Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Die folgenden amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Bundesminister der Finanzen hat am 25. Mai 1970 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Leicht, Dr. Pohle, Dr. Althammer, Strauß und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU betr. Entwicklung der Bundesfinanzen im Rechnungsjahr 1969 und Haushaltsführung des Bundes im Rechnungsjahr 1970 — Drucksache VI/ 762 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/ 848 verteilt.
Der Staatssekretär im Bundesministerium für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen hat am 25. Mai 1970 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Lemmrich, Schmitt , Engelsberger, Dr. Jobst, Vehar und Genossen betr. Wegekosten — Drucksache VI/ 733 — beantwortet. Sein Schreiben wird als -Drucksache VI/ 849 verteilt.
Ich rufe Punkt 19 der gedruckten Tagesordnung auf:
Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU betr. Deutschland-, Ost- und Europapolitik
— Drucksachen VI/ 691, VI/ 757 —
Die Regierung hat die Große Anfrage schriftlich beantwortet. Die Fraktionen sind sich darüber einig, daß sofort in die Aussprache eingetreten werden soll. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Sitzung in einer Woche, die ursprünglich sitzungsfrei sein sollte, wurde von der Koalition und von der Regierung beantragt, damit wir hier einen Bericht über Kassel hören. Die Sitzung findet statt; es gibt keinen Bericht über Kassel. Die Regierung verspürt auch nicht ,das Bedürfnis, die schriftliche Antwort auf unsere Große Anfrage mündlich zu ergänzen und das erste Wort zu nehmen. Dies, Herr Bundeskanzler, ist nicht mehr Demokratie, sondern weniger. Oder haben Sie etwas zu verschweigen? Das ist die Frage.
Zunächst zu Kassel. — Lachen Sie mal weiter im Laufe der Debatte, meine Damen und Herren. Es hat sehr oft so angefangen, daß da hinten gelacht wurde, und am Schluß waren Sie ganz interessiert an denInformationen, die Sie dann wenigstens aus dem Munde der Opposition entgegengenommen haben.
Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU hat das Treffen in Kassel unterstützt, damit alles versucht wird, im Interesse der Menschen, des Friedens und der Selbstbestimmung Fortschritte in Deutschland zu erreichen. Wir bedauern, daß sich für die Menschen in beiden Teilen Deutschlands Erleichterungen noch nicht ergeben haben. Wir stellen fest, daß nicht Entspannung, sondern Verhärtung das bisherige Ergebnis dieser Bemühungen ist.Bei dem Treffen in Kassel hat sich erneut herausgestellt, .daß der Ministerpräsident Stoph bei seiner Politik „Alles oder nichts" oder, genauer gesagt: alles für ihn und nichts für uns, bleibt. In ultimativer Form hat die DDR unerfüllbare Bedingungen und Forderungen, insbesondere nach Veränderungen i n der Bundesrepublik Deutschland, gestellt.Mit den äußeren Begleitumständen will ich mich nicht aufhalten, obzwar wir unsere Unterstützung, Herr Bundeskanzler, abhängig gemacht haben von sorgfältiger Vorbereitung, von der wohl nicht die Rede sein kann.. Der ganze Ablauf war kein Ruhmesblatt. Die Unterstützung dieses Treffens bedeutet nicht, daß das, was dort geschah und wie es geschah, außerhalb der Kritik bleibt.
Dazu möchte ich mich jetzt äußern.
Erstens. Herr Bundeskanzler, was ist in der Mittagszeit des 21. Mai passiert? Welche Argumente, welche Angebote der DDR und welche darauf gegründeten Erwartungen, Vermutungen und Hoffnungen von Ihnen haben Sie veranlaßt, über Mittag Ihre Meinung zu ändern? Sie haben, Herr Bundeskanzler, verschiedentlich und in aller Form vor diesem Deutschen Bundestag erklärt: „Eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR kommt für uns nicht in Betracht." Sie haben hierfür viele gute Argumente vorgetragen, von denen zwei uns besonders beeindruckten, nämlich einmal, daß die Spaltung Deutschlands nicht rechtlich für alle Zeiten festgeschrieben werden dürfe, und zum anderen der Hinweis darauf, ,daß die vor allem im Interesse Berlins liegende Aufrechterhaltung der Viermächteverantwortung für ganz Deutschland eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR überhaupt nicht zulasse. Entsprechend diesen Auffassungen haben Sie
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2666 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Dr. Barzel in Kassel die Aufrechterhaltung der Viermächteverantwortung betont und in Ihrer Vormittagsrede erklärt: „Wir wollen .die Spaltung Deutschlands völkerrechtlich nicht anerkennen."In Ihrer Nachmittagsrede haben Sie dann — und das ist meine Frage: was ist da über Mittag passiert? — Ihre Politik in dieser lebenswichtigen Frage verändert. Sie haben an die Adresse Stophs erklärt — ich zitiere wörtlich nach dem Bulletin Ihrer Regierung —Wenn wir solche Antworten erhielten, dann wäre ich davon überzeugt, daß sich im Laufe der Zeit auch ,die Frage, die Sie als völkerrechtliche Anerkennung bezeichnen, lösen ließe.Was also, Herr Bundeskanzler, hat Sie veranlaßt, Herrn Stoph gegenüber anders zu sprechen, als Sie sich hier im Bundestag festgelegt hatten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
was man Kommunisten — ohne die Gegenleistung in der Hand — auch nur in Aussicht stellt, das ist doch weg, das ist verbraucht, das ist geschehen.Ich frage deshalb den Kollegen Mischnick, ob dieser Schritt über die Aussagen und Verabredungen der Koalition hinaus vorher von Ihrer Fraktion gekannt und gebilligt war. Ich frage Herrn Genscher und Herrn Ertl und Herrn Scheel, ob sie bereit sind, diesen Schritt über die Koalitionsverabredung hinaus jetzt zu decken. Ich frage Herrn Dahrendorf, wie er gestern — ich zitiere nach den heutigen Mitteilungen der Bundesregierung — noch sagen kann,, es dürfe nichts geschehen, was die deutsche Frage schließe; sie müsse offenbleiben. Dann müssen Sie heute im Kabinett mit Nein stimmen. Ich frage, wie sich das mit der Haltung Ihres Kanzlers vereinbart, den Sie stützen und der die völkerrechtliche Anerkennung nun in Aussicht stellt.Ich muß auch in die andere Richtung sehen. Herr Kollege Mattick, Sie haben zum Wochenende — Sie sind immerhin der Vorsitzende des Arbeitskreises Ihrer Fraktion für solche Fragen — zum Problem der völkerrechtlichen Anerkennung eine Erklärung abgegeben, in der es heißt:In diesem Völkerrecht steckt in der deutschen Situation auch Berlin und stecken die Alliierten, die in Berlin ihre Schutzfunktion ausüben ... und wir dürfen nichts dazu tun, daß sie sie aufgeben. Und da hinein paßt nicht eine völkerrechtliche Anerkennung der deutschen Spaltung. Dann kommt Berlin ins Schwimmen und die Alliierten in Berlin auch.
So weit dieses Zitat, meine Damen und Herren. Dem ist nichts hinzuzufügen als die Frage, ob der Herr Bundeskanzler dieses Argument über Mittag vergessen hat, oder was passiert ist, daß er nachmittags eine andere Position bezog.
Zweitens. Anläßlich des Treffens in Erfurt, Herr Bundeskanzler, haben Sie, wiederum zunächst in der Konsequenz Ihrer Erklärung vor dem Bundestag, gesagt — ich zitiere —:Wir dürfen es nicht unmöglich machen, daß das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung darüber entscheidet, wie es einmal zusammenleben will.Sie haben dann in Erfurt von der „auf das Selbstbestimmungsrecht bezogenen Perspektive" gesprochen, an der sich nichts ändern werde. In Kassel hörte man es anders. In Ihren 20 Punkten von Kassel ist vom Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes nicht die Rede.
Sie wissen wie dieses ganze Haus, daß wir immer erklärt haben: das Selbstbestimmungsrecht des deutchen Volkes ist für uns als Demokraten kein Verhandlungsgegenstand, und wir werden alle Schritte der innerdeutschen und der gesamteuropäischen Entspannung in diesem Bereich daran messen, ob sie zum Selbstbestimmungsrecht hin- oder von ihm wegführen.
Diese Haltung der CDU/CSU ist für uns prinzipiell. Für uns geht es hier nicht nur um Rechtsnormen, sondern um das Selbstverständnis unseres Staates, unserer Demokratie und der menschlichen Existenz,, und — für meine Generation — um die Summe ihrer Lebenserfahrungen.
— Ja, um die Summe meiner Lebenserfahrungen! Soll ich sie Ihnen schildern? Im Unrechtsstaat aufwachsen zu müssen, und dann im Krieg und nach dem Krieg in Not und Trümmern zum erstenmal selbst bestimmen dürfen, was man tun darf: das ist existentiell und nicht aufgebbar, meine Damen und Herren.
-- Für meine Generation! Es gibt andere; die befanden sich in einer anderen Lage; die konnten ihr ganzes Leben lang über sich selbst bestimmen. Wir konnten das nicht, sondern wir waren Opfer von Gewalt und Fremdbestimmung. Deshalb sitzt uns das unter der Haut, Herr Matthöfer.
Das Grundgesetz, Herr Bundeskanzler, ist nicht nur, wie Sie in Kassel sagten, auf die Einheit der Nation, sondern zugleich auf deren Freiheit angelegt. Der Verfassungsauftrag lautet — ich zitiere —:Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.In Ihrer Eigenschaft als Parteivorsitzender, HerrBundeskanzler, haben Sie dann am Samstag oderSonntag versucht, in einer veröffentlichten Erklä-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2667
Dr. Barzelrung hier wieder etwas durch eine Interpretation in Ordnung zu bringen, indem Sie sagten, in Ihrem Text sei an einer Stelle von den Menschenrechten die Rede, und das beinhalte natürlich auch das Selbstbestimmungsrecht.Nun, Herr Bundeskanzler, diese Erläuterung hinterher ist natürlich schon etwas wert. Aber das genügt nicht. Denn idas Selbstbestimmungsrecht ist ein fundamentales Prinzip. Es ist allem übergeordnet und kann nicht im Wege von Interpretationen durch die Hintertür auch noch untergebracht werden.
Wäre es anders, so hätten Sie nicht in Erfurt selbst noch jene eben zitierten Sätze gesagt, die nun in Kassel fehlten.Es kommt hinzu, daß Ziffer 5 Ihrer 20 Punkte lautet ich zitiere —:Beide Seiten respektieren die Unabhängigkeit und die Selbständigkeit jedes .der zwei Staaten in Angelegenheiten, die ihre innere Hoheitsgewalt betreffen.Das heißt doch auch die Respektierung der NichtMenschenrechte im anderen Teil Deutschlands. Oder was soll dies heißen, meine Damen und Herren?
Warum erklärten Sie, Herr Bundeskanzler, in Kassel, und zwar auch erst in Ihrer Nachmittagsrede, nachdem Herr Stoph Sie auf den Art. 7 des Deutschlandvertrags angesprochen hatte, im Deutschlandvertrag sei das Entscheidende der Satz 1, in dem ein friedliches Deutschland gefordert wird? Warum verschwiegen Sie dort in Ihrer Replik den ganzen Artikel, in dem doch auch wieder von der Selbstbestimmung die Rede ist, die ein wesentlicher Gehalt dieser Norm ist? Diese Norm selbst wieder ist doch nur zu interpretieren aus den Grundvorstellungen des Grundgesetzes und aus dem eben zitierten Verfassungsauftrag.Ein Drittes dazu. Wir haben gelesen, daß Walter Ulbricht — wir konnten es am Sonntag lesen — unmittelbar nach Kassel sofort eine weitere Anerkennungsforderung erhob, nachdem er sich offensichtlich der allgemeinen und ersten schon sicher zu sein glaubt. Er fordert, wir sollen anerkennen, daß Westberlin nicht nur eine selbständige politische Einheit sei, sondern daß Westberlin auf dem Territorium der DDR liege; eine Forderung, die in den letzten Jahren so nicht mehr gestellt worden ist. Herr Bundeskanzler, Ulbrichts Konsequenz ist für uns so beunruhigend wie Ihr Entgegenkommen ohne Gegenleistung und das Tempo Ihrer Meinungsänderung.
Zu Ihren 20 Punkten wird aus anderem Anlaß noch viel zu sagen sein. Ich will als letztes dies hinzufügen. Sie empfehlen in Ziffer 4 einen innerdeutschen Gewaltverzicht, und dieser soll nach Ihren Worten die Achtung ,der territorialen Integrität und der Grenzen beider deutscher Staaten umschließen. Ich hoffe, Herr Bundeskanzler, daß Sie damit meinen und wenigstens das in dieser Debatte deutlich machen, daß Gewaltverzicht in Deutschland, so wie die Realitäten nun einmal sind, zunächst heißt: Verzicht auf Gewalt und Schießerei an Mauer und Stacheldraht.
Es wäre gut gewesen, wenn Sie, wie dies Ihr Herr Amtsvorgänger in seinem Schreiben an Herrn Stoph getan hat, diesen Punkt nicht dem weiten Feld von Hinterher-Interpretationen, sondern der klaren Form vorher formulierter Prinzipien zugeordnet hätten.Ich komme, Herr Bundeskanzler — und dies ist wohl nötig, wenn wir uns die Presse der letzten Tage ansehen, und auch nötig, nachdem Sie selbst, anders als noch im März, öffentlich einräumen, daß Erfurt, Kassel, Warschau und Moskau ein Zusammenhang sind —, zu dem Komplex, der in Moskau behandelt wird und über den, wenn Pressemeldungen stimmen, heute nachmittag Ihre Regierung Beschluß fassen wird. Herr Breschnew, Parteichef der Sowjetunion, hat am 6. Mai 1970 in Prag in aller Form erklärt, was er einmal als „Voraussetzung" für bessere Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland mit den sozialistischen Ländern bezeichnet und was zum anderen die „Verhandlungslinie" der Sowjetunion in den gegenwärtigen Gesprächen sei. Sie erinnern sich, daß in unserer letzten Debatte hierzu die Mitteilung über das, was Herr Abrassimow gesagt hatte, einen gewissen Rang hatte. Nun denke ich, daß das, was der KP-Chef der Sowjetunion sagt, von besonderem Rang ist. Da die Regierung hier nicht berichtet, möchte ich diese Dinge in die Debatte einführen.„Voraussetzung" der Verbesserung von Beziehungen sei folgendes — ich zitiere —:Die Interessen der Gesundung der Lage in Europa erfordern eine Unterbindung der gefährlichen Tätigkeit der revanchistischen und neonazistischen Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland. Beide Seiten— das ist aus dem Kommuniqué —bringen die Hoffnung zum Ausdruck, daß die Bundesregierung in ihrer Politik von den europäischen Realitäten ausgehen wird, die im Ergebnis des zweiten Weltkrieges und der Nachkriegsentwicklung entstanden sind, d. h. von der Anerkennung und Achtung der bestehenden Staatsgrenzen in Europa, der Souveränität und Unabhängigkeit der DDR, von der Einstellung der illegalen Tätigkeit in Westberlin, das eine selbständige politische Einheit darstellt, von der Anerkennung, daß das Münchener Abkommen von Anfang an ungültig ist.Das seien „Voraussetzungen" für die Verbesserung der Beziehungen. Was ist nun die „Hauptlinie" der Sowjetunion nach Breschnew? Ich zitiere:Die sozialistischen Staatenund wer sich da der Hoffnung hingibt, sie würden sich unterscheiden, der muß sich das neue Modell des Vertrages zwischen der Tschechoslowakei
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2668 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Dr. Barzelund der Sowjetunion ansehen, wo nun verbrieft ist, daß man einmarschieren darf —
und alle Völker Europas 'bestehen mit gutem Grund auf festen Garantien dafür, daß weder heute noch morgen, niemals, von deutschem Boden die Gefahr einer neuen Agression ausgeht. Dies ist der Sinn und der Geist des historischen Potsdamer Abkommens, dies ist unsere Hauptlinie, darunter auch bei den zur Zeit stattfindenden Verhandlungen mit der Bundesrepublik Deutschland. Wir sind überzeugt, daß die zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Ländern des Sozialismus bestehenden Probleme wirklich nur auf dieser Grundlage gelöst werden können.
Nun weiß jedermann, daß der Vorschlag, hier in Europa Gewaltverzichtsabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und allen europäischen Ländern als einen Schritt zur Entspannung einzuführen, seit vielen Jahren von früheren Bundesregierungen gemacht worden ist. Wir sind nach wie vor bereit, nicht nur Verhandlungen über dieses Thema zu unterstützen, sondern auch deren Ergebnisse zu billigen, wenn dadurch wirklich der Verzicht auf Gewalt erreicht wird. So können Sie es nachlesen in einer einstimmigen Resolution zu allen diesen Fragen, die die Bundestagsfraktion der CDU/ CSU gestern gefaßt hat. Aber offensichtlich geht es jetzt zwischen Moskau und Bonn um ganz andere Fragen. Wir entnehmen wichtigen Pressestimmen die Mitteilung, daß es gar nicht um einen Gewaltverzichtsvertrag geht, sondern „um eine Art Generalvertrag", „um eine Art vorweggenommenen Friedensvertrag" .Was ist denn nun eigentlich los, Herr Bundeskanzler? Wir haben einen Generalvertrag mit den Westmächten. Darin steht: „Wiedervereinigung". Das ist das Ziel. Kommen wir nun zu einem Generalvertrag mit der Sowjetunion mit dem Inhalt: „Keine Wiedervereinigung"?
Sollen dann vielleicht die beiden Verträge nebeneinander rechtsgültig sein, meine Damen und Herren? Soll das beides nebeneinander gelten und als Beweis der Glaubwürdigkeit und der Vertrauenswürdigkeit der deutschen Politik gelten?
Oder soll dies nur der Versuch sein, uns zwischen alle Stühle zu setzen? Art. 7 ist ein verbindliches Ziel. Das ist kein Haken, an dem man verbale Vorbehalte aufhängen kann. Wer dieses verbindliche Ziel außer acht läßt, indem er in Wahrheit Idas Gegenteil tut, der verletzt diesen Vertrag.
Also, Herr Bundeskanzler, was wird nun wirklich in Moskau verhandelt? Wird in diesem Vertrag — und zwar in seinem Text selbst, Herr Bundesaußenminister, und nicht in irgendeiner zwielichtigen und völlig unverbindlichen Weise verbaler Vorbehalte — das unveränderte, friedliche Ziel der Einheit Deutschlands auf der Basis der Selbstbestimmung formuliert sein, so wie es in der Präambel des Grundgesetzes verpflichtend steht, oder wird in dem Vertrag, in welcher Form auch immer, die Anerkennung der Spaltung enthalten sein? Der Verzicht auf die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht in Ihren 20 Kasseler Punkten, Herr Bundeskanzler, und der Versuch, sie dann hinterher noch irgendwie hineinzuinterpretieren, läßt befürchten, daß die Verhandlungslage in Moskau auf diesem Gebiet nicht viel anders ist.Die Präambel des Gewaltverzichtvertragsentwurfs der letzten Bundesregierung ging von dem Ziel aus, die Einheit Deutschlands auf friedlicher und demokratischer Grundlage zu verwirklichen, und sie hatte die Verpflichtung zum Inhalt, für dieses Ziel der deutschen Politik, also die Wiedervereinigung in Freiheit, auf Gewalt als ein Mittel der Politik zu verzichten. Es scheint nun, daß diese Bundesregierung dabei ist, der Sowjetunion gegenüber sehr viel weitergehende Verpflichtungen einzugehen.Ist es richtig, Herr Bundeskanzler, was hier und da zu hören und zu lesen ist, nämlich daß bei den Gesprächen in Moskau auch Themen wie diese eine Rolle spielen und daß es dazu gewisse Absichtserklärungen, Vorhaben, In-Aussicht-Stellungen oder Zusagen Ihrer Regierung gibt oder geben soll oder
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2669
Dr. Barzelgeben wird: Baldige Schritte zur Aufnahme beider deutscher Staaten in die UNO; bevorstehende Verständigung mit der Tschechoslowakei über die Ungültigkeit des Münchener Abkommens; Verankerung aller Gewaltverzichtsverträge, welche die Bundesrepublik Deutschland mit den verschiedenen Ostblockländern trifft, in dem Vertrag mit der Sowjetunion — wenn man so verführe, würde man noch die Hegemonie der Sowjetunion stärken und nicht bilateral auflockern, was Sie hier einmal als ihr Ziel verzeichnet haben —; Grenzerklärungen, die, falls überhaupt, nur im Verhältnis zu Polen und zur DDR bilateral verabredet werden können, auch gegenüber der Sowjetunion oder etwa gar Zusagen, Grenzen nicht nur zu achten, sondern sie auch künftig nicht verschieben oder verändern zu wollen, auch nicht im Wege friedlicher Veränderung und friedlichen Ausgleichs?Haben Sie, Herr Bundeskanzler, gesichert, wer Berlin in der UNO vertreten soll,
falls es zu der doch von Ihnen grundsätzlich beschlossenen Politik der Aufnahme beider deutscher Staaten in die Vereinten Nationen kommen sollte? Ist völlig geklärt, daß die vertraglich verabredete -und vorgesehene Achtung der Integrität von Staaten und Grenzen uns nichts von unserem Recht nimmt, die Wiedervereinigung auf der Basis der Selbstbestimmung zu fordern? Oder darf nur noch Ulbricht die Wiedervereinigung in seinem Sinne fordern?
Gibt es Verabredungen, In-Aussicht-Stellungen oder was auch immer zur Frage der Zugehörigkeit der beiden deutschen Staaten zu ihrem Bündnissystem? Gibt es eine Unverletzlichkeitserklärung für die Gesellschaftsordnungen in beiden Teilen Deutschlands, so wie sie heute sind, von beiden Seiten?Was ist schließlich mit dem angemaßten Gewaltvorbehalt der Sowjetunion gegenüber der Bundesrepublik Deutschland? Ist es richtig, daß die Sowjetunion ihren zu Unrecht erhobenen einseitigen Gewaltvorbehalt auch dann aufrechtzuerhalten gedenkt, wenn Sie einen solchen Vertrag schlössen, und selbst dann, wenn beide deutsche Staaten in der UNO wären? Wo ist, wenn dies stimmt, das deutsche Interesse an dieser Politik, und wo ist die Gegenleistung der Sowjetunion?
Oder sind Sie, Herr Bundeskanzler, etwa bereit, den Verbalismus so weit zu treiben, daß Sie unter der Überschrift „Gewaltverzicht" einen Vertrag unterschreiben, der den Gewaltvorbehalt der Sowjetunion nicht beseitigt, also indirekt bestätigt, aber wesentliche Positionen der deutschen Politik aufgibt? Zu Zeiten der Politik der Großen Koalition schlossen Sie das noch aus. Ich weise Sie auf die Note hin, die im Jahr 1968 als Antwort auf den Vertragsentwurf der Sowjetunion von 1967 übergeben wurde.Der nächste Punkt betrifft Polen. Wir haben hier oft darüber gesprochen, und unsere Position ist klar; sie ist, wie Sie seit gestern sehen können, einstimmig.
— Das werden Sie noch spüren, was das bedeutet.
— Gucken Sie sich mal um in diesem Hause, meine Damen und Herren! Aber ich freue mich, daß Sie doch bisher mit großer Aufmerksamkeit die Informationen, die wenigstens die Opposition Ihnen gegeben hat, angehört haben.
Bezüglich Polen ist unsere Position klar: ja zu Ausgleich und Lösung, nein zu der in sich widerspruchsvollen Formel dieser Regierung, weil das nicht zur Aussöhnung, sondern zu neuem Streit führt.Die Aussöhnung mit Frankreich war hier wirklich ein Vorbild, wie auch Sie immer sagen, Herr Bundeskanzler; nur denken Sie dann auch daran, wie dies geschah. Damals legte man alle Streitfragen— die Saar eingeschlossen — offen auf den Tisch, handelte nicht hinter dem Rücken der Betroffenen, nicht hinter dem Rücken des Parlaments und fand eine für beide Völker annehmbare Lösung. Wodurch? Durch Selbstbestimmung!
Ich kann für meine Fraktion erklären, daß wir voll mit dem übereinstimmen, was am 30. April 1970 hierzu Herr von Kühlmann-Stumm feststellte — ich zitiere —:Sowohl das Potsdamer Abkommen als auch der 1954 abgeschlossene Deutschlandvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Westmächten bestimmen ganz eindeutig, daß die endgültige Festlegung der Grenzen Deutschlands bis zu einer friedensvertraglichen Regelung zurückgestellt wird. Hieran sind Bundesregierung und Bundestag gebunden, ob sie es wollen oder nicht. Meiner Ansicht nach ist es auch nicht sinnvoll, zu weitgehende politische Absichtserklärungen abzugeben. Wir respektieren den Wunsch der Polen, in gesicherten Grenzen zu leben. Wir haben daher auch immer erklärt und sind bereit, in einem besonderen Abkommen zu bekräftigen, daß wir nicht beabsichtigen, die tatsächlichen Verhältnisse mit Gewalt zu ändern. Abgesehen davon dient aber eine Grenzregelung nur dann auf Dauer dem Frieden in Europa, wenn sie den berechtigten Interessen beider Nachbarn Rechnung trägt.
Der beste Weg dazu ist, im Rahmen einer europäischen Friedensordnung die Grenzen durchlässig zu machen, daß sie ihre einengende Bedeutung verlieren. Nur so kann Europa in der Zukunft noch die ihm zustehende Rolle spielen.Dies ist exakt auch unsere Position.
Ein Wort zu Berlin. In dieser Lage sollte die Bundesregierung ernsthaft prüfen, ob unser Vorschlag,
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2670 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Dr. Barzelden Gesprächen der Vier Mächte über Berlin Vorrang einzuräumen, nicht doch erwägenswert ist. Dieser Vorschlag hat den Vorteil, das Risiko der deutschen Politik kalkulierbarer zu machen und zu mindern. Er entspricht der Erkenntnis, daß ohne die Festigung des freien Berlin weder die anstehenden Fragen mit der DDR noch die mit der Sowjetunion gut geregelt werden können.Sollte ,die Bundesregierung beabsichtigen, Herr Bundeskanzler, den Vertrag mit der Sowjetunion abzuschließen, bevor die Gespräche der Alliierten in Berlin zu greifbaren positiven Ergebnissen geführt haben, so würde dies nicht nur gegen frühere Erklärungen der Bundesregierung verstoßen, sondern die Zukunft Berlins gefährden. Ich erinnere nochmals an ,das, was Herr Mattick hier gesagt hat.
In diesen Zusammenhang gehört ein Wort zur Europapolitik; es ist ja gerade aktuell, Herr Bundesaußenminister. In keinem der Punkte, .die ich hier vortrage, bin ich unglücklich, wenn die Bundesregierung aufsteht und hier verbindlich und verpflichtend — das gilt für alles — erklärt, es sei in Wirklichkeit ganz anders. Nur müssen Sie den Verbalismus natürlich beenden; wir wollen nach dem, was wir in Kassel erlebt haben, einmal Papiere sehen, meine Damen und Herren.
Wer Ostpolitik zur Entspannung treiben will, muß sehen, daß ,die Truppen der USA hier bleiben und daß die politische Vereinigung des freien Europa nicht, wie dies der Herr Bundeskanzler tut, zur Sache der nächsten, sondern zur Priorität dieser Generation wird.
Die innere Lage und die weltweite Belastung der USA, die Situation im Mittelmeer, unsere eigenen innenpolitischen Reformprobleme, alles das ruft nach Europa, und zwar jetzt und nicht erst in den nächsten Generationen, meine Damen und Herren.
Wir leugnen nicht, daß die Bundesregierung dabei ist, sich mit aller Entschiedenheit um die Erweiterung der Gemeinschaft zu bemühen. Wir sehen zugleich, daß sie dabei ist, den Motor für den Fortschritt, nämlich die politische Vereinigung, auszubauen.
Wir halten hierzu kritisch folgendes fest:Erstens. Der Bundeskanzler unterschrieb den Sperrvertrag, obwohl zwei wesentliche Voraussetzungen aus dem Bereich ,der Europapolitik nicht geklärt waren. Zunächst war nämlich — und inzwischen wird man ja merken, daß es stimmt, was wir hier schon im November gesagt haben — das Verhandlungsmandat der Europäischen Gemeinschaft gegenüber der Wiener Behörde für die sogenannte Verifikation vorher nicht geklärt. Auch dadurch ist Euratom gefährdet und könnte zusammenbrechen.Das wäre dann weniger Europa und nicht mehr Europa.
Zum anderen hat der Bundeskanzler den Vertrag unterschrieben, meine Damen und Herren, obwohl die Auffassung der Sowjetunion nicht ausgeräumt war, ,daß eine politische Gemeinschaft des freien Europa, der z. B. Kernwaffenstaaten wie Großbritannien und Frankreich und Nichtkernwaffenstaaten wie Italien und Deutschland angehören, Vertragsbruch bedeuten würde, weil dies „indirekte Verfügungsgewalt" sei.Zweitens. Der Herr Bundeskanzler erklärte, er wolle für den Bereich der Wirtschaft die Integration und für die Politik nur die Zusammenarbeit. Vergeblich haben wir ihn am 15. April im Bundestag gebeten, sich für die politische Vereinigung als Ziel dieser Generation auszusprechen, und angeboten, daß dann der Streit aufhört. Er hat dies nicht getan.Drittens. Wir haben Anlaß, davon auszugehen, daß diese Regierung unter politischer Zusammenarbeit zwar alles mögliche, aber .da, wo es darauf ankommt, nur freiwillige Konsultationen versteht. Ist dies Ihre Auffassung, Herr Kollege Scheel, daß die Zeit für verbindliche Konsultationen noch nicht gekommen sei? Darauf hätte ich gern eine Antwort. Und vielleicht geben Sie diesem Hause den Inhalt der Zirkularnote vom Januar bekannt, die Sie in Ihrer schriftlichen Antwort auf unsere Große Anfrage zwar erwähnen, deren Text diesem Hause aber vorenthalten wird.
Viertens. Genauere Beobachter der Brüsseler Szene berichten übereinstimmend, daß die Zurückhaltung der Bundesregierung in allen Fragen der Politischen Union auffalle. Die Beiträge aus Bonn zu diesen Fragen seien so bescheiden und so voller ostpolitischer Rücksichtnahmen, daß an das Entstehen einer politischen Autorität in Europa schon wegen dieser Haltung der gegenwärtigen Bundesregierung nicht zu denken sei.
Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister, nun kommen Sie nicht und sagen, es gebe zu dieser Frage auch in anderen europäischen Kabinetten zurückhaltende Einstellungen! Die Deutschen waren immer — aus eigenem Interesse — der Motor, der Vorreiter für das Ziel der politischen Vereinigung Europas. Unsere Politik bleibt nur glaubhaft, wenn dies so bleibt, wenn unsere Vorschläge immer um ganze Ellen vor denen anderer sind, meine Damen und Herren.
Wir haben immer mehr den Eindruck — das kann man alles hier beantworten, Herr Matthöfer — —
— Herr Matthöfer, Sie sind doch mit mir der Auffassung — nicht nur aus der Kenntnis der Probleme
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2671
Dr. Barzelder Ingenieurschüler, sondern auch der Probleme etwa der Metallindustrie —, daß der Übergang von der Zollunion zur Wirtschafts- und Währungsunion, den wir alle wollen, überhaupt nur möglich ist, wenn es ein Mindestmaß an politischer Gemeinsamkeit gibt, und das muß mehr sein als unverbindliche Konsultationen, sonst hat man den Motor weggenommen.
Also nicht „Musterknabe", sondern Vertreter der Interessen einer guten Zukunft Deutschlands. Und Sie wollen doch ein „modernes Deutschland" schaffen. Das werden Sie ohne politische Vereinigung Europas nicht hinkriegen.
Wir haben immer mehr den Eindruck, daß der Herr Bundeskanzler nicht im Interesse der Beitritte neuer Mitglieder zur EWG handelt; denn die britischen Verantwortlichen — sowohl der Premierminister wie der Außenminister, wie der Oppositionsführer und dessen Schatten-Außenminister — haben doch nicht nur uns, sondern in unserer gemeinsamen Gegenwart ganz klar erklärt, sie wollten gerade das politische Ziel der Vereinigung. Also kann das doch nicht die Rücksicht sein. Wo liegt sie dann wohl, Herr Bundeskanzler?
Welche Visionen von gesamteuropäischer Zukunfthaben Sie, daß Sie die Möglichkeiten der Vereinigung des freien Europa dafür zurückstellen? Das muß dieses Haus einmal wissen!
Kassel hat gezeigt, daß die DDR kein geregeltes Nebeneinander, sonder allein die Festigung ihrer Position zum Kampf um die Veränderung der Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland will. Wie auch sollte Herr Stoph eine andere Politik machen können, wollen und dürfen, als Breschnew sie verkündet?
Meine Damen und Herren, übersehen wir doch nie: was hier als Ostpolitik ausgegeben wird. Das ist doch aus Moskauer Sicht Gegenstand einer konsequenten aggressiven und offensiven Westpolitik der Sowjetunion. Dies darf man doch niemals außer acht lassen. Trotzdem muß man sie machen. Aber man muß die reale Lage sehen, und dazu gehört auch, dem zu folgen, was Herr Mattick so bezeichnet, sich nämlich in der ideologischen Auseinandersetzung mit den Kommunisten wieder etwas munterer zu bewegen.
— Das sind doch Matticks Worte.
Meine Damen und Herren, wir sehen nicht, daß in den anderen ostpolitischen Bemühungen der Bundesregierung — in denen um Berlin, mit Polen, mit der Sowjetunion — die Gesprächspartner gleichfalls, so wie die DDR, zu anderem bereit sind als dazu, von uns die hundertprozentige Erfüllung ihrer Forderungen ohne Gegenleistung entgegenzunehmen.Entspricht die Bundesregierung dem nicht, weil sie sich an das hält, was sie im Bundestag gesagt hat, so wird das alles scheitern. Dann werden die Ost-West-Verhältnisse in den siebziger Jahren härter und angespannter sein, als es in den sechziger Jahren je der Fall war. Erfüllt dagegen die Bundesregierung diese Forderungen, ohne Gegenleistungen zu erhalten, so ist dadurch nicht der Frieden sicherer, sondern allein die Vorherrschaft der Sowjetunion und deren Ausgangsbasis zum Kampf um Deutschland.
Dann dürften viele Europäer denken: arrangieren sich die Deutschen derart, indem sie ihre Positionen wegwerfen, so ist es wohl Zeit, auf Moskau noch mehr Rücksicht zu nehmen. Das wäre fundamental gegen das politische Gleichgewicht in Europa. Es ist keine Frage, daß diese ganze Entwicklung den Abzug der Truppen der USA aus Europa nicht hemmt, sondern fördert und auch dadurch den Frieden nicht sicherer, sondern fragwürdiger macht; denn das amerikanische Engagement würde dann sinken, während der sowjetrussische Einfluß zugleich stiege.Dies ist ein Teil unserer Sorge. Und dies ist unsere Sicht. Die Regierung ist aufgefordert zu antworten. Unsere Sorgen sind dadurch noch angewachsen, daß sich der Kanzler wie der Außenminister geweigert haben, unserer Aufforderung zu entsprechen, heute ein ungeschminktes Bild der Lage und des Standes der ostpolitischen Aktivitäten zu geben.Herr Bundeskanzler, zum Status quo in Deutschland und in Europa gehört, daß die deutsche Frage mit Zustimmung der Westmächte in der Substanz offen ist und offen bleibt. Was aber zur Debatte steht und was vor der Entscheidung Ihres Kabinetts steht — und wenn Sie heute beschließen, was zu erwarten ist, dann ist der Zug abgefahren, meine Damen und Herren —, überwindet nicht Spannung und Spaltung Deutschlands und Europas, sondern macht sie rechtsgültig mit allen politischen Konsequenzen, die ich vortrug.Kein Verbalismus, Herr Bundeskanzler, sollte uns über die Geltung des Rechts und über die Fakten täuschen. Zu den Fakten gehört, daß wir die Worte der Führer der Sowjetunion — ich zitiere einige — ganz ernst nehmen.Und, Herr Bundeskanzler, trotz Ihrer Begabung zum Sowohl-als-auch wird auch Ihnen die Geschichte nicht die Gartenlaubenidylle gestatten, dem Entweder-Oder auszuweichen. Verbal läßt sich zwar sagen, die Konvergenztheorie sei zugleich falsch und richtig. Für die praktische Politik gibt es dazu nur eins, nämlich ja oder nein. Ob Sie, Herr Bundes-
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2672 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Dr. Barzelkanzler, durch Interpretationen und Sowohl-Alsauch in ein besonderes Licht geraten, das ist Ihre Sache. Daß deutsche Politik das rechtlich verbindlich gegebene Wort hält und nicht durch verbalistische Interpretationsakrobatik, etwa unter dem verbalen Vorbehalt des Art. 7 des Deutschlandvertrages und der Präambel des Grundgesetzes, real, also in der Wirklichkeit, das Gegenteil tut, das, Herr Bundeskanzler, ist unser aller Sache.
Ich komme zum Schluß. Wenn die Bundesregierung heute nachmittag beschließt, auf der Basis der Moskauer Sondierungen — ob das noch Sondierungen sind oder etwas sehr viel Weitergehendes, ist ja eine offene Frage — den Herrn Außenminister zu abschließenden Verhandlungen nach Moskau reisen zu lassen, dann beschließt sie — das soll jedermann wissen — die Wendung der deutschen Politik, und dann tut sie dies, ohne zuvor das Parlament unterrichtet, das freie Berlin gefestigt, den einseitigen Gewaltvorbehalt der Sowjetunion wirklich beseitigt, die Zustimmung der Deutschen zur Grenze an Oder und Neiße, zur Zweiteilung Deutschlands und zur Isolierung Berlins eingeholt zu haben.
Diese Politik, deren Inhalt verschwiegen, verschleiert und vernebelt wird und deren Konsequenzen dem deutschen Volk vorenthalten werden, wird zur Veränderung des politischen Gleichgewichts inB) Europa und in Deutschland führen, und zwar zugunsten der Sowjetunion. Weil das weder mehr Freiheit noch mehr Frieden bedeutet, werden wir uns dem widersetzen, und ich denke, wir werden dabei nicht alleine sein als CDU/CSU.
Das Wort hat der Abgeordnete Dorn.
Die Fraktion des Herrn Abgeordneten hat gebeten, ihm eine Redezeit von 45 Minuten zu gewähren. Dies ist geschehen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu den Ausführungen des Kollegen Dr. Barzel möchte ich vier kurze Vorbemerkungen machen.Erstens. Herr Kollege Barzel, jeder, der die politische Entwicklung in dieser Zeit kennt und sie zu beurteilen vermag, wußte von vornherein, daß die Ausgangsposition und die Verhandlungsatmosphäre in Kassel härter sein würde, als sie in Erfurt war,
so daß in dieser Frage auch Sie hätten eigentlich nicht überrascht sein können.
— Entschuldigen Sie, Herr Kollege Marx, ich schätze Sie ja als einen großen Rhetoriker und Zeitungsleser; das haben Sie oft an dieser Stelle bewiesen. Sie haben dann mit Sicherheit auch die Interviews und Artikel gelesen, die von Regierungsmitgliedern und Delegationsmitgliedern vor Kassel geschrieben worden sind. Daraus hätten Sie all das selbst enthehmen können, was Sie hier heute plötzlich in Frage stellen oder kritisierend vermerken wollen.
Die zweite Vorbemerkung. Die Frage der völkerrechtlichen Anerkennung vorab ohne andere Regelungen ist von der Bundesregierung eindeutig beantwortet worden.
— Herr Kollege Stoltenberg, das wissen Sie genauso gut wie ich.
— Dann hätten Sie es zumindest aus dem Zusammenhang meines Satzes erkennen können, weil ich gesagt habe: vorab ohne gleichzeitige Regelung anderer Probleme.
Ich meine, es wäre auch gut, nachdem wir so viele Informationen der Christlich-Demokratischen Union entgegennehmen konnten, daß Sie bereit wären, auch differenzierter zuzuhören.Nun die letzte Vorbemerkung, Herr Kollege Barzel. Sie haben 50 Minuten lang die politischen Kritiken, die die Opposition an der Regierung zu vermerken hatte, angebracht. Gestatten Sie mir nur eine Schlußbemerkung zu Ihren Ausführungen. In diesen 50 Minuten haben Sie nicht eine einzige konstruktive Idee vorgetragen, wie Sie die Probleme geregelt 'hätten.
Nachdem wir schon vor geraumer Zeit hier in diesem Hause mehrfach die Ankündigung der Oppositionsfraktion vernommen hatten, eine Große Anfrage zur Deutschland-, Ost- und Europapolitik solle die Regierung zwingen, ihre politischen Vorstellungen vorzutragen, 'begrüßen wir Freien Demokraten es, daß die Antwort bereits vor den Gesprächen in Kassel vorgelegt wurde. So ist der oft geäußerte, aber völlig unbegründete Verdacht ausgeräumt, diese Bundesregierung wäre nach Kassel gegangen, ohne zuvor ihre Absichten noch einmal klar und eindeutig dem Parlament und den Menschen in beiden Teilen Deutschlands dargelegt zu haben.Ich möchte für die Fraktion der Freien Demokratischen Partei 'in dieser Debatte zwei Dinge vorwegnehmen, die klargestellt werden sollten.
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Deutscher Bundestag -- 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2673
DornErstens. Ihre Fragen — sicherlich auch die Antworten der Regierung - sind im Kern nicht neu. Meine Damen und Herren der CDU/CSU, wir kennen Ihre Argumente zu dem hier angesprochenen politischen Themenkreis nicht erst seit dem Parteitag der Christlich-Sozialen Union, und auch Sie sollten erkennen, daß die Bundesregierung hier mit unserer Unterstützung eine konsequente Politik betreibt, die weder den Marsch ins Abenteuer noch in den Abgrund, wie Herr Strauß in München meinte, darstellt.
Wir geben keine deutschen Ziele auf, sondern wir bemühen uns darum, neue Wege zu gehen, nachdem wir und Sie den Beweis haben, daß die ausgefahrenen Gleise der Hallstein-Doktrin und starrer Formalismus uns in den zurückliegenden Jahren nicht entscheidend weitergebracht haben.
Zweitens. In der Anfrage der CDU/CSU-Fraktion taucht ein interessantes Wort .auf, nämlich „Geheimdiplomatie". Wenn es um Existenzfragen des deutschen Volkes gehe, seien der Geheimdiplomatie Grenzen gesetzt, die jetzt erreicht seien. Nun, Herr Kollege Barzel, ich könnte es mir sehr einflach machen. Vielleicht erinnern Sie sich an Ihren eigenen Ausspruch, Iden Sie in der Aktuellen Stunde des Deutschen Bundestages am 10. Mai 1967 hier getan haben, als wir Freien Demokraten nach der Verhandlungsbereitschaft der damaligen Bundesregierung fragteñ. Ich darf Sie mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren:Wer für die Menschen im ganzen Deutschland etwas Wirksames erreichen will, muß auch schweigen können.
Sie, Herr Kollege Barzel, wissen selber viel zu genau, daß es bei den Verhandlungen Zeiträume gibt, in denen nicht jede Phase auf offenem Markt feilgeboten werden kann. Sie wissen aber auch, daß keine Opposition von der Bundesregierung so gut und so oft unterrichtet worden ist wie die jetzige.
Wir Freien Demokraten, Herr Barzel, haben als Oppositionspartei in ,den Jahren der Großen Koalition in deutschland- und ostpolitischen Fragen oft genug an dieser Stelle durch unseren Fraktionsvorsitzenden um Unterrichtung gebeten. Der damalige Kanzler hat 'das gar nicht erst zur Kenntnis genommen„ geschweige denn unseren Wunsch erfüllt.
Diese von SPD und FDP getragene Regierung will ohne Zweifel etwas für Deutschland erreichen. Sie fühlt sich daher • verpflichtet, die Menschen in Deutschland umfassend zu unterrichten, wie die tatsächliche politische Lage ist und welchen Weg sie gehen will.
Gegen den in der Anfrage erhobenen Vorwurf möchte ich mich für meine Fraktion eindeutig verwahren. — Soweit, Herr Kollege Barzel, meine Vorbemerkungen.
— Herr Kollege Barzel, ich habe absichtlich erklärt— das ist eben .das Problem, daß Sie leider nicht in der Lage sind, richtig zuzuhören —, daß ich, bevor ich zur Sache kommen wolle, zwei Vorbemerkungen mache; und ich habe erklärt, daß hier meine Vorbemerkungen zu Ende sind.
Weil wir das Recht auf Information auch der Opposition sehr ernst nehmen, begrüßen wir es, daß wir wenige Tage nach dem Treffen in Kassel hier die Gelegenheit haben, unseren Standpunkt in den wichtigen Fragen der Nation offen zu diskutieren, und wir erwarten auch von der CDU/CSU, daß sie sich in diesem Hause der sachlichen Diskussion stellt,
damit wir endlich einmal auch die Mißverständnisse— Sie werden schon im Laufe meiner Ausführungen merken, Herr Kollege Rösing, warum ich diesen Satz sage — und Unterstellungen ausräumen können, die durch eine Vielzahl von offiziellen oder halboffiziellen Erklärungen Ihrerseits hervorgerufen worden sind. Ich darf vielleicht an Sentenzen aus der „Wahrheit von München" — wie Kollege Stücklen dieses Organ in einem Zwischenruf hier nannte — erinnern wieDie Deutschland- und Ostpolitik der RegierungBrandt erschöpft sich bisher in Vorleistungen.
