztlichen Beratung, kein Nein zur ärztlichen Untersuchung und natürlich kein Nein zur medizinischen Indikation und Sterilisation, es ist ein Nein zu Ihrer Vorlage, den Schwangerschaftsabbruch ohne medizinische Notwendigkeit zu Lasten der Solidargemeinschaft der Krankenversicherung zu verankern.
Es ist ein Nein zu einem Gesetz, mit dem die Fristenlösung zu § 218 StGB nach unserer Meinung vorprogrammiert wird.
Von den Fraktionen des Hohen Hauses wurde immer wieder betont, daß eine Änderung des § 218 StGB nicht den Mittelpunkt bildet, sondern ein Teilstück des notwendigen sozialpolitischen Rahmenwerkes zur Hilfe der Frau und der Familie bedeuten soll. In diesem Punkt stimmen wohl alle Fraktionen überein, doch sollten wir uns jetzt fragen, wieweitdie hier vorliegenden Gesetzesänderungen überhaupt den sozialpolitisch notwendigen und heute morgen auch hier behaupteten und erhobenen Anspruch erfüllen können.Wir wollen das Wort von den zentralen sozialpolitischen Maßnahmen mit Leben erfüllen. Eine Änderung der Reichsversicherungsordnung und des Bundessozialhilfegesetzes reicht nach unserer Meinung dazu eben nicht aus. Die bestehenden und erkannten Probleme werden hierdurch nicht gelöst. Der Bundestag muß jetzt vielmehr unter Beweis stellen, daß er in der Lage ist, ganz neue Akzente zu setzen. Nur so kann es gelingen, der einzelnen Familie und der einzelnen Frau wirklich zu helfen. Es bedeutet keine Hilfe und letztlich nur eine tiefe Enttäuschung für die Betroffenen, wenn der Bundestag einen Weg für eine möglichst einfach durchzuführende Schwangerschaftsunterbrechung weist, wenn er aber nicht in der Lage ist, Wege aufzuzeigen, mit denen ein Schwangerschaftsabbruch aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen überflüssig werden kann.Der Bundestag steht nach unserer Meinung an einer Wendemarke, an der er eine Entscheidung darüber fällen muß, ob in diesem Lande mit hohem wirtschaftlichen Sozialprodukt wirtschaftliche und soziale Gründe ausreichen, ungeborenes Leben zu vernichten. Das Parlament muß sich an dieser Stelle doch herausgefordert fühlen. Wir stehen vor der Aufgabe, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß Kinder in Familien aufwachsen können, ohne daß damit ein unzumutbarer sozialer oder wirtschaftlicher Nachteil für Mütter oder Eltern verbunden ist. Wer die Wünsche nach einem Schwangerschaftsabbruch unvoreingenommen prüft und hier auch an diesem Punkt auf gänzlich unangebrachte Proben auf Emanzipation verzichtet, wird feststellen, daß sie vor allem in Bedenken vor solchen Ergebnissen begründet sind.Wir sind der Auffassung, daß der Bundestag ein deutliches Bekenntnis zum Neubeginn in der Familienpolitik ablegen soll. Wir schlagen daher Maßnahmen vor, die einen solchen Neubeginn bewirken können, an erster Stelle die Einführung eines Erziehungsgeldes. Damit soll klargemacht werden, welchen Wert die Betreuung und Erziehung der Kinder in den Familien hat, die gestaltend auf die Entwicklung junger Menschen einwirken. Staat und Gesellschaft können nicht verlangen, daß eine solche Aufgabe, die ja nicht nur für das Kind und die Familie wichtig ist, unter persönlichen Opfern geleistet wird.
Es handelt sich hierbei um eine Aufgabe für die Gesellschaft insgesamt, die auch von der Gesellschaft anerkannt werden muß.Wir wissen auf Grund wissenschaftlicher Untersuchungen ganz genau, daß die Chancengleichheit des jungen Menschen nicht erst in der Schule verspielt wird, wie wir vor einigen Jahren vielleicht noch angenommen haben, sondern bereits in den ersten Lebensjahren des Kindes. Wir sollten uns gemeinsam dafür einsetzen, daß bereits in dieser
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5767
Frau Dr. WexZeit die Kinder die gleichen Chancen erhalten. Wenn dabei davon ausgegangen wird, daß die Berufstätigkeit der Mutter es nicht zuläßt, das Kind innerhalb der Familie zu erziehen, so kann unsere Antwort darauf doch nur sein: Wir müssen die Möglichkeiten dazu schaffen, daß das geschehen kann. Dies um so mehr, als ja die Statistiken eindeutig ausweisen, daß Mütter kleiner Kinder in erster Linie aus wirtschaftlichen Erwägungen arbeiten gehen. Und hier sollten wir den Mut zu einem Angebot haben. Wir halten das Erziehungsgeld grundsätzlich bis zur Vollendung des 3. Lebensjahres für notwendig. Wir wissen aber genau, daß finanzielle Gründe hier ein großes Hindernis bilden. Darum schlagen wir eine erste Stufe vor, in der bei bestimmten Einkommensgrenzen ein Erziehungsgeld von 300 DM monatlich gezahlt wird und eine entsprechende Erhöhung für Alleinstehende oder geringverdienende Ehepaare, um die Betroffenen von der Sozialhilfe unabhängig zu machen.Nach unserer Meinung wäre dieses der wirksamste Schritt, gerade den Frauen, die aus wirtschaftlichen Gründen an einen Schwangerschaftsabbruch denken, zu zeigen: Wir wollen euch helfen, ihr seid nicht allein. Darum werden wir in den nächsten Wochen einen ganz konkreten Gesetzentwurf zum Erziehungsgeld einbringen, und wir werden — —
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bitte Sie freundlichst, der Frau Abgeordneten Dr. Wex die Möglichkeit zu geben, ihre Rede dem gesamten Haus zu Gehör zu bringen.
Wir werden dann das Märchen der Koalition von den Milliardenbeträgen entlarven. Wir werden zeigen, daß die erste Stufe, die wir vorschlagen, ungefähr 1,3 Milliarden Mark kostet. Dabei ist hier auch festzustellen: das Programm der Regierung mit seinen finanziellen Auswirkungen ist nicht das Programm der Opposition. Deswegen sind auch die ständigen Versuche der Koalition, finanzwirksame Anträge der Opposition als Mehrausgaben auf das Regierungsprogramm aufzuschlagen, ganz verfehlt. Wir setzen andere Prioritäten.
Weiter — um das zu erläutern — sollte der Deutsche Bundestag an der Verbesserung des Familienlastenausgleichs bis zum Januar 1975 festhalten. Dabei sollte angestrebt werden, daß auch Alleinverdienende mit durchschnittlichem Einkommen zusammen mit den Leistungen aus dem Familienlastenausgleich ein Gesamteinkommen erzielen, das über der Sozialhilfeschwelle liegt. Das gilt auch und besonders für kinderreiche Familien.
Der Bundestag darf vor der Entwicklung und den
Gefahren, die mit einer ständigen Schlechterstellung
unter anderem durch die inflationäre Entwicklung verbunden sind, die Augen nicht verschließen. Wenn sich die wirtschaftliche Situation vieler Familien seit 1969 kaum gebessert hat, dann ist das ein Alarmzeichen, das gerade der Deutsche Bundestag nicht überhören sollte.
Wenn Familien durch ihre Kinder in die Nähe von Sozialhilfeempfängern kommen, dann brauchen wir uns über Wünsche nach Schwangerschaftsunterbrechungen nicht sonderlich zu wundern.
Auch hier wäre ein Beitrag zu leisten, damit es nicht als Folge wirtschaftlicher Schwierigkeiten zu Schwangerschaftsabbrüchen kommt.
Zum Abschluß! Ein weiterer wichtiger Punkt ist die schwierige Lage, in der sich junge Menschen befinden, wenn sie eine Familie gründen wollen. Hier könnte die Einführung eines Familiengründungsdarlehens eine Milderung bewirken, und für die berufstätige Mutter wird es entscheidend sein, wenn die Mutterschutzfristen verlängert werden.
Unter Ziffer 5 unseres Entschließungsantrags haben wir andere Maßnahmen zusammengefaßt, die aber auch natürlich nach unserer Überzeugung nur in Abstimmung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden verwirklicht werden können.
Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, wir schlagen hier ein Programm nicht etwa deshalb vor, weil wir meinen, damit alles Notwendige oder auch nur Wünschenswerte erfaßt zu haben, sondern weil wir glauben, daß wir den wirklich bedrängten Frauen schnell eine Antwort auf ihre bohrenden Fragen nach dem Wert des Lebens in dieser Gesellschaft schuldig sind. Wir wollen nicht den Weg des geringsten Widerstandes gehen und die Verantwortung allein den Frauen zuweisen. Unsere Verantwortung für die Frauen geht weiter als nur bis zur Kostenübernahme der Abtreibung. Sie besteht aus dem Angebot von ganz anderer Qualität. Frau Focke hat heute morgen gesagt, es sei ein fataler Gedanke, wenn Frauen aus wirtschaftlichen Gründen zum Kurpfuscher gehen müßten. Wir sagen dazu: es wäre ein fataler Gedanke, die Frauen aus wirtschaftlichen Gründen zu zwingen, überhaupt eine Schwangerschaft abzubrechen.
Umfassende Hilfe für das Leben, ideelle und materielle Anerkennung der Erziehungsleistung der Familie 'und spürbare Entlastung für die Familie, als erster Schritt Erziehungsgeld — damit wird das Startsignal für eine neue Familienpolitik gegeben, die diesen Namen auch wirklich verdient und die wir dringend nötig hätten.
Meine Damen und Herren, damit ist gleichzeitig auch der Entschließungsantrag Drucksache 7/1843 begründet.
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5768 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Vizepräsident Dr. Schmitt-VockenhausenIn der Aussprache zur dritten Beratung erteile ich das Wort der Frau Abgeordneten Funcke.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Die FDP steht voll hinter der Fassung der Ausschüsse, die unter ihrer maßgeblichen Beteiligung erarbeitet worden ist. Sie sieht darin einen entscheidenden Beitrag dafür, daß das Elend der zahllosen illegalen Abtreibungen mit all der Heimlichkeit, der Angst, der Erniedrigung, der sozialen Ungerechtigkeit, der Unberatenheit und nicht zuletzt der gesundheitlichen Folgeschäden endlich durch vorbeugende Maßnahmen verhindert wird.
Liebe Frau Kollegin Wex, niemand wird durch unsere Maßnahmen gezwungen abzutreiben;
das war wohl ein falscher Zungenschlag in Ihrer Rede. Aber wir wollen helfen, mit diesem Elend endlich aufzuräumen.
Unser Bestreben ist, daß Kinder erwünscht und willkommen geboren werden und daß deswegen rechtzeitig alles getan wird, um ungewünschte Schwangerschaften und damit die — auch von uns — ungewünschten Abtreibungen zu verhindern.
Wir halten dazu selbstverständlich weitere familienpolitische Maßnahmen für notwendig, Frau Kollegin Wex. Aber sie müssen schon etwas präziser vorgebracht werden. Sie müssen nicht nur verbal angekündigt werden, sondern auch finanziell abgesichert sein.
Was hier auf den Tisch gelegt wurde, kostet, je nachdem, wie Sie es rechnen — es ist ja sehr unpräzis —, 7 bis 15 Milliarden DM. Und das, während die CDU/CSU gleichzeitig ein Milliardenprogramm an Steuersenkungen vorlegt und während sie von Prioritäten spricht — das haben auch Sie getan, Frau Kollegin —, ohne auch nur ein einziges Mal jene Positionen im Etat zu nennen, die dann nach Ihrer Auffassung zurückgestellt werden müßten;
denn jede Priorität setzt doch wohl voraus, daß dann etwas anderes zurückgedrängt werden muß.
Wir wären Ihnen auch dankbar, meine Herren und Damen von der CDU, wenn Sie uns einmal wissen ließen, was Sie beim Familienlastenausgleich denn in der Praxis wollen. Ihre Formulierung „an der Neuordnung des Familienlastenausgleichs zum 1. Januar 1975 ist unbedingt festzuhalten" sagt sehr wenig, wenn auf der einen Seite ein Gesetzentwurf der bayerischen CSU-Regierung vorgelegt wird, wonach die Steuerermäßigungen vergrößert werden sollen, während andererseits Teile der CDU ein gleichmäßiges Kindergeld für alle wollen. Sie müssen schon einmal sagen, was die Meinung der CDU/ CSU ist, vor allen Dingen, wenn Sie es ebenso eilig haben wie wir, eine Regelung zum 1. Januar 1975 durchzusetzen.
Meine Damen und Herren, wer als verantwortungsbewußte Partei Versprechungen ohne Deckung macht, kann wohl vorübergehend Wahlen gewinnen. Aber Sie müssen bedenken: Eines Tages wird der erwartungsvolle Wähler auch die Einlösung ver- langen.
Wir wissen, daß wir in fünf Wochen diese Debatte fortsetzen. Ich möchte hoffen, meine Damen und Herren von der Opposition, daß sie dann mit etwas mehr Respekt vor der Not anderer Menschen und mit mehr mitmenschlichem Verständnis für die Frau von Ihrer Seite geführt wird.
Frau Kollegin Verhülsdonk, nicht nur Herr Glombig hat die Kälte Ihrer Ausführungen empfunden. Haben Sie sich eigentlich noch nie von der Not und der Verzweiflung einer betroffenen Frau einfach als Mensch und ganz ohne vorgefaßte Meinung anrühren lassen? Sind Sie denn wirklich der Meinung, daß menschliche Not nur dann menschliche Not ist, wenn sie von Dritten „objektiv" als solche festgestellt wird?
Und soll nur diejenige Frau, die es bezahlen kann, einen Arzt finden?
Lassen Sie mich abschließend noch einmal ein Wort zur Übernahme der Kosten des Eingriffs durch die Versicherungsgemeinschaft sagen. Ich verstehe sehr wohl die Einwendungen;
aber sind sie nicht etwas vordergründig? Was geschieht denn, wenn wir es anders machen? Erstens bleibt dann die finanziell schlechtgestellte Frau weiterhin beim Pfuscher, weil es billiger ist, und damit unterliegt sie einem erheblich größeren gesundheitlichen Risiko als die Frau, die sich den Arzt leisten kann und auch den Arzt findet.
Zweitens entstehen dann Gewinnkliniken nach englischem Muster. Meine Damen und Herren von der CDU, wollen Sie das wirklich? Und letztlich bleibt es auf Kosten der Versicherungsgemeinschaft und auf Kosten des Arbeitgebers bei der großen Zahl von Krankheitstagen als Folge illegaler Eingriffe.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich muß den Appell, den ich schon bei der Rede der Frau Kolegin Dr. Wex an Sie richten mußte, wiederholen. Auch wenn die namentliche Abstimmung unmittelbar bevorsteht, bitte ich Sie, der Frau Kollegin
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5769
Vizepräsident Dr. Schmitt-VockenhausenFuncke die Möglichkeit zu geben, ihre Rede an das Haus richten zu können.
Vielen Dank!
Den Versicherungsträgern wird ein Betrag von 55 Millionen DM jährlich vom Bund gegeben, und wir werden bei den künftigen Entwicklungen sehen, inwieweit ,dieser Betrag ausreicht.
Herr Kollege Lenz, ein Wort zu Ihnen und zu Ihrem Einwand. Sie meinen, eine Übernahme der Krankenkosten durch die Krankenkasse bedeute, daß damit der Schwangerschaftsabbruch rechtlich oder ethisch sanktioniert würde. Herr Kollege Lenz, sind Sie denn etwa der Meinung, daß Trunkenheit am Steuer dadurch ethisch oder rechtlich gerechtfertigt wäre, daß der verunglückte Fahrer heute auf Kosten ,der Krankenkasse wieder geflickt wird?
Oder wie ist es bei Verletzungen, die bei Schlägereien oder anderen Unrechtstaten entstehen? Auch diese werden heute durch die Krankenversicherungsgemeinschaft bezahlt, ohne daß dadurch eine ethische Rechtfertigung der Ursache erfolgt.
Ich glaube, wir sollten hier sehr deutlich den Unterschied sehen und klarmachen, der nach unserer Auffassung zwischen der ethischen Beurteilung, der strafrechtlichen Regelung und der versicherungsrechtlichen Behandlung besteht. Meine Herren und Damen, wenn wir das alles einheitlich behandeln wollen, werden wir zu abenteuerlichen Entwicklungen in unserem Land kommen.
Die FDP bedauert, daß sich die Opposition zu den sozialpolitischen Maßnahmen in Verbindung mit dem Elend der Schwangerschaftsabbrüche nicht bereitfinden kann. Wir hatten nach früheren Aussagen gehofft und erwartet, daß Sie gerade den vorbeugenden, beratenden und helfenden Maßnahmen ein großes Gewicht beimessen würden. Leider sehen wir uns darin getäuscht; wir bedauern das.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache in der dritten Beratung.Es ist namentliche Abstimmung beantragt; der Antrag ist ausreichend unterstützt. Wir stimmen über das Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz in namentlicher Abstimmung ab. —Meine Damen und Herren, ich schlage vor, in den Beratungen fortzufahren und inzwischen den Entschließungsantrag Drucksache 7/1843 zu behandeln. Ich schlage Ihnen vor, den Antrag dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — federführend —, dem Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit, dem Finanzausschuß und dem Haushaltsausschuß — jeweils mitberatend — zu überweisen. Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen. —Ich gebe das Ergebnis der namentlichen Abstimmung über das Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz bekannt. An der Abstimmung haben sich insgesamt 422 Abgeordnete und 20 Berliner Abgeordnete beteiligt. Mit Ja haben 229 Mitglieder des Hauses und 16 Berliner Abgeordnete gestimmt. Mit Nein haben 193 Abgeordnete und 4 Berliner Abgeordnete gestimmt.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen 422 und 20 Berliner Abgeordnete; davonJa: 229 und 16 Berliner AbgeordneteNein: 193 und 4 Berliner AbgeordneteJaSPDAmling Anbuhl Dr. ApelArendt AugsteinBaackBäuerle Barche BahrDr. BardensBatzDr. BayerlBecker BerkhanBiermannBlankDr. Böhme BörnerFrau von Bothmer BrandtBrandt BredlBrückBuchstallerBüchler
Büchner
Dr. von Bülow BuschfortDr. BußmannCollet Conradi CoppikDr. von Dohnanyi DürrDr. EhmkeDr. EhrenbergFrau Eilers Dr. EmmerlichDr. EndersEngholmEsters EwenDr. FarthmannFiebigFrau Dr. Focke Franke FriedrichGansel GeigerGerstl GertzenDr. GeßnerGlombigDr. GlotzGnädingerGrobecker GrunenbergDr. HaackHaarHaase
Haase
HaehserDr. HaenschkeHalfmeier Hansen HauckDr. Hauff HenkeHermsdorf HeroldHöhmann Hofmann Dr. Holtz HornFrau HuberHuonker ImmerJahn
Jaschke Jaunich Dr. Jens JunkerKaffkaKaterKernKoblitz Konrad KratzDr. KreutzmannKulawig Lambinus Lattmann LautenschlagerLempLendersFrau Dr. LepsiusLiedtke Löbbert LutzMahneMarquardtMarschall Matthöfer Frau MeermannDr. Meinecke Meinicke (Oberhausen) MetzgerMöhringMüller
Müller
Müller
Müller
Dr. Müller-EmmertNagelNeumann Dr. NöllingOffergeld Frau Dr. OrthFreiherrOstman von der Leye PawelczykPeiterDr. PennerPensky Polkehn Porzner
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5770 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Vizepräsident Dr. Schmitt-VockenhausenRapp
Rappe
ReiserFrau Dr. Riedel-Martiny RohdeRosenthal SanderSaxowskiDr. Schachtschabel Schäfer
Dr. Schäfer SchefflerFrau SchimschokSchinzel Schirmer SchluckebierDr. Schmidt Schmidt (München) Schmidt (Niederselters) Schmidt (Würgendorf)Dr. Schmitt-Vockenhausen Dr. SchmudeDr. SchöfbergerSchreiber Schulte
SchwabeDr. SchweitzerDr. SchwenckeSimonSimpfendörferDr. Slotta Dr. SperlingSpilleckeStahl
Dr. Stienen SuckSundFrau Dr. TimmTönjesUrbaniak Vahlberg VitDr. Vogel VogelsangWalkhoff WaltematheWalther Wehner WendeWendtDr. Wernitz Westphal Dr. WichertWiefelWienand Wilhelm WischnewskiDr. de WithWittmann WolfWolfram WredeWürtzWüsterWuttkeWuwerZanderZebisch ZeitlerBerliner AbgeordneteBühlingDr. DübberEgertFrau GrützmannHeyen Löffler Mattick Dr. SchellenbergFrau SchleiSchwedlerSieglerschmidt WurcheFDPDr. BangemannBaumDr. Böger ChristEngelhard Frau Funcke GallusGeldnerGraaffGrünerDr. Hirsch Hölscher HoffieJungKirstKleinertKrallDr. Graf Lambsdorff Frau LüdemannDr. h. c. Maihofer Mertes Mischnick Möllemann MoerschOlleschOpitzRonneburgerScheelSchmidt von Schoeler SpitzmüllerDr. Vohrer WurbsZywietzBerliner Abgeordnete HoppeCDU/CSUSickBerliner AbgeordneteFrau Berger Dr. Schulz (Berlin) WohlrabeNeinCDU/CSUDr. Abelein Dr. Aigner Albervon Alten-Nordheim Dr. AlthammerDr. Arnold BaierDr. BarzelDr. Becher Dr. Becker
Frau Benedix
BenzBergerBewerunge BiecheleBiehleDr. Dr. h. c. Birrenbach Dr. von BismarckDr. Blümvon BockelbergBraunBreidbachBremerBremmDr. BurgbacherBurgerCarstens
Dr. Carstens Dr. CzajaDammDr. DollingerDr. Dregger DreyerEigenEngelsbergerEntrupErhard ErnestiDr. Evers EyDr. Eyrich FerrangFreiherr von Fircks Franke
Dr. Franz Dr. FrerichsDr. Früh Dr. Fuchs GeisenhoferGerlach Gerster (Mainz) GewandtGierensteinDr. Gölter Dr. Götz Dr. Gruhl Haase
Dr. Häfele Dr. Hammansvon Hassel Hauser
Hauser (Krefeld)
Dr. Hauser
Dr. Heck HöslDr. Hornhues HorstmeierFrau HürlandDr. Hupka Hussing Dr. JaegerJäger
Dr. Jahn
Dr. JenningerDr. Jobst JostenKatzerDr. KempflerKiechleDr. Klein
Dr. Klein
Dr. KliesingDr. Köhler
Dr. Köhler KösterKrampe Kroll-SchlüterFreiherrvon Kühlmann-Stumm Dr. Kunz LagershausenLeichtDr. Lenz LinkLöherDr. Marx Maucher MemmelDr. Mertes MickDr. Mikat Dr. MiltnerMilzMöller
Dr. Müller Müller (Remscheid)Dr. Müller-Hermann Mursch Dr. NarjesFrau Dr. Neumeister NiegelNordlohneDr.-Ing. OldenstädtOrgaß PfeffermannPfeifer Picard PohlmannDr. PrasslerDr. ProbstRainer Rawe ReddemannFrau Dr. Riede
Dr. Riedl
Dr. RitgenDr. Ritz Röhner RollmannRommerskirchenRoser Russe Sauer
Sauter
Dr. SchäubleSchedlFrau Schleicher SchmidhuberSchmitt Schmitz (Baesweiler) SchmöleDr. SchneiderFrau Schroeder Dr. Schröder (Düsseldorf) Schröder (Lüneburg) Schröder (Wilhelminenhof) Schulte
Dr. Schulze-Vorberg Seiters
SolkeDr. Freiherr Spies von Büllesheim SprangerDr. SprungDr. Stark
Graf StauffenbergDr. StavenhagenFrau StommelStrauß StücklenSusset de TerraThürk TillmannFrau TüblerDr. UnlandVeharFrau VerhülsdonkVogel
VogtVolmerDr. Waffenschmidt Wagner
Dr. Wagner
Dr. WaigelDr. WallmannFrau Dr. WalzDr. WarnkeWawrzikDr. Freiherrvon Weizsäcker WernerFrau Dr. Wex
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5771
Vizepräsident Dr. Schmitt-VockenhausenFrau Will-Feld ZieglerWindelen ZinkWissebach ZoglmannDr. Wittmann
Dr. Wörner Berliner AbgeordneteFrau Dr. WolfBaron von Wrangel Dr. GradlDr. Wulff Kunz
Dr. Zeitel Frau PieserZeyer StraßmeirDamit ist das Gesetz in der dritten Beratung angenommen.Wir haben noch über die Anträge des Ausschusses abzustimmen. Ich frage Sie, ob ich über die Ziffern 2 und 3 — Drucksache 7/1753, Seite 4 — gemeinsam abstimmen lassen kann. — Keine Bedenken. Wer den Ausschußanträgen unter den Ziffern 2 und 3 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Es ist so beschlossen.Wir treten in die Mittagspause ein. Die Sitzung wird um 14 Uhr mit der Fragestunde fortgesetzt. Die Sitzung ist unterbrochen.
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich trete in die
Fragestunde
— Drucksache 7/1816 —
ein.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf und teile mit, daß die Fragen 72, 73, 74, 75 und 77 auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Die Frage 76 ist vom Fragesteller zurückgezogen worden.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramts. Zur Beantwortung steht Herr Minister Bahr zur Verfügung.
Die Frage 25 wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 26 des Abgeordneten Friedrich auf:
Hat Bundesminister Bahr vor seiner Moskauer Reise die Regierung der Vereinigten Staaten unterrichtet?
Der Abgeordnete ist anwesend. Zur Beantwortung Herr Bundesminister Bahr, bitte!
Herr Abgeordneter, während meines Besuches in den USA an der Monatswende Januar/Februar habe ich mit zahlreichen Mitgliedern der amerikanischen Regierung über meine bevorstehende Reise in die Sowjetunion gesprochen. In Washington wurden die
Fragen der wirtschaftlichen Kooperation erörtert, die Erfahrungen, die die Amerikaner dabei machen, die Absichten, die sie zur weiteren Entwicklung haben. Ich habe drüben gesagt, wie wichtig dies für uns ist, gerade weil ich ähnliche Themen auch in Moskau erörtern würde. Das Berlin-Problem und langfristige Wirtschaftsfragen standen auch im Mittelpunkt meiner Gespräche mit Außenminister Kissinger.
Eine Zusatzfrage der Abgeordnete Friedrich.
Herr Minister, wurde über Abhängigkeiten gesprochen, die durch den Osthandel mit westlichen Industriestaaten entstehen könnten?
Auch darüber wurde gesprochen, Herr Kollege. Wir waren uns darüber einig, daß auf einzelnen Sektoren Lieferverpflichtungen in Höhe von 12 bis 15% die Grenze darstellen, jenseits derer die Gefahr von Abhängigkeiten entstehen könnte. Wir waren uns auch darüber einig, daß solche Abhängigkeiten vermieden werden müssen.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 27 des Abgeordneten Friedrich auf:
Inwieweit waren bei den Gesprächen in Moskau die Handelsbeziehungen der Sowjetunion besonders mit den USA und Frankreich von Bedeutung, und gewähren andere Länder bei Exporten in die Sowjetunion Vergünstigungen, und mußte Bundesminister Bahr bei Antritt seiner Reise den Eindruck haben, daß die deutsche Industrie der Ausweitung unserer Handelsbeziehungen zurückhaltend gegenüberstehe, und sieht man in der Fortentwicklung des Handels mit der Sowjetunion eine Gefährdung unserer Arbeitsplätze?
Zur Beantwortung Herr Bundesminister, bitte!
Herr Kollege, Ihre zweite Frage darf ich mir erlauben in vier Teilen zu beantworten.Erstens: Wieweit waren bei den Gesprächen in Moskau die Handelsbeziehungen besonders mit den USA und Frankreich von Bedeutung?Man sagt, daß diese beiden Staaten neben der Bundesrepublik Deutschland die beiden wichtigsten westlichen Handelspartner für die Sowjetunion sind. Das hat insofern eine Rolle gespielt, als die sowjetischen Gesprächspartner darauf hinwiesen, daß sich die Handelsbeziehungen zu diesen beiden Ländern schneller entwickeln, die Zuwachsraten also größer sind als die im Handel mit der Bundesrepublik Deutschland.Zweitens: Gewähren andere Länder bei Exporten in die Sowjetunion Vergünstigungen?Verschiedene westliche Staaten fördern ihren Export auf verschiedene Weise, darunter auch mit direkten Zinsverbilligungen. Diese Vergünstigungen gelten auch für Exporte in die Sowjetunion. Bei den Besprechungen in Moskau wurde darauf von sowjetischer Seite auch ausdrücklich und mehrfach hingewiesen, und zwar als Begründung für die relativ stärkere Ausweitung des Handels solcher Staaten
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5772 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Bundesminister Bahrmit der Sowjetunion im Vergleich zur Bundesrepublik. Es ist nicht zu verkennen, daß die bekannte Position der Bundesregierung, Zinsverbilligungen zur Förderung des Exports in Staatshandelsländer nicht vorzunehmen, auf die Dauer nicht leichter durchzuhalten sein wird, wenn die Praxis von Exportzinssubventionen durch unsere westlichen Partner unverändert weitergeführt wird.Drittens. Mußte Bundesminister Bahr bei Antritt seiner Reise den Eindruck haben, daß die deutsche Industrie der Ausweitung unserer Handelsbeziehungen zurückhaltend gegenübersteht?Antwort: Nein. Ich hatte im Gegenteil den Eindruck, daß z. B. der Präsident des DIHT, Wolf von Amerongen, kurz vor meiner Reise formuliert hat, er begrüße die Kooperation sowohl im Sinne der Erweiterung des Volumens des Warenverkehrs und einer kontinuierlichen Zusammenarbeit als auch im Sinne der internationalen Arbeitsteilung in einer sich technisch schnell entwickelnden Welt. Die Steigerung des Handelsvolumens um rund 40 °h im vergangenen Jahr im Handel zwischen der . Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion drückt ebenfalls ein aktives Interesse der deutschen Wirtschaft aus. Das läßt sich auch für eine Reihe von Projekten sagen, über die deutsche Firmen sprechen, weil ihnen eine Beteiligung interessant erscheint. Ohne die im Prinzip positive Einstellung der deutschen Wirtschaft hätten Gespräche auf Regierungsebene über Fragen der Kooperation keinen Sinn.Schließlich viertens: Sieht man in der Fortentwicklung des Handels mit der Sowjetunion eine Gefährdung unserer Arbeitsplätze?Die Bundesregierung sieht in der Fortentwicklung des deutsch-sowjetischen Handels eher die Chance, Arbeitsplätze zu sichern oder neu zu schaffen.
Zusatzfrage.
Herr Minister, es ist in Presseveröffentlichungen behauptet worden, daß ein intensiver Osthandel Arbeitsplätze in der Bundesrepublik gefährde. Sind aus der Industrie Befürchtungen dieser Art an Sie herangetragen worden?
Nein. Auch vom Ostausschuß der deutschen Wirtschaft habe ich eine solche Auffassung nicht gehört. Im Gegenteil, es gibt einige deutsche Firmen, die auf Grund ihrer Erfahrungen von einer Erleichterung der Arbeitsplatzlage sprechen.
Zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Friedrich.
Können Sie, Herr Minister, etwas zu den Projekten sagen, über die gesprochen worden ist, oder ist das noch im Schwebezustand?
Es haben über eine Reihe von Projekten Unterhaltungen stattgefunden, die zum allergrößten Teil noch nicht beendet sind. Eine Reihe von deutschen Firmenvertretern verhandelt zur Zeit in der Sowjetunion. Andere Projekte sind noch in einem Frühstadium der Diskussion.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Werner.
Herr Bundesminister, wie groß schätzt denn die Bundesregierung insgesamt die Möglichkeit der Ausweitung der deutsch-sowjetischen Handelsbeziehungen, ausgedrückt in Zahlen, ein? Darüber kommt es ja immer wieder zu Diskussionen in der Öffentlichkeit.
Die Ausweitung des deutsch-sowjetischen Handels wird vom Interesse der Bundesrepublik Deutschland diktiert, und dies muß man im einzelnen Fall sehen. Ich glaube, es wäre völlig falsch, hier Generalziffern nennen zu wollen. Ich meine aber, daß der Umfang des deutsch-sowjetischen Handels bei weitem nicht das Maß erreicht hat, das er haben könnte. Zur Zeit hat der Handel zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion einen materiellen Umfang, der den des Handels zwischen der Bundesrepublik und Belgien nicht ganz erreicht.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Brück.
Herr Bundesminister, können Sie etwas über die Höhe der Zinsvergünstigungen sagen, die die USA oder Frankreich im Handel mit der Sowjetunion oder mit anderen Staaten des Warschauer Pakts gewähren?
Dies ist der Bundesrepublik amtlich nicht bekannt. Es gibt eine Reihe von Hinweisen, die sich unserer Nachprüfung zum Teil entziehen. Was die amerikanische Seite angeht, so ist bekannt, daß die ExportImport-Bank für Exporte und Importe, die im Interesse der Vereinigten Staaten liegen, zu einem gewissen Prozentsatz 6 % Zinsen vorsieht. Es gibt andere europäische Länder — das gilt auch für Japan —, in denen die Zinsen zum Teil etwas darunter liegen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Hupka.
Herr Bundesminister, können Sie uns vielleicht sagen, um wieviel Prozent der Handel mit der Sowjetunion im letzten Jahr zugenommen hat, ohne daß überhaupt von Zinssubventionen die Rede war?
Dies habe ich gerade gesagt, Herr Dr. Hupka: um 40 %.
— Jawohl.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5773
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Mertes.
Herr Bundesminister, trifft es zu, daß der Handel der Bundesrepublik Deutschland mit der Sowjetunion unter dem Handel der westlichen Länder die stärkste Position einnimmt, und können Sie mir bestätigen, daß die uns bekannten Exportsubventionen westlicher Länder nicht auf bestimmte Länder angelegt sind, sondern eine universale Ausrichtung im Rahmen des Gesamtaußenhandels dieser Länder haben?
Ich hatte vorhin betont, Herr Kollege, daß auch die Sowjetunion, d. h. nicht nur sie, in den Genuß dieser Zinssubventionen kommt. Das zum Teil 1 Ihrer Frage.
Zu Teil 2: Ich hatte vorhin gesagt oder zu sagen versucht, daß nicht die absolute Höhe der entscheidende Faktor ist, sondern die Zuwachsraten, und diese Zuwachsraten betrugen im vergangenen Jahr —ich habe das soeben auf eine Frage hin bestätigt—bei uns 40 %; für Frankreich lagen sie zwischen 45 und 50 %, und für Amerika haben sie sich verdoppelt, d. h. um 100 % zugenommen, und zwar ohne den Verkauf von Weizen, der noch einmal 100% ausmachen würde.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Kreutzmann.
Herr Bundesminister, können Sie bestätigen, daß die Sowjetunion zwar bei der Abnahme von Waren sehr genau prüft, aber auch sehr prompt im Bezahlen ist?
Wir haben bisher keinen einzigen Fall genannt bekommen, wo eine Bezahlung in einer irgendwie gearteten Weise hätte moniert werden müssen.
— Das ist nichts Neues.
Ich rufe die Frage 28 des Abgeordneten Dr. Riedl auf. — Der Fragesteller ist nicht anwesend; die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage. abgedruckt.
Die Frage 29 des Abgeordneten Dr. Zimmermann ist vom Fragesteller zurückgezogen worden.
Ich danke Ihnen, Herr Bundesminister, für die Beantwortung der Fragen aus Ihrem Geschäftsbereich.
Wird sich die Bundesregierung um einen Sitz für die Bundesrepublik Deutschland im Ausschuß für Menschenrechte gemäß Artikel 28 des Internationalen Pakts vom 19. Dezember 1966 über bürgerliche und politische Rechte bewerben, und welche Schritte hat die Bundesregierung seit der Ratifikation des Pakts
unternommen, um darauf hinzuwirken, daß durch den Beitritt weiterer Staaten der westlichen Welt zu dem Pakt eine ausgewogene Zusammensetzung des Ausschusses für Menschenrechte erreicht wird?
Zur Beantwortung der Herr Parlamentarische Staatssekretär Moersch.
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung wird sich dafür einsetzen, daß dem Ausschuß für Menschenrechte, der nach Artikel 28 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 vorgesehen ist, auch ein Mitglied aus der Bundesrepublik Deutschland angehört. Der Ausschuß kann allerdings erst errichtet werden, wenn der Internationale Pakt in Kraft getreten ist. Die Frage der Ratifizierung des Paktes wird von anderen westlichen Staaten zur Zeit noch geprüft. Die Bundesregierung würde es gerade auch im Hinblick auf eine ausgewogene Zusammensetzung des Ausschusses sehr begrüßen, wenn weitere Staaten der westlichen Welt den Pakt ratifizieren oder ihm beitreten würden. Sie hofft auch, daß von der Ratifizierung des Paktes durch die Bundesrepublik Deutschland noch während der 28. Generalversammlung anläßlich des 25. Jahrestages der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte eine gewisse Signalwirkung ausgeht.
Im übrigen ist noch zu bemerken, daß der Pakt selbst bereits Bestimmungen für eine ausgewogene Zusammensetzung des Ausschusses enthält. Nach Artikel 31 Absatz 2 ist bei den Wahlen zum Ausschuß auf eine gerechte geographische Verteilung der Sitze und auf die Vertretung der verschiedenen I Zivilisationsformen sowie der hauptsächlichen Rechtssysteme zu achten.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Jäger .
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung bezüglich des von Ihnen hier bestätigten Wunsches, Mitglied im Menschenrechtsausschuß zu werden, ,bereits Gespräche mit unseren westlichen Nachbarn und mit unseren westlichen Verbündeten geführt?
Herr Abgeordneter, in all diesen Fragen halten wir engen Kontakt, nicht zuletzt in Form der europäischen politischen Zusammenarbeit. Aber auch der Kontakt am Ort, wo diese Dinge entschieden werden, in New York, ist regelmäßig. Zur Zeit haben wir den Vorsitz in diesem Kreis der Neun.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Jäger.
Herr Staatssekretär, ist sich die Bundesregierung darüber im klaren, daß die von Ihnen zum Schluß Ihrer Antwort auf meine Frage zitierte Bestimmung des Artikels 31 nur ein formales Gewicht hätte, wenn es so käme, daß bei Inkrafttreten dieses Paktes die Zusammensetzung
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5774 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Jäger
der dann am Pakt beteiligten Staaten einseitig im Sinne des Ostblocks wäre und diese Staaten dann im wesentlichen bestimmen könnten, wie der Ausschuß zusammengesetzt ist?
Wenn das so wäre, hätten Sie recht; nur haben alle Organe der Vereinten Nationen, vom Sicherheitsrat angefangen, jeweils ein bestimmtes Quorum für eine ganz bestimmte geographische Verteilung. Das Wort „geographische Verteilung" bezieht sich auf die bisherige Praxis der Vereinten Nationen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Wischnewski.
Herr Staatssekretär, wundert es Sie wie mich, daß solche Fragen von der Fraktion kommen, die mit Mehrheit gegen den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu den Vereinten Nationen gestimmt hat?
Herr Abgeordneter, es ist nicht das erste Mal, daß sich Abgeordnete besonders um die Fragen kümmern, gegen die sie grundsätzlich eingestellt sind.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Mertes.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß die Menschenrechte als solche bereits geltendes Recht sind? Und wie gedenkt die Bundesregierung der Tatsache entgegenzuwirken, daß diese Menschenrechte heute vor allem als kollektive Menschenrechte im Sinne des sogenannten Nord-Süd-Konflikts verstanden werden, während die individuellen Menschenrechte im Ost-West-Konflikt zu kurz kommen?
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung bemüht sich überall, für ihre Auffassung von Individualrechten zu werben und ihr Geltung zu verschaffen. Der Fragenkomplex, um den es hier geht, ist in der Tat sowohl ein NordSüd-Problem als auch ein Ost-West-Problem. Das haben wir, glaube ich, auch bei der Erörterung in diesem Hause und in den zuständigen Ausschüssen ausdrücklich dargelegt.
Ich möchte hinzufügen: Wir haben ja innerhalb des Europarats eine besondere Menschenrechtskommission in Straßburg. Ich glaube, daß hier eine sehr gute Arbeit in unserem Sinne geleistet wird.
Keine weitere Zusatzfrage.
Die Frage 31 des Herrn Abgeordneten Dr. Fuchs wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 32 des Herrn Abgeordneten Kern auf:
Welche Rolle spielt die wirtschaftliche Kooperation im Rahmen der Entspannung zwischen Ost und West?
Zur Beantwortung, bitte, Herr Staatssekretär.
Herr Abgeordneter, bis in die 60er Jahre galt der Satz der Unabhängigkeit der Wirtschaftsbeziehungen von der politischen Großwetterlage. Diese Erkenntnis behält ihre Gültigkeit für den Bereich des Handels. Sie trifft jedoch nicht für die in den letzten Jahren mit osteuropäischen Staatshandelsländern entwickelte wirtschaftliche Zusammenarbeit in Form der Kooperation zu.
Kooperation setzt, da sie langfristig konzipiert ist, gegenseitiges Vertrauen voraus und schafft zusätzliches Vertrauen. Wir halten eine solche Kooperation für besser als irgendeine Form der Konfrontation und unterstützen daher die Kooperation nachdrücklich. Wir bewerten die Kooperationswilligkeit osteuropäischer Staatshandelsländer als ein positives Element des Entspannungsprozesses.
Keine Zusatzfrage. Ich rufe die Frage 33 des Herrn Abgeordneten Kern auf:
Welche Erfahrungen in den Vereinigten Staaten auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Kooperation mit der Sowjetunion sind auch fur die Bundesrepublik Deutschland von Interesse?
Zur Beantwortung, Herr Staatssekretär.
Herr Abgeordneter, ,die Vereinigten Staaten haben in ihren Wirtschaftsbeziehungen zur Sowjetunion die folgenden Bereiche gemeinsamen Interesses festgestellt: Erstens Zusammenarbeit bei der Erschließung von Energiequellen, zweitens die Zusammenarbeit bei der Produktion von energieintensiven Erzeugnissen, insbesondere aus dem chemischen Bereich, drittens die Zusammenarbeit bei der Verwendung von modernen Technologien und von technischem Knowhow. Diese Bereiche der Zusammenarbeit sind auch für die Bundesregierung bei der Ausgestaltung ihrer Beziehungen zur Sowjetunion von Interesse.Es war daher für die Bundesregierung sehr wichtig, mit der amerikanischen Administration über gemeinsame Erfahrungen in den Wirtschaftsbeziehungen mit der Sowjetunion einen Dialog zu führen. Ich verweise auf das, was Minister Bahr soeben hier ausgeführt hat. Als Ergebnis dieses Dialogs ist festzuhalten, daß auch die Amerikaner be- strebt sind, ihre Wirtschaftsbeziehungen zur Sowjetunion auf einer möglichst breiten Grundlage anzulegen. Wie bei uns sind sich auch bei den Amerikanern Wirtschaftskreise und Administration darin einig, daß der Erfahrungsaustausch mit der Sowjetunion — insbesondere auf wissenschaftlichtechnologischem Gebiet — keine Einbahnstraße
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5775
Parl. Staatssekretär Moerschwerden sollte. Nur der Austausch von Erfahrungen zwischen Ost und West schafft die Voraussetzungen für einen breiten Spielraum unserer künftigen Handels- und Kooperationsbeziehungen.
Keine Zusatzfrage.
Die Fragen 34 und 35 wurden bereits bei den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern beantwortet.
Ich rufe die Frage 36 des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka auf:
Verfügt die Bundesregierung über genügende Nachweise, die die Behauptung bestätigen oder rechtfertigen, daß der Volksrepublik Polen wirtschaftliche Schwierigkeiten auf Grund der Aussiedlung entstanden sind oder entstehen können?
Zur Beantwortung, bitte, Herr Staatssekretär.
Herr Abgeordneter, ich darf darauf verweisen, daß ich eine inhaltlich gleiche Frage bereits in der Fragestunde am 14. Februar dieses Jahres beantwortet habe. Inzwischen habe ich auch auf Ihren Wunsch hin das Bundesministerium des Innern gebeten, Ihnen den Bericht des Beauftragten der Bundesregierung für die Verteilung im Grenzdurchgangslager Friedland vom 11. Januar 1974 zu übermitteln, der eine Zusammenfassung für das zweite Halbjahr 1973 enthält.
Im übrigen darf ich auf meine Ausführungen im Protokoll über die 79. Sitzung des Deutschen Bundestages am 14. Februar 1974 Bezug nehmen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka.
Wieso kommt es aber, Herr Staatssekretär, daß immer wieder seitens der Bundesregierung behauptet wird — ohne daß Beweise vorliegen —, es gebe wirtschaftliche Gründe für die rückläufige Aussiedlung?
Ich habe darauf hingewiesen, daß von polnischer Seite auch wirtschaftliche Gründe ins Feld geführt werden. Ich habe mir diese Auffassung nicht in dieser Art zu eigen gemacht, wie sie eben von Ihnen zitiert wurde.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka.
Herr Staatssekretär, die Bundesregierung muß aber doch dazu Position beziehen, wenn seitens der polnischen Regierung wirtschaftliche Gründe vorgetragen werden und wir nicht den Eindruck haben, es gehe gegen die Aussiedlung der Menschen und die Erfüllung der „Information".
Herr Abgeordneter, wir ha-
ben Position bezogen und beziehen sie in den Verhandlungen und Gesprächen mit Polen. Wir haben andere Gesichtspunkte mit ins Feld geführt. Aber wir können nicht abstreiten, daß das Argument, es könnten in bestimmten Bereichen bestimmte wirtschaftliche Folgen eintreten, nicht vernachlässigt werden darf. Wir haben uns aber damit dieses Argument bei den Verhandlungen nicht zu eigen gemacht.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. von Bismarck.
Herr Staatssekretär, ist aber auch zur Sprache gekommen, daß die polnische Wirtschaft insgesamt unter einer Überbeschäftigung in der Landwirtschaft leidet, daß dort noch viel zu viele Bürger in der Landwirtschaft tätig sind, also in drei Jahren eine Umschulung auf die Positionen, die die Deutschen einnehmen, sehr gut möglich sein würde?
Jawohl, Herr Abgeordneter, das ist selbstverständlich auch ein Gesichtspunkt, der bei unseren Gesprächen eine Rolle spielt. Nur ändert das nichts an der Tatsache, daß darauf hingewiesen wird, daß in bestimmten Bereichen gerade jetzt das Fehlen von Spezialisten möglicherweise sogar ein Hindernis bei der Umsetzung von Personen aus dem landwirtschaftlichen Bereich in die Industrie wäre. Ich gebe lediglich Argumente der anderen Seite wieder; ich mache mir das nicht in diesem Umfang zu eigen. Wir alle wissen — Sie sind ein besonderer Kenner jener Verhältnisse —, daß eines der großen Probleme der Volksrepublik Polen darin besteht, daß eine unverhältnismäßig große Zahl von Arbeitskräften nach wie vor in der Landwirtschaft beschäftigt ist, und das ist bekanntlich in allen ähnlich strukturierten Ländern der Erde ein besonders schwieriges Problem. Gerade in einem Umsetzungsprozeß wird ein Staat natürlich von sich aus immer Wert darauf legen, Arbeitskräfte zu besitzen, die nicht nur bestimmte Arbeiten ausführen können, sondern die auch andere in bestimmte Arbeiten einführen können.
Ich rufe die Frage 37 des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka auf:
Sieht die Bundesregierung in den rückläufigen Aussiedlunqszahlen für 1973 und vor allem für Januar und Februar 1974 einen Zusammenhang mit dem noch offenen Begehren der Volksrepublik Polen, einen Kredit in bestimmter Größenordnung und zu verbilligtem Zins von der Bundesrepublik Deutschland zu erhalten?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Herr Abgeordneter, die Antwort lautet: nein. Sowohl die deutsche als auch die polnische Regierung haben stets erklärt, daß zwischen diesen Fragen kein Junktim besteht.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka.
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5776 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Herr Staatssekretär, wie erklären Sie sich dann aber, daß einerseits die Zusage gegeben worden ist, in diesem Jahr sollen 50 000 Aussiedler zu uns kommen, und andererseits die Zahlen im Januar und Februar katastrophal niedrig sind?
Herr Abgeordneter: ich bin nicht in der Lage, darüber Vermutungen anzustellen. Wir haben dafür bisher keine triftige Begründung gehört.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka.
Herr Staatssekretär, liegt aber nicht die Annahme nahe, daß die polnische Regierung bezüglich der Aussiedlerzahl wieder wie 1970 einen Stau einführt, bevor der Warschauer Verbrag abgeschlossen war, wenn sie nicht erfährt, wie wir ihr gegenüber Kreditzahlungen leisten werden?
Herr Abgeordneter, Sie werden bitte Verständnis dafür haben, daß die Bundesregierung keinen Anlaß sieht in der Öffentlichkeit irgendwelche Vermutungen zu äußern. Wenn Sie Vermutungen äußern, ist das Ihre Meinung.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja.
Herr Staatssekretär, warum haben Sie sich nicht im Rahmen Ihrer Schutzpflicht um triftige Begründung für diesen Rückgang der Aussiedlerzahlen bemüht?
Herr Abgeordneter, Sie können doch wohl annehmen, daß Gespräche gerade darin bestehen, daß man versucht, die Gründe kennenzulernen.
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 38 des Herrn Abgeordneten Windelen auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß in einem Rundfunkkommentar des Senders Grünberg am 25. Februar 1974 polnischerseits auf die „richtigen Proportionen" hingewiesen worden ist, „wie sie angesichts der Frage einer möglichen Ausreise einer winzig kleinen Gruppe polnischer Bürger und der 33 Millionen Menschen zählenden polnischen Nation bestehen", und welche Folgerungen gedenkt sie daraus für ihre Verhandlungen über die Aussiedlung zu ziehen?
Zur Beantwortung der Herr Staatssekretär.
Herr Abgeordneter, der Bundesregierung ist der von Ihnen genannte Rundfunkkommentar des Senders Grünberg nicht bekannt. Es ist auch nicht Aufgabe der Bundesregierung, sich im
einzelnen mit Rundfunkkommentaren auseinanderzusetzen.
Zur Sache ist festzustellen, daß die Bundesregierung und die polnische Regierung in den Verhandlungen und Gesprächen der letzten Monate davon ausgegangen sind, daß es sich bei den Ausreiseanträgen, die auf Grund der Information der Regierung der Volksrepublik Polen gestellt werden, nicht um eine „winzig kleine Gruppe" handelt; ich zitiere aus Ihrer Frage.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Windelen.
Der Kommentar wurde im Monitordienst der Deutschen Welle veröffentlicht; ich mache ihn gerne zugänglich.
Nachdem die Bundesregierung offenbar die Auffassung, daß es sich in der Relation zur Gesamtzahl der polnischen Bevölkerung nicht um eine kleine Gruppe handelt, und auch die Auffassung, daß wirtschaftliche Gründe ausschlaggebend seien, nicht teilt, frage ich, welche Gründe dann mach Auffassung der Bundesregierung für die Zurückhaltung der polnischen Seite in der Aussiedlerfrage überhaupt ausschlaggebend und maßgeblich sein könnten, Herr Staatssekretär.
Herr Abgeordneter, das ist das, was wir herauszufinden versuchen.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Windelen.
Herr Staatssekretär, ich darf Sie dann fragen: Welche Schritte hat die Bundesregierung ganz konkret unternommen, um herauszubekommen, welche Gründe die polnische Regierung zu dieser Zurückhaltung in der Aussiedlerfrage veranlassen?
Herr Abgeordneter, ich habe das letzte Mal — ich glaube, hier dem Hause oder dem Auswärtigen Ausschuß; ich müßte daß noch einmal feststellen —eine genaue Auflistung der Gesprächstermine über diese Frage seit einem Jahr dargelegt.
— Herr Abgeordneter, es wird doch wohl notwendig sein, Gespräche zu führen, wenn man Gründe herausfinden will. Diese Gespräche haben wir geführt; das letzte war vorgestern.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5777
Herr Staatssekretär, Sie haben soeben gesagt, der Zeitraum sei noch nicht da, um die Gründe erfahren zu können. Mit welchem Zeitraum rechnen Sie, in dem wir die Gründe endlich erfahren können? Immerhin ist diese Information dreieinhalb Jahre alt.
Herr Abgeordneter, ich wage mich nicht auf das Gebiet der Prophetie.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. von Bismarck.
Herr Staatssekretär, ich möchte fragen, ob Sie versucht haben, die Bemühungen der Polen aufzuklären, die Differenz zwischen ihrem Bedürfnis an Facharbeitern und den Möglichkeiten der Nachschulung wirklich zu schließen, da eine Zeit von drei Jahren vergangen ist.
Herr Abgeordneter, ich bitte um Verständnis, wenn ich an dieser Stelle keine ausführliche Antwort darauf geben kann. Mit Recht hat einer der Kollegen hier darauf hingewiesen, daß in der „Information" über wirtschaftliche Gründe nichts gesagt ist, und es wäre sicherlich nicht im Sinne unserer Gespräche, wenn wir nun neue Gründe in die Diskussion einführten. Das ist das Problem. Wir können gerne im Auswärtigen Ausschuß Einzelheiten darüber mitteilen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja.
Nachdem Sie so viele Termine von Gesprächen hatten und außerdem Berichte der Botschaft in Warschau, können Sie wirklich überzeugend behaupten, daß Sie keine Gründe kennen bzw. keine verkehrten Gründe widerlegt haben?
Ich kann überzeugt behaupten, daß ich nicht in der Lage bin, hier eine stichhaltige Begründung zu geben, die mehr als eine Vermutung wäre.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Marx.
Herr Kollege Moersch, da Sie eben sagten, Sie wollten sich nicht auf das Gebiet der Prophetie begeben, möchte ich gerne fragen: Würden Sie eine Reihe von Ausführungen von Mitgliedern der Bundesregierung vor den letzten Bundestagswahlen oder auch vor der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrages, in denen die Zukunftsaspekte sehr lebhaft und farbig und positiv geschildert worden sind, ebenfalls als Ausflüge in das Gebiet der Prophetie bezeichnen?
Herr Abgeordneter, ich kann nicht ausschließen, daß in der Politik über Zukunftsfragen diskutiert wird. Aber es ist die Frage, welchen Maßstab Sie anlegen und welchen Bilanztag Sie feststellen. Hier kann ich Ihnen nur sagen, daß, wenn ich eine Gesamtbilanz unserer Ostpolitik vorlege, die positiven Seiten bei weitem überwiegen. Es ist unmöglich, das im Rahmen einer Fragestunde zu erörtern. Wenn Sie die Absicht haben, nachher etwa eine Diskussion hierzu zu führen, bin ich gerne bereit, nähere Ausführungen zu machen. Ich bin allerdings sicher, daß die Seiten, die kontrovers zu den Verträgen und zu dem Vertragswerk gestanden haben, sich dabei nicht gegenseitig überzeugen. Aber vielleicht sollten sie dann gegenseitig doch einmal bestimmte Tatsachen stärker zur Kenntnis nehmen.
Sie müßten dann schon konkret sagen, welche Behauptungen im Jahre 1972 falsch gewesen seien. Vielleicht darf ich daran erinnern, daß nicht einmal die Weltgeschichte das Weltgericht ist.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Professor Schweitzer.
Herr Staatseskretär, darf ich Sie einmal grundsätzlich fragen: Glaubt eigentlich die Bundesregierung, daß die hier Woche für Woche in der Fragestunde zur Diskussion gestellten ernsten Probleme der Aussiedler den Anliegen dieser Aussiedler selber und damit den deutschen Interessen überhaupt förderlich sind?