— Herr Kollege Czaja, Sie haben ganz besonderen Grund, jetzt einmal zuzuhören —
oder, wie Marcel Hepp in der gleichen Zeitung schrieb:Die Koalition von FDP und SPD wird das historische Verdienst haben, die Bundesrepublik an den Eingang zum Sowjetsystem gerückt zu haben,
über dem eigentlich .die Inschrift von Dantes „Hölle" stehen müßte: „Die, die ihr hier eintretet, laßt alle Hoffnung fahren!"Herr Kollege Ott, jetzt hören Sie bitte zu, was ich dazu zu bemerken habe! Genau dies sind die gefähr-
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2674 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Dornlichen Methoden der Bildung einer neuen Dolchstoßlegende.
Wir alle in diesem Hause wissen, was aus einer Verteufelung der Absichten einer demokratischen Regierung schon einmal in Deutschlands Vergangenheit entstanden ist.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, Herr Präsident, ich möchte genau wie :der Kollege Barzel meine Rede ohne Zwischenfragen beenden.
Wir wissen ,aber auch, daß durch die Politik der Rechtsradikalen in den 30er Jahren der Grundstein dafür gelegt wurde, daß der Einfluß der Sowjetunion so weit über den 'europäischen Bereich ausgedehnt worden ist.
Meine Damen und 'Herren, wir Freien Demokraten sind nicht gewillt, diese Art (der Diffamierung hinzunehmen, weil wir auch durch unseren Anteil an der Gestaltung dieser parlamentarischen Demokratie in Deutschland unsere freiheitliche 'und nationale Auffassung immer wieder in diesem Hause deutlich .gemacht und diese Auffassung auch durch unsere Mitarbeit unter Beweis gestellt haben.
Für die Fraktion der Freien Demokraten darf ich folgendes feststellen. Wir unterstützen die Politik der Bundesregierung gegenüber unseren Verbündeten im Westen wie gegenüber den Gesprächspartnern im Osten, weil wir meinen, daß Europa- und Deutschlandpolitik in einem unlösbaren Zusammenhang stehen. Und es ist eigentlich ein gutes Zeichen, daß auch die Opposition mit der Regierung darin übereinstimmt, daß die deutsche Frage, über die wir heute sprechen, nicht isoliert zu sehen ist, sondern im Rahmen 'einer gesamteuropäischen Politik und einer europäischen Entspannung gesehen werden muß. Wer aber den einen Teil dieses Kontinents jahrelang aus seinen politischen Überlegungen ausgeklammert hat, :darf sich heute 'nicht wundern, wenn neue Ansatzpunkte für Gemeinsamkeiten nur durch .erhebliche Bemühungen zu finden sind.
Mein Fraktionskollege Hans-Dietrich Genscher sah dieses Problem im Jahre 1966 so, als er hier im Hause erklärte:
Eine westliche Deutschlandpolitik, die davon ausgeht, der Schlüssel für die deutsche Frage liege allein in Moskau, ist zutiefst rückschrittlich. Sie klammert sich an die Schablone eines von Moskau dirigierten kommunistischen Blocks.
Osteuropa ist heute eine kommunistische Staatengruppe, die durch mannigfache Verträge und Vereinbarungen verbunden ist,
in der die Sowjetunion eine dominierende Rolle spielt, in der auch Mitteldeutschland einen Platz hat. Wir .stehen in Osteuropa vor dem Scherbenhaufen der engstirnigen Anwendung der Hallstein-Doktrin. Dort, wo noch vor wenigen Jahren die Aufnahme diplomatischer Beziehungen dringend gesucht wurde, ist sie heute nur unter Bedingungen zu haben.
Wir haben den festen Willen, den Verhandlungsspielraum zum Osten nicht unausgefüllt zu lassen, sondern mit Aktivitäten auszufüllen.
Die Bundesregierung schmückt sich auch nicht mit Selbstbelobigungen, wie ,das am 14. März 1968 hier in diesem Hause geschah:
Ist es denn nichts, daß wir dem Regime im anderen Teil Deutschlands gegenüber Angebote von einer fast revolutionären Kühnheit gemacht haben?An diesem Wort des Exkanzlers gemessen, müßtedie Politik der Regierung Brandt/ Scheel selbst einen
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2675
DornCarolus Magnus erbleichen lassen, wenn man daran denkt, was aus der „revolutionären Kühnheit" der früheren Bundesregierung inzwischen geworden ist.
— Den früheren Bundeskanzler Kiesinger, Herr Kollege Strauß.Wie anders argumentiert der. CDU-Vorsitzende heute! Am 23. Mai erklärte er:Ich habe von Kassel nichts anderes erwartet,
um dann fortzufahren:Brandt ist zu weit gegangen, er mußte eine Abfuhr erleben.Nun ist das zwar das Gegenteil von Logik, Herr Dr. Kiesinger, aber es klingt halt sehr schön.
In diesen Tagen hört man oft die Meinung, daß erst, wenn es den Interessen Moskaus entspreche, die Ostpolitik der Bundesregierung zu Ergebnissen kommen werde und nicht einen Tag früher. Diese Kritik müßte eigentlich dazu verführen, keine Gespräche mit der DDR oder mit den Ländern des Ostblocks mehr zu führen, da das ja alles sinnlos ist, weil nur in Moskau der Schlüssel zum Ergebnis liegt. Ich frage Sie allerdings: wie wollen Sie das mit Ihrem Wunsch, für die Menschen in Deutschland etwas zu erreichen, vereinbaren?Nun, die Hallstein-Doktrin und ihre kompromißlose Auslegung ist jetzt bereits Geschichte, und nicht zuletzt durch die Haltung der Freien Demokraten.
Aber die politische Entwicklung der letzten Monate beweist eindeutig, wie richtig die Bundesregierung handelte, als sie mit mehreren Ostblockstaaten gleichzeitig Verhandlungen führte.Herr Dr. Barzel schrieb im vorigen Jahr in der Vierteljahresschrift des Kuratoriums Unteilbares Deutschland, es müsse jetzt endlich Politik gemacht werden, anstatt Debatten in Wolkenkuckucksheimen der Illusionen zu führen.
D'accord, Herr Kollege Barzel. Diese Bundesregierung macht Politik.
Unsere 20 Punkte, die wir in Kassel der DDR vorgetragen haben, sind das Ergebnis der Überlegungen dieser Regierung und ihrer Koalitionsfraktionen.
Unsere Gespräche in Moskau und Warschau sind ebenfall Bestandteil dieser Politik, und zwar einer Politik, die nicht wieder zu einem eisernen Dreieck führen soll, weil es unsinnig ist, zu glauben, man könne im Ostblock den einen Staat gegen den anderen voll ausspielen.Nun ein Wort zu den Formalismen, über die wir mit der Opposition nicht einig sind. Wir Freien Demokraten meinen, unsere Politik darf nicht an der Nomenklatur oder an selbstauferlegten ideologischen Fesseln scheitern. Denken Sie daran, wie schwer es Dr. Kiesinger fiel, die Worte „Gebilde" und „Phänomen" durch die Bezeichnung DDR ohne Gänsefüßchen zu ersetzen.
Wir unterschreiben damit den Satz Bundeskanzler Brandts in seinem Brief vom 18. Februar an den Vorsitzenden des Ministerrats der DDR:Es erscheint mir an der Zeit, den Versuch zu unternehmen, das Trennende zurückzustellen, um das Verbindende zu suchen.
Die Bundesrepublik und die DDR trennen nicht nur zwei unterschiedliche Gesellschaftsformen; das ist auch in Kassel erneut wieder sichtbar geworden.
Nach Frage 1 der Großen Anfrage der CDU/CSU wird die Bundesregierung quasi aufgefordert, künftig nichts mehr zu tun, was die heutige Spaltung stabilisiert oder vertieft. Die Bundesregierung hat diesen Vorwurf entschieden zurückgewiesen. Ich meine, es ist ein Schritt zurück in Ihrer geistigen Haltung, meine Damen und Herren, speziell der CSU — —(Abg. Stücklen: Überlassen Sie uns unseregeistige Haltung!)— Sie meinen, wir können Ihnen keine geistige Haltung unterstellen, Herr Kollege Stücklen?
Es ist ein Schritt zurück, auch bei Ihnen, wenn im Bericht über das Deutschlandforum des Münchener Parteitags hinterher in der schon zitierten „Wahrheit von München" zu lesen ist:Die Zeche für die riskante Politik Brandts wird jeder einzelne Deutsche zahlen müssen.
Die Errungenschaften der Ara Adenauer, Sicherheit und Entscheidungsfreiheit. der Bundesrepublik Deutschland, stehen auf dem Spiel.
Ich frage Sie, meine Damen und Herren: Wollen Sie das aufrechterhalten?
Dies war eine Formulierung von Dr. Barzel unter dem Untertitel: „Hastige Vorleistungen verbauen die europäische Lösung" im „Rheinischen Merkur" vom 8. Mai, ebenso wie die folgende:Der von der Bundesregierung eingeschlagene Kurs erschwert den künftigen Weg zur freien Selbstbestimmung,
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2676 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Dornwenn er ihn nicht gar auf unabsehbare Zeit unmöglich macht,
und er führt zur endgültigen Teilung unseres Landes und Europas.
Meine Damen und Herren von der Christlich-Demokratischen Union, hier ist nicht nur die Zielansprachefalsch; auch der Ton besteht nur aus Dissonanzen.
Der CDU-Vorsitzende hat hier in der Aussprache über den Bericht zur Lage der Nation erklärt:Die Freiheit unserer Landsleute in der Zone und ihr menschenwürdiges Leben sind wichtiger als die bloße mechanische Zusammenfügung der beiden getrennten Teile Deutschlands.
Lassen Sie es mich deutlich sagen: Auch für uns, für die Freien Demokraten, für diese Bundesregierung — und für die Sozialdemokraten gilt das mit Sicherheit —,
auch für uns stehen menschliche Erleichterungen ganz oben auf der Skala der politischen Erfordernisse,
und wir verlieren bei dieser Politik der geduldigen Verhandlung weder das Ziel noch die gesamteuropäische Lösung aus den Augen.
Die sogenannten Vorleistungen sprechen Sie stets nur global, nie detailliert an, weil es sie gar nicht gibt. Denn wo sind sie erbracht? Wo ist die deutsche und europäische Einigung abgeschrieben oder unmöglich gemacht?
Wir erwarten von Ihnen hier klare Aussagen,
und es wäre gut, wenn Sie sich nicht weiter in den Bereich der Unterstellung zurückzögen.
Ich meine, das wäre auch deswegen gut, damit endlich Ehrlichkeit in die innerdeutsche Auseinandersetzung kommt. -
Als einen solchen Beitrag betrachte ich z. B. die - folgenden Ausführungen:Die Deutschlandpolitik der Deklamation, der Rechtsverwahrungen und der Taktik hat keine Erfolge gebracht. Sie hat im Gegenteil in 20, Jahren die Spaltung immer tiefer werden lassen. Versuchen wir es einmal mit einer ganz menschlichen Politik, die auf die Finessen der Juristen kühn verzichtet.
20 Jahre lang haben wir mit den Machthabern drüben nicht ernsthaft gesprochen. Für die unvermeidlichen Verhandlungen haben wir uns komplizierte Hilfslösungen ausgedacht: eine Treuhandstelle für den Interzonenhandel,
einen Beauftragten des Berliner Senats, Organe, die zwar alle ihre Aktionen mit der Bundesregierung abstimmten, wie in jeder Zeitung zu lesen war, deren Konstruktion aber gleichwohl, wie wir meinten, die Bundesregierung aus den innerdeutschen Gesprächen heraushielt. Auf diese Konstruktionen waren wir sehr stolz. Direkte Gespräche mit den Machthabern in Mitteldeutschland wurden von uns mit Emphase abgelehnt, weil diese Machthaber nicht demokratisch legitimiert seien.Die möglichen Versäumnisse der bundesrepublikanischen Deutschlandpolitik liegen also nicht im Bereich der Rußlandpolitik; sie liegen vielmehr im Bereich der Deutschlandpolitik selbst. Der Versuch, Deutschlandpolitik in den herkömmlichen Kategorien der politischen Freunde und Gegner zu betreiben, die Probleme mit Abstimmungssiegen von Mehrheiten über Minderheiten zu lösen, ist trotz 20jähriger Bemühung völlig gescheitert. Auch in der Frage des Schießbefehls und dessen Folgen machen wir es uns zu einfach, wenn wir unsere Haltung auf die Formel bringen: Mord bleibt Mord.
Unsere These, die innerdeutsche Ausreisesperre sei schlechthin nichtig, und deshalb sei auch der Schießbefehl rechtswidrig, ist unhaltbar.
— Unhaltbar, Herr Kollege Schmidt. Und wissen Sie, wer das geschrieben hat? Ihr Fraktionskollege Dr. Dichgans in dem Buch „Das Unbehagen in der Bundesrepublik".
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2677
Dorn— Auch das 'hat er so geschrieben, wie ich es vorgelesen habe, Herr Kollege Stücklen.
Ich will damit nur sagen, daß es auch in Ihrer Partei und Fraktion eine Reihe von Kollegen gibt, die sich etwas mehr an konstruktiven Vorstellungen und Ideen in der deutschlandpolitischen Auseinandersetzung machen, als bei Ihrem Fraktionsvorsitzenden hier heute sichtbar geworden sind.
Ich weiß, Sie hören nicht gern Ihre früheren Aussagen zum jetzigen Zeitpunkt noch einmal. Aber ich glaube, Sie müssen sich immer wieder daran erinnern, wie Sie früher argumentierten. Es ist nicht vertane Zeit, meine Damen und Herren, Protokolle und Reden nachzulesen, sondern vielmehr hochinteressant, weil es für die politische Glaubwürdigkeit auch in diesem Hause und in diesem Lande von großer Bedeutung ist.
So erklärte Herr Dr. Barzel im März 1965 auf dem Bundesparteitag der CDU:Das freie Deutschland muß durch seine geistige, soziale und ökonomische Leistung weiterhin schon dadurch wie selbstverständlich allen Deutschen und aller Welt zeigen, wer für das wahre, wer für das bleibende Deutschlandspricht.
Fiele das je aus, unsere rechtlichen Positionen allein hülfen uns wenig.
Stellen Sie sich einmal vor, Herr Kollege Barzel, wir Freien Demokraten hätten diesen Satz jetzt wiederholt! Was für Vorwürfe würden dann von Ihnen hier erhoben werden über verschenkte Rechtstitel, über Rechtspositionen und Rechtsansprüche, weil wir kein Zutrauen zu unserem Recht hätten!
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, danke. Ich gestatte keine Zwischenfrage.
— Herr Kollege Rasner, wissen Sie, wenn ich Ihre Zwischenrufe hier beantworten wollte, müßte ich mich auf ein Niveau begeben, das für mich nicht zur Diskussion steht.
Wir erklären aber demgegenüber: Wir bleiben dabei, daß die Alliierten zum Deutschlandvertrag stehen und daß niemand diese Rechte einseitig interpretieren kann. Wir werden nichts unternehmen, um eine veränderte Situation in diesem Sinne zu schaffen. „Ausverkauf" oder „Verschenken" nationaler oder deutscher Interessen — diese Worte verweisen wir in den Bereich des Demagogischen,
weil sie der Gipfel der unwahren Behauptungen sind und auch durch ständige Wiederholung nicht an Wahrheitsgehalt gewinnen.
Aber, meine Damen und Herren von der Opposition, Sie sollten sich auch im Hinblick auf diese Formulierungen an Ihre eigene Politik erinnern, wenn von Vorleistungen in der deutschen Politik gesprochen wird. Ich sage das. in vollem Ernst, wenn ich in diesem Zusammenhang notwendigerweise an zwei Aussprüche Ihres früheren Parteivorsitzenden Dr. Konrad Adenauer erinnere. Laut „Newsweek" vom 30. August 1954 sagte er zu dem französischen Politiker Mendès-France:Sie verlieren nichts, wenn Sie die deutsche Einheit opfern, aber ich. Doch wir sind bereit, sie zu opfern — --- Herr Kollege Barzel, hören Sie zu!
— — Doch wir sind bereit, sie zu opfern, wenn wir in ein starkes westliches Lager eintreten können.
Und nach einem Bericht der englischen Wochenzeitung „Sunday Dispatch" erklärte Adenauer gegenüber Francois-Poncet:Vergessen Sie bitte nicht — —
— Entschuldigen Sie, über meine politischen Vorstellungen und die der Freien Demokraten habe ich in dieser Rede weiß Gott mehr ausgeführt, als Sie zur Sache überhaupt sagen konnten.
Und trotzdem, glauben Sie nicht, daß Sie dieses Zitat erspart bekommen, auch nicht durch noch so pointierte Zwischenrufe. Konrad Adenauer erklärte gegenüber François Poncet: „Vergessen Sie bitte nicht, daß ich der einzige deutsche Kanzler bin, der die Einheit Europas der Einheit seines Landes vorzieht."
Ich glaube nicht, daß man bei den Diskussionen über Vorleistungen an diesen Überlegungen und Entscheidungen des früheren CDU-Vorsitzenden vorbeigehen kann. Ich überlasse es Ihnen selbst, aus Ihrer Politik der Vergangenheit und Gegenwart Ihre Konsequenzen zu ziehen.
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2678 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
DornMeine Damen und Herren, ich muß aber auf die Angriffe antworten, die von der Opposition an die Adresse meiner Partei und meiner Fraktion gerichtet sind. So erklärte der Kollege Dr. Schulze-Vorberg am 19. Mai in der „Abendpost": „In dieser Regierung weiß leider die Rechte nicht, was die Linke tut."
Zunächst müßte man einmal wissen, wie der Kollege dieses „rechts" und „links" interpretiert.
Links, das haben wir doch gestern hier noch einmal sehr deutlich gespürt, links von Herrn Lücke und einigen anderen in Ihrer Fraktion ist an der Wand ja schon gar kein Platz mehr.
Rechts ist neben Marcel Hepp unid einigen anderen, die in der „Wahrheit von München" schreiben, auch nur noch in Nuancen eine Placierung sichtbar.
Meine Damen und 'Herren, eines aber ist sicher: die Verhandlungsgrundlage, die der Kanzler in Kassel auf den Tisch gelegt hat, wird von den beiden Fraktionen der Koalition getragen und verantwortet.Ich möchte an ,dieser Stelle aber auch ein Wort zu der Diskussion über den „finanziellen Ausverkauf" sagen.
Die Regierung der DDR hat in Erfurt vorgetragen, daß sie eine Forderung in Höhe von 100 Milliarden DM an die Bundesregierung habe. Ich möchte hier in aller Deutlichkeit sagen, daß als Folge des zweiten Weltkrieges das deutsche Volk unendliches Leid hinnehmen mußte und viele Opfer erbracht hat. Das gilt sowohl für ,die Menschen in der DDR wie in der Bundesrepublik. Es ist aber unmöglich, daß eine einseitige Aufrechnung für einen Teil unseres Volkes erfolgt unid daraus derartige Konsequenzen mit Forderungen an den anderen Teil unseres Volkes gezogen werden.Ich möchte auch gegenüber der Regierung der DDR an dieser Stelle noch einmal betonen, daß auch die Menschen in der Bundesrepublik und die Bundesregierungen als Folge des letzten Krieges eine erhebliche finanzielle Leistung erbracht haben, einseitig für unseren westlichen Bereich. Dazu gehören z. B. die 36 Milliarden DM, die das Bundesparlament für Wiedergutmachung und für die Verfolgten des NS-Regimes bereitgestellt hat. An Reparationsleistungen an USA, Frankreich und Großbritannien wurden 22,4 Milliarden DM geleistet. Zur Tilgung von Auslandsschulden des ehemaligen Deutschen Reiches nach dem Londoner Schuldenabkommen hat 'die Bundesrepublik einen Betrag von 38,5 Milliarden DM gezahlt. Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, daß für die Eingliederung der Vertriebenen allein 72,5 Milliarden DM durch die Bundesrepublik aufgebracht wurden. Diese Beispiele können durch eine Reihe anderer gesetzlicher Regelungen, die von uns finanziell erfüllt werden mußten, ergänzt werden. Das alles macht aber auch deutlich, daß sich die Bundesrepublik keineswegs gegenüber der DDR in der Rolle eines Schuldners befindet.
Nun hat der bayerische Ministerpräsident Alfons Goppel auf ,dem 'Parteitag der CSU am 10. April in München Bemerkenswertes über die Freien Demokraten erklärt. Da es Ibis zur Stunde nicht dementiert worden ist, müssen wir wohl annehmen, daß dies auch die Meinung weiter Kreise der CDU ist:Von der FDP ist weder eine nationale noch eine liberale Politik zu erwarten.
Statt Liberalismus beherrscht Opportunismus die FDP.
— Darauf kommen wir gleich zu sprechen;
ich würde vorsichtig sein mit dem Beifall, Herr Kollege Stoltenberg.Dort, wo sie— die FDP —nach der Erwartung ihrer Wähler und nach der Ressortzuteilung nationale Politik vorzuzeigen hätte, in der Außenpolitik, folgt sie willenlos den als Richtlinien bezeichneten Illusionen des Kanzlers. Das Nationale in der Politik der FDP scheint darin zu bestehen, daß sie ohne jeden Widerspruch die gefährliche Wehner-Politik dem Ulbricht-Regime gegenüber hinnimmt und obendrein mit koalitionsfrommen Lobsprüchen bedenkt.Wir Freien Demokraten,
meine Damen und Herren von der CDU/CSU, weisen auch diese Erklärung ides Herrn Goppel, Opportunisten zu sein oder Illusionen zu unterstützen, mit aller Entschiedenheit zurück.
— Wenn wir Opportunisten wären, Herr Kollege Stücklen, hätten wir doch das „großartige Angebot" Ihres Parteivorsitzenden, ein strategisches Bündnis für die 70er Jahren abzuschließen unter Absicherung unserer Partei, angenommen. Dann hätten wir uns nicht in diese viel schwierigere Regierungsverantwortung zu begeben brauchen.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2679
Dorn— Natürlich ist jede Regierungsarbeit schwer, Herr Kollege Barzel.
— In diese schwierigere Regierungsarbeit.
- Natürlich! Auf der Bank der Opposition oder inanderen Bereichen kann man es sich vielleicht leichter machen. Sie haben heute ein klassisches Beispiel dafür geliefert.
Meine Fraktionskollegen und ich haben in den vergangenen 20 Jahren bewiesen, daß wir Politik für Deutschland gemacht haben, und wir lassen uns in diesem Bemühen von niemandem in diesem Hause oder außerhalb dieses Hauses übertreffen. Wir lassen uns auch nicht durch solche Angriffe aus dem Konzept bringen,
schon gar nicht von Politikern, die einer Partei angehören, die ihre Zustimmung zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verweigert hat
und bei der es heute für viele Politiker wichtiger ist, daß an der Staatsgrenze das Schild „Freistaat Bayern" steht als die Bezeichnung „Bundesrepublik Deutschland".
— Dafür haben wir Beispiele.
- Ja, ja. Das ist nämlich die Reaktion. Durch dieseZwischenrufe wird noch einmal eindeutig bestätigt, daß das für Sie eben wichtiger ist.
Immerhin, meine Damen und Herren von der Christlich-Demokratischen Union, haben wir mit dieser Bundesregierung und in dieser Koalition ein Konzept,
während der CDU/CSU offensichtlich jegliche Vorstellung einer konstruktiven Politik für Deutschland fehlt, wie wir das heute morgen wieder vermerken konnten.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, Herr Präsident.Der Kollege von Wrangel machte es sich leicht, als er am Abend von Kassel in die Fernsehkamera hinein leichtweg sagte, die Deutschlandpolitik der Bundesregierung sei in die Sackgasse geraten.
Ich möchte Sie dringend bitten, noch einmal die Regierungserklärung vom Oktober und auch den Bericht zur Lage der Nation sorgfältig zu lesen.
Sie werden feststellen, daß die Regierung und die sie tragenden Parteien sehr wohl konkrete Vorstellungen entwickelt haben. Und, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, die Österreicher habeneinige hundert Verhandlungen gebraucht, um zu einem Vertragsabschluß zu kommen. Glauben Sie nicht, daß es während dieser Phase der Verhandlungen ein Tief und ein Hoch jeweils auf der einen oder der anderen oder meinetwegen auch auf beiden Seiten gegeben hat? Wer von Ihnen hat denn die Illusion gehabt, daß wir nach der zweiten Verhandlung im innerdeutschen Gespräch mit konkreten Ergebnissen nach Hause kommen könnten? Sie können sie doch gar nicht gehabt haben; denn Sie haben doch in den letzten 20 Jahren entscheidend mit dazu beigetragen, daß das gar nicht möglich sein konnte.
Es ist doch leicht für Sie, hier zu erklären, Sie hätten zwar immer die Gespräche zwischen Ostberlin und Bonn befürwortet, und es ist noch leichter, später von Nichterfolgen zu sprechen. Der frühere Bundeskanzler Kiesinger hat in seiner Rede am 17. Juni 1967 erklärt:Der Weg zu dieser europäischen Friedensordnung mag, ja wird lang und mühselig sein; vielleicht wird er uns auch nicht ans ersehnte Ziel führen. Diese Möglichkeit des Scheiterns können wir nicht ausschließen; aber es ist der einzige Weg, der uns die Chance des Erfolges verspricht.
Herr Dr. Kiesinger, was für diesen Bereich gilt, gilt selbstverständlich auch für den anderen Bereich der politischen Verhandlung.
Ich meine, Sie müßten doch auch erkannt haben, daß diese Bundesregierung es sich nicht leichtgemacht hat und daß die Koalitionsfraktionen es sich nicht leichtgemacht haben, daß wir aber bewußt daß Risiko des politischen Handelns für unser Volk eingegangen sind, um den Weg zu einer friedlichen Zukunft mit allen Nachbarn zu beschreiten, auch mit denen im Osten, weil sonst der Bestand dieses Volkes und dieses Staates permanent gefährdet ist. Um unsere Vorstellungen von einer konstruktiven Deutschlandpolitik noch einmal zu konkretisieren, verweise ich auf die 20 Punkte von Kassel. In diesen 20 Punkten finden Sie eine Reihe von Vorschlägen, die wir Freien Demokraten bereits seit Jahren in- diesem Hause gemacht haben. Daher fällt
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2680 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Dornes uns auch nicht schwer, diesen 20 Punkten unsere Zustimmung zu geben.Zwei Dinge möchte ich der Opposition abschließend noch vortragen. Armin Mohler, der ja wohl nicht in dem Verdacht steht, ein Repräsentant der sogenannten Linkspresse zu sein, schrieb am 28. Februar in der „Nürnberger Zeitung":Einig ist sich die Opposition darüber, daß man sich „staatsmännisch" verhalten müsse, weil bloße Opposition beim Wähler nicht ankomme. Es gibt jedoch nur zwei Möglichkeiten: entweder tut die SPD/ FDP-Regierung das Richtige, dann hat die CDU eben geschlafen und schläft am besten weiter, oder die neue Bonner Regierung betreibt eine unheilvolle Politik, dann muß die Opposition mit aller Kraft Alarm schlagen.
Ich aber sage Ihnen: die Panikstimmung, die Sie jetzt erzeugen wollen, wird auch von den Bürgern in unserem Volke als eine künstlich gemachte empfunden.
Ihre Zielvorstellung ist jedoch noch eine andere; das hat mittlerweile auch der Begriffsstutzigste begriffen. Herr Dr. Barzel hat in München erklärt, durch die ungebrochene Freundschaft zwischen CDU und CSU könne und werde es gelingen, „möglichstbald — und konkret: noch in dieser Wahlperiode — dem freien Deutschland eine bessere Regierung zu geben".
Nun muß ich Ihnen allerdings sagen, meine Damen und Herren von der Christlich-Demokratischen Union: was Sie bisher als Alternative in erkennbaren Ansätzen in einigen Zeitungsartikeln und in der Diskussion über den Bericht zur Lage der Nation geboten haben,
ist die Fortsetzung einer Politik der geistigen Unbeweglichkeit und des politischen Rückschritts.
Diese Politik, meine Damen und Herren, sind wir nicht bereit mitzumachen; denn unser Volk hat eine bessere Politik verdient,
als Sie sie anzubieten haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Apel. Auch für ihn ist eine Redezeit von 45 Minuten beantragt worden; Sie haben 45 Minuten.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Barzel hat zu Beginn seiner Rede hier bemängelt, daß die Bundesregierung nicht am Anfang dieser Debatte eine einleitende Erklärung abgegeben hat. Ich darf daran erinnern, Herr Kollege Barzel — Sie können dort oben an der Seite ablesen, daß jetzt Punkt 19 an der Reihe ist, die Große Anfrage der CDU/CSU- Fraktion --, daß es eines der Anliegen der Parlamentsreformer war, zur schriftlichen Beantwortung durch die Bundesregierung nicht auch noch eine mündliche Erklärung zu haben.
Ich muß es also ganz entschieden zurückweisen, wenn Sie hier erneut mit Fragen des Demokratieverständnisses kommen. In dieser Frage war die Prozedur völlig in Ordnung, daß man Ihnen als erstem das Wort gegeben hat.
Ich möchte ein Zweites hinzufügen, Herr Kollege Barzel. Diese Woche hier in Bonn wurde von den Koalitionsfraktionen zusätzlich beantragt,
nicht wegen Kassel, sondern weil wir Arbeit haben, z. B. mit Ihrer Großen Anfrage.
Sie müssen sich einmal genau überlegen, Herr Kollege Barzel, ob Sie auf die Dauer Ihre angemaßte Rolle des Maître de plaisir, des Anklägers, des Schulmeisters in diesem Hause noch durchhalten können.
Daß Sie als Führer der Opposition eine sehr wichtige Funktion haben, ist uns bekannt.Aber nun zur Sache selbst.
— Herr Kollege Barzel, Sie können mir am Ende meiner Rede Fragen stellen. Ich möchte jetzt in meinen Ausführungen fortfahren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden uns auch in dieser Debatte nicht davon abbringen hassen,
zur Großen Anfrage der Opposition Stellung zu nehmen.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2681
Dr. ApelDenn diese Große Anfrage offenbart sehr deutlich, wes Geistes Kind die Opposition ist, indem sie eine Ansammlung von Gerüchten und Unterstellungen zu einer Großen Anfrage zusammenbraut,
die in ,der Tat weder bei Ihnen noch bei uns politische Erkenntnis bringen konnte.Lassen Sie mich mit der Europapolitik beginnen, obwohl verabredet worden ist, daß wir darüber am 17. Juni sprechen.
Aber dennoch muß ich dazu drei Bemerkungen machen, die verdeutlichen, daß von Ihnen in der Tat mit Unterstellungen gearbeitet wird.
So behauptet die Große Anfrage, Herr Barzel — und so hörte man es auch in Ihrer Rede —, wir wollten keine Politische Union.
— Lassen Sie mich dazu kommen! Nur nicht die Nerven verlieren, Herr Barzel!
Sie sagen ferner in der Begründung zu einer dieser Fragen der Großen Anfrage, wir wollten den Mitgliederkreis einer Politischen Union nicht mit dem Kreis der EWG-Mitglieder identisch halten.
— So steht es 'in einem ,der Punkte Ihrer Anfrage. Die müssen Sie mal lesen, Herr Barzel.
Ferner unterstellen Sie in Ihrer Großen Anfrage, daß die Bundesregierung die Westintegration zugunsten der Ostpolitik vernachlässigt.
Die Antworten der Bundesregierung weisen diese Unterstellungen überzeugend zurück. Denn, Herr Kollege Barzel, diese Bundesregierung ist es doch gewesen, 'die in Den Haag und nach Den Haag die EWG vollendet hat.
Diese Bundesregierung hat die Beitrittsverhandlungen mit England möglich gemacht.
Diese Bundesregierung hat in ihrem von Ihnen zitierten Aide-Mémoire zur politischen Zusammenarbeit, das Ihnen übrigens vorliegt, Herr Barzel —dos wissen Sie ganz genau, auch wenn Sie hier vorn so taten, ,als wüßten Sie vom Inhalt nichts —, folgendes gesagt: Erster 'Schritt ist die Abstimmung ,der Politik untereinander; zweitens Erarbeitung gemeinsamer Auffassungen; drittens solidarisches, gemeinsames Handeln; viertens Politische Union. Diese Abfolge ist logisch und richtig.
Damit wird deutlich, Herr Kollege Barzel, daß für die Bundesregierung — —
— Wenn Sie sich beruhigt haben, ;spreche ich weiter. Ich warte einen Augenblick. — Damit wird deutlich, daß weiterhin die westliche Integration das unverrückbare Ziel unserer Außenpolitik und die Basis für jede Ostpolitik ist. Daran können Sie auch nichts herummäkeln. Diese Tatsachen sind durch das Verhalten der Bundesregierung in den ersten sieben Monaten dieser Politik der Bundesregierung dank des Herrn Außenministers, dank des Bundeskanzlers unterstrichen und bestätigt.
Lassen Sie mich jetzt einiges zur Deutschland-und Ostpolitik sagen. Ich unterstreiche, daß das, was wir in der Regierungserklärung und im Bericht zur Lage der Nation gesagt haben, unverändert Basis und Zielvorstellung unserer Deutschland- und Ostpolitik ist. Ich muß das wohl noch einmal wiederholen, damit Mystifikationen à la Barzel aufhören. Die Basis unserer Politik ist die feste westliche Integration, daß Westberlin mit uns verbunden bleibt und es besondere Viermächte-Verantwortungen für ganz Berlin gibt, ,daß .es besondere Rechte und Verantwortlichkeiten der drei Mächte für Deutschland als Ganzes gibt — .damit werden auch hier Grenzen unserer eigenen Aktionsfreiheit sichtbar — und daß diese Bundesregierung davon ausgeht, daß es weiter eine deutsche Nation gibt, die in zwei deutschen Staaten lebt.Was die Ziele anbelangt — —
— Ich bin jetzt bei den Zielen, das ist die Basis.Wir haben drei klare Ziele: Selbstbestimmung für unser Volk, Friedenssicherung auf dem Wege zu einer europäischen Friedensordnung und Stärkung der Menschenrechte.
— Herr Kollege Barzel, wie oft müssen wir das eigentlich noch wiederholen, um Ihnen klarzuma-
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2682 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Dr. Apelchen, daß das die Basis der Politik ist? Sie müssen zur Kenntnis nehmen,
daß alle Ihre Unterstellungen falsch und ungerechtfertigt sind und nicht den Tatsachen entsprechen.
In der Frage 1 der Großen Anfrage der CDU/ CSU — Herr Kollege Dorn, Sie haben ja bereits darauf hingewiesen — finden wir erneut eine der üblichen Unterstellungen, nämlich die Unterstellung, daß unsere Politik die Spaltung vertieft. Dazu kann ja wohl ganz nüchtern und sachlich festgestellt werden, daß die Spaltung nicht tiefer werden konnte, als sie war, als wir die Regierungsverantwortung übernahmen.
Daraus ergibt sich ja wohl auch — und das ist die Fortsetzung der Politik vergangener Regierungen —, daß über Gespräche, aus denen möglicherweise Verhandlungen und Abkommen folgen, ein Weg gesucht werden muß, um aus dieser tiefsten Spaltung herauszukommen.Wir haben festgestellt — damit bin ich bei der Bewertung von Kassel —, daß Herr Stoph Ton und Inhalt seiner Aussagen in der Tat verschärft hat. Aber wir sind ja auch erst in der ersten Phase der l Gespräche. Kassel war für uns Sozialdemokraten eine Etappe, eine Etappe eines langen Weges. Wir sagen hier mit Nachdruck, daß ohne Erfurt und ohne Kassel die deutsche Situation nicht besser, sondern schlechter wäre;
denn erstens diese beiden Zusammenkünfte haben das Bewußtsein unseres Volkes für seine Probleme erneut geschärft, und zweitens — das ist viel wesentlicher — haben beide Regierungen in beiden deutschen Staaten durch dieses Zusammentreffen unterstrichen, daß sie sich für das Schicksal in Mitteleuropa und für die Zukunft unseres Landes verantwortlich fühlen. So gesehen sind die 20 Punkte ein wesentliches Angebot von Willy Brandt. Ihre zwingende Logik, ihre unausweichlichen Überlegungen, der Versuch eines gerechten und fairen Angebots — ohne die von mir dargestellten Grundpositionen aufzugeben —, werden auch im Ostblock ihren Eindruck nicht verfehlen.
Wir machen weiter und lassen uns darin auch nicht von Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, beirren.
Es gibt jetzt eine Verhandlungspause. Wir finden das nicht schlecht.
— In der Zwischenzeit wird keine Denkpause eintreten,
sondern man wird über die politischen Inhalte nicht nur in Moskau, sondern auch in Warschau und Ost-Berlin nachdenken und weiterdenken.
Kassel war also weder ein Erfolg noch ein Mißerfolg noch enttäuschend oder ergebnislos, weder ein Stillstand noch ein Rückschritt. Alle diese Betrachtungen gehen an der Sache vorbei. Kassel war, wie ich sagte, eine Etappe, ein Schritt von vielen, die vor uns liegen. Wir haben anscheinend im Gegensatz zu Ihnen die guten Nerven, den langen Atem und die Konzeption, die in der Tat bei Ihnen fehlt, um diese Schritte konsequent ohne Aufgabe unserer Grundposition weiterzugehen.
Diese Bundesregierung wird nicht nur verbal, mit verbalen Verrenkungen, sondern politisch aktiv ihren Beitrag zu einer europäischen Friedensordnung leisten, ohne Aufgabe unserer Selbstachtung, ohne aber auch mit Überheblichkeit und Besserwisserei unseren Partnern in Osteuropa entgegenzutreten.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige Bemerkungen machen zu der von Herrn Barzel erwähnten und scharf kritisierten Aussage des Herrn Bundeskanzlers hinsichtlich eines Vertrages und seines Charakters und der Forderung von Herrn Stoph nach völkerrechtlicher Anerkennung. Wenn es jemals zu einem Vertrag kommt — wir teilen da durchaus die Skepsis des Herrn Bundeskanzlers; sie bringt uns allerdings nicht davon ab, weiter an der Sache zu arbeiten —, wird es ein Vertrag sein, der mehrschichtig ist. Er wird in einer ganzen Reihe von Punkten eindeutig zwischenstaatliche, völkerrechtlich verbindliche Züge haben müssen, was die Gleichberechtigung anlangt, was die Nichtdiskriminierung anlangt, was den Gewaltverzicht anlangt, was die Haltung der beiden deutschen Staaten gegenüber internationalen Organisationen anlangt. Neben diesem Teil mit eindeutig völkerrechtlichem Charakter wird er einen Teil haben, der nicht diesen Charakter haben kann. In den Fragen des Handels — wegen der EWG-Problematik —, der Freizügigkeit der Menschen, der Staatsangehörigkeit und der Vorbehaltsrechte unserer Alliierten wird hier völkerrechtliche Qualität nicht gegeben sein können. Hier müssen wir vielmehr Regelungen sui generis finden. Das ist unsere Position. Ein rein juristischer Akt, wie ihn die DDR fordert, löst nichts. Erst wenn Inhalt in so einen Vertrag kommt, wird er nützlich und zweckmäßig für unser Volk. Dann würde er in der Tat einen wesentlichen Teil der starren juristischen Formeln überwinden. So ist die Aussage des Herrn Bundeskanzlers zu verstehen.Die Opposition bringt in den Fragen 22 bis 9 ihrer Großen Anfrage erneut entweder polemische Unter-
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Dr. Apelstellungen oder fordert die Bundesregierung auf, über schwebende Verhandlungen hier Auskunft zu geben. Ich war, ehrlich gesagt, entsetzt darüber, Herr Barzel, wie es Ihnen möglich war, nachdem Sie von Herrn Bahr und vom Herrn Bundeskanzler Informationen bekommen hatten, die auch wir bekommen hatten, hier hinsichtlich des sich abzeichnenden Arrangements mit Moskau derartig falsche Behauptungen aufzustellen.
— Wenn Sie informiert sind, können Sie eigentlich auch keine Fragen dieser Art stellen. Auch das ist dann unanständig, Herr Barzel.
— Auch das ist unanständig, wenn Sie wissen, was in diesen Vorgesprächen in Moskau herausgekommen ist.
Sie können alles tun.
— Wir waren uns einig, am Ende meiner Rede bin ich bereit, alle Zwischenfragen. entgegenzunehmen.
Meine Damen und Herren, so geht es nicht. Wir müssen uns in der Tat fragen, welchen Zweck es hat, die Opposition intim und detailliert zu orientieren und zu informieren, wenn anschließend der Vorsitzende der Oppositionsfraktion sich hier hinstellt und erneut Behauptungen aufstellt, die jeder Grundlage entbehren.
Bei diesem Stand der Dinge lehnen wir es ab, zu verlangen, daß die Bundesregierung diese sehr delikaten Dinge hier offenlegt.
— Wir wissen und gehen davon aus — das wissen auch Sie, Herr Barzel —, daß die Grundlagen, die wir für unsere Ost- und Deutschlandpolitik festgelegt haben, unsere Basisvorstellungen, unsere Zielvorstellungen durch das, was in Moskau geschieht, und auch das, was mit Warschau hier in Bonn weiter zu verhandeln sein wird, nicht im geringsten tangiert werden.Wir haben zur Kenntnis genommen, was Sie in Ihrer Resolution zur polnischen Westgrenze sagen. Ich will das hier gar nicht kommentieren. Wir werden ja auch dazu zu gegebener Zeit Stellung nehmen müssen. Ich möchte nur den Kollegen Dichgans und Petersen dafür danken, daß sie in einer sehr nuancierten Darstellung dargelegt haben, daß auch bei Ihnen die Probleme deutlicher gesehen werden und wir mit einfachen Formeln nicht weiterkommen.
Das heißt doch, daß sich die sozialdemokratische Bundestagsfraktion an drei Versuchen der CDU/ CSU nicht beteiligt. Erstens, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, nehmen wir Ihnen Ihre politische Vergangenheitsbewältigung in der Deutschland- und Ostpolitik nicht ab. Das müssen Sie schon selber tun,
und Sie werden sehen und erklären müssen, wie weit Sie mit der jetzigen Politik kommen werden.Zweitens nehmen wir mit Besorgnis zur Kenntnis, daß anscheinend bei Ihnen mit dem Schlagstock abgegriffener und falscher deutschlandpolitischer Argumente über Nachfolge- und Führungsprobleme zum Schaden der Sache entschieden werden soll.
Auch das ist Ihre Sache, aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie hiermit etwas sehr Gefährliches tun.Und wir tun ein Drittes nicht, meine Damen und Herren. Wir ziehen dieses Thema der Deutschland-und Ostpolitik nicht in den aktuellen Wahlkampf hinein, wie es Herr Kiesinger in diesen Tagen tun zu sollen meinte;
denn für dieses Thema brauchen wir sehr viel mehr Kraft, sehr viel mehr Zeit und sehr viel mehr Geduld, als . es in diesen Wochen des Wahlkampfes möglich ist. Wir haben im übrigen bessere Argumente, überzeugendere Leistungen anzubieten, wir brauchen uns' nicht der billigen Demagogie in diesem Bereich hinzugeben.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluß kommen.
Die jetzige Bundesregierung hat allen Deutschen in Ost und West die latente Schläfrigkeit in ihrer ureigensten Sache, nämlich in der Frage der Selbstbestimmung für unser Volk, der Friedenssicherung für Europa und der Sicherung der Menschenrechte in Europa, genommen. Alle sind hellwach geworden, die Zeit der augenzwinkernden Sonntagsreden, die doch nur dazu geführt haben, daß gleichzeitig alle Wege zueinander zugewachsen sind, ist vorbei. In diesen Jahren wird geprüft werden müssen, ob es einen wesentlichen Fortschritt nach Osten gibt. Wir sind weder Optimisten noch Pessimisten, wir sind da Realisten. Wir stellen fest, daß die Mehrheit in diesem Hause, daß die Bundesregierung ein klares Konzept hat, die Standfestigkeit besitzt, die-
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2684 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Dr. Apelses Konzept durchzuhalten, ,daß sie die volle Rükkendeckung der Alliierten hat
und daß sie flexibel genug ist und guten Willen genug hat, um die Dinge voranzubringen. Die Opposition dagegen arbeitet gegen besseres Wissen mit Unterstellungen, Verdächtigungen und. Unrichtigkeiten.
Sie setzt damit mehrheitlich den Weg in eine gefährliche Extremposition fort,
mit dem einen Unterschied, meine Damen und Herren: die von Herrn Barzel hier erneut unterschwellig verkaufte Darstellung des Untergangs Deutschlands wird Ihnen heute nur noch vom „Bayernkurier" und von der „National- und Soldatenzeitung" abgekauft.