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hat nicht die Aufgabe, sich Meinungen darüber zu bilden. Die Bundesregierung hat allerdings die Pflicht, alles zu vermeiden, was in ihren Erklärungen zu einer Erschwerung beitragen könnte; gegen Fragestellungen ist sie nicht gefeit.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Mattick.
Eine Anschlußfrage, Herr Staatssekretär: Wie wirkt sich eigentlich bei den Verhandlungen, die Sie mit der polnischen Regierung führen müssen, diese fortlaufende Art der Auseinandersetzung, wie sie hier von der Opposition geführt wird, aus?
Herr Abgeordneter, die polnische Seite ist davon überzeugt, daß die große Mehrheit nicht nur unseres Volkes, sondern auch dieses Hauses, und zwar auch Augeordnete, die damals aus Gründen, die Sie alle kennen, vielleicht nicht zugestimmt haben, im Grunde nicht nur die
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5778 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Parl. Staatssekretär MoerschVersöhnung mit Polen wollen, sondern auch an einer Normalisierung der Beziehungen interessiert sind.
Sie scheint inzwischen, nicht zuletzt durch die Beobachter, die letzte Woche hier cal der Fragestunde teilgenommen haben, mehr Verständnis für die differenzierten Möglichkeiten einer parlamentarischen Demokratie zu haben.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Hauser .
Herr Staatssekretär, wie beurteilen Sie die Äußerungen des Herrn Außenministers in seinem Interview am 5. November 1970, wo er sagte: „Wir wollen mit Polen nichts vereinbaren, was zweideutig ist" im Verhältnis zu den Ergebnissen, die Sie nach bald vier Jahren über die Verhandlungen mit Polen hier geäußert haben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich habe überhaupt keinen Grund, irgend etwas in Zweifel zu ziehen, was der Bundesaußenminister damals gesagt hat. Sie selbst scheinen ja den Bundesaußenminister als Beschwerdeinstanz durchaus zu schätzen.
Ich rufe Frage 39 des Herrn Abgeordneten Windelen auf:
Ist die Interpretation der Information durch die Bundesregierung, wonach der Ausdruck „einige Zehntausende" keine Begrenzung au! einige Zehntausende darstellt, auch die Interpretation der polnischen Seite?
Zur Beantwortung Herr Staatssekretär!
Herr Abgeordneter, die Antwort lautet: Ja. Bei den in den letzten Monaten geführten Umsiedlungsgesprächen sind beide Seiten davon ausgegangen, daß das Umsiedlungsproblem mit der von der polnischen Regierung in Ziffer 3 der „Information" getroffenen Feststellung, „einige Zehntausende Personen", nicht gelöst ist, sondern daß seine Dimensionen darüber hinausgehen. Aus dem Text der „Information" ergibt sich im übrigen eindeutig, daß diese Feststellung nicht im Sinne einer zahlenmäßigen Begrenzung interpretiert werden kann. In Ziffer 3 der „Information" heißt es zwar, daß nach den bisherigen Untersuchungen der polnischen Behörden die Kriterien, die zu einer eventuellen Ausreise aus Polen in die Bundesrepublik Deutschland oder in die DDR berechtigen, einige Zehntausende Personen betreffen können. Gleichzeitig heißt es jedoch im Text der zitierten Ziffer 3 der „Information" — ich zitiere
Die polnische Regierung wird das Polnische Rote Kreuz ermächtigen, vom Roten Kreuz der Bundesrepublik Deutschland Listen über die Personen entgegenzunehmen, deren Anträge sich im Besitz des Deutschen Roten Kreuzes befinden, um diese Listen mit den entsprechenden Zusammenstellungen, die sich bei den zuständigen polnischen Behörden befinden, zu vergleichen und sorgfältig zu prüfen.
Demnach hat die polnische Regierung ausdrücklich die Möglichkeit eingeräumt, daß die Zahl der Umsiedlungsberechtigten höher sein kann als diejenige, die sich aus den damaligen polnischen Unterlagen ergab. Zeitweilig ist jedoch von polnischer Seite einmal versucht worden, den Text im Sinne einer zahlenmäßigen Begrenzung zu erklären. Die polnische Seite ist bei den Gesprächen und Verhandlungen, die seit Sommer letzten Jahres geführt worden sind, nicht mehr auf diese Auslegung zurückgekommen.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Windelen.
Herr Staatssekretär, wäre es angesichts der schon bei den Verhandlungen bekannten Differenzen auf der polnischen Seite die Angabe „einige Zehntausende", auf deutscher Seite „270 000" nicht notwendig gewesen, diesen Dissens vor Unterschrift auszuräumen und dadurch die Schwierigkeiten, vor denen wir gemeinsam stehen und die uns jetzt ständig veranlassen, an die Bundesregierung notwendige Fragen zu stellen, zu vermeiden?
Herr Abgeordneter, es war damals das Mögliche zu ermöglichen; das haben wir getan. Ich komme auf diese Frage, die Sie eben gestellt haben und die auch schriftlich eingereicht wurde, nachher noch einmal zurück. Warum in diesem Zeitpunkt keine andere Klärung möglich war, ist ja in der Beratung des deutsch-polnischen Vertrages diesem Hause gründlich dargelegt worden. Sie können davon ausgehen: wenn es andere Möglichkeiten gegeben hätte, damals diesen Widerspruch aufzuklären, wäre er von unserer Seite sicherlich aufgeklärt worden.
Zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Windelen!
Das heißt also, Herr Staatssekretär, Sie waren sich dieses Dissenses durchaus bewußt, sahen sich aber nicht in der Lage, bis zur Unterzeichnung des Vertrages diesen Dissens auszuräumen?
Ja, Herr Abgeordneter, das hängt damit zusammen, daß wir die Zahlen, die in Polen selbst genannt worden sind, nicht von unserer Seite nachprüfen konnten und daß wir die Erklärung der polnischen Seite darüber hatten, daß sie selbst diese Nachprüfung auf Grund unserer Zahlen vornehmen wird. Wie sollte das denn anders geschehen, als es geschehen ist? Ich habe auch von Ihrer Seite damals keinen anderen Ratschlag zu diesem Punkt gehört.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5779
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Czaja.
Durfte, Herr Staatssekretär, dann die Unterzeichnung erfolgen, nachdem, wie Sie zugeben, die Schutzpflicht für Zehntausende deutsche Staatsangehörige nicht gesichert war?
Herr Abgeordneter, ich habe, ich glaube, zum drittenmal in kurzer Zeit Ihnen gegenüber gesagt, daß es überhaupt keine Aufgabe irgendwelcher Art von Schutzpflicht von der Bundesregierung aus gegeben hat, und ich bitte, diese Unterstellung doch nicht in der Frageform zu wiederholen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jäger .
Herr Staatssekretär, wie erklären Sie es sich angesichts der Antwort, die Sie eben dem Kollegen Windelen gegeben haben, daß nämlich die polnische Regierung auf diese frühere Auslegung nicht mehr zurückgekommen ist, daß die polnische Regierung trotzdem, auch nach dem Besuch des polnischen Außenministers Olszowski im Herbst hier in Bonn, nur ein so spärliches Rinnsal von deutschen Aussiedlern zuläßt, obgleich doch ihre Interpretation, wie eben von Ihnen dargelegt, offenbar nicht mehr dahin geht, daß es bloß noch ein paar Zehntausende sind und Polen angesichts des Vorliegens der Liste des Deutschen Roten Kreuzes demnach die Mehrzahl der gestellten Anträge doch im Grunde für berechtigt halten muß?
Herr Abgeordneter, mir ist der Sinn Ihrer Frage etwas dunkel. Offensichtlich haben Sie das Kommuniqué nicht mehr im Kopf, das damals hier veröffentlicht wurde und das sagt, daß der polnische Außenminister von sich aus für das Jahr 1974 eine Umsiedlung von 50 000 und eine Lösung des Problems in den nächsten drei bis fünf Jahren angekündigt hat.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Geßner.
Herr Staatssekretär, sind Sie der Auffassung, daß es im Interesse der Aussiedlungswilligen in Polen liegen könnte, wenn der Wert der „Information" immer wieder in Frage gestellt wird?
Herr Abgeordneter, ich kann mich dazu nicht äußern. Mir fällt nur auf, daß eine
Reihe von Kollegen aus der CDU, die in Warschau selber in letzter Zeit Gespräche geführt haben, sich nicht in diesem Sinne hier in der Fragestunde betätigen.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Hupka.
Herr Staatssekretär, Sie haben eben Herrn Kollegen Windelen gesagt, man sei bei Abschluß dieser „Information" von vornherein von einem Dissens ausgegangen. Nun die Frage: Hätte es dann nicht nahegelegen, mit dem Abschluß des Vertrages zu warten? Denn ohne die „Information" — so hat die Bundesregierung gesagt — wäre es nicht zum Abschluß des Warschauer Vertrags gekommen.
Herr Abgeordneter, ich glaube, hier muß man doch auseinanderhalten, daß der Vertrag überhaupt erst die Möglichkeit gab, diese Fragen im weiteren Verlauf im Sinne der betroffenen Menschen zu klären. Wir gehen offensichtlich von ganz unterschiedlichen Möglichkeiten der Politik aus. Die Möglichkeit, die Sie andeuten, hat in der Vergangenheit nicht zu dem Ergebnis geführt, das Sie selber wünschen.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Wallmann.
Herr Staatssekretär, habe ich eben recht gehört, daß Sie die Auffassung vertreten, es gebe keine Schutzpflicht, die die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland gegenüber den Deutschen in den Oder-Neiße-Gebieten wahrzunehmen hätte?
Jetzt haben Sie mich überhaupt nicht richtig verstanden. Ich glaube, daß Sie das Problem hier in einer falschen Frage zusammenfassen. Ich darf hier nochmals feststellen, daß die Bundesregierung für alle, die nach unserem Grundgesetz die deutsche Staatsangehörigkeit haben, tätig wird, daß aber ihre Möglichkeiten dort begrenzt sind, wo ihre eigene Staatsgewalt aufhört.
Sind Sie sich darüber im klaren, daß Sie das Gegenteil dessen gesagt haben, was Sie eben vorgetragen haben?
Dann haben Sie möglicherweise nicht zugehört.
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5780 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Freiherr von Fircks.
Herr Staatssekretär, Sie haben wörtlich gesagt, Sie hätten Herrn Dr. Czaja bereits mehrmals darauf hingewiesen, daß die Bundesrepublik keine Aufgabe der Schutzpflicht gehabt habe. Bestätigen Sie diese Aussage, oder war es ein Versprechen?
Ich habe gesagt, daß die Bundesregierung die Schutzpflicht nicht aufgegeben hat, sondern ernst nimmt.
— Der Stenographische Bericht wird es sicherlich ausweisen. Aber da ich darauf hingewiesen habe, daß ich diese Frage, die zum Teil schriftlich eingereicht wurde, in den letzten Wochen hier schon dreimal beantwortet habe, sollten Sie sich bitte an den schriftlichen Text des Protokolls halten und hier nicht zum Nachteil der Bundesrepublik Deutschland argumentieren.
Zu einer letzten Zusatzfrage Herr Abgeordneter Gerster.
Herr Staatssekretär, um alle Zweifel auszuräumen, frage ich Sie: Würden Sie mir bestätigen, daß die Bundesregierung gehalten ist, im Sinne dieser Schutzpflicht alles zu tun, um den Menschen, wie es auch in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts festgestellt ist, zu mehr Humanität und zur Aussiedlung zu verhelfen, daß sie also grundsätzlich verpflichtet ist, im Sinne der Schutzpflicht für diese Menschen tätig zu werden?
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung ist nicht nur dazu verpflichtet, sondern handelt auch entsprechend. Ich wünschte mir, daß alle Regierungen genau diesen Satz in der Vergangenheit so beachtet hätten wie diese Bundesregierung.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Wehner.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, gibt es ein anderes Mittel als politische Verhandlungen und Beziehungen, um das Recht zur Wahrnehmung der Schutzpflicht durchzusetzen?
Nein, Herr Abgeordneter, es sei denn, man wollte eine Politik der Gewalt betreiben. Wer eine Politik des Gewaltverzichts treibt,
hat keine andere Möglichkeit, als durch die Aufnahme normaler diplomatischer Beziehungen die Wege, die im diplomatischen Verkehr gegeben sind, zu gehen. Wer es versäumt hat, diplomatische Beziehungen aufzunehmen, hat damit zugleich seine eigenen Möglichkeiten, sich für Deutsche einzusetzen, eingeschränkt.
Keine weiteren Zusatzfragen zu dieser Frage.
Bevor wir in der Fragestunde fortfahren, möchte ich auf einen Abschnitt aus den Richtlinien für die Fragestunde verweisen. Im Abschnitt I Ziffer 4 heißt es:
Der Präsident soll weitere Zusatzfragen durch andere Mitglieder des Bundestages zulassen, soweit dadurch die ordnungsgemäße Abwicklung der Fragestunde nicht gefährdet wird.
Ich darf darauf aufmerksam machen, daß uns zu diesem Komplex noch eine Reihe weiterer Fragen vorliegen und ich daher die Zusatzfragen auf ein Minimum zu beschränken bitte, und zwar mit Rücksicht auf die anderen Fragesteller, auch bezüglich der Fragen aus anderen Ressorts.
Ich rufe die Frage 40 des Abgeordneten Sauer auf:
Muß die Bundesregierung nicht feststellen, daß die polnische Regierung die in der „Information" enthaltene Zusicherung, die Familienzusammenführung sowohl zu beschleunigen wie zu verbessern, tatsächlich nicht eingehalten hat?
Zur Beantwortung, bitte, Herr Staatssekretär!
Herr Abgeordneter, die Antwort lautet: nein. Die polnische Regierung hat zugesichert, daß sie sich an die „Information" gebunden hält und daß sie das Umsiedlungsproblem in drei bis fünf Jahren lösen will. Für dieses Jahr hat die polnische Seite eine konkrete zahlenmäßige Zusage gemacht, die ich schon erwähnt habe. Allerdings möchte ich nicht verhehlen, daß die Bundesregierung die gegenwärtige Entwicklung der Umsiedlerzahlen als unbefriedigend ansieht.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Sauer.
Wäre die Bundesregierung bereit, dies auch einmal ganz klar und deutlich öffentlich darzustellen, um insbesondere damit auch den in den Ostgebieten noch verbliebenen ausreisewilligen Deutschen klarzumachen, daß sich die Bundesregierung in dem erforderlichen Maß darum bemüht? Denn ich kann Ihnen bestätigen, Herr Staatssekretär, daß sich in den Ostgebieten — das habe ich aus persönlichen Gesprächen drüben gehört — eine tiefe Resignation breitgemacht hat, da man glaubt, Sie würden sich in Warschau nicht beharrlich durchsetzen.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5781
Herr Abgeordneter, es gibt keine bessere Möglichkeit der öffentlichen Darlegung als im Deutschen Bundestag, und eine der nächsten Fragen wird die hundertste Frage allein zu diesem Thema in diesem Bundestag; dazu kommen mehrere hundert Zusatzfragen. Herr Abgeordneter, ich frage Sie, was eigentlich sonst hier in dieser Öffentlichkeit noch geschehen sollte.
Zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Sauer.
Ich habe dennoch, Herr Staatssekretär, in all den Fragestunden bisher noch nicht gespürt, daß Sie eine direkte Kritik an dieser Verhandlungsweise geübt haben. Sie haben vielmehr Gründe dargelegt, die der polnischen Interpretation entsprechen.
Herr Abgeordneter, nach den Richtlinien der Fragestunde bin ich nicht in der Lage, darauf ausführlich zu antworten. Ich muß aber diese Kritik zurückweisen, weil sie nicht den Tatsachen entspricht.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 41 des Abgeordneten Sauer auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß, obwohl die Zahl der ausgesiedelten Deutschen ständig zurückgeht , gleichzeitig die Schikanen gegen Aussiedlungswillige und ihre Familien in inhumaner und allen polnischen Versicherungen widersprechender Weise fortgesetzt werden?
Zur Beantwortung, Herr Staatssekretär.
Der Bundesregierung ist nicht bekannt, daß generell den Umsiedlungsbewerbern von polnischer Seite Schwierigkeiten bereitet werden, die den Charakter von Schikanen haben. Der Bundesregierung ist aber bekannt, daß die in den lezten Jahren in einer Reihe von Fällen aufgetretenen Schwierigkeiten, insbesondere Benachteiligungen am Arbeitsplatz, noch fortbestehen. Neue Fälle von Benachteiligungen sind nicht mehr bekanntgeworden. Bei den mit der polnischen Seite geführten Gesprächen bestand Einvernehmen darüber, daß diese Schwierigkeiten möglichst bald beseitigt werden sollten.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Sauer.
Wäre die Bundesregierung bereit, der polnischen Regierung darzulegen, daß durch die immer wieder hinausgeschobenen Ausreisegenehmigungen insbesondere unsere
schulpflichtigen Kinder in den Ostgebieten ständig leiden und darüber hinaus in ihrer beruflichen Ausbildung gegenüber unseren Kindern besondere Nachteile haben?
Herr Abgeordneter, ich glaube, daß die Kollegen, die die Bemühungen der Bundesregierung im einzelnen im Auswärtigen Ausschuß kennengelernt haben, Ihnen gerne bestätigen werden, daß die Bundesregierung alle diese Themen in den Verhandlungen eingeführt hat.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jäger .
Herr Staatssekretär, habe ich Sie, wenn Sie eben sagten, es handle sich nach Auffassung der Bundesregierung nicht um Schikanen, richtig verstanden, daß z. B. der Verlust des Arbeitsplatzes wegen Stellung eines Ausreiseantrags nach Auffassung der Bundesregierung keine Schikane darstellt?
Herr Abgeordneter, ich habe dargestellt, daß es Verluste von Arbeitsplätzen gegeben hat, aber in letzter Zeit nicht mehr.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hupka.
Herr Staatssekretär, können Sie einmal Ihre Vorstellung von Schikane definieren? Denn Sie haben offenbar einen sehr weitgesteckten Rahmen, wenn Sie nicht von Schikanen reden wollen. Die Menschen, die davon betroffen sind, nennen das alles Schikanen und müssen es Schikanen nennen.
Herr Abgeordneter, diesen Begriff habe nicht ich eingeführt, sondern der Fragesteller, und ich habe in der Antwort präzisiert, um was es sich handelt.
Eine Zusatzfrage, die Abgeordnete Frau von Bothmer.
Herr Staatssekretär, wie verstehen Sie, daß, während die Opposition hier recht unfreundliche Gefühle gegen Polen erweckt und nährt,
zur gleichen Zeit Herr Filbinger polnische Gäste bei der Jungen Union herzlich begrüßt?
Frau Abgeordnete, ich habe vorhin schon ausgeführt, daß ich die Fragesteller nicht werten will — das steht uns hier nicht zu — und daß die polnische Seite inzwischen längst zu
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5782 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Parl. Staatssekretär Moerschdifferenzieren gelernt hat und uns wiederholt auf widersprüchliche Verhaltensweisen aufmerksam gemacht hat.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Freiherr von Fircks.
Herr Staatssekretär ist der Bundesregierung die Tatsache bekannt, die mir jetzt aus Berichten bekanntgeworden ist, daß neuerlich auch ältere Menschen gezwungen sind, sich ihre Anträge selbst abzuholen, und daß dies aus Zeitgründen und wegen Massenandrang ihnen physisch nicht möglich ist, ihnen aber die Anträge über Verwandte oder aber auf Postanforderung nicht mehr zugestellt werden, was natürlich auch eine örtliche Regelung sein kann?
Herr Abgeordneter, ich will diese Angaben gerne nachprüfen lassen.
Ich rufe die Frage 42 des Abgeordneten Dr. Wittmann auf:
Liegt der polnischen Bereitschaft und Aussage, das Aussiedlerproblem in den nächsten drei bis fünf Jahren „in umfassender Weise" zu lösen, die Zahl der Aussiedlungswilligen zugrunde, die das Deutsche Rote Kreuz angegeben hat?
Zur Beantwortung, Herr Staatssekretär, bitte!
Die Bundesregierung, Herr Abgeordneter, hat bereits bei den Verhandlungen zur „Information" im Jahre 1970 darauf hingewiesen, daß sie für die Lösung des Problems der Umsiedlung von der beim Deutschen Roten Kreuz registrierten Zahl von Umsiedlungsbewerbern ausgeht. Sie hat diese Auffassung in den nachfolgenden deutsch-polnischen Gesprächen insbesondere seit Sommer 1973 unverändert vertreten. In Kenntnis dieser Zahlen hat sich die polnische Regierung im Kommuniqué von Warschau im Oktober 1973 bereit erklärt, das Problem der Umsiedlung in den nächsten drei bis fünf Jahren in umfassender Weise zu lösen. Sie hat das Zahlenmaterial des Deutschen Roten Kreuzes nicht grundsätzlich zurückgewiesen, allerdings Zweifel daran geäußert, daß alle Ausreiseanträge bis zur ,Höhe der beim Deutschen Roten Kreuz registrierten Zahl von Bewerbern nach den Kriterien der „Information" berechtigt sind. Sie hat sich dabei hinsichtlich der Größenordnung jedoch nicht negativ präjudiziert.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Wittmann.
Herr Staatssekretär, wie stellen Sie sich die Abwicklung der etwa 230 000 Ausreiseanträge beim jetzigen Stand der Aussiedlungszahlen innerhalb von fünf Jahren vor?
Herr Abgeordneter, ich habe darauf verwiesen, daß die polnische Seite ange-
kündigt hat, daß im Jahre 1974 50 000 Ausreiseanträge bewilligt werden sollen. Wenn Sie diese Zahl zum Gegenstand der Betrachtung nehmen, ist es durchaus möglich, daß die Gesamtumsiedlung in drei bis fünf Jahren, wie die polnische Seite gesagt hat, abgeschlossen sein kann.
Zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Wittmann.
Haben Sie konkrete Informationen, daß im Laufe dieses Jahres die noch fehlenden 48 000 Aussiedler zu uns kommen? Denn dann müßten ja auch erhebliche neue technische Vorbereitungen bei uns hier getroffen werden.
Die technischen Vorbereitungen bei uns sind sicher möglich. Da die Verwaltung ja Sache der Länder ist, zweifle ich nicht daran, daß alle Bundesländer diese Möglichkeiten voll nutzen werden. Daran soll es sicherlich nicht scheitern.
Ich rufe die Frage 43 des Abgeordneten Dr. Marx auf:
Wie erklärt sich die Bundesregierung den Widerspruch zwischen der wiederholt gegebenen polnischen Zusage, das Problem der Aussiedlung nunmehr „umfassend" zu lösen, und den außergewöhnlich niedrigen Aussiedlerzahlen für Januar und Februar 1974?
Zur Beantwortung Herr Staatssekretär Moersch bitte!
Die Bundesregierung hat keine Erklärung dafür, daß die Umsiedlerzahlen im Januar/Februar weiterhin rückläufig waren. Sie ist der Auffassung, daß die Verwirklichung der polnischen Zusage, das Umsiedlungsproblem umfassend zu lösen und im Jahre 1974 50 000 Umsiedlungsbewerbern die Ausreise zu gestatten, nunmehr bald in Angriff genommen werden sollte. Die Bundesregierung hat diese Erwartung auch der polnischen Seite gegenüber zum Ausdruck gebracht.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Marx.
Herr Staatssekretär, könnten Sie bitte dieser Antwort noch hinzufügen, wie die polnische Seite auf diese Aufforderung der Bundesregierung reagiert hat?
Sie hat zu einem neuen Gespräch übr diese Frage gebeten.
Eine Zusatzfrage, Herr Dr. von Bismarck.
Herr Staatssekretär, könnten Sie einem Mitglied des Hauses bestätigen, daß die Klärung der Probleme, über die wir uns
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5783
Dr. von Bismarckhier unterhalten, in Wahrheit der Beseitigung eines schweren Hindernisses für die Aussöhnung zwischen Deutschland und Polen dient und nicht etwa einer antipolnischen Politik?
Herr Abgeordneter, gerade dies haben wir der polnischen Seite immer wieder nachdrücklich gesagt, und ich bin Ihnen persönlich dankbar dafür, daß Sie das auch in anderer Eigenschaft der polnischen Seite gegenüber mit großem Nachdruck zum Ausdruck gebracht haben. Ich darf Ihnen sagen, daß nach den Berichten, die mir vorliegen, Ihre Stimme dort besonderes Gewicht hat.
Ich rufe die Frage 44 des Abgeordneten Dr. Marx auf:
Kann die Bundesregierung Auskunft darüber erteilen, ob tatsächlich Aussiedlungswillige für einen bestimmten Zeitraum — z. B. zehn Monate — in sogenannte Arbeitsbrigaden eingewiesen worden sind, ohne daß sie zuvor gerichtlich oder verwaltungsmäßig verurteilt worden wären?
Der Bundesregierung ist nicht bekannt, daß Umsiedlungswillige in sogenannte Arbeitsbrigaden eingewiesen worden sind, Herr Marx.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Marx.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, entsprechende Unterlagen, die wir Ihnen gerne zugänglich machen, sofort und dringlich zu prüfen und, wenn Sie wieder Gespräche mit den Polen unmittelbar haben werden, auf diese Tatbestände hinzuweisen und großen Wert darauf zu legen, klarzustellen, daß eine solche Methode allerdings wirklich eine störende Methode ist?
Ja, dazu bin ich gerne bereit.
Keine Zusatzfrage mehr?
Ich rufe die Frage 45 des Abgeordneten Dr. Czaja auf:
Welche wirksamen legalen Mittel beabsichtigt die Bundesregierung anzuwenden, um im Sinne des Verfassungsgebots und der Feststellung des Bundesverfassungsgerichts jedem einzelnen Deutschen auch im Machtbereich der Volksrepublik Polen, wirksamen Schutz und Fürsorge angedeihen zu lassen und aus der einseitigen Nichterfüllung der Vertragsgrundlagen des Warschauer Vertrags durch die polnische Regierung die von der Bundesregierung im innerstaatlichen Gesetzesverfahren für diesen Fall angekündigten Konsequenzen im Einklang mit dem Vertragsrecht zu ziehen?
Zur Beantwortung der Herr Staatssekretär bitte!
Herr Abgeordneter, zum ersten Teil Ihrer Frage möchte ich auf meine Antwort in der 85. Sitzung von' 14. März 1974 sowie
in der 58. Sitzung vom 19. Oktober 1973 verweisen.
Was den zweiten Teil dieser Frage betrifft, so ist die Bundesregierung der Auffassung, daß die Konsequenzen aus der Verzögerung, die bei der Erfüllung der „Information" eingetreten ist, nur in dem liegen können, was sie bereits getan hat, nämlich daß sie beharrlich auf eine möglichst baldige umfassende Lösung der Umsiedlung drängt. Basis dieser Bemühungen in der Umsiedlungsfrage wie auch um die Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen in anderen Bereichen sind der Warschauer Vertrag und die mit ihm zusammenhängenden Vereinbarungen. Die Bundesregierung hält es nicht für sinnvoll, diese Basis in Frage zu stellen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Czaja.
Herr Staatssekretär, haben Sie sich, da es um die Verfassungspflicht gegenüber Hunderttausenden Deutschen geht, vor der Beantwortung der Frage die Mühe gemacht, die legalen Möglichkeiten, die das Völkerrecht bietet, zu prüfen, und haben Sie sich die Meinung der gesamten Rechtslehre zu dieser Frage vor Ihrer Antwort darlegen lassen?
Herr Abgeordneter, ich gestehe ganz offen, daß ich über diese umfassenden Völkerrechtskenntnisse, die Sie in den Fragen hier ausbreiten, nicht verfüge. Aber ich habe mir die Mühe gemacht, den gesamten Apparat des Auswärtigen Amtes in Bewegung zu setzen, und ich glaube, daß der konzentrierte Sachverstand des Auswärtigen Amtes dem in etwa die Waage halten kann.
Zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Czaja.
Herr Staatssekretär, warum haben Sie im Ratifizierungsverfahren Konsequenzen für den Vertrag bei Nichterfüllung der humanitären Vertragsgrundlagen ankündigen lassen und handeln jetzt anders, als das Auswärtige Amt damals zu handeln versprach?
Ich vermag diesen von Ihnen behaupteten Widerspruch nicht zu erkennen. Ich möchte hier mit aller Entschiedenheit betonen, daß die Bundesregierung — und nicht nur das Auswärtige Amt so handelt, wie es ihrer Pflicht und ihren Möglichkeiten entspricht. Ich wünschte, daß durch eine breitere Zustimmung zum deutsch-polnischen Vertrag dieses Verhandeln in diesem Hause noch erleichtert worden wäre.
Dazu eine letzte Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jäger .
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5784 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Herr Staatssekretär, darf ich eine Frage, die Sie mir in der vergangenen Woche später zu beantworten versprachen, jetzt an dieser Stelle anbringen: Bleibt die Bundesregierung nach wie vor dabei, die wirtschaftlichen Möglichkeiten, die sie im Zusammenhang mit der Volksrepublik Polen besitzt, nicht im Sinne der Erfüllung dieser humanitären Fragen einzusetzen?
Die Bundesregierung denkt nicht ,daran, ein Junktim herzustellen zwischen wirtschaftlichen Fragen und diesen Fragen. Das wäre weder den pölnischen Interessen noch den deutschen Interessen zuträglich. Aber die deutsche Seite denkt daran — und hat das auch in der Vergangenheit bewiesen —, daß die Verbesserung der Beziehungen umfassender Art ist und daß es deswegen in der Praxis des Lebens auch immer ein gewisses Übergreifen von einem Gebiet in das andere gegeben hat.
Ich rufe die Frage 46 des Abgeordneten Dr. Czaja auf:
Ist es mit der verfassungsmäßig gebotenen Schutzpflicht für die Grundrechte der in den Oder-Neiße-Gebieten lebenden deutschen Staatsangehörigen und mit der vom Bundesinnenminister in der Verfassungsdebatte unterstrichenen Pflicht zu aktivem legalen Tun zugunsten der Grundrechte anstelle eines nur passiven Unterlassens vereinbar, wenn der Bundeskanzler im Bulletin vom 7. Februar 1974 sich eindeutig gegen „unzweideutige Absprachen" über die Ausreise von Deutschen trotz hoher Finanzhilfen für die Volksrepublik Polen ausspricht?
Zur Beantwortung, bitte, Herr Staatssekretär.
Ich nehme an, Herr Abgeordneter, daß Sie die Antwort des Herrn Bundeskanzlers, die er in dem Interview mit der Illustrierten „Stern" für die Ausgabe vom 7. Februar 1974 gegeben hat, im Zusammenhang mit der gestellten Frage mißverstanden haben. Der Herr Bundeskanzler war gefragt worden, ob die künftige Kreditvergabe an Ostblockländer, insbesondere an Polen, mit unzweideutigen Absprachen über Gegenleistungen auf anderen Gebieten, etwa über die Ausreise von Deutschen, gekoppelt werden sollte. Daraufhin hat der Herr Bundeskanzler erklärt, er sei gegen eine derartige Koppelung. Dagegen hat er sich nicht, wie Sie unterstellen, gegen unzweideutige Absprachen über die Umsiedlung gewandt. Derartige Absprachen zu erreichen ist das unveränderte Ziel der Bundesregierung.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Czaja.
Aus welcher Antwort bzw. aus welchem Teil des Satzes des Herrn Bundeskanzlers lesen Sie heraus, daß er sich gegen die Koppelung ausgesprochen hat, nachdem hier wörtlich nur steht: „Ich bin dagegen", und was ist gemeint unter dem „eingebildeten Prinzip", das nicht zum Gegenstand der Verhandlungen gemacht werden soll?
Herr Abgeordneter, ich lese das aus dem Zusammenhang dessen heraus, was ich hier als Unterlage habe.
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 47 des Abgeordneten Dr. Hauser auf:
Ob und wann rechnet die Bundesregierung damit, daß die Gründe für die Ablehnung eines Aussiedlungsbegehrens von den polnischen Dienststellen der Bundesregierung oder dem Deutschen Roten Kreuz regelmäßig mitgeteilt werden, entsprechend Punkt 4 der „Information" zum Warschauer Vertrag?
Zur Beantwortung, bitte, Herr Staatssekretär.
Herr Abgeordneter, die „Information" sagt ausdrücklich nichts zu der Frage, ob die Ablehnungsgründe mitzuteilen sind. Im Oktober 1973 hat die polnische Regierung ihre Bereitschaft erklärt, das Umsiedlungsproblem im Einklang mit der „Information" in umfassender Weise während der nächsten drei bis fünf Jahre zu lösen.
Im Dezember 1973 hat die polnische Seite die Ausreise von 50 000 Personen für das Jahr 1974 zugesagt. Wenn diese Zusagen verwirklicht werden — und davon geht die Bundesregierung aus —, dann erscheint es auch nicht erforderlich, die RotKreuz-Gesellschaft mit dieser erheblichen zusätzlichen Arbeit zu belasten.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Hauser .
Wie erklärt sich die Bundesregierung, daß dreieinhalb Jahre nach Unterzeichnung des Warschauer Vertrages immer noch keine verbindliche Vereinbarung bezüglich der Ablehnungsgründe getroffen werden konnte?
Herr Abgeordneter, ich habe dargelegt, daß es ja zunächst einmal darum geht, die Umsiedlung selbst zu erfüllen. Ich muß auf die früheren Verhandlungen in diesem Hause verweisen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Hauser.
Hat die Bundesregierung irgendwann und irgendwo dagegen in aller Form protestiert, daß der wichtige Punkt 4 der „Information" von der polnischen Seite nicht eingehalten worden ist, selbst wenn Sie behaupten, daß die Aussiedlungen als solche, wie Sie soeben sagten, vorgehen, etwa wegen der Überbeschäftigung des Roten Kreuzes durch die Mitteilung von ablehnenden Bescheiden?
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5785
Herr Abgeordneter, ich habe Ihnen ja soeben den Standpunkt der Bundesregierung zu diesem Punkt und seine Relevanz dargelegt.
Ich rufe die Frage 48 des Abgeordneten Dr. Hauser auf:
Warum hat die Bundesregierung trotz den zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen auseinanderklaffenden Ziffern bezüglich der Aussiedler den Warschauer Vertrag unterzeichnet und damit ihre Zustimmung zur „Information" zum Warschauer Vertrag wider bessere Einsicht erteilt?
Wie ich in meiner Antwort auf die Frage des Abgeordneten Windelen bereits ausführlich dargelegt habe, erfolgt in der „Information" keine Festlegung auf die polnischen Zahlenangaben. Während die Zahl selbst also offenblieb, wurde entscheidendes Gewicht auf die Erfüllung der Kriterien gelegt. Bei Vorliegen eines der beiden Merkmale — entweder unbestreitbar deutsche Volkszugehörigkeit oder Familienzusammenführung — haben die polnischen Behörden die Ausreise zu gestatten. Das war einer der Gründe dafür, daß die Bundesregierung den Warschauer Vertrag unterschrieben hat. Sie hielt das nämlich im Interesse der betroffenen Menschen für notwendig; übrigens genauso wie im Jahre 1955 der damalige Bundeskanzler Dr. Adenauer im Interesse der betroffenen Menschen es für notwendig hielt, diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion vorzunehmen.
Herr Abgeordneter, die in Ihrer Frage enthaltene Formulierung „wider bessere Einsicht" muß ich entschieden zurückweisen. Das ist eine ungerechtfertigte Unterstellung.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Hauser.
Herr Staatssekretär, wer hat denn die Bundesregierung gedrängt, den Warschauer Vertrag vor einem Einverständnis bezüglich der Zahl der Aussiedlungswilligen abzuschließen?
Herr Abgeordneter, bei Abwägung aller Gesichtspunkte schien es damals der Bundesregierung — und es ist heute noch so —, daß das Vorgehen, für das sie sich entschieden hat, allein den Menschen und ihren Interessen dienen kann und jede andere Verfahrensweise nicht den Interessen der betroffenen Menschen gedient hätte.
Eine Zusatzfrage, der Herr Abgeordnete Dr. Hauser.
Haftet der „Information" nicht eine deutliche Realitätsferne an, wenn entgegen dem deutschen Informationsstand, Herr Staatssekretär, von polnischer Seite vage und viel zu wenige Ziffern hier angegeben werden?
Herr Abgeordneter, wenn Sie den Begriff der Realitätsferne in die Debatte einführen, dann muß ich Ihnen sagen, daß die größte Realitätsferne darin besteht, zu glauben, man könne verhandeln, ohne Beziehungen zu haben.
Eine Zusatzfrage, der Herr Abgeordnete Dr. Czaja.
Herr Staatssekretär, war es bei der Abwägung aller Umstände, auf die Sie soeben bei der Unterschrift hingewiesen haben, zulässig, die Schutzpflicht und die Wahrnehmung und Sicherung der Schutzpflicht für Zehntausende deutscher Staatsangehöriger zurückzustellen?
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hat das, was sie in diesem Fall entschieden hat, nicht nur für zulässig erkannt, sondern es ist ihr auch ausdrücklich bestätigt worden, daß es zulässig ist, ja, daß es notwendig und nützlich ist.
Die Frage, die Sie hier stellen, ist eine Frage der politischen Wertungen, und über politische Wertungen entscheiden in der Demokratie die Mehrheiten. Ich glaube nicht, daß die Einführung etwa dieses Themas in den letzten Wahlkampf dazu geführt hat, daß die Bundesregierung sich in ihrer Politik nicht hätte bestätigt fühlen können.
Ich lasse keine Zusatzfragen mehr zu.
Ich rufe die Frage 49 des Herrn Abgeordneten Mattick auf:
Wie wirken sich für die deutsche Verhandlungsführung die öffentlichen Angriffe auf die Verhandlungen mit den Staaten des Ostblocks aus?
— Einen Augenblick bitte, ich darf Sie darauf aufmerksam machen, daß ich eine Zusatzfrage auf dieser Seite des Hauses bereits ebenfalls abgelehnt habe. Ich darf darum bitten, daß solche Zwischenbemerkungen unterbleiben.
Bitte schön, Herr Staatssekretär!
Herr Abgeordneter, für jeden, der im Ausland Verhandlungen oder Gespräche führt, ist es selbstverständlich eine schwere Belastung, wenn er an Stelle der durch nationale Inter-
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5786 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Parl. Staatssekretär Moerschessen gebotenen Unterstützung pausenlos öffentlich angegriffen wird.Ganz besonders schädlich im Sinne der Interessen der Bevölkerung kann eine solche Situation werden, wenn es sich bei den im osteuropäischen Bereich zu führenden Gesprächen um Wirtschaftsthemen handelt. Der Gesprächspartner wird sich verständlicherweise nur schwer bereit finden, sich z. B. in der Kreditfrage auf Marktbedingungen einzulassen, solange er einem Gesprächspartner gegenübersitzt, dessen Versuche, ihn zu überzeugen, von einem Chor heimatlicher Polemik übertönt werden, wonach der Betreffende zum „Ausverkauf", zu „Geschenken", gar „Reparationszahlungen" oder sonstigen „Leistungen" bereit sei. Die Annahme, der Betreffende wolle nur bluffen, drängt sich dem Partner auf, und mit großer Wahrscheinlichkeit können die Gespräche ergebnislos — zum Schaden der deutschen Wirtschaft, zum Schaden der Bevölkerung verlaufen.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Mattick.
Herr Staatssekretär, gibt es in unseren benachbarten und verwandten Demokratien irgendwelche ähnlichen Beispiele, daß sich die Opposition so gegenüber einer verhandelnden Regierung verhält, wie das hier im Parlament geschieht?
Herr Abgeordneter, ich glaube, daß man hier von einer Generalisierung absehen sollte. Aber es ist in der Tat in manchen Gesprächen der letzten Zeit schwierig gewesen, den Gesprächspartnern klarzumachen, daß hier von oppositioneller Seite an Stelle von Informationen Spekulationen ausgebreitet worden sind.
Eine zweite Zusatzfrage, der Herr Abgeordnete Mattick.
Herr Staatssekretär, wundert sich die polnische Regierung nicht manchmal darüber, wie sich Vertreter der CDU verhalten, wenn sie mit uns gemeinsam in Konferenzen mit Polen — in Warschau oder hier — zusammensitzen, und was sich hier im Parlament abspielt? Werden denn die polnischen Vertreter aus dieser schizophrenen Haltung der Opposition überhaupt noch klug?
Herr Abgeordneter, offiziell haben sich Regierungen über Gespräche nicht zu wundern. Privat haben auch Diplomaten ihre Meinung.
Vizepräsident von Hassel, Eine Zusatzfrage, I der Herr Abgeordnete Dr. Mertes.
Herr Staatssekretär, um auf das Thema Geltendmachung deutscher Rechte und Interessen in Verhandlungen der Bundesregierung mit ausländischen Regierungen oder auch der Regierung der DDR zurückzukommen: Können Sie bestätigen, daß die verantwortliche Erfüllung der kritischen Wachter- und Kontrollpflicht der Opposition die Verhandlungposition der Regierung stärkt, und teilen Sie meine Meinung, Herr Staatssekretär, daß es seit eh und je auch in diesem Hause schwierig war, unter Regierung und Opposition Einigkeit darüber zu erzielen, wie stark sich die Regierung von der Opposition kritisieren lassen darf?
Herr Abgeordnter, ich kann Ihnen bestätigen, daß es bei Ihrer Frage vor allem auf das Adjektiv „verantwortlich" ankommt. Für
verantwortlich halte ich es, wenn es wie im
angelsächsischen Raum üblich zu einer wirklich
abgestimmten Verhaltensweise kommt. Für wenig verantwortlich halte ich es, wenn von einzelnen Organen, die der Opposition angehören oder ihr nahestehen oder auch von Mitgliedern der Opposition in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt worden ist, die Bundesregierung sei zu Zinssubventionen in irgendeiner Form bereit, so daß die andere Seite davon ausgehen mußte, daß es sich hier in der Tat um Inside-Informationen und nicht um Vermutungen unbegründeter Art handelt. Genau das ist das Problem, das der Kollege Mattick in seiner Frage angeschnitten hat, was ich hier darstelle. Herr .Abgeordneter, es kommt wie gesagt auf das Wort verantwortlich an. Ich weiß, daß dies natürlich der subjektiven Wertung der einzelnen unterliegt. Das können wir leider -- oder Gott sei Dank — nicht ausschalten. Deswegen handeln aber auch einzelne Abgeordnete dabei auf eigene Risiken und eigene Gefahr.
Vizepräsident von Hassel, Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Gerster.
Gerster (CDU 'CSU) : Herr Staatssekretär, könnten Sie dem Herrn Kollegen Mattick vielleicht bestätigen, daß die Beurteilung einer parlamentarischen Demokratie und einer parlamentarischen Opposition durch die Regierung einer sogenannten Volksdemokratie naturgemäß anders ausfallen muß, als etwa die Beurteilung der parlamentarischen Opposition in unserem Land ausfallen müßte.
Herr Abgeordneter, ich sehe keinen Anlaß, aus der Frage des Abgeordneten Mattick in irgendeiner Form den Begriff der Volksdemokratie abzuleiten. Aber ich bin gern bereit,
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5787
Parl. Staatssekretär Moerschvielleicht einmal im Archiv des Bundestages nachforschen zu lassen, was Regierungen, die Ihnen sehr viel näherstanden als diese, früher zur Verantwortlichkeit des Parlaments in außenpolitischen Fragen an die Adresse der Sozialdemokraten gesagt haben.
Ich rufe die Frage 50 des Abgeordneten Mattick auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die gegenwärtig laufenden Gespräche über die Gestaltung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den Staaten des Ostblocks und die Interessen der deutschen Wirtschaft an dieser Zusammenarbeit?
Bitte schön, zur Beantwortung, Herr Staatssekretär!
Die Bundesregierung führt gegenwärtig Gespräche über die Gestaltung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den osteuropäischen Staatshandelsländern. Sie tut dies in der Erkenntnis, daß es auch außerhalb des Handels Möglichkeiten wirtschaftlicher Beziehungen gibt. Die Bundesregierung hat daher schon frühzeitig Gespräche über die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den osteuropäischen Staatshandelsländern aufgenommen, die im Falle der Sowjetunion und Rumäniens zu dem Abschluß von langfristigen Rahmenabkommen über Kooperation geführt haben. Innerhalb der auf Grund dieser Kooperationsabkommen geschaffenen Gemischten Kommissionen finden regelmäßig Gespräche über mögliche Bereiche und Formen der Zusammenarbeit statt. Verhandlungen über ähnliche Kooperationsabkommen sind mit allen anderen osteuropäischen Staatshandelsländern aufgenommen worden. Im Laufe des Jahres 1974 dürften die entsprechenden Abkommen fertiggestellt sein. Außerhalb dieses durch die Kooperationsabkommen gesteckten Rahmens finden Gespräche über konkrete Kooperationsprojekte statt. Diese sind jedoch Angelegenheit der Unternehmen. Die Interessen der deutschen Wirtschaft sind auf eine Erweiterung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den osteuropäischen Staatshandelsländern gerichtet. Ich darf hier auf das Zitat von Herrn Wolff von Amerongen als dem Präsidenten und Sprecher des Deutschen Industrie- und Handelstags verweisen, das der Kollege Bahr vorhin zu einer ähnlichen Frage gebracht hat.
Zusatzfrage, der Abgeordnete Mattick.
Herr Staatssekretär, können Sie uns sagen, welche Bedeutung diese wirtschaftlichen Kontakte und die wirtschaftliche Zusammenarbeit für die Menschen in diesen Ländern haben und welche Bedeutung sie für die Kontakte zwischen Ost und West haben?
Ich bin sicher, daß allein durch den Zwang zu einer Zusammenarbeit — der Austausch von Experten hat sich in bestimmten Bereichen in den letzten Jahren verdreifacht — eine Entmythologisierung in unseren Beziehungen entsteht, da es eben Informationen in größerer Zahl aus erster Hand gibt.
Zum zweiten ist jede Art, solche Staatshandelsländer in eine arbeitsteilige Weltwirtschaft einzubeziehen, auch ein Stück Sicherheit, weil sie ohne eine solche Einbeziehung natürlich viel eher zu Konfrontation und zu Spannungen neigen, als wenn die Interessenverflechtung gegenseitig ist. Kollege Bahr hat vorhin hier auch die Grenzen des Möglichen durchaus abgesteckt. Aber es ist überhaupt keine Frage, daß die Vorstellungen, die sehr oft auf Vorurteilen in allen Bereichen des Lebens beruhen, nur dadurch zu einem wirklichen Urteil werden können, daß man sich selber an konkreten Beispielen zu einer nüchternen Zusammenarbeit zwingt und gezwungen ist. Das erhöht insgesamt die Sicherheit und damit auch den Frieden in Europa.
Eine zweite Zusatzfrage, der Abgeordnete Mattick.
Darf ich daraus schließen, Herr Staatssekretär, daß Sie dieser Zusammenarbeit auch besondere politische Bedeutung beimessen und daß diese Zusammenarbeit für die politische Entwicklung zwischen beiden Teilen Europas von großer Bedeutung für den Frieden der Welt ist?
Ich halte es deswegen auch für außerordentlich bedeutsam, daß es diese Zusammenarbeit jetzt gibt, nachdem es Zeiten gegeben hat, in denen sie von allen Seiten abgelehnt worden ist, von unserer Seite in Form einer Embargopolitik, von der anderen Seite in Form der Vernachlässigung einer Wirtschaftsordnung, die nicht ihren eigenen Vorstellungen entsprach. Ich sehe darin u. a. praktisch auch eine Anerkennung unserer Vorstellungen von einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung, jedenfalls die Anerkennung, daß es durchaus verschiedene Möglichkeiten einer solchen Ordnung und nicht eine einzige Vorstellung gibt und alle anderen für falsch erklärt werden.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Mertes.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Ansicht, daß die restriktive Auffassung großer Teile des amerikanischen Parlaments in der Frage der Kreditgewährung an die Sowjetunion ebenfalls humanen und friedlichen Motiven entspringt?
Herr Abgeordneter, ich teile die Auffassung, daß die amerikanische Seite nicht zuletzt durch ihre Art der Exportfinanzierung es in den letzten Jahren sehr gut verstanden hat, ihren Exportanteil auszuweiten, nämlich um 100%.
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5788 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Parl. Staatssekretär MoerschDas scheint mir doch eine sehr bedeutsame Entwicklung zu sein.
Ich rufe die Frage 51 des Abgeordneten Dr. Schweitzer auf:
Besteht Übereinstimmung zwischen der Bundesregierung und der Regierung der französischen Republik in der Beurteilung des derzeitigen Verhandlungsstands auf der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa?
Der Fragesteller ist anwesend. Zur Beantwortung, Herr Staatssekretär.
Die Antwort lautet: Ja, die völlige Übereinstimmung der Bundesregierung und der französischen Regierung in der Beurteilung des derzeitigen Verhandlungsstandes auf der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ergibt sich aus den ständigen und gründlichen Konsultationen, die zwischen den beiden Regierungen auf allen Ebenen sowohl bilateral als auch im Kreise der Neun stattfinden.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Schweitzer.
Herr Staatssekretär, darf ich in diesem Zusammenhang fragen, ob sich nach Auffassung der Bundesregierung der ständige deutschfranzösische Mechanismus gegenseitiger Konsultation und Information — der Vorabinformation und der laufenden Information — auch jetzt wieder im Zusammenhang mit der Reise des französischen Staatspräsidenten in die Sowjetunion bewährt hat, wo offensichtlich auch Fragen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa angesprochen worden sind.
Herr Abgeordneter, die Neun haben eine abgestimmte Position, und wenn von einer Seite neue Gesichtspunkte ins Feld geführt werden, muß diese neue Position ebenfalls gemeinsam abgestimmt werden. Ich bin sicher, daß die französische Seite ihren Gesprächspartnern gegenüber nie einen Zweifel daran gelassen hat, daß sie hier nicht einzeln vrhandelt, sondern ihre Position im Rahmen der Neun bezieht und selbstverständlich auch bereit ist, Argumente der anderen Seite in die Gespräche der Neun einzuführen. Das ist völlig natürlich und auch erwünscht.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 52 des Abgeordneten Dr. Schweitzer auf:
Stimmt die Bundesregierung der Beurteilung des amerikanischen Außenministers Kissinger zu, wonach es bei dessen letztem Besuch in Bonn das einzige bilaterale Problem gewesen sei, überhaupt einen Themenkomplex zu finden, der in unseren Beziehungen zu den Vereinigten Staaten ein Problem darstelle?
Herr Abgeordneter, ich beantworte die Frage mit Ja. Ich darf wegen der fortgeschrittenen Zeit darauf verweisen, daß der Bundesaußenminister sie gestern ausführlich beantwortet hat. Sie haben diese Frage, glaube ich, an einer Stelle sogar selbst als Zusatzfrage gestellt. Vielleicht darf ich es damit bewenden lassen.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Schweitzer.
Können Sie Meldungen bestätigen, Herr Staatssekretär, wonach die Bundesregierung auf dem besten Wege ist, die ebenso alte wie schwierige Frage der Devisenausgleichsverhandlungen, die seinerzeit der Regierung Erhard zum Verhängnis wurde, in vollem Einvernehmen mit unserem amerikanischen Partner und Verbündeten zu regeln?
Herr Abgeordneter, ich bin nicht in der Lage, hier jetzt Einzelheiten mitzuteilen. Aber wir sind immer davon ausgegangen, daß diese Regelung in einem einvernehmlichen und für beide Teile befriedigenden Sinne erfolgen wird, nicht zuletzt auch deshalb, weil sich die amerikanische Zahlungsbilanz durch die allgemeinen Veränderungen in der Währungspolitik und in der Weltwirtschaft zugunsten der USA verbessert hat.
Eine Zusatzfrage, bitte schön!
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht auch der Meinung, daß die amerikanische Verstimmung in den letzten Tagen und Wochen auch darauf zurückzuführen ist, daß es der Bundesregierung nicht gelungen ist, in Abstimmung mit den französischen Verbündeten und Freunden eine europafreundliche und für die Integration förderliche Politik energisch voranzutreiben?
Herr Abgeordneter, ich bin der Meinung, daß es ganz falsch wäre, der Bundesregierung irgend etwas in diesem Zusammenhang zu unterstellen oder ihr irgendwelche Vorwürfe zu machen. Ich hatte den Eindruck, daß Ihre Kollegen, nachdem sie im Auswärtigen Ausschuß unterrichtet worden waren, nicht einmal mehr die Spur eines Ansatzes für eine solche Kritik finden konnten. Ich möchte allerdings darauf hinweisen, daß es ein völliges Rollenmißverständnis wäre, wenn Sie glauben würden, daß die Bundesregierung eine Art praeceptor europae werden sollte.
Die Frage 53 der Abgeordneten Frau von Bothmer ist von der Fragestellerin zurückgezogen worden.Ich rufe die Frage 54 des Abgeordneten Gierenstein auf. — Ist der Abgeordnete anwesend? — Er ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5789
Vizepräsident von HasselIch rufe die Frage 55 des Abgeordneten Dr. Waigel auf. — Ist der Fragesteller anwesend? — Er ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Das gleiche gilt für die Frage 56 des Abgeordneten Dr. Waigel. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär, für die Beantwortung der Fragen aus Ihrem Geschäftsbereich.Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau auf, und zwar die Frage 2 des Abgeordneten Dr. Schneider:Hält die Bundesregierung das geltende Sozialmieten- und Berechnungsrecht noch mit der tatsächlichen wirtschaftlichen Lage und Kostenentwicklung in der Wohnungswirtschaft für vereinbar, und bis wann ist die Bundesregierung bereit, die seit Jahren dringliche umfassende Reform des Sozialmieten- und Berechnungsrechts in Angriff zu nehmen und dabei auch die Regelungen für die Instandhaltungs- und Verwaltungskostenpauschale der tatsächlichen Kostenentwicklung anzupassen?Zur Beantwortung, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Haack.
Herr Kollege Schneider, die Bundesregierung ist bereit, die Neubaumietenverordnung 1970 und die Zweite Berechnungsverordnung zu reformieren. Sie strebt dabei im Einvernehmen mit den Ländern eine wesentliche Vereinfachung an, die zum Teil auch von einer Änderung des Zweiten Wohnungsbaugesetzes abhängig ist.
Eine kurzfristige Änderung des Zweiten Wohnungsbaugesetzes wird kaum möglich sein. Andererseits sind die Pauschalen für Verwaltungs- und Instandhaltungskosten dringend der Entwicklung der Preise anzupassen. Aus diesem Grunde soll unabhängig von der Reform vorab eine Änderung der Zweiten Berechnungsverordnung eingeleitet werden, sobald die in Auftrag gegebenen Untersuchungen abgeschlossen sind. Damit ist im Mai dieses Jahres zu rechnen.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Schneider.
Herr Staatssekretär, welche Auswirkungen wird die neue Rechtslage für die Mieter bringen, und werden die Vermieter durch die neue Rechtslage in die Lage versetzt sein, den Substanzwert der Wohnungen zu erhalten und nachhaltig zu sichern?
Diese letzte Frage enthält genau das Problem, um das es geht. Wir sind der Auffassung, daß unabhängig von der Gesamtreform gerade eine Änderung der Berechnungsverordnung vorgezogen werden muß, nach Möglichkeit noch in dieses Jahr.
Eine zweite Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Schneider.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung, ist insbesondere der Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau in der Lage, auch mit Rücksicht auf die Vorstellungen der Bundesländer für die Vorlagen, die erbeten sind, neben dem genannten Termin weitere Termine verbindlich bekanntzugeben?
Verbindlich kann ich das nicht machen. Ich würde nur sagen, die Reform wäre sozusagen der zweite Schritt. Wir stehen aber in enger Verbindung mit den Ländern. Sie wissen, daß es eine eigene Unterkommission der ARGE Bau gibt, die sich mit diesen Berechnungsfragen befaßt. Wir glauben, daß wir hier zu einer vernünftigen Abstimmung mit den Ländern und im großen und ganzen auch zu einer Einigung mit den Ländern kommen werden.
Keine Zusatzfragen.
Ich danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen aus Ihrem Geschäftsbereich, Herr Staatssekretär.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf.
Die Frage 78 des Abgeordneten Dr. h. c. Wagner wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 79 des Abgeordneten Dr. Schneider auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die Bundesversicherungsanstalt ihre bewährten Förderungsmaßnahmen für die Eigentumsbildung der Arbeitnehmer im Wohnungsbau eingestellt hat, und welche Möglichkeiten sieht sie, daß die Bundesversicherungsanstalt diese Förderungsmaßnahmen fortsetzt oder daß sie durch andere staatliche Förderungsmaßnahmen ersetzt werden?
Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Rohde.
Herr Kollege Dr. Schneider, die von Ihnen genannte Entscheidung haben die Selbstverwaltungsorgane der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte in eigener Zuständigkeit getroffen. Sie hatten dabei zu berücksichtigen, daß die Zahl der Antragsteller weit größer war, als überhaupt zu fördern möglich gewesen wäre, und daß ferner infolge der erheblichen Leistungsverbesserungen des Rentenreformgesetzes von 1972 bei gleichgebliebenem Beitragssatz mehr Geldmittel als vorher den Rentnern zufließen. Darüber hinaus muß der Gesichtspunkt Vorrang haben, daß das erreichte Leistungsniveau der gesetzlichen Rentenversicherung ohne Beitragserhöhung beibehalten werden kann und daß im Hinblick auf die Aufgabenstellung des Versicherungsträgers der Ausbau des Leistungsssystems Vorrang vor der Förderung des Eigenheimbaues hat.Im Hinblick auf diese Sachverhalte sieht die Bundesregierung keine Möglichkeit, die Verfahrensweise der Bundesversicherungsanstalt für An-
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5790 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Pari. Staatssekretär Rohdegestellte zu beanstanden, zumal auch in der Arbeiterrentenversicherung seit längerem keine Förderung möglich ist.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Schneider.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, mir beizupflichten, wenn ich die Auffassung vertrete, daß durch den Wegfall der Förderungsmaßnahmen der Bundesversicherungsanstalt die Bildung von Eigentum gerade durch Bürger mit geringem Einkommen wesentlich erschwert worden ist?
Herr Kollege, Sie werden sicher, wenn ich das zunächst sagen darf, mit mir der Meinung sein, daß es die vorrangige, ja, die eigentliche Aufgabe der Rentenversicherungspolitik ist, das Rentenniveau zu sichern und für Leistungsfortschritt zu sorgen. Das war auch die gemeinsame Überzeugung in den Beratungen des sozialpolitischen Ausschusses des Bundestages.
Zu den Wohnungsbaumaßnahmen darf ich darauf hinweisen, daß es einen umfassenden Katalog staatlicher Maßnahmen zur Förderung des Wohnungsbaues gibt. Sie werden verstehen, daß ich in diesem Zusammenhang nicht in die Einzelheiten gehen kann, zumal sie in den Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau gehören.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 80 der Abgeordneten Frau von Bothmer auf:
Wann wird die Bundesregierung das von Frankreich bereits ratifizierte Europäische Abkommen über Au-pair-Beschäftigte unterzeichnen, nachdem das Abkommen am 30. Mai 1971 in Kraft getreten ist und die von der Bundesregierung auf Anfragen geäußerte Bedingung der Verabschiedung des Mustervertrags seit Januar 1972 erfüllt ist?
Zur Beantwortung, Herr Staatssekretär.
Sehr verehrte Frau Kollegin, nach den entsprechenden Vorbereitungen in den zuständigen Bundesministerien ist in Kürze mit einem Beschluß des Bundeskabinetts zu rechnen, durch den der deutsche Vertreter beim Europarat zur Unterzeichnung des Abkommens ermächtigt werden soll. Ich gehe davon aus, daß dieser Beschluß im Laufe des Frühjahres erfolgt.
Keine Zusatzfrage.
Die Frage 81 des Abgeordneten Marquardt wird auf Wunsch des Antragstellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 82 des Abgeordneten Lenzer auf:
Durch welche Maßnahmen gedenkt die Bundesregierung sicherzustellen, daß die insbesondere durch die flexible Altersgrenze bedingte lange Bearbeitungszeit bei der Rentenberechnung wieder auf einen angemessenen Zeitraum reduziert wird?
Zur Beantwortung, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Lenzer, die Zeit der Bearbeitung von Rentenanträgen war mehrfach Gegenstand von Beratungen des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung mit den Aufsichtsbehörden. Die Bemühungen um eine Beschleunigung des Verfahrens haben dazu geführt, daß der Mitte 1973 gegebene Höchststand an unerledigten Rentenanträgen innerhalb eines halben Jahres in erheblichem Umfang abgebaut worden ist. Diese Entwicklung ist auf eine Erhöhung der Erledigungszahl zurückzuführen, so daß seit einem halben Jahr auch ständig kürzere durchschnittliche Bearbeitungszeiten festzustellen sind.
Es kann davon ausgegangen werden, daß diese Entwicklung weiter anhält. Die Versicherungsträger rechnen mit einer Normalisierung der Bearbeitungsdauer in der zweiten Hälfte dieses Jahres. Einzelheiten hierzu werden in einem Bericht der Bundesregierung dokumentiert, der dem Deutschen Bundestag bis Ende dieses Monats erstattet werden soll.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Lenzer.
Herr Staatssekretär, können Sie Angaben darüber machen, wie hoch in etwa der augenblicklich noch zu bearbeitende Aktenberg ist und wieviel Zeit eine solche Bearbeitung durchschnittlich in Anspruch nimmt?
Herr Kollege, im letzten Jahr ist die Zahl der unerledigten Anträge in der Arbeiterrentenversicherung von 343 000 auf 282 000 und in der Angestelltenrentenversicherung von 124 000 auf 90 000 zurückgegangen. Der Stau der Rentenanträge in der Rentenversicherung wurde also insgesamt um knapp 100 000 abgebaut, und zwar in der Zeit von Mitte 1973 bis Anfang 1974.
Auch die Zahl der beschiedenen Anträge hat zugenommen. Ich will die Fragestunde damit im einzelnen nicht aufhalten; ich bin gern bereit, Ihnen das zu dokumentieren. Soweit es um die durchschnittliche Dauer der Bearbeitung von Rentenanträgen geht, kann ich darüber keine generalisierende Aussage machen, weil sie in vielen Fällen davon abhängt, ob bei der Antragstellung die Unterlagen ausreichend dokumentiert wurden, ob z. B. bei Erwerbsunfähigkeitsanträgen Nachuntersuchungen erforderlich sind und in welchem Zeitraum sich das gestaltet.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Lenzer.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie trotzdem fragen: Was würden Sie — ich frage nach der Auffassung der Bundesregierung — als eine angemessene Bearbeitungsdauer ansehen?
Herr Kollege, das ist unterschiedlich, Fachleute nennen einen Rahmen von
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5791
Parl. Staatssekretär Rohdezwei bis vier Monaten. Die Aussagekraft solcher Durchschnittswerte ist aber nur begrenzt, weil sie nicht die unterschiedlichen Arbeiten berücksichtigen, die aus der Natur der gestellten Anträge im Einzelfall erforderlich sind.
Keine weitere Zusatzfrage. Die Fragen 84, 85, 86, 87 und 88 werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Der Abgeordnete Conradi hat seine Fragen 89 und 90 zurückgezogen.
Ich rufe die Frage 91 des Herrn Abgeordneten Gansel auf:
Was hat die Bundesregierung seit Verabschiedung des 5. AnpG-KOV getan, um ihre Ankündigung zu verwirklichen, für Kriegerwitwen, deren Ehemann 65 Jahre alt geworden wäre, eine Besitzstandswahrung ihrer Renten auf dem Verordnungswege zu regeln?
Der Abgeordnete ist im Saal. Zur Beantwortung Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Gansel, die von Ihnen angesprochene Besitzstandregelung ist in einer Rechtsverordnung der Bundesregierung zum Bundesversorgungsgesetz enthalten, die voraussichtlich in den nächsten Tagen verkündet werden wird. Danach wird eine Minderung der Versorgungsbezüge in Folge der Kürzung des Schadensausgleichs zu dem Zeitpunkt, an dem der verstorbene Ehemann einer Kriegerwitwe das 65. Lebensjahr vollendet hätte, ausgeglichen. Diese Regelung tritt mit Wirkung vom 1. Januar 1974 in Kraft.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Gansel.
Worauf ist diese zeitliche Verzögerung zurückzuführen, Herr Staatssekretär?
Herr Kollege, wir haben die Rechtsverordnung zum Zweck der Beratungen im Bundesrat eingereicht; es ist eine Rechtsverordnung, die der Zustimmung des Bundesrats bedarf. Nachdem diese Zustimmung erfolgt ist, wird sie auch rechtzeitig in Kraft gesetzt.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 92 des Herrn Abgeordneten Gansel auf:
Verfügt die Bundesregierung schon über Erfahrungen bezüglich der „Nachentrichtung von Beiträgen für Personen, die einen Pflegezulagenempfänger unentgeltlich gepflegt haben" nach dem 5. AnpG-KOV, und wie wird die Praktikabilität der Reformvorschrift überprüft?
Bitte, zur Beantwortung, Herr Staatssekretär!
Über die Erstattung von Nachentrichtungsbeiträgen auf Grund der Vorschriften des am 1. Januar 1974 in Kraft getretenen Fünften Anpassungsgesetzes der Kriegsopferversorgung an Personen, die einen Pflegezulageempfänger unentgeltlich gepflegt haben, liegen noch keine Erfahrungen vor.
Mit den für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Verwaltungsbehörden der Länder wurde vereinbart, daß vorerst alle zu entscheidenden Fälle dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung zugeleitet werden. Auf diese Weise sollen Anhaltspunkte für praxisnahe Durchführungsrichtlinien gewonnen werden. Bisher hat sich kein Anlaß ergeben, die einschlägige Vorschrift des 5. Anpassungsgesetzes zu überprüfen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Gansel.
Ist die „geringe Zahl" der Ihnen vorgelegten Fälle möglicherweise auch darauf zurückzuführen, daß diese Vorschrift unter den Betroffenen zuwenig bekannt ist, und ist es vielleicht möglich, daß das Sozialministerium noch einmal eine zusätzliche Aufklärungsaktion dazu durchführt, wenn wir den Etat für Öffentlichkeitsarbeit, der, wie wir wissen, sehr knapp ist, heraufgesetzt haben?
Herr Kollege, ich will nicht ausschließen, daß es noch einen mangelhaften Informationsstand geben kann. Aber ich gehe davon aus, daß insbesondere die Kriegsopferorganisationen mit ihren weitgestreuten Publikationen die Betroffenen darauf aufmerksam machen.
Keine Zusatzfrage. Wir sind am Ende Ihres Geschäftsbereiches angelangt. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär, für die Beantwortung.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Ich rufe die Frage 93 des Herrn Abgeordneten Hölscher auf:
Wieviel Selbstmordfälle gibt es seit 1969 jährlich in der Bundeswehr?
Zur Beantwortung hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Berkhan das Wort.
Herr Präsident, ich würde die Fragen 93 und 94 gern im Zusammenhang beantworten.
Bestehen Bedenken? — Das ist nicht der Fall. Dann rufe ich auch die Frage 94 auf:
Bei wie vielen hiervon handelt es sich um nicht anerkannte Kriegsdienstverweigerer?
Herr Präsident, Herr Kollege Hölscher, die Zahl der Selbstmordfälle in der Bundeswehr betrug: 68 im Jahre 1969, 69 im Jahre 1970, 73 im Jahre 1971, 82 im Jahre 1972 und 96 im Jahre 1973. In den ersten drei Monaten dieses Jahres wurden 18 Selbsttötungen gemeldet. Selbst-
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5792 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
479 im Jahre 1969, 560 im Jahre 1970, 620 im Jahre 1971, 617 im .Jahre 1972 und 715 im Jahre 1973 und in den ersten beiden Monaten dieses Jahres 173.
Das Bundesministerium der Verteidigung wertet erst seit dem Jahre 1972 aus, hei wie vielen dieser Versuche oder der Selbsttötungen es sich um nicht anerkannte Kriegsdienstverweigerer gehandelt hat. Hiernach hat sich im Jahre 1972 ein Soldat das Leben genommen, und 13 haben im gleichen Jahr versucht, sich zu töten. 1973 wurden 10 Selbsttötungsversuche und in den ersten beiden Monaten dieses Jahres eine Selbsttötung und ein Selbsttötungsversuch von Soldaten gemeldet, die nicht als Kriegsdienstverweigerer anerkannt worden sind, obgleich sie einen Antrag gestellt hatten.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Hölscher.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht der Meinung, daß die Bundeswehr aus diesen Geschehnissen in der Weise unmittelbar Folgerungen ziehen müßte, daß alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten angewandt werden, konsequente Kriegsdienstverweigerer, die das durch ihr Verhalten deutlich zeigen, aus der Bundeswehr zu entlassen, wie das kürzlich auch in dem Fall Beuthin, der Ihnen sicher bekannt ist, geschehen ist?
Der Fall Beuthin ist mir bekannt; das ist ein besonders tragischer Fall. Herr Kollege Hölscher, nichtsdestoweniger muß darauf geachtet werden, daß alle Soldaten gleichbehandelt werden. Ich darf Sie daran erinnern, daß derjenige, der vor seiner Musterung einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung stellt, so lange von der Einberufung und der Ausbildung mit der Waffe frei bleibt, bis die Prüfungskammer hierüber entschieden hat. Es handelt sich also bei den Soldaten, die in der Bundeswehr als Kriegsdienstverweigerer auftreten, immer um solche jungen Männer, die entweder von der Prüfungskammer abgelehnt wurden oder die ihren Antrag erst gestellt haben, nachdem sie gemustert bzw. einberufen worden sind.
Wenn Sie einen Vergleich mit der übrigen Zahl der männlichen Bevölkerung ziehen — dazu habe ich hier eine Vergleichszahl von 1962 bis 1971 —, ergibt sich, daß von 100 000 Soldaten 14,8 einen Selbstmord versuchten, während auf 100 000 einer vergleichbaren Gruppe nichtdienender männlicher Einwohner 34,8 Selbstmordversuche kommen. Die Rate ist in der Bundeswehr also durchaus normal. Trotzdem beklage ich mit Ihnen gemeinsam, daß junge Männer aus diesen Gründen versuchen, sich das Leben zu nehmen, und teilweise dabei Erfolg haben.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Walkhoff.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß Herr Brinkmann, der zum
Dienst mit der Waffe gezwungen wurde, obwohl sein Verfahren auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer noch nicht abgeschlossen war, und der Selbstmord beging, ein Opfer der Aufhebung des Erlasses ist, der es einstmals ermöglichte, in solchen Fällen waffenlosen Dienst zu tun?
Es wäre auch möglich gewesen, waffenlosen Dienst in der Bundeswehr zu tun, Herr Kollege Walkhoff, vorausgesetzt, der Soldat wäre als Kriegsdienstverweigerer anerkannt. Herr Brinkmann hat keinen Antrag gestellt, waffenlosen Dienst in der Bundeswehr zu tun, sondern seine Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer betrieben. Nach Anerkennung hätte er auf Antrag waffenlosen Dienst leisten können. Die Anzahl derjenigen Soldaten, die um einen waffenlosen Einsatz gebeten haben, ist so gering, daß es sich kaum lohnt, hier eine Statistik aufzumachen. Es ging dabei also um Kriegsdienstverweigerung aus Prinzip.
Keine Zusatzfragen! — Ich rufe die Frage 95 des Herrn Abgeordneten Walkhoff auf:
Wieviel Selbstverstümmelungen von Bundeswehrsoldaten, die als Kriegsdienstverweigerer nicht anerkannt wurden bzw. vor Abschluß ihres Anerkennungsverfahrens Dienst mit der Waffe leisten mußten, sind seit 1969 vorgekommen?
Dem Bundesministerium der Verteidigung sind keine Fälle von Selbstverstümmelung von Soldaten, die als Kriegsdienstverweigerer nicht anerkannt wurden bzw. vor Abschluß ihres Anerkennungsverfahrens Dienst mit der Waffe leisten mußten, bekannt.
Der Vollständigkeit halber darf ich, Herr Kollege Walkhoff, erwähnen, daß in zwei Fällen Soldaten nach Ablehnung ihres Antrages auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer in den Hungerstreik getreten sind. Ich glaube aber, wir beide sind uns darüber einig, daß es sich hierbei keineswegs um Fälle von Selbstverstümmelung handelt; gesundheitliche Schäden sind jedenfalls dabei nicht aufgetreten.
Keine Zusatzfragen!
Ich rufe die Frage 96 des Herrn Abgeordneten Walkhoff auf:
Ist die Bundesregierung gewillt, zukünftig auf die Begrenzung der Freistellung von Wehrpflichtigen, die sich gemäß § 8 Abs. 2 des Katastrophenschutzgesetzes für mindestens zehn Jahre zum Katastrophenschutzdienst verpflichten, zu verzichten, falls bei den Gemeinden ein Bedarf besteht, der über die von der Bundesregierung festgelegte Höchstzahl hinausgeht?
Zur Beantwortung Herr Staatssekretär.
Herr Präsident! Herr Kollege Walkhoff! Nach den Vorschriften des Katastrophenschutzgesetzes vereinbaren der Bundesminister des Innern und der Bundesminister der Verteidigung unter angemessener Berücksichtigung des Personalbedarfs der Bundeswehr und des Kata-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5793
Parl. Staatssekretär Berkhanstrophenschutzes jeweils die Zahl von Wehrpflichtigen, bis zu der eine Freistellung möglich ist. Diese Zahl wird durch die Länder im Verhältnis der Einwohnerzahl der Bundesrepublik zu der Einwohnerzahl der Regierungsbezirke auf diese aufgeteilt. Es ist die Aufgabe der Regierungspräsidenten, die Aufteilung ihrer Kontingente auf die kreisfreien Städte und Landkreise je nach deren Bedarf vorzunehmen.Die bisherigen Vereinbarungen gestatten dem Katastrophenschutz entsprechend den Wünschen des Bundesministers des Innern, ab Geburtsjahrgang 1946 insgesamt 93 000 wehrpflichtige Helfer zu verpflichten. Tatsächlich haben sich jedoch bisher nur 64 000 Helfer verpflichtet. Es besteht somit allgemein kein über die vereinbarten Höchstzahlen je Geburtsjahrgang hinausgehender Bedarf, obwohl es die Wehrersatzlage in absehbarer Zeit gestatten wird, weitere Wehrpflichtige dem Katastrophenschutz zur Verfügung zu stellen, sofern sie nicht Mangelberufen angehören.
Zu einer weiteren Zusatzfrage der Herr Abgeordnete Walkhoff.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß in zahlreichen Gemeinden Helfer im Katastrophenschutz fehlen, und ist Ihnen ferner bekannt, daß von den Vertretern der Großstädte oft die Kritik vorgetragen wird, daß es an überzeugender Unterstützung der politischen Kräfte in der Bundesrepublik in dieser Frage fehle?
Wenn ich den letzten Teil Ihrer Frage nehme, Herr Kollege Walkhoff, kann ich nur sagen, da gehen Sie von irriger Voraussetzung aus. Aber zum ersten Teil Ihrer Zusatzfrage wiederhole ich hier: Es ist Aufgabe der Regierungspräsidenten, die Aufteilung ihrer Kontingente auf die kreisfreien Städte und Landkreise je nach deren Bedarf vorzunehmen. Ich kann nicht in die innere Verwaltung der Länder eingreifen; ich habe auch nicht die Absicht, dies zu tun, Herr Kollege Walkhoff.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Walkhoff.
Herr Staatssekretär, betrachten Sie den Ausbau des dem Zivildienst gleichwertigen Katastrophenschutzes als einen Beitrag zur Abschaffung der Gewissensprüfung von Kriegsdienstverweigerern, indem durch die Einrichtung einer ausreichenden Zahl von Plätzen Drückebergerei auasgeschlossen und somit eine wichtige Voraussetzung für eine grundlegende Reform der Kriegsdienstverweigerung geschaffen wird?
Ich kann nicht ganz den Zusammenhang verstehen. Aber, Herr Kollege Walkhoff, ich würde nicht davon ausgehen, daß es sich hier um eine Freifahrt handelt, wenn ich Sie akustisch richtig verstanden habe. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine notwendige Vorbeugemaßnahme, um bei eventuellen Katastrophen ausgebildete junge Männer zur Verfügung zu haben, die der Bevölkerung mit Schutz und Hilfe zur Verfügung stehen können.
Ich rufe als letzte Frage dieser Fragestunde die Frage 97 des Herrn Abgeordneten Müller auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung, das Prüfungsverfahren für Wehrdienstverweigerer abzuschaffen, sobald genügend Ersatzdienstplätze vorhanden sind, und wann ist gegebenenfalls mit einer solchen Losung zu rechnen?
Zur Beantwortung, bitte, Herr Staatssekretär!
Herr Präsident! Herr Kollege Müller! Das Bundeskabinett hat im November 1973 die Einrichtung einer interministeriellen Arbeitsgruppe beschlossen, um die Frage der Wehrgerechtigkeit im Zusammenhang mit der Wehrstruktur zu untersuchen. Dieser Arbeitsgruppe gehören u. a. an der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, der Bundesminister des Innern, der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, der Bundesminister der Verteidigung, der Bundesminister der Justiz.
Die Federführung obliegt dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung. Die Arbeitsgruppe wird sich mit der Frage beschäftigen, ob und unter welchen Voraussetzungen auf das Anerkennungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer verzichtet werden kann. Sie wird insbesondere zu untersuchen haben, ob es möglich ist, so viele Zivildienstplätze zu schaffen, wie notwendig wären, um alle erklärten Kriegsdienstverweigerer zum Zivildienest einberufen zu können.
Darüber hinaus bedarf es der Prüfung, ob noch von einer Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen und von einer allgemeinen Wehrpflicht gesprochen werden kann, wenn jeder Wehrpflichtige mit der bloßen Behauptung, er verweigere den Wehrdienst aus Gewissensgründen, zu erreichen vermag, daß er nicht zum Wehrdienest herangezogen werden darf. Einen genauen Termin, wann Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe vorliegen werden, kann ich Ihnen zur Zeit nicht nennen.
Keine Zusatzfrage.
Wir sind am Ende unserer Fragestunde angelangt. Die Fragen 121, 122, 127 und 128 sind von den Fragestellern zurückgezogen worden.
Die in dieser Woche nicht aufgerufenen Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Zur Geschäftsordnung hat sich der Abgeordnete Seiters gemeldet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die mit der Volksrepublik Polen vereinbarten Aussiedlungsaktionen verlaufen, wie eigentlich unstreitig sein sollte, absolut unbe-
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5794 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Seitersfriedigend. Nur in seltenen Fällen werden die Gründe für die Ablehnung von Aussiedlungsbegehren mitgeteilt. Es gibt glaubwürdige Informationen über Einschüchterungen und Schikanen gegenüber Aussiedlungswilligen. Offen ist der Zusammenhang zwischen Aussiedlung und Kreditwünschen der polnischen Regierung.Ich möchte ausdrücklich feststellen, daß die nebelhafte und ausweichende Antwort der Bundesregierung auch in der heutigen Fragestunde unbefriedigend geblieben ist.
Ich möchte hinzufügen: völlig unpassend ist die unseriöse, leichtfertige und penetrante Art und Weise, mit der der Parlamentarische Staatssekretär, Herr Moersch, glaubt in dieser Fragestunde auftreten zu können.
Wir halten eine Aktuelle Stunde des Deutschen Bundestages für notwendig. Diese möchte ich im Namen der CDU/CSU-Fraktion beantragen.
Meine Damen und Herren, auf Grund der Ziffer 2 der Richtlinien über die Aktuelle Stunde ist eine Aussprache auf Verlangen begehrt. Dem Begehren muß stattgegeben werden, wenn mehr als die Stärke einer Fraktion, d. h. 26 Abgeordnete der antragstellenden Fraktion anwesend sind. Das ist zweifelsohne der Fall.
Dann treten wir in die
Aktuelle Stunde
ein.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Marx.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Fraktion hat diese Aktuelle Stunde nach langem Zögern beantragt
— zögern deshalb, weil wir darauf warteten, daß es dieser Regierung gelingt, tatsächlich ein Stück greifbarer und dauerhafter Entspannung ins deutschpolnische Verhältnis zu bringen, Versöhnung zwischen den Völkern, wie immer gesagt worden ist. Uns, der CDU/CSU, ist an einer vernünftigen PolenPolitik, an einem Ausgleich mit Polen gelegen. Wir haben zu diesem Thema in den letzten Jahren unsere Gedanken, Absichten und Vorschläge in diesem Hause und gegenüber der Öffentlichkeit vorgelegt. Ich beziehe mich ausdrücklich darauf, auch auf den Antrag der CDU aus dem Dezember 1970, und füge hinzu: wir wünschen es sehr, daß die polnische Seite diese unsere Auffassung hört und versteht.Aber die Art und Weise, wie trotz aller Zusagen und Versprechungen das Problem der Aussiedlungbehandelt wird, stört eine positive Entwicklung des deutsch-polnischen Verhältnisses. Dabei finden wir: die Handlungsweise der Bundesregierung muß unserer scharfen Kritik unterzogen werden.
Die Bundesregierung hat — und das war ihr fundamentaler Fehler — bei der Aushandlung des Vertrags mit Warschau nicht die Geduld, Zähigkeit und Kraft gehabt, im Vertrag selbst eine Regelung für die betroffenen Menschen zu finden. So kommt es, daß wir seither immer wieder darauf angewiesen sind, Fragen zu stellen und die Regierung zu drängen. Herr Kollege Moersch, Sie haben sich wiederholt darüber mokiert — auch heute, auch heute vor acht Tagen —, aber die Tatsache, daß wir immer wieder fragen, Herr Moersch, hängt von der Qualität Ihrer Antworten ab.
Wir fragen, um mitzuhelfen, daß gegebene Zusagen, wie z. B. jene der polnischen „Information" aus dem Dezember 1970 oder jene anderen, die anläßlich der Besuche des polnischen Außenministers hier oder eines seiner Stellvertreter und des deutschen Außenministers in Warschau abgegeben oder in Aussicht gestellt worden sind, endlich eingehalten werden. Wir fragen, weil es hier, meine Damen und Herren, um ein sehr ernstes Problem geht. Aber es geht nicht um irgendeine Theorie, um ein abstraktes Problem, sondern um Menschen, um Hunderttausende von Menschen. Sie werden bitte verstehen, daß die Fraktion der CDU/CSU dazu fragt, drängt und ihre Meinung sagt.Meine Damen und Herren, wenn man die Antworten der Regierung ihres schnoddrigen Gehalts entkleidet, wird uns deutlich, daß nichts oder kaum mehr etwas vorangeht. Ich möchte gern hinzufügen, daß uns und doch sicher auch Sie, Herr Kollege Moersch, viele Nachrichten erreichen, wonach es in Polen bzw. in den deutschen Ostgebieten eher noch schlimmer geworden ist und viele noch verzweifelter sind als früher.
Meine Damen und Herren, während die Bundesregierung die Oder-Neiße-Linie zur Westgrenze Polens erklärte, ließ sie die Deutschen, die ostwärts dieser Linie wohnen, ohne ihre nachdrückliche Fürsorge.Herr Kollege Moersch, Sie haben in der letzten Fragestunde z. B. gesagt, daß seit Vertrag und „Information" 51 000 Menschen herübergekommen seien, die, wenn es Vertrag und Information nicht gegeben hätte, diese Chance eigentlich gar nicht gehabt hätten. Aber angesichts der geschichtlichen Tatsachen können Sie mit solchen Behauptungen und auch mit dem Umgang von Zahlen, wie wir es immer wieder erleben, den eklatanten Mißerfolg der Bundesregierung nicht zudecken. Ich möchte daher hier ein für allemal festhalten, daß nach dem Abbremsen starker Aussiedlungsströme während des Zeitraums von 1957 bis 1970 im monatlichen Durchschnitt trotzdem 2 100 Deutsche zu uns herüberkamen. Das war also zur Zeit Adenauers, Erhards und Kiesingers. Ich habe dabei sogar noch das schlechteste Jahr,
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5795
Dr. Marxnämlich 1970, mit eingerechnet, also das erste Jahr dieser Regierung.Dies alles war vor dem Abschluß des Vertrags möglich, der der offiziellen Sprachregelung entsprechend Normalisierung bringen oder sie einleiten und vorantreiben sollte.
Ihre Zeit läuft ab, Herr Kollege.
Noch einen Satz, Herr Präsident, dann bin ich fertig.
Heute aber sprechen die Zahlen, die die Regierung selbst vorträgt, eine bittere Sprache. Wenn, meine Damen und Herren, im Januar dieses Jahres noch 536 und im Februar dieses Jahres noch 368 Menschen herübergekommen sind und uns zur gleichen Zeit versichert wird, in diesem Jahr würden noch 50 000 Menschen zur Einreise in die Bundesrepublik Deutschland herausgelassen, dann, Herr Kollege Moersch, fordern wir die Bundesregierung auf, ihre Kräfte zu verstärken, um dafür zu sorgen, daß vieles von dem, was uns immer wieder versprochen worden ist, endlich wahr gemacht wird.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Wischnewski.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zuerst möchte ich den völlig ungerechtfertigten Angriff gegen den Parlamentarischen Staatssekretär Moersch scharf zurückweisen.
Ich möchte Ihnen folgendes sagen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Ich gehe ja einig mit Ihnen
— er wird auch reden, Herr Kollege Marx; das ist unbestritten —, daß es Fragen gibt, über die man miteinander reden muß.
Nur sage ich eines: Wenn es um Lösungen geht, wäre es gut gewesen, wenn Ihre Fraktion im Auswärtigen Ausschuß die Gelegenheit wahrgenommen hätte,
über schwierige Probleme vertraulich zu reden,
statt hier eine Veranstaltung durchzuführen, die eher das Gegenteil bewirkt. Das wäre der richtige Platz gewesen.
Nun lassen Sie mich bitte, meine sehr verehrten Damen und Herren, fünf Bemerkungen machen.Erstens. Ich hoffe, für uns alle — bei manchen Tönen habe ich allerdings in der Zwischenzeit erheblichen Zweifel — sind die Beziehungen zwischen unserem Land und Polen von ganz besonderer Bedeutung. Niemand wird bestreiten können, daß kein Volk unter dem Nationalsozialismus und dem letzten Krieg mehr gelitten hat als das polnische Volk.
Wir haben uns dieser Fragen deshalb gemeinsam mit besonderer Behutsamkeit anzunehmen. Wir sollten nichts tun, was die Beziehungen stört, aber wir haben natürlich für die Interessen der Deutschen, die ausreisen wollen, einzutreten.
Humanitäre Probleme, meine sehr verehrten Damen und Herren, gibt es auf beiden Seiten. Die polnischen Bürger haben Jahr für Jahr Millionenbeträge an Steuern aufzubringen und für die zu leisten, die während der Zeit des Nationalsozialismus gelitten haben. Auch daran ist zu denken. Wir sollten feststellen, daß sich seit der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrages die Zahl derjenigen, die zwischen Polen und der Bundesrepublik hin- und herreisen können, erfreulicherweise vervielfacht hat. Auf diesem Gebiet gibt es eine erfreuliche Entwicklung.
Zweitens. Die Bundesregierung befindet sich in der Frage der Familienzusammenführung und der Umsiedlung von Deutschen in ständigen Verhandlungen mit der polnischen Regierung. Es gibt keine andere Möglichkeit, als ständig und intensiv und eindeutig Verhandlungen zu führen.
Ich erinnere daran, daß das im Zusammenhang mit dem Vertrag geschehen ist und daß anschließend fortgesetzt Verhandlungen geführt worden sind.
In Helsinki und in Warschau hat der Außenminister mit dem polnischen Außenminister Verhandlungen geführt; der polnische stellvertretende Außenminister war mehr als einmal hier, um auch über diese Fragen zu sprechen, und ich gehe von der Voraussetzung aus, daß diese Verhandlungen noch im Laufe dieses Jahres zu einem günstigen Ergebnis führen werden.
Ich halte die Aussage des polnischen Außenministers über das, was für dieses Jahr vorgesehen ist, für von außerordentlicher Bedeutung.
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5796 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
WischnewskiDrittens. Meine sehr verehrten Damen und Herren, solche Auseinandersetzungen, wie wir sie hier erleben, sind nicht dazu angetan, dem Problem weiterzuhelfen. Ich empfehle noch einmal dringend, im Auswärtigen Ausschuß über die schwierigen Probleme vertraulich zu reden und hier nicht öffentliche Veranstaltungen durchzuführen.
Viertens. Wir bedauern außerordentlich, daß nicht schon viele Jahre vorher die Möglichkeit, die sich geboten hatte, das Gespräch über diese Fragen auf dem Verhandlungsweg aufzunehmen, genutzt wurde. Ich erinnere daran, daß die Volksrepublik Polen im Jahre 1957 der Bundesrepublik ohne jegliche Bedingung angeboten hat, die diplomatischen Beziehungen aufzunehmen. Die damalige Bundesregierung hat darauf verzichtet und damit ein schweres Versäumnis auf sich geladen, das die Situation natürlich im Laufe der Jahre erschwert hat.
Fünftens. Im übrigen gehe ich davon aus, daß wir in Ruhe und Sachlichkeit das tun sollten, was das deutsch-polnische Verhältnis verbessert und unseren Landsleuten hilft, ihr Ziel zu erreichen. Wir werden uns darum bemühen, unseren Beitrag in dieser Frage zu leisten.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Czaja.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hunderttausende Deutsche in den Oder-Neiße-Gebieten fühlen sich von einem Teil unserer Staatsorgane völlig verlassen.
Sie fordern, daß wir mahnend und anklagend die' Stimme erheben. Die Opposition muß reden, wenn die Regierung und die Koalition darüber schweigen, was sie tatsächlich für diese Menschen, für die bedrängtesten unserer Bürger, tun.Weder unserer jetziger Fraktionsvorsitzender — das möchte ich sagen, weil da so etwas aufklang — noch unser früherer Fraktionsvorsitzender hat zu diesem Unrecht geschwiegen. Es ist das Gebot der Verfassung — das Gebot, Herr Staatssekretär Moersch —, wirksame Hilfe allen Deutschen und jedem einzelnen von ihnen zum Schutz auch gegen fremdes Unrecht zu leisten. Dieses Gebot aber wird umgangen und verletzt.Mehr als eine Million deutscher Staatsangehöriger leben in den Oder-Neiße-Gebieten. Das hat die Bundesregierung am 2. April 1971 ausdrücklich bestätigt. Heute wagt man es nicht einmal, diese deutschen Staatsangehörigen hier so zu nennen, obwohl nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts kein Drittstaat deutsche Staatsangehörigkeit aberkennen darfund kann. Selbst die Trennung mehrerer hundert unmündiger Kinder von ihren Eltern verschweigt Herr Moersch, obwohl selbst der Führer der polnischen Demokratischen Sozialisten, Adam Prager, dies in einer polnischen Zeitung in London in den letzten Tagen angeprangert hat.
Der Parlamentarische Staatssekretär des Auswärtigen stellt sich unwissend und versucht provokativ, den Fürsprechern der Schutzpflicht den Wunsch nach unfriedlichen Mitteln zu unterstellen. Er weiß nicht, daß die gesamte Rechtslehre unter gebotenem, legalem aktivem Handeln zum Schutz Deutscher gegen fremdes Unrecht unter anderem versteht: Keine finanziellen und wirtschaftlichen Vorteile sind dort zu gewähren, wo täglich tausendfach Menschen- und Grundrechte gebrochen, Deutsche verfolgt, ihrer Existenz und ihrer Sprache beraubt werden.Polen wurde auch noch nicht durch eine Note auf die Konsequenzen auch für die deutsche Vertragsbindung hingewiesen, wenn Polen die Vertragsgrundlagen dauernd bricht. Noch in der Ratifizierungsdebatte hat die Regierung immer wieder gesagt, die tatsächliche Nichterfüllung der Vertragsgrundlagen erschüttere den Vertrag. Jetzt aber schweigt die Regierung ganz eindeutig dazu.Es fehlen auch Angaben über die Verbalnoten und über die Demarchen in allen Einzelfällen, wie sie frühere deutsche Regierungen z. B. jahrelang in Moskau mit Erfolg vorgelegt haben.Sträflicherweise hat man es auch unterlassen, die Dokumentation über die tatsächlichen Zahlen der Aussiedlung seit 1957 zu geben. Herr Kollege Wischnewski, in dem monierten Jahr 1958 kamen 10 000 Aussiedler pro Monat, 120 000 im ganzen Jahr 1958. Man hat es versäumt, den Rückgang seit Abschluß der Verträge offenzulegen. Über die Schikanen breitet man eine Nebeldecke.Demgegenüber muß man erklären: Nur durch das Wachrütteln des öffentlichen Bewußtseins kann man Diktaturen etwas abringen.
Siehe z. B. die Ausreise der Juden aus der Sowjetunion und die Aktion von Senator Jackson in Amerika.Herr Moersch redet ständig von der deutschen Hilflosigkeit bei der Wahrung deutscher Interessen. Der Hinweis auf die deutsche Vergangenheit kann aber nicht neue Rechtsbrüche anderer rechtfertigen.
Moersch verschleiert, beschönigt und vertröstet auf immer neue Gespräche. Herr Staatssekretär, in vielen Einzelfällen wird man dazu unzweifelhaft Amtshaftung geltend machen.1972, beim Versuch, über große Teile Deutschlands zu verfügen, tröstete man das Volk mit humanitären Erfolgen. Heute öffnet man sich finanziellem Druck und der Einmischung in unsere freie Staats-und Rechtsordnung. Man drängt sich förmlich zur Mitwirkung bei ider Entstellung unserer Geschichte,
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5797
Dr. Czajazur Diffamierung und Unterdrückung der Vertriebenen.
Herr Abgeordneter Wehner, Sie haben gesagt: „Sie sind ein Lügner." Ich rufe Sie zur Ordnung.
Herr Wehner, ich will Ihnen ganz nüchtern etwas sagen: Ich habe weder die braune noch die rote Diktatur gestützt; diejenigen, die da geirrt haben, sollten dieserhalb zurückhaltender sein.
Seit vielen Jahren gab es nicht eine solch unzulängliche Vertretung der auswärtigen Interessen Deutschlands und der Rechte der Deutschen. Unter völliger Mißachtung berechtigter deutscher Interessen entstehen Ersatzfriedensverträge. Das vernichtende Urteil der Geschichte
über diese Außenpolitik zeichnet sich deutlich ab. Die Opposition kann nicht schweigen; sie wird immer wieder das menschliche und rechtliche Versagen dieser Regierung anprangern.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Moersch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich nehme zur Kenntnis, Herr Kollege Marx und Herr Kollege Czaja, daß die Opposition oder Teile von ihr offensichtlich das Bedürfnis verspüren, sich nach Herrn Kollegen Bahr einen zweiten Buhmann innerhalb der Bundesregierung zu suchen.
— Meine Herren, wenn Sie etwas artikulierter reden oder gemeinsam singen, können wir das möglicherweise verstehen.
Ich darf Ihnen nur folgendes sagen. Wenn Sie glauben, daß Sie denjenigen nützen, denen Sie nützen wollen, durch die Art, wie Sie zum hundertsten und hundertundsechsten Male heute bestimmteFragen wiederholen und dabei ganz genau wissen — einige müßten es jedenfalls wissen —, was die Bundesregierung getan hat und in welcher Weise sie sich wirklich und mit weichem Erfolg bemüht hat, dann säen Sie Zweifel an Ihrer Seriosität und nicht an derjenigen derer, die von Amts wegen gezwungen sind, sich im Interesse der Betroffenen so zu verhalten, wie sie sich verhalten.
Herr Kollege Marx, zum Tatsächlichen darf ich Ihnen nur noch einmal sagen — damit nicht weiter eine Legende gewoben wird —, daß es keine Möglichkeit gab — die Auffassung der polnischen Seite ist Ihnen längst bekannt; das können Sie hier vielleicht wiederholen, aber das macht die Sache nicht anders —, im Vertrag selbst eine Regelung für diejenigen Bürger zu finden, die nach unserem Grundgesetz deutsche Staatsangehörige, nach polnischer Auffassung aber polnische Staatsbürger sind und in jedem Fall nach unserer Auffassung jedoch heute die Staatsbürgerschaft beider Staaten besitzen. Diese Möglichkeit gab es nicht. Das ist in der Vertragsdebatte und auch in den Ausschüssen ausführlich dargelegt worden.
Ich halte es für unredlich, wenn man so tut, als ob es diese Möglichkeit damals gegeben hätte oder heute gibt. Wenn es diese Möglichkeit gegeben hätte, müßte ich Sie fragen: Warum haben Sie sie dann nicht genutzt?
Das zweite, was ich mit aller Entschiedenheit feststellen muß, ist das: Herr Kollege Marx, durch Wiederholung wird das nicht richtiger, was Sie sagen — ich meine, man sollte sich mit diesem Argument noch einmal auseinandersetzen —, nämlich die Behauptung, daß auch ohne diesen Vertrag und ohne diese Politik Menschen nach 1970 weiterhin aus Polen in die Bundesrepublik Deutschland hätten ausreisen können. Ich stelle noch einmal fest — das ist damals dem Bundestag mit allem Nachdruck gesagt worden, und jeder Ihrer Kollegen, der in Polen einen Besuch gemacht hat, weiß das ganz genau; aber diejenigen, die in Polen einen Besuch gemacht haben, sind heute nicht hier; ich nehme an, sie haben Gründe dafür —, daß die polnische Seite der Meinung war, im Jahres 1970 sei die Umsiedlung praktisch beendet gewesen. Alles, was seitdem noch erreicht worden ist, ist überhaupt nur möglich geworden durch die Politik, zu der wir den Mut hatten, uns zu bekennen, und zu der sich zu bekennen Sie nicht den Mut hatten.
Ich empfehle Ihnen, sich einmal mit dem einen oder anderen Ihrer Kollegen, der mit Landsmannschaften zu tun hat, zu unterhalten, etwa über die Frage, welche Kontaktmöglichkeiten heute bestehen, z. B. mit Pommern, und welche Kontaktmöglichkeiten nicht bestanden haben, bevor wir diese
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5798 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Parl. Staatssekretär MoerschPolitik eingeleitet haben. Wir haben im Jahre 1969 aus Polen in die Bundesrepublik Deutschland 11 319 Besuchsreisende gehabt, darunter 6 226 Verwandtenbesuche. Wir haben im Jahre 1973 aus Polen in die Bundesrepublik 63 958 Besuchsreisende gehabt, darunter 35 730 Verwandtenbesuche. Und wir haben aus der Bundesrepublik nach Polen im Jahre 1969 20 800 Reisende gehabt und im Jahres 1973 164 800. Ich glaube, diese Zahlen sprechen für sich und sprechen gegen Ihre eigene Argumentation.
Ich will darauf verzichten, meine Damen und Herren von der Opposition, hier näher zu untersuchen, wie oft und wie stereotyp sich Fragen inhaltlich wiederholt haben und welche Kollegen von Ihnen dabei den Löwenanteil hatten.
Auffallend ist jedenfalls dies: Wir hatten es immer nur mit einer beredten Minderheit der Opposition zu tun.
Und da drängt sich doch die Frage auf: Was denkt eigentlich die offensichtlich schweigende Mehrheit der CDU/CSU dazu? Warum artikuliert sie sich nicht?!
Warum brechen die Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion nicht ihr Schweigen, von denen wir wissen, daß sie auf Grund eigener Erfahrungen und eigenen Augenscheins unser Verhältnis zu Polen für differenzierter ansehen, als Sie das hier in der Fragestunde, in Zusatzfragen vor allem, tun?!
Gibt es hierzu überhaupt — das frage ich Sie von der Opposition — eine in sich geschlossene, politisch konstruktive Haltung der Opposition?
Und wenn es sie gibt, warum wird sie dann hierin diesem Plenum nicht sichtbar und hörbar, sondern nur der andere Teil, der nicht konstruktiv ist?!
Lassen Sie sich, meine Damen und Herren — gerade die Herren Zwischenrufer sind nämlich gemeint —, noch folgendes sagen.
Kritik ist nach meiner Überzeugung dann am glaubhaftesten und damit auch am wirksamsten, wenn sie auf der Basis eines konstruktiven Gesamtverhaltens gegenüber der Ostpolitik artikuliert wird.
Wer zum deutsch-polnischen Vertrag und damit zu der Politik, die eine abschließende Regelung der offenen Probleme überhaupt erst möglich macht, lautstark und schrill nein gesagt hat, muß sich Zweifel gefallen lassen, wenn er jetzt allwöchentlich genauso lautstark und schrill nach einer rascheren Durchführung der von ihm abgelehnten Vereinbarung ruft.
Hier kommt nämlich etwas ins Spiel, was man die Integrität der politischen Moral nennen könnte, meine Damen und Herren. Die Integrität der politischen Moral
— das darf ich an die Adresse aller Beteiligten hinzufügen — sollte überall Geltung haben.
Darf ich Sie bitten, Herr Staatssekretär, zum Abschluß zu kommen.
In einer Entwicklungsphase der deutsch-polnischen Beziehungen, in der so vieles vom menschlichen Bereich abhängt, müssen alle dies wissen: Je besser es gelingt, die betroffenen menschlichen Einzelschicksale durch gemeinsames Bemühen jetzt positiv zu gestalten, um so fester wird die Grundlage für gute deutsch-polnische Beziehungen in der Zukunft sein. Aber wer sich den Anschein gibt, wie Herr Dr. Czaja, er könne verbal im Bundestag noch einmal die Weltgeschichte verändern, der tut denen, denen er helfen will, in Wirklichkeit einen Bärendienst.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hauser .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Längst ist die Einsicht Allgemeingut, Herr Staatssekretär, daß bei Abschluß des Vertrages mit Polen zu große Hoffnungen geweckt, zu hochgespannte Erwartungen ausgelöst wurden.
Man baute damals im Volk zunächst weithin auf die Vertragsüberschrift,
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5799
Dr. Hauser
die da lautet: Vertrag über die Grundlagen der Normalisierung der gegenwärtigen Beziehungen, und erwartete, daß durch eine Politik, die sittlich verantwortbar sein will, getreu unserer Verfassung, gerade die elementaren Rechte der Hunderttausende, die noch jenseits von Oder und Neiße leben, in den Mittelpunkt der Warschauer Vertragsverhandlungen hineingestellt werden, sei es, daß man die schnelle Aussiedlung sicherte, sei es, daß man aber auch die notwendigen Minderheitenrechte festschrieb. Man setzte auf das Wort des Bundeskanzlers, als er vor dem Abflug nach Warschau zur Unterzeichnung erklärte, hier werde ein Anfang gesetzt, daß nun vielen Tausenden, die noch in Polen leben und nach Deutschland wollen, die Rückkehr ermöglicht wird. Und Brandt fuhr fort: „Damit haben wir ein stärkeres Element an Menschlichkeit in unsere Politik hineingebracht."Man vernahm damals auch das Wort des Herrn Außenministers, wie es in der „Stuttgarter Zeitung" schwarz auf weiß zu lesen war, wo er sagte:Wir wären nicht in der Lage gewesen, diesen Vertrag zu schließen, wenn wir nicht hinreichend Beweise dafür hätten, daß die polnische Seite bereit ist, uns in dem für uns entscheidenden Bereich — menschliche Erleichterungen — entgegenzukommen.
Es liegt in der Natur der Sache,
— so Scheel im gleichen Aufsatz —daß dort das Schwergewicht auf dem verhältnismäßig leicht faßbaren Gebiet der Familienzusammenführung ruht.Solche offiziellen und offiziösen Verlautbarungen können Sie dutzendweise in der regierungsamtlichen Broschüre über den Polen-Vertrag finden.
Sie machten alle den Eindruck, als ob man mit diesem Vertrag — um das süffisante Wort des Herrn Kollegen Schlaga hier zu übernehmen — wirklich die blaue Blume der Ostpolitik gefunden habe. Dabei hatten die Bonner Unterhändler wahrhaftig nicht sorgfältig genug ausgelotet, welchem Personenkreis die humanitären Erleichterungen zugute kommen würden. Von dem „leicht faßbaren" Gebiet der Familienzusammenführung, von dem Herr Scheel in seinem unverwüstlichen Optimismus geredet hat, ist seitdem nicht mehr die Rede.Mühsam muß nun nachgeholt werden, was man im ersten Überschwang der Ostpolitik versäumte, ja, was man fahrlässig in unnötiger Hektik unterlassen hatte,
um nur so schnell wie möglich diesen Vertrag als Ernte einbringen zu können.
Das ist keine leichte Aufgabe, wie die Unterhändlererfahren mußten. Aber die Leidtragenden sind dieMenschen, die sich nach den großen Worten wirklich Hilfe erhofft hatten;
war doch selbst jenen Deutschen, die keine Verwandten in der Bundesrepublik hatten, also weit über die Familienzusammenführung hinaus, die Übersiedlung in Aussicht gestellt worden, die heute besonders die Enttäuschten sind.Statt aber die Schwierigkeiten offen zuzugeben, die sich hier aufgetürmt haben, und sich mit Nachdruck dagegen zu wenden, statt bei der polnischen Regierung immer und immer wieder darauf zu bestehen, die Zusage einzuhalten, daß die Aussiedlung beschleunigt, ja in drei bis fünf Jahren — wie es wörtlich hieß — dieses Problem sogar in umfassender Weise gelöst werde, zog man sich allzu bereitwillig hinter polnische Schutzbehauptungen zurück, etwa so: daß die Ausreise vieler Tausender von Menschen, die dort in einem Arbeitsprozeß stehen, die polnische Regierung vor nicht geringe Schwierigkeiten stelle.Daher sind wir immer wieder gezwungen gewesen, auch in der Fragestunde nachzustoßen.
Auch der Bundeskanzler hat in seinem Interview vom 7. Februar 1974 von einem „irgendwie eingebildeten Prinzip" gesprochen, als er darauf angeredet wurde.
Darf ich Sie bitten, zum Abschluß zu kommen. Die Redezeit ist abgelaufen.
Er meinte, dies sei überhaupt nur eine Angelegenheit, die von Beamten zu erledigen wäre.
Hier, Herr Staatssekretär, muß wirklich ein neuer Anfang gesetzt werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Geßner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Czaja hat in seiner Rede die Behauptung aufgestellt, die Bundesregierung verletze nicht nur das Gebot des Schutzes für Deutsche, sie umgehe es auch. Ich muß gestehen, daß ich darin einen ehrenrührigen Vorwurf erblicke, und ich finde, es hätte diesem Parlament gut getan, wenn diese Rede, die der Kollege Czaja hier gehalten hat, lieber nicht gehalten worden wäre. Sie war beschämend, ignorant; sie war nicht diktiert von der Sorge um Deutsche; sie war diktiert in der Hoffnung, Emotionen aufzuputschen. Das war der tiefere Sinn dieser Rede.
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Dr. GeßnerWer für Deutsche etwas erreichen will, der muß andere Reden halten, als die, die eben hier verbrochen worden ist.
— Ich gebe Ihnen doch nur einen guten Rat. Sie sagen ja, es gehe Ihnen um die Deutschen.
Wir haben über das heute anstehende Problem schon des öfteren diskutiert, und ich nehme an, daß wir auch in Zukunft noch häufig darüber reden werden. Die Bundesregierung kann erklären, was sie will, sie kann noch so sachgerecht hier Auskunft geben:
die Opposition wird immer behaupten, daß ihr diese Auskunft nicht genüge,
und das legt eben den Verdacht nahe, daß es Ihnen nicht um die Sachdebatte geht, sondern daß Sie aus irgendwelchen taktischen Gründen das Spektakel wollen. Darum geht es Ihnen.
Natürlich! Sie kennen sich besser, als Sie nach außen hin zugeben.
Der Kollege Marx 'hat gesagt, ihm gehe es um eine vernünftige Polenpolitik. Bravo, Kollege Marx, das hören wir sehr gern! Aber ich muß Sie schon fragen: woher nehmen sie eigentlich den Mut, eine solche Forderung aufzustellen, wenn Sie im gleichen Atemzug, wie es soeben auch ,der Kollege Czaja getan hat, die polnische Regierung ständig des Vertragsbruchs zeihen?
Glauben Sie denn, es ist für die deutsch-polnischen Beziehungen förderlich, wenn Sie fortwährend behaupten, die andere Seite breche Verträge und Versprechungen?
Wie kommen Sie eigentlich dazu, woher nehmen Sie den traurigen Mut,
die Bundesregierung zu neuen Initiativen zu ermuntern, wenn Sie im gleichen Atemzug wieder behaupten, mit der polnischen Seite Verträge abzuschließen führe eben zum Vertragsbruch, so wie es Herr Czaja soeben in seiner Rede wieder behauptet hat? Es gilt nur das eine oder das andere.
Wenn es Ihnen wirklich um Hunderttausende von Menschen geht, dann, meine Damen und Herren,
müssen Sie sich nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch im Deutschen Bundestag anders verhalten, als Sie es zur Zeit tun.
Das deutsch-polnische Gespräch und die deutschpolnischen Verhandlungen sind durch historische Reminiszenzen belastet; dies wird wohl in diesem Hause unstreitig sein. Jeder, der das nicht berücksichtigt, verkennt die Schwere der Aufgabe, die wir uns gestellt haben, nämlich zu einem besseren Verhältnis zum polnischen Staat zu kommen. Zu der Politik, die wir eingeleitet haben, gibt es keine vernünftige Alternative.
Gerade die historischen Reminiszenzen, von denen ich gesprochen habe, machen deutlich, daß für uns eine Politik der Gewalt nicht in Betracht kommt.
Wenn Sie eine vernünftige Polenpolitik machen wol-len, ist es höchste Zeit, daß Sie uns einmal sagen,
was Sie sich denn konkret unter einer vernünftigen Polenpolitik vorstellen.
Davon haben wir bisher noch nichts gehört.
Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wollen durch Ihre fortgesetzte Kritik lediglich von dem Fehlen einer Alternative ablenken. Das ist mit der Sinn Ihrer Aktuellen Stunden.
Meine Damen und Herren, heute ist in der Fragestunde sehr deutlich geworden, daß man zur Wahrung der Schutzpflicht gegenüber Deutschen in Polen möglichst gute Beziehungen zu 'diesem Staat braucht. Ich kann nur feststellen, daß in früheren Zeiten, als Sie die Regierung stellten, keine guten Beziehungen zum polnischen Staat bestanden.
Ich frage mich, wie Sie eigentlich die Meinung vertreten können, daß zur damaligen Zeit die Schutzpflicht besser geregelt gewesen sei als heute. Ich sage Ihnen: damals waren die Deutschen in Polen schutzloser, als es heute der Fall ist. In der Zwi-
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Dr. Geßnerschenzeit hat sich im Sinne und im Interesse dieser Menschen viel geändert.
— Natürlich!
Sie sollten uns einmal erklären, wie Sie die Schutzmöglichkeiten verbessern wollen, wenn Sie die polnische Regierung des Vertragsbruchs zeihen, gleichzeitig aber nicht in der Lage sind, eine vernünftige Polenpolitik zu konzipieren. Dieses Kunststück müssen Sie uns einmal vormachen.
— Natürlich, das sagen Sie immer, wenn es bei Ihnen soweit ist.
— Ich kann Ihnen nur empfehlen, Herr Kollege Marx:
stellen Sie einmal dar, was Sie eigentlich wollen!Dann werden wir auch miteinander das sachlicheGespräch führen können, das dieses Thema verdient.