Das Wort hat der Bundesaußenminister.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU, die heute hier zur Debatte steht, hat die Bundesregierung den Abschnitt zur Europapolitik mit einer Aufzählung von Daten eingeleitet, die die Fortschritte der letzten sieben Monate markieren. Inzwischen sind schon wieder neue Daten hinzuzufügen, darunter auch .die Gespräche in Paris und in Rom, die ich gestern geführt habe.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich an dieser Stelle eine Bemerkung machen. Ich bin aus der Sitzung des NATO-Ministerrats hierher zu dieser Debatte gekommen. Ich muß heute mittag wieder zurückfliegen, weil alle 15 Außenminister da sind und ich heute nachmittag an der Abschlußsitzung teilnehmen muß. Ich kündige das jetzt an, damit ich Verständnis dafür finde,
wenn ich nicht bis zum Schluß der Debatte hierbleiben kann.Diese Besprechungen in Rom, meine Damen und Herren, haben das bestätigt, was Herr Dr. Apel soeben mit einem Satz zum Ausdruck brachte, daß nämlich unsere engen Konsultationen mit den Verbündeten uns in eine Gemeinschaft mit ihnen gebracht haben, daß sie — unsere Verbündeten in der NATO und vor allem unsere drei westlichen Verbündeten — die Politik, die wir treiben, nicht nur bis ins einzelne kennen, sondern auch stützen. Darauf aber kommt es an in einer Phase, in der in der Tat die Politik in Bewegung geraten ist, und zwar nicht nur unsere, sondern die ganze Weltpolitik, vor allem auch die in Europa. Die Zusammenarbeit zwischen den Verbündeten ist dabei eine wesentliche und entscheidende Grundlage, auf der wir uns bewegen.Die Europapolitik, meine Damen und Herren — um dies präzis zu sagen: die Politik, die diese Regierung in der Perspektive der politischen Union Europas verfolgt , ist durch die Treffen und Entscheidungen der letzten Monate ganz erheblich vorangekommen. Das erwähne ich hier aber nicht, um der Debatte jetzt eine Wendung zu geben, die ja nach der, wenn auch nicht geschriebenen und formellen, so doch losen Übereinkunft ihre Fortsetzung erst am 17. Juni finden soll. Ich erwähne das vornehmlich deshalb, weil in ihr wie in unserer nach Osten gerichteten Politik der Entspannung schon die Aufzählung der Daten und der Taten eine deutliche Sprache für das Wirken dieser Regierung spricht.Seit der Beantwortung der Großen Anfrage sind aus den zehn Gesprächen von Staatssekretär Bahr mit Außenminister Gromyko in der Zwischenzeit vierzehn Gespräche geworden, und wir stehen jetzt am Ende der Vorbereitung von Verhandlungen mit der Sowjetunion. Hier hat unsere Politik einen wichtigen, einen entscheidenden Punkt erreicht, an dem sich die Möglichkeit eröffnet, endlich einen geregelten Modus vivendi mit der anderen, der zweiten Supermacht, der Führungsmacht des europäischen Ostens, zu finden. Den drei Gesprächsrunden mit Polen wird in wenigen Tagen eine vierte Gesprächsrunde in Bonn folgen. Den beiden Berlin-Gesprächen der Alliierten im März und April ist am 14. Mai ein drittes Gespräch gefolgt, und die Termine für das vierte und fünfte Gespräch, nämlich am 9. Juni und Anfang Juli, liegen jetzt schon fest. Und wenn im innerdeutschen Dialog eine neue Gesprächsrunde zunächst keinen Termin hat, bedeutet das allerdings nicht, daß der Dialog abgebrochen wäre. Die Denkpause, die jetzt eingetreten ist — ich weiß nicht, wer den Begriff erfunden hat;
ich entnehme ihn aus der öffentlichen Diskussion —, hat eine Bedeutung auch für uns, vor allem im Hinblick auf unsere Moskauer Verhandlungen.Meine Damen und Herren! Auch vor jeder Diskussion der Fragen, um die es in den Gesprächen geht, muß einmal festgestellt werden: Diese Intensität der Gespräche mit der DDR und den Ländern Osteuropas ist selbst in sich schon ein Stück Entspannung. Auch dann noch, wenn — was wir nicht erwarten und schon gar nicht erhoffen — unsere Initiativen auf absehbare Zeit nicht oder nicht überall zu greifbaren Ergebnissen führen, hat die Bundesregierung in den letzten Monaten vor aller Welt und für alle Zukunft unter Beweis gestellt, daß sie den Frieden will, ja mehr noch: daß sie aktiv dazu beitragen will, den Frieden zu schaffen,
und nicht nur darauf wartet, daß er sich durch das Handeln anderer von selbst einstellt.Nun kommt es gewiß nicht nur darauf an, daß wir etwas tun, sondern es kommt auch darauf an, was wir tun. In dieser Hinsicht ist in der inner-politischen Diskussion außenpolitischer Fragen bei
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Bundesminister Scheeluns zulande eine merkwürdige Lage entstanden, die auch heute morgen hier in der Diskussion sichtbar geworden ist. In der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 heißt es, daß die Politik dieser Regierung im Zeichen der Kontinuität und im Zeichen der Erneuerung stehe. Seither ist die Opposition nicht müde geworden, vor allem die Elemente der Erneuerung — ja, wie sie meint, sogar die der Diskontinuität — in unserer Politik zu betonen. Die Vermutungen der Opposition wurden gelegentlich als die Wahrheiten der Regierungspolitik ausgelegt, aber dadurch werden diese Vermutungen nicht richtiger.Es gibt eine Kontinuität der deutschen Politik nach außen. Herr Stoph hat sich in Kassel abschätzig über .den Satz in unserer Antwort auf die Große Anfrage geäußert — er hatte sie also sehr sorgfältig gelesen —, nach dem sich nicht unsere Ziele verändert haben, sondern die Intensität, mit der wir diese verfolgen. Doch gibt es keinen Grund, eine solche Feststellung abzuwerten. Alle Regierungen ,der Bundesrepublik haben eine Politik des Friedens und der Freiheit betrieben, und wir werden keinen Zweifel an diesen Absichten auch früherer Regierungen lassen.Andererseits gibt es auch eine Erneuerung der Politik der Vergangenheit. Im Unterschied zur DDR sind wir ja kein im Dogmatismus erstarrtes Staatswesen. Wir können auch neue Wege suchen, wenn wir dazu den Auftrag des Volkes haben. Die Präambel des Grundgesetzes sagt nicht, daß nurein Weg zur Einheit der Deutschen führt. Sie verbietet nicht, daß wir in einer umfassenderen Friedensordnung der Länder Europas in Ost und West den Rahmen suchen, in dem die deutschen Staaten sich wieder begegnen. Sie gebietet möglicherweise, daß wir nicht müde werden, neue Wege zu suchen, um die Konfrontation in Deutschland und in Europa durch neue Formen der Kooperation zu ersetzen. Nach Lage der Dinge ist das Wort von zwei Staaten in Deutschland nicht eine Stabilisierung oder Vertiefung der Spaltung, sondern der realistische Anfang ihrer Überwindung.
— Das könnten wir ex contrario ganz einfach beweisen.Nachdem Herr Stoph durch seine Kasseler Äußerung zum abwesenden Teilnehmer an der heutigen Debatte geworden ist, darf ich eine persönliche Bemerkung machen. Herr Stoph hat nämlich seine Stellungnahme in Kassel dazu benutzt, in mehreren Punkten ,den Bundesminister des Auswärtigen zu attackieren. Er hat mir anmaßendes Verhalten gegenüber der DDR nachsagen wollen und hat behauptet, ich sei für die Diskriminierung der DDR in der Welt verantwortlich und hätte damit in besonderem Maße zur Erschwerung einer Verständigung zwischen den beiden deutschen Regierungen beigetragen. Dabei hat er sich insbesondere auf meine Weisung an die deutschen Missionen im Ausland bezogen, man möge in dritten Ländern den Fortgang des innerdeutschen Dialogs nicht durch voreilige Entscheidungen stören.Die gegenwärtige Bundesregierung, ihre Vorgängerin und gerade auch die Partei, deren Vorsitzender ich bin, haben deutlich betont, wie notwendig es für uns und für Europa ist, auf einer realistischen Grundlage die Verständigung zwischen den deutschen Staaten zu suchen. Herr Stoph unterschätzt das Verständnis der Welt für diese unsere Absichten, wenn er meint, durch Angriffe auf Vertreter einer solchen Politik seiner Sache dienen zu können. Unsere Aufforderung zum Verständnis für den beharrlichen Versuch, im innerdeutschen Verhältnis weiterzukommen, ist in der Welt sehr wohl verstanden worden. Ich möchte sie heute erneuern und ihr hinzufügen, daß wir ohne jede Doktrin auch in Zukunft die Absicht haben, das Verhalten dritter Staaten gegenüber uns und der DDR nach unserer Interessenlage zu bewerten.
Ich erkläre auch hier, daß wir auf niemanden einen Druck ausüben wollen und daß wir auf niemanden einen Druck ausüben werden, aber daß das Verständnis für unseren Weg aus der Konfrontation über das geregelte Nebeneinander zu einer besseren Friedensordnung in Europa ein Maßstab für die Freundschaft ist, die uns mit anderen Ländern verbindet.Die Bundesregierung sucht in ihrer Deutschland-und Ostpolitik Regelungen, die sie in verschiedenen Erklärungen, zuletzt in den 20 Punkten von Kassel, dargelegt hat, aber nicht nur da, sondern auch in der Erklärung zur Lage der Nation und in der Regierungserklärung. Diese 20 Punkte sind die gemeinsame Grundlage des Handelns der Regierung. Ihre Bedeutung reicht über den innerdeutschen Dialog hinaus. An ihnen wird deutlich, was auch für die Gespräche und möglichen Verhandlungen mit der Sowjetunion und mit Polen gilt.Wir stehen am Ende einer Phase europäischer Entwicklung, in der es vielleicht möglich war, mit einem ungesicherten, sich zudem keineswegs zu unseren Gunsten entwickelnden Status quo zu leben. Die weltpolitische Situation, der Wunsch nach einer größeren Selbständigkeit deutscher Politik und das berechtigte Verlangen der Menschen in der Bundesrepublik nach Initiativen ihrer Regierung führen sämtlich zu der Notwendigkeit, nun endlich nach Osten hin unsere Politik mit Entschiedenheit in Angriff zu nehmen und in Angriff zu nehmen, was Bundeskanzler Adenauer nach Westen hin betrieben und verwirklicht hat. Das ist aber nichts anderes als der Versuch einer politischen Normalisierung auf der Grundlage der Realitäten, die wir hier und heute vorfinden. Ich bin froh, daß auch der Vorsitzende der CDU-Fraktion in seiner Rede davon gesprochen hat.Wir suchen keine Regelungen mit anderen, um einen ;Scheinfrieden mit Zugeständnissen zu erkaufen.
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2686 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Bundesminister ScheelWir wissen sehr wohl, daß unsere Achtung vor den anderen nur so viel wert ist wie .die Achtung der anderen vor uns. Wir stehen also nicht unter irgendeinem Zwang, um jeden Preis zu Abschlüssen 'zu kommen. Der einzige Zwang unter .dem wir stehen, ist der, nicht nachzulassen in der Bemühung, dauerhafte und von den Völkern getragene 'Friedenslösungen zu suchen.Das bedeutet aber auch, daß die einfache Rechnung von Leistungen und Gegenleistungen nicht aufgeht, ,die hier und da in einer polemischen Diskussion aufgemacht wird. Man kann nicht zu gleicher Zeit eine Grenze respektieren und sie verändern wollen. Man kann 'aber Grenzen respektieren, um auf der Grundlage der Achtung bestehender Verhältnisse eine politische Normalisierung vorzunehmen, die allein einen erfolgversprechenden Ausgangspunkt für eine aktive deutsche Friedenspolitik bildet.
--- Ich komme darauf.Die vieldiskutierten Gegenleistungen liegen also nicht auf derselben Ebene wie die Entscheidungen, die jetzt von uns verlangt werden. Ihr Gewicht ist nichtsdestoweniger mindestens ebenso groß wie das unserer Bereitschaft, von der Wirklichkeit auszugehen, die wir vorfinden. Wer heute den Status quo und seine territoriale Festschreibung zum Hauptgegenstand der öffentlichen Diskussion macht, wie das ja ein Blatt wie das „Neue Deutschland" unaufhörlich tut, .der wird uns keinen Schritt an eine Friedensordnung heranführen. Wer aber andererseits seine Polemik gegen den Status quo mit unrealistischen Forderungen verbindet, der ist einer Vergangenheit verhaftet, die wir ja igerade überwinden wollen.
Wir wollen eine Zukunft mit unserer Politik schaffen.
In diesem Zusammenhang ist es allerdings nötig—und ich tue das gleich —, an einigen Punkten unserer Verhandlungen ganz klarzustellen, wie die Positionen aussehen, wo unser Angebot und die Grenzen unseres Handelns liegen.Erstens. Staatssekretär Bahr ist am vergangenen Samstag aus Moskau zurückgekehrt, nachdem er in den letzten vier Monaten dort in zahlreichen Gesprächen die Voraussetzungen für einen Gewaltverzichtsvedrtrag zu klären versucht hat. Wir wissen heute, 'daß ,die Sowjetunion die Absicht hat, durch einen solchen Vertrag zu vollenden, was mit der Anknüpfung der diplomatischen Beziehungen im Jahre 1955 nur formal geschehen ist, nämlich die Normalisierung der 'Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Wir kennen auch ,die Bedingungen, unter denen es möglich sein wird, formelle Vertragsverhandlungen aufzunehmen. Wie die sowjetische Regierung wird auch die Bundesregierung das Ergebnis der erfolgreichen Vorgespräche von Herrn Bahr prüfen, um dann zu entscheiden, wann und in welcher Form formelle Verhandlungen aufgenommen werden. Im Falle eines positiven Ergebnisses dieser Prüfung habe ich die Absicht, Verhandlungen zu führen in der Hoffnung, daß es gelingt, für die Bundesregierung an diesem entscheidenden Punkt ein Ergebnis zustande zu bringen, das vor diesem Hause Bestand hat.
Diese Regierung hat erklärt — und sie steht dazu —, daß sie die staatliche Wiedervereinigung für gegenwärtig unerreichbar hält. Sie hat nirgendwo erklärt, daß sie die Möglichkeit selbst aufzugeben bereit ist. Ich betone vielmehr, daß unsere Verhandlungspartner wissen müssen: Wir wollen und können keine Bindungen und keine Bedingungen eingehen, die im Widerspruch zu unserer Überzeugung und unserer Verfassung stehen, wonach der freie Wille der Menschen bestimmende Kraft für die Zukunft der Staaten zu sein hat.Zweitens. In immer stärkerem Maße wird die innenpolitische Diskussion durch die Frage beherrscht, wie wir mit Polen zu einer Grenzregelung kommen können, die die — ich zitiere hier den früheren Bundeskanzler — berechtigten Wünsche der Polen, in sicheren Grenzen zu leben, aber auch unsere Interessen berücksichtigt. Die öffentliche Diskussion der letzten Monate hat deutlich gemacht, daß diese Frage nicht allein rational zu betrachten ist, sondern tiefe Gefühle wachruft. Das ist gewiß verständlich. Aber ebenso wahr ist, daß eine sinnvolle Regelung das verantwortungsbewußte Handeln aller Beteiligten und Betroffenen voraussetzt. Nicht nur der Gegensatz zwischen dem Bedürfnis nach Öffentlichkeit — eine Forderung, die hier in diesem Parlament natürlich zu Recht gestellt wird — und der Notwendigkeit der Vertraulichkeit — eine Forderung, die die Regierung stellen muß — bringt Schwierigkeiten mit sich, sondern auch der Widerspruch zwischen der Hoffnung auf Sachlichkeit und der Tatsache, daß vielfach die Diskussion durch Emotionen beladen ist.Meine Damen und Herren, wir haben die OderNeiße-Grenze nicht gewollt, aber sie ist ein Stück der europäischen Wirklichkeit, von der wir ausgehen müssen. Jede realistische Friedenspolitik, die nicht die Vergangenheit versteinern, sondern für eine bessere Ordnung, eine europäische Friedensordnung in der Zukunft wirken will, muß von dieser
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Bundesminister Scheeleuropäischen Wirklichkeit und von nichts anderem ausgehen. The Respektierung der Grenzen ist auch hier eines ihrer elementaren Bestandteile.Es ist freilich auch ein Stück der europäischen Wirklichkeit, daß die Bundesregierung geltende Bindungen nicht brechen will und also hier nur in Übereinstimmung mit ihren Alliierten handeln kann, wie ihrem Handlungsvermögen überhaupt Grenzen gesetzt sind. Die Bundesrepublik kann nur für sich selber sprechen, und auch im Zusammenwirken mit ihren Verbündeten kann sie die Notwendigkeit einer umfassenden Friedensregelung nicht ersetzen. Im übrigen wird das Ergebnis der Gespräche abzuwarten sein, wobei es sicher nicht um die Grenzfrage allein geht, sondern im weiteren Sinne darum, ob und wie unser Verhältnis zu Polen auf eine neue und bessere Basis gestellt werden kann.Drittens. In zunehmendem Maße gewinnt die Frage der Stellung Berlins an Bedeutung im Rahmen unserer Politik. Während unsere eigene Bereitschaft, den territorialen Status quo zum Ausgangspunkt unserer Politik zu machen, erkennbar ist, erhebt jetzt wie schon zu früheren Zeiten die andere Seite neue und immer wiederholte Ansprüche, die keine Rechtsgrundlage haben.
Wenn Herr Stoph davon spricht, daß Westberlin nicht nur inmitten der DDR, sondern auch auf dem Territorium der DDR liege, dann ist das schlicht Annexionismus, also der Versuch, wider alles Recht Land für sich in Anspruch zu nehmen.
Ich kann nicht deutlich genug betonen, meine Damen und Herren, daß wir uns jedem solchen Versuch widersetzen werden. Mehr noch, es ist immer wieder nötig, daran zu erinnern, daß schon die Einbeziehung Ostberlins in das Staatsgebiet der DDR im Widerspruch zu den Abmachungen steht, die das Kriegsende mit sich gebracht hat.
— Ich spreche ja hier in diesem Hause verhältnismäßig öffentlich, Herr Kollege.
Es ist nicht etwa so, wie manche meinen, als ob das, was man im Bundestag sagt, geheim behandelt werden sollte. Hier sprechen wir öffentlich. Wir haben das nicht zum erstenmal gesagt, sondern diese Bundesregierung hat darauf zum wiederholten Mal hingewiesen.Meine Damen und Herren, unsere Alliierten nehmen ihre Verantwortung für die Fragen, die Deutschland als Ganzes und damit auch die Stellung Berlins betreffen, sehr ernst, wie ich in meinen Konsultationen der letzten Wochen und Monate immer wieder festgestellt habe. Wir sollten froh sein, daß unsere Verbündeten diese Frage so ernst nehmen.
Sie haben die Gespräche mit der Sowjetunion in der Absicht eröffnet, im Hinblick auf Berlin, wo die Verantwortung der Alliierten unverändert besteht, verläßlichere Lösungen zu finden, als sie gegenwärtig bestehen. Wir haben Grund zu der Annahme, daß der hier unternommene Versuch im Laufe der Zeit Erfolge bringen wird. Aber gerade hier ist Geduld und Beharrlichkeit nötig.Ich will allerdings nicht verhehlen, daß es unsere Verhandlungen -- —
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön, Herr Kollege!
Herr Bundesminister, können sie in diesem Zusammenhang die auch von unserem Fraktionsvorsitzenden erneut gestellte Frage beantworten, ob die Bundesregierung auch bei ihren Gesprächen mit Moskau über einen Gewaltverzicht klar und eindeutig davon ausgeht, daß jedes mögliche oder denkbare Abkommen mit der Sowjetunion über einen Gewaltverzicht tatsächlich und rechtlich auch für Westberlin zu gelten hat?
Herr Abgeordneter, ich habe eben die Stellung der Bundesregierung zum Problem Berlin sehr deutlich gemacht. Sie können davon überzeugt sein, daß wir von dieser Stellung bei allen Formulierungen ausgehen werden, die wir finden. Verträge, die wir abschließen, müssen in diesem Parlament ratifiziert werden.
Ich habe nicht die Absicht, Vertragstexte hier im Parlament zu besprechen, sondern nur die Positionen, von denen ich ausgehe.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Barzel?
Vielleicht könnten Sie dann so freundlich sein, eine andere Frage zu beantworten, Herr Kollege Scheel. Ich habe vorhin die Frage gestellt, wer Berlin für den Fall, daß beide deutsche Staaten in die UNO kommen, wie dies Ihre Absicht ist, in ,der UNO vertreten soll. Könnten Sie vielleicht diese Frage beantworten?
Herr Kollege Barzel, diese Rechtsfragen sind im Augenblick Gegenstand der Konsultationen der Bundesrepublik mit ihren Verbündeten, weil sie diskutiert werden müssen.
Halten Sie es dann für möglich, den endgültigen Beschluß zur Aufnahme von Verhandlungen mit der Sowjetunion zu fassen, bevor diese Konsultationen abgeschlossen sind?
Herr Kollege Barzel, wir haben mehrfach deutlich gemacht, daß Verhandlungen mit der Sowjetunion und Vertragsabschlüsse mit der Sowjetunion, Vertragsabschlüsse mit Polen, Vertragsabschlüsse auch mit der DDR und daß die Regelung der Fragen, die mit Berlin zusammenhängen, ein einheitliches politisches Ganzes bilden. Nur wenn alle Fragen zu unserer Zufriedenheit geregelt sind, können sie politisch wirksam werden. Das ist unsere Meinung, und ich glaube, da stimmen wir hier im ganzen Hause überein.
Darf ich dann davon ausgehen, daß das Kabinett heute die Aufnahme definitiver Verhandlungen mit der Sowjetunion nicht beschließen kann, weil die Berlinfrage noch nicht klar ist?
Herr Kollege Barzel, davon können Sie nicht ausgehen.
Ich wiederhole noch einmal, das Kabinett ist völlig souverän in dem, was es beschließt.
Ich will damit nicht sagen, daß das Kabinett einen Beschluß faßt. Aber das Kabinett ist gewöhnt, seine Beschlüsse souverän zu fassen.
Ich darf noch einmal erläutern. Meine Antwort, Kollege Barzel, war die, daß die Probleme, die ich eben genannt habe, in einem engen Sachzusammenhang stehen. In Kraft gesetzt werden kann das eine nur, wenn das andere geregelt ist. Sie können aber keine zeitliche Prioritätenliste aufstellen. Das ist das, was ich sagen wollte.
— Ich wiederhole noch einmal, Sie können keine zeitliche Prioritätenliste aufstellen, Sie müssen die Dinge sich entwickeln lassen. Das Ganze ist eine politische Einheit; das haben wir mehrfach erklärt.
Meine Damen und Herren, ich will allerdings nicht verhehlen, daß es unsere Verhandlungen an anderen Orten erleichtern würde, wenn die Sowjetunion ihrerseits gerade im Hinblick auf die Berliner Gespräche ein Signal geben würde, das ihre Bereitschaft deutlich macht, für Berlin eine dem Willen der betroffenen Menschen entsprechende Lösung zu finden. Wir haben unsere Verhandlungs- und Friedensbereitschaft deutlich genug signalisiert, und es ist nur billig, wenn wir von der anderen Seite heute ein ähnliches Zeichen erwarten. — Herr Kollege Stoltenberg!
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Bundesaußenminister?
Ja, bitte schön!
Herr Bundesminister, würden Sie bei allem Verständnis, das wir für den Willen der Regierung haben, nicht alle Einzelfragen zu präjudizieren, es nicht doch für richtig halten, nach der heute morgen schon zitierten Erklärung des Parteichefs Breschnew in Prag, daß die Sowjetunion von ihrer bekannten Auffassung über Westberlin bei vertraglichen Regelungen mit der Bundesrepublik ausgeht, ganz klar zu sagen, daß ein zweiseitiges Gewaltverzichtsabkommen mit der Sowjetunion nur möglich ist, wenn es rechtlich und politisch auch Westberlin in die Sicherung der Bundesrepublik einbezieht?Scheel, 'Bundesminister des Auswärtigen: Herr Kollege Stoltenberg, ich wiederhole noch einmal, daß es letzten Endes an der Mehrheit dieses Parlaments liegt, welche aufeinander abgestimmten einzelnen Vertragsregelungen und unter welchen Bedingungen sie zustande kommen.
Ich habe ganz klargemacht, daß wir die Sicherheit Berlins zu einem essentiellen Element unserer Verhandlungen machen.
Muß ich denn darüber noch hinausgehen und etwa versuchen, Texte mit Ihnen zu entwickeln? Das können Sie von mir nicht verlangen. Diese feste Position, die wir einnehmen, sollte Ihnen nun wirklich als Auskunft genügen, meine Kollegen. Darüber hinaus kann ich weiß Gott nicht gehen. Aber das ist ja das Entscheidende, daß wir uns über die Grundlagen klar sind, von denen wir bei Verhandlungen ausgehen,
und das ist eine solche Grundlage. — Herr Kollege Rasner, eins kann ich versichern, und zwar ganz deutlich: Die Ausführungen eines Vorsitzenden einer anderen Partei werden niemals Grundlage unseres Handelns sein,
— es sei denn, füge ich hinzu, wir nehmen ausdrücklich Bezug darauf, aber das haben wir in diesem Falle nicht getan.Die Opposition hat ihre Kritik an der Position der Bundesregierung vor allem auch gegen den Punkt 5 der Kasseler Erklärung des Bundeskanzlers gerichtet, auch heute morgen noch einmal. Dieser Punkt lautet: Beide Seiten respektieren die Unabhängigkeit und Selbständigkeit jedes der zwei Staaten in Angelegenheiten, die ihre innere Hoheitsgewalt betreffen. Lassen Sie mich klarstellen, daß damit aus-
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Bundesminister Scheelschließlich gemeint ist, daß die Bundesregierung nicht für sich in Anspruch nimmt, Hoheitsrechte im Gebiet der DDR auszuüben. Wir sind keine Annektionisten, auch wenn uns die innere Ordnung der DDR nicht gefällt. Daß sie uns nicht gefällt, wollen wir allerdings mit aller Deutlichkeit auch jetzt wieder einmal hier feststellen.
— Herr Kollege, von Zeit zu Zeit gestatte ich mir schon einmal, allgemeine politische Bemerkungen zu machen, da ich ja die große Ehre habe, Ihrem exklusiven Kreis der Abgeordneten anzugehören, die sich um alle Fragen der Politik kümmern sollten, und wenn ich das von Zeit zu Zeit außerhalb meines Ressorts schon einmal tue, bitte ich um Nachsicht. Aber ich glaube, in diesem Fall war es angebracht. Ich will sogar noch etwas mehr dazu sagen, wenn Sie mir das gestatten; es scheint mir nötig zu sein.Gelegentlich wird die Bemühung der Bundesregierung um einen Ausgleich mit den Ländern des Ostens im eigenen Lande mißverstanden. Es war die Meinung zu hören, wir suchten einen mittleren Weg in den inneren Ordnungen. Lassen Sie mich darum mit aller Entschiedenheit feststellen: es gibt keinen halben Weg zwischen Freiheit und Unfreiheit.
— Meine Damen und Herren, darüber sind wir uns in diesem Hause einig. Wir schließen also keine Kompromisse in der Verfassungsordnung, aber wir schließen auch keine Kompromisse in der Wirtschafts- und in der Sozialordnung.Ich respektiere die Länder, die auf die eine oder andere Weise ihre Neutralität in den weltpolitischen Konflikten bewahrt haben und bewahren wollen, und ich respektiere auch die Länder, die von unserer Gesellschaftsordnung abweichende Ordnungen entwickelt, aber auch nicht die Ordnung der sogenannten sozialistischen Staaten in vollem Umfang übernommen haben. Ich meine also, daß Ausdrücke wie „Finnlandisierung" für eine bestimmte Form der Neutralität oder „Titoisierung" für bestimmte Formen einer inneren Ordnung ebenso unberechtigte wie auch taktlose Angriffe auf solche Länder und Völker sind,
die beide unsere Achtung verdienen.
Einige von ihnen haben politisch, andere haben gesellschaftlich einen mittleren Weg zwischen den Blöcken gesucht. Wir selbst wollen allerdings weder das eine noch das andere, weder einen Weg der Neutralität, der Neutralisierung noch einen mittleren Weg in der Gesellschaftsordnung suchen. Vor allem aber kennen wir keine Kompromisse in der politischen und gesellschaftlichen Ordnung.
In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn ich sage es führt für die Bundesrepublik kein jugoslawischer Weg von Bonn nach Ostberlin oder nach Moskau.
— Nein, nicht nur gegen die Jungsozialisten, nicht n u r.
— Sie sagen es .Aber ich sage das, was die Position der Regierung ist: die europäische Friedensordnung wird entweder von der Tatsache der grundverschiedenen inneren Ordnungen ausgehen oder sie wird nicht zustande kommen können.
Das ist das Ziel unserer Politik.
— Ja, es gibt da sehr subtile Möglichkeiten, europäische Politik zu machen. Ich will sie hier vereinfacht darstellen. Sie werden es an dem, was wir tun, ablesen können: So viel Integration wie möglich in Westeuropa — ich komme nachher noch im einzelnen darauf — und mit dem sich integrierenden Westeuropa im jeweiligen Integrationsrat so viel Kooperation, wie überhaupt nur denkbar, mit Osteuropa suchen. Das ist die Anwendung unserer Politik auf die Realitäten, die wir in Europa vorfinden.In der öffentlichen Debatte über die deutsche Außenpolitik — auch hier — ist die Frage gestellt worden, wie weit denn die Bundesregierung gehen darf, ohne ihr Mandat zu überziehen. Ist sie überhaupt legitimiert, Wege zu beschreiten, die sich nach Meinung einiger von den. bisherigen Wegen der deutschen Politik wesentlich unterscheiden? Es sind einige Klarstellungen zu diesen Einwendungen notwendig.Jede Bundesregierung, die verfassungsmäßig zustande gekommen ist, ist legitimiert, ihre Politik zu betreiben. Im übrigen sucht diese Bundesregierung vertragliche Regelungen in der Außenpolitik, und solche vertraglichen Regelungen müssen nun einmal ratifiziert werden. In jedem Falle also wird unsere Politik sich diesem Parlament stellen und sich seiner Entscheidung unterwerfen müssen.Wer die gegenwärtige Diskussion in der Bundesrepublik verfolgt, kann im übrigen nicht umhin, festzustellen, daß die Bundesregierung gerade in ihrer Osteuropapolitik möglicherweise die Unterstützung der Bevölkerung in einem stärkeren Maße hat, als die zahlenmäßigen Majoritäten in diesem Parlament es vermuten lassen.
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2690 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Bundesminister ScheelUm so mehr möchte ich betonen, daß wir für unsere Initiativen eine breite Mehrheit suchen und auch dafür kämpfen werden. Es ist nicht unsere Absicht, auf Gedeih und Verderb Vorstellungen ohne Rücksicht auf Mehrheiten durchzusetzen. Wenn wir eine Mehrheit in diesem Hause suchen, dann setzt das die Bereitschaft der Opposition voraus, eine solche Politik der Kooperation mitzumachen.
Herr Bundesminister, eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Barzel?
Ja, bitte!
Herr Bundesaußenminister, auf Grund dieser Passage gehe ich davon aus, daß Sie das Risiko für die deutsche Politik sehen, etwa einen Gewaltverzichtsvertrag zu paraphieren, der dann hier keine Mehrheit findet, weil er nicht vorher hier abgesichert ist. Ich wollte heute darauf aufmerksam machen, daß dieses Risiko dann die Bundesregierung zu verantworten hätte und niemand anderes.
Herr
Kollege Dr. Barzel, die Bundesregierung hat in der Vergangenheit alles getan, um zu einem Höchstmaß an Kooperation nicht nur —
— Mein Gott, wenn ich mir vorstelle, wie das früher war,
selbst bei Regierungen, denen ich selber angehört habe. Wenn ich mir — Sie können das in den Protokollen einmal nachlesen — den Zeitaufwand vorstelle, den der Außenminister gern für Diskussionen außenpolitischer Fragen im Auswärtigen Ausschuß zur Verfügung stellt, und wenn Sie dem einmal den Zeitaufwand meiner Vorgänger gegenüberstellen, den diese für den Auswärtigen Ausschuß zur Verfügung gestellt haben,
dann werden Sie zu einem unerhörten Mißverhältnis kommen. Es gibt keine Bundesregierung, die sich bemüht hätte, ein so hohes Maß an Information in außenpolitischen Fragen dem ganzen Parlament zu geben und darin insbesondere die Opposition einzuschließen.
— Hier hat der Kollege Apel soeben mit vollem Recht darauf hingewiesen:
Sie stellen doch permanent Fragen, auf die vorher schon an Sie Antwort gegeben worden ist.
Sie wollen doch der Offentlichkeit nicht vormachen, daß Sie die Fragen, die Sie stellen, deswegen stellen, weil Sie die Antwort nicht kennen oder weil sie Ihnen verweigert worden ist,
sondern Sie stellen sie nur, weil Sie meinen, schon das Stellen dieser Fragen würde Ihren parteipolitischen Zielen nützen.
Meine Damen und Herren, das ist zwar eine legitime Taktik des politischen Verhaltens; aber Sie dürfen doch nicht annehmen, daß wir das nicht erkennen und nicht auch aussprechen.
Ich sage noch einmal, der Wille zur Kooperation ist da. Aber eines — um ,auf Ihre Frage zu kommen, Herr Dr. Barzel — geht natürlich nicht: etwa der Bundesregierung zu sagen, sie würde auf eine Mehrheit beim Ratifikationsverfahren über Verträge nur dann rechnen können, wenn sie vorher von der Opposition grünes Licht für Verhandlungen bekommen .habe. Ich glaube, so darf ich das, was Sie in Ihrer Frage ausdrücken wollten, nicht auslegen; denn dann müßte ich sagen: nein. Wir haben hier ein parlamentarisches Verfahren. Das schreibt die Verfassung und das schreiben unsere Geschäftsordnungen vor, und wir halten uns daran. Darüber hinaus tun wir ein Höchstmaß, um dem Parlament Informationen zur Verfügung zu stellen. Aber wir können unsere Verhandlungen in keinem Fall von vorheriger Zustimmung abhängig machen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Barzel?
Im Hinblick auf Ihr Angebot der Kooperation frage ich Sie, Herr Kollege Scheel: sind Sie bereit, mir heute schriftlich die Unterlage zu geben, auf Grund deren das Kabinett am Nachmittag entscheiden wird, und mich vorher anzuhören?
Das wäre Kooperation. Ich sage nicht, daß Sie bemücksichtigen müßten, was ich sage. Ich bitte darum, mir das Papier zu geben und mich anzuhören, um dann zu entscheiden. Das wäre Kooperation. Sind Sie dazu bereit?
Herr Kollege, ich glaube, die Definition von Kooperation ist in diesem Hause nicht ganz einheitlich.
Ihre Form der Kooperation — das wird jeder erkennen — stellt Bedingungen, die eine Regierung gegenüber einer Oppositionspartei nicht eingehen kann. Kooperation im Parlament heißt, daß über
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2691
Bundesminister Scheeldas notwendige Maß hinaus Information und Diskussion über Themen stattfinden, die normalerweise geheim sind.
— Sie wollen doch wohl nicht sagen, daß Sie nicht vorher informiert worden sind! Wir haben an keiner Stelle bisher einen Vertrag abgeschlossen, noch haben wir begonnen, irgendwo Vertragsverhandlungen einzuleiten.
Sie haben die Texte im einzelnen von mir mitgeteilt bekommen. Das ist ein völlig ungewöhnliches Verfahren, das vorher niemals angewandt worden ist. Ich habe mir angesehen, was Bundeskanzler Adenauer und seine Außenminister an vorheriger Information gegeben haben.
Meine Damen und Herren, ich will das Gespräch über die Formen der Zusammenarbeit nicht fortsetzen. Ich verlasse mich darauf, daß ein gewisser Stand, der sich entwickelt hat, fortgesetzt werden kann. Ich wollte hier nur darlegen, daß sich ein gewisser Stand entwickelt hat.Lassen Sie mich einige Bemerkungen zu dem machen, was Herr Dr. Barzel heute morgen zur Europapolitik gesagt hat. Auch er hat hier zum wiederholten Male, und zwar unrichtigerweise, den Eindruck zu erwecken versucht, die Bundesregierung bremse die westeuropäische Integration auf Kosten osteuropäischer Initiativen oder weil die Osteuropapolitik ihr keine ausreichenden Initiativen im Westen lasse. Dies ist gänzlich falsch! Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat in den wenigen Monaten
— ja, ich komme darauf —, in denen sie die Verantwortung hat, eine Strecke des Weges in der Europapolitik konkret mit beschlossen und in den meisten Fällen durch eigene Initiative angestoßen, wie sie in der Vergangenheit in Jahren nicht erreicht werden konnte.
— Sie geben damit also zu, daß wir Erfolge gehabt haben. Sie wollen nur die Verantwortung für die Erfolge anderen zubilligen.
— Herr Kollege Marx, da habe ich gar keinen Ehrgeiz. Ich beschränke mich darauf, daß diese Regierung in der Europapolitik de facto Erfolge nachweisen kann wie keine vorher im gleichen Zeitraum.
(Beifall bei den Regierungsparteien. —Abg. Dr. Barzel: In dieser Generation?)— Herr Dr. Barzel, ich komme gleich darauf zurück.Herr Dr. Barzel hat soeben aus einem vertraulichen Papier etwas erwähnt.
— Gut, Sie haben bezüglich eines Ihnen zugegangenen vertraulichen Papiers etwas gefragt. Damit wurde der Inhalt dieses Papiers der Offentlichkeit in diesem Umfang bekanntgemacht.
— Ja, Herr Kollege Stücklen. Aber er hat doch nur aus diesem Papier vorgelesen,
weil die Frage des Herrn Barzel den falschen Eindruck erweckt hat, als ob in diesem Papier etwas stünde, was gegen die politische Einigung Europas gerichtet sein oder die politische Einigung Europas verzögern könnte. Das ist nicht der Fall. In diesem Papier ist die Finalität unserer Europapolitik ganz eindeutig klargestellt.
— Ich komme ja auf die Intensität zu sprechen. Lassen Sie mich das doch einmal erläutern. Ich werde es Ihnen ja sagen, ohne daß ich aus dem Papier verlese.In diesem Papier ist etwas über den Rhythmus gesagt, in dem man realistischerweiser eine politische Einigung Europas erreichen kann, und über die Methoden, mit der man sie erreichen kann; denn wir sind doch gebrannte Kinder: In der Vergangenheit haben doch diejenigen, die ihren Idealen folgend tatsächlich Utopien verlangt haben, die politische Einigung Europas eher zum Scheitern gebracht als ihr geholfen.
Wir gehen von den realistischen Möglichkeiten aus. Deswegen wollen wir die politische Zusammenarbeit beginnen mit Konsultationen, mit einem Minimum an Institutionen, gegen die nun einige unserer Partner partout etwas haben, zumindest am Anfang der politischen Zusammenarbeit. Ich sehe gar nicht ein, daß wir um der verbalen Erläuterungen willen eine Form fordern sollten, die dem Ziel nicht dient,Bundesminister Scheelsondern das Ziel blockieren würde. Das ist die Realistik, die wir in die Politik eingeführt haben.
Mir hat daran gelegen, das noch einmal zu bekräftigen; denn es gibt keine Phase der Westeuropapolitik, .die auch so aussichtsreich wäre wie die Phase, in ,der wir uns befinden. In dieser Phase muß man die. Bemühungen der Bundesregierung stärken, nicht aber so tun, als ob die Weltöffentlichkeit ihren Bemühungen mißtraute.
Das nützt uns in dieser Phase nichts. Ich hatte erwartet, daß ich gerade auf diesem Felde, wo ich mich mit der Opposition einig zu sein glaubte, von der Opposition Unterstützung bekommen würde.Die Außenpolitik der Bundesregierung ist weder kleinkariert noch kurzatmig. Sie ist ein in sich geschlossenes Konzept. Sie ist nicht kurzatmig; das verkennen zumeist ihre Kritiker. Es geht uns auch nicht um verbale Erfolge, Herr Dr. Barzel, die man etwa möglichst schnell und gut einer erwartungsvoll gespannten Öffentlichkeit verkaufen kann. Es geht uns um ein beständiges Friedenswerk für Europa, für das man eine ungeheure Geduld, einen sehr langen Atem und ein hohes Maß an Gelassenheit benötigt.
Wir haben dabei von vornherein mehr und schlimmere Rückschläge .einkalkuliert, als wir bisher einstecken mußten. Wir verstehen, daß eine aktuell interessierte Öffentlichkeit teilweise nervös jeden einzelnen Schritt 'dieser ,Politik aufmerksam und kritisch verfolgt. Wir können und werden uns dadurch aber nicht aus der Ruhe bringen lassen und unsere langfristig und weiträumig angelegte Politik nicht an kurzlebigen Zwischenergebnissen messen. Wir sind auch nicht zu 'kurzfristigen Erfolgen verurteilt, meine Damen und Herren. Dafür steht viel zuviel .auf dem Spiel.Wir werden die Chancen einer langfristigen Sicherheit ides Friedens hier im dicht besiedelten Europa, durch das die Frontlinie ,der weltweiten politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung mitten hindurch geht, ,allerdings bis zum letzten Millimeter ausloten. Würden wir dabei durch Rechthaberei, ,durch einfache Denkschablonen oder durch oberflächliche Formalismen gehemmt, so 'würden ,wir der Verantwortung nicht gerecht, ,die uns zu dieser Zeit und an dieser Stelle aufgetragen ist.
Das Wort hat der Abgeordnete Freiherr von und zu 'Guttenberg. Es sind 30 Minuten Redezeit beantragt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie Umich bitte zunächst eine kurze Bemerkung zu den Reden machen, die die beiden Herren Fraktionssprecher der Regierungskaalition gehalten haben. Ich sage nur dies: mir scheint, daß beide Reden .dem Ernst der Sache nicht angemessen waren.
Lassen Sie mich dann auf das eingehen, was der Herr Außenminister hier soeben erklärt hat. Er hat einiges ,gesagt, was festgehalten werden muß; z. B. daß nichts in diesem Vertrag mit Moskau stehen darf, was die 'deutsche Option behindert. Wir werden Sie, Herr Außenminister an diese Worte erinnern.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2693
Sechstens. Sie haben viel zu Europa gesagt, und ich bestätige, daß ich Sie, Herr Außenminister, als jemanden ansehe, der in der Tat mit dem Herzen Europapolitik macht. Aber, Herr Außenminister, ich weiß nicht, ob Sie das wissen: es gibt ein Papier der deutschen Sozialdemokratischen Partei,
welches auf Anforderung anderer europäischer Sozialisten Antworten auf einen Katalog. zu Europafragen enthält. Darin hat Ihre Partei, Herr Bundeskanzler, Antworten auf diese Fragen gegeben, Antworten, 'die z. B. sinngemäß sagen, Haag sei deshalb so sehr zu begrüßen, weil man dort nicht utopischen Vorstellungen gehuldigt, sondern Realismus betrieben habe und weil man dafür gesorgt habe, 'daß der wirtschaftlichen Integration lediglich politische Kooperation zugesellt werden solle.
Herr Bundeskanzler, ich glaube, Sie wissen auch, daß es ,andere europäische sozialistische Parteien gibt, die über dieses Papier der deutschen Sozialdemokraten keineswegs erfreut waren. Anders gesagt, Ihre Partei wäre in guter sozialdemokratischer Gesellschaft, wenn sie ein wenig mehr — entschuldigen Sie — europäischen Mumm beweisen würde.
Herr Außenminister, Sie haben eine letzte Frage in Ihren Ausführungen nicht beantwortet, von der ich gehofft habe, Sie wären näher darauf eingegangen. Es ist .das, was ,der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU zum Problem des sowjetischen Gewaltvorbehalts im Rahmen eines Gewaltverzichts-Vertrags gesagt hat. Herr Außenminister, kann die Bundesregierung auf Grund der bisherigen Sondierungen und Textentwürfe dem deutschen Volk wirklich guten Gewissens verkünden, auch die Sowjetunion verzichte auf Gewalt? Kann sie das? Kann sie verkünden, daß der bisherige Gewaltvorbehalt gegen die Bundesrepublik, d. h. die rechtswidrige sowjetische Auslegung der Art. 53 und 107 der UN-Satzung, eindeutig ausgeräumt ist? Können Sie das? Oder ist es nicht vielmehr so, daß auch in dieser Frage leider Schein und Mehrdeutigkeit herrschen?
Ist es nicht so, daß die Sowjetregierung in Wirklichkeit doch an ihrer Rechtsauffassung und politischen Begründung festhält, die sie uns in den Jahren 1967 und 1968 von sich aus in aller Form schriftlich übermittelt hat?
Gilt die politische Qualifikation der rechtswidrigensowjetischen Thesen durch die Regierung der Großen Koalition nicht mehr? Wenn nein, frage ich, was sich geändert hat? Etwa nur die des raschen Wechsels fähige Meinung der Bundesregierung oder auch die der Sowjetregierung?Ich sage hier — und ich weiß, was ich sage —: eine reine Hervorhebung des Art. 2 der UN-Charta im bilateralen Verhältnis zwischen Sowjetunion und Bundesrepublik ist ungenügend,
solange die Sowjetunion nicht expressis verbis darauf verzichtet, unsere friedlichen Bemühungen um Wiedervereinigung in Freiheit als — ich zitiere die UN-Charta — „Erneuerung aggressiver Politik" zu bezeichnen und dann aus Art. 53 ihren Gewaltvorbehalt zu folgern. Wir benötigen, Herr Bundeskanzler, in dieser nur scheinbar juristischen, in Wirklichkeit hochpolitischen und für die Zukunft weittragenden Frage eine klare Antwort der Bundesregierung.Meine Damen und Herren, die Opposition hatte nur einen einzigen Grund für ihre Große Anfrage, über die wir heute hier debattieren, nämlich die tiefe Sorge, wohin die Reise führen soll, die die Bundesregierung nach Osten angetreten hat.
Man hat uns andere, nämlich 'billige parteipolitische oder personale Motive unterstellt. So hat heute Herr Apel hier gesagt, es sei nicht die Sache, es seien Personalprobleme, die die CDU zu dieser Großen Anfrage veranlaßt hätten.
Herr Apel, ich sage hier für mich: dies ist eine Kränkung der führenden Männer der CDU/CSU.
Für uns sind die Dinge unserer Nation keine Parteipolitik, sondern Sache des Gewissens. Das nehmen Sie bitte zur Kenntnis!
Meine Damen und Herren! Ein Minister der SPD sagte mir vor kurzem etwa wörtlich: „Ihr — CDU/ CSU — macht das falsch, wenn ihr Wähler gewinnen wollt, dann dürft ihr euch nicht auf die Außenpolitik stürzen, dann müßt ihr Finanz- und Wirtschaftspolitik machen."