Ich kann nur feststellen, daß Sie deklamieren und protestieren und daß Sie Politik mit Räsonieren und Protesten verwechseln. Das ist die ganze Staatskunst, die Sie aufzubieten haben. Ich fürchte, daran wird sich auch in der Zukunft nichts ändern.
Das Wort hat Herr Bundesminister Bahr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es hat bisher in diesem Hause eine Reihe von Fragen gegeben, die bei aller Unterschiedlichkeit der Meinungen und bei aller Härte der Auseinandersetzung eigentlich sehr sorgsam und sehr sachlich behandelt worden sind. Zu diesen Fragen gehörte bisher auch der Komplex der Umsiedlung aus der Volksrepublik Polen. Ich muß es sehr bedauern, daß zum Teil Fragen, zum Teil aber auch Ausführungen in dieser Aktuellen Stunde selbst den Eindruck erwecken müssen, als wolle man diese im Interesse der Sache, der Außenpolitik und der Menschen liegende sorgsame Behandlung jetzt zugunsten einer Unsachlichkeit und Polemik verlassen.
Die Bundesregierung hat in aller Offenheit im Auswärtigen Ausschuß über die Entwicklung berichtet. So zu tun, als ob sich die Bundesregierung bereitwillig hinter Schutzbehauptungen der polnischen Seite verstecke, muß ich mit aller Entschiedenheit zurückweisen.
Mir liegt daran, folgendes zu sagen: Die Bundesregierung lehnt es ab, die Frage eines möglichen Kredits an Polen und die Frage der Umsiedlung aus der Volksrepublik Polen zu verknüpfen.
Wer eine Verknüpfung vornimmt, schadet sowohl der Entwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten wie auch der Umsiedlung selbst.Es ist überhaupt nicht zu bezweifeln, daß die schleppende Umsiedlung nicht unseren Erwartungen entsprochen hat. Die Bundesregierung hat auch nichts anderes gesagt. Die Bundesregierung hat mit der polnischen Regierung in aller Offenheit über diese Fragen gesprochen. Es bedurfte und bedarf keines Hinweises der Opposition in dieser Richtung.
Es gibt eben keine Einigung über die Zahlen.
Auch dies hat die Bundesregierung mehrfach gesagt.
Ich darf auf folgendes hinweisen: Nicht alle, die nach unserer Auffassung deutscher Nationalität sind, wollen ausreisen.
Es ist gefährlich, hier riesige absolute Zahlen zu nennen.
— -Die Geschichte des deutschen und des polnischen Volkes ist so stark miteinander verknüpft,
daß es eine chemisch reine Trennung zwischen Deutschen und Polen objektiv nicht gibt und nicht geben kann.
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Bundesminister BahrEs muß doch allen bekannt sein, die über diese Fragen reden, wie viele tragische Fälle es gibt, in denen wir Familienzusammenführung
erfolgreich vollziehen und zugleich damit neue Fälle von Familientrennung vornehmen.
Man kann dies doch nicht verschweigen. Wenn ein Geschwisterteil hierher zieht und seine Schwester drüben läßt, weil sie eben drüben mit einem Polen verheiratet ist, ist das ein Fall, wo eine Familienzusammenführung zu neuer Familientrennung führt.
Diese tragischen Fälle kann man nicht dadurch regeln, daß man hier wie Herr Czaja phantastische Zahlen nennt.
Wer so tut, als ginge es um die volle Aussiedlung all dessen, was deutsch ist, der kann zwar verbal von Versöhnung sprechen, in Wahrheit betreibt er das Gegenteil, nämlich die Politik der offenen Wunde.
Die Gefahr besteht, daß aus einer Frage der Opposition, deren Begründung im Ansatz gar nicht bezweifelt werden kann, eine Shylock-Position wird, der das Recht auf sein Pfund Fleisch mit einer Unbedingtheit und Rücksichtslosigkeit bis zur Unmenschlichkeit treibt. Die Bundesregierung wird ihren Weg weiter verfolgen, sich zäh und geduldig darum bemühen, dieses Problem in den nächsten Jahren so zu fördern, daß es die Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten nicht mehr belastet.
Ich hoffe sehr, daß dieses Werk hier und heute keinen dauernden Schaden erlitten hat.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Wittmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Bahr, lassen Sie sich eines sagen: Die „Politik der offenen Wunde" wird jetzt und heute von Ihnen betrieben, indem Sie sich weigern, 'die Probleme offen anzusprechen.
Niemand in diesem Lande ist auch nur im entferntesten bereit, ,eine Shylock-Politik zu machen, denn die führt nicht zum Ausgleich, sie führt zu neuen Wunden, wie das Bild auch sagt. Das nehmen Sie bitte zur Kenntnis.Das ist auch nicht ,die Absicht der Opposition, sondern es ist die Absicht der Opposition, über die Menschenrechte einen Ausgleich mit dem polnischen Volk zu finden, das zugegebenermaßen — und wie ich es selbst erlebt habe —in der Vergangenheit sehr viel gelitten hat. Das rechtfertigt es aber nicht, daß das Leid unter Berufung auf diese Vergangenheit lauch in ,dis Zukunft hinein fortgesetzt wird.
Sie sprechen von einer sorgsamen Behandlung dieses Themas. Nennen Sie mir eine Behauptung und eine Frage, bei der ,diese sorgsame Behandlung nicht erfolgt wäre. Der Vorwurf richtet sich nicht in erster Linie gegen Polen, sondern gegen die ,maßlose Schlamperei dieser Regierung beim Aushandeln des Vertrags!
Meine Damen und Herren, wir führen hier keine Anklage gegen das polnische Volk. Wir führen Anklage gegen Funktionäre, welche die Interessen der Menschen für ihre Machtposition, ihre wirtschaftliche Macht — wenn man es so nennen darf — und ihr Plansoll mißbrauchen. Darum geht es hier.
— Bei Ihnen führen ja auch Funktionäre Gespräche; da paßt ja dann alles gut zusammen!
— Ich bin kein Verbandsfunktionär. Sie sind ja auch Verbandsfunktionär; was wollen Sie denn, Herr Mattick?
Ich darf noch etwas zu dem Vertrag als solchem sagen. Es geht hier nicht um die Frage, was vorher war oder nicht war.
Die Zahlen beweisen es eindeutig. — Herr Wehner, auf Sie komme ich bei anderer Gelegenheit noch einmal ausführlicher zu sprechen.
Es geht darum, daß diese Bundesregierung zugesagt hat, ,daß auf Grund dieses Vertrages alles ganz anders und besser wird. Sie hat die Zahl von etwa 500 000 Aussiedlungswilligen, die genannt war, durchaus akzeptiert, und sie hat in Aussicht gestellt — vor allem auch in den Ausschüssen —, daß sie
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Dr. Wittmann
hier eine Verwirklichung und Verbesserung erwartet. Das muß auch einmal gesagt werden.
— Sie waren nicht immer ,dabei, Herr Wischnewski. Sie waren meistens verreist, irgendwo im Nahen Osten. Darum können Sie das nicht wissen.
Herr Moersch, Sie haben auf eine Frage des Herrn Kollegen Sauer erklärt, von Schikanen sei Ihnen nichts bekannt. Herr Moersch, nehmen Sie zur Kenntnis: Es ist eine Schikane, wenn monatelang den Leuten gesagt wird, die Formulare seien noch nicht ausgedruckt. Nehmen Sie zur Kenntnis, daß es eine Schikane ist, wenn man die für die Ausreise notwendige Arbeitsbescheinigung in den Betrieben zur Vorlage bei den Paßbehörden ebenso verweigert wie Geburtsurkunden, Heimatscheine usw., so daß die Menschen gar nicht die formalen Voraussetzungen erfüllen können.
— Das können Sie ja gar nicht wissen, weil Sie sich früher darum überhaupt nicht gekümmert haben, Herr Geßner. Sie tun es ja erst jetzt, um die Politik dieser Bundesregierung blank zu polieren!
Meine Damen und Herren, wenn man Landwirten die Bescheinigung verweigert, daß sie einen Nachfolger haben, dann ist das eine Schikane. Soll es keine Schikane sein, daß man etwa 5 000 Menschen kündigt, weil sie den Antrag auf Aussiedlung gestellt haben, daß man etwa 15 000 Menschen die Gehälter herabgesetzt oder auf schlechter bezahlte Posten versetzt hat? Ist es keine Schikane, wenn sie vor die Betriebsleitungen geladen werden, sich dort einer Art Gehirnwäsche unterziehen müssen und genau begründen müssen, warum sie ausgerechnet in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen müssen, wenn sie sich vor Betriebsversammlungen rechtfertigen müssen? Ich sage, das sind Schikanen, die nicht im Interesse der Verbesserungen der deutsch-polnischen Beziehungen liegen.Das sage ich hier, um der Bundesregierung die Möglichkeit zu geben, auf diese Dinge auch einmal in Verhandlungen hinzuwirken und auch das Deutsche Rote Kreuz etwas besser zu unterstützen; man sollte nicht nur drittrangige Beamte zu Gesprächen hinüberschicken, sondern auch die verantwortlichen Politiker sollten dem Deutschen Roten Kreuz ein bißchen mehr helfen.
Lassen Sie mich noch folgendes sagen. Es geht in der Tat nicht darum, Herr Bahr, daß alle Deutschen ausreisen. Am meisten wünschten wir, daß sie als Deutsche unter Deutschen in ihrer Heimat weiterhin leben könnten. Das ist es, was wir wünschen. Wenn dies nicht möglich ist, sollen die, die ausreisen wollen, ausreisen können. Das ist Menschlichkeit, das ist Freizügigkeit im Sinne der Menschenrechte der Vereinten Nationen.
Das Wort hat der Abgeordnete Ronneburger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man den Verlauf der heutigen Aktuellen Stunde verfolgt, könnte man tatsächlich den Eindruck haben, als stünden sich hier eine Bundesregierung, die praktisch keine Politik betriebe, und eine Opposition gegenüber, die eine klare ost- und deutschlandpolitische Konzeption gehabt habe.
Bleiben wir doch vielleicht lieber bei den Fakten! Die Opposition möge sich einleitend in einer Bemerkung zu diesem Thema darauf hinweisen lassen, wie ihre eigene Position eigentlich auszusehen hat!
— Sonderbar genug, verehrter Herr Kollege! Wenn Sie sich vielleicht einmal daran erinnern, daß die Opposition in der Frage der Verträge von Moskau und Warschau nichts anderes zu tun wußte, als sich der Stimme zu enthalten und damit auf den kleinstmöglichen politischen Nenner auszuweichen. Die Zustimmung zum Verkehrsvertrag hat uns seinerzeit hoffen lassen, es gebe hier einen Wandel. Aber wie war es denn? Beim Grundlagenvertrag haben Sie bis auf ganz wenige Ausnahmen Ihre Zustimmung versagt, beim UNO-Beitritt war die Opposition gespalten, beim Atomwaffensperrvertrag desgleichen, und der gleiche Zwiespalt trat bei der Frage der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Staatshandelsländern zutage.
Ich habe das hier nicht eingeführt, weil ich der Meinung wäre, daß hier die Frage Polen isoliert von der Gesamtpolitik behandelt werden könnte. Man muß einfach die Opposition angesichts ihrer immer wiederholten Fragen und der nicht zur Kenntnis genommenen Antworten einmal darauf hinweisen, welche Politik hier in diesem Lande eigentlich getrieben wird, und welche Alternative sie dazu zu bieten hatte.Aber hier sind einige Argumente gebracht worden, die nicht so unwidersprochen stehenbleiben können. Hier ist davon gesprochen worden, daß Fragen unbefriedigend beantwortet worden seien. Ich weise noch einmal darauf hin: Fragen haben sich endlos wiederholt, und zwar auch in der heutigen Debatte.
— Herr Dr. Czaja, lassen Sie mich bitte ausreden; meine Zeit ist begrenzt. Auch in der heutigen Debatte haben Sie nicht zur Kenntnis genommen, was
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Ronneburgervon Regierungsseite auf Ihre Fragen geantwortet worden ist. Ich nenne nur zwei ganz akute Beispiele, damit Sie überzeugt werden können.Keiner Ihrer Redner ist darauf eingegangen, daß Herr Staatssekretär Moersch hier überzeugend ausgeführt hat, daß nach polnischer Überzeugung im Jahre 1970 die Aussiedlung beendet gewesen sei. Keiner von Ihnen ist
— Herr Dr. Czaja, wenn Sie sagen, es stimmt nicht, frage ich: Warum geht denn von Ihnen keiner darauf ein?
Warum laufen solche Argumente von Regierungsseite an Ihnen ab wie ein Eimer Wasser von einer Ente?
Die zweite Frage, in der Sie nicht reagiert haben, war die Frage, ob es möglich gewesen sei, die Fragen der Staatsangehörigkeit und der Umsiedlung in den Vertrag aufzunehmen. Ich brauche die Argumente gar nicht zu wiederholen. Aber warum registrieren Sie denn zumindest nicht, was Regierung und Koalition auf Ihre Fragen antwortet? Warum beschäftigen Sie sich mit Emotionen und Polemik und nicht mit sachlichen Aussagen und deren Widerlegung,
wenn Sie schon glauben, Sie seien in der Lage, solche Argumente tatsächlich zu widerlegen?Der ewig wiederholte Hinweis, auch Sie hätten Verträge gewollt, aber natürlich bessere, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, schlägt ja irgendwann nicht mehr durch. Deswegen möchte ich Sie eigentlich mit allem Nachdruck bitten: Wenn wir über diese Fragen sprechen, lassen Sie es doch einmal zu einer wirklichen Aussprache kommen, gehen Sie doch einmal auf Fakten und Aussagen ein, die Ihnen entgegengehalten werden, und versuchen Sie nicht immer, eine von Ihnen gewollte eigene Linie durchzuhalten und alles das, was Ihnen nicht paßt, einfach beiseite zu lassen und so zu tun, als wäre es nicht gesagt worden. Das ist doch auch das Problem in unseren Fragestunden.
Es ist doch das Problem in unseren Fragestunden, daß die Fragen sich immer wiederholen.
Ich meine wirklich, Herr Staatssekretär Moersch, wir sollten eine Erhebung darüber machen lassen, wie oft und welche Fragen sich von der Seite der CDU/CSU hier wiederholt haben.
— Ich bin auch bereit, Herr Kollege Dr. Marx, nachprüfen zu lassen, ob Antworten sich wiederholt haben.
Nur sage ich Ihnen, wenn sich die Fragen wiederholt haben, dann mußten sich die Antworten zwangsläufig auch wiederholen.
Meine Damen und Herren, ich meine, es war gut, die Opposition einmal darauf hinzuweisen.Ich bin leider, Herr Präsident, zur Erörterung einer Reihe von Argumenten, die ich mir vorgenommen hatte, nicht mehr gelangt, aber ich hoffe, das wird einer der Redner der Koalition an meiner Stelle noch tun. Vielen Dank!
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Schweitzer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die bisherigen Einlassungen der Opposition vermögen uns von der Regierungskoalition leider nicht von dem ernsten Verdacht abzubringen, daß hier von seiten der CDU/CSU heute nachmittag wieder ein bewußter schwerer Mißbrauch der Außenpolitik für innenpolitsche Zwecke vorliegt.
— Ich muß Ihnen leider sagen, Herr Kollege Marx, auch Ihre Einlassungen dergestalt, daß Sie die Bundesregierung in ihrem Bemühen unterstützen wollen, vermögen uns nicht davon zu überzeugen, daß hier innenpolitische Zwecke nicht im Vordergrund stehen. Ich werde insbesondere in dieser Bewertung bestärkt durch die Äußerungen des Herrn Kollegen Czaja und außerdem auch durch die Zwischenrufe, durch die sehr unerfreulichen Zwischenrufe, so darf ich einmal sagen, die an die Adresse des Kollegen Wehner und des Herrn Ministers Bahr gemacht worden sind. Das wird ja das Protokoll ausweisen.
Meine Damen und Herren, jeder, der mit dem außenpolitischen Geschäft in Theorie und Praxis auch nur einigermaßen vertraut ist — und ich kann ja nicht voraussetzen, daß alle von Ihnen hier auf diesem Gebiet Dilettanten sind —, muß doch wissen, daß das ständige Vorbringen so diffiziler Probleme in den Fragestunden dieses Hauses geeignet ist, die laufenden Verhandlungen zur Sache zu erschweren. Ich würde so weit gehen, meine Da-
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Dr. Schweitzermen und Herren, mit großem Ernst zu sagen, daß ein solcher Theaterdonner, wie er hier veranstaltet wird, geeignet ist, den Interessen des deutschen Volkes schweren Schaden zuzufügen.
Ich möchte auch wiederholen, was Herr Kollege Moersch hier gesagt hat. Viele von uns waren in den letzten Jahren in der Volksrepublik Polen. Ich war schon da, werde auch in der nächsten Woche wieder dort sein. Wir hören dort immer, daß unsere Kollegen von der CDU/CSU — und das freut uns ja — unter übergeordneten deutschen Gesichtspunkten sich dort selber sehr vernünftig, ich möchte beinahe sagen, staatsmännisch zur Sache äußern. Alle, die wir in Polen solche Gespräche führen, vermissen dieselbe Offenheit, denselben Ernst hier in diesem Hause. Hier darf nicht auf doppeltem Boden operiert werden, nicht mit zweierlei Maß gemessen werden.Ich möchte, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie auch eindringlichst vor jedem Versuch einer Vergangenheitsbewältigung warnen. Dieser Versuch könnte nur gegen Sie ausgehen, nämlich speziell bezogen auf die vielen verpaßten Chancen der 50er Jahre. Wenn Sie sich die Akten, die jetzt schon vorliegen, einmal genau ansehen, dann werden Sie wissen, daß gerade Mitte der 50er Jahre, von 1956 auf 1957, die Polen vom damaligen Bundeskanzler Adenauer — ich sage das hier vor der deutschen Öffentlichkeit bewußt und in voller Verantwortung auf Grund der Kenntnisse, die ich habe — in den April geschickt worden sind. So möchte ich es hier einmal formulieren; ich bin gerne bereit, im Auswärtigen Ausschuß den Beweis dafür anzutreten.
Sie haben hier wichtige Chancen verpaßt, meine Damen und Herren. Die Folgen hatte und hat das deutsche Volk zu tragen. Das hat uns allen die enorm schwierigen Versuche erschwert, das große Aussöhnungswerk mit unserem polnischen Nachbarn richtig in Gang zu bringen und weiterzuführen.Es liegen noch eine ganze Reihe von schwerwiegenden Problemen vor — jetzt komme ich auf das, was Herr Minister Bahr gesagt hat —, schwerwiegende Probleme allein schon der Definition, wer überhaupt als Deutscher anzusehen ist im Sinne unserer gemeinsam in diesem Hause zu verfolgenden Bemühungen.
— Ja, meine Damen und Herren, Sie können doch nicht durch billige Zwischennrufe, Herr Dr. Czaja, über diese sehr ernste Problem hinweggehen,
das sich aus der Zeit nach dem ersten Weltkriegbereits ergeben hat, erst recht dann aus der Zeitnach 1945. Hier liegen sehr schwierige definitorische Probleme vor. Darauf hat Herr Bahr schon hingewiesen. Ich fordere Sie gerne auf, Herr Czaja, einmal einen fundierten aufklärenden Beitrag zu leisten. Ich selber werde mich in der nächsten Woche darum bemühen, daß wir in nächster Zeit ein gemeinsames deutsch-polnisches Werk auf wissenschaftlicher Grundlage herausgeben. Da wird unter anderem auch genau dieses Problem behandelt werden.Auch Ihre Zahlenspiele, Herr Kollege Marx, helfen hier nicht weiter.
Es ist ja ganz logisch, daß mit zunehmenden Jahren der Kreis der Auszusiedelnden quantitativ gesehen immer enger wird. Wir wissen doch alle, daß sich hier die Vitalinteressen der polnischen Nation mit den Lebensinteressen der Betroffenen schneiden. Ich glaube aber, daß in dieser Beziehung die Zeit für uns arbeitet. Die Zeit arbeitet für uns, weil die polnische Regierung immer mehr in die Lage versetzt werden wird, psychologisch, wirtschaftlich und auch sonst aus ihrer Sicht gesehen großzügiger zu verfahren.Ich darf noch ein weiteres sagen. Diese Bundesregierung hat mit der Unterstützung der Regierungskoalition — eine Unterstützung, die wir bei Ihnen vermissen — in den letzten Jahren dieses schwierige Aussöhnungswerk mit Polen Zug um Zug nach vorne bewegt. Wir haben den Jugendaustausch einleiten und vertiefen können. Wir haben den Austausch der Wissenschaftler vertiefen können. Ich erwähnte auch eben hier die mögliche Herausgabe eines gemeinsamen Forschungswerkes. Wir haben die Schulbuchbereinigungen vorangetrieben und vieles andere.
Ich muß sagen — allen Ernstes, meine Damen und Herren von der Opposition —: belasten Sie nicht dieses schwierige, uns alle gleichermaßen berührende und von uns gleichermaßen zu unterstützende deutsch-polnische Aussöhnungswerk durch solchen Theaterdonner, wie Sie ihn hier veranstalten!
Unterstützen Sie vielmehr Ihre eigene Regierung durch konstruktive Beiträge, vor allem im Auswärtigen Ausschuß selber. Herr Dr. Wittmann, ich bin erstaunt über das, was Sie bezüglich des Deutschen Roten Kreuzes und der Beamten des Auswärtigen Amtes hier vorbringen. Wir haben doch die Herren bei uns im Auswärtigen Ausschuß gehabt. Ich muß für die Koalitionsparteien und für die Regierung entschieden das zurückweisen, was Sie zu dem Punkt gesagt haben. Diese uns alle bewegenden Fragen können nicht durch Wortgefechte, durch Theaterdonner hier gelöst werden,
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Dr. Schweitzersondern nur durch zähe, geduldige Verhandlungen, bei denen Sie eigentlich Ihre eigene Regierung unterstützen sollten.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hupka.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hier ist wiederholt der Vorwurf erhoben worden, es würden Emotionen angesprochen und bewegt.
Wenn es um Menschen geht, kann man nicht wie ein Eisheiliger stumm bleiben. Was soll es, wenn das Eintreten für die Menschen, nämlich für diejenigen, die aussiedeln wollen, als Emotion abqualifiziert oder, wie Herr Professor Schweitzer gesagt hat, das Ganze immer wieder als „Theaterdonner" bezeichnet wird! Herr Professor Schweitzer, Sie haben gesagt, es schadet den Interessen des deutschen Volkes, wenn hier dieses Problem in aller Offenheit behandelt wird.
Ich glaube, es schadete den Interessen des deutschen Volkes, wenn wir schwiegen zu dieser Situation der Menschen.
Ich möchte sowohl Herrn Bundesminister Bahr als auch Herrn Professor Schweitzer doch ein wenig mehr Kenntnis in der Geschichte wünschen,
als daß sie uns hier einreden wollen, daß die 280 000, die tatsächlich aussiedeln wollen, gar keine Deutschen seien, sondern daß sie längst Polen geworden seien. Das sind Deutsche, die sich als Deutsche erklärt haben und die aussiedeln wollen. Das ist nachzuweisen durch die Auslassung des Deutschen Roten Kreuzes.
„Der Mensch steht im Mittelpunkt unserer Politik", so lautet die Maxime der Bundesregierung. Für die Deutschen aber, die jenseits von Oder und Görlitzer Neiße seit Jahr und Tag auf die Aussiedlung warten, scheint diese Maxime nicht zu gelten. Wie wäre es denn sonst erklärlich, daß die Aussiedlung in einem geradezu katastrophalen Ausmaß rückläufig ist? Wie wäre es sonst erklärlich, daß die Bundesregierung beharrlich dazu schweigt und erst Stellung nimmt, wenn sie von der Opposition in diesem Hohen Hause dazu gezwungen wird? Wie wäre es sonst denkbar, daß immer wieder neue Erklärungen dazu herhalten müssen, um das geradezu unmenschliche Mißverhältnis zwischen der „Information" zum Warschauer Vertrag und der polnischen Praxis zu bemänteln?Die Bundesregierung hat sich seit dem Jahr 1972 — so glaube ich festgestellt zu haben — vier einander ablösende Antworten nach der Ausfüllung der .,Information" zum Warschauer Vertrag durch die polnische Regierung einfallen lassen.Erstens: Im Jahre nach der Unterzeichnung und vor der Ratifizierung des Warschauer Vertrages wurde zuerst Jubel verbreitet. 25 000 Aussiedler kamen zu uns, nachdem die polnische Regierung 1970 in einem absichtlich herbeigeführten Stau nur 5 600 Deutsche hatte aussiedeln lassen. Heute möchte die Bundesregierung daraus die durchsichtige Behauptung ableiten, daß die Aussiedlung zum Erliegen gekommen wäre, wenn es nicht die Unterschrift unter den Warschauer Vertrag gegeben hätte. Wäre das so, dann wäre der Warschauer Vertrag allerdings mit dem Stempel des Menschenhandels zu versehen.Zweitens: Als die Zahl der Aussiedler 1972 um die Hälfte, nämlich auf 13 000, zurückging, als grausame Schikanen — Herr Moersch hatte es soeben abgelehnt, da von Schikanen zu sprechen — bekanntwurden,
Schikanen, denen die Aussiedlungswilligen ausgesetzt werden, schlug die Bundesregierung die Taktik des Hinhaltens und der Beschwichtigung ein. Viele Monate hindurch wurde uns verschwiegen, daß es in Oberschlesien zu einem Verbot der Annahme von Aussiedlungsanträgen gekommen war.
Es sollte nicht wahr sein dürfen, daß sich die polnische Regierung höchst einseitig an Text und Inhalt der Information gebunden fühlte.Drittens: Die dritte Phase im Umgang mit der Realität, daß sich die Aussiedlungswilligen in einer unvorstellbaren Lage befinden und sich eine Änderung nicht abzeichnet, könnte man das große Gespräch und das große Geschäft nennen. Der Bundesaußenminister spricht gerade mit dem polnischen Außenminister; der polnische Außenminister spricht gerade mit dem deutschen Außenminister usf. Außerdem kam das Geld ins Rollen. Wie wäre es, wenn die Volksrepublik Polen Milliardenkredite erhielte? Dann käme auch wieder Schwung in die Aussiedlung. Zuerst hat Polen die in der „Information" zum Warschauer Vertrag gegebene Zusage nicht eingehalten, und jetzt soll es dafür noch obendrein honoriert werden. Ein Tauschgschäft mit der „Ware Mensch" soll nun getätigt werden.Viertens: Jetzt befinden wir uns in der vierten Phase. Der Besuch des polnischen KP-Chefs Gierek ist angekündigt. Dann sollen wenigstens in diesem Jahr 50 000 Deutsche aussiedeln können. Aber leider steht schon fest, daß bis heute erst 2 % dieser 50 000 bei uns eingetroffen sind und daß Gierek seinen Bonner Besuch bereits auf die zweite Jahreshälfte verschoben hat.Die Bundesregierung — damit möchte ich schließen — muß endlich energisch handeln, statt immer nur zu beschwichtigen und zu vertrösten. Die „Infor-
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Dr. Hupkamation" zum Warschauer Vertrag muß erfüllt werden. Darauf warten sehnsüchtig Hunderttausende von Deutschen jenseits von Oder und Görlitzer Neiße. Das erwarten sie zu Recht von der Bundesregierung. Dies ist ein Gebot der Menschlichkeit. Die Unmenschlichkeit klagt an.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Moersch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Leidenschaftlichkeit, mit der Herr Dr. Hupka eben die Bundesregierung aufgefordert hat, energisch zu handeln, täuscht nicht über einen wirklichen Mangel in 'seinen Ausführungen hinweg, nämlich der Bundesregierung zu sagen, wie sie anders handeln könnte, sie handelt und gehandelt hat.
— Herr Dr. Hupka, dann müssen Sie präziser werden; sonst wird es sehr mißverständlich, wie Sie aus manchen Zurufen wissen.Ich möchte hier mit aller Entschiedenheit folgendes feststellen. Die Mitglieder des auswärtigen Dienstes der Bundesrepublik Deutschland haben sich um die Lösung dieser Probleme in den vergangenen Jahren in einer Weise bemüht, die eine Kritik, wie sie hier von seiten der Oppositionssprecher geäußert warden ist, einfach unerträglich macht.
Jeder, der sich mit ,diesen Fragen befaßt hat, weiß das. Ich frage Sie wirklich, was Sie — —
— Sie versuchen, hier der Bundesregierung und damitauch den Beamten — das können Sie in diesem Zusammenhang gar nicht trennen —
eine Verantwortung anzulasten, die nicht bei der Bundesregierung liegen kann.
— Sie mit Ihren klugen Zwischenrufen, Herr Jäger, und andere Ihrer Freunde haben offensichtlich niemals Bereitschaft gezeigt, auch nur 'in irgendeiner Weise eine realistische Politik gegenüber der Volksrepublik Polen zu betreiben,Beifall bei den Regierungsparteien — Zu-rufe von der CDU/CSU)und Sie haben überhaupt kein Recht, solche Vorwürfe zu erheben, weil Sie bewiesen haben, daß IhrePolitik dies Alles oder Nichts in jedem Falle zum Nichts für die betroffenen Menschen führen würde.
Sie verschweigen lediglich mit Ihren lautstarken Auftritten hier, ,daß Ihnen die gesamte politische Richtung nicht paßt, und Sie versuchen hier einen nachträglichen Beweis dafür zu liefern, ,daß Sie sich in Widerspruch zur Meinung 'des deutschen Volkes gesetzt haben, als Sie diesen Verträgen nicht zugestimmt haben. Das ist Ihr Problem.
Ich möchte noch zwei sehr persönliche Anmerkungen hier machen, meine Damen und Herren. Sie haben hier wiederholt Kritik geübt 'an meiner Art, Fragen zu beantworten.
— Sie sind ein Richter in eigener Sadhe, meine Herren, wenn Sie dies hier zurufen. Ich will das überhaupt nicht werten. Ich will Ihnen nur folgendes in Erinnerung zurückrufen: Ich habe gelernt — und das ist nun eine Art, die in meiner Heimat üblich ist —, daß man genauso austeilt, wie man einsteckt. Wer von Ihnen hier austeilt, der muß auch einstekken wollen. Einseitig ist dieses Geschäft hier nicht zu betreiben, jedenfalls nicht von mir ,aus. Merken Sie sich das!
Wenn Sie der Meinung sind, daß Sie die reinen Unschuldsengel in diesem Punkte seien,
dann lesen Sie bitte einmal die Richtlinien für die Fragestunde nach, und dann beweise ich Ihnen, daß mindestens ein Drittel der von Ihnen gestellten Fragen genau die Wertungen und Unterstellungen enthält, die überhaupt nicht zulässig 'sind. Dann dürfen Sie sich nicht wundern, wenn genauso geantwortet wird. Ich werde es auch künftig so machen, daß ich die Antworten auf die Art Ihrer Fragen ausrichte und auf nichts anderes.
Ich habe mich Ihrem Stil angepaßt und nicht umgekehrt.
Sie werden von mir nicht erwarten, wenn Sie fünfmal die gleiche Frage stellen, ,daß ich Ihnen fünf verschiedene Antworten gebe.
Für wie dumm halten Sie uns eigentlich,
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5808 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Parl. Staatssekretär Moerschwenn Sie hier wiederholt die gleichen Fragen stellen, und zwar noch von den gleichen Leuten?
Und wenn einer Ihrer Kollegen Briefe schreibt und mich des impertinenten Verhaltens beschuldigt, nämlich Herr Kollege Hauser aus Sasbach, dann muß ich ihm sagen: Herr Kollege Hauser, als Robbespierre von Sasbach-Walden sollten Sie nicht in die Geschichte eingehen wollen!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mattick.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Schon die Nebenbemerkungen von seiten der Opposition, die einen begleiten, wenn man hier vorgeht, machen deutlich, daß wir uns hier in einer feindseligen Atmosphäre befinden.
Dies sage ich jetzt — gestatten Sie mir, das einmal in aller Ruhe zu sagen — all denen, die wie meine Generation zwei Weltkriege hinter sich bringen mußte und die wie meine Generation das Schicksal des Deutschen Reichstags noch bewußt in Erinnerung haben. Ich appelliere im Grunde genommen zunächst einmal an diejenigen, die sich in dieser Lage befinden, einmal zu überprüfen, ob wir nicht die Pflicht haben, hier gemeinsam in diesem Hause darüber nachzudenken, wie wir allmählich diesen Tiefgang überwinden.
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir die ganz persönliche Bemerkung: Mir ist es hier kalt den Rücken heruntergelaufen bei Tönen von einigen der Herren Kollegen, die mich eben effektiv an die Zeit erinnert haben, die, wie ich noch einmal sagen möchte, dann dazu führte, daß zwischen Polen und Deutschland die Spannungen an den Punkt geführt haben, an dem Hitler seinen Krieg aufgehängt hat.
— Was das soll, Herr Kollege? Das ist an Ihre persönliche Adresse gerichtet. Ich kenne nun auch ungefähr Ihre Vergangenheit und Ihre Tätigkeit. Wenn gerade Sie mich fragen, was das soll, muß ich Ihnen sagen: Fragen Sie doch einmal Ihr Gewissen, ob die Art und Weise, die Sie hier anwenden — und das sage ich jetzt ganz laut —, nationalistische Tönenach draußen zu blasen, ob diese Form der Auseinandersetzung uns bei all dem hilft, um was es geht.
Ich sage Ihnen erstens: nein. — Wer das bestimmt?— Das bestimmt das Schicksal, in dem wir uns hier gemeinsam befinden, Sie und ich.
Ihre dauernden Zwischenrufe machen mir doch jetzt klar, in welcher Situation Sie sich befinden, weil Sie sich das gar nicht in Ruhe anhören können.
— Ihren Zwischenruf habe ich erwartet; der mußte ja kommen. Denn Sie trifft das genauso. Bloß, bei Ihnen ist die Entschuldigung, daß Sie diese Erinnerungen an Erlebnisse der Vergangenheit nicht haben, die wir haben. Ich sage Ihnen eines:
Was sich aus solch einer Atmosphäre, die wir in diesem Hause entwickeln, draußen allmählich formen kann, wird für Sie selbst eines Tages zur Angst werden. Ich appelliere an das Haus, dafür zu sorgen, daß wir dieses verhindern.
Nun lassen Sie mich ein paar Bemerkungen zu dem machen, was hier gesagt worden ist. Ich habe genau zugehört, soweit ich das konnte; manchmal war es auf Grund der Zwischenrufe nicht möglich. Ich sage Ihnen: Ich habe nicht ein bißchen von der Opposition gehört, was ich als eine Alternative zu unserer Politik ansehen könnte.Sehen Sie, ich habe einmal darüber nachgedacht — lassen Sie mich das auch einmal sagen —, was für Verträge wir nach 1945 oder 1949 abgeschlossen haben. Und da habe ich einmal überlegt: Sie haben den deutsch-französischen Vertrag und vorher die Pariser Verträge abgeschlossen, wo wiederum Frankreich und Deutschland eine Rolle spielen.
Sie haben den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag abgeschlossen. Ich glaube, wir alle, die wir uns in diesem Hause betätigen, sind an diesem Vertrag sehr interessiert gewesen, werden es bleiben und werden alles tun, um ihn so wirksam wie möglich aufrechtzuerhalten. Und nun denken Sie einmal nach: Wir haben zwischen der Bundesrepublik und Frankreich ein Freundschaftsverhältnis entwickelt. Mit wie vielen Schwierigkeiten haben wir bei dieser Vertragsgrundlage unter Freunden in der internationalen Politik täglich rechnen müssen, welche ungeheuren Belastungen sind in den letzten Jahren zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich entstanden, weil einfach die Politik zweier solcher Länder auseinandergeht!
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5809
Mattick-- Lassen Sie mich doch einmal ausreden! Ich höre Ihnen ja auch zu, wenn Sie in der Lage sind, hier etwas zu sagen.
Daran müssen Sie doch erkennen, daß ein Vertrag in einer solchen Phase wie der, zu der sich das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und Polen entwickelt hat — nach 1945 —, noch schwieriger sein muß. Denken Sie doch an die Ursachen, die vor 35 Jahren zu diesem Verhältnis geführt haben! Dann müssen Sie doch überlegen, daß es natürlich logisch ist, daß bei dieser Vertragsgrundlage die Schwierigkeiten mit dem Abschluß des Vertrages nicht ausgetragen sind.Die Kolleginnen und Kollegen, die sich je in den letzten Jahren in Polen aufgehalten haben — mit einigen war ich gemeinsam dort —, würden dort an Ort und Stelle nie in den Ton verfallen wie hier. Sie sollten sich doch einmal mit ihren Kollegen unterhalten, ob das, was heute hier abgelaufen ist, der Regierung und der Opposition hilft, gemeinsame Politik zu entwickeln. Wenn Sie das täten, würden Sie aus der heutigen Debatte eine große Lehre ziehen.
Das Wort für nur zwei Minuten — dann ist die aktuelle Stunde abgelaufen — hat Herr Dr. Wallmann.
Vielen Dank.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Einige wenige Bemerkungen.
Erste Bemerkung. Herr Kollege Dr. Schweitzer hat hier behauptet, Dr. Adenauer habe die Polen 1956/57 — so wörtlich — „in den April geschickt", und, Herr Kollege Dr. Schweitzer, Sie fügten hinzu: „Den Beweis für diese Behauptung werde ich gern in vertraulicher Sitzung des Auswärtigen Ausschusses liefern.
Frage an Sie: Ist das die neue Art Ihres Demokratieverständnisses? Bedeutet das das Mehr an Demokratie?
Zweite Bemerkung. Ich hätte Verständnis für den Unwillen, den Sie darüber gezeigt haben, meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, daß wir diese Fragen miteinander in der Öffentlichkeit diskutieren.
wenn ich der Überzeugung wäre, Herr Kollege Wischnewski, daß es nichtöffentliche Gespräche gibt, die unmittelbar bevorstehen und zu positiven Ergebnissen führen werden. Mein Eindruck aber und meine Überzeugung sind, daß Sie mit dem Argument „öffentliche Diskussion schadet uns"
nur ablenken wollen von den schweren Fehlern und Versäumnissen in Ihrer eigenen Politik.
Dritte Bemerkung. Herr Staatssekretär Moersch hat gesagt, niemals hätte es irgendwelche Zusagen gegeben, die auf bestimmte Erleichterungen demnächst abzielten und uns hoffen lassen könnten. Jeder von uns hat es noch im Ohr: In all den vergangenen Jahren hat es eine ganze Fülle von Erklärungen gegeben: menschliche Erleichterungen, Friede würde eintreten, mehr Informationen hüben und drüben.
Ich habe hier den Wortlaut der Erklärung des Bundeskanzlers vom 20. November 1970 vorliegen. Er sagte damals:
Er
— der Vertrag mit Polen —
soll ein dunkles Kapitel der europäischen Geschichte abschließen. Er soll ein neues Kapitel einleiten. . . .
Es bedeutet sehr viel, wenn viele Familien nun die Aussicht haben, Ihre Angehörigen nach vielen Jahren der Trennung bei sich aufnehmen zu können.
Ich frage Sie, meine Damen und Herren: Wo ist
denn das nach fast vier Jahren Wirklichkeit geworden? Warum müssen wir denn darüber reden?
Es ist — damit komme ich zum Schluß, Herr Präsident — von unserer Seite nicht eine Politik der offenen Wunden, es ist nicht nur die Wahrnehmung unseres parlamentarischen Rechts, wenn wir zu diesen Fragen sprechen, sondern es ist die Pflicht, das im Interesse unserer Landsleute zu tun, die in den Gebieten jenseits der Görlitzer Neiße und der Oder leben, die heute von den Polen besetzt sind. Wir lassen uns diese Pflicht von Ihnen nicht streitig machen. Wir wissen, daß das eine fundamentale Pflicht im Interesse dieser unserer Landsleute ist.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet.Wir fahren in der Tagesordnung fort. Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf:Beratung des Berichts und Antrags des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit
zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU betreffend Enquete-Kommissionzu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSUbetreffend Sammlung und Auswertung der Er-
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Vizepräsident von Hasselfahrungen über die Folgen ärztlich vorgenommener Schwangerschaftsabbrüche— Drucksachen 7/548, 7/552, 7/1789 —Berichterstatter: Abgeordneter ChristIch darf den Herrn Berichterstatter fragen, ob er seinen schriftlichen Bericht ergänzen will. — Das ist nicht der Fall. Ich danke dem Herrn Berichterstatter.Die Fraktionen haben vereinbart, daß zu Punkt 3 der Tagesordnung Erklärungen abgegeben werden. Das Wort hat der Abgeordnete Bardens.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was im Zusammenhang mit dem heute verabschiedeten sozialpolitischen Gesetz schon zu Recht gesagt wurde, gilt auch für den vorliegenden Antrag, eine Sachverständigenkommission beim Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit einzusetzen. Auch wenn keine Reform der Strafrechtsvorschrift des § 218 anstünde, wäre es erforderlich, daß sich der Gesetzgeber mit der sozialen und menschlichen Problematik befaßt, die im Zusammenhang mit Schwangerschaftsabbrüchen oder dem Wunsch nach einem solchen Abbruch auftritt.
Das Problem taucht ja nicht erst auf mit der Debatte um die Reform der Strafrechtsvorschriften. Wir sollten immerhin beachten, daß es heute schon Schwangerschaftsabbrüche gibt; allein im Jahre 1972 fast 9 000 genehmigte, also legale Schwangerschaftsabbrüche. Sicherlich gibt es eine sehr viel größere Zahl illegaler Abbrüche. Das zeigt, daß der Schutz ungeborenen Lebens durch Strafvorschriften allein nicht wirksam sichergestellt werden kann.
Wir brauchen zu seinem Schutz vielmehr positive Hilfen in Form von Beratungen und zusätzlicher sozialer Sicherung. Vieles von dem, was hier notwendig ist, wird durch das Gesetz über ergänzende Maßnahmen zur Strafrechtsreform möglich gemacht. Uns fehlt aber noch einiges an gesichertem Wissen. Ausländische Erfahrungen widersprechen sich teilweise, zum Teil sind sie auch nicht auf unser Land übertragbar, weil sie unter völlig anderen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen gewonnen wurden. Über die gesundheitlichen, psychologischen und sozialen Folgen eines Schwangerschaftsabbruchs, aber auch der Verweigerung eines Schwangerschaftsabbruchs wird viel spekuliert und gestritten. Genügend gesicherte Erkenntnisse fehlen uns auch hier zum großen Teil.
Deshalb hat die Koalition während der Ausschußberatungen den Vorschlag gemacht, die beiden Anträge auf Einsetzung einer Enquete-Kommission und einer Sachverständigenkommission ihrem Inhalt, ihrem Motiv nach zusammenzufassen und dem zu bildenden Sachverständigengremium beim Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit den Auftrag zu geben, zu prüfen, ob über die heute beschlossenen Maßnahmen hinaus durch Anstrengung aller Beteiligten der Schutz ungeborenen Lebens noch wirksamer gewährleistet werden könnte, und Erfahrungen über die Beratung von Schwangeren und über die medizinischen, psychologischen und
sozialen Folgen ärztlich vorgenommener Schwangerschaftsabbrüche zu sammeln und auszuwerten.
Dabei würde, so meinen wir, die Kommission ihren Auftrag nicht ungebührlich ausweiten, wenn sie sich auch bemühen würde, Erkenntnisse über die Motive zu sammeln, die eine Frau etwa zum Wunsch nach Schwangerschaftsabbruch bewegen.
Gleichzeitig bitten wir heute auch alle Praktiker und Wissenschaftler draußen, die mit diesen Fragen befaßt sind, uns so schnell wie möglich zu gesicherteren Kenntnissen zu verhelfen.
Die Bundesregierung wird durch den Antrag aufgefordert, den Bericht der Kommission bis zum 1. Januar 1978 dem Deutschen Bundestag vorzulegen. Eine solche Berichtspflicht hat schließlich nur dann Sinn, wenn das Parlament aus einem solchen Bericht auch Anregungen für die Gesetzgebung gewinnen kann. Vielleicht stellen wir dann 1978 alle fest, daß es hinderlich ist, daß der Bund zu geringe Gesetzgebungsbefugnisse für den Bereich der Gesundheit hat.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion
stimmt dem Antrag zu.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Neumeister.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Fraktion der CDU/CSU schätzt sich glücklich, daß ihre beiden Anträge betreffend der Einrichtung einer Enquete-Kommission und betreffend der Sammlung und Auswertung über die Folgen ärztlich vorgenommener Schwangerschaftsabbrüche zu dem Ihnen vorliegenden, einstimmig gefaßten Antrag des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit geführt haben. Dieses Verfahren zeigt einmal mehr, daß in diesem Ausschuß eine sachliche Arbeit möglich ist, die dann zu Ergebnissen führt, die nicht nur von allen Seiten dieses Hauses getragen werden, sondern die sicher der Sache mehr nützen als das unbedingte Beharren auf alten Standpunkten.
Die Änderungen, die unsere beiden Anträge erfahren haben, werden von uns voll getragen. So haben wir uns gern überzeugen lassen, daß unser Anliegen, eine kontinuierliche Sammlung und Auswertung der Erfahrungen der Ärzte, der Krankenanstalten und der Beratungsstellen langfristig wissenschaftlich zu sichern, durch eine ständige Sachverständigenkommission beim Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit besser durchzuführen ist als durch eine ihrem Wesen nach nur immer für einen begrenzten Zeitraum tätige Enquete-Kommission.
Aus denselben Gründen haben wir auch die Fristverlängerung bis zum 1. Januar 1978 für die Vorlage des Berichts der Sachverständigenkommission und die Stellungnahme des Ministeriums im Interesse eines abgerundeten Ergebnisses gebilligt. Vor allem angesichts der immer wieder, in den letzten
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Frau Dr. Neumeister
Wochen jedoch verstärkt, in der Öffentlichkeit praktizierten Verharmlosung des Schwangerschaftsabbruchs halten wir es für dringend erforderlich, Erfahrungen über die ärztlich vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüche in medizinischer, psychologischer und sozialer Sicht auszuwerten. Ein gemeinsames ehrliches Bemühen um diese Aufgabe sollte für alle Beteiligten eine Selbstverständlichkeit sein.
Denn, meine Damen und Herren, bei allem Streit um die Reform des § 218 im einzelnen, sind wir uns doch darüber einig, daß alle unsere Maßnahmen zum Schutz des ungeborenen Lebens bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Situation der Frauen nur auf der Grundlage wissenschaftlich abgesicherten Erfahrungsmaterials Aussicht auf nachhaltigen Erfolg haben können.
Ich darf namens der Fraktion der CDU/CSU um Ihre Zustimmung zu dem vorliegenden Entschließungsantrag bitten.
Das Wort hat der Abgeordnete Christ.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Im Zusammenhang mit der Diskussion über die Reform des § 218 gibt es nicht nur den engen strafrechtlichen Bereich, sondern eine ganze Palette von Problemen und Aufgabenstellungen, die durch die strafrechtliche Reform allein nicht abgedeckt werden.Das Kernstück der sozialpolitischen Reform, das wir heute morgen so lebhaft diskutiert haben, soll nach Auffassung der CDU/CSU durch gezielte familienpolitische Maßnahmen ergänzt werden, die die Voraussetzungen dafür schaffen müßten, daß die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche — sei es aus sozio-ökonomischen Gründen oder auch aus sozialpsychologischen Ursachen — im Laufe der nächsten Jahre kontinuierlich gesenkt werden kann. Die Prüfung, ob und gegebenenfalls welche weiteren Maßnahmen über die bestehenden sozial- und familienpolitischen Möglichkeiten hinaus notwendig werden, wird eine Aufgabe der Sachverständigenkommission sein, die einzusetzen wir mit unserem Antrag die Bundesregierung bitten.Ohne der Arbeit dieser Kommission vorgreifen zu wollen, kann man heute schon eines sagen: Es wird ein umfassendes, aufeinander abgestimmtes Konzept notwendig werden, das wegen 'der sicherlich großen finanziellen Belastungen in der Realisierungsphase nur stufenweise verwirklicht werden kann.Ich meine — und die Kommission muß sich mit dem Thema beschäftigen —, daß man hier mit wenigen Worten noch einmal auf den Entschließungsantrag von heute morgen, der uns von der CDU/CSUvorgelegt wurde, eingehen sollte. Dieser Antrag ist meines Erachtens nicht nüchtern auf seine finanzielle Machbarkeit geprüft worden. Sosehr man einerseits begrüßen darf, daß sich nun auch die CDU/CSU für eine Diskussion um die Einführung eines Erziehungsgeldes ausspricht, so muß man anderereits davor warnen, hier beim Bürger falsche oder überzogene Hoffnungen zu erwecken. An die Adresse der Opposition: Wenn Sie auf der einen Seite von Steuererleichterungen sprechen und ganz allgemein eine Diskussion über Steuererleichterungen anfachen, dann muß man konsequent und glaubwürdig sein und bei der möglichen Einführung eines Erziehungsgeldes den Bürgern ganz offen sagen, daß hier eben jeder einen Beitrag leisten muß, wenn der Sozialstaat in diesem Ausmaß ausgebaut werden soll.Das soll nicht heißen, daß wir damit die Notwendigkeit von individuellen Unterstützungsleistungen in einer Vielzahl von Einzelfällen nicht sähen. Aber wir müssen meines Erachtens abwägen — dies gilt auch für die Arbeit der Kommission — zwischen direkten Geldleistungen für alle nach dem Gießkannenprinzip und einer gezielten Kombination von Einzelmaßnahmen in begründeten Fällen mit entsprechenden kollektiven Hilfestellungen, wie das z. B. durch Sozialinvestitionen — siehe Kindergärten oder Altenheime — möglich ist. Hierüber muß meines Erachtens viel grundsätzlicher nachgedacht werden, und wir müssen herauskommen aus den eingefahrenen Gleisen.Der zweite Aufgabenbereich, der nun dieser Kommission zugewiesen werden soll, ist es, Erfahrungen der Ärzte, der Krankenanstalten und Beratungsstellen sowohl über Beratungen von Schwangeren als auch über die medizinischen, psychologischen und sozialen Folgen ärztlich vorgenommener Schwangerschaftsabbrüche zu sammeln und auszuwerten. Zweifellos würde die jetzige Diskussion um die Reform des § 218 wesentlich sachlicher geführt werden, wenn diese Fragen heute schon — eben unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen — beantwortet werden könnten.Unabhängig davon, welche Regelung sich bei der Entscheidung über die Strafrechtsreform durchsetzt: es wird eine der wichtigen Aufgaben dieser Kommission sein, die praktischen Auswirkungen der dann in vier Wochen zu entscheidenden Strafrechtsänderung aufmerksam und sorgfältig zu beobachten, dabei vor allem auch festzustellen, in welchem Ausmaß die Zahl der illegalen Schwangerschaftsabbrüche zurückgeht, und auch eine Untersuchung über die Motive der betroffenen Frauen vorzunehmen. Gerade dort, wo es darum geht, aus den Erfahrungen der Beratung von Schwangeren näheren Aufschluß über deren Motivation für einen beabsichtigten Schwangerschaftsabbruch zu erhalten. schließt sich eben der Kreis; denn hier korrespondieren die Erfahrungen, die bei der Beratung ge- wonnen werden, doch recht unmittelbar mit eventuell notwendigen Vorschlägen für weitere Maßnahmen im Sinne einer umfassenden Konzeption im familien- und auch im gesellschaftspolitischen Bereich.
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5812 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
ChristIn diesem Sinne stimme ich für meine Fraktion dem Antrag des Ausschusses zu. Wir bitten die Bundesregierung, diese Kommission einzurichten.
Meine Damen und Herren, Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Wir kommen damit zur Abstimmung über den Antrag des Ausschusses auf Drucksache 7/1789. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? -- Der Antrag ist einstimmig angenommen.
Ich rufe nunmehr den Zusatzpunkt auf:
Beratung des Berichts und Antrags des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit
zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Schlei, Frau Eilers , Glombig, Dr. Nölling, Dr. Bardens, Spitzmüller, Christ, Frau Funcke und der Fraktionen der SPD, FDP und zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
betr. Familienberatung und -planung
— Drucksachen 7/374, 7/549, 7/1813 —Berichterstatter: Abgeordnete Frau Schleicher
Wünscht die Frau Abgeordnete Schleicher das Wort zur Berichterstattung? — Das ist nicht der Fall.