Dieser Mann merkte noch nicht einmal, meine Damen und Herren, daß er uns damit unfreiwillig selber bestätigt hat, daß es uns also um diese Sache geht, wenn wir nicht nachlassen, die Regierung auf diesem Felde zu bedrängen.
Auch wir kennen die Meinungsumfragen, Herr Außenminister. Dennoch sagen wir hier unsere Meinung. Ist dies nicht der beste Beweis dafür, daß wir die Dinge, die Sache meinen und nichts anderes?
Ich will die Sache, die hier auf dem Spiele steht, um deretwillen wir schwerste, sage ich, Sorge haben,
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2694 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Freiherr von und zu Guttenberggleich bei ihrem Namen nennnen. Diese Sache ist nicht mehr und nicht weniger als das Recht der Deutschen — aller Deutschen —, frei zu sein und selbst über sich zu bestimmen.
Dies war, dies ist und dies wird bleiben der feste, unveränderliche Kern und Auftrag aller konkreten deutschen Politik, wo und solange sie von Demokraten geführt wird und solange diese Demokraten sich selbst erkennen.
Ich sage: aller k o n k r et en deutschen . Politik, denn meine Freunde und ich sind nicht willens, dieses unveräußerliche Freiheitsrecht zu einer — und diejenigen, die es angeht, mögen dies in ihren Ohren klingen lassen — salvatorischen Klausel, zu einer abstrakten Maxime werden zu lassen,
die allen Bezug auf das aktuelle, auf das tägliche politische Handeln verloren hat, ja gegen welche zu handeln heute sogar erlaubt sei, da doch — und ich zitiere wieder einen amtierenden Minister der SPD — dies — nämlich die Selbstbestimmung der Deutschen — „bestenfalls eine Sache des Jahres 2030 sei".
Ich sage noch einmal, meine Damen und Herren: aller konkreten deutschen Politik, weil ein Han- dein gegen das Freiheitsrecht aller Deutschen zugleich ein Handeln gegen den Frieden in Europa ist.
Denn, um es einfach und wiederum konkret zu sagen, wer Unterdrückung legitimierte, der ermunterte die Unterdrücker
Aus dem gleichen Grunde kann es keine Anerkennung für neues Unrecht auf deutschem Boden, für Herrn Ulbricht geben.
Vielleicht fragen Sie mich jetzt, warum ich dies sage, und ich werde Ihnen offen und ohne Rückhalt antworten. Aber lassen Sie mich zuvor erklären, daß ich bei dem, was ich jetzt sagen werde, mit keinem Gedanken an polemische Anklage oder gar an Verketzerung denke; anders als Sie, Herr Kollege Apel, der Sie uns vorgeworfen haben, daß wir hier wider besseres Wissen Unterstellungen betrieben. Dieser Satz allein, Herr Kollege Apel, disqualifiziert Ihre Rede.
Ich bin nicht der Meinung, daß wir uns hier gegenseitig die guten und honorigen Motive absprechen dürfen oder können. Aber ich bin der Auffassung, daß wir ehrlich und frei unsere Meinung sagen sollen, wohin die Politik des anderen führt, die wir für falsch halten. Ich will mir daher heute den Mut und die Freiheit nehmen, an unser aller — aller in diesem Hause — Gewissen zu appellieren, und ich will gleichzeitig ins Bewußtsein rufen, daß auch der, der besten Willens dem Frieden zu dienen meinen mag, gefährlich irren kann.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2695
Freiherr von und zu GuttenbergEr irrte dort am gefährlichsten, wo er sich verleiten ließe,
einer militanten totalitären Ideologie mit jenem wertfreien bloßen Pragmatismus begegnen zu können, der für das tägliche Geschäft unter Demokraten selbstverständlich durchaus angemessen ist.
Dies vorausgeschickt, sage ich jetzt, Herr Bundeskanzler, offen und deutlich: ich bin davon überzeugt, daß Ihre Regierung auf Anerkennungskurs liegt. Dieser Kurs wird dazu führen, daß eine Tages der Schutz der NATO zerbröckeln
und die Sowjetunion ihre Vorherrschaft über ganz Europa gewinnen kann.
Herr Bundeskanzler, um dies über allen Zweifel deutlich noch einmal zu sagen: gewiß nicht, weil Sie das so wollen — —
Rede von: Unbekanntinfo_outline
gewiß nicht, weil Sie das so wollen, aber weil es nach unserer gewissenhaften Prüfung Ihrer Politik in der Logik dieser Politik liegt.Herr Bundeskanzler, ich habe in diesem Hause einmal vor langen Jahren gesagt, daß ein damals von Ihren Freunden vorgetragener Kurs zur Einheit Deutschlands führen möge, daß ich aber fürchtete, daß dann die Trümmer unserer Freiheit am Wege liegen würden. Ich habe auch damals nicht gesagt, daß Sie das wollten, um Himmels willen, nein. Aber ich glaube, daß das gegen Ihren Willen geschähe, wenn Sie nicht rechtzeitig haltmachen.Sie, Herr Bundeskanzler, sind dabei, das Deutschlandkonzept des Westens aufzugeben und in jenes der Sowjetunion einzutreten.
— Meine Damen und Herren, da sagt jemand „pfui", da sagt jemand, dies sei „unanständig". Ich sage hier, daß ich bereit wäre, in dieses sowjetische Deutschlandkonzept einzutreten, wenn ich davon überzeugt wäre, daß man mit dem Status quo den Frieden gewönne. Ich, Herr Apel, werde niemandem den guten Willen abstreiten, wenn er diese Meinung hat. Ich habe sie nicht, und deshalb widersetze ich mich dieser Meinung.
Herr Bundeskanzler, nicht anders als so, wie ich es gesagt habe, ist es zu werten, daß Ihr Unterhändler in Moskau, wie es nach allem, was wir hören, scheint, weitgehend — wir werden es bald erfahren; wir reden ja nicht in den Wind — jene altbekannten sowjetischen Teilungs- und Anerkennungsformeln akzeptiert hat. Nicht anders ist es zu werten, daß Sie selbst in Kassel die Möglichkeit völkerrechtlicher Anerkennung angedeutet haben und daß Ihre Regierung in Warschau dabei ist, eine Anerkennungsformel für die Oder-Neiße-Grenze zu suchen.Was aber wäre denn die unausweichliche Konsequenz eines solchen, ich sage es so, Herr Außenminister, Scheinfriedens auf der Basis einer sanktionierten Teilung Deutschlands und Europas? Die erste Konsequenz wäre die, daß viele, allzu viele dann in Amerika sagen würden, nun sei das entscheidende Problem in Europa gelöst; wozu also noch amerikanische Truppen in Europa?
Die zweite Konsequenz wäre die, daß die Sowjetunion in der wichtigsten und zentralen Auseinandersetzung in Europa über den Westen einen entscheidenden politischen Sieg errungen hätte und daß sich der Wind dann in Europa zugunsten der Sowjetunion drehen würde.Die dritte Konsequenz wäre die, daß das Ergebnis dieses politischen Sieges der Sowjetunion eben nicht die von vielen, die guten Willens sind, erhoffte — ich sage dies noch einmal nach den Pfui-Rufen von dieser Seite — Festigung des Friedens, sondern die Ermutigung und Bestärkung jener notorischen Friedensstörer wäre, deren — vorerst? — letztes Opfer die CSSR im Jahre 1968 gewesen ist.
Gewiß, Herr Bundeskanzler, werden Sie mein Wort bestreiten, daß Ihre Regierung auf Anerkennungskurs liege. Sie werden darauf hinweisen, daß Sie die alliierten Vorbehalte und damit den Friedensvertragsvorbehalt respektierten. Sie werden sagen, daß Sie am Selbstbestimmungsrecht festhielten und daß Sie vorhätten, den Sowjets wenigstens einseitig zu erklären, Ihr Ziel sei nach wie vor die Wiedervereinigung Deutschlands durch Selbstbestimmung. Aber, Herr Bundeskanzler, all das ist — erlauben Sie mir, ein Wort von Ihnen aufzugreifen — nun wirklich Formelkram. Denn diesen theoretisch-abstrakten Rechten und Zielsetzungen steht Ihre konkrete Politik gegenüber, die diesen theoretischen Maximen diametral entgegensteht. Denn wie kann man glaubhaft vom Selbstbestimmungsrecht aller Deutschen reden, wenn man die staatsrechtliche Anerkennung Ost-Berlins bereits zugestanden und sich in Kassel nun auch der völkerrechtlichen Anerkennung genähert hat? Oder wie kann man glaubhaft davon sprechen, daß erst ein Friedensvertrag die Ostgrenze Deutschlands festlegen könne, wenn man gleichzeitig bereit ist, die Anerkennung von Oder und Neiße als polnische Westgrenze zwischen Bonn und Warschau festzulegen? Und dient es, Herr Bundeskanzler, dieser Glaubhaftigkeit Ihrer Selbstbestimmungspolitik, wenn wir mehr und mehr und öfter und öfter hören, daß der Deutschlandvertrag und sein Art. 7 eine Einengung — ein bedauerliches Faktum also —, eine
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2696 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Freiherr von und zu GuttenbergEinengung der Handlungsfreiheit der Bundesregierung sei,
jener Art. 7 des Deutschlandvertrags, der eine der größten und geschichtlich wirksamsten Errungenschaften Adenauers war, weil mit diesem Art. 7 die Westmächte die Verpflichtung auf sich genommen haben, für die Freiheitsrechte der Deutschen einzutreten?
Spüren Sie nicht selbst, Herr Bundeskanzler, daß diese und andere Widersprüche Ihnen selbst und Ihrer Regierung in ständig steigendem Maße eine Sprache aufzwingen, die viele — und ich zähle mich dazu — schlechterdings erschrecken läßt? Dort nämlich, wo Ihre Regierung offenbar versucht, einen Vertrag mit der Sowjetunion durch Formeln zustande zu bringen, die von beiden Seiten mit verschiedenen Inhalten gefüllt werden.
Denn was bedeutet in der sowjetischen Terminologie z. B. — ich zitiere— „die Achtung der territorialen Integrität der DDR"? Doch nichts anderes als den endgültigen und ausnahmslosen Verzicht, der uns auferlegt werden soll, auf jede Forderung nach freiheitlichen Veränderungen im anderen Teil Deutschlands. Dies, Herr Bundeskanzler, kann doch nicht Ihre Interpretation sein und ist es auch nicht. Was also, wenn diese Formel dennoch im Vertrag erschiene, angesichts dessen, Herr Außenminister,was Sie begrüßenswerterweise in Ihrer Antwort auf unsere Anfrage gesagt haben, daß — ich zitiere — über den „Inhalt dieser Begriffe volle Klarheit bestehen müsse"
und daß ein „offener oder versteckter Dissens in einem Vertrag mit Moskau das Verhältnis weiter belasten müßte?"Oder ein anderer Begriff, den wir täglich hören, jener von der „Normalisierung". Ich habe schon davon gesprochen. Meine Damen und Herren, wann wird es denn in Deutschland wieder normal sein — es sei denn, man setzt die Sprache außer Kraft —? Doch erst dann, wenn es keine Mauer mehr gibt und keine Schüsse mehr in der Nacht, sondern Menschenrechte für alle Deutschen.
Ist dies mit dem Wort von der Normalisierung gemeint oder etwa ein Vertrag, in dem uns sage und schreibe, wenn Worte noch einen Sinn haben, zugemutet wird, zu respektieren, was die Männer, die drüben Verantwortung haben, in ihrem Hoheitsbereich geregelt haben? So steht es in Punkt 5 der Vorschläge des Bundeskanzlers in Kassel.
Ein drittes Beispiel für diese neue, diese erschrekkende Sprache. Diese Bundesregierung sagt, sie spreche nur für die Bundesrepublik. Ich widerspreche, Herr Bundeskanzler. Nicht weil ich alte Formulierungen wie etwa jene des Alleinvertretungsrechts für bessere Juristerei hielte als Ihre neuen Formeln; auch nicht deshalb, weil ich etwa einem Völkerrechtsgelehrten mehr glaubte als einem anderen. Nein, Herr Bundeskanzler, ich brauchte noch nicht einmal eine Verfassung, ich brauche nur mein Gewissen, das mir sagt, daß ich als Abgeordneter in diesem Hause Verantwortung für mein ganzes Volk trage
und damit also auch und vor allem für jene, die zum Schweigen verurteilt sind. Deswegen wehre ich mich gegen jenen Trick — Trick sage ich —, nach welchem ,die Bundesregierung die Oder-Neiße als polnische Westgrenze deshalb anerkennen könne, da sie ja nur für die Bundesrepublik und eben nicht und in keiner Weise für alle Deutschen sprechen könne; denn niemand kann uns, die frei gewählten Abgeordneten des deutschen Volkes, aus der Pflicht entlassen, uns um das Schicksal unseres ganzen Volkes zu kümmern. Wir sollten auch keinen Augenblick vergessen, daß unter dieser Chiffre der Oder-Neiße mehr und anderes verstanden werden muß als eine bloße Grenzfrage, nämlich vor allem verletztes Menschenrecht.
Deshalb sollte man endlich überall begreifen, daß unsere strikte Weigerung, einer friedensvertraglichen Regelung heute vorzugreifen, nichts, aber auch gar nichts mit Nationalismus zu tun hat. Das Gegenteil ist der Fall. Jene, die heute glauben, dieses ganze komplexe große Problem der Gebiete jenseits der Oder-Neiße und der Menschen, die von dort stammen, und jener, die dort heute ihre Heimat haben, mit dem einfachen Rezept des Festnagelns von Grenzpfählen bewältigen und lösen zu können, die so denken, meine Damen und Herren, denken in alten nationalstaatlichen überholten Schemata.
Noch auf einem weiteren Gebiet wird heute von unserer Regierung eine neue, 'eine andere und eine nach meiner Überzeugung falsche und ,gefährliche Sprache gesprochen; dort nämlich, wo man 'glaubt, die Wirklichkeit, die volle Wirklichkeit jedenfalls, verschweigen oder beschönigen zu müssen, weil man fürchtet, die ganze Wahrheit +auszusprechen könne der erwünschten Zusammenarbeit und Verständigung mit den Machthabern drüben im Wege stehen. Aber, Herr Bundeskanzler, bei allem Verständnis für Ihr politisches Argument, es gibt ein Argument, das weit, weit mehr wiegt, das Argument nämlich, daß ,die Demokratie davon lebt, daß die Demokraten die Wahrheit sagen, und zwar die ganze Wahrheit.
Glauben Sie mir, Herr Bundeskanzler, glauben Sie mir, Demokraten können nicht straflos ständig von der Gleichberechtigung zwischen diesem freien Deutschland hier und einem kommunistischen Zwangsregime drüben auf deutschem Boden reden.
Und glauben Sie mir auch, es kann nur wie einschleichendes Gift. im Körper unserer Demokratie
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2697
Freiherr von und zu Guttenberg wirken, wenn einerseits führende Männer — Sie selbst, Herr 'Bundeskanzler, haben das leider mehrfach getan; ich erspare mir die Zitate — sich immer wieder der verbalen Verwischung der fundamentalen Unterschiede zwischen drüben und hier schuldig machen und wenn andererseits jene, die das aussprechen, was ist, die also Terror Terror und Mord an der Mauer Mord an der Mauer nennen, als unbelehrbare kalte Krieger verschrieen werden.Die deutsche Demokratie ist schon einmal zugrunde gegangen, jawohl, Herr Dorn, deshalb, weil damals unter Deutschen eine geistig-moralische Verwirrung angestiftet und .die Grenze zwischen demokratischer Rechtsstaatlichkeit und totalitärem Verbrecherregime verwischt wurde.
Es gibt leider Grund, davor zu warnen, daß diese Grenze erneut vernebelt werden könnte, und diesmal durch Demokraten.Sagen Sie mir nun nicht, meine Damen und Herren von der Koalition, ich hätte hier nur Kritik geübt, aber nicht gesagt, was wir eigentlich wollten. Sie haben diese Torheit immer und immer wieder vorgebracht, auch heute wieder. Denn, meine Damen und Herren von der SPD: haben wir nicht zusammen eine Politik gehabt: Die kennen Sie doch. War ,es nicht eine große und nützliche Sache, daß es gelungen war, in der Großen Koalition diese Gemeinsamkeit zu konkretisieren? Dies ist unsere Politik; denn wir haben diese Politik für richtig, nützlich und für erfolgreich gehalten.
Sie, meine Damen und Herren von der SPD, haben diese gemeinsame Politik ohne Not, ohne überzeugende Begründung verlassen. Sie gehen heute einen anderen, einen gefährlichen Weg. Wir, die Union, wir bleiben bei dieser Politik, die wir gemeinsam mit Ihnen geführt haben. Ich bin sicher, daß Sie von mir keine Nachhilfestunde wünschen, was diese Politik war. Sie kennen sie.Wir bleiben bei der Politik des Angebots der Verständigung mit dem Osten unter strikter Wahrung der Freiheitsrechte unserer Nation.
Wir bleiben bei der Politik der Beharrlichkeit, des langen Atems und der zähen Geduld. Wir wenden uns gegen jene Geschichtsklitterung, die es dauernd gibt, auch heute wieder hier gegeben hat, nämlich daß die CDU/CSU lange Jahre auf falschem Wege gewesen sei und die Lage verhärtet habe und daß nun erst die neue Alternative komme. Die Wahrheit ist doch die, daß Sie, meine Damen und Herren von der SPD und von der FDP, mit uns zusammen zwei Jahrzehnte lang die Grundpositionen dieser Politik getragen und geteilt haben.
Sie haben Ihren neuen Weg angetreten mit dem Vorwurf an uns, unsere Politik — jene, deren Grundlagen durch 20 Jahre auch die Ihren waren — habe nichts bewegt. Sie haben den Eindruck zu erweckenversucht, als verfügten Sie über die Alternative, die die Dinge in Bewegung bringen könne.Lassen Sie mich ganz nüchtern sagen: ist es nicht so, daß Sie in Kassel gelernt haben sollten, daß es eben nicht stimmt, was Sie behauptet haben, nämlich daß es die starre Politik der CDU gewesen sei, die allen Fortschritt bisher unmöglich gemacht habe? Den Fortschritt verweigert hat bisher nichts anderes als die Intransigenz der SED.Heute reden Sie selbst von der notwendigen Geduld und von den langen Jahren, die Sie benötigen. Damit nehmen Sie für sich in Anspruch, was Sie uns verwehrten; mit einem Unterschied allerdings: Sie haben, um diese bittere Erfahrung zu machen, Preise aus unserem gemeinsamen nationalen Schatz bezahlt, und ich fürchte,. Sie sind bereit, noch weiter diesen Schatz zu leeren.
Denn leider haben wir nicht den Eindruck, daß Sie aus Kassel auch jene andere Lehre gezogen haben, die da heißt, daß sich — ich weiß, Sie mögen das Wort nicht, aber gewöhnen Sie sich bitte daran, daß wir es aussprechen, weil es den Tatsachen entspricht— Vorleistungen und Vorauszahlungen gegenüber totalitären Regimen nie bezahlt machen.
Lassen Sie mich nun am Ende mit allem mir zur Verfügung stehenden Ernst ausdrücken — —
— Ich verstehe, daß Sie dort gerufen haben: „Gott sei Dank!" Ich hätte mir an Ihrer Stelle meine Rede auch ungern angehört, und deshalb habe ich sie gehalten.
Lassen Sie mich also sagen, wo ich den eigentlichenUnterschied sehe zwischen dem, was Sie heute versuchen, und der Haltung der CDU und CSU. EinerIhrer Minister, Herr Bundeskanzler, der von mir sehr geschätzte Kollege Helmut Schmidt, hat mir vor einigen Tagen in einer Fernsehdiskussion sinngemäß geantwortet, daß der Friedensvertragsvorbehalt für ganz Deutschland und für seine östlichen Grenzen zwar rechtlich nötig sei; er — dieser Friedensvertragsvorbehalt — aber habe viele bei uns verleitet, Lebenslügen aufrechtzuerhalten, die 26 Jahre nach dem Krieg nun als solche erkannt werden müssen. Meine Damen und Herren, ich habe lange über diesen Satz von Herrn Schmidt nachgedacht. Ich komme zu dem Schluß, daß dieser Satz, so, wie er ihn da gesagt hat, nichts anderes bedeuten kann als die Aufforderung, wir sollten vor Macht und Gewalt resignieren.
Wir, die Union, resignieren nicht.
Wir hoffen darauf und wir wirken dahin und dafür, daß unser Volk, daß unser ganzes Volk — allen modischen Strömungen zum Trotz — jene moralische Widerstandskraft aufbringt, die notwendig ist, um wenn es sein muß, durch eine ganze Generation und,
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2698 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
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Freiherr von und zu Guttenbergwenn ,es nötig .ist, noch länger für Recht, Freiheit und Menschenwürde aller Deutschen einzustehen.
Auch wir wissen und brauchen .darüber keine Belehrung, daß Rechtstitel ,allein nach keine Politik sind; wohl aber, daß Rechtstitel unverzichtbare Instrumente einer Freiheitspolitik sind; denn dais Recht war immer .die Waffe der Schwachen und der Friedfertigen.
Wir weisen auch jene zurück, ,die uns einreden wollen, die Deutschen drüben hätten bereits. ihren inneren Frieden Mit Fremdherrschaft und Unterdrückung gemacht.'
Wer in diesem Hause wagte dies zusagen, solange eine fremde Macht ;den Menschen drüben verwehrt, ihren politischen Willen zweifelsfreizu sagen!Und weiter: Ist einer hier — ,einer! —, der mir widerspräche, wenn ich sage, daß keiner ein Recht hat, die Freiheitsliebe der Deutschen in ,der Zone geringer einzuschätzen als jene der Tschechen und der Slowaken, die im Frühjahr 1968 das Gewissen der 'Welt 'erschüttert halben?
Auch wir, die CDU und CSU, wissen nicht, wann die Stunde der Freiheit jenseits von Mauer und Stacheldraht wieder schlagen wind. Wir wissen aber dies: daß sie dann nie wieder schlagen würde, wenn wir, .die freien Deutschen, bereit wären, vor schierer Macht und bloßer Gewallt in die Knie zu gehen.
Und wir wissen, daß unsere Unterwerfung unter denWillen der Sowjetmacht ;dieser ,den Weg öffnenwürde hinein ins freie Europa. — Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Mattick.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hätte niemand und auch mir selbst nicht gewünscht, jetzt, nach der Rede Ides Herrn Kollegen von Guttenberg, an dieser Stelle dazu etwas sagen zu müssen. Vielleicht war es persönlich eine Schicksalsstunde, an der ,die Sozialdemokrate Anteil nimmt.Mir, meine Damen und Herren, sind in dieser Stunde gedanklich Erinnerangen wach geworden, die weiter gehen, als mancher im Augenblick vielleicht denken mag. Herr von Guttenberg hat das sicher nicht so gemeint. Ich nehme ihm auch ab, daß er seine Meinung zum Ausdruck gebracht hat.Aber ich sage Ihnen, meine Damen und Herren, wenn )das 'die Form der Auseinandersetzung in dieser Phase unserer Politik wird, dann sehe ich die Persönlichkeiten von Rathenau über Erzberger und Scheidemann bis Müller und. Stresemann in der schrecklichen Lage, in der sie waren, seiner Auseinandersetzung ausgesetzt, die draußen gar nicht verstanden werden kann, ohne ,die Substanz in einer Art der Polemik darzustellen, die einer klaren politischen Auseinandersetzung nicht mehr gewachsen ist.
Ich warne davor, und ich ,bitte zu verstehen, daß ich jetzt auf diese Fragen ,der Persönlichkeit wegen, um ,die es sich hier im Augenblick handelt, nicht weiter ,eingehen möchte.Eigentlich wollte ich mit einer Bemerkung zum Kollegen Dr. Barzel anfangen. Ich bin mir in dieser Rede des Herrn Barzel darüber schlüssig geworden, wile 'unmöglich ,es für einen Politiker ist, eine Rede zu halten, die er der Öffentlichkeit wegen als Verpflichtung ansieht, in dem Wissen, daß vieles, was er sagt, so nicht ist.Nicht jeder ist geeignet, meine Damen und Herren, an internen Gesprächen teilzunehmen und Informationen zu erfahren, von denen er als Politiker und Verantwortlicher weiß, daß man sie nicht benutzen kann. Das ist nun einmal so in der Diplomatie und dann, wenn es sich zeitweilig um 'internationale Fragen handelt. Und dann tun Sie hier wirklich so, Herr Dr. Barzel, als wenn Sie nichts wüßten! Ich sage ganz ehrlich, ich wäre dazu nicht geeignet. Ich frage mich nur, wer 'der bessere Politiker ist: derjenige, der dazu geeignet ist, oder derjenige, der dann lieber in einigen Fragen schweigt.
Mir ist eingefallen — das soll weder eine Kritik noch eine lobende Bemerkung sein —, daß ich in einer ganz anderen Situation eine große Rede erlebt habe. Da kam ein Freund zu mir, der mich gut kannte, und' sagte: „Sag mal, du kennst doch den Mann. Wie müßte der reden können, wenn er aus Überzeugung spricht!" So, meine Damen und Herren, war ich 'beeindruckt. Ich sage das hier so offen, wie es ist, weil wir in einer kritischen Stunde der politischen Auseinandersetzung stehen. So, Herr Dr. Barzel, wird es nicht gehen.Wenn die 'Bundesregierung mit Ihnen und anderen Ihrer Freunde die Fragen, die Sie bedrücken, bis ins Detail bespricht und Sie dann hier in der öffentlichen Rede so tun, als ob Sie davon nichts wüßten, dann muß ich sagen: Das geht meiner Ansicht nach nicht und bedarf einer Überprüfung in dem kleinen Kreis, in dem wir auch schon öfters zusammen waren, ob diese Form der Zusammenarbeit sinnvoll ist. Ich sage das auch an die Adresse der Regierung, damit sie weiß, wie es da steht.Herr Guttenberg hat 'die ganze Wahrheit verlangt. Die ganze Wahrheit wird man in einer solchen Situation nur so sagen können, 'daß man auch offen zugibt: Über diese und andere Punkte kann zur Zeit noch nicht gesprochen werden, weil sie in der diplomatischen Beratung sind. Das hätte auch Herr Barzel tun können, wenn er daran gedacht hätte: Lieber schweigen als in der schwierigsten Situation, in der wir uns befinden, wissen, nicht das zu tun, was
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Mattickuns eigentlich zusteht, nämlich die Wahrheit zu sagen.
Ich frage mich nun bei dieser Diskussion: Was ist von seiten der Opposition ernst gemeint, und was ist Wahlkampf? Dabei fällt mir die Große Anfrage ein, die .die Bundesregierung so ausführlich beantwortet hat, daß die CDU/CSU auf diese Große Anfrage erstaunlicherweise im Grunde gar nicht mehr zurückkommt. Auf alle Fragen, die Sie in Ihrer Großen Anfrage gestellt und heute zum Teil wiederholt haben, gibt die Bundesregierung ganz klare und eindeutige Antworten.Ich möchte dazu nur zwei Bemerkungen machen. Sie haben mein Interview erwähnt. Ich bedanke mich dafür, daß Sie, Herr Dr. Barzel, es auch noch hier im Hause publik gemacht haben. Aber Sie hätten ganz genauso, Herr Dr. Barzel, erwähnen können, was die Bundesregierung in diesen Punkten auf Ihre Große Anfrage geantwortet hat. Sie hätten nämlich die gleichklingenden Antworten gefunden.
Es heißt da z. B.,daß die Rechte und Verantwortlichkeiten der Drei Mächte in bezug auf Deutschland als Ganzes und Berlin respektiert bleiben müssen. Die Bundesregierung hält an diesen Grundsätzen unverändert fest. Sie wird nichts aufgeben, was für die Deutschen lebenswichtig ist.Ich glaube, das ist eine sehr klare Formulierung.Wer es nachlesen will, der kann sich überzeugen, welche Stellung die Bundesregierung in diesem Fall eingenommen hat. Sie hat auf Frage 5 geantwortet, es werde darauf ankommen,eine Regelung zu finden, die sich mit dem Grundgesetz und der Verantwortlichkeit für die Einheit der deutschen Nation, mit der Verantwortung der Vier Mächte für Deutschland als Ganzes und Berlin und mit unseren internationalen Verpflichtungen vereinbaren läßt.Eine klarere Antwort der Bundesregierung auf diese Ihre Fragen kann es meiner Ansicht nach nicht geben. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. Sie dürfen nicht mit Fragen aufwarten, mit denen Sie — das wissen Sie genau — versuchen, über Verhandlungen etwas herauszupicken, was im einzelnen im Augenblick nicht herausgepickt werden kann.Ich habe darüber nachgedacht — es sei mir gestattet, daran zu erinnern —, in welcher Entwicklungsphase wir uns heute eigentlich befinden. Welches sind denn — wenn man einmal zurückdenkt — die Ausgangspositionen der Lage, in der wir uns heute in bezug auf die beiden Teile Deutschlands in ihrer internationalen Wertung befinden? Ich kam auf das Jahr 1955. Sie wissen, im Jahre 1955 ist der Bundeskanzler Adenauer mit einer Delegation nach Moskau gefahren und •hat dort die diplomatischen Beziehungen zwischen der sowjetischen Regierung und der Bundesregierung aufgenommen. Nun bitte ich Sie, mit mir einmal gemeinsam zu überlegen. InMoskau gab es zu der Zeit schon eine diplomatische Vertretung der DDR-Regerung. Der Bundeskanzler hat mit Moskau die diplomatischen Beziehungen mit dem Wissen aufgenommen, daß es in Moskau einen diplomatischen Sitz der DDR-Regierung gibt. Der Kanzler kam zurück und gab einige Erklärungen ab.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Reddemann?Mattick : Nein, ich möchte ohne Unterbrechung weiterreden. Wir haben uns ja alle nicht so viel Zeit genommen.Er schrieb damals einen Brief an Bulganin, in dem es heißt:Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Regierung der Sowjetunion bedeutet keine Änderung des Rechtsstandpunktes der Bundesregierung in bezug auf ihre Befugnis zur Vertretung des Deutschen Volkes in internationalen Angelegenheiten und in bezug auf die politischen Verhältnisse in ,denjenigen deutschen Gebieten, die gegenwärtig außerhalb ihrer effektiven Hoheitsgewalt liegen.Und ,er schrieb dann an dieselbe Regierung, die vor der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Bundesrepublik bereits mit der DDR diplomatische Beziehungen aufgenommen hatte:Die Bundesregierung ist daher nach wie vor die einzige frei und rechtmäßig gebildete deutsche Regierung, die allein befugt ist, für das ganze Deutschland zu sprechen.Ich frage Sie jetzt einmal in allem Ernst, meine Damen und Herren: wenn wir die fünfzehn Jahre einmal zurückdenken, würden Sie mir zustimmen, wenn ich sage, das war eigentlich der Beginn einer Schizophrenie — ob es wirklich der Beginn war, weiß ich nicht, für mich war es aber ein wesentlicher Abschnitt —, einer Schizophrenie, die, wenn die Zeit länger dauerte, automatisch in die Lage führen mußte, in der wir uns seit einigen Jahren befinden? Wenn nämlich an dem Sitz einer der beiden Großmächte ,der Welt zwei deutsche Regierungen diplomatisch vertreten sind, dann davon auszugehen, daß sich das auf diesen einen Vorgang isolieren läßt, war 'in der heutigen Sicht — da wird mir jeder zustimmen — eine völlig falsche Vorstellung.
Lassen Sie mich daran erinnern, was wir damals dazu gesagt haben. Unser Fraktionsvorsitzender, Erich Ollenhauer, hat damals folgendes erklärt — ich darf mit Genehmigung zitieren —Das Abkommen ist in seinem politischen Teil vor allem ein Erfolg der Sowjetregierung und nicht ,der Bundesrepublik und des Westens. Unsere Zweifel über die Richtigkeit der Außenpolitik der Bundesregierung— sagte Ollenhauer damals —
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2700 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Matticksind durch die Moskauer Verhandlungsergebnisse eher verstärkt als abgeschwächt worden.Und er kommt zu dem Schluß:Wir werden uns auch noch sehr ernsthaft unterhalten müssen über das Verhältnis zwischen Bonn und Pankow. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit einer Regierung, die Pankow als deutsche Regierung für die sowjetisch besetzte Zone anerkannt hat, ist eine Stärkung der Position von Pankow.Das ist eine Feststellung, die man sich heute noch einmal in Erinnerung rufen sollte. Man sollte das ganze Protokoll noch einmal nachlesen.
— Nein, verehrter Herr Strauß. Jetzt machen Sie wieder einen Denkfehler. Sie unterlassen es nämlich, zu überprüfen, was sich in den letzten fünfzehn Jahren auf Grund dieser Entwicklung abgespielt hat. In der Präambel der Antwort auf Ihre Große Anfrage sagt die Bundesregierung mit Recht:Die Bundesregierung hat nach Übernahme der Regierung den Tiefstand der Spaltung als Gegenwart feststellen müssen.Jetzt die Dinge so hinzuschieben, als wenn unsere Politik etwas an der Spaltung vertiefte, das ist meiner Ansicht nach nur der Versuch, abzuweichen von dem, was wir an Gemeinsamem zu tragen haben, soweit es hier in den letzten Jahren als Politik entwickelt worden 'ist.
Bevor also die CDU zu ihren Überlegungen über die heutige Politik kommt, sollte sie mit sich selber einmal ins Gericht gehen und sich die Frage vorlegen, die Herr von Guttenberg soeben mit Recht in bezug auf Helmut Schmidt zitiert hat. Was nämlich seit 25 Jahren vor sich gegangen ist, wovon wir und Sie keine Notiz genommen haben, ist nun als Realität unvermeidbar, vor der wir nun stehen, nämlich der tiefste Stand der deutschen Spaltung, der erreicht werden konnte. Insofern bin ich der Meinung, daß die Schritte der Regierung die einzigen möglichen Bemühungen sind, aus diesem Tiefstand herauszukommen.Hier ist mehrmals die Frage angeschnitten worden, wieweit die Bundesregierung bereit ist, die CDU und die Öffentlichkeit zu informieren. Ich möchte zuerst einmal mit einer Gegenfrage antworten. Wir haben in dieser Beziehung — ich habe schon darauf hingewiesen — eine informationsfreudige Regierung, die in keiner Weise von anderen Regierungen der Vergangenheit ausgestochen werden kann. Das wissen die Führungskräfte der CDU wie wir auch. Aber ich darf einmal daran erinnern, wann denn die SPD-Opposition davon erfahren hat, daß der damalige Bundeskanzler Adenauer die Verteidigungsbereitschaft der Bundesrepublik angeboten hatte. Jeder weiß hier, wenn er sich an den Vorgang erinnert, daß es jetzt keine Parallele dazu gibt. Das Angebot lag nämlich auf dem Tisch, als die Opposition davon überhaupt noch nichts in einem Vorgespräch erfahren hatte. Diese Politik betreibt unsere Bundesregierung heute nicht, sondern sie informiert die Opposition über ihre einzelnen Schritte.In diesem Lichte halte ich mir vor Augen, was sich in den letzten Tagen zugetragen hat und was sich vielleicht am 30. Mai in dieser Stadt noch zusätzlich zutragen wird. Ich spreche von der Unterrichtung, die die Opposition erhält und die sie ja auch bestimmten Persönlichkeiten, die in ihrer Partei eine Rolle spielen, weiterzuvermitteln in der Lage ist.In einem „Interview der Woche" hat Herr Czaja einige Äußerungen gemacht, zu denen ich zunächst ein paar allgemeine Bemerkungen machen möchte. Wir befinden uns im Augenblick in einer Situation, in der einige Teile oder einige Persönlichkeiten der Opposition • völlig darauf verzichten, die Informationen, die sie hier im Hause und im Auswärtigen Ausschuß erhalten, zu benutzen und in Rechnung zu stellen bei dem, was sie polemisch gegen diese Regierung sagen. Den Vorwurf mache ich Herrn Becher, den mache ich Herrn Czaja. Ich erinnere an die Reden, die in den letzten Wochen gehalten worden sind.
Ich erinnere an das, was Herr Czaja in dem Interview sagt — das ist noch das solideste Zitat, weil ich mich auf Polemik nicht einlassen möchte —:So stehen wir sieben Jahre nach Adenauers Rücktritt bei einem ohne jede politische und geschichtliche Notwendigkeit in hektischer Eile betriebenen entschiedenen Wandel der deutschen Politik immer mehr vor dem Verlust dessen, was unter Adenauer gewonnen wurde.Im Lichte dessen, was ich soeben über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen und über die Schlußfolgerungen gesagt habe, müßten Sie einmal dar- stellen, verehrter Herr Czaja, was Sie darunter verstehen,
wenn Sie sagen: „Was unter Adenauer gewonnen wurde." Wir sind unter Adenauer und unter den folgenden Regierungen in der Frage der deutschen Politik nicht einen einzigen Schritt weitergekommen, sondern wir befinden uns, wie es die Regierung mit Recht sagt, im Tiefstand der deutschen Spaltung.Um mit dieser Polemik zum Schluß zu kommen: ich habe das „Deutschlandmagazin" vor mir. Da gibt es eine Bilderreihe mit der Unterschrift:Wie sich die Bilder gleichen. 1938: Chamberlain kapituliert vor Hitler. Folge: Verhärtung der Diktatur und Krieg.— Das Bild mit Chamberlain und Hitler. —1970: Brandt bei Stoph. Was werden diesmal die Folgen sein?
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MattickMeine Damen und Herren, das ist die Auseinandersetzung unter der Gürtellinie, die nichts mehr mit einer Außenpolitik zu tun hat, um die wir hier gemeinsam ringen, sondern nur noch mit dem, was ich einleitend gesagt habe, mit der Absicht, alles, was diese Regierung tut, an den Rand der Diffamierung heranzubringen, um über sachliche Probleme in diesem Zusammenhang nicht mehr reden zu können oder reden zu wollen.
Ich möchte ein paar Bemerkungen machen, meine Damen und Herren, zu der Auseinandersetzung, die hier vor mir eingeleitet worden ist. Ich habe mir— und Sie sicher alle — die 20 Punkte der Bundesregierung sehr genau angesehen. Ich erinnere an die Diskussion, die wir hier vor einigen Wochen hatten. Damals wurde die Frage gestellt: Was hat die Bundesregierung vor? Wir haben damals gesagt— ich selbst habe es so gesagt —: wir gehen darauf aus, daß in der Frage der deutschen Politik die Bundesregierung bereit ist, eine Kompromißformel zu finden. Ich selbst habe hier gesagt und wiederhole das: in dieser Kompromißformel kann sich die Bundesregierung auf Grund ihrer eigenen Position und auf Grund ihrer westlichen Rückendeckung ein Entgegenkommen gegenüber der DDR-Regierung über die Hälfte, über 50%, erlauben. Ich bin der Meinung, daß die 20 Punkte sich genau indiesem Rahmen halten. Wer sich das Verhalten der DDR-Führung in Kassel vor Augen hält und einmal überprüft, was Erfurt für die DDR-Regierung bedeutet hat, der konnte an sich von dieser Kasseler Begegnung nicht mehr erwarten,
als dies, Kenntnis zu nehmen und die weitere Entwicklung laufen zu lassen. Kassel ist ein Stück des Weges — von Erfurt über Kassel — zu einem Zustand — den man als ganzes Paket sehen muß —, in dem die Regierung der DDR in einer bestimmten Entwicklungsphase über Erfurt und Kassel wird hinausgehen müssen, weil eine internationale Politik das verlangt, weil das auch Interessen verlangen, die innerhalb des Ostblocks eine Rolle spielen, die aber im Augenblick von der DDR-Regierung nicht ausreichend berücksichtigt werden. Dies wird, glaube ich, jeder begreifen, wenn er sich einmal vor Augen hält, wie die Verhandlungen an den einzelnen Orten des Ostblocks zur Zeit laufen, ohne daß die Regierung heute in der Lage ist, hier den Verhandlungsstand darzulegen. Jeder weiß, daß be-bestimmte Interessenunterschiede bei den Gesprächen sichtbar werden und daß es am Ende für die Führung des Ostblocks doch notwendig sein wird, Gemeinsamkeiten zu entwickeln, bei denen die Position der DDR-Regierung, wie sie in Erfurt deutlich geworden ist, meiner Auffassung nach sicher nicht mehr haltbar sein wird. Es wird jedenfalls die Aufgabe der Bundesregierung sein, so zu verhandeln, daß eine solche Entwicklung dabei herauskommt.Nun hat Herr von Guttenberg die Regierung einiges gefragt, was meiner Ansicht nach alles das, was in den 20 Punkten steht, beiseite schiebt und der Regierung quasi eine Politik unterstellt, die weder in den 20 Punkten gemeint ist noch in den persönlichen Äußerungen des Bundeskanzlers zum Ausdruck kommt. Denn die Antwort auf die Große Anfrage, die die Bundesregierung gegeben hat, stellt eindeutige Positionen fest, die in den 20 Punkten ihre Wiederholung finden. In keinem der 20 Punkte wird an den Antworten gerüttelt, die die Bundesregierung auf die Große Anfrage gegeben hat. Ich würde doch die nächsten Redner der CDU bitten, von dieser Position auszugehen und hier nicht Pressemitteilungen, Kalkulationen, Spekulationen, Vermutungen zu debattieren, nachdem so klare Antworten der Bundesregierung da sind. Dann wollen wir in die Punkte gehen. Das ist vielleicht nötig. Vielleicht sind einige Punkte dabei, zu denen Sie etwas zu sagen haben. Dann werden wir unsere Antwort darauf geben. Das halte ich für eine klare sachliche Diskussion, in der Punkte geklärt werden können. Hier aber nicht von dem auszugehen, was die Regierung dem kleinen Kreis der CDU-Führung mitgeteilt hat, nicht von dem, was in der Antwort auf die Große Anfrage steht, sondern mit Vermutungen und Spekulationen den Versuch zu machen, falsche Nachrichten aus dem Hause in die Öffentlichkeit zu bringen, das ist eine Politik, meine Damen und Herren, die auch die CDU — wenn sie es zu Ende denkt — nicht in allem Ernst verantworten kann. Wir Sozialdemokraten wissen jedenfalls, daß die Bundesregierung mit diesen 20 Punkten nach Erfurt eine neue Situation geschaffen hat, die auch über Kassel hinaus — —
— Ja allerdings! Ihre Einschätzung ist wahrscheinlich eine andere als meine, allerdings unter der Voraussetzung — die Ihre Redner bis heute hier zur Kenntnis gegeben haben —,
daß Sie dieser Regierung das Mißtrauen nachsagen.Hier bin ich bei dem nächsten Punkt. Meine Damen und Herren, wie lange wollen Sie denn dieses Spiel noch treiben, an dem, was die Regierung sagt, vorbeizugehen und Unterstellungen zu entwickeln, die Diffamierungen gleich sind und damit doch nur eines erreichen: im deutschen Volke Zweifel an der demokratischen Redlichkeit zu wecken, draußen bei den Menschen den Eindruck zu erwecken: hier sagt keiner die Wahrheit, und der Regierung etwas zu unterstellen, was nicht stimmt, und damit auch in dieser Frage in der öffentlichen Meinung Zweifel auszulösen, ob diese parlamentarische Demokratie korrekt ist und die Wahrheit sagt, den Menschen sagt, was sie denkt und tut? Das ist der Versuch. Das ist sicher ein Stück Wahlkampf— ich würde sagen: ein schmieriger Wahlkampf —, wenn man diese außenpolitischen schwierigen Probleme benutzt, um Irritierungen nach draußen zu tragen, wobei Sie, die Sie hier reden, doch wissen, daß es in Wirklichkeit anders ist.
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2702 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
MattickNun lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen zu der Lage machen, bei der Herr von Guttenberg meiner Ansicht nach von völlig falschen Voraussetzungen ausgeht! Wissen Sie, wenn ich mir so überlege, was Herr Dr. Barzel und Herr von Guttenberg zu diesem Thema gesagt haben, muß ich sagen: Über alledem steht eigentlich „zu spät". Es sind Debatten, die durch die Entwicklung der letzten 15 Jahre praktisch überholt sind, Debatten, die sich in einer theoretischen Vorstellung bewegen, die in der Praxis gar nicht mehr da ist, weil die internationale Lage anders aussieht als die Ausgangsposition, die Sie hier voraussetzen.Sehen Sie, der Angriff, der hier gegen die Sowjetunion geführt worden ist, geht doch von einer entscheidenden falschen Voraussetzung aus. Bei der Sowjetunion handelt es sich, wie Sie wissen, um eine Großmacht, um eine der vier alliierten Mächte, und nicht die Bundesrepublik oder ihre Regierung wird darüber entscheiden, welche internationale Position diese Sowjetunion hat, sondern ihre eigene Machtposition in dieser Weltpolitik und die Tatsache, daß alle mit uns verbündeten und befreundeten Mächte in der Sowjetunion einen Partner für Verhandlungen auf verschiedensten Ebenen sehen und eben nicht das gelten lassen, was Herr von Guttenberg hier über die Sowjetunion gesagt hat. Und wir als Deutsche sollen nun eine eigene Position beziehen, die völlig abseits von dem steht,
was unsere internationalen Freunde von uns erwarten, was sie selber tun und was dazu beitragen kann, daß sich die Verhältnisse ändern?
— Das hat doch damit nichts zu tun! Amerika ist unser Verbündeter, ist eine Schutzmacht unseres Landes. Und Sie erwarten von uns, daß wir im Gegensatz zu den amerikanischen weltpolitischen Interessen eine Frontstellung gegen die Sowjetunion einnehmen — wenn ich Herrn von Guttenberg hier richtig verstehe —, die politisch-überhaupt nicht vertretbar ist.
Unsere Interessen sind die folgenden. Die deutsche Spaltung ist nicht aufhebbar durch eine Politik der Stagnation und nicht aufhebbar oder veränderbar durch eine Frontstellung gegen die sowjetische Politik. Das hat sich, glaube ich, in den vergangenen Jahren deutlich gezeigt. Unsere innenpolitische und parteipolitische Haltung, unser Verhältnis zur kommunistischen Position wird dadurch, welche internationale Position wir gegenüber der Sowjetunion und ihren Verbündeten beziehen, überhaupt nicht berührt.Diese Lage, in der wir uns heute befinden, zwingt uns, wenn wir weiterkommen wollen, dazu, in der Sowjetunion einen Verhandlungspartner zu sehen, gegenüber dem man Kompromisse finden muß, auch bei Themen, die die deutsche Frage berühren, und gegenüber dem man den Versuch machen muß, aus der Spanungssituation in eine Entwicklung hineinzukommen — darum Gewaltverzichtsverträge —, in der auch unter dem Dach der Sowjetunion Lockerungen möglich sind, Beziehungen möglich sind, die heute im Grunde genommen mehr oder weniger blockiert sind.Das ist die Politik, die hier versucht wird und die meiner Ansicht nach vielleicht können Sie sich in den nächsten Wochen einmal in der Beurteilung dieser Frage neu orientieren — auch schon einige Erfolge gezeigt hat, zuerst atmosphärische Erfolge, kleine Erfolge. Aber diese Politik stellt die einzige Möglichkeit dar, in einer solchen internationalen politischen Lage wie der, in der wir uns jetzt befinden, aus der Stagnation und aus dem Tiefstand herauszukommen, in dem sich die deutsche Frage in den letzten Jahren befand.Unter diesem Gesichtspunkt begrüße ich die Bemühungen der deutschen Bundesregierung, Schritt für Schritt Wege freizumachen, Wege — so würde ich beinahe sagen — aufzuschütten, um eventuell in jeder einzelnen Frage der deutschen Politik gen Osten einen Schritt weiterzukommen, dies vielleicht auch in dem Sinne, daß eines Tages im Anschluß an Kassel neue Begegnungen möglich werden, die Kompromisse beider Seiten ermöglichen und die die deutsche Lage und die Lage der Menschen drüben etwas verbessern.Insofern sollten Sie, meine Damen und Herren, glaube ich, einmal überprüfen, ob Sie nicht dann, wenn Sie all das, was z. B. Herr von Guttenberg hier zur Bundespolitik gesagt hat, abstreifen und sehen, was diese Bundesregierung in Wirklichkeit tut, wenn Sie sich die 20 Punkte vor Augen halten und wir über diese debattieren angesichts der Tatsache, daß Sie keine Alternative haben und hier keine Alternative zu dieser Politik aufzeigen konnten, zu der Einsicht kommen werden, daß dies die einzige Möglichkeit einer deutschen Politik in einer Phase ist, in der ein Sprung über den Schatten noch nicht möglich ist.Als letzte Position hat Herr von Guttenberg die moralische Widerstandskraft angesprochen, die Position für die Freiheit für )alle. Dazu möchte ich noch folgendes sagen. Die moralische Widerstandskraft des deutschen Volkes wird in dem Ausmaß bestehenbleiben, in ,dem die Menschen in unserem Lande erkennen und begreifen, daß die jeweils führenden Kräfte in diesem Lande alle denkbaren Bemühungen unternehmen, um 'Deutschland aus dieser Lage herauszubringen, in der es sich heute in bezug auf die Spaltung und den Ost-West-Konflikt befindet. Darin wird die moralische Position der Bevölkerung liegen.Wir alle haben es nicht verhindern können, daß in den letzten Jahren insbesondere in der jungen Generation, aber auch in der ganzen Bevölkerung der Glaube an die deutsche Einheit, die Hoffnung auf eine Veränderung immer schwächer wurden. Das lag doch nicht nur daran, daß die Zeit darüber hinweggegangen ist. Das lag auch daran, daß nichts
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2703
Mattickgeschehen ist, was in den Menschen das Gefühl auslöste, .daß auch die Politik, daß die Kräfte, die die Politik zu verantworten haben, daran rühren, daran rütteln — das Suchen nach Wegen —, um die Überwindung zustande zu bringen, um diesen Zustand zu beenden.Die Resignation, die wir in der Bevölkerung haben, ist nicht die moralische Kraft, die Herr von Guttenberg heraufbeschwören wollte. Die Kraft wird sich steigern lassen. Sie »wird möglicher werden, wenn die Bevölkerung sieht, daß die regierenden Kräften in diesem Lande ihre Anstrengungen verstärken, mit der 'Rückendeckung des Westens auch gen Osten Politik zu betreiben. Was wir hier begonnen haben, ist Politik gen Osten mit dem Bemühen, Schranken abzubauen, schrittweise die Voraussetzungen zu schaffen, die für ein Nebeneinander geschaffen werden können. So sollten Sie diese Politik sehen.In bezug auf Europa ist hier genug gesagt worden. Ich halte es effektiv für eine Verleumdung, wenn die CDU-Opposition behauptet, daß diese Regierung bei ihrer Ostpolitik Europa vergißt. Umgekehrt! Am Anfang stand das, was Sie Europa nennen. Mit der Rückendeckung Europas wird die Ostpolitik möglich. Mit der Rückendeckung Europas und der Politik, die die Bundesregierung in dieser Richtung betreibt, wird es auch allmählich im Osten bei ,dem Partner, mit dem wir es dort zu tun haben, Einsichten geben, die es möglich machen, das, was jetzt begonnen ist, schrittweise zu einer Verbesserung der Position zu führen.
Das Wort hat der Abgeordnete Borm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit einer tiefen Sorge verfolge ich sehr aufmerksam die heutige Debatte. Sie erinnert mich an Zeiten, die Sie nicht mehr alle kennen. Sie erinnert mich an finstere Zeiten in Weimar. Wenn wir so weitermachen, dann wird das Ende nicht viel anders sein. Mit Emotionen werden wir diese schwierige Situation, in der unser Volk sich befindet, nicht meistern können. Ich habe sehr aufmerksam dem Kollegen Barzel zugehört; er weiß, wie sehr ich ihn schätze. Mein tiefer menschlicher Respekt gehört den Worten unseres Kollegen Baron von Guttenberg, hinter denen ein Mensch stand. Das aber schließt nicht aus, daß ich mich sachlich mit manchen Dingen auseinandersetze, welche die Opposition heute vorgebracht hat.Man stellt im Ausland und auch bei uns manchmal die Frage, ob es eine deutsche Nation überhaupt noch gebe. Ich finde, der heutige Tag hat bewiesen, daß diese deutsche Nation noch besteht — wenn auch im Negativen. Die Kasuistik, die 20 Jahre lang unsere Politik beherrscht und die verhindert hat, daß irgendwelche Angebote der DDR, seinen sie ernst gemeint gewesen oder nicht, angenommen wurden, hat sich zeitlich verschoben. Jetzt, wo sich die Bundesrepublik entschlossen hat, ihrerseits den Versuch zu machen, jene Verhärtung aufzuweichen, stellen wir die gleiche Kasuistik auf Seiten der DDR fest.Ich bin in der letzten Zeit sehr viel im Ausland gewesen. Ich erinnere mich an eine Unterredung mit einem englischen Freund, der mir die Frage stellte: Sagen Sie mal, sind denn nun eigentlich die Deutschen ein unpolitisches Volk und wollen sie es immer bleiben? — Ich fragte ihn, was er damit meine. Darauf sagte er wörtlich zu mir: „Wir Engländer haben manchmal den Eindruck, daß Sie sich am guten Recht und an ideologischen Positionen festbeißen. Eine Ihrer nationalen Figuren scheint mir Michael Kohlhaas zu sein. Sie treiben oft keine Politik, Sie treiben Urpolitik."Meine Damen und Herren, an dieses Wort muß ich heute wieder einmal denken. Sehen wir denn nicht, daß die Dinge in der Welt und in Europa in Bewegung geraten sind, und ergibt sich daraus nicht die logische Folge, daß auch wir jetzt endlich unseren Beitrag leisten müssen und uns nicht immer quersteilen können gegenüber dem, was andere im Verhältnis zu sich selbst und zu ihren Nachbarvölkern anstreben, daß wir also aufgerufen sind, dort tätig zu werden, wo wir tätig werden können? Wir sind ein wirtschaftlich mächtiges Volk. Aber außenpolitisch können wir nicht einmal die Politik Luxemburgs beeinflussen. Wir können, wir müssen jedoch dort arbeiten, wo wir als Deutsche miteinander sprechen. Das haben wir bisher nicht getan, und das versuchen wir jetzt.Herr Kollege Barzel sprach davon, daß die Schwierigkeiten, die von der DDR gemacht würden, offenbar unüberwindlich seien. Er sollte aber doch bitte daran denken, daß wir unseren Hebel nicht nur in Ostberlin angesetzt, sondern daß wir, weil die deutsche Frage ein Bestandteil der europäischen Entwicklung ist, vier Ansätze gemacht haben: den einen in Moskau, den anderen in Polen, den dritten in Ostberlin und den vierten dort, wo wir selber nicht reden können, wo aber unsere Verbündeten im Einvernehmen mit uns reden: in Berlin.Meine Damen und Herren, vergessen wir doch nicht, daß die Machthaber in der DDR — versetzen wir uns einmal in ihre Situation hinein — nichts mehr fürchten, als daß dem deutschen Volk klar wird, daß der Popanz einer revanchistischen, einer imperialistischen — oder wie immer sie das nennen — Bundesrepublik, den sie sich aufgebaut haben, in Wahrheit gar nicht existiert. Sie sind der harte Kern, weil sie wissen, daß die vielbeschworene Wahrheit in der Demokratie — hier gebe ich Ihnen recht, Herr Kollege Barzel — für sie in der Tat die größte Gefahr ist. Diese Wahrheit sieht eben so aus, daß das Zerrbild, das drüben in der DDR von uns, der Bundesrepublik, gezeichnet worden ist, nicht stimmt. Wir sollten uns aber hüten, nun unsererseits von einem Zerrbild auszugehen und zu glauben, daß allein deswegen, weil Richtung und Methoden drüben kommunistisch orientiert sind, nun alles verdammenswert sei, und zwar allein deswegen. Da gibt es andere Dinge, die inakzeptabel sind. Wenn wir davon ausgehen würden, dann flüchten wir uns in Emotionen. Ich fürchte, daß wir dann falsche Prämissen haben, und eine falsche Prämisse führt noch immer zur Erfolglosigkeit, mindestens zum falschen Resultat.
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2704 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
BormDer Herr Kollege Baron von ,Guttenberg hat eine Frage an meine Kollegen von der SPD gestellt: Würde es einen Menschen geben, meine Damen und Herren, der nach 37 Jahren seinen Frieden mit Hitler machen würde? Nein. Aber wir sollten auch die Augen nicht davor verschließen, daß die Entwicklung in dieser Bundesrepublik sehr wohl einen Frieden mit seinen Epigonen und mit manchen seiner Helfershelfer gemacht hat. Ich glaube, manche Dinge in der Bundesrepublik sähen anders aus, wenn wir uns dort etwas anders verhalten hätten. Aber das sind Dinge, die heute nicht zur Diskussion stehen.Was tun wir? Wir haben uns hier in der Bundesrepublik ein Schutzschild aufgebaut: unter gar keinen Umständen völkerrechtliche Anerkennung der DDR. Auf der anderen Seite ist das gleiche 'Schutzschild aufgebaut: Vorbedingung jeder Unterredung, jedes Redens überhaupt: vorherige Anerkennung der DDR. Das sind zwei unvereinbare Standpunkte. Es ist heute von meinem Kollegen Dorn sehr erfreulich klargestellt worden, daß für uns eine andere Formel gilt. Die völkerrechtliche Anerkennung als solche ist überhaupt nichts, was die Dinge auf der Welt bewegen kann. Sie kann nur Mittel zum Zweck sein. Aber eines, glaube ich, unterscheidet Regierung und Opposition: sie ist für uns kein Tabu. Sie kann natürlich nicht am Anfang der Entwicklung stehen, und sie wird es nicht. Aber wenn das erreicht ist, was wir alle wünschen, menschliche Erleichterungen, vernünftige Möglichkeiten des Lebens, Verbesserung der Lebensmöglichkeiten für die Menschen in der DDR, dann — das darf ich zumindest für mich sagen — bin ich bereit, auch diesen Komplex erneut zu überprüfen. 'Ich wiederhole: am Anfang kann es nicht stehen; aber ich will nicht ausschließen, daß es später einmal kommen kann.Es wunde von dem Weiterbestehen der deutschen Nation gesprochen. Wie sich die Bilder gleichen! Wenn man sich z. B. manche Äußerungen in das Gedächtnis zurückruft, die in den vergangenen Wochen nicht hier im Bundestag, aber von d'en Funktionären mancher Verbände zu hören waren, so fragt man sich manchmal, wo wir ,eigentlich leben. Aber eines ist wohl festzustellen: die Dogmatiker —
— Soll ich Ihnen genau sagen, wen ich meine?
— Dann sollen Sie es genau wissen, Herr Kollege Lemmer. 'Dann fragen Sie mal die Funktionäre der Vertriebenenverbände; die meine ich. — Ich 'fürchte, daß bei uns die Dogmatiker von der Dogmatik drüben leben. Sie bedingen einander, und sie leben voneinander. In einer solchen Atmosphäre, meine Damen und Herren, werden wir durchaus nicht weiterkommen können.
Meine 'Damen und Herren, ich sagte, ich hatte eine tiefe Besorgnis, als ich den Gang und die Beweisführung in der 'schwierigen, in der für unsere Nation lebenswichtigen Frage heute erlebte.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Strauß?
Herr Präsident, es hat mich gereizt, bei den Reden der Opposition Zwischenfragen zu stellen. Ich habe keine Zwischenfrage gestellt. Ich bitte meinen Kollegen um Verständnis dafür, daß ich meine Ausführungen ohne Zwischenfrage zu Ende führen möchte.
Meine Damen und Herren, ,es ist das gute Recht eines jeden Redners, Zwischenfragen zuzulassen oder in der Sache zu sprechen.
Meine Damen und Herren, ich hätte es mehr begrüßt, wenn die Opposition heute jene Stimmen hier zum Tragen gebracht hätte, die mir hoffnungsvoll erschienen sind und auch heute noch hoffnungsvoll erscheinen. Beispielsweise — mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten — ein ganz kurzes Zitat aus dem Informationsdienst des katholischen Arbeitskreises für zeitgeschichtliche Fragen, deren Herausgeber unser Kollege Köppler ist. Dort steht:,Überraschungserfolge und Patentlösungen für die komplizierten Probleme, die im Ergebnis des zweiten Weltkrieges entstanden sind bzw. die sich inzwischen angehäuft haben, können jedoch bei den ersten Gesprächen bzw. Verhandlungen nicht erwartet werden. Geduld, Standfestigkeit und langer Atem sind zur Lösung dieser Probleme erforderlich. Es ist dabei auch zu bedenken, daß es im Gespräch mit den Regierungen des kommunistischen Machtbereiches einen erheblichen Nachholbedarf gibt.Meine Damen und Herren, um diesen Nachholbedarf geht es, den wollen wir jetzt erfüllen.Ein Weiteres. Die Herren Kollegen Dichgans und Petersen waren in Polen. Es ist immer gut, wenn man sich einmal dorthin begibt, wo die Dinge sichtbar werden, um die wir hier ringen. Da heißt es dann:In den Oder-Neiße-Gebieten ist es eine Realität, daß es heute ein von Polen bewohntes und bearbeitetes Land ist.Die Kollegen halten die Bemühungen, im Verhandlungswege zu einer Verschiebung der Grenzen zu kommen, für eine Illusion. Das sind Ihre Freunde, meine Damen und Herren von der Opposition. Setzen Sie sich damit auseinander. Meine Zustimmung hat diese Äußerung.Ein weiterer unverdächtiger Kronzeuge ist der Realist Konrad Adenauer, wenn er nicht im Rampenlicht der Offentlichkeit stand. Er sagte, er habe — so zu lesen im dritten Band seiner Memoiren — Smirnow, dem seinerzeitigen sowjetischen Botschafter, dasAngebot gemacht, die DDR so zu stellen wie etwa Österreich. Dann sagte er:
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2705
BormIch machte Herrn Smirnow darauf aufmerksam,daß ich mit meiner Frage hinsichtlich des Status 'der DDR sehr weit gegangen sei. Wenn dies in der deutschen Öffentlichkeit bekannt würde, riskierte ich, von meinen eigenen Leuten— und damit meinte er anscheinend Sie —dafür gesteinigt zu werden.Meine Damen und Herren, das scheint mir ein wirklich zweifelsfreies Zitat zu sein.Was sagt Herr Kollege Strauß in seinem Buch „Entwurf für Europa"?Jeder Versuch, die deutsche Wiedervereinigung auf rein nationaler Grundlage zu erreichen, ist von vornherein zum ,Scheitern verurteilt.Meine Damen und Herren, das ist die Maxime unserer jetzigen Politik.Aber es gibt natürlich auch andere Dinge. Ich möchte unter gar keinen Umständen in den Verdacht geraten, hier polemisieren zu wollen, besonders nicht nach der menschlich ergreifenden Rede unseres Kollegen von Guttenberg. Herr von Guttenberg, es sollte aber einmal ausgesprochen werden, daß so manche Widersprüche in Ihren eigenen Reihen vorhanden sind. Weisen Sie uns nach, daß auf diesem Gebiet auch nur der geringste Bruch in den Kreisen der Koalition 'besteht. Sie sollten jeden Versuch, diese Koalition 'über diese Fragen auseinanderdivtidieren zu wollen, unterlassen. Er 'ist zum Scheiternvenurteilt. Sie betonen Ihrerseits, meine Damen und Herren,die Gesprächsbereitschaft. Unser Kollege Kiesinger hat, als er Bundeskanzler war, auch Gespräche versucht. Ich glaube aber, die verbale Bereitschaft zu Gesprächen wind nicht genügen. Es müssen Vorbedingungen für )den Erfolg geschaffen werden.
— Nein, Vorbedingungen, Herr Kollege Dr. Kiesinger. Es müssen Vorbedingungen geschaffen werden, und diese Vorbedingungen sind in den 20 Punkten niedergelegt. Diese 20 Punkte enthalten einfach keine Vorleistungen, sondern sie enthalten die notwendige Voraussetzung, um überhaupt zu einem Gespräch zu kommen. Wer glaubt, unter dieser Ebene überhaupt nur irgendwie angehört Zu werden, der wind jene Politik fortsetzen müssen, die wir 20 Jahre geführt haben und die uns in unserem nationalen Anliegen auch nicht 'einen Millimeter weitergebracht, sondern die !deutsche Spaltung vertieft hat.
Ich danke dem Herrn Kollegen Barzel für seine Sorge um Berlin. Herr Kollege, ich entsinne mich noch sehr ,wohl :des Besuchs, als ich 'aus dem Zuchthaus gekommen war und Sie gerade Minister geworden waren. Ich stellte damals einerfreuliches Maß von Gemeinsamrkeit in den Anliegen des freien Teils unsererStadt Berlin fest, die ein Fanal für die !Freiheit ist ,und bleibt.Übrigens darf ich Ihnen sagen: Herr Ulbricht und Herr Stoph erklären, Westberlin liege auf dem Territorium der DDR; in der Sowjetunion sagt man „inmitten". Ich wollte das nur festgestellt haben. Es mag sein, daß man auch einmal etwas anderes liest; aber ich weiß es sehr wohl, weil ich solche Dinge sehr aufmerksam verfolge.In der Tat ist Berlin unser gemeinsames Anliegen. Der Herr Kollege Barzel hatte die Sorge, daß die jetzige Politik der Gefährdung dienen könnte. Herr Kollege Mattick hat die klassische, die klare und unzweideutige Antwort der Bundesregierung, die der Herr Bundesaußenminister gegeben hat, teilweise zitiert. Ich wäre versucht, sie vorzulesen, will Sie jedoch damit nicht aufhalten; Sie haben sie ja selber. Aber ich meine: wenn es noch einen Zweifel gegeben haben könnte, so ist er damit ausgeräumt, daß der Herr Bundesaußenminister gesagt hat, es werde keinen Vertrag geben, der die Lebensfähigkeit der Bevölkerung Westberlins beeinträchtigen und die Bindung Westberlins an den Bund lockern könnte; sie seien eine unverzichtbare Grundlage aller Abmachungen, die überhaupt nur getroffen werden könnten.Ich sehe noch eine weitere Garantie. Sie wissen, daß der Herr Bundeskanzler Regierender Bürgermeister von Westberlin war. Man machte ihm zum Vorwurf, daß er in die Bonner Politik gegangen ist, und er antwortete darauf — ich entsinne mich sehr genau —: Wenn ich diese Stadt verlasse, so nur, um auf breiterer, wirkungsvollerer Basis für diese Stadt weiterhin wirksam zu sein.
Das genügt mir.
Ebenfalls sei jener Engländer, von dem ich zu Anfang Besprachen habe, noch einmal zitiert: Wenn es für die Briten — und das gilt nicht nur dort — eine Garantie für einen politischen Neubeginn in der Bundesrepublik gibt, so ist es die Persönlichkeit des jetzigen Bundeskanzlers. — Ich will ihm keine Elogen machen; aber dies ist ein Aktivum unserer Politik.
Ich sagte vorhin: Vorbedingungen müssen geschaffen werden. Ich glaube, die CDU wird früher oder später einmal sagen müssen, wie die offizielle Meinung der Fraktion und der Partei zu den Äußerungen ist, die in den letzten Wochen seitens der Funktionäre einiger Vertriebenenverbände verlautbart worden sind. Es handelt sich hierbei nicht nur um irgendwelche verbandsinternen Äußerungen. In einer Zeit, in der wir uns bemühen, eine neue Politik zu konzipieren, bei allen Schwierigkeiten, die sich ergeben — sie hängen nämlich von denen da drüben mit ab —, sind derartige Äußerungen im Inland und im Ausland durchaus sehr ernst zu nehmen, und sie sind das gewünschte Wasser auf die Mühlen aller derjenigen, denen auf der anderen Seite an einem Erfolg gar nichts gelegen ist.
Wir sind in Gespräche eingetreten. Für uns sind die laufenden Gespräche ein politisches Mittel zur Friedenssicherung in Europa. Es gibt auch andere Auslegungen, indem man sagt, daß die jetzige Politik den Friedengefährde. Ich bin überzeugt,
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2706 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Bormdaß diese Politik die einzige Möglichkeit ist, zu einer brauchbaren Friedensregelung, zu einer haltbaren Friedensregelung in Europa zu kommen, und daß es eine Alternative dazu nicht gibt. Aber das werden wir in einigen Jahren besser wissen. Kassandrarufe werden an dieser Politik und ihren Möglichkeiten wenig ändern.Diese Gespräche sind für uns ein politisches Mittel zur Friedenssicherung in Europa. Sie sind für uns nicht ein reines Alibi. Manch einer scheint mir ein Alibi notwendig zu haben, weil man nicht mehr die Augen davor verschließen kann, daß die Entwicklung in Europa angegangen ist, daß Dinge, die verhärtet waren, irgendwie aufgeweicht werden.Was tun wir denn weiter, als daß wir uns endlich dazu bereitfinden, unseren Part in jener weltweiten Entwicklung zu spielen, die darauf hinausgeht —nachdem weder mit List noch Gewalt der eine den anderen übertölpeln oder überwinden kann —, zu einem Modus vivendi, zu einem geregelten Nebeneinander und — soweit dann nachher Deutschland in Frage kommt — zu einem positiven Miteinander auf allen jenen Gebieten, die übergeordnet sind und gemeinsame Interessen darstellen, zu kommen? Weiter tun wir doch nichts. Wir legen uns nicht mehr quer, wenn man in Washington und in Moskau über SALT und über Abrüstnug oder irgendwelche Dinge spricht. Das sind für uns heute keine Dinge mehr, die für uns makaber, die verdächtig sind. Nein, wir fügen uns ein in diesen Gang der Entwicklung. Das ist alles, das ist ,die Konsequenz aus der Weltlage.Es wird einmal eine ernste Frage sein — auchdazu veranlaßt mich ,der Beitrag unseres Kollegen Baron von Guttenberg —, was unter heutigen Umständen eigentlich „national" ist. Herr Kollege Barzel hat für sich in Anspruch genommen, aus den Erfahrungen heraus zu reden, die er in der Hitlerzeit und die er jetzt gemacht hat. Meine Erfahrungen gehen weiter. Ich kenne das Kaiserreich, ich war 1914 19 Jahre alt. Ich kenne die Weimarer Republik. ich kenne das Hitlertum. Ich kenne die Bundesrepublik. Ich kenne aber auch aus eigener leidvoller Erfahrung die DDR. Fünfmal habe ich eine Erfahrung gemacht. Da frage ich mich aus meiner eigenen Lebenserfahrung, was heute national ist. Heute scheint mir national alles das zu sein, was zunächst einmal die Existenzgrundlage, die Existenzvorausbedingungen unseres Volkes sichert: der Friede. Es scheint mir national zu sein unser Einordnen in den unvermeidlichen Lauf der Weltgeschichte, nicht quer zu liegen, nicht eigene Interessen eigenbrötlerisch zu verfolgen. Dieses Thema wird sicherlich noch einmal erörtert werden.Aber um eines wollte ich bitten: Menschen, die sich mühen, die vielleicht andere Wege gehen, die aber sicher dieselbe Zielsetzung haben, nicht zu verketzern und zu sagen, sie seien nicht national. Der Begriff „national" wandelt sich; ein Mensch, der für sein Volk arbeitet, wandelt sich nicht.
— Ich bezeichne nichts als unwahr!
— Gut, mag der Gemeinte sich die Jacke anziehen.Herr Kollege Barzel, Sie haben gesagt, Sie hofften, daß Sie in Ihrem Bestreben, die Dinge nach Ihrer Sicht und Ihren Wünschen zu ordnen, nicht allein stehen. Sie gestatten mir, Herr Kollege, darauf hinzuweisen, daß das Parlament nach der Verfassung zwar die Abstimmungen macht. Aber alle sind wir hier Stellvertreter. Wir bemühen uns, beim wirklichen Souverän, beim Volk, unmittelbar Verständnis zu finden. Bei allem Respekt vor diesem Hohen Hause: der letzte Souverän ist das Volk; und da stehen unsere Aktien nicht schlecht.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Strauß. — Entschuldigung, ich höre jetzt, daß sich -der Bundeskanzler bereits gemeldet hatte; das war mir nicht mitgeteilt worden. — Wollten Sie das Wort nehmen, Herr Bundeskanzler?
— Entschuldigung ! Ich frage den Herrn Schriftführer, ob der Herr Bundeskanzler eine Wortmeldung beim amtierenden Schriftführer abgegeben hatte; mir ist jedenfalls keine zugeleitet worden. — Es liegt keine Wortmeldung vor. Dann hat der Abgeordnete Strauß das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf einige Bemerkungen zum Verlauf der Debatte machen.Herr Kollege Mattick, Sie haben heute die Sprecher der CDU/CSU in einer etwas eigenartigen Weise kommentiert. Sie sagten einmal über den Kollegen Barzel: Wie müßte der reden können, wenn er aus Überzeugung spricht! Es wäre besser, zu schweigen, als zu wissen, daß man nicht die Wahrheit sagt. — Diese Charakterisierung steht Ihnen weder gegenüber Dr. Barzel noch gegenüber einem anderen Mitglied des Hohen Hauses zu.
Ich will hier nicht die Frage erörtern, was Wahrheit objektiv und subjektiv ist, quid est veritas? Aber mit Sicherheit hat Dr. Barzel das gesagt, was nach seiner und seiner politischen Freunde Meinung die Tatsachen sind. Das sollte man ihm so abnehmen, wie er es gesagt hat.Sie haben weiter Anzeichen einer beginnenden Schizophrenie bei ihm festgestellt. Ich möchte darauf nicht näher eingehen.Den Kollegen von Guttenberg haben Sie damit hervorgehoben, daß Sie sagten, er habe in einer Schicksalsstunde seines Lebens gesprochen. Was soll das heißen? Wenn jemand ein körperliches Mißgeschick hat, dann sagt das noch lange nichts gegen
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2707
Dr. h. c. Straußdie Richtigkeit, Wahrheit und Stichhaltigkeit seiner Aussage.
Bei mir glaubten Sie bis jetzt freundlicherweise nur einen Denkfehler feststellen zu können.
Ich werde Ihnen noch Gelegenheit geben, über Denkfehler nachzudenken. Ich gehe auf den Zwischenruf „Webfehler" nicht ein, weil er in die Kategorie der Zwischenrufe gehört, die ein echter Parlamentarier in diesem Hause nicht macht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, von den Rednern der Koalition ist heute mehrfach betont worden — ich fasse es hier zusammen —, daß Kassel die erste Phase der Gespräche darstelle, daß ohne Erfurt und Kassel die deutsche Spaltung tiefer wäre, die deutsche Situation schlechter und nicht besser wäre, daß das Bewußtsein des deutschen Volkes geschärft worden sei, daß sich beide Regierungen, die Bonner und die Ostberliner zu ihrer Verantwortung bekannt hätten, daß die 20-PunkteErklärung des Herrn Bundeskanzlers ihren Eindruck im Ostblock — so hieß es wörtlich; das Wort muß noch aus einer vergangenen Sprachwelt stammen —, nicht verfehlen würde, daß Moskau, Warschau und auch Ostberlin weiterdenken würden. Der Kollege Mattick sagte, Ostberlin müsse über Erfurt und Kassel hinausgehen, weil das die ganze politische Entwicklung und die weltpolitische Lage verlangen.Mir wäre es lieber gewesen, wenn ich statt dieser astrologischen Horoskope konkrete Indizien erfahren hätte, auf was sich die Annahme gründet, daß Moskau, Warschau und vor allen Dingen Ostberlin die von uns ihnen sozusagen gewährte Denkpause benützten, um über die Position von Erfurt und Kassel hinauszugehen und auf den Boden der 20 Punkte der Bundesregierung, ohne Forderung auf völkerrechtliche Anerkennung eines zweiten deutschen Staates, zu treten. Das ist die Frage: welche Tatsachen, welche Informationen, welche Indizien? Ich glaube, daß dafür keine bisherige Geheiminformation, die den Vorsitzenden der Fraktionen und ihren Mitarbeitern gegeben worden ist, herangezogen werden könnte. Hier handelt es sich doch nur um Vermutungen, Erwartungen, Hoffnungen und Spekulationen. Aber die nächste Station wird ja beweisen, wohin die Reise geht.An diese beiden Begegnungen zwischen dem frei gewählten deutschen Bundeskanzler und einem Spitzenmann des SED-Regimes hatten sich natürlich auch viele Hoffnungen geknüpft. Das wichtigste Ergebnis von Erfurt und Kassel ist jetzt die Bereitschaft Stophs, seinem Gesprächspartner Zeit zum Nachdenken zu geben, und dessen Schlußfolgerung — ich meine die Schlußfolgerung des Herrn Bundeskanzlers —, man solle eine längere „Denkpause" einlegen. Ostberlin versteht darunter eine Lernpause der Bundesregierung,
während derer die Bundesregierung „ihren" -- auch hier oft so gern beschworenen — Realismus, d. h. ihre Bereitschaft, auf die Forderungen der anderen Seite ohne Abstriche einzugehen, weiterentwickeln soll.ADN hat doch gleich danach vermerkt, zu einer weiteren Begegnung könne es nur kommen, wenn die Bundesregierung ihren Standpunkt ändere und sich bereit zeige, für die Regelung der Beziehungen beider deutscher Staaten ohne Diskriminierung und für die völkerrechtliche Anerkennung der DDR einzutreten. Genauso lautet die erste Stellungnahme Stophs, genauso die erste Stellungnahme Herrn Verners, eines Mitglieds des SED-Politbüros. Und hier ist auch das Fernschreiben über den DDR-Ministerratsbeschluß zu erwähnen: Gespräche werden nur bei realistischer Haltung fortgesetzt.Ich warne davor, daß man Erklärungen und Reden von drüben auf dem Wege der Interpretation, der Spekulation oder der begütigenden Auslegung glaubt allmählich in sich selbst zur Auflösung zu bringen.
Man soll das ernst nehmen, was die andere Seite sagt. Bis jetzt hat sie jedenfalls ihre Haltung — Gott sei es geklagt — nicht geändert. Es wäre gut, sich auch nicht darauf einzustehen, daß sie sie unter dem Einfluß weiß Gott welcher Kräfte in absehbarer Zeit ändern würde, so daß eine dritte Begegnung einen anderen Verlauf nähme. Wenn es solche Informationen gibt, Herr Bundeskanzler, warum geben Sie diese dann nicht wenigstens den Fraktionsvorsitzenden? Dann würde die Debatte in diesem Hause sicherlich anders verlaufen.
Aber bis jetzt müssen wir davon ausgehen, daß die andere Seite nicht bereit ist, ihre Position zu variieren, während die Bundesregierung ihre Position gegenüber früher schon variiert hat und in Kassel auch deutlich angekündigt hat, daß sie bei Beantwortung ihrer Fragen, die Sie, Herr Bundeskanzler, in dem 20-Punkte-Programm gestellt haben, bereit sei, über kurz oder lang die Frage der völkerrechtlichen Anerkennung zu lösen. Das heißt, die andere Seite weiß: Wenn wir hart bleiben, unsere Forderungen aufrecht erhalten und möglicherweise noch steigern, wird diese Bundesregierung zum Schluß nachgeben und auf den Boden treten, den wir ihr als den einzig möglichen für eine Einigung hingestellt haben.Was gibt dieser Bundesregierung das Recht, die Unabänderlichkeit dieser Position und die Härte der Stellung der anderen Seite in Zweifel zu ziehen und durch Interpretation die Tatsachen ändern zu wollen? Das ist doch eine der uns beklemmenden Haltungen, von denen wir immer staunend Kenntnis nehmen müssen. Alles, was wir über die Ergebnisse der Gespräche in Moskau und Warschau bisher gehört haben, endete bisher mit ähnlichen Feststel-
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2708 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Dr. h. c. Straußlungen: nun verstehe man die kommunistischen Gesprächspartner besser als vorher, aber auch die andere Seite erkenne die Politik der Bundesregierung klarer als zuvor; eine Denkpause könne weiter helfen. Zwischen jeder Runde der Bahr-Gespräche in Moskau gab es Denkpausen. Nun ist nach Kassel offensichtlich die ganz große Denkpause gekommen. Ich hätte sehr gewünscht, Herr Bundeskanzler, daß Sie uns einmal etwas darüber gesagt hätten, was Sie vorhaben in dieser Denkpause zu tun.
Ich bin nämlich auch fest überzeugt, hätte man über das Ergebnis von Kassel hier einen Erfolg melden können, nichts hätte Sie abgehalten, in dieser Diskussion eine ausführliche Rede hier im Parlament zu halten und diesen Erfolg gebührend zu feiern.
Aus der Tatsache, daß Sie nicht in einer Regierungserklärung Ablauf und Ergebnis sozusagen als Sondermeldung der Erfolgspolitik der Bundesregierung diesem Parlament geboten haben, schließen wir, daß Sie im Innersten Ihres Herzens das Ergebnis von Kassel genauso beurteilen, wie wir es tun, nämlich im Ablauf als eine Blamage und im Ergebnis als eine Pleite und nichts anderes.
Ich stimme \\der Auffassung \\der Bundesregierung gerne :zu, daß nun die ,Stunde vertieften Nachdenkens 'gekommen ist. Diese Notwendigkeit gilt in erster Linie für die Bundesregierung selbst. Auch bei größtem Wohlwollen kann die Opposition der Regierung nicht den schwerwiegenden Vorwurf ersparen, daß sie bei dam hastigen Start ihrer neuen Deutschlandpolitik nicht tief genug, nicht umfassend genug und nicht weitblickend genug nachgedacht hat. Sie hätte sich und unserem Lande damit manchen Verlust an Glaubwündigketit und auch an Seriosität im Inland und im Ausland ersparen können. Sie hätte den von ihr mitverschuldeten Aufstieg Walter Ulbrichts verhindern können, wenn sie ihrem einseitigen guten Willen jenes Ausmaß an Vorausplanung hinzugefügt hätte, das bei allen außenpolitischen .Schritten, besonders aber vor uniwiderruflichen Positionsänderungen im Ost-West-Verhältnis, so lebensnotwendig isst.Ichglaube :sogar sagen zu dürfen, Herr Bundeskanzler daß Ihre Saarbrücker Rede, au deren gute Wirkung Sie im anderen Teil Deutschlands gehofft hatten, genau das Gegenteil von dem, was Sie wünschten, hervorgerufen hat und daß möglicherweise die positiven Informationen, die Sie darüber aus Moskau bekommen haben, auch nicht stimmen. Der eine große Satz in Ihrer Rede — unter den vielen anderen —, der den stürmischsten Beifall Ihres Parteitages bekommen hat, hieß:Wer Grenzpfähle aufheben will, der muß aufhören, sie verrücken zu wollen.Genau das ist drüben bei .denen, die entweder eine Änderung des gesellschaftlichen Systems oder die totale Abkapselung ihres Regimes gegen uns verlangen, ganz anders aufgefaßt worden, als Sie es mit Ihrem unbestritten guten Willen in dieser Redegemeint haben. Genau das ist ein Bestandteil dessen, was in der sowjetischen Auslegung der UNO- Charta eine „aggressive policy" ist. Sie wollen sie nicht verrücken, aber Sie wollen sie aufheben. Angesichts der Realitäten, die in beiden Teilen Deutschlands herrschen, gilt die Frage, die Sie gar nicht beantworten können — darum stelle ich sie gar nicht --: Wie wollen Sie die Grenzpfähle .durch Anerkennung oder anerkennungsähnliche Akte angesichts der bestehenden Wirklichkeiten aufheben? Ob aufheben der verrücken, darüber reden ' wir dann !gar nicht.
Wir müssen leider feststellen, daß die östlichen Partner der Bundesregierung den Spaten ihres vorausschauenden Planens und Wollens erheblich tiefer angesetzt haben als die Berater unserer Ostpolitik, auf die der Bundeskanzler mehr gehört hat als auf sachkundige Diplomaten. Was diesem Hause im Laufe der letzten sieben Monate an unwiderruflichen einsamen Entschlüssen und an Geheimhaltung in Lebensfragen unseres Volkes zugemutet worden ist, das ist tatsächlich einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
— Trotz der Zwischenrufe aus dieser Fraktion glaube ich, daß, wenn nicht die ganze Fraktion der SPD, dann jedenfalls Teile von ihr betroffen waren, als der deutsche Bundeskanzler am 28. Oktober 1969 ohne jede vorherige Beratung, wenn auch mit der Vorankündigung durch den Bundespressechef, in den parlamentarischen Körperschaften die folgenschwere und nicht wiedergutzumachende Übernahme der kommunistischen Zwei-Staaten-Doktrin durch die einzig frei gewählte deutsche Regierung verkündete. Rückblickend werde ich den Eindruck nicht los, daß diese Überrumpelung auch deshalb erfolgte, weil die Bundesregierung befürchtete, sie werde bei einer parlamentarischen Abstimmung für einen solchen Akt selbst bei den gegenwärtigen Mehrheitsverhältnissen keine Mehrheit finden können.
Oder glauben Sie etwa, Herr Bundeskanzler, daß diese Leistung notwendig war, bloß um mit den anderen reden, nicht einmal verhandeln zu können? Sind Sie auch jetzt noch der Meinung, daß die Sowjetunion Verhandlungen abgelehnt hätte, wenn man ihr nicht vorher die Zwei-Staaten-Theorie als ein sichtbares Zeichen guten Willens angeboten hätte? Wir sind aus gutem Grunde anderer Meinung. Wir sind darüber hinaus der Meinung, daß kommunistische Gesprächspartner einseitige Vorleistungen Ihrerseits von vornherein als erledigt in "Anspruch nehmen und nicht bereit sind, dafür den geringsten Gegenwert zu zahlen, und im übrigen ihren Gesprächspartner für reichlich naiv halten, daß er ohne Gegenleistung etwas bietet, was für sie einen substantiellen Fortschritt bedeutet.Seit jenem schwarzen Tag der deutschen und europäischen Geschichte hat die CDU/CSU — nicht zuletzt auf Grund eigener Regierungs- und Verhandlungserfahrungen — die Regierung immer wie-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2709
Dr. h. c. Straußder beschworen, den ideologischen Dogmatismus, die langfristig offensiven Ziele und die unerbittliche Härte ihrer kommunistischen Partner richtig einzuschätzen. Aber die Parteien der jetzigen Regierungskoalition und sie lobpreisende Kommentatoren haben es schon im Wahlkampf und in den ersten Wochen nach der Regierungsbildung vorgezogen, in unserem Volk einen ostpolitischen Optimismus zu verbreiten und eine Wohlwollenseuphorie auszustrahlen, in deren Augen der nüchterne Realismus und die langfristige europäische Entspannungskonzeption der CDU/CSU nichts anderes sind als ideenlose Sturheit und gewollter Immobilismus der CDU/ CSU.
— Nun sage ich Ihnen etwas. Wenn ich mich heute, Herr Kollege Mattick, an die Rede Ollenhauers von damals erinnere, in der er die Aufnahme diplomatischer Beziehungen als Ergebnis der Verhandlungen Adenauers in Moskau als eine Gefahr für die deutsche Politik, als eine Gefahr für die Einheit und Freiheit unseres Landes darstellte, dann möchte ich nur eines feststellen: Entweder hat Ollenhauer damals total unrecht gehabt, oder Sie haben heute total unrecht. Aber warum Adenauers Politik damals total falsch war, mit Moskau, dem Hauptpartner auf der anderen Seite — nicht zuletzt auch um den Preis der Freilassung von Zehntausenden von' Gefangenen; an diese Schicksale darf man ja auch denken —, ins Gespräch zu kommen, — warum das damals falsch gewesen sein soll und Ollenhauer recht gehabt haben soll und die heutige Bundesregierung wiederum recht hat und wir unrecht haben,
dafür bedürfen Sie jetzt Ihrerseits einer Denkpause,damit Sie diesen Denkfehler, den Sie sonst mirunterstellen, endgültig bei sich verarbeiten können.
In .die .gleiche Richtung gehört die, ich muß schon sagen, tolpatschig-dreiste Einteilung der Politiker in der Bundesrepublik in fortschrittliche Entspannungspolitiker einerseits und kalte Krieger andererseits. Die Idealtypen der ersten Kategorie sind Willy Brandt und auf der anderen Seite offensichtlich Willi Stoph. Die Demonstrationsexemplare der zweiten Gattung sind Barzel, Kiesinger, Strauß usw. hier, während Ulbricht, Winzer und Konsorten es drüben sind. Ich frage jetzt gerade Sie, Herr Kollege Borm. Sie haben gesagt, +daß wir den Dogmatikern drüben helfen. Wären Sie in der Lage gewesen — das war nämlich meine Frage —, uns zu sagen, wer drüben die Nichtdogmatiker sind, denen mau zuspielen und zuarbeiten muß, damit sie sich ihrerseits gegen die Dogmatiker .durchsetzen können, so wie Sie — im Besitze des Heilsverlaufes der Menschheitsgeschichte, der bei Ihnen deponiert ist, weshalb Sie ihn heute vorhergesagt haben — Ihrerseits einen Beitrag leisten wollen, die Dogmatiker bei uns überwinden zu können?
Wo sitzen drüben. die Nichtdogmatiker? Ist Ulbrichtein Dogmatiker? — Nach allgemeiner Meinung wohlja. Ist Stoph kein Dogmatiker, sondern ein Mann, der bereit ist, unter gewissen Voraussetzungen den Boden :dieser Dogmatik .des anderen Blocks zu verlassen und einen ,Kompromiß zuschließen, bei dem beide Seiten echte, unwiderrufliche Leistungen zu erbringen bereit sind? Auch darüber hätte ich gern einmal — wenn nicht öffentlich, dann in subjektiver Bewertung — etwas gehört von dem Herrn Bundeskanzler, von anderen, die es wissen, von den Eingeweihten in diesem Lande, zu denen man ja nicht unbedingt zu gehören kraucht, um gut informiert zu sein.