Das Wort zur Abgabe einer Erklärung hat Frau Abgeordnete Eilers.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die von der sozialdemokratischen Fraktion angestrebte Reform des § 218 erstreckt sich auf eine Änderung der geltenden Strafrechtsbestimmungen, die im sozialen Bereich abzusichern zugleich wesentlicher Bestandteil der Reform ist. Das von meiner Fraktion entwickelte breite Leistungsangebot gesundheitssichernder und familienpolitischer Maßnahmen bedarf einer institutionellen Ergänzung. Hierzu haben die Koalitionsfraktionen den Antrag auf Drucksache 7/374 gestellt, die Familienplanung und Familienberatung zu intensivieren, Fragen der Sexualerziehung und Familienplanung in stärkerem Maße in das Bildungsangebot der schulischen und außerschulischen Bildung einzubeziehen und ferner sexualpädagogische Unterrichts- und Informationshilfen zu entwickeln. Im einzelnen soll die Bundesregierung aufgefordert werden, entsprechende Schritte mit den Ländern, den Trägern der Familienberatung und Familienplanung zu entwickeln.Dieser Antrag — im Mai 1973 wurde er in erster Lesung behandelt -- liegt nunmehr in einer vom Ausschuß wesentlich erweiterten Fassung auf Drucksache 7/1813 vor. Meine Fraktion begrüßt diesen vom Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit einstimmig verabschiedeten Antrag. Im einzelnen sieht er folgende Regelungen vor.Erstens: Die Zahl der Beratungseinrichtungen ist wesentlich zu erhöhen. Dabei geht es insbesondere um ein verbessertes Angebot in den Bereichen Sozialberatung, Familienberatung und Familienplanung, Sexual- und Schwangerschaftsberatung. Dieser Aufforderung an die Bundesregierung, die sich nur in Zusammenarbeit mit den Ländern, den Trägern der Beratungsdienste und den Berufsvertretungen des in Beratungsstellen eingesetzten Personals verwirklichen lassen wird, messen wir eine vorrangige Bedeutung zu. Die vorhandenen Beratungseinrichtungen in der Bundesrepublik sind zweifellos unterentwickelt, wie eine Sachverständigenanhörung im Ausschuß ergeben hat. Dies soll keine Geringschätzung der vorhandenen Beratungseinrichtungen sein. Vielmehr sollen durch den gezielten Ausbau dieser Einrichtungen die institutionellen Voraussetzungen geschaffen werden, um Schwangerschaftsabbrüchen vorzubeugen und Frauen bei ungewollter Schwangerschaft helfend und beratend zur Seite zu stehen. Dabei möchten wir insbesondere das Angebot an beratenden Diensten zur Familienplanung im weitesten Sinne in jenen Teilen der Bundesrepublik gefördert sehen, die bisher besonders unterversorgt sind, nämlich in Kleinstädten und ländlichen Gegenden. Neben den regional besser zu streuenden Beratungseinrichtungen möchten wir die Beratungstätigkeit aus gruppenspezifischer Sicht intensivieren, damit vor allem aus jenen sozialen Randgruppen Leute angesprochen werden, die in der Vergangenheit zu wenig beraten wurden.Auch die von uns vorgeschlagene Forschung über Beratungsinhalte, Beratungsmethoden und -formen soll auf diese Problemgruppe hin ausgerichtet werden.Um eine möglichst effektive Beratung zu gewährleisten, die dem gesteigerten Beratungsbedürfnis Rechnung trägt, würden wir eine verstärkte Kooperation und Koordination für außerordentlich sinnvoll halten. Dabei erscheint es uns nützlich, wenn sich Beratungsdienste verschiedener Träger zu einer Koordination bereit finden, und möchten auch zugleich anregen, daß Beratungsdienste auch mit jenen Einrichtungen eng zusammenarbeiten sollen, die soziale und gesundheitliche Hilfe für die Bevölkerung gewähren.Zum zweiten. Neu in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung sind die ärztlichen Beratungen über Empfängnisregelung sowie die Beratung über die Erhaltung und den Abbruch von Schwangerschaften eingeführt worden, Aufgaben also, denen auch in den Beratungsdiensten zu entsprechen ist. Nach unseren Vorstellungen soll die neue Beratungsaufgabe auch von den in den Beratungsstellen tätigen Ärzten wahrgenommen werden. Dabei sollten sie zur kassenärztlichen Versorgung ermächtigt werden, d. h. zur Abrechnung mit den Krankenkassen berechtigt sein. Die Bundesregierung wird hierüber mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und den Bundesverbänden der gesetzlichen Krankenkassen entsprechende Verhandlungen zu führen haben.Drittens. Auch die Beratungsfunktion der in den Ländern und Gemeinden bestehenden Behörden, insbesondere Gesundheitsamt, Jugendamt, Sozialamt, soll verbessert werden und damit in stärkerem Maße als bisher für unsere gesellschafts- und ge-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5813
Frau Eilerssundheitspolitischen Ziele eingesetzt werden. Da behördlich-administrative Stellen, wie gegenwärtig zu beobachten ist, noch nicht in dem wünschenswerten Maße von den Ratsuchenden angenommen werden, ist die volle Integration dieser Einrichtungen in das Netz der Beratungsstellen anzustreben.Viertens. In den Lehrplänen der Erwachsenenbildungseinrichtungen und Schulen sollen Fragen der Sexualerziehung und der Familienplanung stärker als bisher berücksichtigt werden. Die von der ersten sozialdemokratischen Gesundheitsministerin Käte Strobel hierbei erzielten Durchbrüche sollten weiter ausgebaut werden. Auch die kollektive Beratung durch Aufklärungsaktionen befürworten wir als Maßnahme, um Informationslücken über Familienplanung in der Bevölkerung zu schließen.Nach Auffassung meiner Fraktion könnten die genannten Aufgaben in der Familienberatung und Familienplanung im Hinblick auf die bevorstehende Strafrechtsänderung nicht ernst genug genommen werden. Insofern begrüßen wir es, daß unser Antrag in Drucksache 7/374 vom 21. März 1973 durch den Antrag der Fraktion der CDU/CSU in Drucksache 7/549 vom Mai 1973 unterstützt wurde und in sachlich fairen Ausschußberatungen weiterentwickelt werden konnte. Meine Fraktion stimmt diesem erweiterten Antrag zu.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Schleicher.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundestagsausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit hat in dieser Legislaturperiode eine Reihe von Vorlagen, Anträgen und Gesetzentwürfen zu beraten, die in erster Linie gesellschaftspolitisch relevant sind. Wir werden auf die Einrichtung der Beratungsdienste immer wieder zu sprechen kommen. Diese haben sich aus freier, vor allem aber auch notwendiger Initiative entwickelt und stellen ein breites Angebot für den Ratsuchenden. Gerade die Verbände der freien Wohlfahrt haben hier mit mühsamen Schritten eine Leistung erbracht, die erst im Laufe der weiteren Diskussion so richtig erkannt werden wird.
Als von unserer Fraktion der Antrag auf eine öffentliche Anhörung zu dem Thema „Familienberatung und Familienplanung" gestellt wurde, kam das Echo aus der Regierungskoalition zunächst nur sehr zögernd. Doch die Anhörung konnte dann wohl den Rest der Skepsis überwinden; denn es war immerhin der Ausschußvorsitzende selbst, der abschließend sagte: „Wir sind alle, glaube ich, erstaunt darüber, wie das gesamte Spannungsfeld der Jugend-, Sozial-, Bildungs-, Familien-, ja Rechts- und Gesundheitspolitik hier aufgeworfen wurde. Wir haben praktisch bei Adoption, Sorgerecht, Bundessozialhilfegesetz, Jugendhilfe, Familienlastenausgleich festgestellt, daß wir schon in Gesetzgebungsvorhaben eingegriffen haben, die noch auf uns zukommen."
Der Vorsitzende sagte weiter, der Rahmen der Anhörung sei eigentlich gesprengt worden, da die Sachverständigen gezeigt hätten, welches Spannungsfeld in ihrer Beratungstätigkeit vorhanden sei.
Innerhalb unseres Ausschusses hatten wir eine gemeinsame Ausgangsbasis: nämlich die Stellungnahme zu den Entwürfen eines Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechts betreffend § 218. Einigkeit bestand darin, daß Ziel der Reform nicht ist und nicht sein darf, eine schrankenlose Möglichkeit für die Abtreibung zu schaffen,
sondern daß es darum geht, wie die Frau bzw. die die Eheleute von vornherein vor der Situation bewahrt werden können, die dazu führt, den Abbruch einer Schwangerschaft als quasi letzten Ausweg in Betracht zu ziehen.
Diese Situation kann verhindert werden durch eine sinnvolle Familienplanung, durch frühzeitig einsetzende Information der Frau und des Mannes über kontrazeptive Mittel und Möglichkeiten und durch Vorsorge insbesondere des Staates und der Gesellschaft für eine gesunde und soziale Umwelt.
Der Auschuß war sich auch darin einig, daß sinnvolle Familienplanung eine intensive Beratung auf breiter Basis voraussetzt. Die Beratung sollte nicht erst beginnen bzw. notwendig werden, wenn eine unerwünschte Schwangerschaft eingetreten ist. Der Auschuß bestand allerdings auch auf der Verabschiedung eines entsprechenden Antrags gleichzeitig mit der Verabschiedung des Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechts.
Dies ist der Punkt, der mir heute unklar erscheint. Warum wurden diese wichtigen Probleme nicht zu gleicher Zeit auf die Tagesordnung gesetzt?
Ist dies eine taktische Überlegung, möglichst viele Schwierigkeiten vorab zu klären? Mir scheint es, es wäre ehrlicher gewesen, alles zusammen zu behandeln.
Die auf Drucksache 7/1813 vorgelegte Berichterstattung geht im wesentlichen auf die Schwerpunkte der Beratungsdienste ein. Der Antrag des Ausschusses wurde von uns mit beschlossen, allerdings unter der Voraussetzung bestimmter Gesichtspunkte, die uns im Ausschuß zugesagt wurden, und zwar: ärztliche Beratung in den Beratungsstellen: ja, aber keine Abtreibung in diesen Beratungsstellen.
„Ist vorgesehen, daß in den Beratungsstellen auch Abtreibungen durchgeführt werden können?". Daraufhin beteuerte Staatssekretär Westphal, er wolle dies mit einem entschiedenen Nein beantworten.
Auf der einen Seite ist ein Arzt in der Beratungsstelle notwendig, vor allen Dingen in den Einrich-
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5814 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Frau Schleichertungen von Pro Familia, deren Schwerpunkt ausschließlich in der Beratung zur Familienplanung und Empfängnisverhütung liegt.Allerdings steht auch fest, daß gerade die Fälle, die bei bisherigen illegalen Abtreibungen den Hauptgrund lieferten, nämlich Frauen mit drei und mehr Kindern, diese Stellen so gut wie überhaupt nicht aufsuchten. Das Deutsche Jugendinstitut stellte in seiner Untersuchung fest: „Die Zusammensetzung der Ratsuchenden von Familienberatungsstellen und Pro-Familien-Stellen differiert stark. Während bei Familienberatungsstellen 84 % der Ratsuchenden verheiratet waren, waren bei Pro Familia lediglich ein knappes Drittel verheiratet, rund zwei Drittel ledig."Der hohe Anteil lediger Ratsuchender bei Pro Familia umfaßt vor allem einen überproportional hohen Anteil an Studenten und Schülern. Hieraus folgerte das Deutsche Jugendinstitut in seiner Untersuchung, daß Pro Familia die Funktion einer Familienplanung bei Mehrkinderfamilien nicht erreiche.Meine Fraktion ist der Auffassung, daß die Familienberatungsstellen vor allen Dingen die soziale Beratung in jeder Hinsicht gewährleisten sollten.
Die Erfahrungen aus der Vergangenheit zeigen, daß bestimmte Lebensfragen — wie hier gefordert: Familienberatung und Familienplanung — nicht isoliert, sondern im Rahmen einer allumfassenden Lebenshilfe gesehen werden müssen.Probleme der Familienplanung und Geburtenregelung tauchen häufig erst im Zusammenhang mit der Behandlung anderer, zunächst allgemeiner Schwierigkeiten auf. Diese können materieller, finanzieller Art sein, in der Arbeit mit verhaltensgestörten Kindern oder Jugendlichen entdeckt werden, in Spiel- und Lernstuben, bei sozialen Randgruppen, bei der Bewältigung der Probleme mit behinderten Kindern, aber auch über die Ehe- und Familienschwierigkeiten auftreten.Erkennung von Ursachen und Zusammenhängen der Probleme, Abbau von Voreingenommenheit oder Hemmungen, die Bereitschaft wecken, in dieser Frage einen Arzt aufzusuchen, ist hier eine oft vorab zu leistende Aufgabe derjenigen Beratungsdienste, die im Rahmen ihrer Arbeit mit diesem Problem konfrontiert werden. In den wenigsten Fällen werden die Beratungseinrichtungen rechtzeitig aufgesucht. Sehr oft ist schon eine bestimmte Situation eingetreten, wie z. B. die einer unerwünschten Schwangerschaft. Die Nöte der Ratsuchenden liegen weniger im Austragen des Kindes, sondern mehr bei dem Gedanken, was nach der Geburt des zu erwartenden Kindes geschehen wird. Die Unwissenheit über menschliche und soziale Möglichkeiten ist teilweise Anlaß zu erhöhter Panikstimmung. Die soziale Beratung ist in einem solchen Fall dringend erforderlich.Es ist an dieser Stelle nicht möglich, auf die Breite der Beratung völlig einzugehen. Ich möchte aber Punkte herausziehen, die ich im Zusammen-hang mit der Diskussion um den § 218 StGB für wesentlich halte.Bei dem von seiten der Regierungskoalition immer wieder betonten Mangel an Ärzten wird das Ziel, innerhalb kurzer Zeit ein breites Beratungsnetz auszubauen, nur schwer zu erfüllen sein, wenn man darauf besteht, daß auf jeden Fall Ärzte in diesen Beratungsstellen tätig sein müssen. Die Zusammenarbeit mit Ärzten ist zu gewährleisten. Das ist auch möglich. — Das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit wird Modelleinrichtungen finanzieren, um zu erproben, in welcher Weise Beratungen durchgeführt werden sollen.Bei allen Äußerungen zu dem Komplex Familienberatung und Familienplanung konnte jedoch der Eindruck nicht ganz weichen, daß zumindest von SPD und FDP, aber auch vom Ministerium her nur der Aspekt der Familienplanung mit dem Schwerpunkt der ärztlichen Beratung gesehen wird.Ich habe im Ausschuß immer wieder darum gebeten, uns die Modellentwürfe, die schon seit September letzten Jahres in der Diskussion sind, vorzulegen bzw. uns darüber zu berichten. Entweder war man sich noch nicht schlüssig, oder aber man hielt es nicht für notwendig, uns zu unterrichten. Die erste Information hierzu kam genau einige Tage vor unserer abschließenden Beratung im Februar und konnte deshalb nicht mehr behandelt werden. Allerdings wurde uns bestätigt, daß inzwischen mit den Ländern und den Verbänden Kontakt aufgenommen wurde und diese weitgehend damit einverstanden seien.Eine Nachfrage bei den Ländern gab mir jedoch ein völlig anderes Bild. Wiederum einen anderen Eindruck vermittelten mir die Verbände. Bei den bisher bestehenden Beratungsstellen liegt der Schwerpunkt auf der sozialen Beratung. Der Modellentwurf zielt aber einseitig nur auf die Beratung zur Familienplanung und Empfängnisverhütung hin.Die vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit vorgelegten Varianten für sogenannte Modelleinrichtungen lassen keinen Spielraum zu. Sie schreiben auch gleichzeitig eine Beratung zum Schwangerschaftsabbruch vor. Soll dies dann in Zukunft eine zwangsweise Beratung zur Familienplanung bedeuten? Wer eine Broschüre mit dem Titel „Jedes Kind hat ein Recht, erwünscht zu sein" herausgibt, muß sich auch die Frage gefallen lassen, wie dieses Recht eingeklagt werden kann. Oder würde bereits die Äußerung einer Mutter, das Kind sei — aus welchen Gründen auch immer — unerwünscht, ausreichen, einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen? Diese Broschüre ist aber Grundlage der Information zur Familienplanung.Die Möglichkeiten zu einer Familienplanung sind heute eher gegeben als noch vor zehn Jahren. Trotzdem muß aber jederzeit auch damit gerechnet werden, daß eine sogenannte Familienplanung mißlingt. Welche Alternative sehen Sie dann? Nach unseren Vorstellungen müßte eine Beratungsstelle gleichzeitig soziale Hilfe vermitteln bzw. anbieten können. Soziale Hilfen sind ein integrativer Bestandteil der Beratung. Insbesondere bei Schocksituationen des
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Frau SchleicherRatsuchenden müssen Hilfen aufgezeigt und echteAlternativen angeboten werden. Erst dann ist einefreie Entscheidung für die Betroffenen gewährleistet.In der Diskussion wird immer und immer wieder von den sogenannten Wunschkindern gesprochen. Hierzu gibt es gute, fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse. Eine tschechische Studie aus Prag von Matejek beweist, das bei den ungewünschten Kindern im Vergleich zu den Wunschkindern weder im intellektuellen noch im seelischen Bereich nennenswerte Unterschiede bestanden und auch ihre soziale Integration in den Familien jedem Vergleich standhielt.Auch anläßlich einer Besichtigung des sogenannten Baseler Modells sagte deren Leiterin Frau Dr. Mall-Haefeli: In der Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch wird besonders das Argument des unerwünschten Kindes hochgespielt, das später durch eine Heimerziehung Schaden davontrage. Die Nachuntersuchungen in der Schweiz nach neun Jahren haben ergeben, daß ein erwünschtes Kind sehr oft zu einem unerwünschten Kind werden kann, während ungeplante, ja oft unerwünschte Kinder schon während des weiteren Schwangerschaftsverlaufes angenommen und geliebt werden.Wie vertragen sich nun die Äußerungen in der SPD-Broschüre mit dem Modellentwurf des Bundesministeriums? Hier meint die SPD — Sie gestatten ein Zitat aus der SPD-Broschüre —:Staat und Gesellschaft lassen das werdende Leben nicht schutzlos. Seinem Schutz dient die vorgesehene Beratung, die einen übereilten und falsch motivierten Schwangerschaftsabbruch verhindern soll. Außerdem soll der Wille zum Kind gestärkt werden.Das Modellvorhaben des Bundesministeriums aber will die Beratung zum Schwangerschaftsabbruch zwingend vorschreiben.Auch die Beratung allzu junger Menschen ist unter diesem Gesichtspunkt mehr als problematisch.Außerdem ist Schwangerschaftsabbruch keine Dauerlösung. Aus England hören wir, daß junge Frauen oft in ein und demselben Jahr mehrmals abtreiben. Selbst wenn es heute verbesserte Praktiken zur Abtreibung gibt, ist noch lange nicht gesagt, ob nicht auch diese Praktiken sich schädlich auswirken können. Ein Versehen um wenige Tage kann eventuell tödliche Wirkungen haben.
Es gibt eine Reihe von weiteren Gesichtspunkten, die auch in diesem Zusammenhang vorzutragen sind: Etwa 10 % aller Ehen bleiben ungewollt unfruchtbar. Nach dieser Rechnung dürfte es allein im Bundesgebiet 45 000 Ehepaare geben, die gerne ein Kind adoptieren würden. Wenn Sie aber in diesem Zusammenhang eine „Schwangerschaftsabbruchberatung" von den Beratungsstellen erfordern, ist dies für den Ratsuchenden keine freie Alternative.Es dürfte auch ein einmaliger Vorgang sein, daß der Bund, ohne Kompetenzen zu haben, ein dreijähriges Modellprogramm fördert mit der Auflage, daß die Länder — egal ob das Modell erfolgreich zum Abschluß gebracht wurde oder nicht — Auflagen erhalten, ohne selbst mitentscheiden zu können , diese Beratungsstellen dann finanziell auch zu übernehmen.Wie sieht es noch mit der Wahrung der Pluralität der Träger aus? Soweit das Modellprogramm des Bundesministeriums zu erkennen ist, scheint nur eine Einrichtung an der Vorbereitung zur Beratung beteiligt worden zu sein. Die soziale Beratung ist völlig vergessen worden, und das gerade von Vertretern einer Partei, die immer wieder erklären, daß ihr Hauptanliegen soziale Hilfen seien.In der Stellungnahme des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit kam immer wieder zum Ausdruck, daß alles zu tun sei, um Frauen vor der Situation zu bewahren, den Schwangerschaftsabbruch quasi als letzten Ausweg in Betracht zu ziehen. Materielle Hilfen zur Familienplanung bzw. Zahlung für den Abbruch sind dann auch kein Trost. Es ist mir unverständlich, wie begründet werden kann, daß mit den von Ihnen heute vorgelegten Gesetzesvorlagen ernsthaft geholfen werden kann, die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche zu vermindern.Ebenfalls im Rahmen der Modellberatungen sollen mobile Beratungsstellen über Land fahren und zusätzlich auf Messen und Kirchweihen etc. Informationen an die Bürger geben. Glauben Sie wirklich, daß eine gewissenhafte Beratung hier überhaupt durchführbar ist? Diese Art mobiler Beratungsstellen können höchstens als Informationsstand, niemals aber als Beratungsstelle deklariert werden.Zum Abschluß noch ein Gesichtspunkt. Die Bewältigung der Probleme unerwünschter Schwangerschaft bis hin zur Frage des Schwangerschaftsabbruchs fordert von den Betroffenen Wert- und Gewissensentscheidungen. Diese weltanschaulichen Gesichtspunkte müssen in unserer Gesellschaft plural behandelt werden. Von daher sind Beratungsdienste der unterschiedlichen weltanschaulichen Trägerschaft in ein ausreichendes Angebot der Beratung und Hilfe und somit auch in ein entsprechendes Modellprogramm einzubeziehen.Unter diesen vorgetragenen Gesichtspunkten sind wir bereit, dem vorliegenden Antrag zuzustimmen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Christ.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die strafrechtliche Diskussion um die Reform des § 218 kann nicht geführt werden, ohne die Frage aufzugreifen, in welcher Form, mit welchen Inhalten und in welchem Ausmaß der Schwangeren Beratungseinrichtungen zur Bewältigung ihrer individuellen Konfliktsituation Hilfe anbieten können. Auch und gerade die Befürworter der Fristenlösung wissen um die Notwendigkeit einer helfenden Beratung, die über die ärztliche Beratung im engeren Sinne hinausgeht und5816 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974Christder Frau nicht zuletzt Möglichkeiten aufzeigen soll, welche individuellen und auch gesellschaftlichen Hilfen ihr für eine positive Einstellung zur Schwangerschaft angeboten werden können.Ich muß hier mit wenigen Worten auf meine Vorrednerin eingehen. Es waren zwei Unterstellungen oder vielleicht auch nur Mißverständnisse in ihren Ausführungen, zum einen, als sie andeutete, daß in Zukunft wohl nur noch die Tendenz zum Wunschkind mit der Konsequenz gefördert werden solle, daß dort, wo es nicht um ein Wunschkind gehe, als letzter Ausweg der Schwangerschaftsabbruch bleibe. Sie hat zum zweiten der Bundesregierung unterstellt, daß ihrem Modellprogramm die Intention zugrunde liege, nur noch eine Beratung zum Schwangerschaftsabbruch fördern zu wollen. Ich meine — und will das vorsichtig ausdrücken —, daß das sicherlich ein grobes Mißverständnis ihrerseits war. Mit meinen nachfolgenden Ausführungen werde ich es noch zurechtrücken.Ich komme zurück auf die Frage, wie wir ein solches breites Netz von Beratungseinrichtungen anlegen müssen, damit es von den Frauen auch angenommen wird; denn dies ist eine der grundlegenden Hilfestellungen, die die Frau braucht, wenn sie ihre schwierige Gewissensentscheidung verantwortungsbewußt, aber auch verantwortlich fällen soll. Diese Betrachtung zielt zunächst auf den engen Zusammenhang zwischen Schwangerschaftsabbruch und vorausgehender helfender Beratung für die Frau.Dies umfaßt aber nur einen Teilaspekt des vorliegenden Antrags, der sich mit dem Thema der Familienberatung und -planung insgesamt befaßt. Die Vorstellungen und Vorschläge dazu, wie sie im Ausschuß weiterentwickelt worden sind, umfassen den gesamten Bereich dieser wichtigen Aufgabe. Insbesondere wird damit die Absicht verfolgt, die Einsicht in die Notwendigkeit geplanter Eltern- und Mutterschaft zu vermehren. Das ist nicht zuletzt eine Aufgabe gezielter Sexualaufklärung und -beratung.Der Antrag des Ausschusses, mit dem die Bundesregierung aufgefordert wird, in Zusammenarbeit mit den Ländern und den Trägern von Beratungsdiensten die Voraussetzungen für ein ausreichendes und qualifiziertes Beratungsangebot in den Bereichen Sozialberatung, Familienplanung und -beratung, Sexualberatung und nicht zuletzt — das müssen wir ganz konsequent hinzunehmen möglicher Schwangerschaftsabbruch zu verbessern, hat erfreulicherweise bei der Bundesregierung bereits zu einer entsprechenden Initiative geführt. Das dazu vorgelegte Modellprogramm der Bundesregierung vermittelt einen Überblick, der sehr umfassend die Möglichkeiten darstellt; es darf wohl als eine gelungene Initiative bezeichnet werden, bei der sicherlich die notwendigen Impulse gegeben werden. Bei der Durchführung dieses Modellprogramms wird es insbesondere darauf ankommen, daß es der Bundesregierung gelingt, die Kooperation und die Koordination zwischen den einzelnen Beratungsdiensten zu verbessern und auch auf eine Integration der in engem Zusammenhang stehenden Beratungsdienste hinzuwirken, ohne damit gleichzeitig in irgendeinerWeise die Selbständigket der unterschiedlichen Träger anzutasten.Jetzt kommt etwas meines Erachtens sehr Wichtiges, das uns auch in vier Wochen bei der Diskussion um die strafrechtliche Lösung beschäftigen muß, nämlich die Erkenntnis — die auch im Anhörungsverfahren des Ausschusses zutage trat —, daß die sozialen Unterschichten von solchen Beratungseinrichtungen bisher zu wenig Gebrauch gemacht haben und daß wir nach neuen Wegen und Mitteln suchen müssen, um an diese Menschen heranzukommen, die oft in besonderem Maße einer helfenden Beratung bedürfen. Hier werden wir besonders gespannt den Erfolg des Modellprogramms der Bundesregierung verfolgen, wenn sie z. B. Vorschläge macht, wie man unmittelbarer in die sozialen Brennpunkte durch verstärkte und mobile Außenarbeit hineinkommt, um dies eben gerade in die Familien zu tragen, die auf Grund bestimmter Vorurteile nicht bereit sind, die üblichen Beratungseinrichtungen aufzusuchen. Zweifellos ist es nicht allein eine Frage der äußeren Form, sondern hier müssen im Zusammenhang mit den angesprochenen sozialen Schichten neue Beratungsinhalte und neue Beratungskommunikationsformen hinzukommen, damit diese Gruppen auch bereit sind und in die Lage versetzt werden, die erfolgte Beratung in verantwortliches Handeln umzusetzen.Wenn ich die Vorstellungen und Vorschläge des Ausschusses wieder auf den engen Zusammenhang mit der Reform des § 218 StGB zurückführen darf, so scheint mir ein Punkt in dem Modellprogramm der Bundesregierung ganz besonders wichtig zu sein, nämlich der Vorschlag, Beratungsstellen in Verknüpfung mit einem Krankenhaus, einer Poliklinik oder auch einer ärztlichen Gruppenpraxis zu errichten. Spätestens an dieser Stelle hat sich meines Erachtens bei Ihnen das Mißverständnis eingeschlichen, daß Sie annehmen, dies sei sozusagen von vornherein nur noch eine Beratung zum Schwangerschaftsabbruch.Die Erkenntnis, daß man zu einer Kombination von klinischer Einrichtung mit vorgehender und nachgehender helfender Beratung kommen sollte, gewann auch der Strafrechtssonderausschuß, als er seinen Besuch in New York machte. Ich meine, dies ist wahrscheinlich die optimale Bedingung für eine schwangere Frau gerade aus den unteren sozialen Schichten, sich mit ihren Problemen einer helfenden Einrichtung der Gesellschaft anzuvertrauen und nicht aus Unsicherheit und mangelndem Vertrauen in den kriminellen Untergrund eines illegalen Schwangerschaftsabbruchs zu fliehen.Die Diskussion um die Reform des § 218 StGB könnte wesentlich sachlicher geführt werden, wenn schon vor 15 Jahren Maßnahmen zur Verbesserung der Familienberatung und -planung beschlossen worden wären und wir infolgedessen heute günstigere gesellschaftliche Bedingungen mit besseren Erfahrungen hinsichtlich der Forderung nach geplanter und bewußter Eltern- bzw. Mutterschaft hätten.Für mich ist die Versuchung groß, an dieser Stelle eine kritische Auseinandersetzung mit der
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ChristFamilienpolitik der CDU/CSU zu führen, wie sie in den 50er Jahren propagiert wurde. Aber lassen wir es bleiben!
Gerade bei diesem kritischen Rückblick wird deutlich, wie dringend notwendig eine verbesserte und erweiterte Familienplanung und -beratung ist, die die weitere Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch, die wir sicherlich auch in den nächsten Jahren noch führen werden — ich glaube nicht, daß wir das in vier Wochen schon alles erledigt haben —, entkrampfen wird und die dazu beitragen soll — das ist wohl eines der Hauptziele —, daß die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche entscheidend vermindert wird.
Das Wort hat Frau Bundesminister Focke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Beratung ist das eigentliche Thema unserer heutigen Plenarsitzung. Unter Punkt 2 der Tagesordnung haben wir uns vorher mit dem Anspruch auf ärztliche Beratung über Fragen der Empfängnisregelung und über die Erhaltung und den Abbruch der Schwangerschaft beschäftigt, der in Zukunft Versicherten im Rahmen der Reichsversicherungsordnung gewährt werden wird. Dabei habe ich, wie es der Gesamtzusammenhang erforderte, bereits auf jenes weitere Beratungsangebot hingewiesen, das unter dem Stichwort Beratungsstellen oder Beratungsdienste den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit beschäftigt hat. Zugrunde lagen je ein Antrag der Koalitionsfraktionen und der Oppositionsfraktion zur Familienberatung und -planung.Als Ergebnis liegt dem Bundestag ein Antrag an die Adresse der Bundesregierung vor, der sie auffordert, in Zusammenarbeit mit den Ländern, die — das muß ich hier allerdings betonen — die eigentlich Zuständigen sind, den Trägern von Beratungsdiensten und den Berufsvertretungen des in Beratungsstellen eingesetzten Personals die Voraussetzungen für ein ausreichendes und qualifiziertes Beratungsangebot in den Bereichen Sozialberatung, Familienberatung und -planung, Sexualberatung und Schwangerschaftsberatung zu verbessern.Im Ausschuß war die Meinung über die Notwendigkeit solcher Beratung ebenso einhellig wie die Meinung über die Notwendigkeit der ärztlichen Beratung im engeren Sinne im Rahmen der RVO, bis auf das, was uns heute morgen auseinanderdividiert hat und was leider zu einem Beschluß geführt hat, der dieser Auffassung, wie sie bei den Diskussionen in den Ausschüssen entstanden war, nicht mehr zu entsprechen schien.Im Namen der Bundesregierung kann ich der in diesem Antrag enthaltenen Forderung betreffend Beratung nur aus vollstem Herzen zustimmen. Zugleich sehe ich mich auf Grund zurückliegender Initiativen schon unter meiner Vorgängerin KäteStrobel und wegen der einmütigen Bereitschaft im Haushaltsausschuß, bereits für 1973 Mittel bereitzustellen, in der erfreulichen Lage, heute schon einige ganz konkrete Informationen über Maßnahmen geben zu können, die dem Ausschußantrag entsprechen.Da ist in erster Linie das Modellprogramm zu nennen, mit dem der Bund in Zusammenarbeit mit den Ländern, Gemeinden und freien Trägern Impulse für den Ausbau der Beratungsdienste zu geben versucht. Nach gründlicher Vorbereitung im Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, einer Erörterung in der Gesundheitsministerkonferenz im Mai und noch einmal im November, in der Jugendministerkonferenz im September und in langwierigen Abstimmungssitzungen mit den Vertretern der zuständigen oder interessierten Ministerien der Länder haben wir im Laufe des letzten halben Jahres den folgenden Sachstand erreicht: Knapp 10 Modellberatungsstellen sind eingerichtet und werden betrieben, und etwa weitere 40 werden in den nächsten drei Monaten entweder neu anlaufen oder den abgestimmten Rahmengrundsätzen 'des Modells entsprechend ausgebaut. Das heißt, wir werden demnächst ein Modellnetz von zirka 50 Beratungsstellen, verteilt auf die Bundesrepublik Deutschland, haben, die nicht nur das vorhandene Angebot quantitativ und qualitativ verbessern, sondern mit denen wir Antworten auf die Fragen finden werden, die im Ausschuß, bei seiner Anhörung im November und in dem vorliegenden Antrag aufgeworfen wurden.Erstens. Wie muß beraten werden, damit die Ratsuchenden wirklich Rat und Hilfe erhalten, um ihre Lebens- und Familiengestaltung und den Wunsch nach Kindern miteinander in Einklang zu bringen, um bei eingetretener Schwangerschaft vorhandene Probleme vor und nach der Geburt durch geeignete soziale Hilfen soweit wie möglich zu lindern? — Frau Schleicher, ich wäre dankbar, wenn Sie gerade bei diesem Punkt zuhörten, denn dieses ist ein ganz integraler Punkt des Modellprogramms.
Natürlich kann ich das beliebig ertragen, nur nicht gerade bei einem Punkt, wo unmittelbar, bevor ich hier geredet habe, Frau Schleicher hier einen erheblichen Vorwurf zum Modellprogramm gemacht hat.
Frau Schleicher selbst regt sich ja gar nicht auf. Sie versteht, daß mir daran liegt, daß hier klar wird, wie dieses Modellprogramm gemeint ist.
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Bundesminister Frau Dr. FockeUm so mehr, als ich ihr die Grundsätze in schriftlicher Form habe zukommen lassen und ihr dort offenbar schon entgangen ist, daß die soziale Beratung eine große Rolle spielt, möchte ich gerne, daß es ihr hier mündlich noch einmal gesagt werden darf.
Und schließlich geht es darum, daß Rat und Hilfe geholt werden kann, um sich der möglichen medizinischen Komplikationen und seelischen Belastungen, der Methoden, der gesetzlichen Voraussetzungen und 'der Möglichkeiten zur Durchführung des Schwangerschaftsabbruchs bewußt zu werden.Die zweite Frage, die sich stellt, ist: Wie wird eine solche Beratungsstelle bekannt? Dabei geht es darum: Wie wird sie gerade von jenen aufgesucht, an die sie sich richtet und die ihren Rat am meisten brauchen? Wir mußten feststellen, daß dies bisher in besonders auffallender Weise eben nicht geschieht.Es stellt sich weiter die Frage: Wie muß sie eventuell unterschiedlich vorhandenem und beschaffenem Beratungsbedürfnis in Großstädten oder auf dem Land und je nach der soziologischen Struktur, der konfessionellen Bindung, den Lebensgewohnheiten entsprechen?Eine weitere wichtige, auch durch den Antrag aufgeworfene und von uns berücksichtigte Frage lautet: Wie kann die Integration von Beratungsdiensten, die in einem gewissen Sachzusammenhang stehen, und wie kann die Kooperation zwischen den Beratungsdiensten in verschiedener Trägerschaft erhöht werden?Um nun zur Klärung aller dieser Fragen beizutragen, sind folgende Modellvarianten vorgesehen:eine Beratungsstelle in Verknüpfung mit dem Krankenhaus,eine Beratungsstelle in Verknüpfung mit einer Poliklinik,eine Beratungsstelle in Verknüpfung mit einer ärztlichen Gruppenpraxis,eine Beratungsstelle in Verknüpfung mit einer Praxis niedergelassener Ärzte,eine Beratungsstelle in Verknüpfung mit einem betriebsärztlichen Zentrum in einem größeren Industriegebiet,eine Beratungsstelle freier Träger in Verknüpfung mit behördlicher Beratung, z. B. Jugendamt, Sozialamt, Gesundheitsamt,und Beratungsstellen, in denen die Aufgaben der Sozial-, Familienplanungs-, Sexual- und Schwangerschaftsberatung mit Ehe- und Familienberatung, Erziehungsberatung, Jugendberatung, schulpsychologischem Dienst, Drogenberatung und Wohnungsberatung zusammengefaßt werden — also Anknüpfungen an alle möglichen schon vorhandenen Beratungseinrichtungen, um zu erproben, in welcher Kombination diese Beratungsangebote am bestenangenommen werden. Natürlich messen wir bei dieser ganzen Modelluntersuchung der Frage der Beratung in sozialen Brennpunkten besondere Bedeutung zu und sehen vor, hier neue Formen der Kommunikation, vor allen Dingen auch durch verstärkte Außenarbeit, vorzunehmen.Selbstverständlich geht es nicht nur um Beratungsinhalte und -methoden, um Fragen der Organisation, Verknüpfung und Kooperation, sondern vor allen Dingen auch um die Frage, welche Beratungspersonen, vom Psychologen über den Sozialarbeiter bis zum Arzt, zusammenwirken sollten, welche Aus- und Weiterbildung sie brauchen und in welcher Form dieses Angebot verbessert werden kann und muß.Zu meiner Freude hat das Modellvorhaben des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit zum Ausbau der Beratungsdienste eine günstige Resonanz bei den Ländern und bei den Trägern von Beratungsdiensten gefunden. Die Bereitschaft mitzuwirken geht quer durch die breit gefächerte Trägerschaft, gleich welcher weltanschaulichen Orientierung. Das beweisen die vorliegenden Anträge, die bereits jetzt die Zahl der Beratungsstellen, die in das Modellvorhaben einbezogen werden können, übersteigen. Die Auswahl erfolgt übrigens im Benehmen mit den Ländern, d. h. über die Länder. Die Pluralität der Träger und der Spielraum für die Gestaltung der Beratungsdienste innerhalb der abgestimmten Rahmengrundsätze sind für Träger und Beratungspersonal zugesichert.Der Bund trägt 50 % der Kosten einer Modellberatungsstelle, und wo keine Eigenmittel vorhanden sind, auch mehr.
Frau Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Würden Sie eine Modellberatung auch dann vergeben, wenn der Träger nicht bereit ist, zum Schwangerschaftsabbruch zu beraten?
Ich habe soeben gesagt, Frau Schleicher: Innerhalb dieser Rahmengrundsätze sind Varianten, zusätzliche Beratungsinhalte, -methoden usw. denkbar. Aber für die Beteiligung an diesem Modellprogramm wird es auch darum gehen — ich sagte es vorhin schon —, natürlich bezogen auf die jeweilige straffrei gestellte Situation, auch in der Frage eines Konflikts mit dem Problem eines erwogenen Schwangerschaftsabbruchs zu beraten.
Ich sagte: Der Bund trägt 50 % der Kosten einer Modellberatungsstelle, und wo keine Eigenmittel vorhanden sind, auch mehr; er finanziert darüber hinaus die Kosten der wissenschaftlichen Begleitung und im wesentlichen die Weiterbildungskosten.
Der Modellversuch ist auf drei Jahre angelegt. Der Träger muß die Beratungsstelle nach Ablauf der
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Bundesminister Frau Dr. Focke
Erprobungsphase als Regeleinrichtung weiterführen. Es liegt auf der Hand, daß allein dafür eine enge Kooperation mit den Ländern notwendig ist.
Meine Damen und Herren, das Modellprogramm kann, gemessen am Bedarf an Beratungsstellen und -diensten, selbstverständlich nur e i n Beitrag zu dem insgesamt im Bundesgebiet notwendigen Netz von Beratungsstellen sein. Der Bericht von Frau Schleicher für den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit läßt den Abstand erkennen, der heute noch zwischen Angebot und Bedarf besteht. Die Kluft ist nur durch verstärkte Anstrengungen aller Beteiligten zu füllen. Es versteht sich von selbst, daß damit nicht bis zur Auswertung des Modellprogramms gewartet werden kann, ebenso wie wir natürlich nicht vom Nullpunkt anfangen. Das heißt: Die Länder sind natürlich aufgefordert — und dies war Gegenstand auch der verschiedenen Konferenzen —, in der Zwischenzeit die vorhandenen Ansätze weiter auszubauen.
Wir haben — ich glaube, das sollten wir uns alle miteinander offen eingestehen — in der Vergangenheit nicht genug getan. Das Bewußtsein für die Notwendigkeit größerer und besserer Beratungsangebote wächst jedoch insgesamt, sei es im Rahmen der Jugendhilfe — das neue Gesetz wird ein entsprechendes Angebot gewährleisten —, der Altenhilfe, der Rehabilitation, der Psychiatrie oder auch durch die Diskussion um die Reform des § 218. Gerade diese Diskussion hat dazu geführt, daß nicht nur das Bewußtsein wächst, sondern auch die Bereitschaft, Mittel zur Verfügung zu stellen. Diese Bereitschaft des Deutschen Bundestages hat schon in der vergangenen Legislaturperiode, ja sogar im 5. Deutschen Bundestag Aufklärungsaktionen wie den Sexualkundeatlas und die Wunschkind-Broschüre meiner Vorgängerin Käte Strobel ermöglicht. Auf diese Notwendigkeit verweist ein anderer Punkt des Ausschußantrags.
Ich bin in ihre Fußstapfen getreten und hatte übrigens das Vergnügen, für die breitgestreute Informationsschrift „Jedes Kind hat ein Recht, erwünscht zu sein" auch von ,den Kollegen der Opposition ein Lob zu erhalten. Sie soll auch den Ärzten und Beratungsstellen eine Hilfe sein.
Eine weitere Schrift, die vor allem der Sozialberatung gewidmet ist, ist weit gediehen und steht im nächsten Monat ebenfalls zur Verfügung. Sie soll den Arzt informieren, der sich in seiner Beratungspraxis stärker auf Sozialberatung einstellen muß, die Träger und Behörden, alle Beratungspersonen und nicht zuletzt die ratsuchenden Männer und Frauen selbst.
Ich sagte es schon bei der Debatte über die Änderung der Reichsversicherungsordnung: Neue Anforderungen an Inhalt und Methoden der ärztlichen Beratung verlangen Informations- und Fortbildungsangebote, vor allem eine enge Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Beratungsstellen. Ich bin dankbar für die Bereitschaft zur Kooperation in diesem Bereich, die in Gesprächen mit der Bundesärztekammer oder z. B. mit dem Ärztinnenverband zum Ausdruck kam. Doch bleibt noch viel zu tun.
In diesem Zusammenhang nehme ich auch die Aufforderung des Ausschußantrages ernst, die Bundesregierung solle durch Verhandlungen mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und den Bundesverbänden der gesetzlichen Krankenkassen sicherstellen, daß Ärzte in Beratungsstellen zur kassenärztlichen Versorgung ermächtigt werden, soweit es sich um Ansprüche der Versicherten auf Leistungen handelt, die Beratung über Fragen der Empfängnisregelung oder im Zusammenhang mit einer Schwangerschaft darstellen.
Ich bin mir selbstverständlich bewußt, daß durch noch so gute und alle Bürger erreichende Aufklärung, Beratung und Vermittlung der heute zur Verfügung stehenden sozialen Hilfen und medizinischen Leistungen nicht alle Probleme gelöst werden können. Die Entscheidung darüber, ein Kind in die Welt zu setzen, die Verantwortung für seine Erziehung, die Möglichkeiten für seine Entfaltung werfen sicher sehr viel weitergehende Fragen auf; nicht nur für die Eltern, sondern auch für den Gesetzgeber auf Bundes-, Länder- und Gemeindeebene. Unsere gesamte Gesellschaftspolitik vom Familienlastenausgleich bis zum Wohnungsbau, von der sozialen Sicherheit über Politik für Frauen, von der Bildungspolitik bis zur Gesundheitspolitik — um nur einige zusätzliche Stichworte zu nennen — ist in diesem Zusammenhang berührt.
Aber weder die gesamte Bundesregierung noch ich selbst, weder die Koalitionsfraktionen noch die Opposition weichen diesem Anspruch aus, wenn sie sich in dieser Erklärungsrunde auf das Thema konzentrieren, das auf der Tagesordnung steht: Familienberatung und -planung und das, was wir für den Ausbau eines entsprechenden Beratungsangebots für notwendig und möglich halten. Ich habe mich diesem Anspruch zu stellen versucht und über das gesprochen, was ich bereits getan oder eingeleitet habe. Ich wäre vor allen Dingen Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, dankbar, wenn Sie diesen Beitrag zur gemeinsamen Anstrengung von Bund, Ländern und Trägern von Beratungsdiensten und Berufsvertretungen des in Beratungsstellen tätigen Personals ebenso ernst und unvoreingenommen prüfen und vielleicht gelten lassen würden, wie ich mich bemühen werde, dem Antrag des Ausschusses zu entsprechen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Schleicher.
Ehe wir zur Verabschiedung des Antrages kommen, muß ich noch eine Frage an Frau Minister Focke stellen. Ich habe im Ausschuß gesagt, daß wir dem Antrag unter der Voraussetzung zustimmen, daß in den Beratungsstellen kein Schwangerschaftsabbruch durchgeführt werden wird, weil wir mit dem gesamten anderen Inhalt einverstanden waren. Nun muß ich wissen — denn sonst kann ich dem Antrag nicht zustimmen —, ob Sie beabsichtigen, in den Beratungsstellen in Zukunft Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen.
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5820 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Das Wort hat Frau Bundesminister Focke.
Ja, eben! Wenn sie aufmerksam zugehört hätte, hätte sie meinen Worten entnehmen können, daß es sich um B e r a t u n g handelt und daß nicht daran gedacht ist, einen Schwangerschaftsabbruch in einer dieser Beratungsstellen vorzunehmen. Damit wiederhole ich das, was, glaube ich, Herr Christ auch schon gesagt hat.
Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Wir kommen damit zur Abstimmung über den Antrag des Ausschusses auf der Drucksache 7/1813. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Punkt 4 a und 4 b der Tagesordnung auf:
a) Große Anfrage der Abgeordneten Kern, Bäuerle, Barche, Dr. Haenschke, Dr. Holtz, Dr. Lohmar, Scheffler, Stahl , Wuttke, Flämig, Dr. Meinecke (Hamburg), Hoffie, Frau Schuchardt, Möllemann und der Fraktionen der SPD, FDP
betr. Forschungspolitik
--- Drucksachen 7/688, 7/1279
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lenzer, Benz, Engelsberger, Dr. Franz, Hösl, Pfeffermann, Dr. Freiherr Spies von Büllesheim, Dr. Stavenhagen, Schröder , Frau Dr. Walz, Weber (Heidelberg) und der Fraktion der CDU/CSU
betr. Zukunft der Forschungszentren — Drucksache 7/1477
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Forschung und Technologie und für des Post-und Fernmeldewesen
Darf ich davon ausgehen, daß die Begründung praktisch durch die Debatte erfolgt? Dann kommen wir zur Beratung.
Das Wort hat der Abgeordnete Kern.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat in ihrer Regierungserklärung vom 18. Januar 1973 drei Ziele für die Forschungs- und Technologiepolitik genannt: erstens: das Setzen klarer Prioritäten und das Offnen der großen Forschungszentren für neue Aufgaben, zweitens: die Ausweitung der internationalen Zusammenarbeit und ein gemeinsames Konzept der Forschungs- und Technologiepolitik in der erweiterten Europäischen Gemeinschaft, drittens: die Sozialorientierung der Forschungs- und Technologieprogramme. Dabei waren konkret genannt: die Probleme der Gesundheit, des Umweltschutzes, der Stadtforschung, darüber hinaus aber auch der gesellschaftlichen Grundlagenforschung.Die Koalitionsfraktionen haben in ihrer Großen Anfrage, die wir heute hier diskutieren und die ich für diese Fraktionen zu begründen habe, die Bundesregierung aufgefordert, ein Grundsatzprogramm nach dieser politischen Zielvorgabe der Regierungserklärung vorzulegen. Unser Kollege Professor Lohmar, der leider heute nicht unter uns sein kann und dem ich baldige Genesung wünsche, hat bereits im vergangenen Jahr diese Große Anfrage in einem Aufsatz der „Bonner Universitätsblätter" begründet. Er hat in diesem Aufsatz deutlich gemacht, daß die Rangfolge von Forschungsprojekten oder technologischen Entwicklungsaufgaben letztlich keine inner-wissenschaftliche Frage ist, sondern nur politisch entschieden werden kann. Allerdings wollen wir auch hier Demokratie, und dies bedeutet, daß die Entscheidungsfindung in einer engen Zusammenarbeit zwischen Staat, Wissenschaft und Wirtschaft zustande kommt. Ich möchte mich daher auch an dieser Stelle für die Anregungen bedanken, die wir für die heutige Debatte über die Große Anfrage aus Kreisen der Wirtschaft und der Wissenschaft erhalten haben.Forschungspolitik kann in der Demokratie nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, die Öffentlichkeit für die Probleme der Forschung und Technologie zu interessieren. Dies setzt allerdings voraus, daß es gelingt, die Programme und Entscheidungsvorgänge nicht nur durchsichtig, sondern auch für die Öffentlichkeit verständlich zu machen. Dabei sind wir uns darüber im klaren, daß die forschungspolitischen Entscheidungen, die wir heute treffen, Folgen haben, die in der nächsten und übernächsten Generation deutlich werden
und über die Lebensbedingungen der Zukunft entscheiden.Die Grenzen, die uns dabei gesetzt sind, zwingen uns zu einer Konzentration auf das Wesentliche. Wir können nicht alles, was wissenschaftlich-technisch machbar ist, fördern. Wir können auch nicht alles, was wünschenswert ist, fördern. Wir müssen das, was dringlich ist, fördern, damit auch die Generationen nach uns noch genug Nahrung, Wasser und Energie haben und damit Gefahren abgewendet werden, die Lebensbedingungen verschlechtern.Forschungs- und Technologiepolitik muß dabei auch auftretende Zielkonflikte lösen helfen. Ich denke dabei z. B. an jenen Konflikt, der durch den enormen Energiebedarf entsteht und der die Umwelt bei der Energiegewinnung so belastet, daß Giftstoffe und unerträgliche Abwärmemengen die Lebensbedingungen verschlechtern.Den einzelnen Fragen unserer Großen Anfrage lagen folgende Überlegungen zugrunde:Erstens. Bereits im Forschungsbericht IV war angekündigt, daß sich Forschungspolitik als Gesellschaftspolitik auszuweisen habe. Da der nächste Forschungsbericht erst Anfang des nächsten Jahres diskutiert werden kann, kam es uns darauf an, die Linie aufzuzeigen, die vom Forschungsbericht IV über die Kleine Anfrage der SPD und FDP im September 1972 bis zur Gegenwart zu sehen ist.
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KernBereits bei den Haushaltsberatungen ist deutlich geworden, daß es trotz des begrenzten finanziellen Spielraums gelungen ist, die Förderung neuer Technologien, anwendungsorientierter Datenverarbeitung, kommunaler Technologie und der Grundlagenforschung, vor allem im Bereich der Gesellschaftswissenschaften, mit überdurchschnittlichen Steigerungsraten zu versehen. Im Interesse der Gesellschaft halten wir es für richtig, daß die Regierung Schwerpunkte gebildet hat für die Entwicklung neuer Systeme des Nahverkehrs, des innerstädtischen Verkehrs und des Hochleistungsfernverkehrs, bei der Entwicklung umweltfreundlicher Produkte und Verfahren, bei der Entwicklung von Abfallbeseitigungssystemen und anderen Umweltschutztechniken. Im Interesse der Gesellschaft ist auch die Erschließung neuer Roh- und Grundstoffe, z. B. durch die Meerestechnik, aber auch durch Verfahren zur Rückgewinnung von Stoffen aus Abfällen zu begrüßen. Auch die vielen Förderungsvorhaben im Bereich der Biologie und Medizin, die denen helfen, die von Krankheit, Unfällen und Zivilisationsschäden betroffen sind, halten wir für richtig gesetzte Schwerpunkte. Im Interesse unserer internationalen Wettbewerbsfähigkeit war es auch richtig, die Schlüsseltechnologien im Bereich der Entwicklung von elektronischen Bauelementen befristet zu fördern.Da die Opposition zu Beginn dieser Woche in einer Kleinen Anfrage nach dem gesellschaftlichen Nutzen der Weltraumforschung fragte, möchte ich hier sagen, daß wir den Schritt der Technik in den Weltraum deswegen für nützlich und nötig halten, weil er neue Möglichkeiten der Steuerung und Überwachung der Schiffahrt und der Luftfahrt, Möglichkeiten für die Wettervorhersage, für den Fernmeldeverkehr, für Rundfunk und Fernsehen, aber auch für die Erderkundung ergibt.Die Förderung der Grundlagenforschung halten wir deswegen für notwendig, weil durch sie immer wieder der Anstoß für wichtige neue Technologien gegeben wird. Außerdem haben wir ein Interesse daran, daß das menschliche Wissen erweitert und das Verständnis der Vorgänge und Probleme unserer Welt vertieft wird.Zweitens. Wir haben die Bundesregierung nach den Möglichkeiten der Prognose und der Prioritätensetzung gefragt, obwohl wir wissen, daß es für diese Probleme heute nirgends in der Welt eine eindeutige Lösung gibt. Wir wissen zwar, daß wir die Forschungspolitik auf die künftigen Probleme der Gesellschaft ausrichten müssen, aber wir wissen zu wenig von der Welt von morgen und auch von der Auswirkung unserer Entscheidungen, die wir heute treffen.Auch die Opposition hat inzwischen eingesehen, daß das Problem nicht dadurch zu lösen ist, daß man das amerikanische Modell eines Office of Technology Assessment auf uns überträgt, zumal dieses amerikanische Modell auch nicht das erbringt, was man sich dort davon versprochen hatte.Weil in unserer Industriegesellschaft ein Kreislauf von naturwissenschaftlicher Forschung, technologischer Entwicklung, ökonomischer Anwendung undgesellschaftlichen Folgen besteht, halten wir es für richtig, daß die Bundesregierung die sozialwissenschaftliche Forschung zur inhaltlichen Bestimmung von Schwerpunkten zu nutzen versucht.Drittens. Die künftige Entwicklung der Forschungszentren wird bestimmt durch die Vielfalt des dort vorhandenen Sachverstandes und der dort vorhandenen Erfahrungen, aber auch der guten Ausstattung, die wir in diesen Zentren haben, sowie durch die Übernahme neuer Aufgaben in Zusammenarbeit mit Staat, Hochschulen und Wirtschaft. Da der Antrag der CDU/CSU auf Drucksache 7/1477 hier in verbundener Debatte mitbehandelt wird, möchte ich dazu einige Anmerkungen machen.Ich halte es für ein Mißverständnis, wenn die Großforschungszentren als nachgeordnete Forschungsdienststellen des Forschungsministeriums verstanden werden, denen man ein fünfjähriges Sachprogramm zudiktiert. Die Bundesregierung legt ihre mehrjährigen Sachprogramme vor, und die Forschungseinrichtungen und -institute können sich nach eigener Entscheidung und eigenen Möglichkeiten dort einpassen, wobei sich auch hier ein Kreislauf vollzieht, der vom politischen Sachprogramm der Regierung ausgeht und über die Programmeinschaltung der Forschungseinrichtungen wieder zu Vorschlägen für ein verbessertes Sachprogramm an die Regierung führt.Dabei ist es sicher richtig, daß die veränderten Aufgaben der Forschungseinrichtungen eine Flexibilität und Mobilität der Mitarbeiter bedingen. Die schwierigen Fragen der Diversifikation und personellen Mobilität müssen durch Gespräche mit den Mitarbeitern der Zentren, der Gewerkschaften und Verbände zu einem Konzept führen. Die Diskussion über die Erfahrungen mit den Leitlinien werden wir sicher im Ausschuß auf Grund des darüber vorgelegten Berichts bald durchführen können.Viertens. Wir hatten die Bundesregierung in unserer Großen Anfrage nach der Bereitstellung von Risikokapital gefragt und können heute mit Befriedigung feststellen, daß die Regierung eine Wagnisfinanzierungsgesellschaft gründen wird, die vor allem die mittelständische Wirtschaft, kleine und mittlere Unternehmen, durch Bereitstellung von Risikokapital unterstützt, damit auch dieser wichtige Zweig unserer Wirtschaft seine Möglichkeiten für Innovationen nutzen kann.Die Frage der Erfolgsbeteiligung des Bundes bei der Förderung industrieller Forschungs- und Entwicklungsvorhaben, aber auch die Frage der wirtschaftlichen Nutzung von Forschungsergebnissen ist sicher nicht mit einer allgemeinen Formel zu lösen, sondern bedarf der vertraglichen Lösung im Einzelfall. Der in der Antwort der Regierung aufgezeigte Weg, diese Fragen in Zusammenarbeit mit der Fraunhofer-Gesellschaft zu lösen, wird von uns für richtig gehalten.Für das Parlament, aber auch für die Öffentlichkeit ist es wichtig, daß künftig für den Bereich Forschung und Technologie zusätzlich zum Haushaltsplan aufgabenbezogene Leistungspläne aufgestellt werden und daneben bei den Großforschungseinrich-
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Kerntungen übersichtliche mehrjährige Programm- und Projekthaushalte entwickelt werden.Fünftens. Wir wissen, daß die traditionellen Techniken bald die Techniken der Länder der Dritten Welt sein werden, was wir keineswegs für beklagenswert, sondern eher für wünschenswert halten. Aber daraus ergibt sich, daß unsere Industriegesellschaft dringend der Erforschung und Entwicklung neuer Technologien bedarf. Vieles kann dabei wegen des enormen Finanzbedarfs nur durch eine internationale Arbeitsteilung realisiert werden. Auf die Fragen der europäischen Forschungs- und Technologiepolitik wird mein Kollege Flämig noch im einzelnen eingehen.Gestatten Sie mir nun noch eine Anmerkung zur künftigen Forschungs- und Technologiepolitik hier im Parlament. Da dem Bund nach Art. 74 Nr. 13 des Grundgesetzes das Recht zu konkurrierender Gesetzgebung für die Förderung der wissenschaftlichen Forschung zukommt, sollten wir uns überlegen, ob dieses Recht nicht durch die Einbringung eines Forschungsförderungsgesetzes und eines Forschungsstatistikgesetzes erfüllt werden könnte.Zum Schluß noch ein Wort an die Opposition. Ich bestreite nicht, daß die Opposition fleißig und rührig Anträge, Anfragen und Stellungnahmen zur Forschungs- und Technologiepolitik abgegeben hat. Aber dabei hat sie entweder ein Hase-und-IngelSpiel veranstaltet, um zu zeigen, daß sie dort, wo die Regierung und die Koalitionsfraktionen tätig sind, auch schon da ist, oder sie hat sehr stark den Ruf nach Erfolgs- und Kostenkontrolle ertönen lassen. Während die sozialliberale Koalition ihrer Forschungspolitik ein gesellschaftliches Konzept zugrunde gelegt hat und Forschung zum Nutzen aller betreibt, ist bis zum heutigen Tag nicht klar, welches forschungspolitische Konzept die Opposition hat. Die unqualifizierte Beschimpfung des Forschungsministers kann ja wohl nicht als Ersatz für eine eigene Konzeption angesehen werden.