Diese Einteilung. ist eine lebensgefährlich :dumme Verzerrung der Verhältnisse drüben, und zwar eine Verzerrung nach dem Wunschdenken, das der Rechtfertigung der eigenen Politik dient, d. h. in diesem Falle, der Sinngebung des Sinnlosen dienen soll. Das andere ist eine innenpolitische Diffamierung, die in erster Linie ihre Urheber trifft.Die CDU/CSU hat die Bundesregierung, nachdem sie die Zwei-Staaten-Theorie und damit eine Kernthese der kommunistischen Deutschlandpolitik angenommen hat, eindringlich vor der Illusion gewarnt, die kommunistischen Partner könnten durch einseitige Vorleistungen und durch Einschwenken auf ein bestimmtes Vokabular in den politischen Kernfragen zu einem wirklichen Entgegenkommen in der Sache bewogen werden. Das ist das Gespenstische auch an dieser Diskussion, daß man glaubt, durch die Benutzung eines gemeinsamen Vokabulars auch gemeinsame politische Begriffe und gemeinsame politische Ergebnisse zum Schluß zustande zu bringen. Diese Rechnung wird nicht aufgehen. Wir werden zur gegebenen Zeit hier darauf hinweisen.Die Bundesregierung hat es vorgezogen, mit den Argumenten eines doch sehr oberflächlichen Realismus gerade jene nationalen und freiheitlichen Grundpositionen in der Deutschlandfrage abzuwerten und weitgehend aufzugeben, welche alle demokratischen Parteien dieses Landes 20 Jahre lang gemeinsam getragen haben. Das waren doch nicht Positionen der CDU/CSU, das waren die Positionen der Demokraten in diesem Lande, das waren die Positionen aller verantwortlichen politischen Kräfte; das waren die Positionen, die nicht aufgegeben werden dürfen, wenn nicht eine einseitige Gewichtsverlagerung in einem für uns alle unerwünschten Sinne eingeleitet und fortgesetzt werden soll. Es waren die Positionen, die den freien Teil Deutschlands in West und Ost und auch in der Dritten Welt zu einem angesehenen, nicht immer bequemen, aber klar kalkulierbaren Faktor der Weltpolitik gemacht haben. In der Zwischenzeit lastet auf uns auch wieder der noch nicht ganz vergessene Ruf der deutschen Unbestimmbarkeit, der deutschen Unrast, der deutschen Unruhe und eben der deutschen Unbestimmbarkeit, die im Namen unbewiesener historischer Notwendigkeiten ihre Partner plötzlich mit weittragenden politischen Wendungen konfrontieren.Ich möchte hier eines auch einmal sehr deutlich sagen: Es hat gar keinen Sinn, sich auf echte oder vermeintliche Zustimmung unserer westlichen Part-
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2710 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Dr. h. c. Straußner zu berufen. Das, was deutsche Interessen sind, wenn sie gegen die Bundesregierung vorgetragen und erkämpft werden müßten, wird uns bestimmt nicht von unseren Alliierten abgenommen, die nach den Grundsätzen auch der diplomatischen Höflichkeit und der Nichteinmischung in unsere innenpolitischen Probleme dieser Bundesregierung nach außen so weit helfen, als sie glauben, ihr helfen zu können. Die Tatsache, daß heute Art. 7 des Deutschland-Vertrages umstritten ist, die Tatsache, daß man sich bereits über die Revision nach Art. 10 Gedanken macht, beweist :doch, daß man hier darangeht, sich . neue Positionen zu schaffen, die nur mit Hilfe der Alliierten geschaffen werden könnten, neue Positionen, die dann eine weitere Änderung unserer Politik auf dem Wege nach unten und für die Sowjetzone — ich wage das Wort noch zu sagen — auf dem Wege nach oben bedeuten würden und nichts anderes.Herr Bundeskanzler, ich weiß wirklich nicht, ob Sie ermessen, was es bedeutet, daß wir in ,den letzten zwanzig Jahren nach all den Unzuverlässigkeiten und Unberechenbarkeiten der deutschen Geschichte für Freund und Nichtfreund wieder zu einem hochangesehenen, berechenbaren und vertragstreuen Staat geworden sind.Ich weiß umgekehrt auch nicht, ob Sie und Ihre Anhänger ermessen, welchen Schaden eine falsch verstandene Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an die vordergründigen Machtrealitäten für die Stellung Deutschlands in der Welt herbeiführen muß. Schlagen Sie bitte nicht auch diese unsere ernste Sorge mit Hinweisen auf die Zustimmung im Westen, auf Teile von Presse, Rundfunk und Fernsehen in den USA einfach aus. Weisen Sie auch nicht allein auf Meinungsumfragen in einer nicht informierten deutschen Öffentlichkeit hin.
Denn sonst müßten wir Ihnen allerdings sagen: nehmen Sie die Meinungsumfrage ernst, wonach drei Viertel des deutschen Volkes von jeder deutschen Regierung ein aktives Eintreten für die baldige Schaffung eines europäischen Bundesstaates erwarten und diesem Eintreten die oberste politische Priorität geben.
Die CDU/CSU hat die Bundesregierung vor der Einführung einer zwielichtigen und vieldeutigen Ausdrucksweise in der deutschen Außenpolitik, besonders aber in Verträgen, gewarnt, die dem östlichen Partner angeblich nur verbal entgegenkommen will, ohne in der Sache unsere fundamentalen, d. h. nicht in Verhandlungen verfügbaren Positionen in Frage zu stellen oder preiszugeben. Wir dürfen den unter Adenauer mühsam aufgebauten Kredit, ein Volk mit eindeutiger Vertragstreue und eindeutiger, keiner Interpretation bedürfenden Sprache zu sein, als moralischen Trumpf ersten Ranges für unsere Stellung in der Welt nach dem zweiten Weltkrieg in Anspruch nehmen. Wenn wir etwa den Atomsperrvertrag mit seinem mehrdeutigen Wortlaut ratifizieren sollen, so müssen wir wissen, was die entscheidenden Partner dieser Vereinbarung unter diesem Wortlaut verstehen.Aber ob es sich um den Atomsperrvertrag, ob es sich um Gewaltverzichtsvereinbarungen mit Moskau und Warschau oder um innerdeutsche — wie man sagt — Übergangsregelungen handelt, wir werden all das weiterhin entscheidend danach messen, ob die Bundesregierung unsere Zukunft mit der lebensgefährlichen Hypothek von Auslegungsproblemen belastet.
Die Bundesregierung ist bisher dabei geblieben, auch weiterhin mit dem gefährlichen Trick der „verbalen Annäherung"
zu arbeiten. Man kann fast sagen, das Neue in der gegenwärtigen Ostpolitik besteht darin, das klare Formeln, die allerdings im historischen Prozeß nicht zu dem von uns allen gewünschten Ergebnis führen konnten, nunmehr durch unklare Formeln ersetzt werden sollen, von denen man zunächst sagte und annahm oder über die man die Meinung verbreitete, sie würden zu schnellen Resultaten führen, während man jetzt allmählich den Hundertmeterlauf in einen mehrjährigen Marathonlauf umfunktioniert hat, weil man sieht, daß mit den unklaren Formlen noch weniger zu erreichen ist, als mit den klaren zu erreichen gewesen wäre.
Ich warne hier auch davor, juristische Positionen schlechthin als Formaljuristereien und als juristischen Formelkram abzutun. Die Sowjets sind wohl keine Dilettanten der Politik, und die Tatsache, daß die Sowjets auf rechtliche Festlegungen Wert legen, kann man doch nicht mit dem Hinweis abtun, daß sie in juristischem Formelkram erstarrt seien, während sich die Bundesregierung in ihrem faustischen Tatendrang bereits längst über diese Nebensächlichkeiten irdischer Daseinsgestaltung hinweggesetzt hat.
Deshalb sind wir jetzt nach Kassel sehr gespannt darauf, ob Staatssekretär Bahr aus Moskau klare Sachlösungen oder mehrdeutige Formelkompromisse als Gegenstand der aufzunehmenden Verhandlungen mitgebracht \\hat.Herr Bundeskanzler, Sie haben vor kurzem eine Frage, die sehr schnell nach Erfurt gestellt wurde und die hieß „Wie ist Ihr Konzept für Kassel?", folgendermaßen beantwortet: Ich werde ein paar Herren daransetzen, die das Ergebnis von Erfurt daraufhin untersuchen sollen, wo es zumindest verbale Berührungspunkte und wo es darüber hinaus sogar inhaltliche Berührungspunkte gibt. — Herr Bundeskanzler, hier lüften Sie eines Ihrer arcana imperii, eines der Geheimnisse Ihrer Regierungspolitik: Ihren Glauben, ich muß schon beinahe sagen, Ihren bewundernswerten Aberglauben an die politische Bedeutung verbaler Übereinstimmung.
Dieser Aberglaube ist mir angesichts der Doppeldeutigkeit vieler Begriffe, angesichts der diametralen
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2711
Dr. h. c. StraußUnterschiedlichkeit in der Auslegung von Begriffen wie Frieden, Freiheit, Fortschritt und Normalisierung schlechterdings nicht verständlich. Wenn zwei sagen, sie wollen den Frieden, und es steht zwischen den beiden dasselbe, was zwischen dem Westen und Moskau leider steht, dann heißt das, daß Moskau unter Frieden in Europa etwas ganz anderes versteht, als wir darunter verstehen. Der Frieden nach sowjetischer Version heißt die Ausdehnung der Ideologie und des gesellschaftlichen Systems, das drüben jenseits der Demarkationslinie herrscht, auch ohne Besetzung durch die Rote Armee, auf den Rest Europas, weil dann der Friede im Sinne der Pax sarmatica — wenn ich Herrn Carlo Schmid entgegenkommen darf; früher sagte ich Pax sovietica, bis er mich in „Pax sarmatica" verbessert hat — entstanden sein wird. Wenn beide Seiten von Frieden reden, meinen sie damit noch lange nicht das gleiche.
— Ach, du lieber Gott, was bei Ihnen in 20 Jahren noch übrigbleibt von dem, was Sie heute vertreten, wage ich gar nicht zu sagen.
Wenn Herr Ehmke und andere Männer der Regierung uns immer wieder sagen, wir müßten weg von der früheren emotionalen Deutschlandpolitik, hin zu einer rationalen Entspannungspolitik, so kann ich nur fragen: was ist irrationaler, was ist unverantwortlicher als der Aberglaube, in der jetzigen Weltlage führe der Weg von der verbalen Übereinstimmung zur sachlichen Übereinstimmung. Das hat mit Ratio, mit Intellekt und mit Vernunft und mit Wirklichkeit und mit Realismus überhaupt nichts zu tun.Wenn ich schon Bundesminister Ehmke genannt habe, nun, er hat gesagt, man habe gehofft, in Kassel drei Millimeter vorwärts zu kommen — ursprünglich las man es anders —, aber jetzt sei man eben halt nur einen Millimeter vorwärtsgekommen. Die ganze Bundesregierung war heute nicht in der Lage, auch nur einen einzigen Millimeter verständlich für die Offentlichkeit darzustellen.
Worin besteht denn der eine Millimeter? Daß man sich abermals gegenseitig durch Austausch von Monologen angesprochen hat? Ist der eine Millimeter in den Geheimgesprächen erörtert worden oder herausgekommen? Beruht er im Ablauf des Protokolls? Beruht er in verbalen Übereinstimmungen? Was ist denn der Millimeter?Ein anderer Bundesminister sagte auf die Frage, ob die Forderung der anderen Seite . nach völkerrechtlicher Anerkennung für ihn ein unüberwindliches Hindernis sei — der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen —:Ich halte überhaupt nichts für unüberwindliche Hindernisse, sondern bin der Meinung, daß die nun eingetretene Denkpause für beide Seiten Veranlassung geben wird, das Bisherige an Aussagen zu analysieren, um zu Ergebnissenkommen zu können, ob darin nicht — das wirddie Aufgabe sein, das festzustellen —, aucheine Annäherung an jene Vorstellungen er-reicht wird, die man sich selber gesetzt hat.Ich habe es dreimal gelesen, und es ist mir nicht gelungen, den Sinn auch nur einigermaßen — sei es auch nur gefühlsmäßig, emotional, geschweige denn rational oder intellektmäßig — zu erfassen. Sie können mich ja nicht gerade als Freund der Jusos in Anspruch nehmen; da gibt es vielleicht sogar Gemeinsamkeiten, die hier geleugnet werden. Aber hier ist mir doch ein gewisses Verständnis gekommen für den Antrag auf Ihrem Parteitag, er möge beschließen, daß alles getan wird, was getan werden soll, damit etwas getan wird.
Das ist, man könnte sagen, humorvoll, ironisch, ich möchte nicht einmal sagen: bissig.Aber, Herr Bundeskanzler, sind Sie sich darüber im klaren, daß Beurteilung, Bewertung und Behandlung der Bundesregierung durch Ihre kommunistischen Gesprächspartner ganz klar eines gezeigt hat: daß man dort dieses Spiel durchschaut, der Bundesregierung vorwirft, sie treibe eine reaktionäre Politik der Kontinuität und führe eine Sprache der fortschrittlichen Aufgeschlossenheit für Entspannung. Genau diese Doppeldeutigkeit der Sprache ist es, was die Behandlungsmethode für die hiesige Bundesregierung ausgelöst hat: nämlich mit Zuckerbrot und Peitsche. In Kassel war es die Peitsche, das knallharte Nein, und dann kam wieder der Luftballon aus Moskau mit der verführerischen Aufschrift, daß man nunmehr dort ein Abkommen ganz konkret, mit allen für uns wünschenswerten Punkten darin, wenn auch unter gewissen Abstrichen, erreichen könne. Man will Sie, Herr Bundeskanzler, von einer Station zur anderen treiben, bis es keine Umkehr mehr gibt.
Ich habe hier an dieser Stelle schon einmal gesagt: Sie nähern sich dem Punkt, wo Sie entweder auf dieser Bahn umkehren und damit das Scheitern Ihrer bisherigen Bemühungen eingestehen oder weitermachen müssen, um den Schein des Erfolges einzuheimsen, wobei Sie dann Positionen aufgeben, die nach Recht und Geschichte nicht aufgegeben werden dürfen, und zwar weder von dieser Regierung noch von einer anderen.
Diese Alternative läßt sich nicht durch noch so flexible Formulierungen, durch ein noch so raffiniert ersonnenes Vokabular der Mehr- oder Vieldeutigkeiten zum Schluß in ein Nichts der Harmonie auflösen, bestimmt nicht.Das ist die Frage, vor der Sie stehen und zu der Sie, wenn Sie heute — wofür ich persönlich Verständnis hätte — nicht dazu in der Lage sind, einmal Rede und Antwort stehen müssen. Wenn ich mich bisher getäuscht hätte oder mich in Zukunft täuschte, würde ich auch nicht anstehen, dieser Bundesregierung öffentlich zu testieren, daß sie mit ihrer Konzeption recht gehabt habe. Aber sie wird mit einer
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2712 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Dr. h. c. StraußKonzeption freiheitlich-rechtsstaatlicher Art nur dann durchkommen, wenn diese von allen politischen Kräften dieses Hauses und der Öffentlichkeit, die in das Lager der Demokratie gehören, einmütig getragen wird.
Meine Damen und Herren, Herr Mattick hat es mir leicht gemacht. Er hat darauf hingewiesen, daß schon die früheren Bundesregierungen das Gespräch mit dem Osten gesucht hätten. Hat jetzt Adenauer zuviel oder zuwenig getan? Am Anfang hat er offensichtlich nach Meinung des damaligen SPD-Parteivorsitzenden zuviel getan. Hat er später zuwenig getan? Nein, meine Damen und Herren. Wir stehen hier einer Tatsache, einer Realität, einer Härte der Fakten gegenüber, die durch Vorleistungen mit dauernd bekundeter Gesprächsbereitschaft, wobei wir uns beschimpfen und angreifen lassen, während die andere Seite knallhart auf ihren Forderungen besteht und darüber hinaus erwartet, daß man ihr noch mehr entgegenkommt, auch nicht um ein Jota geändert wird. Ich bin nicht der Meinung, daß Moskau der einzig mögliche Gesprächspartner ist. Aber in Moskau wird das Konzert bestimmt; in Moskau werden Melodie und Text geschrieben.Darum, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, möchte ich mir erlauben, an Sie einige Fragen über Ihre Politik, Ihre politischen Vorstellungen zu der Themenstellung zu richten, in der wir uns heute befinden. Bitte, überlegen Sie sich diese Fragen! Sie brauchen sie nicht deshalb zu beantworten, weil ich sie stelle, sondern diese Fragen werden Ihnen immer wieder gestellt werden, und Sie werden sich einer Antwort nicht entziehen können.Die erste Frage lautet — jetzt rede ich von der Ratio —: Was ist die Ratio, die Denk- und Vernunftgrundlage dieser Politik? Man sage nicht: den Frieden sicherer machen und die Völkerversöhnung. Wer will denn nicht den Frieden? Manches, was als Friedenspolitik in der Zeitpolitik ausgelegt worden ist, hat sich hernach als Schritt auf dem Weg zum Krieg erwiesen. Ich denke hier an den 30. September 1938. Wer sich damals, nicht nur in Italien und Deutschland, sondern auch in Frankreich und England, öffentlich gegen das Münchner Abkommen erhoben hat, ist als Kriegshetzer und Friedensfeind abgestempelt und als solcher diffamiert worden. Heute verlangt man von uns, dieses Abkommen nachträglich zu annullieren, um damit zu beweisen, daß wir es von Anfang an als nicht gültig hätten erklären sollen.War !der Einmarsch der Sowjets und ihrer Komplizen in Prag ein Akt des Friedens? Herr Breschnew konnte in Prag in zynischer Weise erklären, das sei ein Akt gewesen, der Blutvergießen habe verhindern sollen. Und hat nicht Herr Stoph — ich glaube, auch Ihnen 'gegenüber — erklärt, die Mauer sei ein Akt der Menschlichkeit? Einen scheußlicheren Mißbrauch der allen Menschen 'heiligen und liebgewordenen Begriffe als mit diesen eben genannten Realitäten kann 'man sich nicht vorstellen.Die Alternative lautet doch nicht, daß die einen hier im Hause für und die anderen gegen den Frieden seien, sondern die Frage ist: Wer steht auf demBoden der Tatsachen, wer steht ,auf dem Boden klarer, vernunftgemäßer und erfahrungsgehärteter Überzeugungen, um eine Friedenspolitik, auch wenn sie in der Gegenwart weniger sanft und angenehm klingt, treiben zu können, und 'wer gebraucht das einschmeichelnde Wort „Frieden", um damit eine Bahn zu öffnen, auf der Ulbrichts Aufstieg, Bonns Abstieg und eine Gewichtsverschiebung zugunsten der Sowjets in Europa auf die Dauer nicht mehr aufgehalten werden können?
Da frage ich Sie: Was ist denn die Denkgrundlage Ihrer Politik? Fassen Sie 'es nicht als eine Beleidigung auf, wenn nicht nur ich, sondern auch andere fragen: Gehen Sie davon aus, daß die Amerikaner uns so und so eines Tages hier allein lassen werden und daß man sich deshalb so gut wie möglich mit der anderen Seite arrangieren müsse? Gehen Sie davon aus? Meinen Sie vielleicht, daß guter Wille hier, ,den Sie ohne Zweifel haben, guten Willen drüben erzeugt und daß sich der Kreml dem guten Willen hier auf die Dauer nicht entziehen kann, ebenso die Dogmatiker nicht? Oder glauben Sie, daß die Vernunft es gebietet, mit dem kommunistischen Gegner zu verhandeln, und daß ein solches Verfahren dynamisch, flexibel sei, ganz gleich, ob etwas herauskommen kann, während die bisherige Denkweise statisch, stationär gewesen .sei? Gehen Sie davon aus, daß die Sowjetunion davon überzeugt sei, auf die Dauer ihr Imperium nicht 'halten zu können, und daß man ihr helfen müsse, ohne Sicherheitsrisiko und ohne Gesichtsverlust diese Stellungen 'zu räumen? Wenn Sie dieser Meinung sind, hat Ihre Politik 'einen 'Sinn, auch wenn er falsch ist; aber dann steckt noch eine Denklogik dahinter.Wenn man aber davon überzeugt sein muß, daß die 'Sowjetunion um jeden Preis, auch um den Preis eines vernichtenden Urteils der Weltmeinung — das dauert im übrigen nicht lange, siehe Prag — bereit ist, ihre Positionen zu behaupten, dann hat Ihre Politik keinen Sinn. Sie können weder durch verbale Übereinstimmung, noch durch dauernde Gespräche, noch durch Entgegenkommen in der Sache oder im Protokoll, durch die Bereitschaft, sich demütigen zu lassen, die Härte dieses Herrschaftsanspruchs vermindern, geschweige denn aus der Welt schaffen.
Das ist doch die Lage.
Glauben Sie immer noch, daß !die DDR eine Politik treibt, die von Moskau mehr :oder minder mit unguten Gefühlen gesehen wird oder abgelehnt wird, ebenso 'in Warschau und in Prag, und daß man deshalb jetzt Moskau, Warschau und Prag durch entgegenkommendes Verhalten gegenüber Ostberlin gewissermaßen helfen muß, mit der Hypothek Ulbricht fertig zu werden? Sind wir also hier gewissermaßen innere Entwicklungshelfer eines Heilsplans der Entwicklungsgeschichte innerhalb des Sowjetblocks? Wenn Sie das meinen, hätte Ihre Politik einen Sinn. Wenn Sie das nicht meinen, hat Ihre Politik keinen Sinn.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2713
Strauß
— Ich habe jetzt Herrn Hupka zitiert. Ich habe michmit Herrn Hupka nicht abgesprochen. Werten Siejetzt nicht Herrn Hupka als Funktionär eines Vertriebenenverbandes. Man sollte überhaupt mit dieser Klassifizierung aufhören.
Ich bin bestimmt weder Funktionär irgendeines Verbandes noch gehöre ich zu den Vertriebenen, aber was hier von Herrn Hupka und von anderen aus der gleichen Richtung gesagt wird, das ist nicht eine spezifische Forderung eines besonders isolierten Elementes des deutschen Volkes, der Vertriebenen, das ist die Meinung der Deutschen oder sollte es jedenfalls sein. Man kann die Vertriebenen nicht einfach mit dem Ausdruck „Vertriebenenfunktionäre" wegdividieren.
Sie haben davon gesprochen, „den Frieden sicherer machen", den Frieden sicherer machen, als er jetzt ist. Ich habe ernsthafte Zweifel, ich befürchte, daß Sie den Frieden nicht sicherer machen, sondern daß Sie ihn unsicherer machen, weil der Schatten Moskaus über Europa von Jahr zu Jahr länger wird, wenn die entscheidende zentrale Macht dieses Kontinents diese Politik fortsetzt, die im Oktober mit der Übernahme der Zweistaatentheorie begonnen hat.
Wollen Sie nicht auch einmal erklären, ob die Formel noch gilt — sie stammt wohl von Ihnen, Herr Wehner —: Durch Sozialismus zur Wiedervereinigung, durch Wiedervereinigung zum Sozialismus. Was heißt denn: „Wandel durch Annäherung"? Soll hier unter Umständen dann auch Wandel durch Anpassung erfolgen? Was bedeutet diese Formel?
Wenn alle Parolen Ihrer Parteitage Erfindungen sind
— das ist die vom Stuttgarter Parteitag —, dann stelle ich die Frage — das ist schon einige Zeit her, Herr Wehner —: Ist das Selbstbestimmungsrecht negotiabel?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Was muß die DDR tun, damit Ihre in Ihrer Schlußerklärung aufgestellte Voraussetzung für völkerrechtliche Anerkennung des zweiten deutschen Staates auf unserer Seite erfüllt ist? Welche Antworten müssen Sie bekommen — wenn Sie überhaupt Antworten bekommen —, oder wie müssen die Antworten qualifiziert sein, damit Sie Ihrerseits dann sagen: Ich habe das am Ende unserer letzten Begegnung erklärt; ich habe jetzt Antworten bekommen, die Antworten sind da, sie befriedigen mich, also bin ich jetzt bereit, auch diese Frage zu lösen einschließlich der Vertretung von zwei deutschen Staaten in der UNO.Sie können auch nicht durch widersprüchliche Denkkategorien aus der Welt schaffen, die Behauptung widerlegen, daß Sie zwei total verschiedene, diametral verschiedene europäische Vorstellungen haben. Sie, Herr Bundeskanzler, haben sowohl in Norwegen wie in Andeutungen in Saarbrücken eine visionäre Vorstellung vom Großraum Europa dargelegt, eine liebenswerte Vorstellung, wenn sie die Substanz der Realität hinter sich hätte. Wenn Sie
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2714 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Straußaber dann auch sagen: „Ich bin gleichzeitig für die westeuropäische Integration, auch in dieser Generation", dann müssen Sie sich sagen lassen, daß Ihre Vorstellung, man könne beides verbinden, absolut falsch und ein weiterer Akt der Selbsttäuschung ist, weil die Sowjetunion entscheidenden Wert darauf legt, durch die Vision des übergeordneten Europas die Bildung eines westeuropäischen Kraftzentrums aus Gründen, .die man wohl in diesem Hause eigentlich niemandem mehr zu . erläutern braucht, zu verhindern.Sind Sie sich darüber im klaren, Herr Bundeskanzler, daß mit dieser Politik der Aufstieg der DDR, der Aufstieg Ulbrichts, untrennbar verbunden ist? Sie mögen sagen, was Sie wollen, es ist keine böswillige Kritik, wenn einer der mir nicht sehr wohlgesonnenen Journalisten schreibt: „Das hat seine Ordnung, schafft aber die Feststellung nicht aus der Welt, daß sich in Deutschland die Gewichte zugunsten einer unverändert starr und mit langem Atem durchgehaltenen sowjetischen Politik verschoben haben, auch wenn die politische Landkarte davon nichts verrät." So Fred Luchsinger in der „Neuen Zürcher Zeitung". Das sind genau die Sorgen, die uns bewegen, und über diese Sorgen, Herr Wehner, sollte man nicht lachen. Man sollte das mit rationaler Gedankenführung und mit einer der Vernunft und Erfahrung entsprechenden Darstellung von Fakten, Überlegungen und Schlußfolgerungen widerlegen. Mit dem, was Sie sagen, Herr Wehner, werden Sie uns bestimmt nicht widerlegen.
— Damit schaffen Sie das nicht aus der Welt.Weil Sie mich ansprechen, darf ich zum Schluß noch sagen, Herr Wehner, Sie vertreten sicher nicht mehr das, was ich hier verlese:Wir verzichten als Deutsche im freien Teil Deutschlands auf keinen unserer Ansprüche, weder auf den, als ein Volk in einem demokratischen Staat zu leben, noch auf den, daß die Grenze in einem Friedensvertrag mit einer Vertretung .des ganzen deutschen Volkes festzulegen ist.Wer eine Deutschlandregelung für möglich hält, bei der unter dem Druck von Macht und Gewalt Deutsche heucheln, auch sie seien damit einverstanden, daß in dem einen Teil Deutschlands russische, in dem anderen Teil andere Prinzipien herrschen, der legt eine Bombe mit Zeitzünder an den Weltfrieden,
und wer glaubt, ein Verzicht auf die Grenzregelung in einem Friedensvertrag mit einer Vertretung des ganzen deutschen Volkes könnte die Sowjetunion umstimmen, der übersieht, daß sie jene Grenze, wenn das eine ist, sowieso in der Hand hat.
Eine Friedensordnung mit einer Fixierung der Teilung Deutschlands trägt den Keim des Unfriedens und schlimmstenfalls des Krieges in sich. Verzicht auf Gewalt heißt doch nicht Anerkennung der Gewaltakte anderer oder Besiegelung solcher Gewaltakte durch Resignation gegenüber fremder Gewalt.
Herr Abgeordneter Strauß, darf ich Sie darauf aufmerksam machen — —
Herr Kollege Wehner, das ist von Ihnen im Jahre 1963 geschrieben worden.
Daß Sie heute über sich selber lachen, beweist doch, daß man nach Ablauf von sieben Jahren diese grundsätzliche Änderung der Position — —
— Bisher habe ich das Wort, Herr Präsident.
Wenn Sie in dieser bei Ihnen ja bekannten vehementen — um kein anderes Wort zu gebrauchen — Weise über ein Zitat zu Felde ziehen, mit dem nur Sie wörtlich zitiert werden,
wie soll man Ihnen dann Stabilität und Konstanz in nationalen Lebensfragen und in grundsätzlichen Rechtsprinzipien zutrauen können?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe nur eines an die Adresse der Bundesregierung zu sagen: entweder legen Sie uns das auf den Tisch, was Sie zur Rechtfertigung Ihrer Politik vorzubringen haben, oder kehren Sie rechtzeitig um, bevor Schlimmeres geschieht!
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Strauß war ja ganz schön munter. Er scheint seine Entwaffnung durch eine Stewardeß der Lufthansa gut überstanden zu haben.
— Man wird doch wohl einen Scherz machen können.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2715
Meine Damen und Herren, ich bitte herzlichst, darauf zu achten, daß wir hier diese Verhandlungen im parlamentarischen Rahmen führen, und ich bitte, dem Herrn Bundeskanzler zuzuhören.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren, nachdem Sie Herrn Strauß eine Stunde zugehört haben, weiß ich gar nicht, warum Sie plötzlich auf eine scherzhafte Bemerkung hin so nervös werden.
— Was geschmacklos ist, müssen Sie mir überlassen.
Meine Damen und Herren, gerade nach dem, was Herr Kollege Strauß gesagt hat, muß ich hier noch einmal zwei Dinge zurechtrücken und die Politik der Regierung gegenüber überwiegend — nicht auf Grund mangelnder Kenntnis — falsch dargestellten Positionen klarstellen.
Ich will folgendes sagen. Erstens. Es -ist nicht wahr, daß, wie heute vormittag ein paarmal angeklungen ist, die Regierung die Europapolitik und die Bündnispolitik vernachlässige. Wir haben eine Gesamtpolitik, die sich an unseren allgemeinen Interessen und an unseren Sicherheitsinteressen orientiert und die darauf abzielt, den uns möglichen Beitrag zur Sicherung ,des Friedens zu leisten. Unsere Westeuropapolitik, die Politik -des Zusammenschlusses und — wo es möglich ist — der Einigung in Westeuropa, ist die Voraussetzung für unser Bemühen -um Elemente zu einer gesamteuropäischen Friedensordnung.
Ich widerspreche leidenschaftlich der These, die Herr Strauß hier eben aufstellte — denn sie würde zu einer verzweifelten Situation für die deutsche Politik führen —, man könne nur entweder für Westeuropa oder für Gesamteuropa sein.
Umgekehrt ist es wahr: gestützt auf die westeuropäische Einigung müssen wir für die gesamteuropäische Friedensordnung wirken.
Eingebettet in das westliche Verteidigungsbündnis und gemeinsam mit ihm bemühen wir uns um den Abbau von Spannungen zwischen Ost und West, so wie alle anderen maßgeblichen westlichen Staaten es auch tun. Wenn Sie von meinem Denkansatz hierzu etwas wissen wollen, dann kann ich Ihnen sagen: er besteht darin, Herr Strauß, daß ich uns nicht für schlauer halte als unsere gesamten westlichen Verbündeten zusammen.
.
Diese Regierung braucht sich nicht vorwerfen zu lassen, daß sie 'die europäische Einigung vernachlässige und daß sie dem atlantischen Bündnis nicht genügend Beachtung schenke. Diese Regierung — ich muß es noch einmal sagen — hat auf der Haager Gipfelkonferenz im Dezember 1969 und seitdem entscheidend dazu beigetragen, daß die Stagnation der Europäischen Gemeinschaft überwunden werden konnte. Die Gemeinschaft wurde seitdem verstärkt, und konkrete Verhandlungen über eine Erweiterung statt bloßen Geplauders der früheren Jahre — —
Ich wiederhole: Statt widersprüchlichen Geplauders über ,die Erweiterung
stehen jetzt konkrete Verhandlungen über die Erweiterung der EWG bevor. Ist es so oder ist es nicht so?
— Ich spreche hier doch nicht von uns allein; ich spreche vielmehr von der Lage innerhalb der Sechs und darüber, daß dort über die Erweiterung der EWG nicht mehr nur geplaudert, sondern verhandelt wird.
— Ich spreche davon, daß Sie uns hier etwas ankreiden wollen, wovon Sie wissen, daß Sie es uns nicht ankreiden dürfen!
Dies ist eine Regierung, di-e sich durch Ihre polemischen Unterstellungen nicht davon abbringen läßt, eine aktive Europapolitik zu betreiben.
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage .des Abgeordneten Dr. Barzel?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte sehr!
Würden Sie denn, Herr Bundeskanzler, an dieser Stelle die Frage, die Herr von Guttenberg hinsichtlich der Einstellung Ihrer Partei gestellt hat, und die von mir gestellte Frage nach dem Inhalt des verpflichtenden oder freiwilligen Charakters der Konsultationen als des Herzstücks Ihrer politischen Europavorstellungen beantworten?
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2716 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Barzel, ich muß mir vorbehalten, !auf die in der Debatte gestellten Fragen in der Reihenfolge einzugehen, wie sie in mein Konzept passen.
Allerdings mag das, woran Sie jetzt interessiert sind, auch hierher passen.Wenn gesagt wird, wir kümmerten uns zu wenig oder zu wenig rasch, um die politische Einigung Europas — sprich: Westeuropas —, dann antworte ich: wichtiger als schönklingende, dabei zuweilen auch quallige Beteuerungen früherer Jahre ist mir das, was jetzt möglich ist.
Was jetzt möglich ist, ist im Kommuniqué der Haager Konferenz festgelegt.
Darüber haben wir hier berichtet. Gestützt auf das, was dort festgelegt ist, ist den Außenministern ein Mandat erteilt worden. Die deutsche Regierung — das kann ich Ihnen guten Gewissens sagen — marschiert nicht hinter anderen her, sondern bemüht sich in dieser Frage um den größtmöglichen gemeinsamen Nenner für politische Konsultation und Zusammenarbeit, darauf können Sie sich wirklich verlassen.
Die Außenminister werden Ende Juli, wie es ihr Auftrag ist, hierüber den Regierungschefs berichten. Die Regierung ist auf diesem Gebiet wie auf anderen für jede, auch kritische Hilfe dankbar. Aber polemische Verdrehungen der tatsächlichen Zusammenhänge helfen weder der Bundesrepublik Deutschland noch der Einigung Europas ; auch das müssen Sie sichhier bitte sagen Jassen.
Das andere ist dies.
— Sie müssen es mir schon überlassen, in welcher Reihenfolge ich mich äußere. Ich sage zunächst: Ich muß !mich noch zu einem anderen Punkt gegen das wehren, was hier und anderswo vorgebracht wird. Es ist einfach nicht wahr, der Regierung zu unterstellen, .sie vernachlässige rin den Ost-West-Gesprächen deutsche Interessen, sie gehe — wie hieß es heute früh irgendwann? — auf das sowjetische Deutschlandkonzept ein, sie gebe Positionen preis, sie leiste Verzichtpolitik. Nein, sie kann .ebensowenig wie irgendeine andere Bundesregierung den zweiten Weltkrieg nachträglich, 25 Jahre hinterher, gewinnen. Das kann sie tatsächlich nicht.
Aber sie bemüht sich, statt auf etwas zu verzichten, was sie nicht hat, darum, für diese Bundesrepublik und für dieses deutsche Volk ein Mehr .an Vertrauen, ein Mehr an Frieden, ein Mehr an Sicherheit neu zu gewinnen. Darum bemüht sie sich.
Herr Kollege ,Strauß, wenn 'Sie ,am Samstag auf jener Kundgebung, auf der zum Widerstand aufgerufen werden soll, sprechen werden, dann möchte ich Ihnen gern den Rat geben, dort zum Widerstand nicht gegen die Vernunft, sondern gegen den Nationalismus und den Mißbrauch nationalistischer Vorstellungen ,aufzurufen.
Ich bin sehr dafür, daß das Ringen der Meinungen um den richtigen Weg und die richtigen Methoden deutlich wird.
Ich halte es für bedauerlich, daß falsche Fronten konstruiert werden und die Politik der Regierung heute auch hier weithin völlig falsch dargestellt wird.
— Hören Sie doch zu! Wir haben doch auch stundenlang zugehört. — Als ob es zu veranworten wäre — wie es Ihr zweiter Redner heute früh sagte —, uns in 'ein Lager, das für das Recht, mrd ein anderes Lager, das für das Unrecht sei, aufteilen zu wollen! Das können Sie, das können die meisten von Ihnen selbst nicht so meinen und aufrechterhalten.
— Lesen Sie es im Protokoll nach!Das dient nicht den deutschen Interessen. Deshalb rege ich an, auch insoweit die Sachlichkeit nicht zu kurz kommen zu lassen. Ich muß Ihnen ehrlich sagen: bei manchem, was heute vormittag vorgetragen worden ist, habe ich mich gefragt, in welcher Welt einige der Kollegen leben und von welchem Deutschland sie sprechen.
Meiner Überzeugung nach — und der habe ich hier Ausdruck zugeben — ist 'es weithin nicht die Welt, mit 'der wir ,es zu tun halben, die Welt, in der das Gleichgewicht des !Schreckens herrscht und in der es immer nur kleine, mühsam errungene Fortschritte in Richtung auf Frieden, Entspannung und bessere Zusammenarbeit geben kann, weil es immer noch schwere !Spannungen und blutige Konflikte gibt.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2717
Bundeskanzler BrandtDas Deutschland, in idem wir leben, ist nicht der mächtige Staat, von dem manche zu meinen scheinen, daß per es sei,
dessen Mitte ausreichen, das im Krieg Verlorene zurückzugewinnen, die Wiedervereinigung zu erzwingen
und die politische Einheit Westeuropas herzustellen.
Ich will ja nicht den Spieß umdrehen, aber wenn hier schon, Herr Kollege Strauß, vom Aufstieg Ulbrichts gesprochen worden ist, frage ich mich, wie man sich so kühn über die Tatsache hinwegsetzen kann, daß während der vielen Jahre, in denen eine Partei, die jetzt die Opposition stellt, dieses Land regiert hat, — nicht, weil sie es so gewollt hat, sondern weil die Tatsachen sich so ergeben haben — die Spaltung Deutschlands tiefer geworden ist und sich das Gewicht der DDR verstärkt hat.
Herr Bundeskanzler, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten von Fircks?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte sehr!
Herr Bundeskanzler, Sie sagten eben, Sie wüßten manchmal nicht, von welchem Deutschland hier gesprochen würde. Könnten Sie uns vielleicht sagen, von wie vielen und von welchen „Deutschländern" Ihrer Meinung nach überhaupt gesprochen werden könnte oder gedacht werden sollte? Das ist uns in Ihren Ausführungen auch oft sehr unklar.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Darauf werden wir sicherlich gleich im Zusammenhang mit Kassel kommen; denn das ist die Problematik dieser schwierigen Begegnung mit dem Ministerratsvorsitzenden der DDR gewesen.
Ich darf auf die wirtschaftliche und politische Einigung Europas, über die wir eben schon sprachen, hinweisen. Wenn nicht mehr Fortschritte erzielt worden sind, dann weiß ich natürlich auch: nicht wegen des bösen Willens früherer Regierungen, sondern überwiegend wegen objektiver Schwierigkeiten.
Wer in der Politik Offenheit und Ehrlichkeit will, der darf diese Dinge nicht verschweigen. Er darf auch nicht verschweigen, Herr Kollege Strauß, daß die Zustimmung der Verbündeten nicht einfach ein Problem diplomatischer Höflichkeit ist. Wenn der
Außenminister noch da wäre, könnte er Ihnen sagen, wie viele Stunden
— ich würde das nicht auf die leichte Schulter nehmen; gerade diejenigen unter Ihnen, die in diesem Lande noch einmal regierungsfähig werden wollen, müßten das, wovon ich jetzt spreche, sehr ernst nehmen —
der Außenminister am Montag zunächst mit seinen amerikanischen, britischen und französischen Kollegen über die Dinge gesprochen hat, über die hier leicht hinweggegangen wird, und wie sich gestern die ganze Allianz in einem Geiste positiver Zusammenarbeit geäußert hat. Nun können Sie doch nicht allen Ernstes meinen, die Regierung, die Sie nicht mögen, SPD und Freie Demokraten und alle Verbündeten zusammen haben unrecht, nur Sie allein, die Union in diesem Saal, haben recht.
Herr Bundeskanzler, sind Sie bereit, eine Frage des Abgeordneten Dr. Barzel zu beantworten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte!
War diese Zustimmung der ganzen Allianz, von der Sie eben sprachen, Herr Bundeskanzler, auf Grund eines mündlichen Berichts über allgemeine Entspannungsbemühungen oder auf Grund einer schriftlichen Unterlage über die konkreten Ergebnisse der Bahr-Mission in Moskau?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Im ersten Fall das letztere, im zweiten Fall das erste.
Bei dem tiefen Respekt, den ich dem zolle, was Herr Kollege von Guttenberg gesagt hat, kann ich trotzdem nicht umhin zu sagen, daß ich bei dieser bewegenden Rede immer wieder das Gefühl gehabt habe, hier zeige sich doch vielleicht neben anderem, warum die Bundesrepublik in den zurückliegenden Jahren nach Osten erfolglos bleiben mußte und warum vielleicht doch die eine oder andere Möglichkeit in der Vergangenheit verspielt worden sein könnte.
Bei dem leidenschaftlichen Engagement, dessen Zeugen wir geworden sind, wird man aus meiner Stellung und Verantwortung den Vorwurf zurückweisen müssen, als übersehe diese Bundesregierung mit dem Teil ihrer Politik, der nach Osten gerichtet ist, die Gefahren, die Europa durch ein Zerbröckeln der NATO drohen könnten, als übersehe sie auch die allzu bekannten Tatsachen, daß wir es in Europa
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2718 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Bundeskanzler Brandtnicht überall mit freiheitlichen Verhältnissen zu tun haben. Ich muß dem noch einmal entgegenhalten, daß die Politik vergangener Jahre es nicht verhindert hat, es nicht hat verhindern können, daß die Realitäten, mit denen wir es heute zu tun haben und die weithin als Ergebnis und Folgen des zweiten Weltkrieges bekannt sind, sich immer mehr verfestigt haben. Wer diese Realitäten — lassen Sie mich das mit ganzem Nachdruck sagen — zum Ausgangspunkt seines Handelns macht, der handelt vernünftig und nicht unmoralisch.
Es handelt sich nämlich nicht darum, Unrecht zu verschweigen oder anzuerkennen oder gar gutzuheißen, sondern es handelt sich darum, die Verhältnisse zu bessern,
damit eines Tages mehr Recht als heute auf deutschem Boden und in Europa sein kann. Darum geht es.
Diese Bundesregierung wird den Schutz der NATO gewiß nicht aufgeben. Aber sie wird ihn zusammen mit den anderen NATO-Partnern ergänzen durch eine Politik der aktiven Koexistenz. Sie wird kein Recht preisgeben, sondern sie wird darauf hinwirken, daß Rechtsvorstellungen politisch und damit auch geschichtlich wirksam werden können. Wenn man auf diese Bemühungen verzichtet, dann eben läßt man Rechtstitel zum Formelkram werden. Das genau ist es, was zu lange geschehen ist. Das Ergebnis war, daß weder die Einheit Deutschlands noch Schritte dahin erreicht werden konnten. Von dieser Tatsache kann man nicht ablenken durch das Heraufbeschwören einer Gefahr für die Sicherheit und die Freiheit der Bundesrepublik, einer Gefahr — das muß die Bevölkerung von dieser Stelle aus wissen —, die nicht existiert und die schon gar nicht existieren kann durch die Politik dieser Regierung im atlantischen Bündnis.
Oder will etwa jemand behaupten, daß eine Gefahr für den Zusammenhalt der NATO nicht vielmehr dadurch entstehen könnte, daß ein größerer Teil der Bündnispartner eine Politik der Entspannung betreibt und ein anderer Teil sich querlegt und sich dem widersetzt? Oder wollte jemand allen Ernstes behaupten, daß die Tendenzen zu einer Verringerung amerikanischer Streitkräfte ihre Ursache in der Politik der Bundesregierung hätten?
Das kann uns doch kein Kundiger weismachen wollen. Die Ursachen liegen weit außerhalb unserer Einwirkungsmöglichkeiten. Wie wollte man erklären, wieso sich jetzt in Rom — ich sage es noch einmal — alle NATO-Regierungen auf ein Verhandlungsangebot — unabhängig von dem, worüber wirhier streiten — der Mitglieder der Atlantischen Allianz insgesamt an den Osten einigen? Eben heute nachmittag einigen sie sich darüber, während wir uns hier streiten. Und wie wäre die Einigung in Rom zu erklären, wenn dort nicht alle davon überzeugt wären, daß dies ihren Interessen und ihrer Sicherheit entspricht?Ich wiederhole es noch einmal: wir haben nicht die Absicht, Unrecht anzuerkennen; wir haben nicht die Absicht, Positionen und Rechtsüberzeugungen aufzugeben, die für die Gestaltung der deutschen Zukunft einen Wert haben können. Aber wir haben die Absicht, uns fest auf den Boden der Tatsachen zu stellen.
— Genau das, was ich sage, heißt das. Man mag, wenn man will, dies, wovon ich eben sprach, nämlich von den Tatsachen auszugehen,
in polemischer Absicht „Anerkennung" nennen; man mag seine Augen vor den Realitäten verschließen und weiterhin blind sein für Möglichketien, die auch der deutschen Politik gegeben sind und die bereits sichtbar werden. Es kann auch nicht im Interesse der Opposition liegen, sich bei der ernsthaften Beschäftigung mit dieser Materie abseits zu stellen. Denn, von allen Einzelfragen abgesehen,
ist diese Position wohl doch noch eine einheitliche, daß wir auf eine europäische Friedensordnung hinwirken wollen.Ich komme jetzt zu dem, wonach insbesondere gefragt wurde
— ich bitte, mich jetzt damit fortfahren zu lassen —, nämlich zu einer Erörterung der Begegnung in Kassel. Dazu meinte Herr von Wrangel am 15. Mai, wenn ich es richtig gelesen habe, daß in Kassel entweder ein Wunder geschehen müsse oder daß es zu einem Eklat komme, und aus diesem Eklat heraus 'werde Stoph abreisen, und nach diesem von ihm erwarteten Eklat würden die Beziehungen schlechter sein als zuvor. Nun, so bescheiden bin ich in meiner Einschätzung nicht gewesen. Nach dieser Einschätzung von Herrn von Wrangel kann der Mißerfolg gar nicht so groß gewesen sein. Aber lassen wir das einmal.
Ich spreche jetzt von dem Vorsitzenden Ihrer Fraktion, der heute früh wie draußen sagt und dies natürlich auch die Leute im Lande glauben lassen möchte, die Verhandlungen in Erfurt und Kassel hätten nicht nur keine Entspannung, sondern sie hätten eine Verschärfung
— Verhärtung gebracht. Ich widerspreche dem. Ichsage — und dazu äußere ich mich gleich —, das
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2719
Bundeskanzler BrandtErgebnis war völlig unbefriedigend. Und doch -und ohne daß ich mir etwas vormache — ist die Tatsache, daß zweimal in zwei Monaten verantwortliche Männer aus Bonn und Ostberlin stundenlang, auch wenn sie sich nicht einigen können, Argumente austauschen, ein Fortschritt gegenüber den Jahren, in denen wir mit dem Rücken gegeneinander standen.
Herr Bundeskanzler, Sie genehmigen die Frage?
Ich verstehe Sie also recht, Herr Bundeskanzler, daß Sie meinen Satz, das Ergebnis von Kassel sei nicht Entspannung, sondern Verhärtung, damit zurückweisen, daß dieses Treffen überhaupt stattgefunden hat?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Im wesentlichen 'damit, daß es stattgefunden hat und daß Argumente aneinander gemessen worden sind.
Und Sie nehmen bitte zur Kenntnis, daß ich vom Ergebnis gesprochen habe, daß das Ergebnis nicht zur Entspannung, sondern zur Verhärtung geführt hat und daß Ihre Argumentation daneben gelegen hat.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Bundesregierung, meine Damen und Herren, hat das Gespräch mit der Regierung der DDR angestrebt. Sie hat das hier vor dem Hohen Hause rechtzeitig gesagt.
— Nein, jetzt nicht. — Sie hat dabei von Anfang an keinen Zweifel gelassen, daß der Weg zu einer Regelung der Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland lang und schwierig sein wird. Sie hat ihre Positionen und Vorschläge in monatelanger Vorarbeit sorgfältig abgewogen und präzise formuliert. Sie hat vor der falschen Hoffnung gewarnt, als könne es für Probleme, die sich in mehr als 20 Jahren entwickelt haben, kurzfristig Lösungen geben. Ich war deshalb weder überrascht noch enttäuscht, daß ich auf die von mir in Kassel vorgelegten 20 Punkte, die übrigens am letzten Freitag im „Neuen Deutschland" als einziger Zeitung drüben vollinhaltlich abgedruckt wurden — das Blatt war dann auch rasch verkauft —, was ich begrüßt habe, weil dadurch eine ganze Reihe von Mitbürgern drüben sich ein Bild machen konnte, keine unmittelbare Antwort erhielt. Die Delegation der DDR hat auch keine neuen Gesichtspunkte vorgebracht.Wenn Kassel mit der übereinstimmenden Auffassung aller Teilnehmer endete, den Faden nicht abreißen zu lassen, das Gespräch zu einem geeigneten Zeitpunkt fortzusetzen, so gilt dies insbesondere auch, weil eine Antwort der DDR-Seite auf die Vorschläge der Bundesrepublik, der Bundesregierung noch aussteht.Ich möchte auch heute insoweit diejenigen nicht drängen, die in Ostberlin die Regierung bilden, aber ich möchte klarstellen, daß die auch heute hier vielzitierte Denkpause vor allem in Ostberlin genutzt werden sollte.
Die Bundesregierung hat ihr Konzept; das hat sie dort unterbreitet. Danach sollten wir unter anderem das Mögliche nicht unterlassen, nur weil das Wünschbare heute 'nicht erreichbar ist. Das gehört dazu.
Die vor uns liegende Zeit sollte aber auch dazu benutzt werden, zu überlegen, daß zwischen den beiden Seiten in Deutschland 'im zwischenstaatlichen Verkehr die für solchen zwischenstaatlichen Verkehr übliche Methode eingeführt wird, wonach man zu vertraglichen Ergebnissen dann immer noch leichter kommt, wenn ein gründlicher Meinungsaustausch voraufgegange ist. Wer, auch unter noch so schwierigen Partnern, die Gedanken miteinander klärt, der wird es leichter finden, sie zu formulieren. Dies hat sich zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion bewährt, dies sollte auch die Methode zwischen Ostberlin und Bonn werden.Ich sage dies nicht, um nachträglich die beiden Begegnungen mit dem Ministerratsvorsitzenden aus Ostberlin in ihrer Bedeutung zu verkleinern,
auch nicht, weil ich der manchmal geäußerten Auffassung der Opposition wäre, man hätte keinesfalls mit Begegnungen der Regierungschefs beginnen sollen.
Nach der jahrelangen Verkrustung war wohl diese Art von Begegnung nötig, um in Gang zu kommen. Aber nun, da dies geschehen ist, sollte man über die Wünsche und Vorschläge beider Seiten reden. Man sollte sehen, was davon annähernd übereinstimmt, was davon 'in absehbarer Zeit praktisch und grundsätzlich gelöst werden kann, und auf der Basis dieser Arbeit sollten sich die Regierungschefs dann wieder treffen. Niemand darf glauben, das Ergebnis von Verhandlungen vorwegnehmen zu können.Daß unsere Art, die Auseinandersetzung über unterschiedliche Standpunkte zu führen, sich von ,der der anderen Seite unterscheidet, ist ebenfalls nicht überraschend. Die Gelassenheit einer wohlüberlegten Position wiegt schwerer und ist auf die Dauer auch erfolgreicher als polemische Überspitzungen, die einer nüchternen Widerlegung nicht standhalten, wie wir es in Kassel in der vergangenen Woche, zumal am Donnerstagnachmittag, erlebt haben.Ich möchte das Ergebnis meiner bisherigen zwei Gespräche mit dem Ministerratsvorsitzenden der DDR auf die kurze Formel bringen, daß in Kenntnis beider Positionen und nach gründlicher Überlegung beider Seiten eine Grundlage für die Weiterführung der politischen Gespräche in einer konkreteren Form2qMetadaten/Kopzeile:
20 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Bundeskanzler Brandtals bisher gegeben ist. Das ist meine kurze Zusammenfassung. Und dafür waren — das kann nicht verwischt werden — Erfurt und Kassel eine politisch unumgängliche Notwendigkeit.Es ist klar, daß Verhandlungen nur möglich sind, wenn keine Seite ihre Vorschläge als etwas betrachtet, was der andere entweder nur annehmen oder nur .ablehnen kann. Es ist klar, daß in einer derartigen Lage keine der beiden Seiten mit einem Ergebnis zu hundert Prozent zufrieden sein kann. Jede Seite kann es sich, wenn wir einmal so weit sein sollten, dann immer noch besser vorstellen.Der Wille, zu einer Übereinkunft zu gelangen, wird entscheidend sein, wenn die sachliche Prüfung die Möglichkeit dazu ergibt. Diese Möglichkeit sehe ich. Der gute Wille ist bei uns vorhanden. Auf die Antwort nach der Pause warte 'ich ohne Hast.Die Bundesregierung hat ihre Bereitschaft zu einer vertraglichen Regelung der Beziehungen zwischen den beiden Staaten ausdrücklich auf die Zukunft und den Zusammenhalt der Nation ausgerichtet. Das ist in den kritischen Anmerkungen des heutigen Vormittags sehr untergegangen.Unter dem Gesichtspunkt der Bedeutung, die wir den Menschenrechten beimessen, muß auch die Feststellung betrachtet werden, daß die Unabhängigkeit und Selbständigkeit jedes der beiden Staaten in Angelegenheiten seiner inneren Hoheitsgewalt respektiert werden soll. Ich sage dies mit besonderer Betonung, weil völlig klar sein muß, daß kein Vertrag zu irgendeiner Art von Mitspracherecht der DDR in Angelegenheiten der Bundesrepublik Deutschland führen darf.
— Ich komme auf Westberlin.
Punkt 5 unserer 20 Punkte — der Grundsätze und Vertragselemente, wie ich sie genannt hatte — ist hier und da, auch in der Rede des Kollegen Barzel heute früh, so verstanden worden, als ob er bedeuten könnte, wir würden und dürften uns nicht mehr zu so gravierenden und bedrückenden Tatsachen äußern, wie sie entlang der innerdeutschen Grenze und an der Mauer in Berlin gegeben sind. Tatsächlich bedeutet Punkt 5: Die Bundesrepublik Deutschland nimmt keine Hoheitsgewalt in der DDR in Anspruch, genauso wie umgekehrt die DDR keine Hoheitsgewalt in der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch nehmen kann.
— Wir wollen doch einen Zustand bekommen, in dem wir über das Weiterschießen hinwegkommen, Herr Kollege Barzel.
Das ist doch der Sinn und das Ziel der Politik.
Bei dem Gespräch in Kassel nahm das Thema der angeblichen Diskriminierung der DDR — wie es drüben genannt wird — „durch Gesetze und Normativakte der Bundesrepublik" in den Ausführungen der Delegation der anderen Seite viel Raum ein. Darüber ist von unserer Seite schon einiges gesagt worden. Es ist noch eine Menge zu sagen. Aber ich glaube, darauf kann man noch hier oder in den zuständigen Ausschüssen zurückkommen. Es lohnt, darauf zurückzukommen. Ich habe dort vorgeschlagen — wie es in den 20 Punkten steht —, daß wir bereit sind, auch zu prüfen, auf welchen Gebieten Kollisionen zwischen der Gesetzgebung beider Staaten bestehen und ob und wie diese beseitigt werden könnten.Nun, ich übersehe nicht, daß die von der anderen Seite erhobenen Vorwürfe wie auch andere Erscheinungen in der Verhaltensweise der DDR Varianten des Strebens nach dem politischen Ziel der formalen völkerrechtlichen Anerkennung sind. Ich habe bereits in Erfurt dem Vorsitzenden des Ministerrats gesagt, daß der Versuch, die Problematik der Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland allein unter den völkerrechtlichen Gesichtspunkt zu stellen, weder dem Gewicht noch dem Umfang der Fragen gerecht wird. Inhalt und Form von Regelungen und Vereinbarungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang.Das gilt unverändert auch für den Standpunkt der Bundesregierung zur Mitarbeit anderer in internationalen Organisationen. Ich habe dem Vorsitzenden des Ministerrats erklärt, daß wir zuerst das politische Verhältnis zwischen den beiden Staaten regeln müssen, bevor wir in der Lage sein werden, das Verhältnis zu dritten Staaten und in den internationalen Organisationen einvernehmlich zu regeln. Hier ist der Standpunkt der DDR anders.Was die Fortführung der Gespräche betrifft, weise ich darauf hin, daß Herr Stoph bereits in Kassel die Bereitschaft der Regierung der DDR zur Fortsetzung der Gespräche erklärt hat. Dies ist inzwischen durch einen Beschluß des Ministerrats der DDR vom 25., also vom Montag dieser Woche, bestätigt worden.
— Wenn ein nächstes Gespräch — am besten als qualifiziertes Vorgespräch — stattfindet, wird es von vielen Faktoren bestimmt werden, auch von denen der allgemeinen Entwicklung des Verhältnisses zwischen Ost und West. Die Bundesregierung wird es weder in diesem Bereich noch gegenüber der DDR an Initiativen fehlen lassen, um in konstruktiver Weise und in Wahrung ihrer unmittelbaren Positionen und Ziele Beiträge zu einer Entspannung und Normalisierung zu leisten. Sie wird sich dabei von dem Grundsatz leiten lassen, daß die Sicherheit des einen nicht die Unsicherheit des anderen und der Vorteil des einen nicht der Nachteil des anderen sein dürfen.In diesem Zusammenhang einige Bemerkungen zu dem, was auch hier viel Interesse gefunden hat, nämlich was mit der Problematik — aus der Sicht der
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2721
Bundeskanzler Brandt1 anderen Seite — völkerrechtlicher Beziehungen, Beziehungen auf der Basis des Völkerrechts oder völkerrechtlicher Anerkennung zusammenhängt. Herr Stoph hat in seiner Erwiderungsrede in Kassel am Donnerstag vormittag zirka dreißigmal von völkerrechtlichen Beziehungen, Völkerrechtssubjektivität, vom Völkerrecht als Grundlage der Beziehungen und ähnlichem gesprochen. Ich hatte vorher, indem ich mich auf Erfurt bezog — hieran hat der Kollege Barzel heute vormittag erinnert —, deutlich gemacht, „daß wir" — ich zitiere — „weder die weiterwirkenden Rechte der Vier Mächte überspielen noch die Spaltung Deutschlands völkerrechtlich anerkennen wollen". Hiervon ist zu keinem Zeitpunkt, in keinem Gespräch, weder am Delegationstisch noch an anderer Stelle, auch nur irgend etwas abgestrichen worden,' nämlich
— lassen Sie mich meinen Gedanken weiterentwickeln — von diesem auch von Ihnen aufgegriffenen Satz, „daß wir" — ich wiederhole — „weder die . . . Rechte der Vier Mächte überspielen noch die Spaltung Deutschlands völkerrechtlich anerkennen"— oder sanktionieren — „wollen" . Das blieb und bleibt unabgekürzt aufrechterhalten.
— Darauf komme ich doch gleich. Das, was nachmittags war, hatte mit der Mittagspause überhauptnichts zu tun, sondern nur mit dem, was ich Ihnenjetzt zu erklären versuche.
— Ich versuche jetzt, Ihnen das zu erklären, wenn Sie die Güte hätten, dabei zuzuhören.In den Darlegungen des Herrn Stoph verdienen, auch wegen der Wirkung auf andere, nicht nur im Osten, je eine Behauptung und eine Unterstellung besondere Beachtung: erstens die Behauptung — ich zitiere —, die völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die BRD sei, so sagt er, nicht nur eine juristische Frage oder etwa eine Sache des Prestiges der DDR oder eines anderen Staates, und zweitens die Unterstellung, eine Verweigerung der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR, wie er es nennt, und ihrer Staatsgrenze bedeute, daß wir uns „für aggressive Handlungen die Hände freihalten" wollten, — so wörtlich zitiert. In diesem Zusammenhang müssen Sie meine Bemerkung in der Erwiderung am Nachmittag sehen und lesen, also insbesondere im Zusammenhang mit der Unterstellung, wir wollten uns die Hände für aggressive Handlungen freihalten.In diesem Zusammenhang habe ich gesagt — auch das zitiere ich wörtlich nach dean, was der Stenograph dort festgehalten hat —
— doch, das linden Sie auch im Bulletin; ich könntejetzt statt „Stenograph" sagen: Bulletin —, „das sichim Laufe der Zeit auch die Frage, die Sie" — Sie,Herr Stoph — „als völkerrechtliche Anerkennung der DDR bezeichnen, lösen läßt". Ich hätte ebensogut sagen können, weil er noch mehr von „völkerrechtlichen Beziehungen" gesprochen hat: Die Frage, die Sie als Regelung der Beziehungen — —
— Ich muß darum bitten, jetzt diesen Gedanken weiterentwickeln zu können. Danach gebe ich Ihnen gern das Wort.
Ich habe gesagt, ich sei .davon überzeugt, daß eine solche Erörterung und Prüfung möglich sein könnte, wenn wir eine Antwort auf die Frage erhielten, was sich durch vertragliche Regelungen im Interesse der Menschen verändern würde. Ich habe nicht gesagt,. wie heute hier zitiert wurde, obgleich man den Text im Bulletin kannte: Stoph braucht nur irgendeine Antwort zu geben. Nein, es ist nicht irgendeine Antwort, sondern es ist die Antwort auf .den folgenden Satz, der dieser Bemerkung voraufgeht, die ich soeben zitierte — ich zitiere —:Sie sprechen immer auch davon, daß sich die Regierung der DDR vom Interesse der Menschen leiten lasse, wie wir es zu tun bemüht sind, aber uns fehlen die konkreten Angaben darüber, was dies im Zusammenhang mit den vertraglichen Regelungen 'zwischen unseren Staaten bedeuten soll.Dann geht es weiter: Es müßte doch möglich sein, uns darauf eine Antwort zu geben, und dann: „Wenn wir solche Antworten erhielten", und dann das, was ich Ihnen vorgetragen habe.Meine Damen und Herren, hier hat doch Herr Kollege Strauß, als er polemisierte, nicht gelesen, was im „Bulletin" stand. Denn er hat unterstellt, daß ich mich dort äußere, ohne auf das zu reagieren, was die andere Seite sagt, und ohne von der anderen Seite etwas zu erwarten. Dies wird eben dem Gegenstand, mit dem wir es zu tun haben, nicht gerecht.Im übrigen habe ich in der gleichen Replik betont:Soweit zwischen den beiden Staaten in Deutschland nicht vertraglich besondere Regelungen für bestimmte Sachgebiete getroffen worden sind oder getroffen worden sind oder werden, finden die allgemein anerkannten Prinzipien des zwischenstaatlichen Rechts ... Anwendung.An anderer Stelle habe ich gesagt: Unsere Vertragselemente stützen sich auf die Regeln des zwischenstaatlichen Rechts, es sei denn, daß sich aus der Natur der Sache Abweichendes ergibt.Hierzu kommt dann noch einmal der besondere Hinweis darauf, daß die bestehenden Viermächtevereinbarungen über Deutschland und Berlin zu achten seien, aber auch der Hinweis, daß in den auszuhandelnden Vereinbarungen, die ,der Lage zu entsprechen haben, wie ich sagte, d. h. der Lage
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2722 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Bundeskanzler BrandtDeutschlands und der Deutschen 25 Jahre nach Kriegsende, gegebenenfalls die Anwendung völkerrechtlicher Prinzipien für die Beziehungen unserer Staaten zueinander formell Ausdruck finden kann.Das heißt, wie wir es an anderer Stelle hier und draußen gesagt haben: Ein Vertrag oder mehrere Verträge oder vertragliche Regelungen zwischen diesen beiden Staaten in Deutschland sollen in der Tat die gleiche Verbindlichkeit haben wie Verträge, die jeder von ihnen mit Dritten abschließt. Das sollen sie tatsächlich.Ich meine, diese Position ist klar. Sie geht davon aus, daß Verhandlungen aufgenommen werden sollen und idaß in Verhandlungen auch über die Rechtsqualität der verschiedenen zu treffenden Regelungen zu sprechen sein wird.Ich stehe zu jedem Wort, das ich insoweit in Kassel gesagt habe. Mich interessiert, daß die Opposition hier glaubt, ich sei über die Politik hinausgegangen, die ich in den Regierungserklärungen vom 28. Oktober und vom 14. Januar bekanntgegeben habe. Herr Stoph, der der eigentliche Partner in diesem Geschäft ist, glaubt dies nicht, wie seine Einlassungen und seitherigen Erklärungen zeigen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Barzel?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte sehr.
Sie haben dargetan, daß Ihr Hinweis auf das In-Aussicht-Stellen der völkerrechtlichen Anerkennung die Antwort auf die Unterstellung von Herrn Stoph gewesen sei, wir hätten die Absicht, mit Gewalt unsere Ziele durchzusetzen. Hätte es nicht genügt, dem mit dem Hinweis auf die Ziffer 4 Ihrer eigenen 20 Punkte zu antworten, wo Sie ihm den Gewaltverzicht anbieten? Dies wäre doch genug gewesen, und nicht .das Überschreiten der verabredeten Grenzen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kann das nicht einsehen, sondern ich sage noch einmal: Jede ernsthafte Verhandlung über einen Vertrag wird ohnehin zeigen, daß in einem solchen Vertrag oder mehreren solchen Verträgen verschiedene Rechtsqualitäten ihren Niederschlag finden müssen, einige auch ganz eigener Art, weil es für sie keinen Vergleich und kein Vorbild gibt.
Nun, meine Damen und Herren, wieso in dem, was wir in Kassel gesagt haben, eine Einschränkung unseres Bekenntnisses zum Selbstbestimmungsrecht liegen soll, das kann ich überhaupt nicht begreifen.
-- Was heißt „hinterher interpretieren"? Ich könnte ebenso fragen: Warum lesen Sie nicht vorher, bevor Sie polemisieren?
Jeder Gutwillige, Herr Rasner, muß, wenn er die
20 Punkte sieht und die Punkte 1, 3, 10, 11 und 12
zusammen sieht, wissen, daß hierin dies eingeschlossen ist, was Sie Selbstbestimmungsrecht nennen.
Jetzt nehme ich Herrn Strauß beim Wort.
Ich frage Sie: Was soll denn dies heißen?
— Lassen Sie mich jetzt ausreden. Keiner hat Sie unterbrochen. Was ist das hier für eine Art, Herr Barzel!. Sie haben hier heute vormittag völlig ununterbrochen reden können. Sie sollten denselben Stil auch dem Regierungschef gegenüber wahren.
Jetzt frage ich Sie: Was soll denn nun gelten? Was Herr Barzel und Herr Guttenberg sagen: „Ihr müßt mit den Kommunisten auch noch vereinbaren, daß Selbstbestimmung gilt", oder was Herr Strauß sagt: „Das hat alles keinen Zweck, denn verbale Übereinstimmung mit den Kommunisten nützt weder auf diesem Gebiet noch auf einem anderen"?
Nur das eine oder das andere kann gelten.
— Das ist nicht an den Haaren herbeigezogen! Überall im Ost-West-Konflikt liegt das Problem vor, und da gibt es Leute, die sind nicht sehr viel dümmer als Herr Strauß, die stoßen — die Amerikaner mit den Russen bei SALT und alle anderen, die mit Ost-West-Geschichten zu tun haben — auf dieselbe Schwierigkeit: Wie wollen Sie im Wissen darum, daß es schwierig ist, dortige und hiesige Terminologie auf einen Nenner zu bringen, etwas vereinbaren, ohne daß Sie nicht doch den Versuch machen, es mit Worten aufzuschreiben. Es ist natürlich daraufhin abzuklopfen, daß es möglichst nicht der Gefahr der Fehldeutung unterliegt. Dieses Problem liegt überall vor.
Herr Kollege Barzel, Sie haben heute vormittag zu suggerieren versucht, das Kabinett werde heute über die Aufnahme von Verhandlungen mit der Sowjetunion beschließen.
— In den Zeitungen steht vieles. Ich wollte nur sagen,
dies hätte Ihnen von vornherein als ganz unwahrscheinlich vorkommen müssen, und zwar schon aus folgenden Grunde: Der Bundeskanzler wird doch nicht ohne Not in einer solchen Frage im Kabinett
Deutscher Bundestag --- 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2723
Bundeskanzler Brandt
entscheiden lassen, wenn sein Außenminister nicht dabei ist, — der doch heute abend — —
— Sie könnten so etwas auch einmal so hinnehmen, wie es gesagt ist, und hier nicht versuchen, alles ins halb Unseriöse zu ziehen.
Meine Damen und Herren, ich will nur sagen, Herr Kollege Barzel, ich kann Ihnen den Gefallen nicht tun. Wenn das Kabinett nicht beschließt, sondern, wie ich es empfehlen werde, nur berät und später beschließt, dann kann ich das Ihnen nicht als Erfolg Ihrer Intervention heute früh ankreiden,
und zwar deswegen, weil dies schon gestern meine Meinung zu diesem Gegenstand war.
— Jawohl.
Meine Damen und Herren, ich unterstreiche das, was Herr Kollege Borm gesagt hat: Rechte nicht preisgeben. Aber zum Abwenden von Schaden für die Bundesrepublik gehört auch, zu verhindern, daß die Bundesrepublik in die Rolle des Michael Kohlhaas in der Welt gedrängt wird.
Was die Gespräche angeht, die Herr Bahr in Moskau geführt hat, so weiß man, daß sie der Vorbereitung eines Gewaltverzichtsvertrages dienen. Meine Damen und Herren, Sie werden sehen, wenn es so weit ist,
daß keine Positionen aufgegeben worden sind und aufgegeben werden, sondern daß sich die Bundesregierung im Gegenteil gerade auch hier, und zwar mit Erfolg, darum bemüht hat, die Position der Bundesrepublik zu verbessern — auch in bezug auf die Problematik, die hier in bezug auf die sogenannten Feindstaatenklauseln der UNO-Charta angesprochen worden sind.
Wir bemühen uns um einen Zuwachs an Sicherheit
und an Möglichkeiten für friedliche Zusammenarbeit.
Das wird auch seine Auswirkungen auf Berlin haben,
und hier kommen wir zu einem umgekehrten Schluß wie Sie.
Folgendes ist natürlich schwierig, Herr Kollege Barzel. Man kann nicht, wie es auch die vorige Regierung am 9. April 1968 getan hat, und zwar aus guten Gründen — das gleiche gilt für diese Regierung
—, der Sowjetunion mitteilen, auch im Zusammenmit Berlin: Die Bundesrepublik Deutschland erhebt keine „Gebietsansprüche" gegen irgend jemanden, und dann wie Herr von Guttenberg das Wort „keine Gebietsansprüche", wie wir es heute gebrauchen, in dem Sinne auslegen, daß wir damit die sowjetische Berlinpolitik unterstützten. Dies geht nicht, meine Damen und Herren.
— Bitte sehr!
Herr Bundeskanzler, darf ich dann davon ausgehen, daß die gesamte Antwort der Bundesregierung vom 9. April 1968 immer noch der .Gegenstand der 'Politik Ihrer Regierung ist, einschließlich der Frage ,der Artikel 53 und 107, die damals zur Ablehnung der sowjetischen Entwürfe führten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe Ihnen soeben gesagt, daß Problematik der Artikel 53 und 107 keineswegs ausgeklammert und ,ausgeschlossen war, und ich habe in einer bewußt ,vorsichtigen Formulierung — Sie ,werden noch merken, warum ich sie so gewählt habe — ausgedrückt, daß wir auch auf diesem Gebiet für die deutsche Position .Fortschritte erreicht haben.
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2724 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Eine Regierung muß handeln, sich aber auch die Konsequenzen überlegen. Das tut die Regierung. Sie hält sich dabei in Moskau und in Warschau, in Erfurt und in Kassel, in Rom und in Washington, in London und in Paris an die festgelegte und in aller Öffentlichkeit wieder und wieder ausführlich diskutierte Politik, die in den Regierungserklärungen niedergelegt ist. Dort sind unsere Absichten ebenso klar abgesteckt worden wie die Grenzen dessen, was wir können.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn nun noch einmal auf das Selbstbestimmungsrecht und darauf, daß es unantastbar bleiben müsse, hingewiesen wird: Wozu sagt man das? Gegen wen soll sich das eigentlich richten? Die Selbstbestimmung ist selbst dann kein Verhandlungsobjekt für uns, wenn die Opposition das bezweifelt, und dies brauche ich nicht jeden Tag zu wiederholen.
Herr Kollege Strauß, die Bundesregierung hat hier nicht am 28. Oktober eine Zweistaatentheorie erfunden. Was heißt hier Zweistaatentheorie? Die Bundesregierung hat die Erkenntnis daraus abgeleitet — das ist bitter genug, und es ist uns schwer genug geworden —, daß es eine Realität von zwei Staaten auf dem Boden Deutschlands gibt. Das ist keine Theorie; die Regierung hat sich damit auf den Boden der Tatsachen gestellt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Freiherr von Guttenberg?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte sehr!
Herr Bundeskanzler, stimmen Sie mir nicht zu, daß das Aussprechen des Satzes, es gebe zwei deutsche Staaten auf deutschem Boden, durch den Bundeskanzler der Bundesrepublik ein konstitutiver Akt und nicht eine Tatsachenbeschreibung ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich fürchte, Herr Kollege von Guttenberg, daß ich mit dieser Feststellung, ob so oder so interpretiert, außer einigen ehrenwerten Mitgliedern dieses Hohen Hauses nicht viele Menschen in der Welt überrascht habe;
denn dort hat es sich schon weitgehend herumgesprochen, um was es sich bei der DDR handelt.
Nach unserer Auffassung ist dies die Basis, ohne die eine Politik der Entspannung und der Normalisierung in Europa nicht möglich ist. In der Tat ist danach gefragt worden. Ohne das Zurkenntnis-Nehmen auch dieser bitteren Tatsache, die nicht dadurch besser wird, daß man den Kopf in den Sand steckt, hätten die Gespräche in Warschau und Moskau nicht sinnvoll geführt werden können, wäre es nicht zum Beginn des Dialogs zwischen Ostberlin und uns gekommen. Wenn man dies eine Vorleistung nennt — das, was Sie, Herr Kollege Strauß, Zweistaatentheorie nennen wollen —, so ist es eine Vorleistung gewesen, die der Bundesrepublik genützt hat. Von anderen Vorleistungen habe ich noch nichts gehört.
In den letzten Tagen habe ich wieder einmal — nicht zum ersten Mal, seit ich Bundeskanzler bin — sowohl in dem Briefwechsel zwischen Konrad Adenauer und sowjetischen Staatsmännern als auch in den Aufzeichnungen, die er über diese Gespräche gemacht hat, geblättert. Meine Damen und Herren, ich war und bin tief beeindruckt von dem Ernst und dem Mut, mit dem Adenauer einen Ausgleich mit der Sowjetunion gesucht hat, nicht nur, indem er die wirkliche Lage sah, wie sie sich durch den Krieg und nachher entwickelt hatte, sondern auch, weil er erkannte, daß das bloße Beharren und das Wiederholen von bekannten Forderungen weder uns noch der Sowjetunion Ruhe schaffen würde. Er wollte — das kann man sehr beeindruckend nachlesen — die Aussöhnung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich zum Vorbild der Aussöhnung zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion machen. 'Ich habe festgestellt, daß von ihm wichtige und wichtigste Anregungen und Vorschläge gemacht worden sind, ohne daß je die Öffentlichkeit davon unterrichtet worden ist. Ich will es mir ersparen, hier aufzuzählen, wer und welche Institutionen im einzelnen nie davon unterrichtet wurden.
Die Zusammenarbeit zwischen Regierung und Opposition ist eine Sache, für die beide Seiten Verant-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2725
Bundeskanzler Brandtwortung tragen. Die Regierung hat sich entschieden. Die Opposition muß mit sich selbst ins reine kommen und sich dann auch entscheiden.
Meine Damen und Herren, was Herr Barzel zum Schluß seiner Rede heute vormittag gesagt hat, nehme ich sehr ernst. Er sprach davon, daß das Gleichgewicht in Europa nicht zugunsten .der Sowjetunion verändert werden dürfe. Da stimme ich ihm voll zu. Aber das nützt nichts als Wunsch und Erklärung. Welche Folgerungen sind aus dieser insoweit gemeinsamen Überzeugung zu ziehen? Ich nenne z. B. das Hinwirken auf die Politik, die heute von der NATO nicht mit einer isolierten Bundesrepublik,
sondern mit dieser Bundesregierung und allen zusammen beschlossen wird.
Sie, Herr Kollege Barzel, ziehen doch überwiegend eine Konsequenz — ich fürchte, aus Resignation —, die die Konfrontation der Blöcke als entscheidenden Faktor für die Erhaltung unterstellt.
Die Regierung zieht die Konsequenz, unter Erhaltung des Gleichgewichts die Konfrontation abzubauen. Dabei weiß sich die Bundesregierung mit unseren Verbündeten einig. Gerade deshalb, weil wir unsere !Freunde in der Welt an unserer Seite wissen, unternehmen wir den großen und gar nicht ganz leichten Versuch, hier in der Mitte Europas Entspannung statt Spannung zu schaffen. Ja, das ist, ich ,gebe es zu, etwas anderes als die Politik der 50er oder der 60er Jahre. Aber unser Volk hat es verdient, daß wir uns auch nach der anderen Seite um Versöhnung und Freundschaft bemühen. Dies ist nämlich die Aufgabe der 70er Jahre. Wenn das gelingt, wird man — ich greife das Wort auf — von einer Wende sprechen können. Diese Wende wird dann 'für unser Volk und für Europa ein Segen sein.
Meine Damen und Herren, bevor ich das Wort dem letzten Redner des heutigen Tages gebe — es sind noch etwa sieben oder acht Wortmeldungen, die dann für den 17. Juni anstehen würden —, und zwar Herrn Dr. Kiesinger zu einer Rede, für die 30 Minuten angemeldet sind, möchte ich zur Geschäftslage folgendes sagen.Wir werden danach noch die zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Berlinhilfegesetzes durchführen, und zwar, wie vereinbart worden ist, ohne Debatte. Dann haben wir noch ein paar persönliche 'Erklärungen. Wir werden die Zeit um etwa 15 Minuten überziehen. Ich glaube, daß wir damit einverstanden sein können. Dann käme die Fragestunde.Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kiesinger.Dr. h. c. Kiesinger: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers erfordern von 'unserer Seite noch einige Worte, die darauf eingehen, was in dieser Debatte immer wieder von den Vertretern der Regierung angeklungen ist. Herr Bundeskanzler, Sie halben gesagt, wir seien nicht schlauer als unsere Partner zusammengenommen in der Welt. Natürlich sind wir es nicht. Aber, Herr Bundeskanzler, wir sind in einer völlig anderen Lage
als unsere Partner in der Welt. Wir leben ,gezwungenermaßen in einem geteilten Land. 17 Millionen unserer Landsleute leben gezwungenermaßen unter einem totalitären kommunistischen Regime und sind nach dem Willen des Ostens dazu verurteilt, dies nie mehr zu verlassen.
Wenn man in diesem Zusammenhang sagt — und Sie sagen es oft —: da alle anderen Länder ihre Beziehungen zur Sowjetunion normalisiert hätten, seien wir nun an der Reihe, das auch zu tun, und wir dürften uns nicht gegen derartige Entspannungsbemühungen querlegen, dann zeigt das eben, daß Sie einen völlig falschen Begriff von der Möglichkeit der Normalisierung der Beziehungen unseres Landes mit der Sowjetunion haben. Darauf hat Baron Guttenberg heute mit aller Leidenschaft hingewiesen.Normalisierung zwischen uns und der Sowjetunion kann doch nur bedeuten, daß wir für die Deutschlandfrage eine gerechte Lösung miteinander zu finden versuchen. Wer diese Normalisierung etwa mit den Verhandlungen vergleicht, die die Vereinigten Staaten in den SALT-Gesprächen mit den Russen führen, macht einen falschen Vergleich. Die Vereinigten Staaten müssen mit der Sowjetunion in diesen SALT-Gesprächen verhandeln, weil sie — die beiden großen Supermächte — bei fortbestehendem Antagonismus die Sorge haben müssen, daß es irgendwie und irgendwann — durch einen Zufall oder eine Leichtfertigkeit — zur Entfesselung eines großen nuklearen Krieges kommen könnte. Das ist also ein völlig anderer Fall; hier verhandeln zwei Ebenbürtige auf gleicher Stufe.Immer wieder klingt in Ihren Ausführungen ein Optimismus durch im Blick auf die Möglichkeiten von Ergebnissen in den Verhandlungen mit dem Osten, den ich einfach nicht verstehen kann. Der Außenminister hat in seiner Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU einen interessanten Satz gesagt. Er hat gesagt: Die Bundesregierung ist sich „über die aktuellen Zielsetzungen der sowjetischen Deutschland- und Europapolitik im klaren". Herr Bundeskanzler, sind Sie sich wirklich über diese Zielsetzungen im klaren? Welches sind diese Zielsetzungen? Oder sind wir da verschiedener Meinung?Wir meinen, die Zielsetzungen der sowjetrussischen Europa- und Deutschlandpolitik sind folgende: Erstens, die politische und rechtliche Verbesserung des Besitzstandes der Sowjetunion in Europa, das, was sie die Ergebnisse des zweiten Weltkrieges
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Dr. h. c. Kiesingernennt. Zweitens, darüber hinaus — wo immer sie es kann — die Ausdehnung ihres Einflusses über weitere Teile, über ganz Westeuropa.
Dazu ihre beständige Politik gegen die NATO, ihr Versuch, die Amerikaner zum Verlassen Europas zu bewegen, und dazu ihre beständige Bemühung, die westeuropäische Einigung zu verhindern.Herr Bundeskanzler, sind wir uns über diese Zielsetzungen der Sowjetunion einig? Sind wir uns schließlich darüber einig, daß das alles dahin zielt, eine Vorherrschaft der Sowjetunion über ganz Europa zu erreichen?Es wird gesagt, die Spaltung Deutschlands sei in den letzten 20 Jahren immer tiefer geworden. Herr Bundeskanzler, sehen Sie denn die Spaltung Deutschlands als ein isoliertes Faktum an? Ist es nicht vielmehr so, daß das Gewicht, die militärische und politische Macht der Sowjetunion in diesen 20 Jahren immer stärker geworden ist und in der Zukunft immer stärker zu werden droht und als ein Ergebnis dieses Prozesses die Tatsache verzeichnet werden muß, daß auch die deutsche Spaltung tiefer geworden ist. Die deutsche Spaltung ist in dieser Sicht — wir wollen uns doch bitte daran erinnern, was wir gemeinsam immer so bezeichnet haben — zugleich eine Spaltung Europas.
Wenn wir uns darüber einig wären, wenn wir hier eine gemeinsame Analyse hätten, Herr Bundeskanzler, dann ergibt doch der logische Schluß, daß dieselben Zielsetzungen die Sowjetunion bei den gegenwärtigen Verhandlungen mit dieser Regierung bestimmen.
Die deutsche Zielsetzung bei diesen Verhandlungen müßte also sein, diesen Absichten der Sowjetunion entgegenzuwirken. Das nennen wir, den Versuch zu machen, „die Verhältnisse zu bessern". Entweder glauben Sie, daß es möglich sei, bei den Verhandlungen diesen Zielsetzungen der Sowjetunion tatsächlich entgegenzuwirken, die Sowjetunion dazu zu bringen, Abstriche zu machen, auf das eine oder andere Ziel zu verzichten. Gut, dann verhandeln Sie! — Ich wünsche Ihnen und uns allen sehr viel Glück auf diesem Wege. — Oder aber, Sie haben diese Hoffnung nicht. Dann, Herr Bundeskanzler, durften Sie auch das Risiko solcher Verhandlungen nicht eingehen; denn da gibt es an irgendeiner Stelle einen Punkt, von dem Sie nicht mehr zurückgehen können. Dann ist es eben nicht richtig, was der Außenminister gesagt hat, daß Sie nicht mehr zum Erfolg verdammt seien. Sie sind es. Sie können nicht einfach zurückkehren.
Deswegen haben wir die begründete Sorge, daß diese Verhandlungen im Gegensatz zu Ihren gewiß redlichen Absichten zu einem ganz anderen Ergebnis als zu einer „Besserung der Verhältnisse" führen. Sie führen nach unserer Meinung — das klang in den Darlegungen aller Redner der CDU/CSU heute an — zu einer Verfestigung der sowjetrussischen Position und zu einer Kräftigung der sowjetrussischen Politik und ihrer gegen ganz Europa gerichteten Zielsetzungen.Wir scheinen uns zwar manchmal in unseren Erklärungen über den zentralen Punkt, um den es geht, einig zu sein: über das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes. Aber Baron Guttenberg hat mit vollem Recht darauf hingewiesen, daß es nicht darum geht, zu sagen, das Selbstbestimmungsrecht sei kein Verhandlungsgegenstand, daß es nicht um allgemeine Bekenntnisse geht, sondern um die Frage, ob Sie eine Politik begonnen haben und weiterführen wollen, die durch ihre konkreten Maßnahmen und Entscheidungen den Weg zu diesem Selbstbestimmungsrecht verbaut,, also die Freiheitschance unserer 17 Millionen Landsleute im Osten schwächt.
— Ich unterstelle, Herr Wehner, gar nichts.
— Ich habe gesagt, daß wir uns nicht mit allgemeinen Bekenntnissen zum Selbstbestimmungsrecht begnügen können, sondern daß wir die Politik dieser Regierung daraufhin prüfen müssen, ob sie durch ihre konkreten Maßnahmen den Weg zum Selbstbestimmungsrecht und die Freiheitschance unserer Landsleute verbaut. Bis jetzt habe ich nur eine Frage gestellt.
Herr Scheel hat zwar gesagt, niemand könne dem deutschen Volk das Selbstbestimmungsrecht verschaffen, indem dieses Recht beschworen wird. Aber in der Antwort des Außenministers auf unsere Große Anfrage steht folgender merkwürdiger Satz:Die Entspannungs- und Verständigungspolitik dient dem Ziel, allen Völkern das Selbstbestimmungsrecht nach ihrer eigenen Wahl zu gewährleisten; die Entspannungs- und Verständigungspolitik der Bundesregierung wird in diesem Zusammenhang notwendigerweise auch die Selbstbestimmung der Deutschen in Deutschland fördern.Wie soll ich diesen Satz verstehen? Wenn ich je eine Beschwörungsformel für das Selbstbestimmungsrecht gehört habe, dann ist es dieser Satz. Es wäre doch eine ungeheure Überschätzung unserer eigenen Kräfte, zu glauben, wir könnten durch unsere Politik das Selbstbestimmungsrecht aller anderen Völker fördern und durchsetzen und dann auf diesem Umweg den Deutschen drüben das Selbstbestimmungsrecht sichern. Das ist eine Beschwörungsformel.Meine Damen und Herren, es geht doch darum, wie wir das Selbstbestimmungsrecht und die Freiheitschance unserer Landsleute schützen. Die Regierung versichert uns, es dürfe kein Dissens be-
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Dr. h. c. Kiesingerstehenbleiben. Es müsse volle Klarheit über den Inhalt der Begriffe, die in Abmachungen verwendet werden, erreicht werden. Unsere erklärten friedlichen Ziele, so der Außenminister, dürften nicht als territoriale Ansprüche und als Verletzung des Gewaltverzichtsabkommens hingestellt werden. — Das sind gute Worte, Herr Bundeskanzler. Wir unterstützen diese Worte und diese Absichten selbstverständlich voll und ganz. Aber nun die Frage: Wie wollen Sie das praktisch realisieren, wenn meine Analyse über die Absichten der Sowjetunion in Europa stimmt? Ist es Ihnen gelungen, Herrn Stoph zu überzeugen? Oder glauben Sie, daß die Sowjetunion von ihren Auffassungen abgehen wird, die wir zur Genüge kennen? Sie wissen ja, daß sowohl Herr Stoph als auch die Sowjetunion in ihren Mitteilungen an unsere gemeinsame Regierung die Auffassung vertreten, daß eben auch friedliche Bemühungen um die Wiedervereinigung aggressiven Charakter hätten. Damit es noch einmal in Ihre Erinnerung gerufen wird, darf ich mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten Herrn Stoph zitieren:Wer nur erklärt, er wolle bei der Änderung der Grenzen keine Gewalt anwenden, nähert sich sehr den Thesen, die dazu aufrufen, für eine Änderung der Grenzen mit sogenannten friedlichen Mitteln zu kämpfen. Eine Taktik, mit der bereits Hitler seine Aggression vorbereitete.
Nun, das war Herr Stoph. Schwerer wiegt, was die Sowjetunion dann zu sagen hatte. Die Frage ist, ob Sie bei Ihrem optimistischen Ausblick auf .das Verhandlungsergebnis mit eingeschlossen haben, daß die Sowjetunion dann von ihrer Auffassung, die sie uns während unserer gemeinsamen Regierung mitgeteilt hat, zurückgehen werde. Die eine Aussage steht im Memorandum vom 21. November 1967, und die andere in dem Memorandum vom 12. Oktober 1967. In beiden Äußerungen kommt klar zum Ausdruck, daß die Sowjetunion auch die friedliche Bemühung um die Wiedervereinigung oder um das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen als aggressive Politik betrachtet.
Da heißt es:
Wenn man eine Politik für legitim erachten würde, die auf die Änderung der gegenwärtigen Grenzen, d. h. auf die Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegsentwicklung, gerichtet ist, so käme das einer Billigung der Vorbereitung zur Entfesselung eines neuen Krieges gleich.Da steht nicht: eine Politik, die mit Gewalt dieseZiele verfolgt, sondern ganz einfach: Eine Politik verfolgt, die auf dieses Ziel gerichtet ist. Herr Bundeskanzler, haben Sie und haben Ihre Unterhändler einen derartigen Satz im Bewußtsein, wenn in Moskau verhandelt wird und wenn es dort zu Abmachungen mit Moskau kommt?Unid wie steht es, wenn man konkret vom Selbstbestimmungsrecht redet, denn nun mit der Breschnew-Doktrin? Das ist doch nun nicht eine neu erfundene Doktrin. Es ist ein Grundprinzip der sowjetischen Politik von Anfang an, daß keine Bevölkerung die sich im kommunistischen Lager befand und befindet, das Recht habe, aus freier Selbstbestimmung dieses Lager wieder zu verlasen. Haben Sie .den Optimismus, daß die Sowjetunion hier ihren Sinn ändert? Glauben Sie, ,eine Formulierung erreichen zu können, bei der die Sowjetunion deutlich macht, daß die 17 Millionen Deutsche in .der DDR von dieser Doktrin nicht betroffen seien? Wenn Sie diesen Optimismus nicht haben, dann weiß ich überhaupt nicht, inwiefern Sie optimistisch sein können für die Ergebnisse der Verhandlungen mit Moskau,
inwieweit Sie nicht bereit sind, Feigenblätter der Sowjetunion in diesen Lebensfragen unseres Volkes für wirkliche Zugeständnisse zu nehmen.
Es war heute früh erwähnt worden, daß Herr Genscher uns im Jahre 1966 vorwarf, daß wir irrigerweise den kommunistischen Osten für eine von der Sowjetunion dirigierte und beherrschte Welt ansähen. Nun, meine Damen und Herren, Herr Genscher hat das im Jahre 1966 gesagt. Im Jahre 1965 hat die Sowjetunion in den Vereinten Nationen den Entwurf einer 'Deklaration eingebracht. Ich bitte den Herrn Präsidenten um die Erlaubnis, die wenigen Sätze vorlesen zu dürfen. Dieser Entwurf lautete:Die Verpflichtung, daß alle Staaten .die Unabhängigkeit und Souveränität anderer Staaten zu lachten haben, ist eines der Grundprinzipien der Charta der Vereinten Nationen und des zeitgenössischen Völkerrechtes. Intervention in die inneren Angelegenheiten von Staaten kann durch keine ideologische, wirtschaftliche, politische oder andere Erwägung gerechtfertigt werden. Das Recht jedes Volkes, sich mit den Problemen der inneren Entwicklung zu befassen und seine eigene Zukunft zu wählen, ist heilig.