— Herr Kollege Benz, wenn Sie nicht erst eben gekommen wären, sondern von Anfang an zugehört hätten, wüßten Sie, daß Ihre Frage bereits beantwortet worden ist.
Jener Satz, den der Bundeskanzler bei seiner Rede in Aspen/Colorado für die Politik im allgemeinen gesagt hat, gilt für die Forschungs- und Technologiepolitik im besonderen:Gewissenhaftigkeit ist nach meiner Erfahrung das Kriterium jeder guten Politik. Sie braucht . . . keinen Lärm. Doch nur sie übersetzt sich in Glaubwürdigkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Lenzer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte bietet die Gelegenheit, in diesem Hause einmal in einer etwas eingehenderen Form über die Fragen der Forschungs- und Technologiepolitik zu sprechen. Es kommt im übrigen nicht allzu häufig vor, obwohl doch mit den Forschungsprojekten die Ausgabe von erheblichen Haushaltsmitteln verbunden ist. Wegen der zur Verfügung stehenden begrenzten Redezeit muß sich die Debatte auf einige besondere Schwerpunkte konzentrieren. Dabei werden einige meiner Kollegen noch den einen oder anderen Punkt besonders vertiefen.Große Anfragen, meine Damen und Herren, sind nicht unproblematisch, denn sie bieten jeder Regierung einmal die Chance echter Information an dieses Parlament, sie verleiten aber auch oft zu selbstgefälliger Darstellung der eigenen Aktivitäten, also der Produktion von politischem Weihrauch. Aus diesen Gründen hat es die CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht für zweckmäßig gehalten, eine eigene Große Anfrage einzubringen. Sie hat vielmehr wie bereits in der Vergangenheit durch Anträge zu ganz konkreten Punkten ihr Engagement in diesem Bereich unter Beweis gestellt. Als Beispiel möchte ich die zahlreichen parlamentarischen Anfragen und daneben die Anträge zu den Themen Kosten- und Erfolgskontrolle, Technologische Forschung und Entwicklung, Verbundanlage Kernenergie und Kohle sowie unsere Initiative zum Technology Assessment, also der Bewertung technologischer Entwicklung, nennen.Wenn man die Antwort der Bundesregierung unter diesen Voraussetzungen kritisch betrachtet, so kommt man zu der Feststellung, daß diese ihre Chance nicht genutzt hat. Die Antwort enthält nur wenige konkrete Angaben, aber eine Fülle deklamatorischer Äußerungen. Dabei bleibt die Bundesregierung wie bisher oft bei Ankündigungen stehen. Neue Schwerpunkte und die sich daraus ergebenden Konsequenzen werden nicht deutlich, ganz zu schweigen von der in fast allen Verlautbarungen und Festreden durch die Regierungsvertreter immer wieder beschworenen Neuorientierung der Forschungspolitik.
So handelt es sich bei der Definition der Forschungspolitik in der Antwort der Bundesregierung oft um Selbstverständlichkeiten, die weder Gegenstand kontroverser Erörterungen waren noch umwälzende Neuigkeiten darstellen.
Hinter einer Fülle von Gemeinplätzen und modisch aufgeputzten Sprüchen, z. B. der gesellschaftlichen Relevanz der Forschung, gesellschaftsbezogenen Programmen und wie es weiter heißt, stehen nach wie vor die großen, man könnte fast sagen, klassischen Forschungsschwerpunkte, die bereits durch
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Lenzerdie von der CDU/CSU geführten Regierungen initiiert worden sind.
So erkannten die von der CDU/CSU geführten Bundesregierungen frühzeitig die Bedeutung der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Ergebnis dieser Förderungspolitik war immerhin der kommerzielle Durchbruch der Leichtwasserreaktortechnologie, die bis auf weiteres die Basis unserer nuklearen Stromerzeugung bereitstellen wird. In der Weltraumforschung wurden ebenfalls erhebliche Mittel für die Projekte von ELDO und ESRO aufgewandt und der Versuch unternommen, zu einer eigenen europäischen Trägerkapazität zu kommen. Wenn hier manche Wünsche nicht in Erfüllung gingen, so lag das gewiß nicht am mangelnden technischen Standard, sondern fast ausschließlich an den nationalen Egoismen der Mitgliedstaaten dieser Organisation. Es bleibt jedoch die Erkenntnis, daß man nur unter gleichen Partnern zu einer Kooperation und internationalen Arbeitsteilung gelangen kann, um dann als Folge davon die Entwicklungskosten wirksam zu senken.Auch der Entwicklung der elektronischen Datenverarbeitung als Mittel der Rationalisierung und Leistungssteigerung wurde von den CDU/CSU-geführten Bundesregierungen große Bedeutung beigemessen. Die Bemühungen des Ersten Datenverarbeitungsprogramms brachten wenigstens teilweise die Schließung der technologischen Lücke zu den Vereinigten Staaten. Wenn trotzdem die deutsche Industrie heute auf diesem Gebiet immer noch nicht konkurrenzfähig ist, so liegt dies in den Eigenheiten des unterschiedlichen Marktes begründet, nicht aber im technischen Abstand.Fragen wir also zusammenfassend: Wer unter den Fraktionen dieses Hauses hat jemals bestritten, daß Forschung und Technologie kein Selbstzweck sind? Gibt es hier jemanden, der behaupten wollte, daß gerade Forschung und technologische Entwicklung nicht von entscheidender Bedeutung für die Sicherung sowohl der Arbeitsplätze als auch des industriellen Wachstums und damit der Erhaltung unserer wirtschaftlichen Existenzgrundlage sind?
Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sind Forschung und technologische Entwicklung Mittel zur langfristigen Sicherung und Verbesserung der Lebensbedingungen des Menschen und zur Bewahrung unserer wirtschaftlichen Existenzgrundlage. Diese Grundvoraussetzung fand, wie bereits kurz angedeutet, ihren Niederschlag in den vielfältigen Förderungsprogrammen der von uns geführten Bundesregierungen.Wenden wir uns nun den im ersten Kapitel der Antwort der Bundesregierung formulierten forschungspolitischen Leitzielen zu, und untersuchen wir sie auf diesem konkreten Hintergrund.Erstens. Nach Auffassung der Bundesregierung soll auch in der Forschungspolitik der „Bedarf der Gesellschaft" zur Geltung gebracht werden. Washeißt dies konkret? Wer bestimmt z. B. den Bedarf? Wer setzt angesichts begrenzter Mittel die Prioritäten, und wie soll das geschehen?Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang ein Zitat aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12. Dezember 1973. Dort schreibt Professor Walter Hamm unter dem Titel „Der ominöse gesellschaftliche Bedarf" folgendes — ich darf mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin, zitieren —Das Jonglieren mit gesellschaftilchen Bedürfnissen ist verführerisch und bedenklich zugleich. In einer Zeit, in der viele Menschen dem Modewort „gesellschaftlich" einstweilen noch pauschal und kritiklos einen höheren Rang beimessen als dem Attribut „individuell", ist die Versuchung für Politiker groß, sich jeder Kritik ihrer Ziele durch Hinweise auf den gesellschaftlichen Bedarf zu entziehen.
Durch den Zusatz „gesellschaftlich" werden politische Ziele geschickt tabuisiert. Es kommt hinzu, daß sich jeder unter „gesellschaftlichem Bedarf" das vorstellen kann, was er möchte, so daß Politiker mit breiter Zustimmung zu derartigen nichtssagenden Formulierungen rechnen können. Damit schaffen sich Politiker einen Freiraum für die autoritäre, nicht demokratisch überprüfte Zielbestimmung.Meine Damen und Herren, hüten wir uns deswegen also vor der Illusion, als gebe es einen quasi objektiven gesellschaftlichen Bedarf und man brauche nur ein gewisses formales Instrumentarium zu entwickeln, um zu allgemein akzeptierten Prioritätsentscheidungen zu kommen. Letztlich handelt es sich auch hier um politische Entscheidungen, die im Rahmen der üblichen parlamentarischen Auseinandersetzungen mit Mehrheits- und Minderheitsvoten getroffen werden müssen. Dabei sollten sich alle verantwortlichen Politiker vor Konzessionen an Modeströmungen und an den sogenannten Zeitgeist hüten.Zweitens. Ein weiteres wichtiges forschungspolitisches Ziel ist nach Auskunft der Bundesregierung eine breitere parlamentarische und öffentliche Meinungs- und Willensbildung. Dazu werden dann einige Maßnahmen genannt: Leistungspläne, Programmhaushalte usw. Dies alles ist sinnvoll, aber nicht neu. Abgesehen davon ist meines Wissens bisher erst ein einziger Leistungsplan vorgelegt worden, und zwar bereits in der vergangenen Legislaturperiode zum Zweiten Datenverarbeitungsprogramm. Er dürfte in der Zwischenzeit allerdings schon wieder überholt sein.
Die Bundesregierung könnte dem Ziel größerer Transparenz einen guten Schritt näherkommen, wenn sie, Herr Minister, in diesem Hause öfter dafür sorgten, daß über forschungspolitische Themen diskutiert würde. Vielleicht aber möchte sie ihre Programme möglicht schnell und geräuschlos über die parlamentarischen Hürden bringen.
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LenzerDrittens. Im Rahmen der forschungspolitischen Leitziele wird schließlich in der Antwort der Bundesregierung noch die dringend notwendige Koordination und Kooperation innerhalb der vielfältigen Forschungseinrichtungen angesprochen. Dabei versucht die Bundesregierung, den Eindruck zu erwecken, als ob sie auf diesem Gebiet von einer langfristigen Zielsetzung ausgeht. Die Praxis des BMFT sieht jedoch etwas anders aus. Forschungstätigkeit — das wollen wir einmal deutlich feststellen — erfordert nicht nur finanzielle, sondern auch personelle Kontinuität. Sie eignet sich beispielsweise nicht als Mittel der Konjunktursteuerung.Namens der CDU/CSU-Fraktion möchte ich auch hier betonen: Wir sind der Auffassung, daß die Forschungszentren auch in Zukunft eine bedeutende Aufgabe zu erfüllen haben. Deshalb sollten die Mitarbeiter in diesen Institutionen wissen, daß sie alle unserer Unterstützung sicher sein können.
Wir werden weiterhin die Partner der Forschungszentren sein.Lassen Sie mich nun zu der Kernfrage der heutigen Debatte kommen. Sie lautet: Welche Funktion haben Wissenschaft und Forschung in unserer Gesellschaft, und welchen Beitrag kann vor allen Dingen der Staat hier leisten?An den Anfang meiner Ausführungen möchte ich ein klares Bekenntnis meiner Fraktion zur Grundlagenforschung stellen. Die Schaffung von Kenntnissen um ihrer selbst willen aus Sehnsucht des Menschen nach Erklärung des Unbekannten muß auch in Zukunft ein wichtiger Bestandteil unserer gesamten Wissenschaftsförderung sein.
Unsere Gesellschaft muß deshalb Bedingungen dafür schaffen, daß den qualifizierten Forschern im Bereich der Grundlagenforschung die notwendige Freiheit des Forschens gewährt wird. Wenn diese Freiheit angetastet wird, besteht die Gefahr, daß die Vielfalt unserer Wissenschaft zu eingeschränkt wird.
Die Grundlagenforschung, auch die historischgeisteswissenschaftliche Forschung — das sei aus aktuellem Anlaß besonders hervorgehoben — muß auch in Zukunft ein Schwerpunkt unserer Wissenschaftsförderung sein. Die Freiheit von Forschung und Lehre darf in keinem Falle eingeschränkt werden, was jedoch nicht ausschließt, daß die Finanzierung der Grundlagenforschung, wie auf anderen Gebieten, ständig einer kritischen Begleitung unterzogen werden muß.Nun ist die Schaffung von Wissen um seiner selbst willen nur ein Bruchteil der Aufgaben, die Wissenschaft und Forschung zu erfüllen haben. Immer größere Bedeutung gewinnt die Forschung zur Bewältigung der konkreten Probleme unserer Gesellschaft. Wenn wir deshalb unsere wissenschaftlich-technischen Kapazitäten zu diesem Zweck einsetzen, ist es erforderlich, in etwa die auf uns zu-kommenden Probleme zu erkennen, um frühzeitig gegensteuern zu können und die notwendigen Maßnahmen in die Wege zu leiten. Dabei ist es selbst' verständlich, daß sich Forschungspolitik an den gesellschaftlichen Bedürfnissen orientieren muß. Dies ist auch für uns nie strittig gewesen, obwohl, wie ich zugebe, oft jeder etwas anderes darunter versteht.Lassen Sie mich hierzu folgendes anmerken. Immer mehr Menschen fragen sich z. B. nach der Zukunft unserer industriellen Gesellschaft, von der bekanntlich Dennis Meadows in seiner Studie für den Club of Rome ein ziemlich pessimistisches Bild gemalt hat. Dieses Unbehagen am Fortschritt entsteht zum Teil aus den spezifischen Eigenarten des Fortschrittes selbst, der auf vielen Teilgebieten ohne echte endgültige Zweckbestimmung weltweite Veränderungen und damit eine Fülle von Spannungen schafft. Doch die Notwendigkeit, Forschung, Entwicklung und Technik weiter auszubauen und das Wirtschaftswachstum sicherzustellen, ist unumstritten. Nur so ist es zu erklären, daß auch von staatlicher Seite der Industrieförderung im Rahmen der weltweiten wissenschaftlichen Anstrengungen ein besonderer Platz zugeordnet worden ist.Drei entscheidende Grundmotive, deren Reihenfolge entsprechend den unterschiedlichen wissenschafts und forschungspolitischen Konzeptionen variieren mag, sind es, die sich als Impuls und Motivation für die Notwendigkeit und den Stellenwert nationaler Forschungspolitik erkennen lassen: Hebung der allgemeinen sozialen Wohlfahrt, Stabilisierung und Aktivierung des wirtschaftlichen Wachstum und schließlich Erweiterung und Ausdehnung der wirtschaftlichen Macht und damit Hebung des internationalen Stellenwertes und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Dabei wird Forschung nicht nur unter dem Aspekt des wirtschaftlichen Wachstums beurteilt, sondern in der Bundesrepublik Deutschland wie auch in verschiedenen anderen Ländern stehen ökonomische Gesichtspunkte, wie wirtschaftliches Wachstum, neben sozialer Sicherheit, Hebung des allgemeinen Lebensstandards, Volksgesundheit, Humanisierung der Arbeitswelt und langfristige Stabilität an gleicher Stelle. Das ist also all das, was man mit einem etwas verschwommenen und nebulösen Begriff, der übrigens keine Erfindung dieser Bundesregierung ist, mit „Qualität des Lebens" bezeichnet. Chancen, vom Staat finanziert zu werden oder gefördert zu werden, haben also nur Forschungsprogramme oder Forschungsprojekte, die die folgenden in sich zusammenhängenden Bedingungen erfüllen.Der gesellschaftliche und wirtschaftliche Nutzen muß zunächst zur Legitimation der Kosten und der öffentlichen Förderung nachgewiesen werden. Zu diesem Zweck sind technisch und wissenschaftlich qualifizierte Informations- und Entscheidungsmaterialien unabdingbare Voraussetzungen, die sich jedoch nur Interessenvertretungen leisten können, die über ein kochqualifiziertes und erfolgreiches wissenschaftliches Instrumentarium verfügen.Gleichzeitig muß nachgewiesen werden, daß keine anderen mächtigen Interessen verletzt werden oder
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Lenzerdaß der Initiator des Programms selbst mächtig genug ist, sich gegen die anderen Interessenten durchzusetzen. Es entscheiden also nicht mehr nur Lobbyaktivitäten, sondern in weit größerem Maße wissenschaftlich-technische Kompetenz und Artikulationsfähigkeit.Nicht zu übersehen ist jedoch, daß wegen der traditionellen Entscheidungs- und Durchsetzungsmechanismen oft eine ganz erstaunliche Diskrepanz zwischen den staatlich tatsächlich geförderten und in der Öffentlichkeit gewünschten Prioritäten im Bereich der Forschungspolitik und der Forschungsausgaben festzustellen ist. Diese Diskrepanz ist gesellschaftspolitisch von großer Bedeutung und wurde für die Bundesrepublik Deutschland mit Hilfe von zwei Untersuchungen der Studiengruppe für Systemforschung in Heidelberg in den Jahren 1968 und 1972 erforscht. Welche Konsequenzen — so möchte ich Sie fragen, Herr Minister — gedenken Sie eigentlich aus der in der öffentlichen Sitzung vorgebrachten Meinung dieser Gruppe zu ziehen?Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch ein anderes Problem kurz ansprechen. Die Ausdehnung der Regierungstätigkeit im Bereich der Forschungsförderung und die damit zwangsläufig zunehmende Spezialisierung haben zu einer Verlagerung der Macht zugunsten des Regierungs- und Verwaltungsapparates auf Kosten des Parlaments und seiner Entscheidungs- und Kontrollbefugnisse geführt. Hier muß eindeutig entgegengesteuert werden. Aus diesem Grunde hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion in diesem Hause einen Antrag unterbreitet, beim Deutschen Bundestag ein Amt zur Bewertung technologischer Entwicklungen einzurichten. Nachdem am Anfang in der Diskussion der Versuch gemacht wurde, diesen Vorschlag herunterzuspielen oder seine Nutzlosigkeit nachzuweisen, besteht doch jetzt Hoffnung, daß sich die Fraktionen des Deutschen Bundestages zu einer wie auch immer gearteten institutionellen Lösung des Problems — und nur um das Problem geht es, nicht um die Form — durchringen wird.Lassen Sie uns einmal versuchen
— Sie haben heute Ihren lustigen Tag, Herr Kollege, habe ich das Gefühl , in groben Zügen die gesellschaftlichen Bedürfnisse der Bundesrepublik Deutschland in den nächsten 30 Jahren zu antizipieren, und lassen Sie uns weiter versuchen, die Frage zu beantworten, welchen Beitrag Forschung und Technologie in diesem Zusammenhang leisten können. Ein genaues Bild der zukünftigen Entwicklung zu zeichnen, ist kaum möglich
— Entschuldigen Sie, Herr Staatssekretär, ich glaube, Sie haben heute mittag Ihr Soll schon erfüllt.
— Na ja, ich glaube, Ihnen kann geholfen werden.
Entscheidend bei all diesen Untersuchungen ist jedoch, daß man versucht, die Vielfalt der zukünftigen Probleme auf wenige Kenngrößen zurückzuführen und in etwa auf dieser Grundlage die zukünftige Entwicklung bei alternativen Entscheidungsmöglichkeiten abzuschätzen.Zwischen diesen Grundbedürfnissen besteht ein enger Zusammenhang. Dabei kommen wir in der Bundesrepublik Deutschland zu einer Rangfolge der Prioritäten, die wir ohne Anspruch auf Vollständigkeit in etwa wie folgt zusammenfassen können: 1. Rohstoff- und Energieversorgung; 2. Bewahrung unserer Umwelt; 3. Lösung der Verkehrsprobleme; 4. Information und Kommunikation. Dabei ist es selbstverständlich, daß sich die Rangfolge für die Dritte Welt etwas anders stellt als für uns.Gestatten Sie mir eine weitere Bemerkung. Historisch gewachsen hat sich bisher zwischen Staat und Wirtschaft eine gewisse Rollenverteilung im Bereich der Wissenschaft- und Forschungsförderung eingespielt. Die allgemeine Wissenschaftsförderung, sei es an den Hochschulen oder in eigenständigen Forschungsinstituten, wird zum überwiegenden Teil durch Steuergelder finanziert. In vermehrtem Umfange ist aber festzustellen, daß auch im Bereich der zivilen angewandten Forschung die staatlichen Interventionen zugenommen haben. In der Bundesrepublik Deutschland begann dies vor allem durch die Förderung in Kernforschung, Kerntechnik, Weltraumforschung, Datenverarbeitung, Meeresforschung und seit Ende der 60er Jahre auch der Meeresforschung und neuer Technologien.Von diesen Beispielen ausgehend kann man folgendes zur Aufgabe des Staates im Bereich der angewandten Forschung sagen. Der Staat soll dann in der angewandten Forschung tätig werden, wenn es sich um Bereiche handelt, die langfristig für die Allgemeinheit von großer Bedeutung sind und die wegen eines hohen wirtschaftlichen Risikos ohne staatliche Hilfe nicht in ausreichendem Maße in Angriff genommen werden könnten. Der Staat stellt für Förderungsprogramme einen Teil der Mittel zur Verfügung, wobei die Forschungsaktivitäten teilweise in staatlichen Instituten und teilweise in Wirtschaftsunternehmen durchgeführt werden.Die CDU/CSU ist der Ansicht, daß im Bereich der angewandten Forschung durch Auftragsvergabe möglichst die Privatinitiative auf allen Ebenen erhalten bleiben sollte und daß die anwendungsorientierte Forschung primär in Wirtschaftsunternehmen durchgeführt wird. Hier gilt es, Förderungsmechanismen zu entwickeln, die eine Beteiligung des Staates am wirtschaftlichen Erfolg der geförderten Projekte vorsehen.Bei der Formulierung der staatlichen Forschungsprogramme muß weiter darauf geachtet werden, daß von vornherein die positiven und negativen Folgen und Auswirkungen der geförderten Technologien abgeschätzt werden. Dies ist notwendig, um eine Fehlleitung von Mitteln zu vermeiden und um negative Auswirkungen von technischen Entwicklungen möglichst zu verhindern.
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LenzerGestatten Sie mir auch ein Wort zu den Forschungsaktivitäten der Wirtschaft, die naturgemäß auf Marktnähe und auf unmittelbares Verwertungsinteresse der Ergebnisse gerichtet sein müssen. Dabei muß darauf hingewiesen werden, daß die deutsche Wirtschaft bisher ihre gesamten Forschungsanstrengungen zu ca. 80 % oder sogar noch darüber hinaus selbst finanziert. Die beste Forschungsförderung also, die der Staat der Wirtschaft angedeihen lassen kann, ist die, daß er die Wirtschaft in die Lage versetzt, aus eigener Kraft kontinuierlich ihre Forschungsanstrengungen zu finanzieren. Der Staat setzt dabei den Orientierungsrahmen und gibt Anreize zur Entwicklung neuartiger, umweltfreundlicher Produkte, schafft also die notwendigen Randbedingungen für eine produktive Tätigkeit der Unternehmen.Nicht erwünscht ist nach unserer Auffassung eine zunehmende Bürokratisierung der Forschung und eine Abhängigkeit der Wirtschaftsunternehmen von staatlichen Zuwendungen. Aus diesem Grunde präferieren wir auch eine indirekte Förderung der angewandten Forschung in der Wirtschaft, die durch direkte Mittelzuschüsse für bestimmte Forschungsvorhaben ergänzt werden kann. Auch durch den Kauf neuartiger Entwicklungen seitens des Staates — dies ist z. B. im Computerbereich in den Vereinigten Staaten mit Erfolg praktiziert worden — erhält man meist einen größeren Nutzeffekt als durch die Bereitstellung von Fonds, die von Bürokratien verwaltet werden. Direkte Zuschüsse für Forschungsvorhaben sind nur für technologische Großprojekte) zu empfehlen, wie dies auch in der Vergangenheit bereits geschehen ist. Unverzüglich sollten wir aber gemeinsam überlegen, wie eine allzu große Abhängigkeit von staatlichen Förderungsmitteln, die auch unter wettbewerbspolitischen Gesichtspunkten zu bedauern wäre, vermieden werden kann.Im Jahre 1972 — so weisen es die Angaben des BMFT selbst aus — wurden etwa 20 Milliarden DM für die Förderung von Forschung und Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland bereitgestellt. Hiervon entfielen etwa 10 Milliarden DM auf die Wirtschaft und etwa der gleiche Anteil auf die öffentlichen Haushalte. Von den 10 Milliarden DM an öffentlichen Mitteln kontrollierte das Forschungsministerium ca. 2,7 Milliarden DM. Betrachtet man allein die Ausgaben für Forschung, so hat das Forschungsministerium nur eine Verfügung über 13 % der gesamten Forschungsausgaben in der Bundesrepublik Deutschland oder über ca. 27% der staatlichen Ausgaben.Klammert man aber die Ausgaben für die Förderung der reinen Wissenschaft aus diesen Zahlen aus und betrachtet man einmal nur die angewandte Forschung, so kommt dem Forschungsministerium eine Führungsfunktion zu, weil es ca. 90% der staatlichen Mittel im Bereich der angewandten Forschung beeinflußt. Gleichzeitig muß man berücksichtigen, daß durch die Beteiligung der Unternehmen, aber auch der Länder an den Forschungsprogrammen des Forschungsministeriums eine große Breitenwirkung erzielt wird.Betrachtet man diese Zusammenhänge, so muß man feststellen, daß der Forschungsminister der Bundesrepublik Deutschland die Aufgabe hat, die für unseren Staat langfristig bedeutsamen Ziele zu definieren und den Beitrag von Forschung und Technologie in etwa abzuschätzen. Weiterhin kann der Forschungsminister durch seine Koordinierungs-Kompetenz innerhalb der Bundesregierung und durch das Setzen von Normen die Richtung von Forschung und 'Technologie entscheidend mit beeinflussen. Als Beispiel nenne ich die Randbedingungen, die im Rahmen des Umweltschutzes durch den Staat gesetzt werden und den Einfluß dieser Bedingungen auf die Tätigkeiten der Wirtschaft. Um eine sachgemäße Forschungspolitik zu betreiben, müßte deshalb der Forschungsminister die für unsere Entwicklung wichtigen gesellschaftlichen Bedürfnisse in etwa abschätzen und den Beitrag des Staates zur Befriedigung dieser Bedürfnisse formulieren.Wie sieht es nun aber in Wirklichkeit aus? Seit Jahren wird von einer Neuorientierung in der Forschungspolitik gesprochen, ohne daß gesagt wird, worin diese Neuorientierung besteht, und ohne daß der Versuch zu einer Präzisierung gemacht wird. Das Vierte Atomprogramm, das auf den vorhergehenden Atomprogrammen aufbaute, wurde z. B. erst nach langem Hin und Her unter dem Druck der Erdölkrise verabschiedet. Ebenfalls ist bemerkenswert, daß in der vorliegenden Antwort der Bundesregierung der Bereich der Energie- und Rohstoffversorgung nur in einem ganz kleinen Absatz behandelt wird. Erst in der Not der Energiekrise entdeckte die Bundesregierung ihr Herz für die Energie- und Rohstoffversorgung. Dies ist, so möchte ich sagen, ein Beispiel mangelnder Vorsorge; denn gerade im Bereich der Forschungs- und Technologiepolitik bedarf es besonders einer vorausschauenden Planung.
Deswegen möchte ich Sie, Herr Minister, ganz konkret fragen: Was haben Sie unternommen, um Forschung und Technologie für die Sicherstellung der Energie- und Rohstoffversorgung in der Bundesrepublik Deutschland, wohlgemerkt: über das Jahr 1985 hinaus, einzusetzen? Welche konkreten Vorstellungen haben Sie im Bereich der Weltraumpolitik? Wie stellen Sie sich eine Koordination der angewandten Forschung im europäischen und im internationalen Rahmen vor? Was verstehen Sie z. B. unter dem Terminus „auf gesellschaftliche Bedürfnisse hin ausgerichtete Schwerpunkte der Grundlagenforschung"? Wie sehen Sie die gegenseitige Abhängigkeit von Forschungs- und Bildungspolitik, und welche Konsequenzen möchten Sie aus diesem Tatbestand ziehen?
Die gegenwärtige Praxis des Bundesministers für Forschung und Technologie, die man als „reaktives Programmieren" bezeichnen könnte, ist nicht geeignet, planerische Weitsicht zu ersetzen. Sie reduziert sich auf den Versuch, die Aufgaben mit administrativer Hektik in den Griff zu bekommen, ohne das Ausmaß der Probleme aufzuzeigen. Die Öffentlichkeit und dieses Parlament haben einen AnspruchDeutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21, März 1974 5827Lenzerdarauf, nicht immer wieder durch ständige Ankündigungen verwirrt zu werden.
Ihre bisherige Tätigkeit als Forschungsminister, so glauben wir, wird der Ihnen zugefallenen Verantwortung nicht gerecht.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß folgendes erklären. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist zu konstruktiver Mitarbeit bei der Lösung der forschungspolitischen Probleme bereit. Lassen Sie uns daher gemeinsam prüfen, ob sich Forschungs- und Technologiepolitik in diesem Land auf dem richtigen Weg befinden!
Das Wort hat Herr Abgeordneter Hoffie.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Herr Kollege Lenzer, ich möchte zunächst anerkennen, daß Sie die nach Ihrer bereits vor zwei oder drei Tagen abgegebenen Presseerklärung zu erwartende nur polemische Darstellung, die man befürchten mußte, nicht gegeben haben.
Ihre Ausführungen haben gezeigt, daß Sie in Sachen Forschungspolitik selbst allerdings nichts anzubieten haben, was uns in diesem so wichtigen Bereich wirklich, und sei es auch nur alternativ, vorwärtsbringen könnte. Im Gegenteil, Sie haben auch heute wieder hier im Parlament wie vorher im Ausschuß, aber vor allem auch das Ministerium bevorzugt mit Anfragen beschäftigt, die erneut aufgezählt wurden und deren Inhalt längst in einschlägigen Veröffentlichungen der Regierung nachlesbar gewesen wäre. Sie haben gelegentlich — auch das wurde hier wieder erwähnt Anträge gestellt, die jedoch jeweils nur das widerspiegelten, was entweder längst erledigt oder bereits auf den Weg gebracht war.Ich darf hier nur zwei Beispiele erwähnen. Einmal nenne ich Ihren Antrag zur „Kosten- und Erfolgskontrolle", den wir im Plenum bereits zu diskutieren hatten. Ebenso nenne ich Ihren Antrag „Förderung der technologischen Forschung und Entwicklung". Es wird im Verlauf der weiteren Debatte sicher noch genügend Möglichkeit geben, die gelegentlich vorgebrachte Kritik im einzelnen aufzunehmen. Ich möchte mich deshalb zunächst darauf konzentrieren, aus der Sicht der FDP-Fraktion einige grundsätzliche Probleme der Forschungspolitik anzusprechen.Wenn wir auf Grund der Großen Anfrage von SPD und FDP in dieser Legislaturperiode erstmals Gelegenheit zu einer breiteren forschungspolitischen Debatte haben, dann scheint mir zunächst die Feststellung unerläßlich, daß der Organisationserlaß des Bundeskanzlers bei der Regierungsbildung der sozialliberalen Koalition dem Bereich von Forschung und Technologie in der Bundesrepublik einen neuen und hervorragenden Stellenwert gegeben hat.Die organisatorische Entwicklung hätte eigentlich den ungeteilten Beifall auch der Opposition finden müssen, die noch in der Technologiedebatte im Dezember 1971 befürchtet hatte, daß allein schon die seinerzeitige Umbenennung des Ministeriums für wissenschaftliche Forschung in ein Ministerium für Bildung und Wissenschaft befürchten lasse, daß dadurch der Forschung und Technologie nicht mehr der frühere Stellenwert zugebilligt werde und daß, wie es in der damaligen Jungfernrede des Abgeordneten Dr. Hubrich hieß, „in bedenklicher Weise der Tendenz der Vernachlässigung von Naturwissenschaft und Technik Vorschub geleistet" werde.Anstatt dann aber konsequenterweise den durch ein eigenständiges Ministerium für Forschung und Technologie herausgehobenen Stellenwert zu begrüßen, erklärte am 20. Dezember 1972 der CSU-Abgeordnete Dr. Althammer, daß nunmehr ein Ministerium zerrissen worden sei, was schwerwiegende Auswirkungen im Bereich der Wissenschaftsförderung haben müsse. Das, meine Damen und Herren, ist Oppositionspolitik: Kritik um jeden Preis, auch wenn man sich dabei selbst widerspricht.Es bedarf sicher keines größeren historischen Exkurses, um daran zu erinnern, daß gerade in den Jahren vor 1969 Forschungspolitik in der Bundesrepublik doch immer nur teils zufällig, teils einseitig angelegt war. Das begann 1955 mit der Gründung eines Bundesministeriums unter Leitung von Franz Josef Strauß, das ganz einseitig auf Atomfragen zugeschnitten war und erst nach wachsender Bedeutung von Weltraumforschung, Datenverarbeitung oder Meerestechnik zu einem Ministerium für wissenschaftliche Forschung erweitert wurde, wobei man sich erneute Beschränkungen dahin gehend auferlegte, einzelne technologische Lücken aufzufüllen und das ökonomische Potential nur kurzfristig zu stärken.Die FDP-Fraktion, meine Damen und Herren, unterstützt die Forschungs- und Technologiepolitik dieser Regierung. Wir begrüßen außerordentlich, daß gerade zu diesem Zeitpunkt Gelegenheit auch zu einem kritischen Dialog zwischen Regierung und Parlament gegeben ist. Ich glaube, uns allen wird zunehmend klar, daß wir in den vergangenen Monaten den Beginn eines neuen Zeitabschnitts in der Entwicklung unserer Industrieländer und des Welthandels erleben. Die Haltung der Erdölländer dürfte sich auch bei anderen Rohstoffen auswirken, und es wird auch in weiteren Industriesektoren zu einer neuen Arbeitsteilung zwischen hochentwickelten und weniger entwickelten Ländern und auch zu einem neuen Wettbewerbsverhältnis der Industriestaaten um technologisches Know-how und dessen Export kommen. Das bedeutet, daß sich unser Industrieland in verstärktem Maße der Weiterentwicklung fortschrittlicher Technologien wird widmen müssen, um insgesamt wettbewerbsfähig zu bleiben. Aus dieser
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HoffieErkenntnis folgt die Notwendigkeit, die staatliche Forschungspolitik noch mehr als bisher auf die Förderung der technologischen Innovation auszurichten. Wichtigster Partner einer staatlichen Forschungspolitik ist damit die Industrie, die auch mehr als bisher in einem arbeitsteiligen Konzept die Ergebnisse der mit öffentlichen Mitteln geförderten Forschungseinrichtungen, von denen die Großforschungszentren die kostspieligsten sind, nutzen sollte.Wir hoffen, daß die erheblichen von der Bundesregierung bereitgestellten Mittel für das Energieforschungsprogramm zu dem auf diesem Gebiet dringend benötigten Innovationsschub führen werden, und wir hoffen, daß wir diesen Weg gemeinsam mit anderen Industrieländern, insbesondere den Vereinigten Staaten, gehen können; denn nach unserer Überzeugung übersteigen die notwendigen Forschungsausgaben die Kraft eines einzelnen Landes. Auch in diesem Sinne begrüßen wir den Zeitpunkt der heutigen Debatte, nachdem der Forschungsminister ja soeben von Gesprächen in den USA über eine Zusammenarbeit gerade auf dem Gebiete der Energieforschung zurückgekehrt ist mit einem Vertrag, der die Durchführung von gemeinsamen Programmen einschließlich der gegenseitigen Benutzung von Testanlagen zur Reaktorsicherheit ermöglicht.Meine Freunde und ich sind mit der Bundesregierung der Meinung, daß es in Zukunft bei der Fortentwicklung der Forschungs- und Energiepolitik nicht mehr darum gehen kann, alles nur Erdenkliche und technisch Mögliche kritiklos zu fördern und zu verwirklichen. Niemand sollte dies aus der starken Betonung einer notwendigen Förderung der industriellen Innovation schließen. Es wird vielmehr von uns allen verlangt werden, bei allen Maßnahmen den Bedarf unserer Gesellschaft mehr als bisher zur Geltung zu bringen. Ich glaube sagen zu können, daß es aus unserer Sicht das entscheidende Verdienst dieser Regierung ist, daß, wie auch in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers verdeutlicht wird, Forschung und Technologie erstmals nach dem gesellschaftlichen Nutzen fragen und an ihm orientiert werden sollen. Denn fasziniert vom naturwissenschaftlich Möglichen, war noch vor wenigen Jahren der Blick verstellt für eine in die Zukunft gerichtete und an den sozialen Bedürfnissen orientierte Forschung- und Technologiepolitik.Aus der Erkenntnis heraus, daß Wissenschaft und Technik bei fortschreitender Entwicklung nicht automatisch auch die Probleme unserer Gesellschaft lösen, sondern uns im Gegenteil gleichsam lebensbedrohende Nebenprodukte liefern — hier sei nur die Umweltverschmutzung genannt —, ist diese Regierung angetreten, Bereiche und Vorhaben bevorzugt zu fördern, die dazu beitragen, die menschlichen Lebensverhältnisse zu verbessern oder gesellschaftliche Engpässe, Störungen und Gefahren zu beseitigen. So wird es auch in der Beantwortung unserer Großen Anfrage ausdrücklich festgestellt. Wir begrüßen diese neue Ausgangsbasis staatlicher Forschungspolitik.Von diesem Hintergrund aus sind die forschungspolitischen Ziele deutlicher formuliert worden, Prioritäten eindeutiger bestimmbar und der Einsatz der finanziellen Mittel rationeller. Forschungs- und Technologiepolitik werden damit gleichsam integrierter Bestandteil unserer Gesamtpolitik. Es besteht für uns gar keine Frage, daß Prioritäten von Forschung und Technologie nicht allein ein inner-wissenschaftliches Problem sind, sondern letztlich nur politisch entschieden werden können. Die von der Bundesregierung eingeholten Gutachten zur Prioritätenfrage, aber auch das Hearing zu diesem Problemkreis im Technologieauschuß, haben diese Einsicht sicher verstärkt.Die FDP verkennt nicht, welche Schwierigkeiten sich bei der Beantwortung der Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz ergeben. Da aber der Kreislauf von naturwissenschaftlicher Forschung, technologischer Entwicklung, ökonomischer Anwendung und gesellschaftlichen Folgen entscheidend für die Entwicklung unserer Industriegesellschaft sind, brauchen wir die sozialwissenschaftliche Forschung und Phantasie zur inhaltlichen Bestimmung von Schwerpunkten wie zur kritischen Kontrolle eingeleiteter Entwicklungen.Vor 'das schwierige Problem gestellt, gesellschaftlichen Bedarf zu ermitteln, zu fragen also, was in Zukunft ist und nötig sein wird, wird es nicht um eine — ohnehin unmögliche — absolute Wahrheitsfindung gehen können. Wichtig aber wird sein, einen allgemeinen Konsens herbeizuführen zwischen Wissenschaftlern und Politik, Industrie und Staat sowie einer breiten Öffentlichkeit; denn nur so wird eine effiziente Durchsetzung und Anerkennung der Rangordnung von Forschungsprojekten und technologischen Entwicklungen möglich sein.Eklatante Versäumnisse der Vergangenheit haben u. a. zur Bildung von Bürgerinitiativen gegen den Bau von Kernkraftwerken geführt. Erst der Abbau von Vorurteilen, erst die Verdichtung von Problembewußtsein und Problemverständnis für das Gesellschaftsnotwendige können Grundlage des angestrebten Interessenausgleichs sein. Dazu scheint es erforderlich, daß die Bundesregierung ihre wiederholt gegebene Zusage nach gezielter Öffentlichkeitsarbeit stärker in die Wege leitet, um mehr sachliche Beurteilung möglich zu machen.Nicht nur im Hinblick auf die Ermittlung des gesellschaftlichen Bedarfs sind wir der Auffassung, daß die Regierung sehr intensiv das Gespräch mit dem Parlament suchen muß. Das Parlament — da stimmen wir mit der Opposition überein — braucht wirkungsvolle Instrumente zur Beurteilung und zur Bewertung alternativer Entwicklungen. Dabei ist der Politiker ja in die besondere Verantwortung auch der technologischen Folgenabschätzung genommen. Die Erfahrung zeigt, daß die Vergabe von Gutachten im Regierungsauftrag und das Mittel der öffentlichen Anhörung von Sachverständigen allein nicht ausreichen, dem Politiker die notwendige Entscheidungshilfe zu geben.Wir begrüßen zwar die ersten Ergebnisse in dem Bemühen um größere Transparenz der Forschungs-
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Hoff iepolitik, wie sie sich z. B. auch in ,der erstmaligen Erstellung von Programmbudgets der großen Forschungszentren äußert. Die in der Beantwortung der Großen Anfrage dargestellten Ziele und Maßnahmen stellen bereits erste Erfolge dar. Ich nenne nur die jährlichen Forschungsförderungskataloge, die Datenbankförderungsvorhaben, die Bekanntmachung von Sachverständigengremien — ihre Besetzung, ihre Voten — sowie die zahlreichen verbesserten Methoden zur Forschungskontrolle.Wie oft aber geschieht es auch heute noch, daß den Parlamentariern anstelle von Projekt- und Programmhaushalten dickleibige Wirtschaftspläne oder hochwissenschaftliche Expertisen für Fachidioten — im besten Sinne ,des Wortes — übersandt werden, die schon eines Kommunikationsingenieurs bedürften, um selbst dem vorgebildeten Abgeordneten klarzumachen, worum es eigentlich geht.Auf den ersten Blick besticht deshalb auch der Vorschlag der Opposition, ein Technology Assessment, ein Amt zur Bewertung technologischer Entwicklungen oder Folgen beim Deutschen Bundestag einzurichten; übrigens, wie ich es sehe, die einzige wirkliche forschungspolitische Initiative, die ich bei der Opposition erkennen kann, wenn es sich auch hierbei nicht um eigene Einfälle,
sondern um nackte Kopie eines amerikanischen Modetrends handelt.
— Kein Zeitmangel, sondern lediglich Tatsache.Unsere im vergangenen Monat in den USA geführten Gespräche mit Senatoren und Kongreßabgeordneten, Herr Kollege Lenzer, über das — unter einem nicht vergleichbaren parlamentarischen System organisierte — Office of Technology Assessment haben mich in der Ansicht bestärkt, daß wir mit dem alternativen Vorschlag, den ich für meine Fraktion in die Diskussion gebracht habe, richtig liegen. Wir halten es nach wie vor weder für sinnvoll, ein TA-Amt zu errichten, wie die Opposition es im Auge hat, noch glauben wir, daß der Vorschlag des Koalitionspartners, sich von einem Sachverständigenrat die notwendige kritische Beurteilungskapazität geben zu lassen, geeignet ist. So war für uns alle sicher die vernichtende Kritik auch des Senators Dominick aufschlußreich, der erklärte, das amerikanische TA arbeite bereits ein Jahr; es sei nichts geschehen, und es werde auch in den nächsten zehn Jahren nichts geschehen.Ich glaube, wenn wir wirklich politische Entscheidungshilfen für die Beurteilung der Bedeutung und der Folgen technologischer Entwicklungen wollen, dann gilt es, wie wir meinen, vor allem, die auch in der Bundesrepublik vorhandenen Kapazitäten von Fall zu Fall und ad hoc zu mobilisieren und sie mit gezielten Projekten zu befassen, ohne sie auf Dauer zu binden. Die zu diesem Problemkreis gerade vorgesehene Studie wird hoffentlich Aufschlüsse darüber bringen, wie wir in derartige — zeitlich und sachlich begrenzte -- Projektgruppen den nicht immer einheitlichen Sachverstand, dasParlament, die Verwaltung, die Industrie, die Wirtschaft sowie eine breite Öffentlichkeit einbeziehen können. Bei aller kritischen Distanz, die ich hinsichtlich der Zukunftsforschung habe, sehe ich in einem derartigen Instrument eine Möglichkeit, breitere Meinungsbildung und größeren Konsens über Forschungsplanung und -entscheidung zu erreichen.Die Freien Demokraten werden jedoch darauf bedacht sein, daß bei der gesellschaftlichen Bedarfsermittlung nicht dem einseitigen Einfluß einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, einer einzelnen Interessenvertretung oder dem Verwaltungsapparat gefolgt wird. Unser Augenmerk wird weiter darauf gerichtet sein, daß wir mit verbesserten Systemen auf notwendige Informationsdaten zurückgreifen können.Für eine effektive Forschungs- und Technologiepolitik insgesamt wird es von ganz entscheidender Bedeutung sein, ob es der Bundesregierung auch in Zusammenarbeit mit den Ländern gelingt, das Potential der Staatsinstitute, die immerhin auch etwa 700 Millionen DM jährlich ausgeben — gegenüber 1,3 Milliarden DM der Großforschungseinrichtungen —, in das allgemeine Konzept einzubinden. Einen wesentlichen Schritt vorwärts versprechen wir uns von der Rahmenvereinbarung zwischen Bund und Ländern, nach der das 2,3 Milliarden DM umfassende Volumen der gemeinsamen außeruniversitären Forschungsförderung zusammengefaßt und auf eine neue Basis gestellt werden soll. Wenn die Koordination zwischen den einzelnen Ressorts in Forschungsfragen weiterentwickelt werden kann, dann erscheint auch in diesem Bereich eine finanzielle Ausweitung und Neugründung von Einrichtungen nicht erforderlich. Wir möchten deshalb die Bundesregierung bitten, auch bei der Ressortforschung und bei den Ländern auf die Erstellung von Forschungs- und Entwicklungsprogrammen sowie von Leistungsplänen zu dringen, ähnlich denen, wie sie von den Forschungszentren erstellt werden.An dieser Stelle, meine Damen und Herren, sind einige grundsätzliche Ausführungen zur Situation und Zukunft unserer Forschungszentren notwendig, die ja auch auf Grund des Oppositionsantrages Gegenstand der heutigen Debatte sind. Die deutlich erkennbaren und von uns mitgetragenen Schwerpunktverlagerungen der Forschungspolitik müssen sich ja zum großen Teil auf die vorhandenen Forschungszentren abstützen, so daß wir deren Problemen große Aufmerksamkeit widmen sollten. Es erscheint uns vernünftig, die bestehenden großen Forschungszentren nicht über den jetzt erreichten Ausbau von insgesamt etwa 15 000 Mitarbeitern hinaus anwachsen zu lassen. Wir sehen aber auch keinen Grund, unter diese Zahl zu gehen. Die Übernahme neuer Aufgaben kann dann unter Aufgabe anderer Forschungsvorhaben durchgeführt werden. Das erfordert ein leistungsfähiges Management der Zentren und einen den Problemen aufgeschlossenen Zuwendungsgeber. Wir möchten den Forschungsminister bitten, auf dem in dieser Richtung eingeschlagenen Weg der Globalsteuerung fortzufahren.Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen versichern -- das ist mein Eindruck aus Gesprächen in
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HoffieForschungseinrichtungen und aus vielen Briefen —, daß die meisten Mitarbeiter in unseren Forschungsinstituten den Anregungen zur Aufnahme neuer Aufgaben und zur Schwerpunktbildung sehr aufgeschlossen gegenüberstehen. Es ist jetzt an der staatlichen Forschungspolitik - im Zusammenwirken mit den Beschäftigten in' Forschungsbereich —, eine neue Begeisterung und Anstrengung für die für unsere Gesellschaft dringenden Forschungsaufgaben zu erreichen. Hierin haben meiner Ansicht nach- so paradox das klingen mag — die Personalkürzungsaktionen bei den Forschungszentren von Anfang 1973 ihren einzigen Sinn gehabt: indem sie alle Beteiligten aufgerüttelt haben, über neue Forschungsziele nachzudenken und darüber, wie sie erreicht werden können, wenn die personelle Wachstumsphase beendet ist. Wir sollten aber nicht verkennen, daß sich für die betroffenen Mitarbeiter in den Forschungszentren harte Entscheidungen ergeben haben.Wir möchten den Forschungsminister, aber auch andere Ressorts ermutigen, für ihre Einrichtungen in enger Abstimmung mit den Zentren fortzufahren in dem Prozeß der Aufgabenänderung, so, wie er schon eingeleitet worden ist. Wir sind allerdings nicht der Ansicht, daß hier eine Diversifikation um jeden Preis betrieben werden sollte. Ich glaube, das Modell Harwell kann in diesem Sinne nicht unbedingt Vorbild für unsere Forschungszentren sein.Als Anreiz für die Forschungszentren, sich aktiv um die Übernahme neuer Aufgaben zu bemühen, sollte die Möglichkeit für Zusatzfinanzierungen mindestens für eine gewisse Übergangszeit gegeben sein. Die Übernahme von Aufgaben aus dem nichtstaatlichen Bereich sollte in jedem Fall zusätzliche Einnahmen ergeben. Beispielhaft sei hier die Bereitschaft der Arbeitsgemeinschaft der Großforschungseinrichtungen erwähnt, etwa 100 Mitarbeiter innerhalb kurzer Zeit für die Erstellung systemanalytischer Studien einzusetzen, oder die schnelle Übernahme der Projektträgerschaft Nichtnukleare Energieforschung durch die Kernforschungsanlage Jülich.In der Frage der Mitwirkung der wissenschaftlichen und technischen Mitarbeiter in den Forschungszentren sind wir der Ansicht, daß sich die Leitlinien von 1971 in den Forschungseinrichtungen, in denen sie bereits angewendet wurden, im großen und ganzen bewährt haben. Die Entscheidungsfindungen sind demokratischer und transparenter geworden, Konfliktsituationen konnten abgebaut werden. Wir empfehlen deshalb die Einführung der Leitlinien auch in weiteren Forschungseinrichtungen und anderen Ressorts und in den Instituten der Max-Planck-Gesellschaft.Bei den Organisationsstrukturen der Zentren, die ebenfalls in den Leitlinien behandelt werden, würden wir dem uns kürzlich übersandten Erfahrungsbericht mit den Leitlinien folgen und kleinere Änderungen in der bisherigen Handhabung vorschlagen. Insbesondere scheint uns gleichfalls die Stärkung des Managements, seine sorgfältige Auswahl, aber dann ein weitgehendes Vertrauen wichtig zu sein. Wir möchten eindringlich davor warnen, nunmehr erneut eine große Grundsatzdebatte über eventuelle Änderungen der Gesellschaftsverträge der Zentren zu führen.Was die Hochschulen anbetrifft, begrüßen wir, daß im Hochschulrahmengesetz erstmals die Forschung konkret angesprochen wird. Die Opposition hat gerade in den vergangenen Monaten beanstandet, daß der vorliegende Gesetzentwurf den Bedürfnissen der Forschung an den Hochschulen nicht genügend Rechnung trägt. Unstreitig ist aber sicher, daß kein Ländergesetz der Forschungspolitik derart umfassende Beachtung schenkt wie der Entwurf des Hochschulrahmengesetzes. Niemanden verwundert es deshalb auch, daß die Fachkritik zu einem überwiegend positiven Echo gekommen ist. Der Entwurf enthält eine grundlegende Vorschrift für die Erneuerung des Forschungssystems. Er beinhaltet die Verpflichtung für jede Hochschule, sich bei Forschungsprojekten und Forschungsschwerpunkten mit anderen Hochschulen sowie mit Forschungseinrichtungen außerhalb der Hochschule abzustimmen. Außerdem eröffnet die Bestimmung die Möglichkeit für Einrichtungen der überregionalen Forschungsplanung und -förderung, wie z. B. der Deutschen Forschungsgemeinschaft, steuernd und prioritätensetzend einzugreifen, um ein Verbundsystem der Forschung zu entwickeln. Dieses ist nur möglich, wenn den Mitgliedern der Hochschule die Möglichkeit gegeben wird, an Forschungseinrichtungen außerhalb der Hochschule wissenschaftlich tätig zu werden. Die Bestimmung über die Forschung mit Drittmitteln trifft einen wesentlichen Kern der Forschungsproblematik der deutschen Hochschulen. Wir werden uns mit diesen Problemen bei den weiteren Beratungen des Hochschulrahmengesetzes eingehend beschäftigen müssen.Ebenso wie in den Hochschulen erwarten wir auch bei der Grundlagenforschung insgesamt ein neues Forschungsverständnis.Ein wesentlicher Teil des Forschungsetats wird für die Grundlagenforschung bereitgestellt, deren Ergebnisse eine ständige Quelle weiterer Anwendungen und Neuerungen sind und die damit entscheidend für die zukünftige Konkurrenzfähigkeit unserer Wissenschaft, Technik und Wirtschaft sind. Würden wir sie geringer schätzen, wäre der Preis zu hoch, den wir für die Vernachlässigung von Ideen zu zahlen hätten.So sehr die FDP ausdrücklich die grundgesetzlich garantierte Freiheit der Wissenschaft als Voraussetzung für ihre fruchbare Entfaltung anerkennt, spricht sie sich auch dafür aus, daß angesichts der Knappheit der Mittel rational begründet und öffentlich diskutiert werden muß, wer, wofür, wieviel Geld bekommt. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an den unmöglichen Zustand, daß die Max-Planck-Gesellschaft, die den größten Anteil der Grundlagenforschungsmittel erhält, weder dem Bundesrechnungshof geschweige denn den Abgeordneten völligen Einblick in das Rechnungswesen gibt.Wie die Bundesregierung in ihrer Antwort erklärt, sollte man in der Tat bestrebt sein, die Aus-
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Hoffierichtung der Grundlagenforschung am gesellschaftlichen Nutzen weitgehend der wissenschaftlichen Selbstverwaltung zu überlassen. Die Gewährung einer so weitgehenden Freiheit im Umgang mit Steuermitteln setzt aber voraus, daß die Forschung um so sorgfältiger mit diesen Geldern umgeht. Das heißt, sie kann sich diese Freiheit auf Dauer nur dann erhalten, wenn sie gegenüber Parlament, Regierung und Bürgern ihre Ziele und Planungen eindeutig darlegt und diese gegebenenfalls auch offen diskutiert. Selbstverantwortung in der Mittelverwendung kann nicht bedeuten, daß keine Forschungsprogramme aufgestellt werden und daß nur im stillen Kämmerlein geforscht wird. In der Grundlagenforschung muß die Forschungsverantwortung selbst auch die Kontrollen ausüben, die sonst von Rechnungshöfen, Parlament und Regierung bei Aufwendungen des Staates ausgeübt werden.Während wir hinsichtlich der Vorstellungen der Regierung zur weiteren Entwicklung der Forschungszentren bereits sehr klare Linien erkennen, gilt dies im Verhältnis staatlicher Forschungspolitik gegenüber Wirtschaft und Industrie sicher erst in Ansätzen. Die hier notwendige Neuorientierung ist um so bedeutender, als die zukünftige Leistungsfähigkeit der Wirtschaft wie unserer Gesellschaft überhaupt entscheidend von Forschung und technologischer Entwicklung abhängig ist. Wenn sich technischer Fortschritt zum wichtigsten Wachstumsfaktor der Wirtschaft entwickelt hat, wird es auch künftig darauf ankommen, ob es uns gelingt, geeigneten Nachwuchs heranzubilden, die notwendige Infrastruktur bereitzustellen und den Zufluß staatlicher Forschungsmittel in Wirtschaft und Industrie so zu mobilisieren und zu lenken, daß langfristige Entwicklungen nicht vernachlässigt, Forschungs- und Innovationsprozesse der Industrie intensiviert und Wettbewerbsverzerrungen vermieden werden.Gerade hinsichtlich des letzten Punktes ist eine krtische Diskussion notwendig. Immerhin handelt es sich um rund 1,5 Milliarden DM jährlich, die die staatliche Forschungspolitik gegenüber der Industrie kennzeichnen. Dabei erstreckt sich die direkte Forschungsförderung nur auf wenige Großunternehmen. Nach dem Forschungsförderungskatalog gehen mehr als 85 % der direkten Förderungsmittel an Unternehmen mit mehr als 2 Milliarden DM Jahresumsatz. Somit kommt zwangsweise die Förderung der 1,9 Millionen deutschen kleinen und mittleren Unternehmen zu kurz, und wir werden stärker als bisher danach fragen müssen, ob so leistungsstarke deutsche Großunternehmen wie z. B. die Siemens AG nicht einen größeren Teil der Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen aus eigener Kraft aufbringen können.Vermehrte Anstrengungen haben sich deshalb nach Meinung der FDP darauf auszurichten, daß staatliche Förderungspolitik auch kleinere Unternehmen erfaßt, die sehr oft zukunftsträchtige und wegweisende Ideen entwickeln, dann aber aufgeben müssen, wenn die hohen Entwicklungs- und Anwendungskosten die eigenen Möglichkeiten übersteigen. Wir möchten Sie deshalb, Herr MinisterEhmke, auffordern, die Regelförderungssätze von im allgemeinen 50 % bei Großunternehmen zugunsten einer Erhöhung der Fördermaßnahmen von Klein- und Mittelbetrieben zu reduzieren. Ich weiß, daß derartige Überlegungen in Ihrem Hause sehr ernsthaft geprüft werden.Wir begrüßen und unterstützen den Kabinettsbeschluß dieser Regierung, sogenannte Wagnisfinanzierungsgesellschaften zu gründen, die den kleinen und mittleren Unternehmen Risikokapital und Managementhilfe bereitstellen.Möglichkeiten einer weiteren Förderung ergeben sich hier auch durch eine Verstärkung der Gemeinschafts- und Auftragsforschung. Hierbei ist ein sehr schwieriges Problem die Information über die bestehenden Forschungsmöglichkeiten und der Transfer von Forschungsergebnissen.Zu diesem gesamten Problemkreis gehört nach unserer Auffassung die Erfolgsbeteiligung des Staates, die der Kollege Kern ja schon angesprochen hat, die einen Teil der Förderungsmittel wieder zurückbringt, wenn sich ein wirtschaftlicher Erfolg einstellt. Ich glaube auch, daß der Bundesverband der Deutschen Industrie sicher für dieses Prinzip Verständnis haben wird.Wir begrüßen, daß der Forschungsminister neuerdings ein regelmäßiges Gespräch mit den verschiedenen Unternehmen sucht. Wir würden sehr gerne einige Ergebnisse dieser Gespräche über die langfristigen strategischen Forschungsüberlegungen auch auf seiten der Industrie und der Wirtschaft kennenlernen.Wir übersehen allerdings nicht die Schwierigkeiten, die sich aus der staatlichen Erfolgsbeteiligung vor allem hinsichtlich der Bewertung der Abgaben ergeben. Wir erreichen dadurch aber sicher eine gerechtere Verteilung der Mittel. Der oft befürchtete Verwaltungsaufwand ist wahrscheinlich nicht größer, als wenn sich der Staat ausschließlich Nutzungs- und Verbreitungsrechte sichert. Die Gutachten der Prognos AG und der Deutschen Revisions- und Treuhandgesellschaft können uns die notwendige Diskussion dazu erleichtern.Sie wird auch eine stärkere Kooperation aller forschungsgeförderten Unternehmen einbeziehen müssen, deren Bemühungen oft durch unnötige Konkurrenz auch im Verhältnis zu ausländischen Unternehmen wenig effizient bleiben. Die frühzeitige Förderung von neuen Forschungsergebnissen führt, wie die Erfahrung zeigt, sehr bald zu einer Industriestrukturpolitik und zu den damit verbundenen Problemen.Bei einigen Beispielen scheint uns nicht immer die notwendige intensive Aufmerksamkeit des Forschungsministeriums und die ebenso notwendige Zusammenarbeit mit dem Wirtschaftsministerium vorgelegen zu haben. Die staatlichen und stattlichen Förderungssummen im Datenverarbeitungsprogramm hätten meines Erachtens einen stärkeren Einfluß auf den Zusammenschluß einer deutschen Datenverarbeitungsindustrie gerechtfertigt. Wir halten eine europaweite Konzentration für überfällig, aller-5832 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88, Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974Hoffiedings sollte mehr Augenmerk darauf gerichtet werden, z. B. die Firma Nixdorf nicht zu diskriminieren.Ein anderes Beispiel scheint mir die Förderung einer der fortgeschrittenen Reaktorlinien, des Hochtemperaturreaktors, zu sein. Es ist bisher nicht gelungen, eine deutsche Firmengruppe zu finden, die das Potential des Hochtemperaturreaktors, dessen Prototyp mit 600 Millionen DM öffentlichen Mitteln in Schmehausen gebaut und bis 1977 fertiggestellt sein soll, ernsthaft auch auf seine Anwendungsmöglichkeiten bei der Prozeßwärme hin weiterentwikkelt. Ein Ansatzpunkt könnte allerdings die kürzlich in Düsseldorf gegründete Arbeitsgemeinschaft Nukleare Prozeßwärme unter Führung der Siemens-Tochter GHT werden.Die Förderung der Luft- und Raumfahrtforschung ist eines der schwierigsten Kapitel, was sich unter anderem durch das noch fehlende Gesamtprogramm äußert und durch das Scheitern der europäischen Raketenentwicklung. Wir dürfen dabei die extremen Schwierigkeiten der internationalen, insbesondere der europäischen Zusammenarbeit nicht übersehen. Es kann jedoch gar keinem Zweifel unterliegen, daß gerade in der Weltraumforschung und -technik die Programme oft nur emotionell begründet wurden und einer kritischen Prüfung hinsichtlich des gesellschaftlichen Nutzens nur schwer standhalten.Unsere Beteiligung an Weltraumprogrammen hat sich deshalb in internationaler Zusammenarbeit vor allem, wie wir meinen, z. B. auf die Nutzung von Satelliten zu konzentrieren, mit denen Kommunikation, Wettervorhersage, Erderkundung oder Navigation verbessert werden. Mit der 54%igen deutschen Beteiligung am „Space lab", mit dem Engagement in ESA-Projekten, mit den weiteren Finanzierungsbeiträgen für die bereits laufenden Programme Symphonie, Aeros oder Helios, mit der Beteiligung an der Fortentwicklung der französischen Trägerrakete L III S Ariane und der Grundfinanzierung unserer nationalen Institutionen wie DFVLR und GFW sind bereits erhebliche Mittel eines mittelfristigen Weltraumprogramms gebunden. Diese liegen sicherlich zwischen 75 und 90%. Eine neue Programmdiskussion, die stärker unseren allgemeinen forschungspolitischen Zielen entspricht, ist deshalb unumgänglich.Lassen Sie mich zusammenfassend feststellen: Nicht nur die Courtoisie gegenüber dem Koalitionspartner, sondern auch sachlicher Respekt vor der Leistung des Forschungsministeriums, dem sich auch die Opposition bei objektiver Betrachtung nicht verschließen kann, gebieten festzustellen, daß die Forschungspolitik dieser Regierungskoalition in den zurückliegenden Jahren ein erhebliches Stück vorangekommen ist.Die wachsende Bedeutung, die diese Regierung der Forschung als Teil der Gesamtpolitik zumißt, wird auch dadurch verdeutlicht, daß die Haushaltsmittel für Forschung und Technologie in fünf Jahren verdoppelt wurden. Auch der Haushaltsentwurf 1974 mit 11,4 % Steigerungsrate, die auch für die nächsten zwei Jahre festgeschrieben wurde, liegtdeutlich über der mittleren Steigerungsrate des Bundeshaushalts.Die erklärte Zielsetzung der Regierungspolitik, die Forschung und Technologie stärker auf den langfristigen gesellschaftlichen Bedarf auszurichten, erfordert als Folge auch der höheren Aufwendungen für Forschungsprojekte bei Verknappung finanzieller Mittel die Bestimmung von Forschungsschwerpunkten für Kommunikationstechnologien, für neue Verkehrs- und Transporttechniken, für die Energiesicherung, für industrielle Techniken, für die Entdeckung und Erschließung neuer Roh- und Grundstoffe und nicht zuletzt für die biologische und medizinische Forschung sowie für die Probleme der Humanisierung der Arbeitswelt oder neuer kommunaler Technologien.Auch die größere Koordination 'aller Forschungszweige in Staat, Wirtschaft, Wissenschaft und Hochschule lassen eine Neuorientierung erkennen, die von der FDP voll unterstützt wird. Die Bereitschaft zu mehr Transparenz und die Suche nach mehr Konsens aller an der Forschung Beteiligten und der betroffenen Öffentlichkeit sind geeignet, ein gesundes forschungspolitisches Klima zu schaffen. Wenn der technologischen Forschung und Entwicklung steigende Haushaltsanteile zugebilligt werden, während z. B. die Anteile für Weltraum- und Luftfahrtforschung gleichbleiben und die Förderung von Kernforschung und Kerntechnik bei nach wie vor absolut größtem Förderungsbetrag deutlich sinkt, sehen wir darin die Gewähr für eine erfolgreiche Durchsetzung künftiger Forschungs- und Technologiepolitik.Nachdem in vielen Bereichen Rückstände aufgeholt, gute Positionen ausgebaut und neue Wege aufgezeigt werden konnten, brauchen wir insgesamt gesehen auch einen internationalen Vergleich weder auf akademischem Sektor noch in der Industrieforschung und in der Industrieentwicklung zu scheuen.
Daran kann auch die Kritik der Opposition nichts ändern.Die FDP-Fraktion wird den Weg der Neuorientierung der Forschungspolitik konsequent verfolgen. Das ist kein Tagewerk, sondern ein jahrelanger Prozeß mühevoller Arbeit mit dem Ziel, unserem Land in wachsender internationaler Zusammenarbeit unter optimalem Einsatz der Mittel ein Forschungspotential zu sichern, das dem Erkenntnisfortschritt und der Verbesserung unserer Lebensbedingungen dient.
Das Wort hat Herr Bundesminister Dr. Ehmke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich die Quintessenz der Rede vom Kollegen Lenzer
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Bundesminister Dr. Ehmkezusammenfassen kann, so ist es ungefähr so: Der Opposition paßt die ganze Richtung der Regierung nicht; sie hat zur Forschungspolitik keinerlei Alternative, auch nicht in irgendeinem konkreten Detail. Im Grunde stimmt sie der Forschungspolitik zu, sie ist nur zu schüchtern, es laut zu sagen.
Ich möchte Ihnen, Herr Kollege Lenzer, zu diesem Fortschritt sehr herzlich gratulieren, weil sich diese Einstellung und auch der sachliche Ton Ihrer Rede sehr wohltuend von ,der billigen Polemik abheben, mit der Sie bisher die Forschungspolitik in Ihrem Pressedienst verfolgt haben. Trotzdem werden Sie nicht erwarten, Herr Lenzer, daß ich wegen dieser tätigen Reue sofort volle Absolution erteile.
Ich möchte aber doch noch einige Fragen aufgreifen. Was soll man eigentlich von einer Opposition halten — ich frage mich aber auch: was hält eine Opposition von sich selbst? , die durch ihren Sprecher, Herrn Lenzer, Arm in Arm mit Herrn Schröder, im Herbst 1973 unter Angabe völlig falscher Zahlen mehrfach behauptete, der Verwaltungsapparat des Forschungsministeriums sei aufgebläht, und die ein paar Monate später einem einstimmigen Beschluß des Forschungsausschusses an den Haushaltsausschuß zustimmt, der Haushaltsausschuß möchte doch bitte den Personalfehlbestand beseitigen, den der Bundesrechnungshof festgestellt hat, und zwar auch auf dem Gebiet der Erfüllung der Verwaltungsausgaben.
Beides kann man nicht haben; man kann nicht auf der einen Seite sagen, der Verwaltungsapparat sei aufgebläht, und auf der anderen Seite mit Recht das Bestreben unterstützen, dem Hause mehr Personal zu geben.
— Nein, nein, einschließlich Mittelbereitstellung und Verwendungsnachweisen also gerade auch für Verwaltungsaufgaben.Herr Lenzer, was soll eigentlich das Personal des Forschungsministeriums, das nicht nur gute Arbeit leistet, sondern wegen der Unterbesetzung des Hauses viele Überstunden machen muß — wofür ich ihm hier übrigens auch einmal öffentlich danken will —, von einer solchen Polemik der Opposition halten, von der jeder im Hause weiß, daß sie ganz falsch ist?Ein anderes Beispiel: Was soll eigentlich die Wissenschaft von einer Opposition halten, ,die im Haushaltsausschuß nachdrücklich die Forderung des Bundesrechnungshofes unterstützt, das Bundesforschungsministerium solle die Förderung von Kleinvorhaben im Bereich der Geisteswissenschaft und der historischen Wissenschaften aufgeben, weil das keine zentrale Aufgabe sei, und die dann, wenn wir das tun und die Betroffenen sich beschweren, so tut, als ob sie überhaupt nichts davon weiß, so daß man sie im Haushaltsausschuß daran erinnern muß, daß sie das selbst mit beschlossen' hat.
— Herr Pfeffermann, ich darf das erst zu Ende führenWas soll schließlich die Öffentlichkeit von einer forschungspolitischen Abteilung der Opposition halten — wenn ich das so formulieren darf —, die den Oppositionsführer, Herrn Carstens, in die peinliche Lage bringt, am 27. November 1973 in einer Stellungnahme zur Ölkrise in den beiden Nachrichtensendungen von ZDF und ARD vor Millionen von Bürgern zu erklären, das vierte Atomprogramm wäre — erste Version — um zwei Drittel gekürzt worden
— Das ist ein Irrtum. Ich habe heute das Band abgehört, um mich diesem Vorwand nicht auszusetzen. Es ist dort so gesagt worden.
— Aber warten Sie doch einmal!Die eine Version war also „um zwei Drittel", die andere war „auf zwei Drittel", was immerhin den gewissen Unterschied von 100 % macht. Aber ich nehme an, zur Stimmungsmache in der Ölkrise gegen die Regierung kam es dem Oppositionsführer nicht so genau darauf an.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Jenninger?
Einigen wir uns! Dies war kein Druckfehler; Sie meinen, es war ein Versprecher. Einigen wir uns darauf, und ich gehe in meiner Argumentation weiter.
— Nein, ich komme gleich noch darauf, warum ich in dieser Frage hartnäckig bin. Ich stelle zunächst einmal fest: so ist es vor Millionen Bürgern gesagt worden. Hören Sie sich die Bänder bitte selbst an! Im übrigen sind beide Zahlen falsch, das eine Drittel ist genaus falsch wie die zwei Drittel. Beide Zahlen sind völlig falsch. Ich habe das hier schon in der Debatte am 29. November im einzelnen dargelegt, nachzulesen auf Protokollseite 3971.
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Bundesminister Dr. EhmkeWahr ist, daß das Programm von 6,5 Milliarden DM aus stabilitätspolitischen Gründen, die Sie in der Finanzdebatte noch viel stärker betont haben als die Regierung, auf 6,1 Milliarden DM gekürzt wurde. Das sind weder zwei Drittel noch ein Drittel, sondern etwa 6 %, und dies geschah ohne jede Kürzung bei den Großprojekten.Aber nun einmal unterstellt, das eine war ein Versprecher — nicht ein Druckfehler, sondern ein Versprecher, der vorkommen kann —, so bin ich der Meinung, daß es für Herrn Carstens richtig gewesen wäre — da beide Zahlen falsch waren —, sich, nachdem das hier aufgeklärt woren ist, hinzustellen und ,der Öffentlichkeit zu sagen: Jawohl, dies war eine Fehlinformation; der Oppositionsführer muß nicht alles wissen. Er hatte halt die falschen Büchsenspanner; dies war eine Fehlinformation, ich stelle das richtig. Das ist nicht geschehen. Herr Lenzer, Sie haben sich sogar in der Debatte hingestellt und behauptet, die Äußerung mit den „um zwei Drittel" wäre überhaupt nicht getan worden.
— Nein; Herr Benz, ich bin ja froh, wenn das der Vergangenheit angehört. Bisher, das habe ich Ihnen an drei Beispielen bewiesen, ist die forschungspolitische Debatte von Ihnen mit einer Polemik, gestützt auf falsche Zahlen, geführt worden. Ich bin froh, wenn ich der heutigen Rede von Herrn Lenzer entnehmen kann, daß das der Vergangenweit angehören soll, und ich will Ihnen auch sagen, warum.
Ich habe in meiner ersten Rede als Forschungsminister zum Haushalt 1973 Ihnen hier mit gutem Grund das Angebot gemacht, zu versuchen, in der Forschungspolitik zu einer Konsensbildung zu kommen. Denn, so wie ich es generell bedaure, wenn die Opposition von konstruktiver Kritik zu leerer Polemik degeneriert, so halte ich das auf dem Gebiet der Forschungspolitik für besonders bedauerlich, weil es hier um langfristige Probleme geht. Wir müssen sehen, daß es in der parlamentarischen Demokratie auf den Gebieten, in denen sich langfristige Probleme stellen, Schwierigkeiten für die Regierung wie für die Opposition gibt. Für die Regierung stellen sich die Schwierigkeiten, daß dieses System eigentlich nur kurzfristige Erfolge honoriert. Was schafft man in den drei Jahren bis zur nächsten Wahl, was kann man dann vorzeigen? Man muß sich also innerlich einen Ruck geben— ob es Forschungspolitik ist oder Post und Bahn oder Planung —, zu sagen: Ich mache etwas, was langfristig notwendig ist, auch wenn es sich kurzfristig nicht auszahlt.
— Das Problem für die Opposition, Herr Pfeffermann, ist, daß die Opposition die Forschungspolitik langfristig nur dann beeinflussen kann, wenn sie mit der Regierung zusammenarbeitet, kritisch zusammenarbeitet. Ihre eigentliche Mitwirkungsmöglichkeit besteht darin, den langfristigen Trend festzulegen, weil nämlich selbst im Falle eines Regierungswechsels ein abrupter Wechsel nicht möglich ist., so daß man hier aus diesem Grunde sagen muß, es wäre gut, wenn wir uns einigen könnten; lassen Sie uns das in einem kritischen Dialog gemeinsam machen. Ich selbst entwickle ja auch ein Atomprogramm fort, das ist hier schon gesagt worden, das ursprünglich die Herren Strauß und Stoltenberg vertreten haben.Ich darf nun kurz zur Großen Anfrage selbst Stellung nehmen. Es kann nicht meine Aufgabe sein, noch einmal zu wiederholen, was in der Antwort steht, obgleich ich manchmal das Gefühl habe, dies wäre nötig. Die Opposition hat am 18. März, also vor drei Tagen, offenbar, um vor dieser Debatte etwas von der Antwort der Regierung abzulenken, eine erneute Kleine Anfrage nachgeschoben. Sie produziert ja überhaupt Kleine Anfragen fast so schnell, wie Kaninchen Kleine werfen. Dort steht nun unter Ziffer 4 eine Frage, die ich schon hier beantworten möchte: Warum hat die Regierung Energie- und Rohstofforschung zum damaligen Zeitpunkt gemeint ist der Zeitpunkt, zu dem wir die Große Anfrage beantwortet haben — nicht als gesellschaftspolitisch relevant betrachtet und bei ihrer Planung einbezogen? Wenn Sie nun so gut sind, einmal die Drucksache der Antwort auf die Große Anfrage, S. 5, zur Hand zu nehmen. Da finden Sie einen Abschnitt „Energie und Ressourcen", in dem folgendes steht, was die Bundesregierung fördert: Sicherheit der Energieversorgung und die Erschließung neuer Roh- und Kunststoffe, Werkstofforschung sowie die Wiedergewinnung von Stoffen; Einschränkung der Energievergeudung mit dem Ziel der Energieeinsparung; Bedeutung mißt die Regierung auch der Kohlevergasung zu. D. h. alle Probleme sind genannt, von denen Sie jetzt am 18. März fragen, warum wir sie nicht behandeln. Sollten wir da das 4. Atomprogramm und das Energiesparprogramm noch einmal anlegen, oder wie stellen Sie sich die Beantwortung einer Großen Anfrage eigentlich vor?
Sie haben an einem Punkt recht: die Kohleverflüssigung ist nicht genannt. Aber Fachleute, Herr Lenzer, wissen im Gegensatz zu Ihrer Anfrage, daß das Ministerium 1971 ein großes Gutachten zu diesen Fragen in Auftrag gegeben hat und daß man damals zu dem Ergebnis kam: das ist technisch möglich, hat aber bei den niedrigen Erdölpreisen wirtschaftlich keinen Sinn. Hinterher kam die Erdölkrise mit den höheren Erdölpreisen, und dann wurde es sinnvoll, diese Forschung aufzunehmen. Das ist die einfache Lösung des Rätsels, von dem Sie meinen, Sie müßten ihm eine neue Anfrage widmen.Ich bitte Sie zu verstehen, daß ich nicht noch einmal wiederhole, was im einzelnen schon in der Antwort der Regierung steht. Ich möchte Sie übrigens überhaupt herzlich bitten, in Zukunft viel-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5835
Bundesminister Dr. Ehmkeleicht doch zu überlegen, ob es Zweck hat, eine Kleine Anfrage nach der anderen zu Dingen herauszuschießen, die Sie längst in früheren Veröffentlichungen der Regierung nachlesen können. Ich sage nichts, wenn die Fragen notwendig sind; aber überflüssige Fragen zu stellen heißt leider, die Arbeitskapazität sowohl des Ausschusses als auch des Ministeriums von produktiver Arbeit abzulenken.
- Das ist keine Reglementierung, sondern ein Vorschlag, unsere Kräfte besser einzuteilen und sie nicht an Dingen zu verzetteln, die alle schon einmal beantwortet worden sind.Lassen Sie mich nun die Gelegenheit benutzen, einen gedrängten Überblick zu geben, und zwar jenseits der Programme, die ja vorliegen und in der Großen Anfrage noch einmal zusammengefaßt worden sind, darüber, was seit der Verselbständigung des Ministeriums im Dezember 1972 institutionell getan worden ist.Ich fange zunächst mit dem Ministerium selbst an. Es hatte zunächst eine Menge Verwaltungsaufgaben zu bewältigen. Nach der Trennung vom Bildungsministerium haben wir eine völlige Reorganisation des Hauses nach sachbezogenen Gründen folgen lassen, die die neue Programmstruktur widerspiegelt. Wir haben vor einigen Wochen ein internes Arbeitsprogramm mit Zeitstufen für diese Legislaturperiode erarbeitet. Schließlich sind wir vor kurzem in ein neues Haus umgezogen, in dem wir uns sehr wohlfühlen. Ich darf bei dieser Gelegenheit dem Parlament danken, daß es die Mittel für dieses neue Haus bewilligt hat, vor allen Dingen aber natürlich dem Steuerzahler danken, der diese Mittel aufgebracht hat.Hinsichtlich der Forschungseinrichtungen ist hier schon mit Recht die Bedeutung der Ländervereinbarungen nach Art. 91 b des Grundgesetzes hervorgehoben worden. Die Sache hat den Regierungschefs von Bund und Ländern vorgelegen. Es sind noch einige Punkte strittig. Ich glaube aber, wir werden sie zwischen Bund und Ländern regeln können, so daß die Rahmenvereinbarung dann in Kraft treten kann.Ich möchte nun zu den Zentren kommen, die in der Anfrage der Opposition vom Dezember 1973 besonders angesprochen worden sind.Wir sehen in den Zentren ein wesentliches Instrument der Forschungspolitik des Bundes und in den 15 000 Beschäftigten in diesen Zentren ein Potential, das noch sehr viel intensiver auch für forschungspolitische Fragen genutzt werden kann, als das bisher geschehen ist.Die Frage der Opposition nach den Programmbudgets verstehe ich nicht recht. Für 1974 haben jetzt fast alle Zentren, bis auf die, die noch in der Umorganisation sind, Programmbudgets vorgelegt. Diese Programmbudgets sind sowohl dem Fachausschuß wie den Berichterstattern des Haushaltsausschusseszur Verfügung gestellt worden. Sie fragen also hier r nach Dingen, die bei Ihnen auf dem Tisch liegen. Ich möchte einen Vorschlag machen. Ich bin der Meinung, die Opposition — ich wäre dankbar, wenn es die Opposition täte — sollte sich einmal einesdieser Programmbudgets heraussuchen und sagen: Das nehmen wir, und wir wollen jetzt einmal an Hand eines konkreten Programmbudgets im Ausschuß diskutieren, was es bringt.Hinzu kommt noch, daß wir mit der Arbeitsgemeinschaft der Forschungszentren jetzt unter dem Vorsitz von Herrn Professor Beckurtz, einen Koordinierungsmechanismus entwickelt haben. Die Arbeitsgemeinschaft koordiniert die Programme und die Zusammenarbeit der Zentren und stimmt das dann mit uns ab.Die Personalkürzung, die von Ihnen, von der Opposition, seinerzeit so angegriffen worden ist,
haben die Zentren gut überstanden. Einige, wie z. B. Jülich, haben direkt die Chance genutzt, daraus eine neue Struktur zu machen und einiges abzubauen, was sie selbst für überflüssig hielten. Ich glaube, inzwischen ist auch klar geworden: wir dürfen nicht Personalmittel zu einer Höhe anwachsen lassen, daß dann nicht mehr die Sachmittel für sinnvolle Aufgaben da sind. Solche schmerzlichen Schnitte muß man machen. Unpopuläre Dinge im richtigen Zeitpunkt zu tun ist besser, als Probleme vor sich herzuschieben.Es ist schon erwähnt worden, daß wir einen sehr interessanten Bericht über die Erfahrungen mit den Leitlinien zur Mitbestimmung in den Zentren vorgelegt haben. Ich würde übrigens meinen, daß auch die Kollegen, die sich generell mit der Mitbestimmung befassen, aus diesem Bericht einiges Interessante erfahren können. Interessant ist es zunächst einmal darum, weil wir alle Gruppen, die Geschäftsführungen, die Betriebsräte, die wissenschaftlich-technischen Räte, die in den Zentren vertretenen Gewerkschaften, gebeten haben, Stellungnahmen abzugeben. Wir werden alle diese ungekürzten Stellungnahmen veröffentlichen. Es wird also nicht irgendein genereller Brei daraus gemacht. Es wird alles als Dokumentation vorgelegt. Darunter finden sich sehr amüsante Sachen. Davor ist der Ihnen bereits zugestellte Bericht über die Schlußfolgerungen geheftet, die das Ministerium daraus zieht.Es ist, glaube ich, sehr interessant, wie positiv die Mitbestimmung in den Forschungszentren entgegen manchen Ängsten gewirkt hat. Die meisten Mitarbeiter sagen: Es ist Schluß mit den einsamen Entscheidungen. Sie werden gefragt, sie fühlen sich beteiligt. Es wird nicht die Meinung vertreten, die Mitbestimmung hätte hinsichtlich der Qualität der Entscheidung wesentliche Änderungen gebracht. Aber es wird weitgehend die Meinung vertreten, daß hinsichtlich der Motivation der Mitarbeiter, der Legitimation der Entscheidungen und der Bereitschaft, auch unpopuläre Entscheidungen zu tragen, eine große Änderung zum Positiven eingetreten sei.Es gibt ein paar Schwierigkeiten. Die Abgrenzungen der Funktionen sind nicht klar genug, an denen
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5836 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Bundesminister Dr. Ehmkesich die Mitbestimmungsregelung orientiert. Wir haben dafür Vorschläge gemacht, übrigens nicht nur hinsichtlich der klaren Verantwortung der Geschäftsführung, sondern auch hinsichtlich der Tatsache, daß die gesetzliche Mitbestimmung nach dem Betriebsverfassungsgesetz durch die Leitlinien nicht eingeschränkt werden darf. Wir haben nach langen Diskussionen, vor allen Dingen mit den Gewerkschaften, mit denen wir zu einer sehr guten Zusammenarbeit gekommen sind, eine Muster-Regelabsprache zur Auslegung des § 118 Betriebsverfassungsgesetz vorgelegt, die dieses Feld hoffentlich bereinigen wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Er hat ein „Offengesagt"-Programm entwickelt, das kein formelles Beschwerdeverfahren ist, aber genau die Fälle erfaßt, die im formellen Beschwerdeverfahren in den Zentren durch die Mitarbeiter eben nicht zur Sprache gebracht werden können. Dies ist als Angebot an die Zentren herausgegangen.Sie wissen, daß ein weiteres Problem die Mobilität der Mitarbeiter ist. Es besteht schon zwischen den Zentren. Einer der Fehler ist, daß wir kein einheitliches Tarifvertragsrecht haben. Wir haben jetzt einen Mustertarifvertrag mit Jülich geschlossen, den ich für alle Forschungszentren haben möchte. Er regelt u. a. die Mobilität innerhalb der Forschungszentren. Er hat außerdem eine Regelung für die Zeitverträge gefunden, der auch die Gewerkschaften zugestimmt haben.Im übrigen will ich ganz sicher an der Globalsteuerung festhalten, und zwar in der Sach- wie in der Personalpolitik. Ich bin absolut gegen das, was ich „Verwaltung im Blindflug" nenne: daß Leute meinen, sie könnten im Ministerium Personalfragen nach Aktenlage besser entscheiden als diejenigen, die mit den Menschen, über die zu entscheiden ist, jeden Tag zusammenarbeiten. Die Aufgabe des Ministeriums ist es, für leistungsfähiges Management in den Zentren zu sorgen, sich zu vergewissern, daß man die richtigen Spitzenleute hat. Aber dann muß man es ihnen überlassen, was sie im Zentrum tun. Ich halte nichts vom Hineinregieren in die Zentren. Dadurch wird es im Regelfall nicht besser, und es kostet das Ministerium nur Kraft.Auf der anderen Seite bin ich der Meinung: Wir müssen die Zentren durch Delegation von Aufgaben sehr viel mehr als bisher heranziehen. Wir dürfen ihnen nicht den Eindruck geben, sie würden vom Ministerium nur verwaltet. Aus diesem Grunde haben wir z. B. das ganze nichtnukleare Energieforschungsprogramm in die Projektträgerschaft von Jülich gegeben, wo der Hochtemperaturreaktor steht und die Kohlevergasungsprobleme ohnehin bereits untersucht werden.Ein anderes, darüber hinausgehendes Beispiel: Ich habe die Arbeitsgemeinschaft dier Zentren dazu gewinnen können, daß die Zentren zusammen eine gewisse Systemanalysekapazität entwickeln, und zwar gar keine kleine. Alle Zentren werden in Abstimmung untereinander eine bestimmte Kapazitätzur Analyse langfristiger Probleme auf die Beine stellen. Diese Aufgabe hat Herr Professor Jordan, der neue Chef der DFVLR, übernommen.Die Zusammenarbeit der Zentren mit den Hochschulen haben wir dadurch verbessert, daß wir jetzt fast in allen Fällen gemeinsame Berufungsverfahren praktizieren. Ich glaube, das ist wesentlich, um die in der deutschen Forschungslandschaft etwas enge Abschottung — hier Industrie, da Zentren, da Hochschulen, da Max-Planck-Gesellschaft — aufzuheben. Das ist nicht eine fixe Idee, sondern eine Frage sowohl der personellen Mobilität als auch des forschungspolitischen Dialogs.Wenn ich von den Hochschulen auf die Deutsche Forschungsgemeinschaft kommen idarf, deren neuer Präsident, Herr Professor Meyer-Leibniz, die Nachfolge von Herrn Speer angetreten hat, der sich so große Verdienste um die 'deutsche Forschung erworben hat, so kann ich sagen, daß wir mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft unid den Kollegen vom Bildungsministerium im Augenblick vor allem die Förderung der empirischen Sozialwissenschaften erörtern, und zwar in institutioneller wie in allgemeiner Hinsicht.Wie unkompliziert das Verhältnis von Forschungsministerium und DFG ist, sehen Sie daran, daß wir uns darüber geeinigt haben, daß bestimmte Gebiete der Grundlagenforschung in der Nuklearphysik, in der Meeresforschung und in der Weltraumforschung aus idem Bundesprogramm zurückgegeben werden in die — wenn ich so sagen darf—normale Forschung der DFG, weil wir einfach idas Gefühl haben, daß hier mit den Crash-Programmen des Bundes zum Teil Überkapazität geschaffen worden ist und wir das jetzt in 'die normale Förderung gehen lassen sollten, in der eine bessere Abwägung mit anderen Gebieten erfolgt.Mit der Max-Planck-Gesellschaft unter Herrn Präsidenten Professor Lüst stehen wir in einem engen, gegenseitig positiv-kritischen Gedankenaustausch, vor allen Dingen hinsichtlich der Frage die hier schon betont worden ist — der Notwendigkeit einer besseren Planung auch auf dem Gebiet der Grundlagenforschung.Die Max-Planck-Gesellschaft selbst hat inzwischen einen Planungsausschuß eingerichtet. Ich muß bei dieser Gelegenheit übrigens, Herr Kollege Hoffie, korrigieren, was Sie eben über das Verhältnis von Max-Planck-Gesellschaft, Bundesrechnungshof und Haushaltsausschuß gesagt haben. Die Max-PlanckGesellschaft unterliegt der Kontrolle von beiden. Es hat nur einen konkreten Streitpunkt gegeben, von dem die Betroffenen der Meinung waren, sie wären nicht voll informiert. Dieser Streitpunkt ist inzwischen zur Zufriedenheit der Beteiligten ausgeräumt worden.Die Fraunhofer-Gesellschaft als Fördergesellschaft im Bereich der angewandten Forschung ist neu konzipiert worden, vor allen Dingen durch eine starke Betonung der Vertragsforschung und der Abhängigmachung von Zuschüssen der öffentlichen Hand vom Umfang der Vertragsforschung. Wir wollen diesen Bereich sehr industrienah gestalten, denn hier liegt
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Bundesminister Dr. Ehmkepraktisch die Innovationsschwelle, die eigentlich schwierige Schwelle in der Technologiepolitik. Die größten Schwierigkeiten liegen nicht in der Forschung, sie liegen in der Innovation. Darum haben wir hier eine größere Industrienähe angestrebt, und ich freue mich, daß es mir gelungen ist, mit Hilfe des Bundesfinanzministers bei Ausscheiden des alten Präsidenten, der so lange die Verantwortung für die Fraunhofer Gesellschaft mit Erfolg getragen hat, Herrn Professor Mohr, einen Mann aus der Industrie zu gewinnen, Herrn Dr. Keller von der Metallgesellschaft, der sowohl in der Forschung wie in der Industrieerfahrung ausgewiesen ist. Wir hoffen, durch Personalbesetzung plus neue Konzeption zu einer guten Zusammenarbeit mit der Industrie zu kommen.Wenn ich gleich bei der Industrie bleiben darf: Wir sind in einem sehr engen Kontakt nicht nur in der öffentlichen Veranstaltung, die wir mit dem Gesprächskreis Forschung des BDI gehabt haben, sondern auch in vielen Einzelgesprächen mit dem BDI, mit Unternehmensgruppen, mit Einzelunternehmen, in informellen Gesprächskreisen. Dabei erstreckt sich die Zusammenarbeit zunehmend auf cien europäischen RahmenIch habe in der Industrie Verständnis dafür gefunden, daß der Staat, wenn er Steuergelder für die Durchführung von Forschungsaufgaben ausgibt, nicht nur Risiken tragen, sondern, wenn ein Erfolg sich einstellt, auch am Erfolg beteiligt sein will. Wir sind jetzt in einem sehr engen Gespräch über Änderungen der Bewilligungsbedingungen, und ich hoffe, daß wir dieses Gespräch zu einem Abschluß bringen können, daß dem Schlagwort von der Sozialisierung der Verluste und der Privatisierung der Gewinne der Boden entzogen werden kann.Wir sind uns einig, auch mit der Opposition, daß die indirekte Forschungsförderung zu stark abgebaut worden ist. Wir sollten allerdings nicht einfach die alte Form der Förderung wiedereinführen. Wir sollten uns z. B. das japanische und das schwedische Beispiel anschauen, wo meines Erachtens interessantere Formen gefunden worden sind. Ein Kabinettsauftrag an den Finanz- und den Forschungsminister, das zu prüfen, ist erteilt worden.Für die Stärkung der Innovation wollen wir nicht nur eine Wagnisfinanzierungsgesellschaft mit deutschen Banken gründen, wozu bereits ein Kabinettsbeschluß ergangen ist, sondern wir haben auch eine Reihe unserer Institute und eine Reihe von Firmen zu einem Arbeitskreis zusammengeschlossen, der die Probleme sowohl der Anwendungsfähigkeit von Ergebnissen der Grundlagenforschung als auch der Innovation, d. h. der Schwelle des Übergangs von der angewandten Forschung in die Praxis untersuchen soll.Hier ist gefragt worden, wie es mit den Prognoseverfahren steht. Da darf ich zunächst einmal sagen: Mein Besuch in Amerika hat mich in meiner Ablehnung des Technology Assessment bestärkt; ich halte nicht viel davon. Ich glaube nicht, daß durch Planstellen, sei es im Ministerium, sei es im Bundestag, unser forschungspolitisches Wissen zunimmt.Es wird nur reproduziert, und das meist auf einem niedrigen Level.Wenn es um die Kontrolle einzelner Projekte geht, die finanziert werden sollen: Das macht der Haushaltsausschuß ja schon, daß er Gutachten anfordert. Für die eigentliche Prognosekapazität, die ja ein Stück Konsensbildung in einem forschungspolitischen Dialog ist, hat das meines Erachtens wenig Vorteile.Wir wollen ein Verfahren ausprobieren, in dem das Ministerium, beraten durch Experten, bestimmte Fragestellungen für langfristige Forschungspolitik formuliert, diese aber nicht an Gutachter gibt, sondern in einen Kreis, den ich einmal als „Tabakskollegium" bezeichnen möchte, um seine Informalität hervorzuheben.
— Diesen Kreis bestimmt der Forschungsminister, so ist es. Es ist dort die Industrie vertreten, die Gewerkschaften, die Gemeinden und Städte, die Wissenschaft und die Forschung. Dieser Kreis erhält die Fragen des Ministeriums, und diese Fragen werden von ihm korrigiert. Er soll also zunächst einmal beurteilen, ob das Ministerium denn richtig fragt. Mir scheint es wichtig, eine solche Kontrolle einzuschalten. Und dann soll er überlegen: Wollen wir für die Fragen, die wir jetzt formuliert haben, ein Symposium durchführen, wollen wir einen Gutachtenauftrag erteilen, oder wollen wir jemanden aus der Industrie anhören? Er soll also eine Vielzahl von Leuten der Forschungsfront anhören. Das Anhörungsergebnis, die Gutachten oder Stellungnahmen soll er aber nicht an das Ministerium geben, sondern das „Tabakskollegium" soll diese Ergebnisse seinerseits bewerten. Das eigentliche Problem bei der Prognose ist ja die Bewertungsfrage. Es ist hier -- ich glaube von Ihnen — ganz richtig gesagt worden, gesellschaftlicher Bedarf oder technologische Entwicklung sei nicht etwas, was man anfassen und herunterziehen kann, sondern es steckt das Bewertungsmoment mit darin.Wir würden einmal mit einem solchen Verfahren anfangen. Die personellen Überlegungen stehen vor dem Abschluß. Sie sind leider noch nicht so weit, daß ich Ihnen heute schon die Zusammensetzung mitteilen kann.Damit hängt ein zweites Problem zusammen. Wir sind auch fast fertig mit der Frage, wie das neue Beratungsorgan des Ministeriums für Grundsatzfragen aussehen soll. Aber da die personellen Fragen beider Bereiche verzahnt sind, bitte ich noch um etwas Geduld.Ich darf jetzt noch kurz auf die Frage eingehen, die ja auch von Ihnen unter dem Stichwort „gesellschaftlicher Bedarf" angesprochen worden ist: Was sind denn nun eigentlich Ziele der Forschungspolitik, und was ist der gesellschaftliche Bedarf? — Wir haben es oft genug gesagt, aber ich darf es Ihnen noch einmal sagen.Der erste Bereich ist der Bereich der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und damit5838 Deutscher Bundestag 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974Bundesminister Dr. Ehmkeder Sicherheit der Arbeitsplätze. Die liegt in unser aller Interesse. Hier geht es darum — und deshalb hängt diese Frage eng mit der Prognose zusammen —, sicherzustellen, daß man keine Prestigeprojekte fördert. Die Europa-Rakete habe ich z. B. für ein Prestigeobjekt gehalten, abgesehen davon, daß sie ja leider zu einem Instrument der Meeresforschung statt der Weltraumforschung geworden ist.
Wir müssen aber auch aufpassen, daß wir auf diesem industrienahen Gebiet nicht nur das fördern, wofür die schönsten Anträge vorgelegt werden. Nur mit einer guten Prognose kann ich in etwa abschätzen, was der gesamtgesellschaftliche Bedarf ist. Der Bedarf eines Industriezweiges an Forschung und Entwicklung mag ein ganz anderer sein als der der Gesellschaft.Ich habe schon in der Debatte vom 17. Januar anläßlich der Vorstellung unseres neuen Energieprogramms gesagt: Während heute der Eindruck entsteht, die Ölkrise sei vorbei, bin ich davon überzeugt: sie hat gerade angefangen. Wir sehen schon auf dem Urangebiet, auf dem Gebiet der Buntmetalle, was in anderen rohstoffproduzierenden Ländern vor sich geht. Wir sehen auch schon, daß sowohl durch die multinationalen Konzerne als auch durch bilaterale Abmachungen der Technologietransfer der alten Industriestaaten in die sich entwickelnden Staaten sehr schnell zunehmen wirdmit der zweiten Folge, daß die Konkurrenz der alten Industriestaaten um fortgeschrittene, „sophisticated" Technologie sehr viel härter werden wird, als er es bisher gewesen ist. Die Modernisierung unserer Wirtschaftsstruktur, um dem Lande die Chance zu geben, weiter an der Spitze zu bleiben, unseren Arbeitnehmern die Chance zu geben, sichere und gute Arbeitsplätze zu haben, wird in weit höherem Maße als bisher von einer aktiven Forschungs- und Entwicklungspolitik abhängen. Diese These hat inzwischen sehr viel Zustimmung aus der Industrie gefunden, auch aus den Gewerkschaften. Die beste Darstellung findet sich in einem Vortrag, den Herr Professor Scharb vor etwa vierzehn Tagen in der Ebert-Stiftung gehalten hat. Er wird ab nächster Woche im Druck vorliegen.Auf diesem Gebiet betreiben wir z. B. das Programm der elektronischen Bauelemente. Die Hochtemperaturreaktoren, verbunden mit Prozeßwärme, mit der Möglichkeit geschlossener Versorgungssysteme — wie sie etwa Professor Schulten vorgeschlagen hat , mit den Möglichkeiten in der chemischen Industrie, mit den Möglichkeiten in der Metallurgie — Stahldirektreduktion — könnten eine weitere wesentliche Entwicklungslinie der deutschen Industrie darstellen. Die Tatsache, daß die Industrie dafür einen Arbeitskreis gegründet hat, zeigt, daß sie die Dinge genauso sieht.
Noch eine Fußnote: Wir sollten nicht meinen, daß die größten Erfolge an Innovation nur im gewerblichen, industriellen Sektor zu erreichen sind.lch bin überzeugt, daß wir im öffentlichen Sektor noch Produktivitätsreserven haben, die, wenn man sie einmal wirklich systematisch angeht, nicht geringer sind — aber ich will jetzt nicht auf mein Sorgenkind Post oder auf die Bahn zu sprechen kommen.
Ein zweiter Bereich ist die Mitwirkung der Forschungspolitik an der Ausgestaltung unseres Gemeinwesens im Innern, an dem, was heute unter dem Begriff Lebensqualität zusammengefaßt wird. Sie werden zugeben, daß sich die Dinge hier sehr geändert haben. Hier gehen wir eben weg von der nur nach außen gerichteten naturwissenschaftlichen Großforschung und in Gebiete hinein, in denen die Forschung der Gesellschaft für die Lösung ihrer inneren Probleme direkt zugute kommt.Ein Beispiel, das auf der Schwelle zwischen Außen und Innen steht, ist die Nachrichtentechnologie, von der ich hier noch einmal sagen will, warum sie mir Sorge macht. Ob man nun die Breitbandkommunikation nimmt, die fertig ist, oder ein paar Jahre wartet, bis die Lichtfaser da ist: Hier gibt es eine fertige Technologie, die die Gesellschaft mehr ändern wird als alles, was wir sonst im Forschungsbereich heute machen. Sie kann morgen angewandt werden, und diese Gesellschaft hat noch nicht einmal eine vage Vorstellung davon, wie der Bremer Fall zeigt, was wir eigentlich damit machen wollen. Ich bin sehr froh, daß die in der Regierungserklärung angekündigte Kommission für den Ausbau des technischen Kommunikationssystems inzwischen ins Leben gerufen worden ist und einen sehr guten Anfang genommen hat.Auf dem Gebiet der Lebensqualität liegen — neben der Umweltforschung die drei Gebiete „Humanisierung der Arbeitswelt", „kommunale Technologien" und „Technik im Dienste der Gesundheit". Sie sind auch wichtig — ich glaube, auch Sie halten das für einen legitimen Gesichtspunkt — für die Öffentlichkeitsarbeit der Forschungspolitik: Den Menschen im Lande, die für die Forschung Geld aufbringen in Milliardenhöhe, bewußt zu machen: Tua res agitur!ich habe kürzlich auf dem 20. Kongreß der Arbeitswissenschaften zu dem Thema „Humanisierung der Arbeitswelt" Stellung genommen. Die Technologie kann eine Menge machen, vorausgesetzt, daß wir uns darin einig sind leider ist Herr Weizsäcker, der sich mit dem Problem in Ihrer Grundsatzkommission beschäftigt, gerade weggegangen —, daß die „Theorie der Freizeit" in dem Sinne „Sei die Arbeitswelt auch noch so schlecht, der Mensch kann ja Mensch werden und sich regenerieren in der Freizeit" total falsch ist. Richtig ist vielmehr: Der Arbeitnehmer wird in seinem Selbstverständnis, in seinen Möglichkeiten von dem bestimmt, was am Arbeitsplatz vorgeht. Dafür gibt es keinen Ersatz und darum haben wir uns zusammen mit den Arbeitswissenschaften um die Gestaltung seines Arbeitsplatzes zu kümmern.
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Bundesminister Dr. EhmkeDas ist übrigens eines der Gebiete, in denen bereits sozialwissenschaftliche Begleitaufträge erteilt worden sind, weil man das Problem der Humanisierung des Arbeitsplatzes nicht isoliert als technisches Problem sehen darf, sondern Sozialwissenschaften, Arbeitswissenschaften, Organisationswissenschaften hinzunehmen muß. Im Grunde geht es — bis einschließlich der Frage der Mitbestimmung — um die Frage der Produktionsabläufe.Kommunale Technologien: Das ist der Versuch, in die Gemeinden und in die Städte alles hineinzugeben, was an technischen Hilfen da ist. Denn heute wissen die Städte oft nicht: Welche Müllverbrennungs- oder -vergasungsanlage eignet sich dort oder dort? Welche Lösungen für Versorgungs- und Entsorgungsprobleme gibt es schon? Wir haben hier übrigens einen sehr interessanten Versuch gemacht: Wir haben fünf Weltraumfirmen aufgefordert, uns Studien darüber anzufertigen, was denn die Weltraumtechnologie für die kommunale Technologie bedeuten kann. Wir werden die besten dieser Studien veröffentlichen. Das Ergebnis, das von diesem Gebiet auf kommunale Probleme übertragen werden kann, hat uns selbst frappiert. Das geht hin bis zu Fragen der kommunalen Planung und der Gebiete, die Kollege Vogel im Augenblick stark ausbaut: der Bau- und der Siedlungsforschung.Technik im Dienst der Gesundheit: Hier versuchen wir, auch dem kranken Menschen klarzumachen, daß es sich lohnt, Geld in die Technik zu stecken, die ihm sei es nun mit künstlichen Organen, sei es mit Knochenersatz — helfen kann. Die aber auch für das Gesamtgesundheitswesen Bedeutung gewinnt, etwa in den angewandten Datenverarbeitungsversuchen im Bereich der freien Praxis, im Bereich der Krankenhäuser und in der Kombination von freier Praxis, Krankenhaus und öffentlichem Gesundheitssystem.Schließlich last, but not least — die Grundlagenforschung.
Da auch dort immer nach gefragt wird — ich habe es schon oft gesagt , wo hier denn der gesellschaftliche Bedarf für Grundlagenforschung liegt, möchte ich wiederholen: er liegt in dem, was wir für die Erweiterung unseres Welthorizonts und unseres Selbstverständnisses aus der Grundlagenforschung gewinnen. Mein Beispiel gegen die Kritiker, die sagen, Ausgaben für Grundlagenforschung seien nicht gesellschaftsrelevant, ist: Wer das behauptet, müßte behaupten, die kopernikanische Wendung sei nicht gesellschaftsrelevant gewesen. Zum anderen liegt die Gesellschaftsrelevanz der Grundlagenforschung in dem, was die Grundlagenforschung für die angewandte Forschung bedeutet, wobei wir uns im übrigen auch mit den Grundlagenforschern heute einig sind, daß das nicht heißt, daß man einfach Mittel für alles ausgeben kann. Dazu ist die Grundlagenforschung in den Naturwissenschaften heute viel zu teuer. Vielmehr muß man auch dort — die Max-Planck-Gesellschaft tut es bereits, interessanterweise unter Hinzuziehung ausländischer Fachleute — planen. Ich freue mich übrigens auch,daß sich die Grundlagenforschungsorganisationen der westlichen Länder zu einem gemeinsamen Bund zusammengefunden haben.Man kann die Frage stellen: Ist es nicht für den Forschungsminister besser, wenn er alles Geld gezielt für angewandte Forschung, für bestimmte Projekte ausgibt, statt es in die Grundlagenforschung, in die Selbstverantwortung der Max-Planck-Gesellschaft zu geben, womit er politisch nicht so viel „vorzeigen" kann wie mit irgendeinem Programm? Ich bin der Meinung, der Forschungsminister wäre falsch beraten, wenn er das machen würde. Nicht daß ich meinte, wir könnten und sollten die Prognose nicht verbessern. Trotzdem bin ich der Meinung, wir sollten die Chance, die Zukunft wirklich und etwa im Detail zu gestalten, relativ nüchtern beurteilen. Das Beste für eine Forschungspolitik ist immer noch eine sehr breite Grundlagenforschung, die es erlaubt, wenn die Entwicklung ganz anders verläuft, als man angenommen hat, aus diesem breiten Fundus neue Antworten zu finden.Lassen Sie mich zum Schluß ein kurzes Wort zur internationalen Zusammenarbeit sagen. Nach der Antwort auf die Große Anfrage ist der Auftrag des Pariser Gipfels vom Oktober 1972 erfüllt worden: Am 14. Januar 1974 ist ein europäisches Aktionsprogramm auf dem Gebiet der Forschung beschlossen worden. Ich freue mich besonders, daß die von der Kommission — ich darf hier Herrn Dahrendorf noch einmal danken — und von uns selbst forcierte Frage eines Zusammenarbeitsverfahrens — wir nennen das ein Verfahren der Konsultation und Konfrontation — im neuen CREST-Ausschuß verwirklicht worden ist. Ich glaube, damit ist endlich ein verfahrensmäßiges Instrument geschaffen, weiter zu kommen, als wir bisher — leider — auf dem europäischen Gebiet gekommen sind.Mein Besuch in den Vereinigten Staaten hat gezeigt, daß die Ansätze, das Problemverständnis, die Art, wie man an Probleme herangeht, nirgends ähnlicher ist als zwischen der Bundesrepublik und den Vereinigten Staaten. Es war eine gute Reise, gerade auch auf dem Hintergrund der mancherlei Spannungen, die wir heute erleben. Wir haben eine Reihe von Abkommen geschlossen, eine Reihe von neuen Projekten in Angriff genommen, für die in Kürze Delegationen ausgetauscht werden. Und wir waren uns mit der amerikanischen Regierung darüber einig, daß nicht etwa ein deutsch-amerikanischer Bilateralismus in der Forschungs- und Technologiepolitik eine Alternative zu Europa sein kann. Wir waren uns einig, daß wir versuchen sollten, das zu machen, was wir beim Weltraum-Labor bereits erreicht haben: daß die besonders gute deutsch-amerikanische Zusammenarbeit zum Schrittmacher für eine amerikanisch-europäische Zusammenarbeit wird. Ich glaube, darin stimmen nicht nur die Deutschen und die Amerikaner, darin stimmen die Europäer und die Amerikaner überein: Die Probleme der Welt sind zu groß und die Ressourcen der Welt sind zu knapp geworden, als daß wir uns nationale Eigenbrötelei auf \\dem Gebiet der For-
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Bundesminister Dr. Ehmkeschungs- und Technologiepolitik noch länger leisten könnten.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Stavenhagen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe Verständnis dafür, daß der Herr Bundesminister für Forschung und Technologie am Anfang ein wenig Schwierigkeiten hatte, in den Ton der Debatte hineinzufinden; denn er schrieb ja schon heute mittag im Pressedienst des Ministeriums, daß wir hier heute abend nur billige Polemik liefern würden. Ich weiß nicht, ob man das so machen sollte.
Ich komme auf ,die eine oder andere Ausführung noch zu sprechen.Ich möchte nur eines hier jetzt herausgreifen. Das ist der Bereich viertes Atomprogramm. Herr Minister, Tatsache ist doch, daß das vierte Atomprogramm ursprünglich mit neun Milliarden DM für fünf Jahre vorgesehen war. So waren die ersten Äußerungen in der Fachpresse. Übrig blieben 6,2 Milliarden DM für vier Jahre. Wenn Sie 9 Milliarden DM für fünf Jahre und 6,2 Milliarden DM für vier Jahre rechnen, ergibt das eine einen Jahresdurchschnitt von 1,8 Milliarden DM, das andere einen Jahresdurchschnitt von 1,5 Milliarden DM. Das bedeutet eine Verkürzung um zirka 17 %. Ich meine daß man hier einfach einmal sagen sollte, wie die Dinge sind, damit 'das mal aus der Welt kommt.In der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage von SPD und FDP wird immer der Eindruck erweckt, als seien wir dank der weitreichenden und vorausschauenden Planung dieser Bundesregierung für die Zukunft bestens gerüstet. Diesen Eindruck haben Sie hier auch versucht zu unterstreichen, Herr Minister. Aber was soll man denn von der Vorausschau der Regierung halten, wenn wir im Energieprogramm vom September 1973 noch lesen, daß Ungewißheit über 'die Realisierung notwendiger Produktionsausweitungen zu erwarten sei, während die Amerikaner bereits im April 1973 ein Dringlichkeitsprogramm „Energie" hatten.
Unter 'dem Druck der Diskussion und unter der Erkenntnis, daß dieses Energieprogramm wohl doch nicht ganz ausreicht, kam dann im Januar das Rahmenprogramm Energieforschung für 1974 bis 1977. Mir scheint, das dieses Programm sehr stark von der damals noch vorherrschenden und inzwischen ein wenig abgeflauten Kohleeuphorie geprägt ist; denn dort entfallen immerhin fast eine Milliarde DM vom Gesamtvolumen von 1,4 Milliarden DM auf den Bereich Kohleforschung, während für den Bereich rationelle Energieverwendung nur insgesamt 56 Millionen DM bereitgestellt werden, obwohlich meine, daß gerade auch in diesem Bereich wesentlich 'stärkere Anstrengungen unternommen werden sollten.Die entscheidende Frage in dem ganzen Bereich Energie und Rohstoffe liegt — da stimmen wir wohl überein — überhaupt erst vor uns. Es wird von Jahr zu Jahr problematischer, Angebot und Bedarf einander anzupassen. Hier scheint mir, daß die Bundesregierung heute einfach noch keine klaren Vorstellungen hat, daß man hier einfach sehr hoffnungsfroh, aber wohl auch etwas gewagt in die Zukunft geht. Von Konzepten, Herr Minister, konnten Sie hier auch nicht sehr viel deutlich machen. Sie sagten ja selber, daß in Zukunft ein weltweiter Strukturwandel eintreten wird, der uns die Rolle des Exporteurs von hochqualifiziertem Know-how, von raffinierter Technologie zuweisen wird. Ich bin der Überzeugung, daß wir auf diese zukünftige Rolle heute nicht ausreichend vorbereitet sind.Vor dem Bundesverband der Deutschen Industrie wiederholten Sie am 20. November 1973 den Satz aus der Regierungserklärung, daß Forschung und Technologie die Zukunft unserer Gesellschaft entscheidend bestimmen würden. Sie sagten weiter — ich zitiere mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten —:Dies gilt im besonderen Maße für die künftige Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft. Für mich steht außer Zweifel, daß in unserer entfalteten Industriegesellschaft der technische Fortschritt zum wichtigsten Wachstumsfaktor geworden ist.In einem Interview mit dem „Vorwärts" wurden Sie, Herr Minister, gefragt, ob wir in solchen Krisen — gemeint war die Energiekrise — nicht besser mit Wettbewerb durch öffentliche Unternehmen, Investitionskontrolle und Überführung von Produktionsmitteln in Gemeindeeigentum zurechtkämen. Sie erwiderten darauf u. a., daß heute die Notwendigkeit überdeutlich sei, daß der Staat zunehmend mehr Einfluß auch auf die Inhalte wirtschaftlicher Entscheidung nimmt. Ich bin der Auffassung, daß man diesem Satz in dieser lapidaren Form entschieden widersprechen muß. Es zeigt sich doch, daß die staatskapitalistischen Wirtschaftsformen, wo weite Bereiche allmählich unter den Einfluß des Staates geraten sind, nicht in der Lage sind, das zu liefern, was wir fordern, nämlich sauberes, qualitatives Wachstum, sondern daß nur marktwirtschaftliche Ordnungen — selbstverständlich hat der Staat dabei ordnungspolitische Rahmenbedingungen zu setzen — dieses saubere, qualitative Wachstum produzieren können. Dies belegt eine eindrucksvolle Studie, nämlich der Richta-Report, der die Bedingungen in der Tschechoslowakei mit denen westlicher Industrienationen vergleicht.Es ist für Ihre Politik, Herr Minister, glaube ich, von entscheidender Bedeutung, wie die Regierung und auch die sie tragenden Parteien zum Wachstum insgesamt stehen. Es gibt viele in Ihrer Partei, die Wachstum ganz allgemein für schädlich halten. Ihnen muß ganz klar gesagt werden: Wachstumsverzicht bedeutet national und weltweit, daß die Einkommensverteilung festgeschrieben, zementiert wird. Das führt zu Konflikt und Klassenkampf. Ein
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Dr. Stavenhagenschweizerischer Politiker formulierte das einmal sehr treffend so: „Man predigt anderen das Wasser und trinkt selbst den Wein."
Es wird für die Zukunft entscheidend sein, ob sich die Sozialromantiker in Ihrer Partei oder eben die Realisten durchsetzen, die die Auffassung teilen, daß Wachstum, allerdings sauberes und qualitatives Wachstum, für die Zukunft unerläßlich ist.In Ihrer Antwort auf die Große Anfrage nannten Sie die drei forschungspolitischen Leitziele. Ich möchte das Leitziel der Ausrichtung auf den Bedarf der Gesellschaft ein wenig betrachten: Man kann dieses Ziel sehr weit definieren, wie Sie es hier getan haben, und darunter alles subsumieren; dann wird es zur reinen Leerformel. Oder man greift es enger; dann gerät man aber in die Gefahr einer gefährlichen Verengung des Horizonts, einer modischen Strömung zu unterliegen, wonach gesellschaftliche Relevanz dasjenige Kriterium sei, das in allen Fällen und allein über die Forschungswürdigkeit eines Forschungsprojekts entschiede. Ich denke hier — Sie haben das vorhin auch erwähnt — vor allem an den Bereich der humanwissenschaftlichen Forschungsförderung, wo eben insgesamt 34 Institutionen in Zukunft nicht mehr gefördert werden sollen. Wir haben Verständnis für eine kritische Durchsicht dieser Liste. Wir haben aber kein Verständnis dafür, daß man das radikal streichen will.
So ist auch im Haushaltsausschuß argumentiert worden.Dieses Beispiel zeigt, daß die Motivation gesellschaftlicher Relevanz allein zu einer Blickverengung auf Naturwissenschaften und Sozialwissenschaften im Ministerium und zu einer Verödung der geisteswissenschaftlichen Landschaft führt. Auch Forschungsförderung um des Fortschritts der Wissenschaft willen ist eine legitime Motivation. Gerade im Jahre 1974 mit dem ständig wachsenden Arbeitsplatzrisiko kann man deutlich machen, daß Forschungsförderung zur Erhaltung des Wettbewerbs und zur Sicherung der Arbeitsplätze eine legitime und notwendige Motivation ist. Die Forderung nach Humanisierung der Arbeitsbedingungen ist sehr, sehr begründet; wir unterstreichen das nachdrücklich. Aber die Voraussetzung für humane Arbeitsplätze sind eben sichere Arbeitsplätze.Herr Minister, einer Ihrer leitenden Mitarbeiter hat in der „Neuen Gesellschaft" vom September 1973 einen höchst bemerkenswerten Aufsatz über den neuen Kurs Ihres Hauses veröffentlicht. Dort lesen wir über die Forschungspolitik der Vergangenheit — ich zitiere mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten —:Immer standen die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und die freie Entfaltung der Forscher im Vordergrund der Argumentation, gleichgültig, ob z. B. die Förderung der Nuklearforschung nationalistisch als Unabhängigkeit vom Ausland, kapitalistisch als Wettbewerbssicherung, wachstumsfetischistisch als Versorgungssicherung oder umweltschützend als Entwicklung sauberer Energie deklariert wurde.Über die Forschungspolitik der Zukunft heißt es:Die staatliche Forschungsförderung wird im geschichtlichen Prozeß zunehmend mehr zur veränderungsgerichteten gesellschaftspolitischen Zukunftsgestaltung eingesetzt werden.Wer Forschungspolitik so versteht, für den hat Geisteswissenschaft keinen Stellenwert und der verweist angesichts drohender Mangellagen im Bereich von Energie und Rohstoffen auf den neuen Stellenwert der Sozialforschung.
In einer Zeit galoppierender Kosten und immer knapper werdender Mittel, um die sich die Ressorts nun streiten müssen, in Wettbewerb treten müssen, kommt der Kosten- und Erfolgskontrolle eine besondere Bedeutung zu. Es stimmt eben nicht, daß wir gerade in diesem Bereich nur abgeschrieben hätten. Wir haben hier auf wiederholte Fragen über Erfahrungen mit der Kosten- und Erfolgskontrolle ein Papier bekommen, „Grundsätze für die Erfolgskontrolle", 16 Seiten stark mit einigen Anlagen, aus dem Jahre 1972, von Ihrem Vorgänger.In der Antwort der Bundesregierung in der 6. Legislaturperiode auf die Großen Anfragen wird auf die Schwierigkeiten der Effizienzkontrolle, aber auch auf die Notwendigkeiten hingewiesen. Ich darf noch einmal — mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten zitieren:Die Bundesregierung fördert alle Bestrebungen, hier Verfahren und Maßstäbe zu entwickeln. Sie befürwortet praktische Versuche mit einer Effizienzkontrolle auch auf der Grundlage zunächst unvollkommener Methoden. Sie beobachtet auch die Bemühungen im Ausland. Es ist jedoch nicht damit zu rechnen, daß schon in Kürze eine umfassende methodisch befriedigende Leistungskontrolle möglich sein wird.Ich meine, das war damals eine ehrliche Antwort, die der Notwendigkeit, aber auch der Schwierigkeit der Effizienzkontrolle für ganze Programmbereiche, aber auch für Einzelvorhaben im Bereich der Grundlagenforschung gerecht wird.In der jetzt vorliegenden Antwort der Bundesregierung heißt es, sehr positiv formuliert, daß die auf einen wirtschaftlichen und sparsamen Mitteleinsatz zielenden Maßnahmen des Ministeriums nicht erschöpfend ausgeführt werden können. Besonders seien aber eine Datenbank und eine im Aufbau befindliche Datenblattsammlung hervorzuheben. Auch würden Wirtschaftspläne bei geförderten Forschungseinrichtungen nach strengen Maßstäben geprüft. Ich meine, das sind einfach Selbstverständlichkeiten, die man vielleicht dort hineinschreiben kann, die aber sicher dem Problem der Effizienzkontrolle nicht gerecht werden.Zu den von mir bereits erwähnten Grundsätzen für die Erfolgskontrolle bei selbständigen Forschungseinrichtungen aus dem Jahre 1972 heißt es, sie würden jetzt konkretisiert und praktisch erprobt. Vorgesehen sei ein mehrstufiges Berichts- und Bewertungssystem. Die phasenweise Projekt-
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Dr. Stavenhagendurchführung solle ausgebaut werden. Die Projektüberwachung sei zu erweitern.Darüber hinaus werden künftig für den BereichForschung und Technologie zusätzlich zumHaushaltsplan ... „Leistungspläne" aufgestellt . . .Mit anderen Worten: auf dem Gebiet der Effizienzkontrolle ist man seit 1971 offensichtlich nicht wesentlich weiter gekommen, möglicherweise weil dort die Schwierigkeiten groß sind — dann sollte man das, wie ich meine, ehrlich sagen und eben auch diskutieren oder weil es in dem Konzept der veränderungsgerichteten Gesellschaftspolitik keine Priorität genießt, weil man glaubt, daß man diesem Problem nicht diese Aufmerksamkeit widmen sollte. Dann allerdings ist die Planlosigkeit derer, die soviel auf ihre vorausschauenden Pläne halten, nur zu beklagen.
Das Wort hat der Abgeordnete Stahl .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu Beginn, Herr Dr. Stavenhagen, darf ich Ihnen vielleicht zur Aufklärung folgendes sagen. Die 9 Milliarden für den Bereich des vierten Atomprogramms, das Sie eben angesprochen haben, waren für das fünfjährige Programm. Es ist entsprechend der mittelfristigen Finanzplanung auf einen Vierjahresrhythmus geändert worden. Das entsprach, wenn wir das Jahr abziehen, 7,3 Milliarden DM. 0,5 Milliarden DM wurden für nichtnukleare Forschung herausgenommen. Herr Minister Ehmke hat Ihrem Fraktionsvorsitzenden am 29. November genau erklärt, daß der tatsächlich angesetzte Ausgangsbetrag für dieses vierte Atomprogramm bei 6,5 Milliarden DM lag und daß wir dies im Zuge der Stabilitätspolitik auf 6,1 Milliarden DM geändert haben. Das zur Sache. Falls Sie es wünschen, können Sie es nachlesen, im Protokoll der 67. Sitzung dieses Hohen Hauses ist es genau verzeichnet.Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Große Anfrage zur Forschungs- und Technologiepolitik drei Leitziele genannt, die als Richtschnur für alle Vorhaben der Forschung und Entwicklung in unserem Lande gelten können: 1. den gesellschaftlichen Bedarf zur Geltung zu bringen und sowohl die laufenden Programme als auch neue Großprojekte unter dem Gesichtspunkt des gesellschaftlichen Nutzens zu prüfen; 2. Verfahren zur Herstellung einer kritischen Öffentlichkeit für die Forschungs- und Technologiepolitik zu entwickeln; 3. Kooperation und Koordination in Forschung und Entwicklung zwischen allen Beteiligten zu entwickeln.Hierbei kommt angesichts der jüngsten Entwicklung auf dem Energiemarkt dem Bereich der Energieforschung mit seinen verschiedenartigen Problemen in den nächsten Jahrzehnten ein besonderes Gewicht und gleichzeitig hohe Priorität zu; denn in Zukunft wird die sichere Energieversorgung für den Wohlstand und die Arbeitsplätze in unserem Lande von großer 'Bedeutung sein. Das bedeutet vor allem:1. Die Versorgung von Wirtschaft und privaten Haushalten mit kostengünstiger sowie sicherer Energie muß langfristig gesichert werden. 2. Die Schaffung einer menschenfreundlichen Umwelt und die Entwicklung der Qualität unserer Lebensbedingungen müssen gewährleistet sein. 3. Bei der Lösung des Konflikts zwischen diesen beiden Zielen — einer kostengünstigen und sicheren Energieversorgung auf der einen Seite und einer menschenfreundlichen Umwelt auf der anderen Seite — muß eine kritische Öffentlichkeit angestebt werden. 4. Die heute noch teilweise verstreuten Forschungs- und Entwicklungsansätze sollten in größeren Forschungsprogrammen zusammengeführt und koordiniert werden. 5. In diesem Zusammenhang muß der Erschließung neuer Rohstoffe und Grundstoffe sowie der Wiedergewinnung dieser Stoffe weiterhin ein größeres Gewicht als bisher beigemessen werden.Forschung ist Vorbereitung auf ,die Zukunft. Von den Aktivitäten, die wir jetzt entwickeln, hängt es ab, ob wir und unsere Kinder im Jahre 2000 und darüber hinaus unser Leben werden vernünftig meistern können. Die jetzige Situation in der Energiewirtschaft macht deutlich, daß es gerade auf dem Gebiet der Forschung erheblicher Anstrengungen bedarf, um die grundlegenden Voraussetzungen für eine sichere Energieversorgung zu schaffen. Hierbei geht es darum, neue Technologien für die Erzeugung, Umwandlung, Speicherung und den Transport von Energie und ihren rationellen Einsatz vorzubereiten.Dies bringt die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage auch mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck. Entgegen dem auch heute wieder angestimmten Gezeter der CDU/CSU, es werde von der Bundesregierung nicht genug für die Energieforschung getan, wiederhole ich hier, daß die Bundesregierung alle sinnvollen Schritte unternommen hat, um mittel- und langfristig die Energieforschung in der Bundesrepublik aufzubauen.Sie hat deshalb dem Hohen Hause folgende Programme vorgelegt: für den nuklearen Sektor das Vierte Atomprogramm, über das wir eingangs schon gesprochen haben; für den nichtnuklearen Sektor das Energieforschungsprogramm; für den Gesamtbereich Energie das Energieprogramm, welches zur Zeit an die geänderten Verhältnisse auf dem Energiemarkt angepaßt wird. Für die Realisierung der drei Programme sind im Haushalt 1974 und in der mittelfristigen Finanzplanung die notwendigen Mittel bereitgestellt.Die Bedeutung, die der Sicherung unserer Energieversorgung durch die Bundesregierung beigemessen wird, läßt sich nicht zuletzt daran ermessen, welche finanzielle Priorität dem Bereich Energieforschung und dem Bereich Energietechnologie zugesprochen wurde. In der Antwort auf unsere Anfrage heißt es — das möchte ich besonders hervorheben und der Opposition nochmals ins Gedächtnis rufen; es scheint mir, als wenn sie es manchmal in den Veröffentlichungen gar nicht liest —: „Kernforschung und -technik ... sind auf hohem Niveau konsolidiert worden." Für die Energieforschung im nichtnuklearen Bereich sind außergewöhnliche Zu-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5843
Stahl
wachsraten vorgesehen. Der finanzielle Aufwand für das Vierte Atomprogramm beträgt 6,1 Milliarden DM — darüber haben wir soeben schon gesprochen —; es beinhaltet die Reaktorentwicklung, den Brennstoffkreislauf, den Bereich der Erforschung zur Kernfusion und der Grundlagenforschung; das heißt, daß für diese Aufgaben jährlich etwa 1,5 Mil-harden DM bis 1,6 Milliarden DM an staatlichen Mitteln zur Verfügung gestellt werden. Für das Rahmenprogramm Energieforschung von 1974 bis 1977 sind insgesamt 1,5 Milliarden DM zur Verfügung gestellt worden; das sind jährlich also rund 400 Millionen DM.Gerade bei diesem Rahmenprogramm Energieforschung wird besonders deutlich, in welchem Maße das Programm auf die Zusammenarbeit zwischen Staat, Wirtschaft und Wissenschaft angelegt ist, wobei ich nur auf die Beispiele der Kohledruckvergasung und die Fortenwicklung der Bergbautechnik hinweisen möchte. Sie haben dagegen für die Bergbautechnik zu Ihrer Regierungszeit fast gar nichts an Forschungsmitteln bereitgestellt. Es klingt deshalb unredlich und überheblich, wenn der forschungspolitische Sprecher der Opposition in Presseartikeln und im CDU/CSU-Pressedienst sowie auch hier in diesem Hause heute behauptet, dieser Forschungsminister tue zuwenig für die Energieforschung der Zukunft. Meine Damen und Herren von der Opposition, diese Behauptungen sind nicht tragbar! Sie sollten sich die letzte Antwort auf die Mündliche Anfrage Ihres Kollegen Lenzer zur Wasserstofforschung und alle Antworten auf die Kleinen Anfragen einmal genau durchlesen, die Sie inzwischen zu diesem Problem in diesem Hause gestellt haben.Ihre teilweise heute abend war es schon etwasfreundlicher, Herr Lenzer — dargebotene Polemik, ist, wie ich meine, einer sachlichen Zusammenarbeit in diesem Bereich abträglich.
— Nicht nur. Herr Pfeffermann, Sie gehören doch gerade zu den Scharfmachern, würde ich sagen. Also äußern Sie sich doch hier nicht so in dieser „sehr netten Art".
Herr Pfeffermann, Ihre teilweise Polemik — das ist ja typisch für Sie, würde ich sagen — ist also einer sachlichen Zusammenarbeit abträglich.
Ich möchte den Aufruf zur Friedlichkeit an alle Seiten richten.
Nun lassen Sie mich noch einige Sätze zum Thema Kernkraftwerke sagen. In den nächsten Jahren werden wir viele Kernkraftwerke zusätzlich bauen müssen, um den wachsenden Strombedarf in der Bundesrepublik zu decken. Die Gefahren, die mit unkontrollierter Energieerzeugung, zusammengeballt auf engem Raum, einhergehen, können nicht, wie dies oftmals versucht wird, einfach beiseite geschoben und verharmlost werden. Das gilt vor allen Dingen für den Betrieb von Kernkraftwerken. Das wache Bewußtsein der Bürger für diese Gefahren hat zu einer Reihe von Bürgervereinigungen geführt, die die Planung und den Bau von Kernkraftwerken kritisch begleiten. Es ist erfreulich, wenn auch manchmal für die Verantwortlichen zeitraubend und für die Verantwortlichen anstrengend, daß dadurch die gesamte Öffentlichkeit auf die Probleme, die mit dem Betrieb von Kernkraftwerken zusammenhängen, aufmerksam gemacht wird.Von besonderer Bedeutung sind daher die Forderungen, die auf Erhaltung und Entwicklung der Qualität unserer Lebensverhältnisse gerichtet sind und die Entwicklung neuer technischer Möglichkeiten der Reaktorsicherheit und des Strahlenschutzes zum Ziel haben. Es ist wichtig, auch das Verhalten radioaktiver Stoffe in der Luft, im Wasser und im Boden zu untersuchen und an der Lösung des Problems der Einlagerung von radioaktiven Abfällen zu arbeiten. Hierfür neue Technologien zu entwickeln ist ebenso nötig und dringend wie für die Gewinnung der Energie selbst.
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5844 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Auf die Gefahren unserer Energie- und Rohstoffversorgung ist im Energiebericht der Bundesregierung vom 3. Oktober bereits hingewiesen worden. Auch heute in der Debatte sind dazu Ausführungen gemacht worden, denen wir uns anschließen. Sie selbst, Herr Minister, haben noch in einem Interview vor einigen Tagen — und auch hier heute wieder vor diesem Hohen Haus — erklärt, daß jetzt die Situation es nicht mehr erlaube, diese Fragen vor uns herzuschieben. In der Tat: die Entspannung in der Zuspitzung unserer akuten Energieversorgung darf nicht als eine Lösung des Energieproblems verstanden werden.Wir warten aber jetzt nicht auf weitere Worte, sondern wir warten auf Taten. Wir warten auf Ihr Programm.Sie werden, Herr Bundesminister, angesichts dieser Kritik auf das Vierte Atomprogramm verweisen. Der Leidensweg dieses Vierten Atomprogramms ist den Eingeweihten bekannt. Über ein Jahr lag dieses Programm als Entwurf der Öffentlichkeit vor. Jetzt in der Ölkrise ist dieses Programm veröffentlicht worden, aber nicht als Reaktion auf sie, wie auch im Vorwort betont wird, sondern als ein Fortschreiben der vorangegangenen Programme.
Sie werden auch auf das neue Energieforschungsprogramm verweisen, welches Ihr Haus am 9. Januar veröffentlicht hat. Dieses Pogramm ist die Reaktion auf die Tatsache, daß in Verkennung des Ernstes der Gefahren die Forschung in den darin angesprochenen Bereichen bisher nicht oder jedenfalls nicht
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Dr. Freiherr Spies von Büllesheim ausreichend gefördert wurde. Das Wort „Kohle" ist weder im Forschungsbericht der Bundesregierung 1972 noch im Förderungskatalog 1972, noch im Einzelplan 30 des Haushalts für Ihr Ministerium überhaupt zu finden, jedenfalls nicht im Stichwortverzeichnis; ich habe das nachgeschaut. Aber dieses neue Energieforschungsprogramm ist wenigstens ein Zeichen. Irren können wir alle. Die Zukunft ist uns allen verschlossen. Es ist ein Zeichen, daß jetzt die Härte des Problems erkannt ist. Aber das Programm ist zu kurzatmig, zu wenig ausgereift und ohne langfristige Konzeption.
— Wir haben, wie hier in der Debatte schon erklärt wurde, im Jahre 1955 ein eigenes Ministerium für die Atomenergie begründet, auf dem diese Programme noch aufbauen, Herr Kollege Stahl.Es ist nicht die Aufgabe dieser Debatte, die Härte und den Ernst unserer Energiesituation hier darzustellen. Darauf ist mehrfach Bezug genommen worden. Angesichts der fortgeschrittenen Zeit kann ich auf das Bezug nehmen, was von den Kollegen aller Parteien und auch von Ihnen, Herr Bundesminister, zu dieser Frage gesagt worden ist. Diese Ölkrise hat uns jetzt zu einer neuen Besinnung gebracht. Aber die Neuorientierung muß noch folgen.Wir fordern Sie auf, Herr Bundesminister, aus diesem Dilemma, in dem wir uns befinden oder befinden werden, die Konsequenzen zu ziehen. Wir sind bereit, mit Ihnen daran mitzuarbeiten.Wir glauben nicht, daß es ausreicht, das neue Forschungsprogramm „nichtnukleare Energietechnik", wie Sie es im Vorwort zum Vierten Atomprogramm ankündigen, nachzuschieben. Hier dürfen nicht weiter Einzelfragen isoliert voneinander auf nacheinander folgenden Strohfeuern abgekocht werden. Wir fordern Sie auf, ein umfassendes nationales Forschungs- und Entwicklungsprogramm für Energie und Rohstoffe vorzulegen, ein Programm, welches klare Ziele für einen langfristigen Zeitraum vorgibt, Ziele die erkennbar sind und mit allen verfügbaren Mitteln angestrebt werden.Dazu einige Bemerkungen.1. Wir haben im Augenblick zu viele verschiedene Programme mit zu unterschiedlichen Laufzeiten. Sie beruhen auf Voraussetzungen, die Bewertungskorrekturen erfordern. All diese Programme — Energiebericht, Atomprogramm, Energieforschungsprogramm —, die, wie Sie wissen, alle unterschiedliche Laufzeiten haben, müssen zu einem einheitlichen nationalen Programm zusammengefaßt werden.2. In diesem Programm müssen bestimmte Ziele gesetzt werden. Sie müssen mit einem bestimmten Zeitplan verbunden werden. Das Fehlen eines solchen Zeitplans für die Verwirklichung ist einer der wesentlichen Mängel der bestehenden Programme.3. Sie werden einige harte Entscheidungen hinsichtlich der Zielkonflikte und auch der Parallelkonflikte zu treffen haben. Wir können auch im Bereich der Energieforschung und der Energieentwicklung nicht jedes Vorhaben fördern, nicht alleMöglichkeiten nutzen und nicht alle Entwicklungen vorantreiben. In diesem Zusammenhang gibt es eine Reihe von Spezialfragen, auf die man nun nicht mehr eingehen kann.Im Bereich dieses neuen Programms, über dessen Inhalt wir uns einig sind, geht es aber nicht nur um die Dinge, die hier bereits angesprochen sind. Es geht nicht nur um die Beschleunigung der Entwicklungen zur Kernenergie. Es geht nicht nur um Standort- und Umweltfragen, auf die besonders Herr Kollege Stahl hingewiesen hat. Es geht nicht nur um die kerntechnische Infrastruktur, um die Uranversorgung in der neuen, vergrößerten Dimension, um den Austausch mit anderen Energieträgern. Es geht nicht nur um die Möglichkeiten der Energie- und Rohstoffersparnis, die Rückgewinnung aus Abfallstoffen und vieles andere. Es geht auch um ein Ziel, meine Damen und Herren, das hier heute noch nicht angesprochen ist. Es geht um die Erforschung der Möglichkeiten für eine sinnvolle gesellschaftliche Einordnung der Verwirklichung dieser großen Aufgabe in das System unseres freiheitlichen Staates.Die erste Forderung dazu lautet hier — das sage ich für meine Fraktion mit aller Eindringlichkeit —: Die marktwirtschaftliche Ordnung der Energiewirtschaft muß voll erhalten bleiben, wenn die neuen Ziele so schnell und so vollkommen wie möglich erreicht werden sollen.Wenn die Sicherung von Energie und Rohstoffen für unser Land in den nächsten zwei Jahrzehnten 150 bis 250 Milliarden DM an Investitionen erfordert, so steht uns eine gewaltige Kraftanstrengung bevor, ein Kraftakt ohnegleichen, der bei den jetzt gegebenen Verhältnissen nur mit den Anstrengungen vergleichbar ist, die nach dem Kriege zum Aufbau unseres Landes notwendig waren. Diese Aufgaben sollen nicht weitgehend vom Staat, dürfen aber auch nicht allein von den Unternehmen aus Abschreibungen und Gewinnen finanziert werden. Der Staat muß vielmehr angesichts der Größe dieser Aufgabe Vorsorge dafür treffen, daß dieses Kapital, welches letztlich die Gesellschaft für die Erfüllung dieser Aufgaben auf irgendeinem Weg aufbringen muß, so weit wie möglich als privates Kapital in der Hand der vielen Bürger dieses Landes bleibt. Die Fehler der Finanzierung für den notwendig gewesenen gewaltigen Wirtschafts- und Wohnungsbau in unserem Land nach dem Kriege müssen sich hier nicht wiederholen. Die Fehlleitung von Kapital auf dem Baumarkt — der Steglitzer Kreißel mag als Beispiel für viele mögliche Beispiele stehen — darf sich nicht wiederholen.Diese Notwendigkeiten und diese Möglichkeiten, das Ziel und der Weg zu diesem Ziel müssen von dieser Regierung dem Bürger deutlich gemacht werden. Wir dürfen uns nicht weiter im Kreise drehen. Mutlosigkeit und Lustlosigkeit mag diese Regierung auf manchen Gebieten erfaßt haben. Aber diese Aufgabe, Herr Bundesminister, dürfen Sie nicht mut-und lustlos beginnen. In unser aller Interesse muß jener große Wurf, das mitreißende nationale Programm gelingen. Dem Bürger muß die Vision dieses neuen technischen Zeitalters deutlich werden,
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5846 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Dr. Freiherr Spies von Büllesheimdie Vision einer Zukunft mit sicheren, mit umweltfreundlichen Kernkraftwerken ohne Geräusche und ohne Rauch, die Zukunft mit der Kohle als wertvollem Gut, umgewandelt in Gas, mit dem Energietransport nicht mehr durch große Überlandhochspannungsleitungen, sondern in Gasleitungen unter der Erde, dem Gas, welches gleichzeitig auch als Wärmeträger dienen kann, die Zukunft mit Fahrzeugen, die mit diesem Gas oder mit elektrischer Energie fahren werden, und was immer an dieser Vision auf Grund der erkennbaren Möglichkeiten noch ausgemalt werden kann. Der Weg dahin ist noch weit, aber die Konturen sind für die Fachleute erkennbar. Sie müssen auch dem einfachen Bürger erkennbar werden.Zu welchen technischen und wirtschaftlichen Leistungen ein Volk in gemeinsamer Kraftanstrengung fähig ist, wenn es ein klares Ziel vor Augen hat, zu welchen Opfern der Bürger bereit ist, wenn ihm das „Warum" verständlich gemacht wird, dafür wird das Mondfahrtprogramm der USA in unserer modernen Zeit ein Beispiel bleiben.Bei uns sind Verständnis und Opferwille der Bürger in Zusammenhang mit diesem nationalen Problem noch nicht angesprochen worden. Die Schwierigkeiten und Gefahren, die diese Erdölkrise deutlich gemacht hat, sind bisher nur als eine unangenehme Nachricht behandelt worden und deswegen nur undeutlich artikuliert worden. Sie sind bisher nicht positiv dargestellt worden, nicht als eine Herausforderung an diese moderne Industrienation und nicht als die notwendige Initialzündung zur Lösung einer Frage, die über unsere und unserer Kinder Zukunft entscheidet.Haben Sie den Mut, die gegebene Lage darzustellen, den Optimismus, der notwendig ist, um die Vision dieser Zukunft auch dem Bürger zu beschreiben, und die Kraft, neu über die Prioritäten zu entscheiden! Entwerfen Sie dieses große einheitliche nationale Programm! Die Unterstützung der Opposition in dieser Frage wird Ihnen dann sicher sein.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Hauff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte nur noch zwei Punkte zum Schluß der Debatte hier ansprechen, obwohl einige andere Fragen noch offen sind. Aber offensichtlich besteht der gemeinsame Wunsch, daß wir zu einem rechtzeitigen — —
— Herr Pfeffermann, keine Aufregung!
Lassen Sie mich zunächst einige Ausführungen zu dem machen, was Herr Stavenhagen gesagt hat.
Die Vereinbarungen im Ältestenrat sehen vor, daß jede Sitzung um 21 Uhr schließt, und das aus guten Gründen. Außerdem, meine Damen und Herren, sind wir hier in der Besetzung eines Ausschusses.
Es erscheint mir nicht sinnvoll, das ad infinitum fortzusetzen.
Lassen Sie mich zunächst auf das eingehen, was Herr Stavenhagen über die kleinen Forschungsinstitute gesagt hat, und auf das, was er die humanwissenschaftliche Forschung genannt hat. Herr Stavenhagen, ich wäre Ihnen dankbar gewesen, wenn Sie zur Kenntnis genommen und hier auch zur Grundlage der Debatte gemacht hätten, daß hier nicht ein Forschungsbereich eingestellt werden soll, sondern daß es ein übereinstimmendes Votum des Haushaltsausschusses gibt, daß dies eine nichtministerielle Aufgabe ist. Das BMFT hat daraus die Konsequenz gezogen, die Förderung in dieser Form nicht fortzusetzen. Das ist im Ausschuß vorgetragen worden und nicht auf Ihren Widerspruch gestoßen. Dort hat die Regierung bereits angekündigt, daß die Mittel, die dadurch frei werden, im humanwissenschaftlichen Bereich bleiben. Ich darf hier ankündigen, daß wir in Verhandlungen stehen, um einen Träger für die Förderung zu finden, damit sowohl dem Anliegen des Haushaltsausschusses entsprochen als auch die Tatsache berücksichtigt werden kann, daß auf keinen Fall auf diese Weise irgendein Teil der humanwissenschaftlichen Forschung ignoriert wird. Wenn hier von „Kahlschlag" und ähnlichem — auch draußen — gesprochen wurde, entspricht das nicht den Tatsachen.
Meine Wortmeldung hier hat allerdings noch einen anderen Grund. Ich war zunächst der Meinung, daß die Regierung Anlaß hat, sich zu bedanken für die faire, für die sachliche Debatte, die wir heute hier miteinander geführt haben; auch dort, wo sie kontrovers war. Dies ist notwendig in einer Demokratie. Nun läuft allerdings, Herr Kollege Lenzer, im Augenblick eine Meldung über die Presseagentur, die Sie angeblich im Zusammenhang mit der Technologie-Debatte getan haben sollen. Da heißt es:Herr Lenzer forderte Bundeskanzler Willy Brandt auf, Ehmke abzulösen, weil sein Versagen als Postminister noch übertroffen werde von seinem Fehlverhalten als Forschungsminister.Herr Kollege Lenzer, ich muß mich sehr zurückhalten und will versuchen, das sehr ruhig zu beantworten, was Sie hier gemacht haben. Ich bin der
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5847
Parl. Staatssekretär Dr. HauffMeinung, das ist ein typisches Beispiel dafür, daß man draußen das große Wort führt und hier, wo das Forum der Nation ist, wo Sie wirklich antreten müßtenn, um zu debattieren, kneift. Ich kann dies nicht anders nennen —
— Ja nun, das entspricht dem Wortlaut einer Presseerklärung, die Sie vertrieben haben. Nun kneifen Sie nicht! Ich halte ein solches Verhalten, sich hier nicht der Debatte zu stellen und hier nicht die Auseinandersetzung zu führen und draußen das große Wort zu führen, für unaufrichtig und feige.
Herr Staatssekretär, ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß im Gespräch eines Vertreters der Bundesregierung zum Parlament das Wort „kneifen" nicht am Platze ist.Meine Damen und Herren, wird des weiteren das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Ich schließe die Aussprache und schlage Ihnen vor, den Antrag unter Punkt 4 b an den Ausschuß für Forschung und Technologie und für das Post- und Fernmeldewesen zu überweisen. — Widerspruch erfolgt nicht; es ist so beschlossen.Ich rufe Punkt 5 der Tagesordnung auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vorbereitung der Gebäude-, Wohnungs- und Arbeitsstättenzählung 1975— Drucksache 7/1662 —a) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 7/1836 —Berichterstatter: Abgeordneter Möller
b) Bericht und Antrag des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
— Drucksache 7/1835 —Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Klein
Ich danke den Berichterstattern, den Abgeordneten Möller und Dr. Klein (Stolberg), für ihren Schriftlichen Bericht.Ich rufe in zweiter Beratung die §§ 1 bis 8 sowie Einleitung und Überschrift auf. — Das Wort wird nicht gewünscht. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Es ist so beschlossen.Wir kommen zurdritten Beratung.In der allgemeinen Aussprache wird das Wort nicht begehrt. Wer dem Gesetzentwurf in der Schlußabstimmung zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Ich sehe keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Keine Enthaltungen; einstimmig angenommen.Ich rufe Punkt 6 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung kohlerechtlicher Vorschriften— Drucksache 7/1770 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für WirtschaftAuf Begründung und Aussprache wird verzichtet. Ich schlage Überweisung an den Wirtschaftsausschuß vor. — Widerspruch erfolgt nicht; es ist so beschlossen.Ich rufe Punkt 7 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 5. Oktober 1973 zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl einerseits und der Republik Finnland andererseits— Drucksache 7/1778 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Wirtschaft Auswärtiger AusschußAuf Begründung und Aussprache wird verzichtet. Ich schlage vor, den Gesetzentwurf an den Ausschuß für Wirtschaft — federführend — und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuß zu überweisen. — Widerspruch erfolgt nicht; es ist so beschlossen.Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 27. Mai 1971 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Togo über den Luftverkehr— Drucksache 7/1779 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für VerkehrAuf Begründung und Aussprache wird verzichtet. Ich schlage vor, den Gesetzentwurf an den Ausschuß für Verkehr zu überweisen. — Widerspruch erfolgt nicht; es ist so beschlossen.Ich rufe Punkt 9 der Tagesordnung auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Dr. Walz, Pfeifer, Dr. Gölter, Lenzer, Pfeffermann, Hussing, Dr. Jenninger, Schulte und Genossenbetr. Einbeziehung der Finanzierung des Programms „Studium in den USA" in die Offset-Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten von Amerika— Drucksache 7/1726 —
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5848 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Vizepräsident Dr. JaegerÜberweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Auswärtiger AusschußDas Wort zur Begründung des Antrags hat die Abgeordnete Frau Dr. Walz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Ihnen vorliegende Antrag betreffend Einbeziehung der Finanzierung des Programms „Studiums in den USA" in die Offset-Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten steht in enger Verbindung zu zwei Kleinen Anfragen meiner Fraktion. Die Kleinen Anfragen betreffend Förderung des Studiums in den Vereinigten Staaten und Intensivierung des deutschamerikanischen Jugendaustausches sind inzwischen von der Bundesregierung beantwortet worden.Antrag und Kleine Anfragen sind politisch wie bildungspolitisch wichtig — wie wichtig, das haben uns die Meldungen der letzten Wochen gezeigt: politisch, weil das deutsch-amerikanische Verhältnis neuer Impulse und der Ausräumung leichtfertig herbeigeführter Mißverständnisse bedarf; bildungspolitisch, weil Informationen der Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen in Dortmund besagen, daß sich die Lücke zwischen den verfügbaren Studienplätzen und der Zahl der erwarteten Studenten bis zum Jahr 1978 trotz des Ausbaus der Hochschulen weiter vergrößern wird.Aus diesem Grund müssen wir die Antwort der Bundesregierung, vor allem die des Herrn Bundesministers für Bildung und Wissenschaft, auf das äußerste bedauern. Sie ist in jeder Beziehung unbefriedigend und in der gegenwärtigen Situation politisch wie bildungspolitisch beinahe ein Skandal, besonders weil die Beanwortung von Frage 1 entweder eine bewußte Verzerrung des Schwarz-Schilling-Plans ist oder die völlige' Unkenntnis des Urhebers der Antwort verrät. So einfach sollte sich der zuständige Minister die Frage der möglichen Einschränkung des Numerus clausus nicht machen.Wie anders als voreingenommen oder von geringer Sachkenntnis zeugend können etwa Aussagen der Antwort von Minister Dohnanyi bewertet werden wie z. B., daß die Bundesregierung ein Studium von deutschen Abiturienten in den Vereinigten Staaten ich zitiere mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten — „in einer Größenordnung, wie sie Dr. Schwarz-Schilling erwägt, für unerwünscht und undurchführbar hält"? Wenn der Herr Minister natürlich falsche Studentenzahlen, falsche Studiengänge, falsche Verweildauer, falsche Austauschuniversitäten und einen falschen Finanzierungsschlüssel zugrunde legt, dann kann man nur — verzeihen Sie, wenn ich das so ausdrücke von einer sehr törichten Antwort sprechen.
Das rege Interesse und der beachtliche Stellenwert, den das Projekt des Generalsekretärs der CDU Hessen, deutsche Abiturienten zur Entlastung unserer Hochschulen zum Studium in die USA zu schicken — nirgendwo hat Herr Schwarz-Schilling übrigens behauptet, wie es in der Antwort auf die Kleine Anfrage steht, daß „allen deutschen Studienbewerbern, die an Hochschulen der Bundesrepublik keinen Studienplatz finden, eine 'Studienmöglichkeit an amerikanischen Universitäten und Colleges angeboten werden soll" —, in den Vereinigten Staaten erfährt, wird bei der Bundesregierung, so gut es geht, heruntergespielt.
Dieses Projekt hat den verantwortlichen Bundesminister für Bildung und Wissenschaft darüber hinaus offenbar so verunsichert, daß er seine Zuflucht in persönlicher Diffamierung suchen zu müssen glaubte. So hat Herr Dohnanyi etwa in einer Sendung des „Deutschlandfunks" — „Student als Kukkucksei" — vom 10. September 1973 behauptet — ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident —:Ich bin persönlich der Meinung, daß Herr Schwarz-Schilling hier für sich eine große Propaganda getrieben hat, während man von der Sache her eigentlich nicht sagen kann, daß seine Sondierungen sehr viel zur Lösung des Numerus-clausus-Problems in der Bundesrepublik beigetragen haben.Sie sollten ja auch erst dazu beitragen; nur will das der Herr Minister nicht wahrhaben.Niemand verkennt die Schwierigkeiten, die der Verwirklichung dieses Vorschlages im Wege stehen. Aber muß denn jedes Projekt, das auf den ersten Blick etwas ungewöhnlich erscheint und dessen Durchführung einiges an Arbeit und unkonventioneller Kooperation erfordert, von vornherein auf Ablehnung stoßen oder ist es hier nicht so, daß der zuständige Ressortminister diesem Plan deswegen so negativ gegenübersteht, weil er ihn nicht selbst erfunden hat und dafür ein zweisemestriges Studium der Anglistik oder Amerikanistik propagiert, das später auch auf andere Fachbereiche erweitert werden soll, und zwar gerade auf solche, von denen — wie merkwürdig — auch Schwarz-Schilling spricht?Zu diesen Schwierigkeiten, über die vernünftige Vereinbarungen erzielt werden müssen, zählen die diffizilen Fragen der Äquivalenz der Examen und deren Anerkennung in der Bundesrepublik Deutschland. Hier sind bei uns neue Anstöße im Bereich der internationalen Hochschulpolitik überfällig. So wird man z. B. die in der Bundesrepublik praktizierten Auswahlverfahren mit Blick auf die amerikanischen Testverfahren überprüfen müssen. Auch die Einschätzung amerikanischer Diplome wie bachelor of arts oder master of arts wird nötig sein.Probematisch bleiben weiterhin die unterschiedlichen Ausbildungsstandards der beiden Länder. Hier wird man noch Lösungen suchen müssen. Abmachungen dieser Art sind jedoch überfällig — wie auch übrigens in der Europäischen Gemeinschaft ---, so ,daß es schon ein Gewinn wäre, wenn der Plan eines Studiums für deutsche Abiturienten in den USA nichts anderes bewirken würde, als daß man solche Überlegungen überhaupt anstellt.Hier hat inzwischen jedoch das Land Rheinland-Pfalz und sein Kultusminister Bernhard Vogel auf
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5849
Frau Dr. WalzGrund eines verbesserten Pilot-Programms der Georgetown-University bereits die Initiative ergriffen, um in den zuständigen Gremien der Ständigen Konferenz der Kultusminister die notwendigen Änderungen und Vereinbarungen durchzusetzen. Anfang April stehen 'diese Probleme auf 'der Tagesordnung der KMK, nachdem eine Experten-Kommission bereits eine Reihe von Problemen geklärt hat und sich die Länder Bayern und Baden-Württemberg Rheinland-Pfalz ,angeschlossen haben. Ich nehme übrigens an, daß sich auch einige SPD-Länder diesem Vorhaben anschließen werden.
Neben diesen ,durchaus nicht leicht zu nehmenden, aber immerhin lösbaren Fragen wurde in der Diskussion bisher — auch die Bundesregierung hat das immer wieder betont — •ständig 'das Problem der Finanzierung als Hindernis für eine Realisierung eines solchen Projekts bezeichnet. Aber hier sind nun die ersten Schritte unternommen worden. Das Land Rheinland-Pfalz hat im Bundesrat die Initiative ergriffen, um das Bundesausbildungsförderungsgesetz — BAFÖG — zu ändern, das zwar die Möglichkeit — sehr erstaunlicherweise! — eines Studiums in Paris, Rom oder auch Moskau
mitberücksichtigt, ein Studium in den USA und Kanada aber nicht.Am 15. November 1973 hat der amerikanische Senator Bill Brock vor dem Kongreß das Projekt „Studium in den USA" als eine „gewaltige Chance" für die Vereinigten Staaten bezeichnet. Die Vorteile, die der Senator aufzählte, sind für die amerikanischen Universitäten, die gegenwärtig einen Überhang von 600 000 bis 700 000 freien Plätzen haben, nicht unbeträchtlich, und es sind zum Teil klare finanzpolitische Gründe, wenn das Projekt „Studium in den USA" zu einer besseren Auslastung der Hochschulkapazitäten des Landes und damit zu einer Verringerung der finanziellen Probleme der amerikanischen Universitäten führen würde, die in Amerika für das Projekt sprechen. Entsprechend regte der Senator Bill Brock in seiner Rede vor dem amerikanischen Kongreß an, die dafür entstehenden Kasten —
— Ich bin sofort fertig; es sind immer noch zwei Minuten bis 9 Uhr, und bis 9 Uhr war für mich die Redezeit vorgesehen.
— Um so besser. Das höre ich sehr gern, was Sie dazu sagen.
— Wenn Sie mich nicht unterbrechen würden, wäre ich schon fertig; denn Sie sehen ja, daß ich mich sehr beeile. Bei maximal zirka 20 000 bis 25 000 Studenten wären immerhin ungefähr 250 bis 300 Millionen DM in die Devisenausgleichsverhandlungen für die Stationierung der amerikanischen Truppen in der Bundesrepublik Deutschland 'einzubeziehen.Nachdem diese Initiative im amerikanischen Kongreß Zustimmung gefunden hat, wäre es sicherlich im deutschen Interesse, mit den Devisengeldern, auf die Sie es ja sonst immer so 'abgesehen haben, in den Vereinigten Staaten nicht nur Rüstungsgüter zu kaufen, sondern auf diese Weise auch ein kulturpolitisches Programm mitzufinanzieren. Es würde einem deutschen Bedürfnis Rechnung getragen und außerdem amerikanischen Universitäten geholfen. Einem ausgewählten Teil der vom Numerus clausus Betroffenen könnte geholfen werden, ähnliche Zustände bei uns in den 80er Jahren könnten verhindert werden.Ob die Bundesregierung auf diese Vorschläge bei den Offset-Verhandlungen eingegangen ist, wissen wir nicht; es ist nicht festzustellen. Allerdings waren erste Reaktionen aus dem Bundesministerium für Finanzen unserer Anfrage gegenüber durchaus positiv, aber wie so häufig in letzter Zeit widersprechen sich die Mitglieder dieser Regierung, in diesem Fall Herr Schmidt und Herr von Dohnanyi. Aber auf Einsicht ist ja immer noch zu hoffen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Meinecke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe im Namen der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion nur eine kurze Erklärung zu diesem Antrag hier abzugeben.Ausgangspunkt des Antrages ist die Idee des hessischen Landtagsabgeordneten Dr. Schwarz-Schilling, in großem Umfang deutsche Abiturienten zum Studium in die USA zu schicken. Die CDU/CSU-Abgeordneten, die diesen Antrag eingebracht haben, glauben, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.Mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen will — wörtlich nach der Übersetzung — allerdings der Senator Brock, der diese Initiative eingeleitet hat. Er hat dazu gesagt: Erstens soll man den teilnehmenden Schulen eine Aufbesserung ihrer Finanzen zugute kommen lassen. Zweitens wäre es ein kultureller Gewinn für die Vereinigten Staaten. Drittens — und in erster Linie — wäre Ausgangspunkt die negative amerikainsche Zahlungsbilanzsituation. Diese Einzelinitiative eines Senators, auf die Sie in dem Vorwort zu Ihrem Antrag verwiesen haben als eine gleichrangige oder vergleichbare Initiative, ist also, wenn man so will, nur eine Einzweiundvierzigstel-Initiative; denn hier haben immerhin einige mehr unterschrieben. Aus der Begründung des Senators, der im übrigen Gesetzesvorlagen angekündigt hat, die er dann einbringen wollte und bis heute nicht eingebracht hat,
geht hervor, daß die wesentlichste und die wichtigste Betrachtung die amerikanische Zahlungsbilanz ist. Er begründet das so: 50 000 oder 500 000 Studenten aus Europa in Amerika bedeuten gleichzeitig einen Ausgleich für 50 000 oder 500 000 Soldaten in Europa. Das sind also die Gründe dieses
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5850 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974
Dr. Meinecke
Herrn Senators, nicht des amerikanischen Kongresses. Wohlgemerkt, es sind hier sehr viele unklare Fragen. Frau Dr. Walz hat darauf hingewiesen. Ich möchte das nicht alles wiederholen. Es ist in der Tat so, daß völlig ungeklärt ist, wie bei Studienleistungen, Prüfungen und Abschlüssen ,die Anforderungen der amerikanischen Hochschulen auf die Studienanforderungen in der Bundesrepublik übertragen werden können.
Wir haben die Absicht, daß man erst einmal einen vernünftigen Plan für vergleichbare Studiengänge erarbeiten sollte, dann den Austausch beraten und dann in die Probleme der Finanzierung eintreten sollte, während Sie die Finanzierungsprobleme im Anschluß an diesen Vorschlag des Senators als Ausgangspunkt Ihrer Initiative aufgreifen.
Gleichwohl, um den Antrag und die Idee des Herrn Dr. Schwarz-Schilling und auch die Person des Bundeskanzlers, den Sie ja in seinen Äußerungen zitiert haben, ausreichend zu würdigen, sind wir bereit, einer Ausschußüberweisung zuzustimmen und die Gesamtproblematik im einzelnen dann dort zu erörtern.Herr Präsident, erlauben Sie mir nach dieser offiziellen Stellungnahme der SPD-Bundestagsfraktion nur noch die ganz kurze persönliche Bemerkung, daß ich den Antragstellern dafür dankbar bin, voreiner allzu voreiligen negativen Beurteilung dieses Antrages als „Rattenfänger"-Antrag noch gestern nacht in den Genuß des Nachlesens des Märchens vom Rattenfänger von Hameln gekommen zu sein.
Das Wort hat der Abgeordnete Hoffie.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich weiß nicht, Frau Dr. Walz, ob Sie angesichts der kurz bemessenen Zeit eine so ausführliche Rede gehalten haben, weil Sie Ihre eigene Fraktion überzeugen wollten, die diesen Antrag nicht mit unterzeichnet hat.
Ich möchte wie der Kollege Meinecke für die SPD für die Fraktion der Freien Demokraten unterstreichen, daß wir willens sind, jede Möglichkeit zur Reduzierung der Probleme des Numerus clausus voll auszuschöpfen. Insoweit prüfen wir nicht erst seit den Verlautbarungen von Herrn Schwarz-Schilling die Möglichkeiten einer Intensivierung des Auslandsstudiums deutscher Studenten.
Da der Kollege Dr. Meinecke die Einzelprobleme bereits skizziert hat, beschränke ich mich auf den Hinweis, daß nicht nur die Graduiertenförderung und das BAFÖG stark tangiert werden, sondern daß auch die Frage der Äquivalenzen im weitesten Sinne den Vorschlag Ihrer Gruppe höchst fragwürdig erscheinen läßt. Dies wird im Ausschuß zu überlegen sein.
Wir stimmen daher der Überweisung des Antrags zu.
Meine Damen und Herren! Das Wort wird nicht mehr gewünscht. Ich schließe die Aussprache.Ich schlage Ihnen vor, den Antrag an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft — federführend — und an den Auswärtigen Ausschuß — mitberatend — zu überweisen. — Widerspruch erfolgt nicht; es ist so beschlossen.Ich rufe Punkt 10 der Tagesordnung auf:a) Beratung des Antrags des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung betr. überplanmäßige Investitionsdarlehen an die Deutsche Lufthansa AG bei Kapitel 12 17 Titel 831 01— Drucksachen 7/1454, 7/1783 —Berichterstatter: Abgeordneter Müller
b) Beratung des Antrags des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung betr. Einwilligung in außerplanmäßige Haushaltsausgaben bei Kap. 08 06 Tit. apl. 831 07 (Erwerb von Beteiligungen an der Gelsenberg AG)— Drucksachen 7/1512, 7/1786 — Berichterstatter: Abgeordneter Grobeckerc) Beratung des Antrags des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung betr. außerplanmäßige Haushaltsausgabe bei Kap. 08 06 Tit. apl. 831 08 (Kapitalzuführung an die VIAG)— Drucksachen 7/1635, 7/1787 — Berichterstatter: Abgeordneter GrobeckerEs wird von den Berichterstattern und aus dem Hause das Wort nicht gewünscht. — Ich stelle fest, daß das Haus Kenntnis genommen hat.Ich rufe Punkt 11 der Tagesrdnung auf:Beratung der Ubersicht 6 des Rechtsausschusses über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht— Drucksache 7/1790 —Der Ausschuß schlägt vor, von einer Äußerung oder einem Verfahrensbeitritt zu den Streitsachen, die hier vorgelegt worden sind, abzusehen. — Es erhebt sich kein Widerspruch; es ist so beschlossen.Ich rufe Punkt 12 der Tagesordnung auf:Beratung des Berichts und Antrags des Haushaltsausschusses zu der vom Europäischen Parlament zur Unterrichtung vorgelegten Entschließung mit der Stellungnahme des Europäischen Parlaments zu der Mitteilung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an den Rat über die Ver-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. März 1974 5851
Vizepräsident Dr. JaegerStärkung der Haushaltsbefugnisse des Europäischen Parlaments— Drucksachen 7/1262, 7/1780 —Berichterstatter: Abgeordneter Carstens
Ich danke dem Berichterstatter, dem Abgeordneten Carstens , für seinen Schriftlichen Bericht. — Das Wort wird nicht gewünscht. — Widerspruch erhebt sich auch nicht. Ich stelle fest, daß das Haus zugestimmt hat.Ich rufe Punkt 13 der Tagesordnung auf:Beratung des Antrags des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung betr. Leistung einer überplanmäßigen Ausgabe bei Kap. 60 05 — Bundeshilfe für Berlin — Drucksachen 7/1341, 7/1781 Berichterstatter: Abgeordneter KulawigDas Wort wird weder vom Berichterstatter noch von jemand anderem aus dem Hause gewünscht. Ich stelle fest, daß das Haus dem Antrag zustimmt.Ich rufe Punkt 14 der Tagesordnung auf:Beratung des Antrags des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung betr. Beitrag an die Vereinten Nationen; hier: grundsätzliche Einwilligung in eine überplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1973 bei Kapitel 05 02 Titel 686 30— Drucksachen 7/1415, 7/1782 Berichterstatter: Abgeordneter KulawigDer Berichterstatter wünscht nicht das Wort. — Aus dem Hause wird es auch nicht gewünscht. — Ich stelle fest, daß das Haus zustimmt.Ich rufe Punkt 15 der Tagesordnung auf:Beratung des Antrags des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung betr. Veräußerung einer 22 ha großen Teilfläche des bundeseigenen Geländes in Wiesbaden-Freudenberg an die Landeshauptstadt Wiesbaden— Drucksachen 7/1478, 7/1784 — Berichterstatter: Abgeordneter GrobeckerDer Berichterstatter wünscht nicht das Wort. — Es wird auch aus dem Hause nicht gewünscht. — Ich stelle fest, daß Sie zugestimmt haben.Punkt 16 der Tagesordnung:Beratung des Antrags des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung betr. bundeseigenes Grundstück in Berlin-Spandau; Veräußerung an das Land Berlin— Drucksachen 7/1479, 7/1785 —Berichterstatter: Abgeordneter GrobeckerDas Wort wird weder vom Berichterstatter noch aus der Mitte des Hauses gewünscht. — Ich stelle fest, das Haus hat zugestimmt.Ich rufe Punkt 1.7 der Tagesordnung auf:Beratung des Berichts und Antrags des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit zu dem Vorschlag einer Richtlinie des Rates zur 10. Änderung der Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für konservierende Stoffe, die in Lebensmitteln verwendet werden dürfen— Drucksachen 7/1471, 7/1788 Berichterstatter: Abgeordneter Dr. HammansIch danke dem Berichterstatter, dem Abgeordneten Dr. Hammans, für seinen Schriftlichen Bericht. — Das Wort wird nicht gewünscht. Wer dem Antrag des Ausschusses zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Keine Gegenstimmen! Enthaltungen? — Eine Enthaltung! Ich stelle fest, Herr Abgeordneter Dr. Mertes hat sich der Stimme enthalten. Sonst einstimmig angenommen.Meine Damen und Herren, wir stehen am Ende der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung auf morgen, Freitag, den 22. März, 9 Uhr ein.Die Sitzung ist geschlossen.