Inzwischen halben wir die tragischen Ereignisse in der Tschechoslowakeierlebt. Unid ich weiß nicht, ob Sie den Optimismus haben ,dürfen, daß die Sowjetunion Ihnen entgegenkommen wird, wenn Sie sie an dieses „heilige Recht jedes Volkes" erinnern werden, Herr Bundeskanzler.
Daß ist es, was uns Sorge macht. Die Sorge, daß Sie in einem unberechtigten Optimismus, in einer unbegründeten Hoffnung, aus einer falschen Analyse, in einem verfehlten Denkansatz — um mit meinem Freunde Strauß zu reden — eine gefährliche Politik begonnen haben.Ich hätte heute nicht mehr geredet; denn das, was mein .engster und vertrautester Mitarbeiter im Bundeskanzleramt, Baron Guttenberg, heute früh gesagt hat, meine Damen und Herren, das war nicht eine Verleumdung der Koalition — er hat Ihnen
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2728 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Dr. h. c. Kiesingerredlichen Willen unterstellt —, aber es war der warnende Ruf eines Mannes, der sich seit vielen Jahren mit der Frage der Besserung der Beziehungen zwischen West und Ost befaßt; Sie kennen seine Rolle im Rahmen der Großen Koalition, seine hilfreiche Rolle, und seinen stets redlichen Willen. Unterstellen Sie ihm, der mit dem ganzen Einsatz seiner Existenz
heute diese Warnung ausgesprochen hat, daß es ihm bis in die letzte Faser hinein ernst ist! Und so ernst, Herr Bundeskanzler, ist es auch uns.Sie sagen, es werde ein langer und schwieriger Weg sein. Das haben wir immer gesagt. Wir haben uns nicht versperrt gegen einen langen und schwierigen Weg, der zu einer Besserung führen soll, vielleicht sogar zur Wiedervereinigung oder, wie ich lieber sagen möchte, zur Verwirklichung der Freiheitschance unserer 17 Millionen Landsleute drüben.
Denn diese Freiheitschance ist es, auf die es uns ankommt, und nicht nur, wie es heute da und dort anklang, das Streben nach menschlichen Erleichterungen. Menschliche Erleichterungen sind wichtig, und wir haben die östliche Seite aufgefordert, mit uns in dieser Frage übereinzukommen. Aber wenn es weitergehen soll und wenn von unserer Seite wirklich ernste Verzichte auf Positionen verlangt werden, die wir bisher verteidigt haben, dann können und dürfen nicht menschliche Erleichterungen uns dazu bewegen, sondern nur eine Verfestigung, eine Belebung, eine Stärkung, eine ernsthafte Versicherung der Freiheitschance unserer Landsleute.
Und das heißt, die Sowjetunion müßte klar und ohne einen versteckten Dissens erklären, daß auch sie das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes respektiert und anerkennt.
Mit welchen Methoden dieses Ziel in dieser schwierigen Welt zu erreichen wäre, das ist eine ganz andere Frage.
Auch da sind wir der Überzeugung, daß das ein langer und schwieriger Weg werden würde.Sie haben schon zu verschiedenen Malen in der Offentlichkeit und auch heute wieder gesagt, man könne nicht auf etwas verzichten, was man nicht habe.
— Ja, ich höre den Zuruf „So ist es", meine Damen und Herren. Ich wundere mich jedesmal darüber, wie leicht so etwas über die Zunge geht.
Was haben wir denn in der Deutschlandfrage? Leider müssen wir jetzt sogar schon fragen: Was hatten wir und was haben wir noch?
Baron Guttenberg sagte es heute früh klar. Wir hatten und haben den Art. 7 des Deutschlandvertrages. Das, Herr Bundeskanzler, war eine Unterstützung unserer Alliierten, die uns Hilfe bei der friedlichen Wiedervereinigung des deutschen Volkes versprach; das war eine Unterstützung, die uns viel mehr wert ist als eine „differenzierte Unterstützung" der westlichen Welt, die natürlich sehr leicht zu erlangen ist, wenn wir Deutschen selbst darangehen, ein für alle schwieriges Problem leichthin aus der Welt zu schaffen.
Es ist auch gar nicht so, daß die Existenz eines zweiten deutschen Staates in der Welt so selbstverständlich akzeptiert würde. Natürlich gab es Leute, die das sagten; es gab aber auch solche unter unseren Verbündeten — und ich habe erst kürzlich einen gesprochen —,
die sehr erstaunt darüber sind, daß wir dieses Zugeständnis schon gemacht haben.
— Wenn Sie dem Herrn Bundeskanzler das Recht zugestehen, Geheimdiplomatie zu treiben, weil sonst die deutschen Belange geschädigt würden, dann müssen Sie mir zugestehen, die Vertraulichkeit von Gesprächen zu wahren, die wenn ich diese Vertraulichkeit bräche, uns allen nichts nützen würden.
Wir hatten als drittes keine völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die große Mehrzahl der Staaten, insbesondere durch die freien Völker der Welt. Das ist ein außerordentlicher Erfolg gewesen. Diese Position haben wir verteidigt. Wir haben sie sogar noch gemeinsam verteidigt, als wir der Hallstein-Doktrin eine flexiblere Formulierung gaben. Eine Formulierung übrigens, für die ich persönlich immer eingetreten war.Wir hatten endlich von unseren Verbündeten die Anerkennung, daß es unser gutes Recht sei, für das Schicksal unserer Landsleute einzutreten, für ihre Freiheit tätig zu sein und zu wirken, also gerade für etwas, was der Breschnew-Doktrin widerspricht. Das ist es, was wir hatten und haben, Herr Bundeskanzler, und darum können wir auf vieles verzichten, worauf wir nicht verzichten dürften. Wenn man gar noch auf manche Position von vornherein verzichtet, nicht einmal sich die Mühe gibt, sie in das Verhandlungsgeschäft mit den anderen einzubringen, um für unsere Deutschen drüben etwas herauszuholen, dann nennen wir das mit Recht Vorleistungen, und zwar nutzlose Vorleistungen. Wir nennen es auch das, was es ist, nämlich einen schweren politischen Kunstfehler.
Was alles soll auf diesem langen und schwierigen Wege noch geschehen? Was soll auf diesem langen
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Dr. h. c. Kiesingerund schwierigen Wege noch preisgegeben werden? Schon wissen wir von der DDR, daß sie von Ihnen die Einlenkung in der Frage der völkerrechtlichen Anerkennung erwartet und daß sie sagt: Nur dann gibt es neue Gespräche.
Sind Sie dazu bereit?Noch stehen im Hintergrund die Forderungen auf Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik und die Forderung Herrn Ulbrichts, daß wir die Pariser Verträge aufkündigen, also die NATO verlasesn sollen. Haben Sie, Herr Bundeskanzler, den Optimismus, daß, wenn es zu Vereinbarungen mit der Sowjetunion in den Fragen gekommen sein würde, über die Sie jetzt verhandeln, die Sowjetunion und Herr Ulbricht dann auf diese Forderungen — Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse der Bundesrepublik und Verlassen der NATO — verzichten würden? Sie würden es ganz bestimmt nicht tun. Sie würden die neugewonnene, verfestigte Position dazu benützen, um in diesem Felde weiter gegen uns und Westeuropa zu kämpfen. Dies ist doch die wirkliche Situation.Deswegen begreife ich nicht, warum Sie mit dieser ungeheuren Hast an die neue Politik gegangen sind. Das ist wirklich eine Wende der deutschen Politik. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion hat recht, wenn er dieses Wort heute früh gebraucht hat. Vielleicht wird es einmal als ein historisches Wort in der Geschichte dieses Parlaments stehenbleiben.Wenn Sie diese Politik vorhaben, dann kann ich mich nur fragen, was Ihnen den Glauben zum Erfolg gibt. Oder sollten Sie etwa den gefährlichen Weg beschreiten wollen, sich darauf einzulassen, Begriffe zu verwenden, von denen Sie wissen, die Sowjetunion verwendet sie anders als Sie und als wir, und sich zu sagen: wenn wir das erreichen, ist es schon viel. Herr Bundeskanzler, wenn Sie das täten, würden Sie sich der unbeschränkten Kontrolle der Sowjetunion und einem unerträglichen Interventionsanspruch der Sowjetunion ,ausliefern. Denn sie würde in der Zukunft die Vereinbarungen so anwenden, wie sie die darin enthaltenen Begriffe „Respektierung der territorialen Integrität", „Respektierung der Grenzen" usw. versteht. Sind Sie sich klar darüber, daß sich hier derjenige, der mit Hast vorgeht, von vornherein eine schlechte Verhandlungsposition ausgesucht hat? Die anderen haben Zeit, viel Zeit, und sie wissen es. Sie haben keine gute Methode angewandt!Ich komme zum Schluß, da die Zeit abläuft. Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, daß Sie diese Ostpolitik auf die westeuropäische Einigung stützen wollten, um, gestützt durch die westeuropäische Einigung, eine gesamteuropäische Friedensordnung zu erreichen. Wo ist denn diese westeuropäische Einigung, Herr Bundeskanzler? Wann werden wir sie haben?
Ist es nicht vielmehr so, daß eine solche Politik nach Osten allenfalls möglich wäre, wenn es diese westeuropäische Einigung schon gäbe?
Es gibt sie doch nicht einmal auf wirtschaftlichem Gebiet. Sie selber sind voller Skepsis, wann diese Einigung kommen kann, die allein die Basis für diese Ostpolitik darstellen könnte, nämlich die politische Einigung, die politische Union.Sie sagen: Jetzt ist nicht mehr möglich — habe ich Sie recht verstanden? — als Konsultation und Kooperation. Es ist oft 'das Wort zitiert worden, Politik sei die Kunst des Möglichen. Herr Bundeskanzler. Aufgabe der Politik ist es nach meiner Meinung vielmehr, zu erkennen, was notwendig ist, und das Notwendige dann möglich zu machen.
Wenn Sie nach den Möglichkeiten in Ost und West Ausschau hielten und sich mit demselben Schwung, derselben Energie und demselben Aufwand an öffentlicher Werbung für Ihre Politik im Interesse einer Stärkung des atlantischen Bündnisses nach Westen wendeten und die Amerikaner davon überzeugten, daß sie mit ihren Truppen hierbleiben müssen, wenn Sie sich ferner im Interesse der Einigung Europas weit über Konsultation und Kooperation hinaus zum Pionier, zum Vorkämpfer dieser europäischen Union machten, dann allerdings würden Sie sich nicht nur um dieses Volk, nicht nur um Westeuropa, sondern um Frieden und Freiheit in der Welt hochverdient machen.
Meine Damen und Herren, ich darf Sie 'bitten, noch einen Augenblick zu verweilen. Es liegen noch acht Wortmeldungen vor. Auf Grund einer Vereinbarung im Ältestenrat wird die Aussprache über diesen Tagesordnungspunkt am 17. Juni fortgesetzt.
Bevor ich aber diesen Punkt für heute verlasse, muß ich noch dreierlei erledigen. Mir ist heute, als ich mein Amt hier übernahm, vorgetragen worden, daß am heutigen Morgen ein bestimmter Zwischenruf gemacht worden sei. Ich habe mir in der Zwischenzeit den Stenographischen Bericht darüber geben lassen. Daraus ist ersichtlich, daß während der Rede des Herrn Abgeordneten von Guttenberg der Zwischenruf des Abgeordneten Dr. Apel gefallen ist: „Ein unanständiger Mensch!"
Ich bedaure diesen Zwischenruf und rüge ihn.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Petersen zu einer persönlichen Erklärung nach § 35 der Geschäftsordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin heute morgen von verschiedenen Kollegen der Regierungskoalition angespro-
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Petersenchen worden, und zwar im Zusammenhang mit einem Bericht, den mein Kollege Dr. Dichgans und ich nach einer neuntägigen Reise durch Polen verfaßt haben. Es ist der Versuch gemacht worden, diesen Bericht und idle darin enthaltenen Aussagen in eine Unterstützung der Politik der Bundesregierung gegenüber Polen umzumünzen.
'
Ich möchte zunächst einmal die Bitte aussprechen, da ich nach § 35 der Geschäftsordnung nicht im einzelnen darauf eingehen kann, daß die Kollegen doch einmal den vollen Wortlaut dieses Berichts, der zehn Punkte umfaßt und der gestern in der „Frankfurter Allgemeinen" voll abgedruckt worden ist, genau lesen. Dann werden Sie nämlich merken, daß wesentliche Unterschiede und Alternativen aufgezeigt werden, z. B. bei der Frage — die Herr Dr. Kiesinger eben angesprochen hat — der Hektik der Verhandlungen. Wir sind nämlich der Auffassung— und haben das gesagt —, daß wir nicht einen schnellen, sondern einen guten Vertrag 'brauchen.Wir haben zweitens von dieser Regierung noch nichts über die Hunderttausende von Menschen gehört, die da drüben leben und die, nach unserem Grundgesetz, immer noch Deutsche sind,
auch wenn ihnen eine andere Staatsangehörigkeit zudiktiert worden ist. Was soll bei diesen Verhandlungen eigentlich mit diesen Menschen werden?
Drittens — und damit schließe ich diese Erklärung— bin ich der Überzeugung, daß ohne die aktive Mitarbeit der Vertriebenen, die heute morgen öfters angegriffen worden sind, eine Versöhnung mit dem polnischen Volk nicht möglich sein wird.
Herr Abgeordneter Petersen, das grenzte schon an einen Sachbeitrag. Ich darf bitten, daß der nächste, der um das Wort zu einer persönlichen Erklärung nach § 35 gebeten hat, Herr Abgeordneter Dichgans, sich an die Bestimmungen über die Abgabe persönlicher Erklärungen hält.
— Bitte schön, Herr Abgeordneter Dichgans!
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Heute morgen hat der Kollege Dorn aus meinem Buch zitiert. Nun freut sich ein Autor immer, wenn er lobend zitiert wird. Trotzdem muß ich dieses Zitat zurechtrücken.
Dieses Zitat enthält zwei Aussagen, zunächst die Aussage — und dafür habe ich mich schon seit langem eingesetzt —, daß eine direkte Verhandlung zwischen der Bundesregierung und den Machthabern in Ostberlin zweckmäßig wäre. Das scheint, soweit ich sehe, heute die allgemeine Meinung aller Fraktionen dieses Hohen Hauses zu sein. Inwieweit die Verhandlungen im Einzelfall nützlich sind, hängt natürlich von der Anlage und dem Inhalt dieser Verhandlungen ab.
Die zweite Aussage bezieht sich auf den Satz, der Satz „Mord bleibt Mord" sei eine zu starke Vereinfachung. Dieser Satz findet sich in einem Kontext, der sich mit dem Verschulden der Grenzpolizeibeamten beschäftigt, die Schießbefehle ausführen. Die juristischen Ausführungen dazu finden Sie auf Seite 235 meines Buches. Sie sind auch in der „Neuen Juristischen Wochenschrift" veröffentlicht. Die Differenzierung, die ich hier vornehme, entspricht übrigens voll der deutschen Judikatur. Kein einziger solcher Schütze ist bei uns jemals wegen Mordes angeklagt worden. Für die Leute dagegen, die solche Schießbefehle erteilen, gilt selbstverständlich im moralischen Bereich nach wie vor der Satz „Mord
bleibt Mord".
Im übrigen endet dieser Abschnitt mit dem Satz: „Selbstbestimmung Mitteldeutschlands" sollte
unsere Formel sein.
Zu unserer Reise nach Polen beschränke ich mich darauf, meinem Kollegen Petersen zuzustimmen.
Ich wiederhole, daß wir die Aussprache über diesen Punkt der Tagesordnung am 17. Juni fortsetzen.Wir kommen nunmehr zu Punkt 20 der Tagesordnung:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Änderung des Berlinhilfegesetzes und anderer Vorschriften— Drucksache VI/614 —a) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung — Drucksache VI/851 —Berichterstatter: Abgeordnete Frau Krappeb) Schriftlicher Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache VI/752, zu VI/352 — Berichterstatterin:Abgeordnete Frau Funcke
Ich darf den Berichterstattern für ihren Bericht danken. Soweit ich sehe, wird keine mündliche Ergänzung gewünscht.Ich eröffne die allgemeine Aussprache. — Das Wort wird nicht begehrt. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung in zweiter Lesung. Ich gehe davon aus, daß wir geschlossen abstimmen können. — Keine Bedenken. Ich rufe auf
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Präsident von Hassel Art. 1, Art. 2, Art. 3, Art. 4, Art. 5, Art. 6, Einleitung und Überschrift. — Wer zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.Ich rufe .auf zurdritten BeratungIch eröffne die Aussprache. — Das Wort wird nicht begehrt. Ich schließe die Aussprache. Wer diesem Gesetz in der dritten Beratung zustimmen will, den bitte ich, sich zu erheben. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.Wir kommen nunmehr zurück zu Punkt 1 der Tagesordnung:Fragestunde— Drucksache 111/809 —Ich darf die Kollegen darauf aufmerksam machen, daß die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen, der auf den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts folgen würde, heute nicht beantwortet werden können, weil sich der Parlamentarische Staatssekretär, der bis 16 Uhr hier war, begründet hat entschuldigen müssen. Diese Fragen werden in der nächsten Woche aufgerufen.Ich rufe den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts auf, zunächst die Frage 99 des Abgeordneten Haase . Ist der Abgeordnete im Saal? —Der Abgeordnete Haase ist nicht anwesend, die Frage wird schriftlich beantwortet.Ich rufe die Frage 100 des Abgeordneten Dr. Giulini auf:Kann die Bundesregierung darüber Auskunft geben, ob Japan nach dem Start des chinesischen Satelliten es entgegen früheren Verlautbarungen ablehnt, den Atomwaffensperrvertrag zu unterzeichnen bzw. zu ratifizieren?Die Frage wird auf seinen Wunsch schriftlich beantwortet. Die Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Prof. Dr. Dahrendorf lautet:Zu Ihrer Frage ist zunächst festzustellen, daß der Start eines chinesischen Satelliten die Unterzeichnung des NV-Vertrages durch Japan nicht mehr beeinflussen kann. Japan hat den Nichtverbreitungsvertrag am 3. Februar 1970 unterzeichnet.In einer aus diesem Anlaß veröffentlichten und allen Regierungen notifizierten Erklärung hat die japanische Regierung dargelegt. auf welcher Grundlage sie den NV-Vertrag unterzeichnet hat. Darin heißt es gleich zu Beginn:Die japanische Regierung ist überzeugt, daß dieser Vertrag als ein erster Schritt zu einer nuklearen Abrüstung dienen wird; sie hofft, daß möglichst viele Staaten dem Vertrag beitreten werden, um ihn wirksam zu machen. Die japanische Regierung hofft insbesondere, daß die Regierung Frankreichs und der Volksrepublik China, die Kernwaffen besitzen, aber noch ihre Absicht, dem Vertrag beizutreten, zu erklären haben, bald Vertragspartner werden, daß sie in redlicher Absicht Verhandlungen über die nukleare Abrüstung führen, und daß sie auch schon vorher auf solche Handlungen verzichten, die im Widerspruch zu den Zielen dieses Vertrages stehen.Neue Erklärungen der japanischen Regierung zum NV-Vertrag, insbesondere zur Frage des Zeitpunktes der Ratifizierung, liegen — soweit der Bundesregierung bekannt ist — nicht vor.Ich rufe die Frage 101 des Abgeordneten Geisenhofer auf:Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um der Forderung des Europäischen Parlaments nach allgemeinen, freien, unmittelbaren europäischen Wahlen Geltung zu verschaffen?Ist der Abgeordnete im Saal? — Er ist anwesend.Bitte, zur Beantwortung der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Dahrendorf!
Herr Präsident, die Bundesregierung hat im Parlament wiederholt ihre deutliche und positive Einstellung in der Frage der allgemeinen und direkten Wahlen und ihre Bemühungen um deren Einführung dargelegt, zuletzt in der schriftlichen Beantwortung der fast Bleichlautenden Anfrage des Abgeordneten Dr. Slotta in der Sitzung vom 8. Mai dieses Jahres.
Ich darf mich darauf beschränken, noch einmal festzustellen: Die Bundesregierung tritt ein für allgemeine, freie, unmittelbare europäische Wahlen. Sie hat für dieses ihr Eintreten aber bisher nicht bei allen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft Einverständnis erzielen können. Auch für Übergangslösungen vorgesehene Kompromißvorschläge haben sich bisher nicht durchsetzen lassen. Wir werden uns in den bevorstehenden Konferenzen wiederum mit Nachdruck dafür einsetzen, daß auf diese Weise auf der parlamentarischen Ebene der europäische Gedanke weiter gefestigt wird.
Keine Zusatzfrage. — Wir sind am Ende Ihres Geschäftsbereichs. Ich bedanke mich für die Beantvortung.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz auf, zunächst die Frage 14 des Abgeordneten Müller . Ist der Abgeordnete im Saal? — Er ist nicht im Saal; die Frage wird schriftlich beantwortet.
Frage 15 des Abgeordneten von Thadden:
Ist es richtig, daß im Bundesjustizministerium Anträge von SPD-Gremien zum SPD-Parteitag in Saarbrücken in größerer Zahl während der Dienststunden auf ihren Gehalt überprüft und Beratungshilfe gegeben wurde?
Zur Beantwortung, bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Bayerl!
Herr Kollege, ich halte es nicht nur für legitim, sondern auch für notwendig, daß ein Minister sich in Sachfragen, die möglicherweise an ihn gestellt werden und die die laufenden Arbeiten seines Hauses betreffen, sachkundig macht und sich ein genaues Bild über den Stand der Arbeiten verschafft. Deshalb sind in meinem Hause kurze Stellungnahmen zu Anträgen an den SPD-Parteitag ausgearbeitet worden, die sich mit Rechts- oder justizpolitischen Fragen befassen.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete von Thadden.
Herr Staatssekretär, sehen Sie nicht die Gefahr, daß hier eine Vermischung von Staat und Partei eintritt?
Keineswegs. Es ist
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Dr. Bayerldie Übung unseres Hauses, daß wir uns mit allen rechtspolitischen Fragen, die auch auf Ihrem Parteitag oder von anderen gesellschaftspolitischen Verbänden angesprochen und erörtert werden, beschäftigen.
Zweite Zusatzfrage, der Abgeordnete von Thadden.
Herr Staatssekretär, halten Sie es für denkbar, daß Beamte, die nicht der Sozialdemokratischen Partei angehören und die in größerer Anzahl solche Unterlagen zu bearbeiten hatten, das als Zumutung empfunden haben?
Das halte ich nicht für denkbar, weil alle Beamten aufgefordert sind, sich mit rechtspolitischen Fragen auseinanderzusetzen, die für die Leitung des Hauses von Wichtigkeit sind.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Marx.
Herr Staatssekretär, auf Grund Ihrer vorhergehenden Antwort darf ich fragen: Gibt es Anträge zu CDU- oder CSU-Parteitagen, die Sie in ähnlicher Weise in Ihrem Hause geprüft haben?
Da bin ich im Moment überfragt; aber ich bin gern bereit, Ihnen schriftlich Auskunft zu geben.
Keine Zusatzfrage. — Ich rufe die Frage 16 der Abgeordneten Frau Klee auf. Sie ist nicht im Saal; die Frage wird schriftlich beantwortet.Frage 17 des Abgeordneten Dr. Schmitt-Vockenhausen. Er ist auch nicht im Saal; die Frage wird ebenfalls schriftlich beantwortet.Ich danke für die Beantwortung der Fragen aus Ihrem Geschäftsbereich, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft auf. Die Frage 34 des Abgeordneten Röhner. Ist der Abgeordnete im Saal? — Ich sehe ihn nicht; die Frage wird schriftlich beantwortet, desgleichen seine Frage 35.Ich rufe die Fragen 36 und 37 des Abgeordneten Baier auf:Trifft es zu, daß sich die Diskonterhöhung auf die Ziegelindustrie infolge eines Nachlasses der öffentlichen und privaten Wohnungsbautätigkeit in besonderem Maß nachteilig auswirkt und hier einen Absatzrückgang hervorrufen wird?Hält die Bundesregierung die in einem Schreiben des Bundesverbandes der deutschen Ziegelindustrie an den Bundesminister für Wirtschaft vom 27. April 1970 enthaltenen Vorschläge für geeignet, den durch die Diskonterhöhung besonders betroffenen Wirtschaftszweigen, darunter der Ziegelindustrie zu helfen?Die Fragen werden auf Bitte des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs vom 27. Mai 1970 lautet:Nach den vorliegenden statistischen Daten ist ein Rückgang des Wohnungsbaues sowohl auf der Nachfrageseite als auch — wenn man von der Behinderung durch den extremen Winter 69/70 absieht — von seiten der Bautätigkeit nicht festzustellen.Nach Schätzungen des Ifo-Instituts, München, die nach der Diskonterhöhung aufgestellt wurden, ist in diesem Jahr schon aufgrund des gegenüber Anfang 1969 waiter gestiegenen Wohnungsbauüberhangs eine ,etwa gleichhohe Wohnungsbauproduktion wie 1969 zu erwarten. Die Bundesregierung ist deshalb nicht der Meinung, daß die Diskonterhöhung für die Ziegelindustrie die befürchteten Auswirkungen haben wird. Der durch den Winter bedingte Absatzstau wird sich jetzt nach dem kräftigen Einsetzen der Bausaison rasch .auflösen.Zweck der Diskonterhöhung vom 6. März 1970 war es, die Kreditaufnahme einzuschränken mit der Folge, daß die gesamtwirtschaftliche Nachfrage vor allem nach Investitionsgütern zurückgeht, die Lagerhaltung reduziert wird und die konjunkturellen Spannungen, die für die derzeitigen Preissteigerungen ausschlaggebend sind, abgebaut werden.Die konjunkturellen Daten rechtfertigen zur Zeit noch keine Lockerung des Restriktionskurses. Die vom Bundesverband der Deutschen Ziegelindustrie angeregte spezielle Unterstützung hält die Bundesregierung unter diesen Umständen weder für notwendig noch für zweckmäßig.Ich rufe 'die Frage 38 des Abgeordneten Dr. Warnke auf. — Ist der Abgeordnete im Saal? — Die Fragen 38 und 39 werden schriftlich beantwortet. Ich ,danke Ihnen, daß Sie erschienen sind, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.Wir kommen zum ,Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, zunächst zur Frage 40 des Abgeordneten Schmidt . Ist der Abgeordnete im Saal? — Er ist nicht im Saal; die Fragen 40 und 41 werden schriftlich beantwortet.Ich rufe die Frage 42 des Abgeordneten Höcherl auf. Ist der Abgeordnete im Saal? — Er ist nicht im Saal; die Fragen 42 und 43 werden schriftlich beantwortet.Ich rufe die Frage 44 des Abgeordneten Peters auf:Welche „Abstriche von Zusagen in der Regierungserklärung" hat die Bundesregierung gemacht, über die die Landwirtschaft nach den Worten des Präsidenten des Deutschen Bauernverbandes angeblich enttäuscht ist?Der Fragesteller hat sich mit schriftlicher Beantwortung einverstanden erklärt. Die Antwort liegt noch nicht vor. Sie wird nach Eingang im Sitzungsbericht abgedruckt.Ich rufe die Frage 45 des Abgeordneten Schmidt auf. — Der Fragesteller ist nicht anwesend; die Frage wird schriftlich beantwortet.Ich rufe die Frage 46 des Abgeordneten Weigl auf:Warum verhilft die Bundesregierung dem deutschen Verbraucher angesichts größerer Kälber- und Kalbfleischimporte in die Bundesrepublik Deutschland nicht durch eine verbilligte Abgabe von Magermilchpulver aus Überschußbeständen an die deutsche Landwirtschaft zu billigeren Kalbfleischpreisen?
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2733
Präsident von HasselDer Fragesteller hat sich mit schriftlicher Beantwortung einverstanden erklärt. Die Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs vom 15. Mai 1970 lautet:Der Kalbfleischmarkt ist dadurch gekennzeichnet, daß infolge eines knappen Angebotes an Kälbern die Kalbfleischpreise seit längerer Zeit relativ hoch liegen. Bei dieser Lage ist es zweifelhaft, ob eine Preissenkung für Magermilchpulver zu einer Senkung des Preises für Kalbfleisch führen würde.Im übrigen hat der Rat der Europäischen Gemeinschaften die Beihilfe für Magermilchpulver zu Futterzwecken auf 8,25 RE/ 100 kg oder rd. 30 Pf /kg festgesetzt. Eine Erhöhung der Beihilfe ist nicht vorgesehen.Die Einfuhren an Kälbern und Kalbfleisch gleichen in etwa die Ausfuhren insbesondere nach Italien aus. Sie sind ein Marktregulativ.Ich rufe die Frage 47 des Abgeordneten Mertes auf. — Der Fragesteller ist nicht im Saal; die Frage wird schriftlich beantwortet.Die Frage 48 des Abgeordneten Niegel wird zurückgezogen.Ich bedanke mich; auf diese Weise schaffen wir die Fragestunden sehr viel schneller.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen, zunächst zur Frage 74 des Abgeordneten Köster. — Der Fragesteller ist nicht im Saal; die Fragen 74 und 75 werden schriftlich beantwortet.Ich rufe die Fragen 76 und 77 des Abgeordneten Peiter auf:Welche Erfahrungen wurden mit den verschiedentlich an Bäumen am Rand von Bundesstraßen angebrachten Stanniolstreifen zur Abschreckung des Wildes gemacht?Ist beabsichtigt, diese relativ billigen Maßnahmen auf das gesamte Bundesstraßennetz auszudehnen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die von einzelnen Länderbehörden verschiedentlich an Bäumen angebrachten Stanniolstreifen haben hinsichtlich des Wildschutzes nicht den gewünschten Erfolg erbracht. Eine wirksame Hinderung des Wildes am Betreten des Straßenkörpers wurde nicht erreicht. Sie wirken auch nur in den Dunkelstunden bei aufgeblendetem Scheinwerferlicht. Es wurde eine baldige Gewöhnung des Wildes festgestellt.
Auf Grund der Erfahrungen ist nicht beabsichtigt, derartige Maßnahmen auf das gesamte Bundesstraßennetz auszudehnen.
Ich rufe die Frage 78 'des Abgeordneten Dr. Riedl auf :
Ist trotz der akuten Personalnot bei der Deutschen Bundesbahn, insbesondere bei den technischen Kräften, damit zu rechnen, daß der Bau der S-Bahn in der Region München bis zu den Olympischen Spielen 1972 abgeschlossen werden kann, und ist insbesondere gewährleistet. daß bis dahin der Innenausbau und die technischen Anlagen der S-Bahn fertiggestellt sein werden?
Zur Beantwortung der Herr Parlamentarische Staatssekretär.
Herr Kollege, wie mir die Deutsche Bundesbahn mitteilt, wird nach dem derzeitigen Stand des Bauvorhabens die S-Bahn München bis zu den Olympischen Spielen 1972 in dem geplanten Umfang fertiggestellt und in Betrieb genommen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Riedl!
Herr Staatssekretär, Sie halten 'also die etwas mit Sorge erfüllten Bedenken der Bundesbahndirektion München, daß auf Grund der bestehenden Personalnot im Großraum München mit einer verzögerten Fertigstellung der S-Bahn gerechnet werden muß, nicht für stichhaltig?
Ich halte sie im Moment nicht für stichhaltig. Ich hoffe, daß sich durch zusätzliche Kräftebereitstellungen, die im Rahmen der Bundesbahn vorgenommen worden sind, einzelne Rückstände aufholen lassen.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 79 des Abgeordneten Dasch auf. — Der Fragesteller ist nicht im Saal; die Frage wird schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 80 des Abgeordneten Dr. Abelein auf. — Der Fragesteller ist nicht im Saal; die Fragen 80 und 81 werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe 'die Frage 82 des Abgeordneten Schwabe auf. — Der Fragesteller ist nicht im Saal; die Fragen 82 und 83 werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Fragen 84 und 85 des Abgeordneten Stein auf:
Ist es zutreffend, daß die Deutsche Bundespost bei den organisatorischen Maßnahmen in neugegliederten Gemeinden nicht einheitlich vorgeht, daß insbesondere in den Kreisen Herford und Lemgo sowie im westlichen Münsterland auch jetzt noch die Ortsbezeichnung selbständiger Ortschaften als Bindestrich-Zusatz — im Einklang mit dem von der Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen ausdrücklich hervorgehobenen Interesse, die Namen der bisherigen Gemeinden als Ortschaftsnamen zu erhalten — bestehen bleibt, während in anderen Bereichen, vor allem im Bereich der Oberpostdirektion Köln, alte Ortsbezeichnungen im postalischen Verkehr nicht mehr zugelassen werden?
Ist die Bundesregierung bereit, diese organisatorischen Maßnahmen der Deutschen Bundespost aus strukturpolitischen Gründen zum Schutz der wirtschaftlichen Interessen der mittleren und kleineren Wirtschaftsbetriebe sowie zur Wahrung der historischen und kulturellen Belange der betroffenen Ortschaften zu überprüfen, mit dem Ziele, daß — in Übereinstimmung mit der Auffassung der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen — auch bei postalischen Anschriften der bisherige Ortsname in einer Anschrift neben dem Gemeindenamen als BindestrichZusatz erhalten bleibt?
Zur Beantwortung der Herr Parlamentarische Staatssekretär.
Herr Kollege, bis Ende 1969 wurde 'bei der Änderung von postalischen Ortsna-
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2734 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Parlamentarischer Staatssekretär Börnermen die sich als Folge kommunaler Neugliederungen ergaben, nicht einheitlich vorgegangen. Seit Anfang 1970 hat sich die Deutsche Bundespost jedoch dafür entschieden, als postamtlichen Namen grundsätzlich den Namen der Gemeinde zu wählen, wie er von der zuständigen Landesregierung auf Grund der Gemeindeordnung bestimmt worden ist. Soweit zur Versorgung einer Gemeinde mehrere Postanstalten erforderlich sind, werden diese nur noch durch Hinzufügen von arabischen Ziffern zum Gemeindenamen unterschieden. Nach diesem Grundsatz wird seit Anfang 1970 einheitlich verfahren.Nachdem sich die Deutsche Bundespost für diese Regelung entschieden hat, sieht sie zu einer weiteren Überprüfung jetzt keinen Anlaß mehr.
Keine Zusatzfragen. Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs angelangt; ich danke Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Ich rufe die Frage 96 des Abgeordneten Wolfram auf:
Besteht nach Auffassung der Bundesregierung ein Zusammenhang zwischen dem Grad des Wohlstands eines Entwicklungslandes und der Nutzbarmachung seiner Bodenschätze?
Ist 'der Fragesteller im Saal? — Er ist anwesend. Frau Parlamentarische Staatssekretärin Freyh zur Beantwortung, bitte.
Ich möchte diese erste Frgae wie folgt beantworten. In den Entwicklungsländern bilden die natürlichen mineralogischen Rohstoffe nach wie vor eine wichtige Grundlage für die Schaffung von verarbeitender Industrie. Die Gewinnung von bergbaulichen Rohstoffen und ihre Weiterverarbeitung schaffen in diesen Ländern Arbeitsplätze. Rohstoffexporte erbringen wertvolle Devisen. Die Förderung des Bergbaus kann daher das wirtschaftliche Wachstum und den Wohlstand eines Entwicklungslandes durchaus günstig beeinflussen. Die Entwicklung des Weltmarktes wie auch der Absatz auf den Binnenmärkten ist jedoch für Bergbauprodukte auf längere Sicht schwer einzuschätzen. Der Einfluß der Bergbauförderung in einem Land auf das Volkseinkommen ist daher mit einem gewissen Risiko verbunden.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe nunmehr die Frage 97 des Abgeordneten Wolfram auf:
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, Entwicklungs ländern zu helfen, ihre Bodenschätze zu erschließen und zu verwerten, und kann das in der Bundesrepublik Deutschland vorhandene know how sinnvoll eingesetzt werden?
Die Bundesregierung fördert seit Jahren Projekte der geologischen Erforschung, Erschließung und Verwertung in den Entwicklungsländern. Neben der Kapitalhilfe und der Ausbildung von Counterparts wurden allein im Rahmen der technischen Hilfe bisher etwa 120 Millionen DM für Maßnahmen zur Fördèrung auf dem Gebiet des Bergbaus in 84 Projekten bereitgestellt.
Im Jahre 1969 waren in 18 Projekten der technischen Hilfe dieses Bereichs in 13 verschiedenen Ländern 87 deutsche Fachkräfte tätig. Es ist vorgesehen, Herr Kollege, die Förderung des Bergbaus im Rahmen ,der technischen Hilfe fortzusetzen. Hierfür stellt das in der deutschen Bergbauwirtschaft vorhandene Know-how eine wertvolle Grundlage ,dar. Die Förderungsmaßnahmen der technischen Hilfe im Bereich der Bergbauwirtschaft beziehen sich in erster Linie auf Projekte der geologischen Erforschung und Prospektion. Sie bilden die Grundlage für eine wirtschaftliche Nutzung der zahlreichen natürlichen mineralogischen Vorkommen in Entwicklungsländern. Dies ist allerdings vorwiegend Aufgabe der Entwicklungsländer selbst und ihrer Wirtschaft, wobei eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit erfahrenen deutschen Unternehmen durchaus zu befürworten ist.
Keine Zusatzfrage.
Wir kommen damit zur letzten Frage der heutigen Fragestunde. Ich rufe die Frage 98 des Abgeordneten Josten auf:
Wie steht die Bundesregierung zu den sechs politischen Forderungen, welche die Träger der Aktion Friedensmarsch 70", vor allem die katholische und evangelische Jugend Deutschlands an die Bundesregierung gerichtet haben?
Zur Beantwortung, Frau Parlamentarischer Staatssekretär.
Herr Präsident, ich möchte bitten, die Frage so beantworten zu können, daß ich auf die einzelnen Forderungen eingehe. Es handelt sich um insgesamt sechs Forderungen in dieser Frage.
Wenn Sie sich im Rahmen der Bestimmungen kurzfassen, können Sie es gern tun.
Ich werde mich bemühen.Auf der Welt wird — das ist die Antwort auf die erste Forderung — insgesamt fünfzehnmal soviel für Rüstung wie für Entwicklungshilfe ausgegeben. In der Bundesrepublik ist das Verhältnis etwas günstiger, nämlich 1 : 8. Dieses Verhältnis kann grundlegend nur durch eine kontrollierte Abrüstung in Ost und West geändert werden. Deshalb hat der damalige Außenminister und heutige Bundeskanzler vor einem Jahr vorgeschlagen, daß alle Industrieländer als ersten Schritt ein Prozent ihrer Rüstungsausgaben auf die Entwicklungshilfe umschichten. Aber auch ohne eine beiderseitige Abrüstung wird der Verteidigungshaushalt nach der Finanzplanung der Bundesregierung langsamer wachsen als der Entwicklungshilfeetat, so daß wir zwar nicht von heute auf morgen, aber doch auf
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Parlamentarischer Staatssekretär Frau Freyhlange Sicht in der Bundesrepublik zu einem anderen Zahlenverhältnis kommen werden.Ich komme damit zur zweiten Forderung. Das von der zweiten Welthandelskonferenz aufgestellte Ziel, ein Prozent des Bruttosozialproduktes für Entwicklungshilfeleistungen aufzuwenden, wird von der Bundesrepublik Deutschland erreicht. 1969 leistete sie 1,48 % des Bruttosozialproduktes. Diese Zahl, ermittelt nach der international üblichen Statistik, umfaßt die öffentliche Hilfe und den sonstigen Kapitaltransfer in Entwicklungsländer. — Die andere Forderung in diesem Zusammenhang zielt offensichtlich auf die öffentlichen Leistungen. Deren Höhe betrug 1969 0,39%. Eine Steigerung der öffentlichen Leistungen auf 1 % des Bruttosozialproduktes bis 1975 übersteigt die finanzielle Leistungskraft der Bundesrepublik. Jedoch hat sich die Bundesrepublik als bislang einziges großes Industrieland zu dem von der Pearson-Kommission aufgestellten Unterziel für öffentliche Leistungen in Höhe von 0,7 % des Bruttosozialproduktes bekannt. Dem wurde im Haushalt 1970 durch eine entsprechende Erhöhung der Verpflichtungsermächtigung sowie in der mittelfristigen Finanzplanung Rechnung getragen.Zur dritten Forderung darf ich folgendes ausführen. Die wachsende Verschuldung der Entwicklungsländer ist ein vorrangiges Problem in der zweiten Entwicklungsdekade. 1968 betrug die öffentliche Auslandsverschuldung der Entwicklungsländer 47,5 Milliarden US-Dollar; sie stieg in den sechziger Jahren um durchschnittlich 14 % pro Jahr. Deshalb hat die Bundesrepublik die Standardkonditionen für Kapitalhilfekredite im Jahre 1969 wesentlich verbessert. Der Standardzinssatz beträgt 2,5% bei 30 Jahren Laufzeit und 8 tilgungsfreien Jahren. Bei notwendig werdenden Umschuldungen bevorzugt die Bundesregierung entsprechend dem Kabinettsbeschluß vom 26. Februar 1970 Lösungen, die dem jeweiligen Einzelfall angepaßt sind und eine langfristige Konsolidierung zum Ziel haben.Zur vierten und fünften Forderung — diese beiden Forderungen stehen in einem Zusammenhang, und deshalb möchte ich meine Stellungnahme dazu zusammenfassend abgeben —: Die Bundesregierung will den Handel der Entwicklungsländer fördern. Sie befürwortet ein möglichst umfassendes, nicht reziprokes Zollpräferenzsystem zugunsten der Entwicklungsländer. Sie ist sich bewußt, daß Strukturveränderungen in den Industriestaaten wesentliche Voraussetzungen für eine Verstärkung des Handels mit den Entwicklungsländern sind. Nach Auffassung der Bundesregierung sind daher die von den Entwicklungsländern erwarteten strukturellen Anpassungsmaßnahmen in den Industrieländern entwicklungspolitisch berechtigt und werden in der Bundesrepublik mit den Interessen und Möglichkeiten der Struktur- und Raumordnungspolitik in Einklang zu bringen sein. — Die Bundesregierung fördert darüber hinaus durch gezielte Maßnahmen der technischen Hilfe den Export der Entwicklungsländer.Nun zur sechsten und letzten Forderung. Diese Forderung nach einer Neuregelung der Zuständigkeit für die Kapitalhilfe zielt darauf ab, eine Entwicklungspolitik aus einem Guß im Interesse der Entwicklungsländer zu ermöglichen. Durch ein kürzlich getroffenes Arrangement zwischen dem Bundeswirtschaftsministerium und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit wurde die Möglichkeit für den integrierten Einsatz aller Werkzeuge der Entwicklungshilfe geschaffen. Danach erarbeitet das BMZ eine nach regionalen und sachlichen Prioritäten abgestimmte lang- und mittelfristige Schwerpunktplanung des Einsatzes aller Instrumente der Entwicklungshilfe. Die Einordnung der Kapitalhilfe in ein solches Konzept und seine Behandlung im einzelnen erfolgt unbeschadet der Beteiligung anderer Ressorts einvernehmlich zwischen dem Bundeswirtschaftsministerium und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Entsprechend werden die Grundzüge von Verbundprojekten im Lenkungsausschuß unter Vorsitz des BMZ beschlossen.Damit ist es in der Sache nunmehr möglich, Entwicklungshilfe als Gesamtheit zu planen.Zusammenfassend kann ich feststellen: Die Entwicklungspolitik der Bundesregierung bewegt sich in der Richtung, die sich aus den sechs Forderungen der Friedensmärsche ergibt, ohne daß sie sich mit allen Forderungen hier und heute identifizieren kann.
Meine verehrten Damen und Herren, bei näherem Zusehen stellt man fest, was in einer Frage alles drinstecken könnte. Ich hoffe, Herr Kollege Josten, daß Sie bei Ihren Zusatzfragen nicht noch einmal auf alle sechs Punkte zu sprechen kommen. Zu einer Zusatzfrage Herr Kollege Josten.
Ich möchte Sie, Frau Staatssekretärin, nachdem Sie sehr ausführlich geantwortet haben, fragen: Sieht die Regierung eine Möglichkeit, die weltweite Aktion „Jugend gegen den Hunger" vielleicht in Verbindung mit den Ländern oder mit den interessierten Organisationen künftig zu unterstützen?
Die Bundesregierung hat insofern eine Beziehung indirekter Art zu dieser Aktion, als diese auch Informationsmaterial verwandt hat, das eine Reihe von privaten Organisationen mit Hilfe der Mittel aus dem Haushalt des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit erstellt haben.
Zur allerletzten Zusatzfrage Herr Abgeordneter Josten.
Teilen Sie meine Meinung, Frau Staatssekretärin, daß es sehr gut wäre, wenn dieses Informationsmaterial zu einer weiten Verbreitung käme, daß es sicher viele Bürger unseres Staates zufriedener und auch hilfsbereiter machen würde, wenn sie die Not der dritten Welt besser
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Jostenkennten, besonders in bezug auf Hunger, Armut, Krankheit, Wohnungsnot, Analphabetentum oder Arbeitslosigkeit?
Herr Kollege Josten, ich teile Ihre Auffassung, daß es nützlich und sinnvoll wäre, wenn auf diesen Gebieten die Information breiter wäre. Aber ich möchte gleichzeitig hinzufügen, daß das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit solches Material zu verbreiten in der Lage ist und daß wir es insbesondere — abgesehen von den eigenen Anstrengungen — begrüßen würden, wenn auch auf Initiative derer, die daran interessiert sind, dieses Material mehr Verbreitung fände.
Zusatzfragen werden nicht mehr gestellt. Wir sind damit am Ende der Fragestunde. Ich darf Ihnen, Frau Parlamentarischer Staatssekretär, für die Beantwortung danken.
Die nächste 'Sitzung berufe ich auf Dienstag, den 2. Juni 1970, 14 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen.