Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Zunächst habe ich die Freude, Herrn Kollegen Wächter zu seinem 60. Geburtstag, den er gestern gefeiert hat, meine besten Wünsche und die Wünsche des Hauses auszusprechen.
Folgende amtliche Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Bundesrat hat am 11. Februar 1966 den nachfolgenden Gesetzen zugestimmt:
Gesetz zu dem Abkommen vom 15. März 1965 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Osterreich über den Luftverkehr
Gesetz zu dem Abkommen vom 29. Oktober 1964 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Senegal über den Luftverkehr
Gesetz zu dem Abkommen vom 22. Oktober 1964 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Bundesrepublik Kamerun über den Luftverkehr
Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat am 9. Februar 1966 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Spitzmüller, Reichmann, Dr. Effertz, Geldner, Ertl, Logemann, Wächter und Genossen betr. Agrarsoziale Fragen beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache V/295 verteilt.
Der Präsident des Bundestages hat entsprechend dem Beschluß des Deutschen Bundestages vom 25. Juni 1959 die nachstehenden Vorlagen überwiesen:
Richtlinie des Rats über die- Angleichung der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Sortierung von Rohholz — Drucksache V/292 —
an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor dem Plenum am 28. April 1966
Der Präsident des Bundestages hat entsprechend dem Beschluß des Deutschen Bundestages vom 23. Februar 1962 die nachstehenden Vorlagen überwiesen:
Zehnte Verordnung zur Änderung des Deutschen Zolltarifs 1966 — Drucksache V/258 —
an den Ausschuß für Wirtschaft und Mittelstandsfragen mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor dem Plenum am 18. Mai 1966
Zwölfte Verordnung zur Änderung des Deutschen Zolltarifs 1966
— Drucksache V/259 —
an den Ausschuß für Wirtschaft und Mittelstandsfragen mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor dem Plenum am 18. Mai 1966
Vierzehnte Verordnung zur Änderung des Deutschen Zolltarifs 1966
— Drucksache V/260 —
an den Ausschuß für Wirtschaft und Mittelstandsfragen mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor dem Plenum am 18. Mai 1966
Siebente Verordnung zur Änderung des Deutschen Zolltarifs 1966 — Drucksache V/261 —
an den Ausschuß für Wirtschaft und Mittelstandsfragen mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor dem Plenum am 18. Mai 1966
Sechzehnte Verordnung zur Änderung des Deutschen Zolltarifs 1966
— Drucksache V/287 —
an den Ausschuß für Wirtschaft und Mittelstandsfragen mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor dem Plenum am 18. Mai 1966
Siebzehnte Verordnung zur Änderung des Deutschen Zolltarifs 1966
— Drucksache V/288 —
an den Ausschuß für Wirtschaft und Mittelstandsfragen mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor dem Plenum am 18. Mai 1966
Die Fraktion der SPD hat mitgeteilt, daß der Antrag der Abgeordneten Liehr, Frau Schanzenbach, Westphal und Genossen und der Fraktion der SPD betr. Bericht der Bundesregierung über die Lage der Jugend und über die Bestrebungen auf dem Gebiet der Jugendhilfe — Drucksache V/219 — zurückgezogen wird.
Zu der gestellten Frage des Abgeordneten Peiter, Drucksache IV /3799 Nr. VIII /1, ist inzwischen die ergänzende schriftliche Antwort des Staatssekretärs Kattenstroth vom 7. Februar 1966 eingegangen. Sie lautet:
Der Verband der Angestellten-Krankenkassen e. V. hat zu Ihrer Anfrage jetzt folgendes berichtet:
„Eine abschließende Stellungnahme hat sich deshalb verzögert, weil uns erst mit Schreiben vom 17. 12. 1965 von der Kassenärztlichen Vereinigung Koblenz die Bereitschaftserklärung eines am Ort ansässigen Arztes zur Teilnahme am Badearztvertrag übermittelt wurde.
Nachdem damit auch die ärztliche Betreuung der Ersatzkassenmitglieder sichergestellt ist, haben wir den Kneippkurort Marienberg in das Verzeichnis der anerkannten Badeorte aufgenommen."
Zu der in der Fragestunde der 14. Sitzung des Deutschen Bundestages am 13. Januar 1966 gestellten Frage des Abgeordneten Dr. Marx , Drucksache V/161 Nr. IX /1, ist inzwischen die schriftliche Antwort des Staatssekretärs Gumbel vom 10. Februar 1966 eingegangen. Sie lautet:
Die Bundesregierung hat die Ankündigung des sowjetischen Finanzministers zur Kenntnis genommen, daß der Verteidigungsetat der Sowjetunion um 5 % = 600 Millionen Rubel erhöht werde. In den vergangenen Jahren hatten amtliche sowjetische Regierungsstellen angekündigt, daß bedeutsame Kürzungen im Verteidigungsetat der Sowjetunion vorgenommen würden. Die Mitteilung des sowjetischen Finanzministers steht mit diesen Ankündigungen nicht im Einklang.
Im übrigen erscheint es fraglich, ob sich die Erhöhung der Militärausgaben auf die 5%ige Erhöhung des Verteidigungsetats der Sowjetunion beschränkt, weil anders als in Staaten mit parlamentarischer Demokratie die gesamten militärischen Aufwendungen nicht im Wehretat allein abgelesen werden können.
Die Erhöhung des Verteidigungsetats der Sowjetunion wird bei den ständigen gemeinsamen Beratungen der NATO-Mitgliedstaaten über die NATO-Verteidigung berücksichtigt werden.
Zu den in der Fragestunde der 19. Sitzung des Deutschen Bundestages am 10. Februar 1966 gestellten Fragen des Abgeordneten Dr. Wörner, Drucksache V//251 Nr. IX /1, IX /2 und IX /3, ist inzwischen die schriftliche Antwort des Bundesministers
Vizepräsident Dr. Dehler
Schmücker vom 9. Februar 1966 eingegangen. Sie lautet:
Zu Frage 1:
Wie mir berichtet wird, sind die Schwierigkeiten in der Gasversorgung des südwestdeutschen Raumes im wesentlichen durch zwei Faktoren ausgelöst worden.
Erstens sind in den Spaltanlagen einer Mineralölraffinerie in Speyer — im November auch in Mannheim —, die die Basis der Gasversorgung im südwestdeutschen Raum bilden, Schäden aufgetreten. Diese führten zeitweise zu Lieferausfällen, die anderweitig nicht vollständig ersetzt werden konnten. Die aufgetretenen Schäden sind inzwischen beseitigt worden.
Zum zweiten hat sich die seit längerer Zeit im Bau befindliche Entlastungsleitung von der Raffinerie Speyer in den Karlsruher Raum infolge außergewöhnlicher Witterungsverhältnisse im November und Dezember, insbesondere infolge mehrfacher Überschwemmungen, nicht innerhalb der vorgesehenen Frist fertigstellen lassen.
Die Ursachen der Gasunfälle, die sich im Kreis Emmendingen ereigneten, sind noch nicht endgültig geklärt. Die Staatsanwaltschaft prüft zur Zeit die Gründe der Unglücksfälle.
Zu Frage 2:
Nach der Vierten Durchführungsverordnung zum Energiewirt schaftsgesetz müssen Gasverteilungseinrichtungen den anerkann ten Regeln der Technik entsprechen. Als anerkannte Regeln dei Technik gelten insbesondere die vom Deutschen Verein von Gas- und Wasserfachmännern e. V. erarbeiteten Bestimmungen.
An der Erarbeitung des geltenden technischen Vorschriften-werkes sind zahlreiche der im Bereich der Gaswirtschaft verantwortlich tätigen Fachleute beteiligt. Das Vorschriftenwerk wird von den zuständigen Fachgremien ständig überprüft und dem jeweils neuesten Stand der Technik angepaßt. Bisher hat sich kein Anhaltspunkt dafür ergeben, daß es den technischen Erfordernissen in irgendeiner Hinsicht nicht entsprochen hätte.
Es sind auch keine Fälle bekanntgeworden, in denen für Unfälle etwa Mängel in dem bestehenden technischen Vorschriften-werk ursächlich gewesen wären.
Zu Frage 3:
Es ist zunächst Aufgabe der Versorgungsunternehmen, dafür zu sorgen, daß ihnen die für eine gesicherte Versorgung erforderliche Gasbasis zur Verfügung steht und daß ausreichende technische Einrichtungen vorhanden sind, um eine geregelte Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten. Es liegt im allgemeinen Interesse, daß die Geschäftspolitik der Ferngasgesellschaften die Vorsorge für etwaige Lieferausfälle einschließt, zumal der Verbraucher nicht kurzfristig auf eine andere Energieart ausweichen kann. Wenn ein Gasversorgungsunternehmen seinen vertraglich vereinbarten Lieferverpflichtungen nicht nachkommt, muß es mit entsprechenden Schadensersatzansprüchen der Geschädigten rechnen.
Im allgemeinen muß festgestellt werden, daß die Gasversorgungsunternehmen die von ihnen übernommenen Versorgungsaufgaben ordnungsgemäß erfüllen und auch ihre technischen Kapazitäten der zu erwartenden Absatzentwicklung anpassen. Im Einzelfall kann es aus technischen Gründen zu Versorgungsstörungen kommen. Ob lediglich solche Gründe für die letzten Störungen der Gaswirtschaft im südwestdeutschen Raum die Ursachen waren, kann heute noch nicht gesagt werden. Die für die Durchführung des Energiewirtschaftsgesetzes zuständige Energieaufsichtsbehörde der Landesregierung überprüft die Ursachen der in Baden-Württemberg aufgetretenen Versorgungsschwierigkeiten. Das Ergebnis dieser Prüfung muß abgewartet werden.
Zu den in der Fragestunde der 20. Sitzung des Deutschen Bundestages am 11. Februar 1966 gestellten Fragen des Abgeordneten Dr. Miessner, Drucksache V//263 Nr. 1 und 2, ist inzwischen die schriftliche Antwort des Bundesministers Dr. Dahlgrün vom 10. Februar 1966 eingegangen. Sie lautet:
Zu 1.:
Im Entwurf des Bundeshaushalts für 1966 sind Mittel zur Übernahme der auf die Jubiläumszuwendungen entfallenden Lohnsteuerbeträge in den Fällen der Änderungsverordnung vom 7. Mai 1965 nicht vorgesehen. Falls nicht im Rahmen der parlamentarischen Haushaltsberatungen für diesen Zweck noch Mittel eingesetzt werden, ist die Bundesregierung nicht in der Lage anzuordnen, daß die Steuerbeträge für diese Jubiläumszuwendungen vom Bund getragen werden.
Zu 2.:
Die Frage, ob die nach der Verordnung vom 7. Mai 1965 und den entsprechenden Regelungen der Länder gezahlten Zuwendungen steuerfrei gestellt werden können, ist wiederholt mit den obersten Finanzbehörden der Länder erörtert worden. Hierbei vertraten die Länder die Auffassung, daß die genannten Zuwendungen nicht nach § 5 der Lohnsteuer-Durchführungsverordnung steuerfrei gelassen werden können, weil es sich bei den Zuwendungen nicht um solche für ein 25-, 40- oder 50jähriges Dienstjubiläum handele, sondern um Zuwendungen aus Anlaß des Ausscheidens aus einem Dienstverhältnis, die sich lediglich in ihrer Höhe an den Betrag anlehnten, der bei einem 25-, 40-oder 50jährigen Dienstjubiläum zu zahlen ist. Demgegenüber ließe sich aber bei nicht nur formaler Betrachtung vielleicht doch die Meinung vertreten, daß Anlaß für die Zahlung der Zuwendung die Vollendung einer Dienstzeit von 25, 40 oder 50 Jahren und nur die Fälligkeit auf den Zeitpunkt des Eintritts des Beamten in den Ruhestand hinausgeschoben worden ist. Es ist vorgesehen, die Angelegenheit Anfang März 1966 noch einmal mit den Lohnsteuerreferenten der Länder zu erörtern. Zu welchem Ergebnis die erneute Erörterung führen wird, läßt sich im gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht übersehen.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: Fragestunde
— Drucksachen V/301, V/303 —
Der Ältestenrat hat sich Gedanken wegen der Technik der Fragestunde gemacht. Mehrmals ist die Hälfte der Fragen unter den Tisch gefallen, weil die aufgerufenen Fragen zuviel Raum in Anspruch genommen haben. Die Frage ist, wie wir das verbessern können. Ich bitte die Fragesteller, sich möglichst knapp und präzis zu fassen und mit Zusatzfragen sparsam zu sein, bitte aber auch die Herren der Regierung, auf möglichst knappe Fragen auch möglichst knappe Antworten zu geben.
Ich rufe zunächst die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes auf. Frage I/1 des Abgeordneten Paul:
Ist die Bundesregierung bereit, im Sinne der Empfehlung 447 der Beratenden Versammlung des Europarates dafür einzutreten, daß der Sonderbeauftragte des Europarates für Flüchtlingsfragen Gelegenheit erhält, die Lage der Flüchtlinge in Zypern zu studieren und Hilfsmaßnahmen in die Wege zu leiten?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Bundesregierung ist der Ansicht, daß die in der Europarats - Empfehlung 447 angeregten Hilfsmaßnahmen für in Not geratene zyprische Staatsangehörige wegen ihres humanitären Charakters Unterstützung verdienen. Die Bundesregierung hat diesen Standpunkt bereits 1964 bei der Erörterung der damaligen Vorschläge des Sonderbeauftragten des Europarates für Flüchtlingsfragen eingenommen. Um die Wirksamkeit der Hilfsaktion zu gewährleisten, müssen die Maßnahmen in Zusammenarbeit mit der Regierung der Republik Zypern und unter Berücksichtigung der bereits im Rahmen der Vereinten Nationen und des Internationalen Roten Kreuzes geleisteten Unterstützung vorbereitet und durchgeführt werden. Die Aktion sollte sowohl Zyperngriechen als auch Zyperntürken zugute kommen.
Eine Zusatzfrage, Abgeordneter Paul.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, über Befragen sowohl der Regierung Zyperns als auch der griechischen und der türkischen Regierung zu sagen, daß die vom Europarat angeregte Aktion einen rein humanitären Charakter haben soll und daß keinerlei politische Absichten dabei verfolgt werden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Bundesregierung ist gern bereit, das zu bestätigen.
Keine weitere Zusatzfrage.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966 835
Vizepräsident Dr. Dehlerij Ich rufe Frage I/2 des Abgeordneten Kahn-Ackermann auf:Welche Maßnahmen zur Erhaltung der Amerikahäuser oder von Teilen der Amerikahäuser, die wegen der Kürzung im amerikanischen Budget im Jahre 1966 geschlossen worden sind, hat die Bundesregierung nunmehr ergriffen, nachdem sie in einer Fragestunde des vergangenen Jahres mitgeteilt hat, daß geeignete Maßnahmen zur Erhaltung dieser Amerikahäuser überlegt würden?Bitte, Herr Staatssekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, die Verhandlungen mit den Regierungen der Bundesländer, in denen die Amerikahäuser liegen, sind noch nicht abgeschlossen. Die Fortführung dieser Institutionen ohne amerikanische Barzuwendungen und ohne amerikanische Institutsleiter ist nur unter maßgeblicher Beteiligung der entsprechenden Länderregierungen und Kommunalverwaltungen möglich. Die Länder haben dazu Vorschläge gemacht. Das Auswärtige Amt hat in dem Haushalt für 1966 einen entsprechenden Betrag veranschlagt. Eine endgültige Stellungnahme kann erst nach den Haushaltsberatungen erfolgen, die in Kürze beginnen sollen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, auf welche Weise hat die Bundesregierung versucht, sicherzustellen, daß sie bis zum Abschluß dieser Beratungen auch die mögliche Verfügungsgewalt über diese Häuser behält, angesichts der mir bekannten Tatsache, daß bereits Verhandlungen 3) über eine anderweitige Verwendung eines Teils dieser Häuser im Gange sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Derartiges ist mir nicht bekannt, Herr Abgeordneter. Ich nehme aber Ihre Frage zum Anlaß, dieser Möglichkeit nachzugehen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Darf ich Sie fragen, Herr Staatssekretär, ob damit zu rechnen ist, daß das beschleunigt geschieht, um alle Möglichkeiten offenzuhalten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das wird sofort geschehen, Herr Abgeordneter.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Schmidt.
Herr Staatssekretär, wieviel Amerikahäuser gibt es gegenwärtig in der Bundesrepublik?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kann Ihnen nicht die genaue Zahl sagen; ich glaube, es sind sechs oder sieben.
Keine weitere Zusatzfragen.
Ich rufe die Fragen I/1 und I/2 des Abgeordneten Haehser auf Drucksache V/303 auf:
Was haben die Bundesregierung und die nachgeordneten Behörden bisher für Jean Serge Splittgerber aus Trier unternommen, der zur Zeit in Straßburg inhaftiert ist, weil er deutscher und französischer Staatsbürger ist und keinen Dienst in der französischen Armee ableisten will?
Wie weit sind die schon vor Jahren angekündigten Verhandlungen mit der französischen Regierung gediehen, die ein Übereinkommen für jene Wehrpflichtigen zum Ziele haben, welche wegen doppelter Staatsangehörigkeit von der französischen Armee und von der Bundeswehr einberufen werden können?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Darf ich diese Fragen zusammen beantworten?
Bitte sehr!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bitte um Entschuldigung, Herr Abgeordneter, wenn ich keine ganz vollständige Antwort geben kann, da mir die vollständigen Unterlagen nicht vorliegen. Ich will aber auf Grund der mir vorliegenden Unterlagen so vollständig wie möglich antworten.
Der deutsch-französische Doppelstaatler Splittgerber wurde 1939 in Frankreich geboren. Er besitzt seit seiner Geburt die deutsche und die französische Staatsangehörigkeit. Im Jahre 1961 begab er sich von Deutschland aus nach Frankreich, obwohl er wußte, daß er als Franzose dort zur Armee einberufen werden würde. Er wurde eingezogen, desertierte und gelangte nach Italien, kehrte dann jedoch freiwillig nach Frankreich zurück, wo er wegen Fahnenflucht verurteilt wurde. Nach Verbüßung seiner Strafe wurde er erneut zur Armee einberufen, desertierte zum zweitenmal und floh wieder ins Ausland, kehrte dann jedoch abermals nach Frankreich zurück, wo er jetzt in ein zweites Strafverfahren verwickelt ist.
Auf seiner Flucht hat er sich nach unseren Feststellungen zweimal — 1964 und 1965 —, davon einmal in der Uniform eines französischen Soldaten, mit der Bitte um Heimschaffung nach Deutschland an unsere Auslandsvertretungen in Frankreich gewandt, die ihm jedoch als Franzosen im Gastlande keine amtliche Hilfe gewähren konnten.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Haehser.
Herr Staatssekretär, kann die Bundesregierung Auskunft geben, wie viele Personen im wehrpflichtigen Alter es in Deutschland gibt, die die Staatsangehörigkeit von zwei Staaten besitzen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Diese Auskunft kann die Bundesregierung sicher geben. Im Augenblick kann ich sie Ihnen nicht geben, Herr Abgeordneter; aber ich darf die Frage, die Sie an mich richten, schriftlich beantworten.
Metadaten/Kopzeile:
836 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966
Vizepräsident Dr. Dehler: Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Haehser.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß bereits vor Jahren eine europäische Konvention zustande kam, unterzeichnet von acht Staaten, darunter auch von der Bundesrepublik und Frankreich, die zum Ziele hatte, die Doppelstaatlichkeit und damit auch das Thema der Wehrpflicht zu regeln?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, das ist mir bekannt, und ich darf hinzufügen, daß die Bundesregierung beabsichtigt, das Gesetz, mit dem die gesetzgebenden Körperschaften um ihre Zustimmung zu diesem Abkommen gebeten werden sollen, den gesetzgebenden Körperschaften in Kürze zuzuleiten.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Haehser.
Herr Staatssekretär, könnten Sie den Ausdruck „in Kürze" noch präzisieren?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich glaube, daß das ungefähr die kürzeste Frist ist, mit der ich hier verantwortlich operieren kann.
) Vizepräsident Dr. Dehler: Herr Abgeordneter Dr. Rinderspacher zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Ihnen Fälle bekannt, in denen Wehrpflichtige mit doppelter Staatsangehörigkeit, die in der Bundesrepublik ihren Wehrdienst ableisteten, daraufhin in anderen Ländern, z. B. in Frankreich, Repressalien ausgesetzt waren?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Derartige Fälle sind mir nicht bekannt.
Eine weitere Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Rinderspacher.
Wie ist die Praxis in der Bundesrepublik bei derartigen Fällen, in denen Wehrpflichtige mit doppelter Staatsangehörigkeit in Frankreich oder einem anderen Land ihrer Wehrpflicht genügten und dann in die Bundesrepublik zurückkehrten, um hier ihrem Beruf nachzugehen, oder auch als Reisende in die Bundesrepublik kamen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kann Ihnen nicht genau sagen, wie die derzeitige Praxis ist; aber dieser Fall ist in dem Abkommen, von dem ich gerade gesprochen habe, geregelt, und zwar, wenn ich mich richtig erinnere, in dem Sinne, daß der betreffende Doppelstaatler seinen Wehrdienst in dem Lande seines gewöhnlichen
Wohnsitzes ableistet und ihn dann in anderen Ländern nicht noch einmal abzuleisten braucht.
— Mir sind keine Repressalien bekannt.
Herr Abgeordneter Börner zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß Ihre Antwort, daß das Gesetz in Kürze vorgelegt werden würde, dem Hohen Hause seit nunmehr zwei Jahren in Abständen von etwa sechs Monaten immer wieder gegeben wird, und welches sind die Gründe für diese Verzögerungen, die sich auf dem Rücken von Tausenden von Deutschen, die doppelte Staatsangehörigkeit haben, auswirken?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich möchte zunächst sagen, daß die Bundesregierung die Vorlage dieses Abkommens bisher nicht mit der Präzision angekündigt hat, wie ich es eben getan habe. Sie können sicher sein, daß die Vorlage nunmehr in Kürze erfolgen wird. Die Gründe für die verhältnismäßig lange Verzögerung liegen darin, daß mit den deutschen Ländern vorher verhandelt werden muß, weil Fragen des Staatsangehörigkeitsrechts hier involviert sind.
Eine weitere Frage, Herr Abgeordneter Börner.
Dann darf ich Ihre Antwort von eben als Dementi einer früher gegebenen Antwort der Bundesregierung auffassen, daß Kompetenzabgrenzungen oder, besser gesagt, Kompetenzüberschneidungen zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Innenministerium die Gründe dafür sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin ganz sicher, daß das nicht die Gründe für die Verzögerung gewesen sind.
Herr Abgeordneter Schmitt-Vockenhausen.
Herr Staatssekretär, glauben Sie nicht, daß auch der deutschfranzösische Freundschaftsvertrag eine Möglichkeit bieten würde, eine solche Sache zur Sprache zu bringen und freundschaftlich zu regeln?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich habe die Einzelheiten dieses Falles, jedenfalls soweit sie mir bekannt sind, soeben vorgetragen. Ich glaube, Sie werden selbst daraus den Eindruck gewinnen müssen, daß sich dieser Fall für eine spezielle Intervention wenig eignet.
Herr Abgeordneter Schmitt-Vockenhausen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966 837
Können Sie dem Hause Auskunft geben, wie Herr Splittgerber überhaupt nach Frankreich gekommen ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Soweit mir bekannt ist, ist er freiwillig nach Frankreich gegangen.
Herr Abgeordneter Westphal, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind in diesem Zusammenhang für Doppelstaatler, die in den Jahren um 1939 geboren sind, z. B. als Jugendleiter schon einmal Schwierigkeiten aufgetreten beim deutsch-französischen Jugendaustausch auf Grund des Deutsch-Französischen Jugendwerks?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das ist mir nicht bekannt, Herr Abgeordneter.
Würden Sie diesen Fragen vielleicht einmal beim Deutsch-Französischen Jugendwerk nachgehen, weil ich den Eindruck habe, daß es solche Schwierigkeiten gibt oder daß einige an dem Austausch nicht teilnehmen, weil sie solche Folgen befürchten, wie sie hier zur Debatte stehen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin sehr gerne bereit, dieser Frage nachzugehen, und wäre Ihnen dankbar, Herr Abgeordneter, wenn Sie Ihnen etwa bekannte Fälle uns zugänglich machten.
Darf ich dazu sagen, daß ich vor Jahren in anderer Funktion das schon einmal getan habe.
Herr Abgeordneter Strohmayr zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß beispielsweise die Stadt Düsseldorf, der Geburtsort eines bestimmten Mannes, diesem den Heimatschein verweigert, weil er angeblich zur gleichen Zeit die spanische Staatsangehörigkeit besitzt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, das ist mir nicht bekannt, Herr Abgeordneter.
Eine weitere Frage.
Der Genannte bekommt die deutsche Staatsangehörigkeit und den Heimatschein nicht, obwohl er sie bis jetzt besessen hat und auch in Deutschland während des Krieges als Flieger tätig gewesen ist, weil es angeblich nicht möglich ist, zwei Staatsangehörigkeiten zu besitzen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Metadaten/Kopzeile:
838 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966 839
Metadaten/Kopzeile:
840 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966
Auch an diesen Verhandlungen ist die Bundesregierung auf Grund der gegebenen verfassungsmäßigen Zuständigkeiten in keiner Weise — weder bei den Hochschulen noch über die Länder — beteiligt. Ich kann deshalb Ihre Frage leider nicht beantworten.
Herr Abgeordneter Dr. von Merkatz zu einer Zusatzfrage.
Herr Minister, könnte ich eine Auskunft darüber haben, in welcher Weise Abiturienten, die beabsichtigen, Medizin zu studieren, die aber ihrer Wehrpflicht genügt und im Rahmen der Bundeswehr bereits eine Sanitätsausbildung genossen haben, bei der Auswahl etwas bevorzugt berücksichtigt werden?
Mir ist bekannt, daß der Bundesminister für Verteidigung diese Frage mehrfach an die Universitäten und an die Länderregierungen herangetragen hat. Ich kann Ihnen jetzt nicht mit Sicherheit etwas über den letzten Stand dieser Erörterung sagen. Ich bin gern bereit, Sie darüber im Einvernehmen mit dem Bundesminister für Verteidigung genau zu unterrichten.
Ich wäre sehr dankbar dafür.
Herr Abgeordneter Sänger zu einer Zusatzfrage.
Herr Bundesminister, da es mir nicht um den Wettbewerb zwischen Bund und Ländern, sondern um die vollständige Beantwortung dieser Frage geht, darf ich fragen: Können Sie dem Bundestag in absehbarer Zeit genaue Zahlen über die Zurückweisung von Studienkandidaten an allen deutschen Hochschulen geben, so daß wir ein Bild darüber gewinnen, wie unsere zum akademischen Studium strebende Jugend nicht zu diesem Studium kommen kann und was wir hier möglicherweise helfend tun können?
Die Bundesregierung hat soeben, Herr Kollege Sanger, die Zahlen vorgetragen, die ihr bekannt sind und die auch auf erneute Nachfragen auf Grund dieser Anfrage von den zuständigen Stellen zu erhalten waren. Ich darf noch einmal sagen, daß die Universitäten in den anderen Fächern, die hier nicht mit Zahlen belegt werden konnten, selber nicht über einen umfassenden Überblick verfügen. Infolgedessen kann es auch die Bundesregierung bei den gegebenen Zuständen nicht in dem Maße tun, wie Sie es für richtig halten. Es wird die Aufgabe der Universitäten sein, selber darüber zu entscheiden, ob sie solche zentralen Zulassungs- und Registrierstellen einrichten wollen.
Eine weitere Frage, Herr Abgeordneter Sänger.
Fänden Sie es nicht auch im Interesse Ihrer eigenen Arbeit als Bundesminister für wissenschaftliche Forschung zweckmäßig, wenn alle Universitäten Erhebungen dieser Art anstellten und sie einmal einer zentralen Stelle im Bund zur Kenntnis brächten, so daß wir einen zuverlässigen Überblick gewinnen könnten?
Ich bin gern bereit, diese Frage noch einmal mit der Rektorenkonferenz und dem Präsidium der Kultusministerkonferenz zu besprechen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Rinderspacher.
Herr Bundesminister, ist es möglich, daß die Studenten in den Fällen, wo der Numerus clausus eingeführt wurde, ihre vorklinischen Semester etwa in anderen europäischen Ländern ableisten und dann unter voller Anrech-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966 841
Dr. Rinderspachernung der dort geleisteten Arbeiten in die Bundesrepublik zurückkehren?
Die Kultusminister der Länder sind im Begriff, neben der schon erwähnten Einrichtung einer zentralen Registrierstelle gemeinsame Zulassungsvorschriften für Medizin und Zahnmedizin zu erlassen. Diese von Ihnen aufgeworfene Frage ist von den Ländern auch in Abstimmung mit der Bundesregierung geprüft. Ich muß aber darauf verweisen, daß_ wir in der Frage der sogenannten Äquivalenzen, d. h. der gegenseitigen Anerkennung der Prüfungen und Diplome, trotz aller Bemühungen des Europarats leider noch nicht das Maß an Übereinstimmung haben, das es ohne weiteres ermöglichte, hier in stärkerem Maße ein Auslandsstudium vorzusehen.
Eine weitere Frage, Herr Abgeordneter Rinderspacher.
Herr Minister, ist auch zwischen der Bundesrepublik und Frankreich eine solche Übereinstimmung noch nicht erzielt worden, oder sind hier etwa besondere Verhandlungen im Gange oder beabsichtigt?
Verhandlungen sind seit längerer Zeit im Gange. Da es sich aber bei Ihrer Frage um eine Zusatzfrage handelt, möchte ich Ihnen genaue Auskunft über den Stand schriftlich geben. Es ist in den einzelnen Fächern und in den einzelnen Ländern verschieden, Herr Kollege.
Ich danke Ihnen, Herr Minister.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit, und zwar zur Frage des Abgeordneten Kahn-Ackermann:
Was verspricht sich die Bundesregierung von der Effektivität der Arbeit der im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit neu eingerichteten Länderreferate, wenn deren Leiter keine Möglichkeit haben, Probleme und Begleitumstände der deutschen technischen Hilfe in den Entwicklungsländern an Ort und Stelle kennenzulernen?
Bitte, Herr Minister!
Herr Kollege Kahn-Ackermann, die Länderreferate fassen alle einzelnen Projekte für die Länder zusammen und beobachten sie auch schon in der Planung. Es ist völlig verständlich und natürlich, daß die Leiter dieser Referate um so wirksamer arbeiten können, je besser sie die Verhältnisse an Ort und Stelle kennen. Alle Referatsleiter haben aus ihrer früheren Tätigkeit schon Kenntnisse in den Gebieten, für die sie verantwortlich sind. Darüber hinaus haben sie aber auch während ihrer Tätigkeit in meinem Ministerium — ich glaube, mit einer Ausnahme — alle Gelegenheit gehabt, Projekte, die sie selbstverantwortlich führen, zu besichtigen und sich mit den draußen tätigen Leuten zu unterhalten.
Eine Zusatzfrage.
Herr Minister, so erfreulich diese Auskunft ist: Glauben Sie nicht, daß die Durchführung zahlreicher Projekte in Ihrem Hause darunter leidet, daß die unmittelbar damit Befaßten — es müssen nicht die Leiter, sondern es mögen auch die zuständigen Sachbearbeiter sein — bar jeder Landeskenntnis und Projektkenntnis sind? Es wirkt sich für mein Empfinden außerordentlich ungünstig aus, wenn von anderen Ressorts meinetwegen fünf oder sechs Leute dorthin fahren und sich das ansehen, während das in der Zentrale nicht der Fall ist, wo es vielleicht genügen würde, wenn einer bestimmte Sachkenntnis hätte. Halten Sie es nicht ein bißchen für aufwendige Verwaltung und der Sache im allgemeinen für nicht allzu dienlich, wenn statt dessen jemand mit einem Haufen Akten kommt und sagt: „Es tut mir schrecklich leid; ich kenne die Lage nur aus der Akte"?
Herr Kollege, ich sagte eben schon, daß alle Referatsleiter die Länder, die sie bearbeiten, aus eigenem Augenschein kennen. Ob nun alle in diesen Referaten tätigen Hilfsreferenten und Mitarbeiter die Länder kennen, kann ich im einzelnen noch nicht einmal beantworten. Ich darf aber darauf hinweisen, daß wir natürlich beim Aufbau eines Ministeriums — und der ist ja immer noch im Gange — auch finanziellen Beschränkungen unterliegen sowie Beschränkungen, die im Personellen liegen. Wir haben nicht zuviel Mitarbeiter, sondern bei dieser großen Aufgabe viel zuwenig. Sie wissen das selbst aus eigener Kenntnis, Herr Kollege. Wir können natürlich die Mitarbeiter, die wir haben, nicht auf so häufigen Reisen mit der Materie vertraut machen, wie wir das wünschten. Das dauert eine gewisse Zeit. Ich glaube aber, daß die verantwortlichen Mitarbeiter sowohl in den Länderreferaten als auch in den Fachreferaten über eine genügende Kenntnis der Länder und auch der Projekte verfügen.
Eine weitere Frage.
Herr Minister, sind Sie bereit, im Hinblick auf sehr langfristige Verpflichtungen der Bundesrepublik prüfen zu lassen, wer in Ihrem Hause in bezug auf diese Verpflichtungen absolute Ortskenntnis hat und wer alle damit verbundenen Umstände kennt? Sind Sie weiter bereit, mit Blickrichtung darauf ein Programm in diesem und im kommenden Jahr aufzustellen, wodurch sichergestellt wird, daß die wichtigsten Sachbearbeiter für unsere wichtigsten und aufwendigsten Projekte über entsprechende Kenntnisse verfügen?
Herr Kollege, ich möchte nicht gern ein Reiseprogramm für Beamte und Angestellte meines Ministeriums aufstellen. Ich darf Ihnen vielmehr versichern, daß wir ohnehin alles versuchen, um die wichtigsten Mitarbeiter, wenn es der Zweck
Metadaten/Kopzeile:
842 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966
Bundesminister ScheelI erfordert und wenn die Möglichkeiten gegeben sind, mit den Projekten vertraut zu machen. Wenn dennoch der eine oder andere bisher nicht in das Land, mit dem er zu tun hat, hat fahren können, so lag das einfach an der Überlastung des ganzen Apparats. Aber auch dieses Problem werden wir auf längere Sicht lösen können. Ich nehme die Anregung jedenfalls sehr gerne auf.
Ich danke Ihnen, Herr Minister.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr, zunächst zur Frage IV/ 1 des Abgeordneten Müller :
Teilt die Bundesregierung die Auffassung von Vertretern der Bundesbahndirektion Essen, die eingleisige Ruhrtalbahn im Streckenabschnitt Mülheim-Styrum—Kettwig-Stausee weiter aufrechtzuerhalten, um die Verkehrsentwicklung auf dieser Linie abzuwarten?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Wenn der Herr Fragesteller damit einverstanden ist, möchte ich gern die drei Fragen wegen des Sachzusammenhangs gemeinsam beantworten.
Einverständnis. — Dann rufe ich weiter die Fragen IV/ 2 und IV/ 3 des Herrn Abgeordneten Müller auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß bei Beibehaltung der in Frage IV/ 1 genannten Bahnlinie anderen Verkehrsträgern durch notwendige Brückenbauwerke, Umbauten und Beseitigung von schienengleichen Bahnübergängen zuverlässig geschätzte Belastungen in Höhe von 15 bis 20 Millionen DM erwachsen würden?
Ist die Bundesregierung bereit, die in Frage IV/ 1 genannte Bahnlinie bevorzugt stillzulegen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wie die Deutsche Bundesbahn mitteilt, wird die Strecke Mülheim(Ruhr)-StyrumKettwig-Stausee zur Zeit auf ihre Wirtschaftlichkeit überprüft. Da diese Untersuchungen noch nicht abgeschlossen sind, kann auch im Augenblick nicht gesagt werden, welche Einschränkungsmaßnahmen im einzelnen von der Deutschen Bundesbahn vorgeschlagen werden. Auf jeden Fall werden im Rahmen dieser Überlegungen auch die Belange der anderen Verkehrsträger gebührend berücksichtigt werden.
Der Bundesminister für Verkehr kann erst dann über eine Stillegungsmaßnahme entscheiden, wenn ein entsprechender Antrag des Vorstandes der Deutschen Bundesbahn vorliegt.
Herr Abgeordneter Müller zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß der Landschaftsverband bei Stillegung der Strecke bereit ist, eine Entschädigung zu zahlen, und daß zum anderen die Stadt Mülheim sehr daran interessiert ist, in Ankaufsverhandlungen einzutreten? Ich möchte die Frage abrunden. Würden Ihnen etwa diese Anerbieten von zwei Stellen die Entscheidung leichter machen, einer bevorzugten Stillegung dieser Strecke zuzustimmen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, zunächst muß ich wiederholen, daß wir einem Stillegungsantrag erst zustimmen können, wenn er vorgelegt ist. Vorher können wir in das Prüfungsverfahren, das im Bundesbahngesetz im einzelnen vorgeschrieben ist, nicht eingreifen.
Auf Grund Ihrer Anfrage haben wir uns aber in der Zwischenzeit mit der zuständigen Auftragsverwaltung in Verbindung gesetzt und auch einige Mitteilungen über den Stand der Projektierung für den Ausbau der L 440 erhalten. Die Angaben sind aber noch so vage, daß daraus irgendwelche Schlüsse hinsichtlich der finanziellen Mehr- oder Wenigerbelastung nicht gezogen werden können. Insbesondere ist in diesen Angaben nicht von der Bereitschaft die Rede, irgendwelche Vergütungen zu bezahlen. Ich führe das darauf zurück, daß eben die Verhandlungen auch zwischen dem Land und der Deutschen Bundesbahn noch im Gange sind.
Zu einer weiteren Zusatzfrage der Herr Abgeordneter Müller.
Würden Sie es begrüßen, wenn, ähnlich wie im Falle Rheydt — ich beziehe mich auf eine Meldung in der FAZ —, die Stadt Mülheim oder der Landschaftsverband drängender als bisher an Sie heranträten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, wir sind für jede Anregung hinsichtlich einer freiwilligen Stillegung außerordentlich dankbar.
Ich rufe die Frage IV/ 4 des Herrn Abgeordneten Strohmayr auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Erklärung des Deutschen Industrie- und Handelstages zu den geplanten Streckenstillegungen der Deutschen Bundesbahn, in der es heißt, periphere Gebiete der Bundesrepublik befürchten heute zu Recht, bei einer Einstellung der Dienste der Bundesbahn völlig dem monopolartig auftretenden Straßenverkehr ausgeliefert zu sein"?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
In den peripheren Gebieten der Bundesrepublik, die schwächer strukturiert sind, wird der Bundesminister für Verkehr in Zusammenarbeit mit allen beteiligten Stellen und Verbänden besonders sorgfältig und gewissenhaft darauf hinwirken, daß die Verkehrsbedienung bei der Ergänzung oder Ablösung des Leistungsangebots der Deutschen Bundesbahn durch andere Verkehrsmittel verbessert und modernisiert wird. Ein monopolistisches Verhalten des Straßenverkehrs ist wegen der Struktur des Straßenverkehrsgewerbes mit seiner großen Zahl mittelständischer Einzelunternehmen nicht zu befürchten. Preis- oder sonstige Abreden würden den Bestimmungen des Kartellgesetzes zuwiderlaufen. Im übrigen prüft der Bundesminister für Verkehr auf Grund des von der Bundesregierung
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966 843
Staatssekretär Dr. Seiermann beschlossenen „Verkehrspolitischen Programms", ob zur Verwirklichung einer optimalen Verkehrsbedienung Änderungen oder Ergänzungen der einschlägigen Gesetze erforderlich sind.
Herr Abgeordneter Strohmayr zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie sind also mit mir der Auffassung, daß die sogenannten Randgebiete des Verkehrs nach der Auflösung des Schienenverkehrs sowohl von der Bundesbahn auf der Straße als auch von anderen Verkehrsunternehmen im Flächenverkehr gleichzeitig bedient werden sollten, um Monopolbildungen und damit verbundene Kartellpreise zu vermeiden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin dieser Auffassung; aber ich habe nicht die Befürchtung, daß solche monopolistischen Bestrebungen auftreten oder sich gar durchsetzen könnten.
Herr Abgeordneter
Strohmayr zu einer weiteren Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesbahn bereit, nach der Auflösung des Frachtverkehrs auf einzelnen Nebenstrecken weiter auf der Straße den Frachtverkehr zu bedienen, damit einem monopolartigen Auftreten im Güterfernverkehr entgegengewirkt wird?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu dem letzten Halbsatz muß ich noch einmal sagen, daß nach unserer Meinung monopolistische Gefahren auch dann nicht bestehen, wenn die Bundesbahn aus irgendwelchen Gründen diesen Ersatzverkehr nicht selber übernehmen wollte. Mir ist aber bekannt, daß die Bundesbahn selbst großen Wert darauf legt, soweit es wirtschaftlich irgendwie vertretbar ist, den Ersatzverkehr zu übernehmen.
Herr Abgeordneter Schulze-Vorberg zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, aus Ihrer Antwort geht hervor, daß für die Stillegung dieser Strecken Fragen der Wirtschaftlichkeit entscheidend sind. Sind inzwischen wirklich solide Grundlagen für die Vergleichsberechnungen mit dem Straßenverkehr erarbeitet? Um ein Beispiel zu nennen: sind die Unfallfolgen auf den Straßen — die Kosten in den Unfallkrankenhäusern, die Renten usw. — mit berücksichtigt? Von dem menschlichen Elend Hunderttausender will ich hier gar nicht sprechen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, das wird natürlich alles mit berücksichtigt. Ich bitte aber, diese Gefahren nicht zu überschätzen. Nach den uns bisher zugeleiteten und auch entschiedenen Stilllegungsanträgen nach Maßgabe des Bundesbahngesetzes — solche Stillegungen sind ja nicht eine Sache von gestern und heute; sie werden schon seit Jahren, wenn auch in geringerem Umfange durchgeführt — haben wir festgestellt, daß die Bundesbahn sich erst dann zur Stillegung entschlossen hat, wenn bereits etwa 90 % des Verkehrs auf andere Verkehrsträger abgewandert waren.
Eine weitere Frage, Herr Abgeordneter Schulze-Vorberg.
Herr Staatssekretär, sind bei den Vergleichsberechnungen zwischen Schiene und Straße die Unfallfolgen berücksichtigt, die es auf der Straße in hunderttausendfacher Auflage gibt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Diese Folgen, Herr Abgeordneter, können Sie für eine bestimmte Strecke gar nicht von vornherein in Zahlen fassen; das ist ganz unmöglich. Selbstverständlich wird die Straßenlage berücksichtigt, und selbstverständlich ist sowohl der Bund als auch das Land, wenn es sich um eine Landstraße, um eine Staatsstraße handelt, bereit, erforderlichenfalls die Straße zu verbreitern oder zu verbessern, wenn mit einem etwas stärkeren Verkehr gerechnet werden muß.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Fellermaier.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht mit mir der Auffassung, daß, wenn sich die Bundesbahn aus der Fläche zurückzieht und die private Wirtschaft dort ausschließlich auf den privaten Nah- und Fernverkehr angewiesen ist, es auch dann, wenn kein Monopol droht, in den betroffenen Gebieten zu einer Frachterhöhung kommen kann?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, Sie dürfen überzeugt sein, daß die Bundesbahn, wenn sie sich aus der Fläche zurückzieht, dafür sorgen wird, daß sie nicht aus dem Fernverkehr ausscheidet. Sie hat die Möglichkeit, durch Vertragsabschlüsse mit Straßenverkehrsunternehmen die Zufuhr zu dem nächsten Knotenbahnhof sicherzustellen. Bei der derzeitigen Wettbewerbslage innerhalb des Straßengüterverkehrs glauben wir nicht, daß nennenwerte Verteuerungen eintreten. Es können natürlich Verteuerungen eintreten; aber schließlich ist es so, daß die Bundesbahn von der Kostenseite her gar nicht in der Lage ist, den Verkehr aufrechtzuerhalten.
Eine weitere Frage, Herr Abgeordneter Fellermaier.
Herr Staatssekretär, glauben Sie nicht, daß diese Gefahr gerade in der peripheren Lage droht — wie es in der Stellungnahme des
Metadaten/Kopzeile:
844 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966
FellermaierDeutschen Industrie- und Handelstages heißt —, weil sich die Bundesbahn dort eher zurückziehen wird?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe bereits zum Ausdruck gebracht, daß wir nach eingehender Prüfung dieser Frage die Befürchtung des Deutschen Industrie- und Handelstages nicht teilen. Ich bin aber gern bereit, mich mit dem Deutschen Industrie- und Handelstag in Verbindung zu setzen, um festzustellen, worauf sich diese Befürchtung stützt.
Frage IV/ 5 des Herrn Abgeordneten Fritsch :
Ist beabsichtigt, die Bundesbahnstrecken Zwiesel—Bodenmais, Zwiesel—Grafenau sowie Deggendorf—Kalteneck im Bereiche der Bundesbahndirektion einzuschränken oder stillzulegen?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, die von Ihnen genannten 3 Bundesbahnstrecken Zwiesel—Bodenmais, Zwiesel—Grafenau und DeggendorfKalteneck liegen im Zonenrandgebiet. Der besonderen Stellung dieses Gebietes wird stets Rechnung getragen, und die genannten Strecken stehen auch gegenwärtig für eine Einschränkung oder Stilllegung nicht zur Diskussion. Die Deutsche Bundesbahn muß sich aber auch hinsichtlich der in dem Zonenrandgebiet liegenden Strecken intern einen Überblick über die Wirtschaftlichkeit verschaffen.
Das geschieht insbesondere deshalb, weil ihr ein Ausgleichsanspruch gegen den Bund nach § 28 a des Bundesbahngesetzes zusteht, wenn sie veranlaßt wird, trotz Unwirtschaftlichkeit eine Strecke aus übergeordneten, insbesondere staatspolitischen, Gründen aufrechtzuerhalten.
Herr Abgeordneter Fritsch, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie erklären Sie sich dann in diesem Zusammenhang die Verlautbarung der Bundesbahndirektion Regensburg mit dem Inhalt, daß diese Strecken zur Stillegung anstehen — das hat eine ganz erhebliche Beunruhigung in der Bevölkerung ausgelöst —, wenn zunächst nur intern geprüft wird und keinerlei Vorstellungen hinsichtlich einer möglichen Stilllegung vorhanden sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kenne diese Verlautbarung der Bundesbahndirektion Regensburg nicht. Ich berufe mich auf das, was ich Ihnen verbindlich gesagt habe.
Eine weitere Frage, Herr Abgeordneter Fritsch.
Herr Staatssekretär, ist dann der Beschluß der Bundesregierung vom 14. Dezember 1964 nach wie vor für die Zonenrandgebiete anwendbar, wonach Stillegungen oder Einschränkungen der bestehenden Verkehrsverbindung nicht stattfinden und eventuelle Rückgänge in den Transportnotwendigkeiten nur Gegenstand interner Beratungen zwischen der Bundesbahn und den Ländern sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Hiernach wird verfahren.
Herr Abgeordneter Unertl zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, darf ich Ihre jetzt gegebene Antwort auch mit der beabsichtigten Auflösung bzw. Verlegung des Maschinenamtes in Passau in Zusammenhang bringen; ist der bereits öffentlich diskutierte Termin 1. 7. 1966 richtig oder noch zu früh, und wie vereinbart sich dieses Vorhaben der Bundesbahndirektion Regensburg mit der Grenzlandpolitik der Bundesregierung?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich glaube, dabei handelt es sich um einen etwas anders gelagerten Fall, um eine interne Organisationsmaßnahme der Bundesbahn, die nach meiner Erinnerung nicht der Zustimmung des Bundesverkehrsministers bedarf. Ich will mich aber gern — ich kenne den Vorfall nicht — mit der Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbahn in Verbindung setzen und feststellen, welche Bewandtnis es mit dieser Sache hat.
Es handelt sich also um eine gemeinsame niederbayerische Sorge.
Deshalb war die Frage zulässig.
Frage IV/ 6 des Herrn Abgeordneten Fritsch:
Besteht nach Auffassung der Bundesregierung noch das Bedürfnis, Luftreklame, insbesondere in Form von Reklameflügen, zuzulassen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Beurteilung der Frage, ob noch ein Bedürfnis für Reklameflüge besteht, ist die Bundesregierung, Herr Abgeordneter, nicht berufen. Diese volkswirtschaftliche Frage kann im wesentlichen nur von den interessierten Wirtschaftskreisen beantwortet werden. Die gleiche Auskunft ist von meinem Hause auch im Dezember vorigen Jahres auf eine entsprechende Anfrage hier in der Fragestunde bereits gegeben worden.
Das in § 9 der Luftverkehrs-Ordnung geregelte Erlaubnisverfahren für Reklameflüge obliegt den Luftfahrtbehörden der Länder, wobei vor allem dem Anspruch der Bevölkerung auf weitgehende Herabsetzung des Motorlärms durch örtliche und gebietliche Beschränkungen sowie durch Festsetzung von Flughöhen Rechnung zu tragen ist. Eine Bedürfnisprüfung ist innerhalb des Erlaubnisverfahrens nicht zulässig.
Herr Abgeordneter Fritsch zu einer Zusatzfrage.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966 845
Herr Staatssekretär, ist nicht ganz allgemein festzustellen, daß es sich beim Schutz der Bevölkerung vor Lärm und auch vor optischer Belästigung um allgemeinschutzwürdige Güter handelt, die zu schützen sicher auch Gegenstand dieser Überlegungen sein sollte, und wären Sie nicht bereit, mit den Ländern diesbezügliche Überlegungen anzustellen, ob man nicht diese Form der Reklame — da wir ja genügend von Reklame belästigt werden — einstellen oder noch weiteren Einschränkungen unterwerfen könnte?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, die Reklameflüge sind bereits sehr weitgehenden rechtlichen Beschränkungen allgemeiner Art unterworfen. Zusätzlich gibt es Beschränkungen in den einzelnen Ländern für einzelne Regionen. Hierfür besteht eine besondere Bekanntmachung, die in dem Nachrichtenblatt für Luftfahrer vom 2. Dezember 1965 veröffentlicht ist. Dort sind diese Beschränkungen auf drei oder vier Druckseiten im einzelnen zusammengestellt. Ich bin gern bereit, Sie durch Übersendung eines Blattes darüber zu unterrichten.
Zu einer weiteren Zusatzfrage Herr Abgeordneter Fritsch.
Herr Staatssekretär, glauben Sie nicht, daß die Frage der Einstellung derartiger Reklameflüge auch ein Problem der Luftsicherheit ist, nachdem im vorigen Jahr bei Boppard ein Zusammenstoß zwischen einem Militärflugzeug und einem Reklameflugzeug stattgefunden hat, bei dem das Reklameflugzeug abgestürzt ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, die Frage der Sicherheit ist bei Erlaß dieser gesetzlichen Bestimmungen sehr eingehend geprüft worden, und es ist auch ein genau präzisiertes Verfahren vorgesehen, in dem man geregelt hat, was geschehen muß, wenn ein solcher Unfall — zum Beispiel mit einem Werbeballon — vorkommt.
Nach meiner Kenntnis der Dinge ist ein solcher Unfall nur einmal passiert, und zwar weil ein Tau gerissen war. Aber in diesem Fall hat sich auch erwiesen, daß das, was in den Sicherheitsbestimmungen vorgesehen ist — nämlich sofortige Benachrichtigung der zuständigen Aufsichtsstelle usw. —, geklappt hat und keine weitere Gefährdung eingetreten ist.
Ich rufe die Fragen IV/7, 8 und 9 des Herrn Abgeordneten Dr. Jahn auf:
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um der Fluktuation der Mitarbeiter in der Deutschen Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt in Braunschweig, die im letzten Jahr bei rund 25 % lag, entgegenzuwirken?
Ist die Bundesregierung bereit, Wissenschaftlern und Technikern der Deutschen Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt ähnliche Zulagen zu geben, wie sie die Angehörigen der deutschen Kernforschungsanstalten erhalten?
Wird die Bundesregierung bereit sein, eine Lohnangleichung der Arbeitskräfte in der Deutschen Forschungsanstalt für Luft-und Raumfahrt anzustreben, um die 14 bis 38%ige geringere
Entlohnung gegenüber den Löhnen in der deutschen Industrie auszugleichen und damit die Forschungs- und Arbeitsfähigkeit der Anstalt zu sichern?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, wegen des Sachzusammenhangs beantworte ich die drei Fragen des Herrn Abgeordneten Dr. Jahn gemeinsam.
Eine gleiche Anfrage, Herr Abgeordneter, wurde von meinem Minister bereits in der Fragestunde am 26. November 1965 auf eine Anfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Müller beantwortet.
Ich beantworte Ihre Frage nicht allein für die Deutsche Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt, sondern auch für die Deutsche Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt und die Aerodynamische Versuchsanstalt Göttingen, die in der Deutschen Gesellschaft für Flugwissenschaften zusammengeschlossen sind.
Um der Abwanderung der Wissenschaftler aus den genannten Anstalten entgegenzuwirken, wird mit Wirkung vom 1. Februar 1966 die Zulagenregelung der Kernforschung auch bei der Deutschen Gesellschaft für Flugwissenschaften und die ihr angeschlossenen Forschungsanstalten eingeführt. Diese Regelung gilt auch für die Lohnempfänger.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Jahn .
Herr Staatssekretär, halten Sie, da damit zu rechnen ist, daß sich bei dem jetzigen Zustand und auch bei dieser Zulage in vier ibis fünf Jahren trotzdem eine erhebliche Wanderung der Forscher und Wissenschaftler und des technischen Personals vollziehen wird, es nicht für notwendig, einen Sondertarif für die hochschulfreie Forschung und besonders auch für die hochschulfreien Institute einzuführen? Ich möchte die Bemerkung anfügen, daß es sich bei allen anderen hochschulfreien Instituten ja auch um einen Kreis von 5000 Wissenschaftlern handelt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich bin durchaus Ihrer Auffassung, daß es sich bei dieser Regelung, die ich genannt habe und die am 1. Februar in Kraft tritt, nur um eine Zwischenlösung handelt. Wie Sie wissen, hat die Frage der Besoldung der Wissenschaftler und der Forscher das Kabinett bereits wiederholt beschäftigt, und esbefaßt sich zur Zeit ein interministerieller Arbeitsstab damit, Vorschläge auszuarbeiten, um die von Ihnen und mir gewünschten Ziele anzusteuern.
Zu einer Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schmidt .
Herr Staatssekretär, welches sind die Ursachen dieser außerordentlichen Fluktuation in der Deutschen Forschungsanstalt für Luftfahrt? Sie dürfte mit über 25 % weit über dem Durchschnitt liegen.
Metadaten/Kopzeile:
846 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich habe mich über diese Frage vor etwa zwei bis drei Wochen mit den Vorstandsmitgliedern der Deutschen Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt sehr eingehend unterhalten. Es ist so, daß diese Fluktuation verschiedene Gründe hat. Sowohl die Leitungen der Institute wie die Bundesregierung sind sich aber darüber 'einig, daß auf dem von der Bundesregierung angestrebten Wege einer Sonderregelung für die Besoldung der Wissenschaftler und Forscher eine entsprechende Abhilfe geschaffen werden kann.
Ich rufe die Frage IV/ 10 des Abgeordneten Prochazka auf:
Wie hoch war die Zahl der Unfälle an den unbeschrankten Bahnübergängen in der Bundesrepublik im Jahre 1965?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, an den technisch nicht gesicherten Bahnübergängen der Deutschen Bundesbahn ereigneten sich im Jahre 1965 insgesamt 401 Unfälle. Bei den nichtbundeseigenen Eisenbahnen wird in der Statistik nicht nach technisch gesicherten und technisch nicht gesicherten Bahnübergängen unterschieden. In der Zeit von Januar bis November 1965 — die Angaben für den Monat Dezember liegen hier noch nicht vor — ereigneten sich auf diesem gesamten Streckennetz insgesamt 101 Unfälle an Bahnübergängen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Prochazka.
Herr Staatssekretär, welche weitergehenden Sicherheitsvorkehrungen gedenkt die Bundesregierung zu treffen, um die sich ständig wiederholenden schweren Unfälle auf ein Minimum herabzudrücken?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, die Bundesbahn ist ständig bemüht, die Zahl dieser Unfälle dadurch zu vermindern, daß entweder Übergänge beseitigt werden oder daß das Sicherungssystem, sei es durch Blinklichtanlagen, sei es durch Blinklichtanlagen mit Halbschranken, verstärkt wird. Wir können zu unserer Beruhigung — wenn man bei diesen Zahlen überhaupt von Beruhigung sprechen kann — auch feststellen, daß die Unfallhäufigkeit an den Bahnübergängen nicht mit der ständigen Zunahme des Straßenverkehrs und der Zahl der Straßenfahrzeuge Schritt hält, sondern trotz dieser Zunahme des Straßenverkehrs in einem bestimmten Rahmen gehalten werden kann. Ich darf Ihnen sagen, Herr Abgeordneter, daß in den letzten zehn Jahren im Durchschnitt gerechnet täglich zwei Übergänge aufgehoben werden konnten.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Schulze-Vorberg.
Herr Staatssekretär, darf ich im Anschluß an meine Fragen von vorhin diesmal von der anderen Seite noch einmal generell fragen: Sind die Unfallfolgen, die zwangsläufig in Milliardenbeträge gehen müssen, bei dem Kostenvergleich Ihres Ministeriums zwischen Schiene und Straße berücksichtigt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie werden gewertet.
Sind sie zahlenmäßig berücksichtigt, Herr Staatssekretär?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, es streiten sich die Gelehrten, wie man das Leben eines Menschen in Zahlen ausdrücken soll. Darum sage ich Ihnen: es wird gewertet.
. Vizepräsident Dr. Dehler: Eine weitere Frage, Herr Abgeordneter Schulze-Vorberg.
Verzeihen Sie, Herr Staatssekretär, ich meinte nicht das Leben, sondern die Unfallfolgen, die berechenbar sind, seien es Rentenzahlungen, Krankenhauskosten usw. Ist das bei dem Kostenvergleich zwischen Schiene und Straße berücksichtigt, ja oder nein?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das wird berücksichtigt.
Ich rufe die Frage IV/ 11 des Abgeordneten Prochazka auf:
Wann kann mit dem vierspurigen Ausbau der stark frequentierten Autobahn München—Salzburg im Bereich des gefährlichen Streckenabschnitts Irschenberg gerechnet werden?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, da bekanntlich alle Bundesautobahnen vierspurig ausgebaut sind, darf ich Ihre Frage so verstehen, daß Sie an den Bau von zusätzlichen Kriechspuren denken. Eine solche Maßnahme ist im Bereich des Streckenabschnittes Irschenberg vorgesehen. Hier sollen im Laufe des dritten Vierjahresplanes Kriechspuren für den langsamen Lastverkehr angelegt werden.
Keine Zusatzfrage? — Dann rufe ich die Frage IV/ 12 des Abgeordneten Dr. Müller auf:
Welchen Beitrag gedenkt die Bundesregierung zum Ausbau der deutschen Verkehrsflughäfen zu leisten?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich darf zunächst um Verständnis dafür bitten, daß ich Ihre sehr allgemein gehaltene Frage auch nur allgemein beantworten kann. Von den zehn deutschen Verkehrsflughäfen ist der Bund bei drei Flughäfen als Gesellschafter oder Aktionär beteiligt, nämlich in Frankfurt, Berlin und Köln/Bonn; aus drei kleineren Gesellschaften ist die Bundesregierung mit Zu-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966 847
Staatssekretär Dr. Seiermannstimmung des Bundestages im Begriff endgültig auszuscheiden. Die Finanzierung des Ausbauprogramms wird jährlich bestimmt. 1966 sind hierfür anteilsmäßig vom Bund rund 16,4 Millionen DM im Entwurf des Haushalts enthalten.Auch für den Flugwetterdienst wird das Programm jährlich festgestellt und durch Bundesmittel ermöglicht.Für die Flugsicherung ist für die neun Verkehrsflughäfen der Bundesrepublik ein Zehnjahresprogramm festgelegt worden, über dessen Einzelheiten im Vorjahr auch sehr eingehend im Bulletin der Bundesregierung berichtet wurde.
Eine Zusatzfrage. Bitte, Herr Abgeordneter Dr. Müller.
Herr Staatssekretär, ist beabsichtigt, daß der Bund — abgesehen von den drei Gesellschaften, an denen er bereits beteiligt ist — noch weiteren Gesellschaften beitritt, oder ist die umgekehrte Tendenz vorherrschend, auch aus diesen drei eventuell noch auszuscheiden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, beide Fragen werden entscheidend durch die Haushaltslage des Bundes bestimmt werden.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Dr. Müller.
Glauben Sie nicht, daß nicht nur die Haushaltslage, sondern auch der Stand der Zivilluftfahrt in der Bundesrepublik dafür maßgebend sein sollte, wo sich der Bund beteiligt und wo nicht?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, die Errichtung und Unterhaltung von Flughäfen ist in erster Linie Sache der Länder, die sich dieser Aufgabe ja auch rechtzeitig, zum Teil im Benehmen mit den Gemeinden, angenommen haben. Die Aufgabe des Bundes liegt in erster Linie bei der Sicherstellung der Flugsicherung und bei der Sicherstellung des Flugwetterdienstes. Dieser Aufgabe wird sich der Bund auch in Zukunft in vollem Umfange unterziehen.
Damit sind wir am Ende der heutigen Fragestunde. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Ich rufe den Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Beratung des Zweiten Jahresgutachtens des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sowie der Stellungnahme der Bundesregierung zu dem Zweiten Jahresgutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
— Drucksachen V/123, V/127 —
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Wirtschaft
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Sachverständigen zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung — Professor Bauer, Staatssekretär a. D. Dr. Binder, Professor Giersch, Staatsminister a. D. Dr. Koch und Professor Meyer — haben Mitte November 1965 ihr Zweites Jahresgutachten der Bundesregierung zugeleitet. Sie haben es danach zum frühestmöglichen Termin — das heißt, nach Abschluß der verlegerischen Arbeiten — veröffentlicht. Die Bundesregierung ermöglichte diese frühe Veröffentlichung durch Verzicht auf die im Gesetz genannte Acht-Wochen-Frist. Sie gab ihre Stellungnahme bereits am 15. Dezember bekannt.Mehrere Indiskretionen hatten zu einer vorzeitigen Bekanntgabe von Teilen des Gutachtens geführt. Diese und andere Umstände begünstigten eine Politisierung des Gutachtens, die nach dem Willen des Gesetzes auf jeden Fall vermieden werden sollte. Keine politische und auch keine wirtschaftliche Gruppe darf das Gutachten für sich . reklamieren oder es zu einer Fundgrube der Polemik erniedrigen. Wer offen und kritisch gegen sich selbst und andere, wer ohne Rücksicht auf Lob und Tadel das Gutachten liest, wird feststellen, daß die Aufforderung, gleichmäßig und gleichzeitig zu handeln, ausnahmslos an jeden gerichtet ist. Mit anderen Worten: Bei gleichzeitigem und gleichmäßigem Handeln sollte gerade verhindert werden, daß der eine sich mit dem Schuldhinweis auf den anderen exkulpiert. An die Stelle des bisher üblichen und üblen Schwarze-Peter-Spiels sollte die gemeinsame Aktion treten.Die Regierung hat diesen Gedanken, der sich mit ihren eigenen Überlegungen trifft, sofort aufgenommen und entsprechend gehandelt. Wenn der eine oder der andere glaubt, daß er, bevor er sich zu diesem Konzept nicht nur theoretisch, sondern auch tatsächlich bekennt, seine Kritik zum Beweis der eigenen Klugheit vorbringen soll, so mag er das tun. Entscheidend ist, daß in der Sache selbst alle gleichmäßig und gleichzeitig mitmachen.Meine Damen und Herren, es ist besonders erfreulich, daß der Appell zur Stabilität in unserem Volke ein starkes Echo gefunden hat. Die öffentliche Meinung ist der mächtigste Bundesgenosse im Kampf um die Stabilität. Das ist nicht zuletzt ein Erfolg des Sachverständigenrates. Dafür möchte ich ihm gerade vor diesem Hohen Hause den Dank der Bundesregierung aussprechen. Ich wiederhole gleichzeitig den Dank an die Sachverständigen für ihre gesamte Arbeit.In diesen Dank möchte ich den Wissenschaftlichen Beirat meines Hauses einschließen, der vor einigen Tagen ebenfalls ein Gutachten zur Stabilisierungspolitik vorgelegt hat. Da ich bei diesem Gutachten
Metadaten/Kopzeile:
848 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966
Bundesminister Schmücker für die Veröffentlichung zuständig bin, habe ich es sofort freigegeben.Das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats bekräftigt die Notwendigkeit der kurzfristig wirksamen Stabilisierungsmaßnahmen des Staates. Es wendet sich klar gegen die These, daß eine solche Stabilitätspolitik das Wachstum der Wirtschaft beeinträchtige. Das Gutachten weist außerdem auf die Gefahr von kurzfristigen Indexklauseln hin. Es sagt wörtlich:Gefährlich ist es, wenn derartige Klauseln in kurzfristige Vereinbarungen Eingang finden und dazu dienen sollen, Paritätsforderungen zu verwirklichen. Je mehr ein solches indexorientiertes Verhalten die schnelle Anpassung einzelner Preise und einzelner Lohnsätze an das allgemeine Preisniveau bewirkt, um so stärker wird der Inflationsprozeß vorangetrieben.Für die langfristige Stabilitätspolitik unterstreicht der Wissenschaftliche Beirat erneut die Bedeutung der regionalen und sektoralen Strukturpolitik sowie einer konjunktur- und wachstumsgerechten Haushalts- und Finanzpolitik. Er spricht sich dabei für die von der Bundesregierung aufgenommene Überprüfung und den Abbau der Subventionen aus. Steuererhöhungen hält er dann für unumgänglich, wenn der Weg über die Ausgabenkürzung nicht zum Erfolg führt. Für die Regierung ist klar, daß sie die erste Alternative anstrebt; denn auch sie will Steuererhöhungen vermeiden.Das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats zeigt, daß der Weg, auf dem wir uns befinden, richtig ist. Diese Feststellung gilt aber auch für das Gutachten des Sachverständigenrates, dessen generelle Zielrichtung ich akzeptiere. Auch wenn Bundesregierung und Parlament bei der Kritik in diesem Gutachten des Sachverständigenrates nicht gerade gut weggekommen sind, so stehe ich nicht an, zu erklären, daß ich einen Großteil dieser Kritik für berechtigt halte. Diese Feststellung bedeutet jedoch keine uneingeschränkte Zustimmung zu allen Details. Widersprechen möchte ich vor allem der ungleichen Verteilung der Kritik. Doch das ist mir am heutigen Tage keine wichtige Sache mehr. Mir kommt es vielmehr darauf an, hier im Hause die Unterstützung für die Stabilisierungspolitik der Bundesregierung zu finden. Die Bundesregierung braucht diese Unterstützung, damit ihr Appell in allen Bereichen der Wirtschaft Gehör findet. Denn die Wirtschaft ist in Selbstverwaltung und in freier persönlicher Verantwortung für Erfolg oder Mißerfolg der Stabilisierung in gleicher Weise mitbestimmend wie Bund, Länder und Gemeinden.Seit der Abfassung des Gutachtens sind mehr als drei Monate vergangen. In dieser Zeit haben sich wichtige Konjunkturdaten verändert. Die Unberechenbarkeit der wirtschaftlichen Entwicklung hat damit erneut viel Wasser in den Wein der zahlengläubigen Anhänger von Prognosen und Zahlenspielen gegossen. Eine frühere Debatte wäre fraglos zweckmäßiger gewesen, und wir sollten sie das nächstemal erreichen. Aber der Zeitverzug hat auch seine Vorteile. Er zeigt sehr deutlich die Vorläufigkeit und den begrenzten Aussagewert von Zahlen und Ziffern, und er verweist uns immer wieder auf die wesentlichen Fragen. Zahlen dürfen nicht zur Sache selbst gemacht werden, auch wenn sich mit ihnen noch so trefflich streiten läßt. Sie sind ohne Zweifel wichtige Hilfen für die Erkenntnis, aber sie sind noch keine Anweisungen zum Handeln. Politik ist eben mehr als das Ablesen vom Rechenschieber. Diese Vorsicht gilt natürlich auch gegenüber den heutigen Zahlen, wenn diese auch der Wirklichkeit des Jahres 1966 schon näherkommen dürften.Im wesentlichen sind es drei Punkte, in denen das Zahlenwerk des Gutachtens inzwischen einer gewissen Korrektur bedarf.Erstens. Nach dem heutigen Stand der Konjunkturbeobachtung müssen wir für 1966 mit einer geringeren Zuwachsrate des realen Sozialprodukts als 4 % rechnen. Bei den Investitionen dürfen wir statt 8% Zuwachs nur etwa 5 bis 6 % annehmen. Das deutliche Abbröckeln der Investitionen in den letzten Monaten setzte ein unübersehbares Zeichen. Mit diesen Ziffern ändern sich natürlich auch die wirtschaftlichen Möglichkeiten und die wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Es geht nicht an, daß nur derjenige von den Änderungen Notiz nimmt, dem sie ins Konzept passen, und die übrigen so tun, als hätte sich nichts gewandelt. Aber ich sagte schon: Mir kommt es gar nicht auf die Anerkennung von Komma-Stellen an, mir ist die Bereitschaft zur Anpassung an die wirtschaftlichen Tatbestände die Hauptsache. Und an der Notwendigkeit der Anpassung in Richtung auf Stabilität hat die Entwicklung seit Erstellung des Gutachtens nichts geändert.Zweitens. Die Preisentwicklung dürfte bei normalen Witterungsverhältnissen voraussichtlich etwas günstiger ausfallen als bisher angenommen. Der beträchtliche Preisanstieg im Ernährungsbereich war im Jahre 1965 zum großen Teil das Ergebnis außerordentlicher Verhältnisse, ohne daß übrigens der Einkommensausfall der Landwirtschaft ausgeglichen worden wäre. Wir sollten uns auch darüber im klaren sein, daß die Preisentwicklung in manchen Bereichen — vor allem in der Wohnungswirtschaft und bei manchen Dienstleistungen — ein Angleichungsprozeß ist. Wir können nicht dauerhaft die Preise in diesen Bereichen durch öffentliche Subventionen stützen oder die Last einzelnen Gruppen aufbürden. Subventionen verfälschen nicht nur die Preise, sondern auch den Index.Drittens. Der Jahresabschluß hat in der außenwirtschaftlichen Entwicklung eine leichte Besserung gebracht, so daß das Schlußergebnis für 1965 doch günstiger ist als erwartet.Darüber hinaus, meine Damen und Herren, gibt es noch eine vierte Veränderung, die allerdings nicht die Zahlen des Gutachtens, sondern einige Prognosen betrifft. Ich meine das Haushaltsdefizit von 1965, das mit 700 Millionen DM wesentlich geringer ausgefallen ist, als es noch in der Debatte zur Regierungserklärung geweissagt worden war. Auch wenn Sie es damals nicht glauben wollten, Herr Schiller, aus der von Ihnen zitierten elfprozen-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966
$49
Bundesminister Schmücker tigen Steigerung der Bundesausgaben in den ersten zehn Monaten ist für das ganze Jahr 1965 „nur" — aber das setze ich in Anführungsstriche — ein Anstieg von rund 8 % geworden. Die über die Begrenzung der Betriebsmittel-Zuweisungen geführte Konjunkturbremse hat bedeutend besser gegriffen, als die Herbst-Kritiker es wahrhaben wollten.Diese vier Veränderungen, meine Damen und Herren, sind wichtig, aber sie machen die Stabilisierungsaufgabe nicht weniger dringlich. Im Gegenteil, das Zusammentreffen des Investitionsrückgangs mit einer Welle von Lohn- und Arbeitszeitforderungen zeigt deutlich die drohende Gefahr: Rückgang des Wachstums bei steigenden Kosten und damit die Gefahr einer Stagnation ohne Beendigung des Preisanstiegs. Was eine solche Entwicklung für die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft bedeuten würde, liegt auf der Hand. Wir müssen immer mehr erkennen, daß nicht nur Angebot und Nachfrage von Bedeutung sind, sondern daß es in unserer Lage auch auf die Entwicklung der Kosten ankommt. Das Ziel „Stabilisierung ohne Stagnation" kann nur dann erreicht werden, wenn der Abbau der Übernachfrage begleitet wird von einer Beendigung des Kostenanstiegs.Hier entsteht eine gemeinsame Aufgabe, die nicht vom Staat allein, sondern nur von allen Beteiligten gemeinsam durch ein gleichzeitiges und gleichmäßiges konjunkturgerechtes Verhalten erreicht werden kann. Wir müssen alle miteinander an dieser Aufgabe arbeiten, ohne Verzug und ohne Ausnahme, ) aber auch ohne Festlegung auf ein detailliertes Zahlenwerk. Ich stimme dabei mit dem Sachverständigenrat darin überein, daß der Staat — und dafür sind sowohl die Regierung als auch das Parlament verantwortlich — ein gutes Beispiel zu geben hat.Ich meine aber auch, daß deutlich — und gerade in diesem Hohen Hause — gesagt werden muß: der Staat ist mehr als eine Wirtschaftsvereinigung oder Interessengruppe.
Die Bundesrepublik darf auch in einer Konjunkturdebatte nicht zu einem Zweckverband herabgestuft werden.
Was der Bund und was auch Länder und Gemeinden tun und unterlassen, bestimmt die Zukunft aller, geistig, ideell und materiell. Darum ist es auch nicht erlaubt, die Ausgaben für Wissenschaft und Bildung, für Sozialinvestitionen, für die Regionalpolitik und dergleichen um der Erzielung erstrebenswerter Etatziffern willen mit weniger wichtigen Posten gleichzusetzen.Aber diese Feststellung — und dieses Bekenntnis zur Politik — enthebt uns natürlich nicht der Aufgabe, den höheren Aufgaben eine solide wirtschaftliche Basis zu geben. Mit anderen Worten, das benötigte Geld kann nicht irgendwie und irgendwoher beschafft werden, es kann nur durch anderweitigen Verzicht oder durch Mehrleistung erbracht werden.Genau hier ist der Punkt, und wer an diesem Punkte paßt, der inflationiert. Da helfen keine Zahlentricks, keine Klagen gegen gestern und keine Unkenrufe gegen morgen. Hier muß mit Titel und Summe ganz einfach und nichts als gerechnet werden.Ich möchte auch noch ein Wort zu einer vor allem außerhalb dieses Hauses verbreiteten Rede sagen. Die Versammlungserfahrungen und Presselektüre zeigen, daß die öffentlichen Haushalte unter der Überschrift „Bürokratische Aufwendigkeit" gern und beifallssicher zerfetzt werden. Dabei machen die Kosten für Parlament und Verwaltung nur einen geringen Bruchteil der öffentlichen Ausgaben aus. Die Öffentlichkeit sollte erkennen, daß in diesem Bereich Sparsamkeit nicht erst jetzt entdeckt worden ist. Was ich heute als Wirtschaftsminister vielen meiner Mitarbeiter beispielsweise an Arbeitsräumen in früheren Waffen- und Kleiderkammern unter dem Kasernendach zumuten muß, würde ich als Unternehmer allenfalls als Lager für unempfindliche Waren akzeptieren, aber als Aufenthaltsraum ablehnen. Wahrscheinlich würde ich sonst auch Krach mit der Gewerbeaufsicht bekommen. Ich wiederhole: die Öffentlichkeit sollte anerkennen, daß im Bereich der öffentlichen Verwaltung Sparsamkeit nicht erst jetzt entdeckt worden ist.
— Das gilt für uns alle. Ich habe mich bemüht, Herr Kollege Möller, herauszustellen: gleichzeitig, gleichmäßig, alle sind angesprochen.Das geforderte Beispiel hat die Bundesregierung mit der Haushaltsvorlage 1966 in einem Maße gegeben, wie es viele Kritiker nicht für möglich gehalten haben. Es kommt nicht von ungefähr, wenn man heute in der Auslandspresse bereits mit Respekt von einem großen deutschen Stabilisierungserfolg spricht und die ausländische Wirtschaft entsprechend disponiert.Die Begrenzung des Haushalts auf 69,1 Milliarden ergibt politisch eine gute Basis. Es wäre ein zusätzlicher und der Stabilität zugute kommender Erfolg, wenn das Hohe Haus noch weitere Kürzungen von einigen 100 Millionen DM durchsetzen könnte. Ich wiederhole, Kürzungen von einigen 100 Millionen, aber nicht Milliarden. Denn das andere Extrem könnte uns ebensosehr gefährlich werden. Wer heute Kürzungen von einigen Milliarden vorschlägt, der unterschätzt die Empfindlichkeit der Konjunktur. Derartige Kürzungen könnten doch sehr leicht zu einer Bruchlandung führen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle noch ein Wort zu dem mehrfach kritisierten Vergleich des Soll-Ansatzes für 1966 mit den IstAusgaben für 1965 sagen. Dieser Vergleich ist weder ein Kunstgriff noch ein Taschenspielertrick. Er ist vielmehr der wirtschafts- und konjunkturpolitisch allein aussagekräftige Vergleich. Für die Wirtschaft und damit für die Konjunktur ist nicht mehr so sehr entscheidend, was im Haushalt 1965 veranschlagt gewesen ist. Ausschlag-
Metadaten/Kopzeile:
850 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966
Bundesminister Schmückergebend ist jetzt das, was wirklich ausgegeben wurde. Ein Etat wird doch sofort wirksam, und nach dem Ablauf kann man ihn nicht ungeschehen machen. Die Soll-Soll-Rechnung ist Plan-Denken ohne Anpassung an die Realitäten. Derartiges Planen halte ich für gefährlich, ich möchte davor warnen. Was wir aber tun können und tun müssen, ist, wachsam und kritisch die Haushaltsentwicklung 1966 zu beobachten. Es muß das Soll 1966 zum Ist gemacht werden. Und jede Kritik, die das unterstützt oder gar erzwingt, ist willkommen.Im übrigen kommt es bei der ökonomischen Wirkung des Haushalts keineswegs nur auf das Volumen an. Zumindest ebenso wichtig ist die Art der Ausgaben und Einnahmen. Die im Haushalt 1966 vorgenommene Umstrukturierung der Ausgaben ist in ihrer konjunkturellen Auswirkung gleichbedeutend mit einer erheblichen weiteren Kürzung. Schuldenrückzahlung bedeutet ebenso Kaufkraftentzug wie eine Kürzung der Zinssubventionen, deren ökonomische Wirkung ja ein Vielfaches der Haushaltsausgabe ist.Die Regierung ist dabei, auch die übrigen Subventionen zu überprüfen und das entstandende Dickicht zu durchforsten. Hoffentlich werden dabei nicht zu viele Stabilisierungshelden müde, nämlich dann, wenn's an die eigene Kasse geht!
Die Kabinettsbeschlüsse zur Sanierung der Bundesbahn und der Bundespost haben gezeigt, daß dieBundesregierung den Mut zu ehrlichen und langfristig wirkenden Lösungen hat. Ein Verzicht auf die Erhöhung von Tarifen und Gebühren wäre nur ein Scheinbeitrag zur Stabilisierung gewesen. Subventionen können den ständigen Kostenanstieg im Dienstleistungsbereich nur verdecken, ihn aber nicht ausschalten. Was nutzt es, wenn die Tarife künstlich stabil gehalten werden, die Steuern und Abgaben dafür aber steigen?! Bezahlt werden muß auf jeden Fall, wenn nicht über den Preis, dann über die Staatskasse mit der Folge, daß der Gesundungsprozeß verzögert oder gar verhindert wird.Meine Damen und Herren! Koalition und Regierung haben mit der Verabschiedung des Haushaltssicherungsgesetzes und der Vorlage des Haushalts 1966 den Beweis erbracht, daß sie der Stabilität den Vorrang einräumen. Noch wissen wir nicht, wie sich die Opposition entscheidet. Ich möchte gern von ihr den Betrag wissen, den sie für angemessen hält. Sind Ihnen 69,1 Milliarden nun zu viel oder zu wenig? Und wenn Sie kürzen wollen, so müssen Sie konkret sagen, an welcher Stelle und um welchen Betrag! Wenn Sie mehr ausgeben wollen, brauchen Sie von mir aus die Titel noch nicht zu nennen, denen Sie es zuführen wollen, aber Sie müssen sagen, woher Sie das Geld zu nehmen gedenken.
Solange wir darauf von Ihnen keine klare und eindeutige Antwort bekommen, können wir auch keine Antwort geben.Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat ihren Vorschlag mit dem Haushalt 1966 auf denTisch gelegt. Die Bundesregierung ist dabei, die Vorschläge für die Erweiterung und Verbesserung des konjunkturpolitischen Instrumentariums im einzelnen auszuarbeiten. Die Debatte über das konjunkturpolitische Instrumentarium gibt jedoch der Entscheidung über den Etat keine Pause. Auch ein noch so vielfältiges Instrumentarium würde für die derzeitige Situation keine anderen Möglichkeiten bieten als die Kürzung der öffentlichen Ausgaben.Bei dem Ausbau des konjunkturpolitischen Instrumentariums werden wir jede Einseitigkeit vermeiden. Wir brauchen ein Instrumentarium, das nach beiden Seiten wirkt und das ebensosehr den Boom wie die Rezession zu verhindern hilft.Meine Damen und Herren! Es ist üblich, bildhaft davon zu sprechen, daß es weiter bergauf gehen soll. Man sorgt sich, daß es mal bergab gehen könnte. Ich meine, dieses Bild stimmt nicht mehr recht. Wir haben einen steilen Aufstieg hinter uns, aber nicht mehr vor uns. Wir gehen eher einen sanft ansteigenden Pfad, dessen Tücke darin besteht, daß wir nach beiden Seiten tief abrutschen können, — abrutschen in die deflationäre Stagnation oder in die inflationistische Hektik. Wir müssen uns also immer wieder zur Mitte hin orientieren. Und das ist fraglos schwieriger, als immer bergan zu marschieren. Wir brauchen neue, schnell und wirksam greifende Instrumente für die Konjunkturpolitik. Dafür gibt es eine lange Reihe von Möglichkeiten, die wir miteinander diskutieren werden. Ich will hier ohne Prüfung im einzelnen die unterschiedlichen Möglichkeiten aufzählen. Dabei möchte ich die geschäftsordnungsmäßigen Möglichkeiten dieses Hohen Hauses außer Betracht lassen.Zunächst die Möglichkeiten der Schaffung eines konjunkturpolitischen Instrumentariums in der Finanz- und Haushaltspolitik: Erstellung eines Finanzrahmens Bund/Länder/ Gemeinden mit Schuldenbegrenzung; Aufstellung mehrjähriger Finanzpläne insbesondere für den Baubereich und Investitionsprogramme bei möglichst allen öffentlichen Haushalten; Verpflichtung zur antizyklischen Ausführung der Haushaltspläne; Einführung eines modernen Abrechnungssystems, um schnelle und gründliche Klarheit über den Stand der öffentlichen Ausgaben und damit die Basis für Raffung und Streckung zu erhalten; Abstimmung der Investitionsprogramme von Bund und Ländern, insbesondere für den Baubereich — das Verwaltungsabkommen mit Nordrhein-Westfalen ist da ein überzeugendes Beispiel —; Verpflichtungen der Sozialversicherungsträger zu einer konjunkturgerechten Anlagepolitik; Bindung der öffentlichen Ausgaben an den Steuereingang; Schaffung einer Konjunkturausgleichsrücklage für Steuermehreinnahmen oder Verpflichtung zur Schuldentilgung bei der Notenbank; Ermächtigung der Bundesregierung zur begrenzten konjunkturpolitischen Variierung der Steuer- und Abschreibungssätze oder Verschiebung des Beginns der steuerlichen Abschreibungen; steuerfreie Investitionsrückstellungen mit Einlagepflicht bei der Bundesbank; zeitlich befristete Investitionsabgabe und Investitionszuschüsse.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966 851
Bundesminister SchmückerAuf dem Gebiet der Kreditpolitik: Koordinierung der öffentlichen Kreditaufnahme; Verbesserung der kreditpolitischen Instrumente der Bundesbank durch Abstimmung der öffentlichen Kassentransaktionen und der Aufnahme von Schuldscheindarlehen mit der Bundesbank; Einbeziehung der Sozialversicherungsträger in die Einlagepflicht bei der Bundesbank; Erweiterung der Möglichkeiten zur Offenmarktpolitik; Kreditlimitierung oder -plafondierung durch die Bundesbank; Heraufsetzung der Höchstgrenzen bei den Mindestreserven.Für den Bereich der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft möchte ich noch die Notwendigkeit einer Abstimmung in der Konjunktur- und Währungspolitik in Brüssel erwähnen sowie die Notwendigkeit einer anderen Handhabung der Zölle, vollständige Aussetzung der Zölle im EWG-Verkehr und die Vorsorge für schnellere Verordnungen und Entscheidungen in Brüssel bei starkem binnenländischem Preisauftrieb, insbesondere preisdämpfende Terminwahl bei saisonalen Einfuhrsperren.Meine Damen und Herren, Sie wissen wie ich: es gibt eine bunte Vielfalt von Möglichkeiten, aus denen wir zu wählen haben. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie hierzu Ihre Meinung äußerten, damit die Bundesregierung diese Meinung bei ihrer Beschlußfassung berücksichtigen kann.Das Kabinett hat den Bundesminister der Finanzen und den Bundesminister für Wirtschaft aufgefordert, bis zum 31. März dieses Jahres einen Gesetzesvorschlag vorzulegen. Dem wird entsprochen.Die Bundesregierung wird, nachdem das Finanzreform-Gutachten vorliegt, diese Fragen auch mit den Ländern erörtern. Nicht daß alle Instrumente auf die Finanzreform abgestimmt werden müßten, aber der Zusammenhang ist doch unbestritten. Ich bin sicher, daß die Länder sich den Erfordernissen einer wirksamen Konjunktur- und Stabilitätspolitik nicht verschließen. Die bisherigen Beratungen mit den Ministerpräsidenten und im Bundesrat haben das gezeigt. Es ist ein gutes Zeichen, wenn man in den Landtagen um die Kürzung der Haushalte wetteifert. So habe ich mit großem Interesse die Haushaltsdebatte in Nordrhein-Westfalen verfolgt, und ich werde gern die dortigen Argumente mit dem vergleichen, was hier heute und in unserer Haushaltsdebatte gesagt wird. Die Tatsachen aber, daß man um der Stabilität willen zur Reduzierung an sich berechtigter Wünsche bereit ist, zeigt deutlich die veränderte Situation.Alle Bemühungen in Bund und Ländern können aber nur dann Erfolg haben, meine Damen und Herren, wenn sie unterstützt werden von der Wirtschaft und den Tarifpartnern. Der Sachverständigenrat hat eine gemeinsame Aktion gefordert. Ich bejahe diese Forderung. Wir können die vielfältigen und vielschichtigen Probleme nur bewältigen, wenn wir nach allen Seiten hin das offene Gespräch suchen.Sie wissen, daß die Bundesregierung inzwischen mehrere Gespräche mit den Repräsentanten der großen Gruppen geführt hat. Es ist sicher richtig, daß wir bisher noch nicht über eine allgemeine Aussprache hinausgekommen sind. Aber, meineDamen und Herren, ich bin deswegen keineswegs enttäuscht. Es kommt doch zunächst darauf an, bei allen die Einsicht in die wirtschaftlichen Notwendigkeiten zu vertiefen und das Mißtrauen abzubauen. Wir haben eine Wirtschafts- und Sozialordnung mit freier Unternehmerentscheidung und Autonomie der Tarifpartner. Die lohn- und preispolitischen Entscheidungen können und sollen deshalb nicht in solchen Gesprächen gefällt werden. Hier können nur die Möglichkeiten und Konsequenzen aufgezeigt und besprochen werden. Bundesregierung und Sachverständigenrat haben in dem letzten großen Gespräch allen Beteiligten unsere gesamtwirtschaftliche Lage und ihre Gefahren deutlich vor Augen geführt. Niemand kann heute mehr behaupten, nicht genügend auf den Ernst der Situation und die Konsequenz weiterer Preis- und Kostensteigerungen hingewiesen worden zu sein. Dabei geht es nicht in erster Linie um Ziffern und Zahlen, denn damit allein wird nichts entschieden. Es geht um Einsichten und entsprechende Entscheidungen. Ich lege aber Wert auf folgende Feststellung: Die Bundesregierung lehnt quantitative Orientierungshilfen für Lohnentscheidungen ab, die eine Preissteigerungsrate vorwegnehmen. Die Übernahme solcher Leitlinien, wie der Sachverständigenrat sie vorgeschlagen hat, würde dem von ihm selbst verurteilten „Rechnen mit der Inflation" weiteren Vorschub leisten. Eine Inflationsrate würde sofort zur Untergrenze für alle Forderungen genommen werden, gleichgültig wie die Situation in dem jeweiligen Bereich auch aussehen mag. Der Erfolg der Stabilisierungsaktion wäre damit von vornherein zum Scheitern verurteilt. Im Ziel sind wir uns mit dem Sachverständigenrat vollends einig, aber wir sollten dieses Ziel direkt ansteuern und eine Orientierung aller — auch der Tarifpartner — an den realen Möglichkeiten fordern.In der Öffentlichkeit ist es manchmal so gedeutet worden, als habe der Sachverständigenrat die Gewerkschaften aus ihrer Mitverantwortung für die Stabilität weitgehend entlassen. Ich bin nicht dieser Meinung. Gewiß sind die Aussagen des Gutachtens über die Lohnpolitik der Gewerkschaften besonders vorsichtig und zurückhaltend formuliert. Aber es ist auch nicht jeder so unempfindlich gegenüber der Kritik, wie es die Bundesregierung sein muß. Nicht jeder hat eben die permanente Schule dieses Parlaments. Und nicht jeder, der gern kritisiert, läßt sich selber gern kritisieren.
Ich möchte hier klar herausstellen, daß Tarifautonomie und unternehmerische Freiheit — die beide ein unverzichtbares Stück unserer Demokratie sind — ein hohes Maß an Verantwortungsbewußtsein für das Ganze erfordern. Ohne Vernunft und Besinnung auf beiden Seiten ist der Weg in die Instabilität oder den gesetzlichen Zwang unausweichlich. Ich habe die Zuversicht, daß wir alle den Weg des vernünftigen Ausgleichs gehen.. Meine Damen und Herren! Die Entwicklung unserer Handels- und Zahlungsbilanz im vergangenen Jahr hat die außenwirtschaftliche Konsequenz des binnenwirtschaftlichen Ungleichgewichts deutlich
Metadaten/Kopzeile:
852 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966
Bundesminister Schmückergezeigt. Wenn man sich die einzelnen Posten unserer Zahlungsbilanz ansieht, so besteht kein Zweifel, daß ein Handelsbilanzüberschuß von 1,2 Milliarden DM für den Ausgleich der Zahlungsbilanz nicht ausreicht. Zum Ausgleich unserer — vor allem wegen der Auslandstouristik — strukturell defizitären Dienstleistungsbilanz und zum Ausgleich für die hohen Übertragungen der Gastarbeiter in ihre Heimatländer zur Sicherung des wirtschaftspolitisch notwendigen Kapitalexports und nicht zuletzt zur Sicherung der hohen gesamtpolitischen Leistungen brauchen wir einen Außenhandelsüberschuß beträchtlicher Größenordnung. Vorbedingung dafür ist eine leistungsstarke und eine bei stabilem Geldwert stetig expandierende deutsche Wirtschaft, die zu Hause und auf allen Märkten konkurrenzfähig ist.Den fünf Partnern der EWG ergeht es nicht anders. Die durch den Außenhandel erzwungene Arbeitsteilung wird in allen Ländern wechselnde — ich wiederhole: wechselnde — Spezialisierungen zur Folge haben. Ich warne aber davor, Erkenntnisse, die zu irgendeinem Zeitpunkt zu Recht gefunden worden sind, für unumstößlich zu halten. So halte ich beispielsweise die Vorstellung für überholt, daß Frankreichs EWG- Zukunft allein in der Agrarwirtschaft liege und Deutschland nur im industriellen Bereich Chancen habe. Frankreich macht bedeutende industrielle Anstrengungen, und es ist uns allen nicht entgangen, daß die deutsche Landwirtschaft bedeutende Fortschritte erzielt. Ich ziehe daraus die Schlußfolgerung, daß alle Staaten mit einer modernen Wirtschaft in einen liberalen Außenhandel drängen.Es ist darum auch falsch, die Kennedy-Runde für eine Art Steckenpferd der deutschen Wirtschaftspolitik zu halten. Nach meiner festen Überzeugung sind ausnahmslos alle Länder auf ein Gelingen dieser Konferenz angewiesen. Es wäre darum gut, wenn niemand sich einbilden würde, daß es bei der Kennedy-Runde etwa darum ginge, einem anderen Gefälligkeiten zu erweisen. Es geht um die Beseitigung der internationalen Handelshemmnisse; es geht damit um Vorteile für jeden. Ich hoffe sehr, daß dieser Standpunkt sich auch in Brüssel durchsetzen wird. Ich bin sehr dankbar dafür, daß alle Fraktionen des Deutschen Bundestages sich so nachdrücklich für ein Gelingen der Kennedy-Runde einsetzen, und ich hoffe sehr, daß diese Zustimmung auch dann durchgehalten wird, wenn es binnenwirtschaftlich vorübergehend Schwierigkeiten geben sollte.Gestern hat der EWG-Ausschuß für mittelfristige Wirtschaftspolitik seit dem 18. Juni 1965 erstmals wieder in voller Runde getagt. Er ist dabei, das erste Programm für die Zeit bis 1970 zu entwerfen. Die konjunktur- und währungspolitische Zusammenarbeit hatte in Brüssel bereits einen bedeutenden Platz gewonnen. Wir werden uns bemühen, dieser Zusammenarbeit möglichst schnell ihre überragende Bedeutung zurückzugeben. Die Verflechtung innerhalb der EWG hat zur Folge, daß die Entwicklungen des einen Landes schnell auf die Partnerländer übergreifen, und das gilt im Guten wie im Bösen. Darum ist die Koordinierung so vordringlich. Aber die sechs EWG-Partner sollten auch eine gemeinsame Linie in ihrer gesamten Handels- und Währungspolitik gegenüber Drittländern finden. Uns drohen zwar im Augenblick von der Außenwirtschaft her keine Gefahren für die Stabilität, aber das Bild kann sich sehr, sehr rasch wandeln.Ohne einen besonderen Schutz gegen den international wirkenden Inflationsbazillus können Stabilität und Geldwert auf die Dauer nicht gesichert werden. Die währungspolitischen Verhandlungen im Rahmen der Zehnergruppe haben eine wichtige Phase erreicht. Wir fragen uns, wie Ungleichgewichte in der Zahlungsbilanz vermieden oder wenigstens schneller beseitigt werden können.Wir dürfen aber nicht übersehen, daß es noch ein zweites Problem gibt, nämlich das der Ausweitung der internationalen Liquidität. Ob wir die Liquiditätsfrage für vorrangig halten oder nicht, ist zweitrangig. Das Thema steht auf der Tagesordnung, und wir müssen uns jetzt mit diesem Thema auseinandersetzen. Die zentrale wirtschaftspolitische Frage dabei ist: Wie können wir sicherstellen, daß die Welt von den Möglichkeiten, neue Währungsreserven zu beschaffen, einen weisen, zurückhaltenden Gebrauch macht? Vieles spricht dafür, die Antwort im Rahmen der bestehenden und bewährten internationalen Währungsinstitutionen zu suchen. Aber auch dieser Weg verlangt von allen Beteiligten ein hohes Maß an Disziplin. Das gilt auch für die festen Wechselkurse, an denen wir um der Integration und einer möglichst hohen Intensität der außenwirtschaftlichen Beziehungen willen festhalten.Wir wissen, daß ohne eine solche Disziplin unser Konzept in Gefahr gerät. Es bleibt uns also nur — ich wiederhole es — das unentwegte Bemühen um erfolgreiche internationale Anstrengungen. Es gibt leider keinen leichteren Weg, weil es keine große Einzelaktion gibt, die uns all die wünschenswerten Voraussetzungen auf einmal bescheren und bewahren könnte. Die Bundesregierung unterzieht sich dieser mühevollen Aufgabe und läßt sich durch Schwierigkeiten nicht entmutigen. Jahr um Jahr hat der Leitgedanke „Wirtschaftswachstum bei stabilen Verhältnissen" international mehr Anhänger gefunden. Die Bundesregierung ist sicher, daß der von ihr vertretene Leitgedanke ausnahmslos allen Ländern nützlich ist. Für unser eigenes Land erkennen wir fast jeden Tag aufs neue, daß Deutschlands Stärke in seiner Wirtschaft liegt. Entsprechend sollten wir handeln. Nur mit einer starken Wirtschaft, die Stabilität und Fortschritt sichert, können wir Politik machen.
Wir kommen jetzt zur Aussprache. Zur Geschäftsordnung hat der Herr Abgeordnete Dichgans das Wort erbeten.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Ich möchte in dieser Debatte nicht zur Sache sprechen, aber
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966 853
Dichgansgemäß § 39 der Geschäftsordnung folgendes beantragen: Erstens: der Präsident möge feststellen, wieviel Redezeit die einzelnen Redner für sich wünschen, und zweitens: auf Grund eines Vergleichs dieser Redewünsche mit der Zeit, die für die Debatte zur Verfügung steht, möge er eine Begrenzung der Redezeit vorschlagen,
Ich möchte zur Begründung folgendes sagen. Das Problem, wie man mit der Debatte verfährt, wie man die Redewünsche in der verfügbaren Gesamtzeit unterbringt, beschäftigt alle Parlamente der Welt. Sie wissen, daß der amerikanische Senat gelegentlich drei volle Wochen darüber debattiert, ob die Debatte abgebrochen werden soll; dieses Verfahren möchte ich nicht zur Nachahmung empfehlen. Andere Parlamente handeln weniger dramatisch, aber alle nehmen den Schluß der Debatte sehr ernst. Nur im Bundestag gibt es ein verblüffend einfaches Verfahren, das in der Welt ohne Beispiel ist, und dieses Verfahren sieht so aus: Zunächst läuft die Debatte in großer Breite mit Reden, die gelegentlich eine volle Stunde überschreiten. Zu einem bestimmten Zeitpunkt erfahren Abgeordnete, die sich Stunden vorher ordnungsgemäß zu Wort gemeldet haben, daß die Rednerliste erschöpft sei. Sie schließen daraus messerscharf, daß sie von der Rednerliste gestrichen sind,
3) und der gute Ton im Bundestag erfordert, daß der Kavalier in diesem Augenblick schweigt.
Gelegentlich werden die Redner auch vorher konsultiert; aber immer nur dann, wenn sie vorher völlig in die Ecke manövriert sind.
— Sicher in allen Fraktionen.
-- Das geschieht etwa an einem Freitagmittag um ein Viertel vor zwei Uhr, und um zu prophezeien: es wird morgen mittag um 14 Uhr wieder geschehen; man wird sagen, daß bei den Gebräuchen der Weiberfastnacht in Bonn der Präsident für Ihre persönliche Sicherheit nicht garantieren kann,
wenn Sie nach 2 Uhr noch das Wort ergreifen wollen. Das ist dann das Ende der Debatte, die Sense, die die Rednerliste abschneidet.Meine Damen und Herren, ich schlage Ihnen ein Verfahren vor, das sich im Europäischen Parlament seit Jahren bewährt hat. Wie sorgfältig man dieses Verfahren handhabt, mag Ihnen folgendes Beispiel zeigen. Wir hatten vor wenigen Wochen eine Debatte in Gegenwart des Ministerrates. Während der Debatte stellte sich heraus, daß der amtierendePräsident des Ministerrates, der luxemburgische Außenminister Werner, Straßburg vorzeitig verlassen mußte. Der amtierende Präsident, der holländische Sozialist Kapteyn, war der Meinung, es könne eine Art von Unfairneß sein, wenn ein Teil der Abgeordneten in Gegenwart des Präsidenten sprechen könne, andere dagegen erst nach seinem Fortgang zu Wort kämen.
— So streng sind dort die Sitten! Weil sich der Präsident Sorgen darüber machte, hat er den Rednern vorgeschlagen, ihre Ausführungen zu teilen. Ich bekam z. B. einen Zettel mit der Frage, ob ich bereit sei, meine Ausführungen zunächst auf sieben Minuten zu beschränken; der Präsident hatte es ganz genau ausgerechnet. Das wurde dann so gemacht, und so lief die Debatte auch.Meine Damen und Herren, trotz der Skepsis der Experten bin ich der Meinung, wir sollten hier auch etwas von dieser Fairneß für die Verteilung der Redezeiten einführen, die in allen anderen Parlamenten der Welt selbstverständlich ist. Ich möchte Ihnen vorschlagen, wir machen heute einmal einen Anfang damit. Ich kenne die Bedenken der Experten; aber es gehört zum Wesen der Experten, daß sie Bedenken haben.
Der Fortschritt beruht darauf, daß man gelegentlich auch die Bedenken der Experten überwindet. Bevor man das tut, muß man sich überlegen, welches Risiko mit einer solchen Maßnahme verbunden ist.Jetzt bitte ich Sie, mir in einer kleinen Kopfrechnung zu folgen. Es stehen uns für die Debatte nach dem Beschluß des Ältestenrats noch 9 Stunden zur Verfügung. Ich kann mir nicht vorstellen, daß mehr als 25 Kollegen in dieser Debatte reden wollen. Wenn man noch großzügig eine Reserve von 10 Kollegen für Fragen vorsieht, die überraschend auftauchen, haben wir möglicherweise 35 Redner. Wenn Sie nun mit mir die zur Verfügung stehende Zeit dividieren, werden Sie feststellen, daß dann für jeden Redner 15 Minuten zur Verfügung stehen. Meine Damen und Herren, wäre das wirklich ein nationales Unglück, wenn hier einmal die Redezeit auf 15 Minuten festgesetzt würde?
Nach meinen Erfahrungen kann man in 15 Minuten alles sagen, was einem wirklich wichtig ist.
Meine Damen und Herren, wenn es Kollegen gibt, die das in 15 Minuten nicht unterbringen können, so sollten sie ihre Tips an jüngere Kollegen weitergeben, die sie dann vielleicht aufnehmen.
Deshalb möchte ich Ihnen entgegen den offensichtlichen schweren Bedenken der Experten etwas Mutzusprechen. Haben Sie einmal den Mut zum Experi-
Metadaten/Kopzeile:
854 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966
Dichgansment! Wir wollen nicht immer nur sagen: Keine Experimente!
Ich möchte eine Prophezeiung wagen. Wenn Sie sich entschließen, diesem Vorschlag zu folgen, wird der Bundestag heute und morgen eine der lebhaftesten Debatten erleben, die er in den letzten Jahren gehabt hat.
Wird das Wort zu diesem Antrag gewünscht?
Herr Abgeordneter Dr. Mommer.
Ich hoffe, daß wir wenig Zeit mit dieser Geschäftsordnungsdebatte verlieren und zur Sache kommen. Herr Kollege Dichgans, Ihr Auftritt hier schien mir die Flucht eines Kollegen aus der Fraktion in die Öffentlichkeit zu sein.
Er fühlt sich offensichtlich durch seine Fraktion schlecht behandelt.
Er hat uns ja den Anlaß seiner Intervention genannt. In der vorigen Woche wurde ihm gesagt, es komme niemand mehr zu Wort, und er ist augenscheinlich vorher nicht gefragt worden. Bei uns geht so etwas anders. Bei uns waren auch noch Redner gemeldet, aber wir haben uns geeinigt, daß unsere Redner auf das Wort verzichten, da die Debatte an einen Punkt gekommen war, wo es sich nicht mehr lohnte, weiter zu diskutieren.
Herr Kollege Dichgans, Ihre Vorschläge sind natürlich nicht neu. Ich gebe zu, Sie haben Grund, darüber nachzudenken, wie man manches besser machen könnte. Wir denken schon immer darüber nach,
und im Ältestenrat werden Ihre Vorschläge seit langem diskutiert, z. B. der, daß unsere Redner sich freiwillig auf eine bestimmte Redezeit beschränken sollen. Wir haben im Ältestenrat auch für die heutige Debatte vereinbart, daß die Redner im ersten Durchgang versuchen sollten, mit 45 Minuten auszukommen, und danach nicht länger als 30 Minuten reden sollten. Uns fehlt aber immer eins, nämlich die Möglichkeit, die Redezeit Ihrer Minister einzukalkulieren. Sie haben eben gesagt, in 15 Minuten könne man alles sagen. Ihr Minister hat soeben dreimal so lange gebraucht, nämlich 45 Minuten. Schon dadurch gerät alles durcheinander. Ihre Minister können jederzeit in die Debatte eingreifen. Darauf müssen unsere Redner antworten. Dadurch wird auch wieder ihr Konzept ein wenig durcheinander gebracht, denn sie sollen ja nicht nur das sagen, was sie sich vorgenommen haben, sondern sie sollen auf die Vorredner eingehen.
Das Allerschwierigste, Herr Kollege Dichgans, ist, nun dem Präsidium und dem amtierenden Präsidenten zuzumuten, immer schnell — vielleicht mit einem Computer — die Rechnung zu machen, um wieviel sich die Redezeit nun für den einzelnen verkürzt, wenn unvorhergesehene Interventionen kommen.
Ich würde folgendes empfehlen, Herr Kollege Dichgans. Sie überzeugen Ihre Fraktion von Ihren Reformargumenten. Dann kann Ihr Vertreter im Ältestenrat mit seiner starken Position des Sprechers der größten Fraktion dieses Hauses Ihre Vorschläge im Ältestenrat wiederholen, und wir können dann ganz ernsthaft darüber debattieren.
Vielleicht darf ich dazu ein Wort sagen. Es ist eine Ehrenpflicht der Präsidenten dieses Hohen Hauses, unbedingte Redefreiheit zu gewähren und keinen Abgeordneten in irgendeiner Weise zubeschränken. Das ist immer so geübt worden.
Wenn von hier aus erklärt wurde, es sei eine Vereinbarung darüber zustande gekommen, daß die Aussprache 'beendigt wird, so immer auf Grund der Erklärung der Fraktionen. Dabei haben sich die amtierenden Präsidenten stets darauf verlassen, daß diese Erklärung im Einverständnis mit den Kollegen abgegeben worden ist, die sich zu Wort gemeldet hatten. Ein Teil der Präsidenten hat immer noch zusätzlich gefragt, ob die vorliegenden Redemeldungen zurückgezogen werden. Ich möchte also vermieden sehen, daß hier irgendein Vorwurf gegen die Amtsführung der Präsidenten mit Recht erhoben werden könnte.
Ich meine, wir können heute kein Experiment machen. Die Frage ist schon auf Anregung des Herrn Abgeordneten Dr. Dichgans im Ältestenrat besprochen worden und soll dort erneut erörtert werden. Ich glaube nicht, daß wir heute in Verlegenheit kommen. Kollege Dr. Mommer hat Ihnen die Bitte, die der Ältestenrat an Sie richtet, schon dargelegt: daß sich die erste Garnitur der Redner, die wohl den größten Stoff haben, auf drei Viertelstunden und die anderen Kollegen auf eine halbe Stunde beschränken. Ich hoffe auf Ihr Einverständnis, daß wir zunächst so verfahren, Herr Kollege Dr. Dichgans, daß Sie nicht auf einer Beschlußfassung über Ihren Antrag bestehen. Oder doch? — Bitte, Herr Kollege Dichgans!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mir liegt zunächst an der Feststellung, daß es mir völlig fernlag, hier die Präsidenten zu kritisieren. Ich weiß, daß sie sich immer die größte Mühe gegeben haben, die Rechte der Abgeordneten zu wahren.Was meinen Antrag angeht, so hat er in den Fraktionen, jedenfalls bei den Experten offenbar Furcht und Schrecken verbreitet.
Ich möchte ihnen Gelegenheit geben, sich von diesem Schrecken zu erholen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966 855
DichgansIch werde jetzt also nicht auf einer Abstimmung bestehen. Aber, meine Damen und Herren, wir werden uns mit diesem Problem beschäftigen müssen. Die Tatsache, daß wir seit zehn Jahren keine Lösung gefunden haben, berechtigt uns nicht, das Problem als nicht existent zu behandeln.
Herr Präsident, ich bestehe nicht auf einer Abstimmung heute. Ich werde aber meinen Antrag bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit wiederholen.
Ich werde dafür Sorge tragen, daß Ihre Anregung im Ältestenrat besprochen wird.
Das Wort hat Herr Professor Dr. Burgbacher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir, daß ich meine kurzen Ausführungen — ich will nach Möglichkeit schon etwas dem Geist des Antrags Dichgans Rechnung tragen, dem Geist, nicht der Zeit nach, das geht nicht mehr — mit einem Wort beginne, das man dem vor 100 Jahren verstorbenen Präsidenten der Vereinigten Staaten, Lincoln, zuschreibt. Er sagte:Wenige Dinge sind gänzlich schlecht oder gänzlich gut. Fast jede Sache, besonders in der Staatspolitik, ist eine unteilbare Verbindung von beidem, so daß wir ständig zu beurteilen haben, welches der beiden Elemente gerade überwiegt.Ich bin der Meinung, daß bei dem zweiten Jahresgutachten des Sachverständigenrats die guten Elemente weit überwiegen. Das Gutachten hat uns eine vorzügliche wissenschaftliche Analyse geliefert. Dafür müssen wir unseren Dank sagen.Das Gutachten ist Hilfsmittel der Politik, aber nicht Politik selbst und kann sie auch nicht ersetzen. Es ist unmöglich, daß eine noch so hervorragende Analyse über dieses Thema alle wichtigen Tatbestände bei Diagnose und Therapie erfaßt.Die gelegentlich geäußerte Meinung, die Sachverständigen suchten die Schuld für die Preissteigerungen vorwiegend bei den öffentlichen Haushalten, ist nicht begründet. Die Haushaltspolitik ist eine sehr wichtige Voraussetzung für jede Stabilitätspolitik, genügt aber allein nicht. Die Forderung, Preissteigerungen bei Dienstleistungen und in anderen lohnintensiven Bereichen durch Preissenkungen in Branchen mit überdurchschnittlichen Produktivitätssteigerungen auszugleichen, ist theoretisch richtig, aber in Zeiten der Vollbeschäftigung und der Übernachfrage schwer realisierbar.
Auch ist zu beachten, daß Qualitätsverbesserungen bei gleichen Preisen eine effektive Preissenkung darstellen.Mit Recht weist das Gutachten darauf hin, daß das angemessene Verhalten der Sozialpartner nur Sinn hat, wenn es außenwirtschaftlich abgesichert werden kann. Aber wie kann das geschehen? Die Liberalisierung im Geld- und Güterverkehr mit ihren hervorragenden Wirkungen für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung, die festen Wechselkurse, die Konvertibilität der Währungen, der freie Transfer der Kapitalien, die große Höhe von Import und Export, die Römischen und die Pariser Verträge und vieles andere bestimmen den wirtschaftlichen Ablauf in der Bundesrepublik neben den nationalen Maßnahmen. Die deutsche Volkswirtschaft ist im klassischen Sinne keine selbständige Volkswirtschaft mehr, sondern Teil eines immer größer werdenden Marktes, insbesondere der EWG, womit feststeht, daß alle nationalen Maßnahmen positiv oder negativ von dieser Umwelt, von der wir ein Teil sind, beeinflußt werden. Die immer enger werdende Verflechtung der deutschen Volkswirtschaft und der EWG und darüber hinaus der EFTA und der atlantischen Welt wird immer bestimmender auch für den Ablauf der deutschen Wirtschaftspolitik.Es ist deshalb sehr notwendig, daß sich z. B. die Länder des Gemeinsamen Marktes auf gewisse Grundsätze einigen, so wie sie Bundeswirtschaftsminister Schmücker schon vor einiger Zeit in der EWG in Brüssel vorgeschlagen hat und wie sie mit Erfolg bei der Malaise in Italien und Frankreich angewandt wurden.Bei uns sind 60 bis 70 % aller Investitionen nicht über den Kapitalmarkt finanziert, sondern bei der Wirtschaft über den Preis, sofern nicht Mittel aus aufkommenden Abschreibungen zur Verfügung stehen, oder bei den öffentlichen Händen über die laufenden Steuern. Das ist der Preis für die Leistungen der öffentlichen Hand. Eine höhere Dotierung des Kapitalmarktes — ich muß das immer wiederholen — durch Verstärkung der Sparaktionen würde dieses Problem mildern.Die Selbstfinanzierung der Wirtschaft kann kaum noch gesenkt werden. Dagegen ist die Finanzierung der öffentlichen Hand über die laufenden Steuern noch sehr bedeutend. Das Zusammenstreichen der Ressortforderungen, das Haushaltssicherungsgesetz, die weiteren Reduktionen durch die Kabinettsbeschlüsse und die derzeitige Beschränkung des Haushalts auf 69,1 Milliarden DM, die in weiteren Verhandlungen noch weiter gesenkt werden sollen, beweisen das zielstrebige Eingreifen von Bundesregierung und Bundestag.Anträge der Opposition aus den letzten Jahren, die die vor uns stehende Haushaltsentwicklung im Sinne der Restriktion geändert hätten, sind mir nicht bekannt. Dagegen gibt es eine Reihe von Anträgen, bei deren Verwirklichung die Lage verschärft worden wäre.Die Bundesrepublik hat gegenüber anderen Ländern besondere Belastungen, wie z. B. die Kriegsfolgelasten und die Wiedergutmachung. Wenn dann die notwendigen Investitionen für das Wachstum auf dem Kapitalmarkt nicht gedeckt werden können, dann besteht die Gefahr, daß entweder die notwendigen Investitionen unterbleiben und das Wachstum gefährdet wird oder daß der Haushalt überzogen wird und die Preise gefährdet werden. Deshalb hat
Metadaten/Kopzeile:
856 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966
Dr. Burgbacherdas interessanterweise und auch für mich erstaunlicherweise gerade heute veröffentlichte Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats des Bundeswirtschaftsministeriums darauf verwiesen, daß für den Fall, daß die Finanzierung der notwendigen Investitionen nicht auf dem Kapitalmarkt durch höhere Sparprozesse gedeckt werden kann, sondern über die Haushalte erfolgen muß, Steuererhöhungen unausweichlich sind. Hier ist der Teufelskreis zwischen Investitionen, Wachstum, Kapitalmarkt, Preisstabilität und Steuerfrage.Die Haushalte der öffentlichen Hand sind sowohl Bremse wie Motor, je nach der Zeit. Sie sind Motor in Zeiten der Stagnation oder in Zeiten wie der hinter uns liegenden Aufbauperiode. Nachdem diese Aufbauzeit abgeschlossen ist, sollten sie sich ihrer zweiten Natur bewußt werden, Bremse zu sein, und zwar Bremse zur Milderung der Konjunkturüberhitzung. Motor müßten sie wieder sein, sobald Erscheinungen einer Stagnation auftreten sollten.Nebenbei sei bemerkt: Der Haushalt der Bundesrepublik hat mit dem Haushalt des alten Königreichs Preußen nur wenig mehr gemeinsam als die Überschrift. Er müßte vielmehr seiner völlig verschiedenen Natur nach aufgegliedert sein. Der Bund ist Unternehmer, und zwar der größte in der Bundesrepublik, der Bund ist Sozialpolitiker, und der Bund ist Hoheitsträger mit seiner Verwaltung. Das wirtschaftliche Gewicht auch gleicher Zahlen für die drei Sektoren ist völlig verschieden.Wir kommen in Zukunft mit Haushaltsplänen, die nur für ein Jahr aufgestellt sind, nicht mehr aus; die Vorschau auf drei bis fünf Jahre muß versucht werden. Ob dies ohne eine gesamtwirtschaftliche Vorschau möglich ist, ist eine Frage. Auch müßten solche Vorschauen jährlich auf Grund der inzwischen eingetretenen Entwicklung ihre Korrektur erfahren. Hinter jeder Haushaltsposition sollte nach Möglichkeit der geschätzte Betrag für jedes der nächsten drei, vier oder fünf Jahre stehen.Der einzige Bemessungsmaßstab für die Kaufkraft der Deutschen Mark ist der Index für den Haushalt der vierköpfigen Normalfamilie. Er ist stark bestimmt durch Dienstleistungen und lohnschwere Produkte, deren Preise wiederum von der Entwicklung des Stundenlohns abhängen, aber auch bestimmt durch die Veränderung der Qualitätsansprüche der Verbraucher auf Grund der Entwicklung des Lebensstandards.Diese Ansprüche auf Qualitätssteigerung infolge steigenden Lebensstandards werden in den statistischen Daten, die das Statistische Bundesamt mit außerordentlicher Mühe und Akribie erarbeitet, schwer erfaßt werden können. Das ist immer zu beachten.Interessant ist aber ein Rückblick auf die sogenannte gute alte Zeit. In der Zeit von 1895 bis 1913 sind die Großhandelspreise im Durchschnitt jährlich 2 % gestiegen, die Ernährungsgüter ebenfalls um 2 %. Das allgemeine deutsche Preisniveau nach Berechnungen von Professor Spiethoff war 1913 um 40 % höher als 1896. Sinkende Preise gab es bei schrumpfender Wirtschaft und schrumpfender Beschäftigung.Seit 1950 sind die Ausagben eines Vier-PersonenArbeitnehmerhaushalts für Ernährung von einem Anteil von rund 46 % auf rund 34 % gefallen. Mit den steigenden Einkommen hat sich, wie man im „Volkswirt" lesen konnte, die Demokratisierung der Ansprüche entwickelt. Sie ist die Ursache dafür, daß das Luxusgut von gestern mit solcher Vehemenz in das Massenkonsumgut von heute verwandelt ist und verwandelt werden konnte.Stabilisierungsmaßnahmen dürfen maßvolles Wachstum nicht hindern. Man rechnet für 1966 mit einer Wachstumsrate von 4 %; neuerdings hält man es sogar für möglich, daß sie etwas niedriger sein könnte. Zu dem im Gutachten enthaltenen Hinweis, daß die Privatinvestitionen nicht höher steigen dürfen als die vorgesehene Wachstumsrate von 4 °/o, wenn nicht der Kapitalmarkt durch Sparprozesse mehr hergibt, muß man fragen, ob bei einer solchen Begrenzung der Privatinvestitionen das vorgesehene, vorgeschaltete Wachstum von 4 % sichergestellt ist oder gefährdet ist.Die Aufgabe der Politik ist es — und durch ihre Verhaltensweise haben alle zur Erreichung dieses Zieles beizutragen —, bei der Fortsetzung einer maßvollen Wachstumspolitik die Stabilität zu erreichen. Stabilität mit Wachstum! Dabei sind Investitionen weiter zwingend notwendig, bei stagnierenden oder rückläufigen Branchen zur Rationalisierung und bei Wachstumsbranchen zur Expansion. Die Investitionsquote betrug in der EWG im Jahre 1965 im Durchschnitt 23 % des Bruttosozialprodukts. In der Bundesrepublik war sie am höchsten mit 26,7 %. Die EWG-Kommission befürchtet, daß ein zu geringer Anstieg der unmittelbar produktiven Investitionen schwerwiegende Folgen für das längerfristige Wachstum haben müsse.Der Bundesbank ist Dank zu sagen für ihren Kampf um die Stabilität der Währung, und diesen Dank sollen wir auch heute hier aussprechen. Die gewünschte Wirkung der Maßnahmen der Bundesbank bei festen Wechselkursen und freier Konvertibilität zu erreichen ist schwierig. Höhere Zinsen sind für Investitionen, die hohe Lohnkosten sparen, oder für Investitionen, die überdurchschnittliche Produktivitätssteigerungen zu verzeichnen haben, kein Hindernis, wohl aber für diejenigen, die auf der Schattenseite der Konjunktur leben.Die Subventionen für Güter, Leistungen und Dienstleistungen — kurz gesagt: alles, was aus der Zeit des Aufbaus, und damals mit Recht, irgendwie subventioniert worden ist — müssen daraufhin überprüft werden, wie weit sie bei der inzwischen eingetretenen Entwicklung dem Grunde oder der Höhe nach noch ihre Berechtigung haben. Dabei müssen in der Regel die Leistungen — z. B. von Post und Bahn, nachdem sie durch Abbau des unwirtschaftlichen Leistungsangebots und Stillegung unrentabler Strecken vermeidbare Kosten reduziert haben — den Kostenpreisen angepaßt werden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966 857
Dr. BurgbacherWenn ich von Rationalisierung bei der Bundesbahn spreche, dann möchte ich mich nicht der Pflicht entziehen, allen Mitarbeitern der Bundesbahn für ihren opfervollen, pünktlichen und der Welt bekannten zuverlässigen Dienst unseren Dank zu sagen. Mit der persönlichen Leistung hat die Notwendigkeit der Rationalisierung der Bundesbahn nichts zu tun.
Wenn so der Kostenpreis marktfähig gemacht ist, dann sollte er d e r Preis sein. Das ist eine bitter schmeckende, aber hilfreiche Arznei. Den sozialpolitischen Notwendigkeiten bei diesen Leistungen soll in der Regel nicht mehr durch soziale Preise Rechnung getragen werden, sondern durch gezielte Maßnahmen der Sozialpolitik auf den Teilgebieten, auf denen noch etwas sozialpolitisch zu tun ist.Alle müssen dem jetzt vordringlichen Ziel der Sicherung der Stabilität ein Opfer bringen, auch wenn es sich um Dinge handelt, die dem eigenen Herzen besonders nahe stehen. Das gilt nicht nur für die Durchforstung der Subventionen einschließlich der Zinssubventionen, sondern das gilt auch für die Sparförderungsmaßnahmen, die für größere Einkommen gestrichen und nach Möglichkeit für kleinere Einkommen verbessert werden sollten. Die Frage der Sparfähigkeit soll das entscheidende Element sein.Die Berichtigung bisher gewährter Preisvorteile darf aber nicht zu einer Lohnwelle führen, sondern sie muß — das möchte ich ganz klar sagen — als Opfer für die Stabilität der Währung von dem in Kauf genommen werden, den es angeht. Dieses Opfer der Korrektur der Subventionen und der Preise ist leichter zu ertragen als die dauernd quälende Sorge um die Kaufkraft der Währung, da sich aus deren Psychologie eine ständige Unsicherheit ergibt, die teurer für uns alle wird als der Mut zu einem Besinnungsjahr. In der Rede zur Regierungserklärung habe ich bereits zu einer Pause, zu maßvollem Verhalten bei Löhnen und Preisen im Jahre 1986 aufgefordert. Ich wiederhole es, weil es eine schöpferische Pause werden soll besonders bei dem Verzicht auf Arbeitszeitverkürzung.Der deutschen Gewerkschaft gebührt der Dank für ihr diszipliniertes Verhalten in der Vergangenheit, insbesondere während der Aufbauzeit. Ohne dieses Verhalten der Gewerkschaften wäre der Aufbau dem Umfang nach und dem Tempo nach nicht möglich gewesen. Es wäre kein Bruch in der Politik der Gewerkschaften, sondern die Fortsetzung dieser Politik in Anpassung an eine geänderte Situation, wenn man sich zu einer Pause entschließen könnte, also einen Beitrag zur Stabilität leisten würde, so wie man in der Aufbauzeit den Beitrag zum Aufbau geleistet hat, der sich in der Folge auch zum Vorteil der gesamten Arbeitnehmerschaft nachhaltig ausgewirkt hat.
Natürlich ist der Appell zur Pause auch an die Wirtschaft gerichtet. Dabei muß aber festgestellt werden, daß bei befriedigender Umsatzentwicklung die Ertragsentwicklung im Schnitt nicht Schritt gehalten hat. Es gibt wenige Wachstumsbranchen, in denen die Erträge entsprechend der Umsatzentwicklung oder sogar noch mehr gestiegen sind. Bei vielen stagnieren die Erträge trotz steigender Umsätze, oder sie fallen sogar, und einige Branchen sind in einer Art Not.In der Gestaltung der Preispolitik sind wir nicht souverän, sondern auch von dem Verhalten unserer Wirtschaftspartner in der Welt abhängig. Bis jetzt ist es gelungen, die Wettbewerbsfähigkeit für den deutschen Export zu erhalten. Das muß weiter unser Ziel sein. Es handelt sich also schließlich um die Disziplin aller, um eine Disziplin, die der Schutzpatron, und zwar der einzige, für die Freiheit ist. Wir sollten sie deshalb alle zusammen aus freien Stücken der Freiheit wegen auch üben. Die Parlamente von Bund, Ländern und Gemeinden und die Regierungen sowie die Sozialpartner und alle, die es angeht, sind aufgerufen, mindestens für dieses Jahr ein Jahr der Selbstbeherrschung und der Disziplin sich aufzuerlegen, damit das langfristig Notwendige getan und über das kurzfristig Angenehme gestellt wird.Insbesondere — ich wiederhole das — sollte von der Verkürzung der Arbeitszeit abgesehen werden; denn von daher kann dann der Druck auf die notwendigen Investitionen noch erhöht werden. Denn wenn man bei sinkender Arbeitszeit die Produktion halten oder gar steigern will, dann ist im allgemeinen damit eine Steigerung des Investitionsbedarfs verbunden, dessen Finanzierung, wie ich vorhin ausführte, uns ohnehin diese problematischen Schwierigkeiten macht.Wirtschaftspolitik ist keine Mathematik. Die Mathematik ist zwar ein sehr guter Diener der Wirtschaftspolitik, aber ein miserabler Herr. Die weitverbreitete Rechnung mit dem Prozentsatz der durchschnittlichen Steigerung des Bruttosozialprodukts für die Vorgänge verschiedenster Art ist höchst problematisch. Wenn wir 1966 einen Bruttosozialprodukt-Zuwachs von 4 % haben, so ist das das gewogene Mittel von etwa minus 10 und plus 40 % — um Zahlen zu nennen, auf die Sie mich nicht festlegen dürfen — je nach den Branchen. Die Lohn- und Gehaltspolitik kann aber in der Vollbeschäftigung nicht in dem Maße differenziert sein — sie ist differenziert, aber sie kann nicht in dem Maße differenziert sein —, wie es die verschiedenen Ertragslagen der Branchen eigentlich von der Wirtschaftskraft her bedeuten müßten. Richtet sich die Lohnpolitik nach dem Durchschnitt, so ergibt sich für alle Wirtschaftszweige, die unter dem Durchschnitt liegen, die berühmte Alternative, entweder durch Rationalisierung den höheren Lohn auszugleichen — und das ist eine wünschenswerte Sache — oder die Produktion einzustellen — das kann wünschenswert und kann falsch sein — oder die Preise zu erhöhen, wenn es sich um Güter handelt, die der Markt zu höheren Preisen abnimmt oder abnehmen muß, was in der Regel in unserer Zeit der Fall ist.Von den Zahlen des Monats September 1965, die die Sachverständigen als letzte Zahlen benutzen mußten, kann man sagen, daß sie sich zum Teil weiterentwickelt und auch verbessert haben. Ich nenne die Zahlungsbilanzentwicklung und ich nenne die Exportentwicklung.
Metadaten/Kopzeile:
858 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966
Dr. BurgbacherAm Rande sei bemerkt, daß die sensationell niedrigen Preise in den diesjährigen Saisonschlußverkäufen doch beweisen, daß zumindest auf all diesen Gebieten der Nachfrage ein genügend starkes Güterangebot gegenübersteht.Alle Probleme, mit denen sich das Sachverständigengutachten und jetzt wir befassen — das darf nicht vergessen werden —, sind Folgen einer im übrigen außergewöhnlich erfolgreichen Politik, Folgen der reichen Wachstumspolitik und der erheblichen Steigerung des allgemeinen sozialen Standings.
Deshalb kann man an die Bekämpfung dieser Mängel — und die ist notwendig — aus der Position des Optimismus herangehen und nicht der des Pessimismus.Unsere Lage wird bestimmt von der Hochkonjunktur, von der Voll- bzw. Überbeschäftigung, von der nicht genügend differenzierten Lohnpolitik, von der Oberziehung der Haushalte in Bund, Ländern und Gemeinden, von den festen Wechselkursen, die aber trotzdem besser sind als flexible — in der Politik kann man in den seltensten Fällen zwischen gut und schlecht unterscheiden, sondern meistens zwischen weniger schlecht und schlecht oder zwischen weniger gut und gut; siehe Lincoln am Eingang meiner kurzen Ausführungen —, von der Interdependenz der deutschen Volkswirtschaft mit der EWG, der EFTA und der atlantischen Welt — Stichwort Kennedy-Runde —, schließlich von der Gefährdung eigener kreditpolitischer Maßnahmen durch die Liberalisierung des Kapital- und Geldverkehrs, durch die ständige Steigerung der Qualitätsansprüche zur Deckung des täglichen Bedarfs und durch die Umschaltung, die damit — erfreulicherweise, aber beachtenswerterweise — verbunden ist: von bisher körperlicher Arbeit auf technische Einrichtungen in den Haushalten und in der Zubereitung der Ernährung.Andererseits besteht die Tatsache, daß für alle Güter und Leistungen, in Arbeitsminuten gerechnet, weniger Arbeitszeit aufzuwenden ist als vor Jahren, was natürlich wiederum im Ergebnis eine bedeutende Steigerung der Nachfrage bedeutet.Der Bundeskanzler hat gesagt, daß die Aufbauzeit sozusagen abgeschlossen sei. Diese im wesentlichen richtige Feststellung bedeutet aber auch, daß alle die für den Aufbau — ich wiederhole das — richtigen Maßnahmen nunmehr darauf überprüft werden müssen, wieweit sie noch richtig sind für den neuen Abschnitt des natürlichen Wachstums, — wie bei den Volkswirtschaften, die keine Aufbauzeit in unserem Sinne notwendig haben.Dabei ergibt sich zwingend, daß vieles, was in der Aufbauzeit sehr richtig war, heute falsch sein kann und revidiert werden muß. Die letzten Grundsätze sind immer dieselben, nämlich das Wohl aller. Die vorletzten sind schon nicht mehr immer dieselben, wenn sie richtig sein sollen.Die Anregungen des Gutachtens, nämlich die flexible Regelung der Abschreibung, die Frage positiver oder negativer Investitionsabgaben, die Frage der Unkündbarkeit von Anleihen mit hohem Zins und die des Verbots aller Preisgleitklauseln sind wichtige Anregungen, die in den nun folgenden Beratungen des Sachverständigengutachtens und des Haushaltsplanes sowohl von der Regierung als auch von uns in den Ausschüssen gründlich zu prüfen sein werden. Auf jeden Fall ist es notwendig, die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden der Bruttosozialproduktsentwicklung anzupassen.Die Anregung des Bundeswirtschaftsausschusses der CDU auf Erlaß eines Konjunkturrahmengesetzes sollte ernstlich geprüft werden. Es soll die Grundlage eines breiten, differenzierbaren und beweglichen konjunkturpolitischen Instrumentariums sein, das ausreichende Ermächtigungen zur anpassungsfähigen Regelung durch Rechtsverordnung der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates —und natürlich Widerrufsrecht des Bundestages — enthalten muß.Ich habe in einer Gewerkschaftszeitung gelesen, das sei das neue Ermächtigungsgesetz.. Ich möchte doch alle bitten, folgendes zu bedenken: natürlich kann man daran kritisieren, und natürlich bedeutet die Übergabe einer Vollmacht eines Parlaments an die Regierung immer einen wichtigen und sehr zu prüfenden Schritt, aber ebenso klar ist es, daß eine griffige, sichere Konjunkturpolitik nicht möglich ist mit Maßnahmen, die vorher monatelang auf dem Markte diskutiert worden sind.
Außerordentlich wichtig wäre — ich wiederhole es — die Steigerung der Sparprozesse zur Verbesserung des Kapitalmarktes und zur Entlastung der Investitionsfinanzierung über laufende Steuern. Bei öffentlichen und privaten Investionen sollte zurückgestellt werden, was nicht im Sinne der Volkswirtschaft produktiv ist. Das ist für ein Jahr zumutbar. Dabei ist aber davor zu warnen, daß man den betriebswirtschaftlichen Begriff der Produktivität z. B. bei allen Bildungseinrichtungen auf diese überträgt. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, daß zu den förderungswürdigen Aufwendungen alle gehören, die in die Zukunft wirken und die zukünftige Produktivität zu steigern geeignet sind. Darunter fallen alle Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen ebenso wie Wissenschaft und Forschung. Bei der Abhängigkeit der Produktivität einer modernen Volkswirtschaft von Wissen und Können auf allen Ebenen des sozialen Lebens wäre es eine wahrhaft kurzsichtige Politik, es anders zu machen. Sie würde langfristig in eine Stagnation führen müssen, und keiner wird von einer weitsichtigen Politik erwarten, daß sie des Tages wegen die Zukunft gefährdet.Die Politik der Kreditrestriktion muß fortgesetzt werden. Ich bin aber der Meinung, daß wir die Bitte äußern dürfen, eine langsame Milderung vor allem für die eintreten zu lassen, von denen ich sagte, daß sie auf der Schattenseite der Konjunktur leben. Ich weiß, wie schwierig das Problem ist, wenn man vom Allgemeinen aufs Besondere geht; aber ich habe es für meine Pflicht gehalten, auf dieses Problem hinzuweisen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966 859
Dr. BurgbacherWir sollten im Bundestag auch kein Gesetz, das Ausgaben zur Folge hat, beschließen, ohne dabei die Deckungsfrage beweiskräftig mit zu behandeln. Die restriktive Haushaltspolitik in unserer Zeit ist die Voraussetzung für die Sicherung der Sozialpolitik in der Zukunft.Das Gutachten empfiehlt, die notwendigen Maßnahmen gleichzeitig, gleichmäßig und allmählich durchzuführen. Die Bundesregierung sollte deshalb eine gesamtwirtschaftliche Vorschau für die nächsten Jahre vorlegen, in der nicht nur eine Vorschau auf die entsprechenden Haushaltsziffern, sondern auch die vermutete Produktivitätssteigerung und andere wichtige Daten enthalten sein sollten. Dabei müssen auch unvermeidbare strukturpolitische Änderungen gesehen und gewürdigt werden. Durch geeignete Anpassungsmaßnahmen sollten bruchartige Entwicklungen — ich betone: bruchartige — nach Möglichkeit vermieden werden; dagegen sollten die Entwicklungen als solche nicht beeinträchtigt werden.Wirtschaft ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. Sie hat dem Menschen zu dienen. Wir wünschen die Fortführung der Wachstumspolitik mit Stabilität. Das ist nicht einfach und wird ein dauerndes Ringen bedeuten. Das Ringen um die Verbesserung der sozialen Lage der Bevölkerung ist eine ewige Auseinandersetzung. Es kann zu bestimmten Zeiten revolutionär oder evolutionär zugehen. Das evolutionäre soziale Ringen wird im Sinne der Verbesserung des sozialen Standings und auch der Verbesserung der Vermögens-, der Eigentumsstruktur nur bei einer Wachstumspolitik erfolgreich sein können. Unsere demokratische freiheitliche Ordnung, verbunden mit dem wirtschaftlichen Wachstum, garantiert erst diese Evolution. Die Freiheit, die Rechte und Pflichten der Sozialpartner einerseits und der jährliche Zuwachs des Bruttosozialprodukts andererseits bringen die Möglichkeit, die Lage der Bürger ständig zu verbessern, ohne die demokratische Ordnung zu gefährden. Also: Stabilität mit Wachstum.Nun, Herr Präsident, bitte ich um die Erlaubnis, gewissermaßen zu Ehren eines in den letzten Tagen verstorbenen großen Mannes, Wilhelm Röpkes, etwas vorlesen zu dürfen, was zu unserem Thema im weiteren Sinne in engster Beziehung steht. Die „Frankfurter Allgemeine" hat in den letzten Tagen aus dem Buch von Wilhelm Röpke „Jenseits von Angebot und Nachfrage" dankenswerterweise einen Abschnitt abgedruckt. Ich zitiere:Die Gesellschaft als Ganzes kann nicht auf dem Gesetz von Angebot und Nachfrage aufgebaut werden, wie es ja auch seit Burke immer beste konservative Überzeugung gewesen ist, daß der Staat mehr ist als eine Art von Aktiengesellschaft. Menschen, die auf dem Markte sich miteinander im Wettbewerb messen und dort auf ihren Vorteil ausgehen, müssen um so stärker durch die sozialen und moralischen Bande der Gemeinschaft verbunden sein, anderenfalls auch der Wettbewerb aufs schwerste entartet. Mit anderen Worten: Die Marktwirtschaft ist nicht alles. Sie muß in einen höheren Gesamtzusammenhang eingebettet sein, der nicht auf Angebot und Nachfrage, freien Preisen und Wettbewerb beruhen kann. Sie muß vom festen Rahmen einer Gesamtordnung gehalten sein, die nicht nur die Unvollkommenheit und Härten der Wirtschaftsfreiheit durch Gesetze korrigiert, sondern auch dem Menschen die seiner Natur gemäße Existenz nicht verweigert. Der Mensch aber kann nur dann volle Erfüllung seiner Natur finden, wenn er sich willig einer Gemeinschaft einfügen und sich ihr solidarisch verbunden fühlen kann.Diese Solidarität ist auch die Voraussetzung für unsere Politik: Stabilität mit Wachstum.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Burgbacher, Sie haben doch sicher über diesen Artikel, den Sie soeben vorgelesen haben, nachgedacht. Ich möchte Sie daher fragen, ob Sie der Meinung sind, daß diese Bundesregierung sehr viel dazu getan hat, die Bande der Bevölkerung unseres Landes enger zu knüpfen, oder ob sie nicht jede Gelegenheit wahrgenommen hat, Mißtrauen in die Bevölkerung zu säen.
Lieber Kollege Leber, ich wollte damit auch einen großen Toten ehren. In vielen Fragen stimmen wir beide ja überein, aber hier bin ich von Ihnen enttäuscht.
Wir halten nichts von einer staatlich verordneten Moral; die trägt jeder in sich selbst, und aus der Disziplin des Gewissens entstehen die Bindungen, die die Freiheit schützen.
Zum Schluß habe ich die Aufgabe, den Antrag zu stellen, das zweite Jahresgutachten der Sachverständigen dem Wirtschaftsausschuß zu überweisen.
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Schiller.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dieses Gutachten des Sachverständigenrates ist ein Politikum geworden. Es hat nicht der Politisierung in einem negativen Sinne gedient, Herr Minister, sondern es ist als solches ein Politikum.
Dies ist es aber nicht deshalb, weil die Sachverständigen ihren Auftrag überschritten hätten. Nein, sie haben sich vollkommen im Rahmen des Gesetzes gehalten, indem sie — wie es dort wörtlich heißt — „Fehlentwicklungen und Möglichkeiten zu deren Vermeidung oder deren Beseitigung" aufzeigten. Aber dieses Gutachten — und deswegen ist es ein
Metadaten/Kopzeile:
860 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966
Dr. Schiller Politikum geworden — bietet mit seiner Alternativrechnung zum ersten Mal ein Entscheidungsmodell für die Politik an. Das stellt uns alle vor eine Herausforderung, und das bedeutet zugleich: Entscheidungszwang. Das ist natürlich etwas unbequem für eine Regierung, deren Spitze
die Entscheidung nicht gerade liebt. Da bedarf es dann gelegentlich der Hilfe: manchmal zwingt das pronunciamento eines entschlußfreudigen Fraktionsvorsitzenden die Entscheidung herbei; und im Alltag der Wirtschafts-, Finanz- und Gesellschaftspolitik geschieht das durch das unmißverständliche „Entweder-Oder" einer Expertise, wie es in diesem Fall in dem Gutachten geschehen ist.Es enthält zwei Prognosen. Die Prognose I steht unter der Voraussetzung — ich zitiere wörtlich —ein grundlegender Wandel der Wirtschaftspolitik wird nicht unterstellt." Hier regiert also der bekannte Artikel aus der mecklenburgischen Staatsverfassung: „Es bleibt alles beim alten",
und dies — angewendet auf diesen Fall, auf die Prognose I — endet nach der Meinung des Rates für 1966 mit einer Preissteigerungsrate von 3 bis 3,5 °/e, also in etwa jener Rate, mit der der Bundesfinanzminister in weiser Voraussicht der Dinge seine Einnahmen für das Jahr 1966 kalkuliert hat.Die Prognose II, die andere Möglichkeit, die der Rat bietet, lautet wörtlich: „Ein neuer Kurs der Wirtschaftspolitik wird eingeschlagen", im wesentlichen also eine „konzertierte Aktion" aller wichtigen Wirtschaftsgruppen — das wurde hier schon dargestellt — unter eindeutiger Führung der Bundesregierung, um die Preissteigerungsrate von 2 % in diesem Jahr als Ziel schließlich auf 1 % im nächsten Jahr herunterzubringen. Das heißt also: an Stelle unverbindlicher Appelle werden von dem Rat eindeutige Zielvorstellungen offeriert und gleichzeitig der Politik abverlangt. Durch Orientierungshilfen und, wie er sagt, staatliche Führungskunst sollen die Verhaltensweisen der am Wirtschaftsprozeß Beteiligten in Richtung auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht und die Preisstabilität beeinflußt werden.Das Gutachten, Herr Kollege Burgbacher, ist mehr als Mathematik und mehr als eine ökonomische Analyse. Es ist an vielen Stellen — das wird auch Ihnen aufgefallen sein — in einer drängenden, vorantreibenden Sprache geschrieben. Ich möchte sagen, es ist mehr von sachpolitischem Atem erfüllt als manche Regierungsverlautbarung der letzten Zeit.
Es ist bezeichnend für die Lage — und ich glaube, das sollte uns allen zu denken geben —, daß heute fruchtbare sachpolitische Impulse von einem solchen Gremium ausgehen, das außerhalb der Exekutive, ja, außerhalb der Politik steht. Das ist ein Tatbestand, der uns alle angeht. Autonome Gremien stoßen mit ihren Äußerungen in ein leeres Feld hinein, in ein Vakuum, das die Politik geschaffen hat oder das die Politik amtlicherseits darstellt.Um es ganz grob zu sagen, meine Damen und Herren: wenn wir die erste Hälfte dieses politischen Winters betrachten, so müssen wir in der Tat sagen, daß etwa die Äußerungen aus dem kirchlichen Raum zur gesamtpolitischen Lage Deutschlands und dieses Sachverständigengutachten zum demokratisch lebendigen Prozeß der Meinungsbildung in diesem Volke fruchtbarer beigetragen haben als beispielsweise eine schon fast vergessene Regierungserklärung.
— Ich habe die Debatte über die Regierungserklärung nicht gemeint; die haben Sie sicherlich nicht vergessen.
Meine Damen und Herren, solche Denkschriften und Gutachten können die öffentliche Meinung von Vorurteilen und großen Vereinfachungen befreien. Dieses reinigende Geschäft — das kam hier auch noch nicht zum- Ausdruck — wird in dem vorliegenden Gutachten gründlich besorgt. Jahrelang hatten manche Kreise versucht, den deutschen Gewerkschaften oder den Tarifparteien insgesamt den Schwarzen Peter für die schleichende Geldentwertung anzuhängen. Jetzt wird in dem Gutachten klipp und klar festgestellt — ich zitiere —:Solange das monetäre Gleichgewicht nicht annähernd gegeben ist oder in Aussicht steht, wäre es verfehlt, die Verantwortung für die Geldwertstabilität den Sozialpartnern aufzubürden.Meine Damen und Herren, noch weitreichender ist die pädagogische Wirkung des Gutachtens in einer anderen Richtung. Das Gutachten stellt in seiner ganzen Anlage den ersten Schritt zu einer volkswirtschaftlichen Globalrechnung und Globalsteuerung, ja, zur gesamtwirtschaftlichen Rahmenplanung dar. Wir können auch sagen: das Gutachten ist ein erster Ansatz zur mittelfristigen Wirtschaftspolitik.Die Wirkung des Gutachtens, auch auf die CDU, ist unverkennbar. Nachdem man noch vor der Veröffentlichung des Gutachtens durch das geschäftsführende Präsidialmitglied des BDI den ersten „Stein" gegen das Gutachten und die Unabhängigkeit der Sachverständigen geworfen hatte und nachdem die offizielle Stellungnahme der Bundesregierung vom 15. September — Drucksache V/127 — sich zwischen Nörgeln und „ja", „vielleicht" und „aber" bewegte,
wird in den Empfehlungen des Bundeswirtschaftsausschuses der CDU vom 1. Februar schon ein anderer Ton angeschlagen. Mit ganz großer Selbstverständlichkeit ist da von einem „Konjunkturrahmengesetz" die Rede, von „mehrjährigen Rahmenplänen", von „mehrjährigen Investitionsprogrammen" und von einer „öffentlichen Gesamtrechnung". Ich kann nur feststellen: die Einsicht in die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966 861
Dr. SchillerNotwendigkeit, unsere marktwirtschaftliche Ordnung mit den Elementen der globalen Steuerung zu verbinden — weil eben die Ladenhüter der Jahre 1948/49 nicht mehr ausreichen —, breitet sich unaufhaltsam auch bei Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, aus.
Schon rein sprachlich ist die Entwicklung unübersehbar. Manchem wird die neue Sprache der Rahmenplaner für die Zukunft noch nicht gleich auffallen. Dem wird es dann eines Tages so ergehen wie dem bekannten M. Jourdain bei Molière, der sehr erstaunt war, als man ihn darüber aufklärte, daß er schon lange Zeit „Prosa" rede; er habe das noch gar nicht gewußt.
Nun, nach den langen Schattenkämpfen um „mittelfristige Wirtschaftspolitik", zuerst in Straßburg und Brüssel und zuletzt noch Ende November 1965 hier im Deutschen Bundestag, stimmt uns diese Änderung fröhlich. Allerdings ist die Probe aufs Exempel sofort fällig; denn die Gretchenfrage lautet jetzt: Nun sagt, wie habt Ihr es denn mit dem Gutachten? Da kommen uns allerdings einige Zweifel.Bevor ich darauf eingehe, möchte ich erst unsere eigene Position zu dem Gutachten darlegen. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat im Sommer 1965 für die nun begonnene Legislaturperiode ein Programm der schrittweisen Zurückdrängung der schleichenden Inflation vorgelegt. Die Preissteigerungsrate sollte von Jahr zu Jahr von 3 ) auf 2 und auf 1 °/o reduziert werden. Die dazu notwendigen wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen wurden nochmals in acht Punkten in der Aussprache zur Regierungserklärung skizziert.Wir sehen in dem Gutachten der Sachverständigen eine klare und sachliche Bestätigung unseres Konzepts.
Darüber kann kein Zweifel sein und wäre kein Wort mehr zu verlieren.Nun zu unserer Stellungnahme im einzelnen.Erstens. Obgleich die binnenwirtschaftlichen Kräfte der Expansion schwächer geworden sind, steigen die Preise weiter. Der Lebenshaltungskostenindex lag im Dezember 1965 um 4,2 % über dem Stand des Vorjahres. Die Deutsche Bundesbank bemerkt dazu in ihrem amtlichen Bericht sachlich: „Seit der Korea-Krise im Jahre 1951 war der Preisindex für die Lebenshaltung in keinem Jahr so stark gestiegen wie 1965." Wir können, glaube ich, zur Stunde davon ausgehen — ich sage: zur Stunde —, daß der Preisindex für den Januar 1966 auch um 4,2 % über dem Stand des Vorjahres liegen wird. Ich weiß wirklich nicht, wie Sie, Herr Bundesminister Schmücker, da zu Ihrem Optimismus kommen, wie Sie bei derartigen Preissteigerungsraten von Geldwertstabilität reden können; diese Steigerungsraten sind doch weit mehr als das, was man gemeinhin glaubt hinnehmen zu können.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
2,3 Milliarden DM. Es war also doch ziemlich genau vorausgeschätzt; was die Bundesbank jetzt bekannt gibt, bestätigt in etwa die Angaben des Sachverständigenrates.Eine zweite Sache! Sie wiesen auf den Disput zwischen dem Herrn Bundesfinanzminister und dem Herrn Kollegen Möller und mir über die Zuwachsrate der Bundesausgaben im Jahre 1965 hin. An sich ist das der Schnee vom letzten Jahr; aber da Sie davon gesprochen haben, will auch ich kurz darauf eingehen. In dem Bericht der Deutschen Bundesbank vom Januar dieses Jahres finden Sie eindeutig ausgeführt, daß die Ausgaben des Bundes im Jahre 1965 um 10 % zugenommen hätten. Wenn beide Angaben der Bundesbank — 2,3 Milliarden Defizit, 10 % Steigerungen der Bundesausgaben für 1965 — nicht stimmen, Herr Bundesminister, dann müssen Sie dementieren oder der Bundesbank höflich schreiben.Sie, Herr Minister haben uns von der Opposition gefragt, wie wir — und das ist der dritte Punkt, den ich hier gleich mit erledigen wollte — es mit dem Haushaltsvolumen für 1966 halten, jenen be- H kannten 69,15 Milliarden DM. Ich kann Ihnen klipp und klar sagen: Wir sind heute der Meinung, daß vom konjunkturpolitischen Standpunkt aus keine weitere Kürzung der Bundesausgaben notwendig ist. Da haben Sie eine klipp und klare Auskunft von uns bekommen. Das schließt nicht aus, daß man im Haushaltsausschuß — das werden Ihre Kollegen und meine Kollegen und wir alle gemeinsam tun — darauf achtet, daß die Grundsätze ordentlicher öffentlicher Wirtschaft beachtet werden und daß jeder einzelne Titel unter Sparsamkeitsgesichtspunkten geprüft wird. Aber die konjunkturpolitische Beurteilung des Haushaltsvolumens habe ich Ihnen hier bar ausbezahlt; das braucht nicht lange im Debet stehenzubleiben.Nach der Statistik der Lebenshaltungskosten für Dezember 1965 und für Januar 1966 sind wir also der Meinung, daß das Gutachten keineswegs überholt ist; nach wie vor steht das Thema „Geldwertstabilität" an der Spitze der Tagesordnung.Zweitens. Wir unterstützen ausdrücklich das Konzept des Rats zur Begrenzung der Zuwachsraten für 1966 — wir haben den Mut zu Zahlen — auf 6 bzw. 6,5 %. Wir bekennen uns dazu. Wir befürworten die Abstimmung des gesamtwirtschaftlichen Konzerts auf die „Sexte".Damit die Stabilisierungsaktion aber nicht in eine deflationäre Roßkur ausartet — und diese Befürchtung teile ich manchmal in der Beurteilung der jetzigen Situation mit Herrn Burgbacher, und ich glaube, auch Herr Minister Schmücker sieht die kon-
Metadaten/Kopzeile:
862 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966
Dr. Schillerjunkturelle Lage als durchaus labil an —, damit das also nicht nach unten durchschlägt und damit man auch die möglichen Veränderungen in unseren außenwirtschaftlichen Beziehungen während des gesamten Stabilisierungsprozesses berücksichtigen kann, wäre auch ein Zeitraum von etwa drei Jahren für diese gesamte Stabilisierungsaktion, um auf 1 % herunterzukommen, denkbar, wenn man gleichzeitig eine genügend hohe reale Zuwachsrate des Sozialprodukts, etwa von 4 bis 5 %, halten will. Diese Frage, ob die Stabilität in einem Zeitraum von zwei oder drei Jahren zu erreichen ist, wäre in den Ausschüssen zu klären. Wir sind dabei der Meinung, wenn ich hier gleich geschäftsordnungsmäßig reden darf, daß der Wirtschaftsausschuß die Dinge behandeln sollte — unter Mitwirkung der Damen und Herren vom Finanzausschuß und vom Haushaltsausschuß — und daß öffentliche Hearings mit Sachverständigen in diesem Ausschuß veranstaltet werden sollten.Drittens. Wesentlich erscheint uns die Frage — und ich habe mich gefreut, zu hören, daß Herr Burgbacher sie auch sehr deutlich erwähnt hat —, daß der binnenwirtschaftliche Prozeß der Stabilisierung außenwirtschaftlich abgesichert wird. Wie etwa, wenn in einigen anderen Ländern die expansiven Kräfte wieder überhandnehmen würden und das Problem der importierten Inflation wieder akut werden würde? Wir wollen das doch nicht noch einmal wieder erleben. Dann könnte sich am Ende des Jahres 1966 der Sachverständigenrat von seinem Standpunkt aus die Sache sehr leicht machen. Er könnte das kürzeste Gutachten schreiben, das er je geschrieben hat. Er könnte das Gutachten Nr. 3 mit einem Satz versehen: Siehe Gutachten 1, lies: flexible Wechselkurse.Meine Damen und Herren, ich habe schon das letzte Mal bei der Debatte über die Regierungserklärung darüber gesprochen. Die SPD hat andere Vorschläge gemacht, um eine solche Stabilisierungsaktion außenwirtschaftlich abzusichern, nämlich die Variation der Umsatzausgleichsteuer- bzw. Umsatzsteuerrückvergütungssätze im grenzüberschreitenden Verkehr. Auch über dieses Thema der außenwirtschaftlichen Absicherung einer Stabilisierungsaktion für zwei oder drei Jahre müßte in den Hearings gesprochen werden.Viertens. Zum Unterschied von den Staatshaushalten und den Tarifparteien gibt es bei den privaten Investitionen keine eindeutigen Adressaten für Verhaltensempfehlungen. Was die Staatshaushalte — 6 oder 6,5 % als Norm des Rats für das nächste Jahr — und die Tarifparteien betrifft, so hat man da sehr leicht Adressaten, denen man einen Brief oder ein Gutachten schicken kann oder mit denen man einen Dialog halten kann. Bei den privaten Investitionen ist das nicht der Fall. Ich glaube, wir alle in diesem Hause, meine Damen und Herren, wollen keine umfassende Kontrolle der privaten Investitionen. Ich glaube, in diesem Punkt sind wir alle einer Meinung.Der Rat hat nun einige Beispiele für den möglichen Ausbau des wirtschaftspolitischen Instrumentariums in dieser Richtung gegeben. Das wurde ja auch schon erwähnt. Ein Beispiel bezieht sich auf die Zusammenarbeit zwischen Bundesbank und Geschäftsbanken, also auf den Kreditplafond. Das andere Beispiel ist die Variierung der steuerlichen Abschreibungssätze für Investitionen.Zum ersten Beispiel will ich Ihnen ganz offen sagen: jener punktuelle Vorschlag betreffend den Kreditplanfond ist problematisch. Er kann leicht in Kreditdirigismus umschlagen. Außerdem kann in einer offenen Wirtschaft jederzeit auf Kapitalimporte zurückgegriffen werden.Das andere Beispiel geht dahin, daß eine Investitionsabgabe mit Rückzahlungsmöglichkeiten in Rezessionenszeiten, in Zeiten des schrumpfenden oder des verlangsamten Wachstums angebracht sein könne. Zu diesem Thema möchte ich sagen: der Rat hat schon im ersten Gutachten darauf hingewiesen, daß diese Mittel immer unter ihrem Ankündigungseffekt leiden, d. h. stets in die Gefahr geraten, prozyklisch zu wirken.Herr Bundesminister Schmücker hat sich die Sache nun sehr leicht gemacht. Er hat alle diese Mittel einfach in einem Speisezettel „à la carte" aufgeführt — auch diese sehr problematischen Mittel — und sich jeglichen Kommentar erspart. Vielleicht kommt er nachher in der Debatte hierauf noch zu sprechen.Ich möchte — auch im Namen meiner Fraktion — nur sagen: die beiden punktuellen Vorschläge, die der Rat dort gemacht hat, müßten auch im Ausschuß und in den Hearings besprochen werden. Wir halten diese beiden punktuellen Vorschläge für die Gesamtaktion, die wir befürworten, nicht für so notwendig.Meine Damen und Herren, fünftens möchte ich sagen: Sicherlich wäre das Gutachten in seiner Wirkung schlagkräftiger, wenn die Gesamtrechnung für 1966 durch eine Rechnung für das folgende Jahr mit einer Preissteigerungsrate von 1 % ergänzt wäre. Heute wird vielfach — und dagegen muß man sich wenden, auch für den Rat — die tolerierbare Preissteigerungsrate von 2 % als einkalkulierte Inflationsrate angeprangert. Dabei wird übersehen, daß diese tolerierbare Preissteigerungsrate von 2 % für 1966 gemäß dem Stufenplan des Rates im nächsten Jahr in eine niedrigere Rate übergehen soll, nämlich in eine solche von 1 %. Herr Bundesminister Schmücker, Sie wollen sich dazu bisher nicht bekennen. Ich persönlich nehme an, nach dem Ergebnis vom Dezember und Januar wären Sie heilfroh, wenn wir am Ende des Jahres 1966 die tolerierbare Preissteigerungsrate von 2 % nicht überschritten.Sechstens. Das Stabilisierungskonzept ist hier in einem Jahresgutachten zusammengefaßt. Es ist kein vollständiges Wirtschaftsprogramm. Deswegen muß man feststellen, ein solches partielles Gutachten sollte sich nicht allein aus Maßnahmen der Nachfragebegrenzung zusammensetzen, sondern es muß als Wirtschaftsprogramm für dieses Jahr und das nächste Jahr durch Maßnahmen der Angebotsteigerung ergänzt werden. Die Aufgabe der Stabilisierung ohne Stagnation, meine Damen und Herren,Dr. Schillermuß von zwei Seiten, von der Nachfrage und dem Angebot her, angepackt werden. Das Konzept des Rates müßte also nach unserer Meinung in wachstums- und strukturpolitischer Hinsicht ergänzt werden. So genügt es nicht — auch Herr Kollege Burgbacher hat es kurz gestreift —, die öffentlichen Ausgaben nach einem Schnittmuster auf eine uniforme Zuwachsrate herunterzuschneiden. Es kommt entscheidend auf die qualitative Zusammensetzung an. Die für das künftige Wachstum wesentlichen Infrastrukturinvestitionen dürfen nicht Not leiden.
Nicht minder wichtig sind die privaten Investitionen. So sagen wir in diesem Punkte: ein Sparförderungsprogramm, das gerade die Einkommen ,mit relativ hoher Konsumquote zum Mehrsparen veranlassen würde, wäre ein wichtiger Beitrag zur Stabilisierung und zur weiteren realen Steigerung des Sozialprodukts. Deswegen befand sich der Bundesfinanzminister mit seinem Alleingang in Richtung auf Minderung der öffentlichen Sparförderung nicht auf dem richtigen Wege. Die Alternative der Sparförderung verdient gegenüber höchst prekären Maßnahmen der Investitionsdämpfung in jeder Beziehung den Vorzug.
Siebentens. Die Leitlinien des Gutachtens sollten nicht allein für Staatshaushalte und Tarifparteien gelten. Wir erwarten vielmehr, daß die Unternehmungen in ihrer Preispolitik sich der konzertierten Aktion anschließen. Preispolitische Zurückhaltung ist gerade bei Unternehmen mit Marktmacht und Preisführerschaft erforderlich.
Achtens und letztens. So weit das Konzept des Rates, wie wir es voll akzeptieren und wie wir es ergänzt haben möchten. Aber die wichtigste Vorbedingung einer Stabilisierungsaktion ohne Stagnation besteht darin, daß der Staat, in diesem Falle die Bundesregierung, sich zu den quantitativen Zielen des Konzepts bekennt. Die Regierung muß hier Maßstäbe setzen. Je deutlicher hier auch in Zahlen — ich weiß nicht, was ein guter Kaufmann wie Herr Schmücker gegen Zahlen hat; aus denen besteht das Geschäft; auch Ihr Geschäft besteht doch nicht aus Prosa, sondern aus Ziffern — die Führungsrolle und die Führungskraft der Regierung in Erscheinung treten, indem sich die Regierung zu den quantitativen Zielen des Gutachtens bekennt, um so mehr kann man auf punktuelle Maßnahmen verzichten. Aber gerade das eindeutige Ja der Bundesregierung zu der stufenweise abfallenden Preissteigerungsrate, dem Kernstück der ganzen Aktion, dieses Ja steht immer noch aus.Damit komme ich zur Haltung der Bundesregierung zu diesem Gutachten. Die Stellungnahme der Bundesregierung — das ist auch ein geschäftsordnungsmäßiges Wort an den Kollegen Dichgans — ist uns in einem gedruckten Papier überreicht worden. Auf dieses Papier hat der Herr Bundesminister in seiner Rede kaum Bezug genommen. Darauf muß man ja auch noch ein bißchen antworten. Ich wollte nur sagen: das ist unser Geschäft dabei, auch das gedruckte Papier der Bundesregierung zu lesen und dazu Stellung zu nehmen.Die Haltung der Bundesregierung seit dem Erscheinen des Gutachtens bis heute, möchte ich sagen, ist ebenso abwechslungsreich, zögernd und vieldeutig. Nach der erwähnten Kritik des Abgeordneten Dr. Stein an dem Gremium hatte sich Bundeswirtschaftsminister Schmücker erfreulicherweise — das will ich hier gerne feststellen — sehr deutlich für das unabhängige Gremium und für seine künftige Arbeit ausgesprochen. Aber die offizielle Stellungnahme der Bundesregierung vom 15. Dezember enthält schon in bunter Mischung alle Elemente, die uns seitdem in loser Folge als Regierungsstandpunkte — ich muß da im Plural reden — beschert wurden.Ich beginne mit dem Positiven. Wir können der Stellungnahme der Bundesregierung vom 15. Dezember — der gedruckten Vorlage — bescheinigen, daß die Regierung in einigen Punkten Fortschritte gemacht hat; zum Beispiel, daß alle Bundesministerien in ihren ausgaben- und einnahmewirksamen Kabinettsvorlagen die finanziellen Auswirkungen auf einen Zeitraum von fünf Jahren darzustellen haben, oder daß mit dem Haushaltsplan 1966 eine verbesserte mehrjährige Haushaltsübersicht veröffentlicht werden soll, ebenso des weiteren, daß über die Möglichkeit des Subventionsabbaus beim Haushaltsplan 1966 berichtet werden soll.Bedauerlich, meine Damen und Herren, ist dagegen in der Stellungnahme der Bundesregierung, daß sie die eigentliche langfristige Rahmenplanung für die Haushaltswirtschaft des Bundes erst im Zusammenhang mit der Finanzreform versuchen will. Diese Linie des Hinausschiebens dieser Dinge wird in der erwähnten Äußerung des Bundeswirtschaftsausschusses der CDU fortgesetzt, indem nun, nachdem das Gutachten der Sachverständigen der TroegerKommission vorliegt, noch eine Kommission gefordert wird, nämlich eine Sachverständigenkommission zur Ordnung des Finanzrechts. Also immer noch eine Kommission! Ich muß sagen: man kann auch des Guten zuviel tun. Wir werden da ein bißchen an die hanseatischen Revolutionäre von 1848 erinnert, die nach einer Republik verlangten und auf die Antwort des Senats: „Ihr habt doch eine!" munter riefen: „Dann wollen wir noch eine!"
So geht es hier mit der Kommission. Sie wollen noch eine Kommission für die technischen Details, die sich also an die Troeger- Kommission anschließen soll. Meine Damen und Herren, wir alle sollten die wichtigen Verfassungsfragen der Finanzreform, die ihre Zeit brauchen, nicht dazu benutzen, heute fällige politische Entscheidungen zur Geldwertpolitik zu vertagen.
Das war das erste zur Stellungnahme der Bundesregierung.Das zweite Dilemma der Bundesregierung besteht in der Frage des staatlichen Vorangehens in der
Metadaten/Kopzeile:
864 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966
Dr. SchillerStabilisierungsaktion. Bei aller Betonung der Gleichzeitigkeit und der Gleichmäßigkeit der großen Aktion — das ist hier nun schon mehrfach gesagt worden — sagt doch der Rat eindeutig, daß der Staat durch sein Verhalten Ziele sezten müsse, d. h. Vorleistungen erbringen solle. In der Erklärung vom 15. Dezember legt die Bundesregierung sehr barsch einfach „Wert auf die absolute Gleichzeitigkeit in der Bereitschaft aller zu dieser Politik", und leider klang das heute in den Äußerungen des Herrn Bundeswirtschaftsministers wieder an.Meine Damen und Herren, eine solche schroffe Haltung würde einfach den Verzicht des Staates auf seine wirtschafts- und finanzpolitische Führungsaufgabe in einer solchen Aktion bedeuten,
und die Stabilisierungsaktion wäre, glaube ich, wenn der Staat hier nicht führte, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wir brauchten uns dann heute nicht so viel Mühe ,zu machen und könnten uns anderen Annehmlichkeiten dieser rheinischen Tage hingeben. Aber an einer anderen Stelle spricht die Regierung von einem guten Beispiel, das sie geben will, und auch der Herr Bundeswirtschaftsminister hat später in einer Erklärung von Anfang Februar gesagt, der Staat müsse ein gutes Beispiel geben. Ich hoffe, das ist ein Fortschritt in dem Sinne, daß er Mut gefaßt hat im Hinblick auf die staatliche Führungsaufgabe.Damit kommen wir, meine Damen und Herren, auf den dritten und entscheidenden Punkt: die quantitative Zielangabe. Die Bundesregierung sieht sich nicht in der Lage, der vorgeschlagenen quantitativen Zielsetzung des Rates zu folgen, und zwar mit der schwachen Begründung, sie lehne es ab, „bei der Festlegung der ,Leitlinien' einen Preistanstieg zu antizipieren". Diese Begründung der Bundesregierung ist in der Tat nicht stichhaltig, da es sich nach dem Vorschlag des Rates doch um degressive Preissteigerungsraten in einem Stufenplan handeln soll. Und die Bundesregierung tut dann etwas, was die „Süddeutsche Zeitung" sehr sarkastisch beschrieben hat. Mit beredten Worten, ohne Zahlenangaben, sagt sie in ihrer Stellungnahme einfach, sie könne von ihrem Ziel, die Stabilisierung so rasch wie möglich zu erreichen, nicht ablassen. Das heißt nach der „Süddeutschen Zeitung" : „Stabil, stabiler, am stabilsten." Stabiler, weniger als 1 % in diesem Jahr: soll das heißen, wir werden am Ende des Jahres hier den großen Stabilissimus feiern?
Leider wurde heute Ähnliches wiederholt. Ich selber dachte, daß der Herr Bundeswirtschaftsminister, der erfreulicherweise den Dialog mit den Tarifparteien geführt hat und führt, mehr auf der Basis des Gutachtens stünde, deswegen also mehr bei den 6 % wäre, wie das Gutachten sie vorgeschlagen hat. Aber der Herr Bundeskanzler hat im Sinne der Linie: noch weniger oder noch stabiler, in seinem Interview in der „Welt" vom 29. Januar ein übriges getan. Er hat nämlich im Blick auf die Tarifverhandlungen ex cathedra die 4 % zur richtigen Zahl erklärt. Das heißt also: Zuwachs des realen Sozialprodukts ohne irgendeine Preissteigerung. Ich frage: Was denkt man sich dabei? Ist mit jenem Interview vom 29. Januar in der angesehenen Morgenzeitung der Zukunftsstaat ausgebrochen, und haben wir jetzt im Jahre 1966 von diesem Tage ab mit einem Schlage eine Preissteigerungsrate von 0 % erreicht? Ich frage das nur. Übersieht der Kanzler, daß er selbst mit seinem eigenen Haushaltsvoranschlag, nach eigener Schönrechnung — wir haben sie heute wieder gehört —: Ist 65 gegen Soll 66, mit 5 % angetreten ist? Das ist doch ein kleiner Unterschied gegenüber den 4 %, die da in die „Welt" gesetzt wurden. Und was wird der Kanzler sagen, wenn im Laufe des Jahres nun eine Preissteigerungsrate von x % eintritt, um die also die Arbeitnehmer, wenn sie jetzt in den Lohnverhandlungen nur auf 4 % gehen würden, in ihrem Anteil am Zuwachs des Sozialprodukts schlicht und ergreifend geprellt wären?
Meine Damen und Herren, politische Zechprellerei — das wollen wir doch alle nicht. Denken wir nur einen Augenblick daran — das klang ja auch in den beiden Beiträgen schon an —, daß wir im Dienstleistungsbereich, bei Bahn und Post, noch zwei wichtige Sanierungsaufgaben vor uns haben, die sicherlich mit Preiskorrekturen nach oben verbunden sein werden. Seien wir doch ganz realistisch! Und denken wir an die Bewegung der Mieten auch in diesem Jahr. Wie kann man da die Lohnleitlinien und überhaupt die Geldwertpolitik auf 4 % realen Sozialproduktszuwachs abstellen, wenn wir alle wissen, daß wir unter den augenblicklichen Umständen schon im Januar mehr als 4 % reine Preissteigerung, die also dazukäme, erreicht haben?Welches Ziel — nun frage ich wieder nach Zahlen — hat die Regierung in ihrer Geldwertpolitik? Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat Dialoge mit den wirtschaftlichen Gruppen veranstaltet, und zwar auf der Basis des Gutachtens und, ich glaube, auch in Gegenwart der Sachverständigen. Das ist alles sehr schön. Aber was gilt nun als regierungsamtlich? Wir insistieren, wir fragen ganz beharrlich: Soll das Konzert auf die „Sexte" oder auf die „Quart" abgestimmt werden? Oder soll ein Roulette veranstaltet werden — um ein anderes Bild zu gebrauchen —: 6 oder 4? Faites votre jeu, Messieurs!
Leider kann ich ja bei Ihnen nicht sagen „rouge et noir" , nicht wahr?
Aber bisher wollte ich immer noch sagen — ich hoffe, ich darf es noch sagen —: für 6 oder 4 würde ich eigentlich vorschlagen: Schmücker oder Erhard, das eben ist die Frage.
Meine Damen und Herren, diese Frage nach Zahlen, nach nüchternen, banausischen Zahlen — 6 oder 4 % —, ist mehr als nur Mathematik oder Elementarrechnerei oder Adam Riese. Das ist einfach die Wahl zwischen zwei Kompetenzen. Das ist ein
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966 865
Dr. Schillerreeller Fortschritt. Endlich haben wir es einmal nicht mit Schmus zu tun, mit allgemeinen Wohlverhaltensregeln und Sprüchen, sondern diesmal haben wir es wirklich mit ganz konkreten Alternativen zu tun: 4 ader 6 oder 6,5 %. Das ist ein Fortschritt.Aber ich möchte die ernstesten Warnungen vor des Kanzlers Leitzahl aussprechen. Ist er nun auch ökonomisch à la baisse eingestellt, daß er die Stabilisierung — auf null Prozent Preissteigerung, heißt das — mit einer allgemeinen Deflation verbinden will? Dann hätte er den Boden des Gutachtens verlassen. Gut, das ist seine Sache. Er kann das Gutachten auf seinen Balkon tun. Aber dann sollte man uns klipp und klar sagen: Wir von der Regierung, lehnen das Gutachten ab.Um nun Abweichungen vom Gutachten zu begründen, wird gern auf die veränderte Konjunkturlage hingewiesen. Aber, meine Damen und Herren, Zeiten verlangsamten Wachstums — das wissen wir nun in der ganzen Zeit .der Vollbeschäftigung seit 1955 — waren immer dadurch gekennzeichnet, daß durch die Minderauslastung der Produktionskapazitäten der Produktivitätsfortschritt nachließ, d. h. in den sogenannten Wachstumspausen gingen die Preise nicht etwa auf ihren Ausgangspunkt zurück, sondern sie gingen in den Wachstumspausen weiter nach oben. Ich will Ihnen nur die Preissteigerungsraten in den Wachstumspausen in der Nachkriegszeit vorlegen. Das ist zugleich eine stolze Bilanz der erfolgreichen Geldwertpolitik, die die Regierungen Erhard und vorher die RegierungenI Adenauer 'betrieben haben. 1954: 0,1 %; 1958 — die nächste Pause —: 2,2 %; 1961/62: 2,7 %, 1965 jahresdurchschnittlich 3,4 % und Dezember 1965/ Januar 66, wie ich vorhin schon sagte, 4,2 %. Das ist die Treppenentwicklung der Preise gewesen.Wie wir alle wissen, ist die Tariflohnbewegung — auf diesen Punkt will ich jetzt ganz kurz eingehen —, wie sie das Gutachten auch selbst darstellt, diesen Preiswellen stets mit einem Abstand gefolgt. Sicherlich geht dabei .das Streben der Gewerkschaften dahin, am Ende einer solchen Phase, wenn neue Tarife auszuhandeln sind, entschädigt zu werden für die Einbußen der letzten Preissteigerungsperiode und zugleich ein wenig abgesichert zu werden gegen die zukünftigen Preissteigerungen. Niemand von uns und niemand von den Gewerkschaften, glaube ich, hat den Wunsch, periodisch zu „Inflationsdeppen" zu werden; das ist ganz nüchtern nachzufühlen.Wer dabei die Leitlinien des Rates für mögliche Lohnsteigerungen als zu hoch kritisiert — die 6,5 % als groben Anhaltspunkt fasse ich so auf, und ich spreche da auch im Namen meiner Freunde, wenn ich sage, daß dabei Arbeitszeitverkürzungen, wenn sie stattfinden, eingerechnet sind; ganz klare Buchhaltung hier! —,
der möge folgendes bedenken — und das ist ein ernstes verteilungspolitisches Argument: das Konzept der Gutachter, wie immer man es beurteilen mag — wir stehen dazu —, ist in seiner Anlage, inseiner Absicht absolut verteilungsneutral. Ich weiß nicht, ob das die Bundesregierung gemerkt hat. — Herr Burgbacher stimmt dem zu. Das Gutachten ist in seiner Absicht verteilungsneutral. Dabei soll — das ist eine ganz wichtige Sache für die Stabilisierungsaktion — die im Jahre 1965 erreichte Relation zwischen Lohneinkommen und Gewinneinkommen in etwa gehalten werden. Das ist auch der verteilungspolitische Sinn dieser groben Richtnormen von 6,5 %. Wer jetzt aber im Gegensatz zu dem Gutachten darunter geht und für 4% eintritt, der plädiert, um es ganz präzise zu sagen, für eine Rückdrehung der Einkommensverteilung — für eine Verschlechterung des Lohnanteils — vor den Stand von 1965.
Zusammenfassend möchte ich folgendes sagen. Ein sehr aufmerksamer unabhängiger Kommentator dieses Hauses warnte uns alle vor einiger Zeit vor diesem Tag der Debatte über das Sachverständigengutachten. Er meinte, es würde ein Tag „gigantischer Heuchelei" werden. Alle Fraktionen, alle Redner würden ihre obligaten Schwüre auf Sparsamkeit und Stabilität ablegen und dann nach Hause oder in die Ausschüsse gehen — für manche Abgeordnete, die sehr fleißig sind, ist das ziemlich dasselbe, Ausschüsse und zu Hause — und dort wieder bewilligen, beschließen, sündigen usw. Bisher hat diese Debatte gezeigt, daß die Bundesregierung sich noch nicht klar ausgesprochen hat. Ich will also noch nicht das Wort Heuchelei gebrauchen; das nehme ich also zurück. Aber wir Sozialdemokraten — das steht hier fest — werden auf jeden Fall uns nicht beteiligen an einem Scheinwettbewerb um sogenannte Kürzungen nach unten, unter den Pegel des Sachverständigengutachtens. Diese Feststellung bekommen Sie ganz klar. Diesen Scheinwettbewerb machen wir nicht mit. Den sehen wir allerdings als Heuchelei an.
Zugleich haben wir seit Erscheinen des Gutachtens eine wesentliche allgemeine Erfahrung gemacht: nämlich die magnetische Kraft von Leitlinien, die von einem unabhängigen Gremium formuliert wurden. Wir müssen doch feststellen, daß ein großer Teil der Tarifpartner und der Schlichter nach wie vor bestrebt sind, sich in der Nähe der Leitlinien zu halten. Daß da am Anfang auch ein Rechenfehler passiert ist, daß man die jahresdurchschnittlichen Zuwachsraten des Gutachtens mit Zuschlägen am Jahresende verwechselt hat, das sollte man diesem Versuchsstadium zuschreiben.Wir stehen hier in der Tat in einem großen Experiment, das für die Weitentwicklung unserer Wirtschaftsordnung von großer Wichtigkeit ist und das man präzise ansprechen muß. Wir befinden uns nämlich — und das ist weder vom Minister noch von Herrn Burgbacher gesagt worden — in der ersten Phase tastender Versuche, in der die autonomen Tarifparteien gesamtwirtschaftliche Orientierungshilfen bei ihrer Lohnfindung anzuwenden beginnen.
Metadaten/Kopzeile:
866 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1906
Dr. SchillerDiese Versuche sollte man nicht mutwillig oder durch Unentschiedenheit oder Störfeuer zerschlagen.
Der Staat hat die Autonomie der Tarifparteien zu achten und zu schützen. Er kann den Dialog fördern und dazu beitragen, daß Orientierungshilfen durch unabhängige Sachverständige zustande kommen. Aber nichts würden wir erreichen — und leider haben wir ja die Erfahrung gemacht — mit staatlicher Parteinahme für eine Seite das waren die 4 —oder mit einer Politik des doppelten Bodens — der Regierung nämlich —, die einmal ja sagt zum Gutachten und dann hinterher die Orientierungshilfen dieses selben Gutachtens durch Nennung anderer Zahlen desavouiert. Mit einem solchen Verhalten der Bundesregierung würden die ersten zaghaften Schritte zur Einkommenspolitik und zur versachlichten Diskussion der Lohnfindung vereitelt werden.Ich deutete schon bei der Skizzierung der Stellungnahme der sozialdemokratischen Fraktion zum Gutachten an, daß dieses Gutachten nicht ohne Risiko ist. Es setzt klares beherztes Handeln der staatlichen Repräsentanten voraus. Es fordert vor allem den Mut der Regierung, mit Nennung von Zahlen zu sagen, wohin sie mit ihrer Geldwertpolitik will. Wenn das nicht geschieht, Herr Bundesminister, wenn die Preissteigerungen im Laufe dieses Jahres dann wieder über 2 % hinausgegangen sind, so wird es am Ende dieses Jahres mit Sicherheit peinliche Fragen geben. Es kann sich dann herausstellen, daß die von manchen auf Ihrer Seite als zu hoch angesehene Norm von 6,5 % in Wirklichkeit zu niedrig war. Dann werden viele sich geprellt fühlen, und dann, Herr Bundesminister, wird es mit Recht heißen: Gentlemen, bitte zur Kasse!
Aber in beinahe letzter Minute — ich versuche es noch einmal — sage ich: Es besteht noch eine Chance, meine Damen und Herren, die Weichen für dieses Jahr richtig zu stellen. Wenn heute von der Regierung ein klares Wort gesprochen wird, etwa in Richtung der Leitlinie 6,5 %, eine ganz klare und präzise mit Zahlen versehene Erklärung der Absicht; wenn die Unternehmerverbände und die Gewerkschaften sich in der Nachbarschaft — natürlich nicht auf Punkt und Komma — der allgemeinen Leitlinien halten; wenn keine Ausflüchte, keine Flausen mehr gemacht werden; wenn schließlich auch, wie das hier angedeutet wurde, ein wachstumspolitischer Plan danebengestellt würde: dann könnte man in diesem Jahr den Kurs auf Stabilität nehmen und diese Stabiltät dann in den folgenden Jahren erreichen. Wir von der sozialdemokratischen Fraktion sind zu unserem Beitrag bereit. Sollte die Regierung einlenken und einen klaren Maßstab geben, so würde uns das von Herzen freuen. Dann wäre ein neuer Weg gefunden, der Aufstieg und Stabilität verbindet.Wenn das alles durch ein einfaches Wort des Ministers, gesprochen im Namen des Kabinetts, erfüllt würde dann könnten wir alle uns mit Wolf Biermann sagen:Junge, ich hab' Leute sich ändern sehen, Junge, das war manchmal schon einfach schön. Aber nützt uns das? Ja.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Starke.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich für die Freien Demokraten den Gutachtern den Dank aussprechen, die uns dieses Gutachten vorgelegt haben. Dieser Dank wird auch nicht dadurch vermindert, daß wir den einen oder anderen Akzent in der Kritik anders setzen. Ich bin auch nicht der Meinung, Herr Kollege Schiller, daß eine Abweichung von dem Gutachten in der einen oder anderen Frage bereits, wie Sie vorhin meinten, eine Ablehnung des Gutachtens sei; denn unzweifelhaft ist dieses Gutachten als eine Diskussionsgrundlage für uns und auch für das gedacht, was die Bundesregierung an Maßnahmen einleiten wird. Dieses Gutachten und diese Debatte sollen für uns ein Anlaß zur Besinnung, zur Prüfung und dann zum Handeln sein.Ich möchte für die Freien Demokraten weiterhin der Bundesregierung und dem Bundesfinanzminister, nicht zuletzt aber auch dem Notenbankpräsidenten, den Dank aussprechen.
Dieser Dank gilt auch für die Zusammenarbeit in der Koalition; denn jenseits alles dessen, was uns der Kollege Schiller soeben vorgetragen hat, sind einige — für Sie sicherlich ganz kleine, für uns aber recht bedeutsame — Dinge geschehen. Wir haben im Kabinett einen Bundeshaushalt verabschiedet, der sich auf einem gute Wege befindet. Wenn wir auch der Ansicht sind, daß man in den Beratungen des Haushaltsausschusses und, wenn es muß, im Plenum noch vieles dazu tun kann, um hier und da eine Verbesserung zu erzielen, so ist es insgesamt ein guter Weg, den man da beschreitet.Meine Dankbarkeit und mein Appell gelten vor allem der Tatsache, die wir immer wieder erwähnen sollten, daß das Haushaltssicherungsgesetz vorgelegt und verabschiedet worden ist. Ich möchte der verehrlichen Opposition sagen: Sie wird ja vielleicht auch irgendwann einmal in die Lage kommen, durch eine Regierung, an der sie beteiligt ist, solche Gesetze vorzulegen. Dann wird sie ganz verstehen, was ein solches Gesetz bedeutet. Dabei kommt es im Augenblick gar nicht darauf an, aus welchem Anlaß es geschaffen werden mußte. Da ist, wie Sie wissen, das Hohe Haus insgesamt beteiligt gewesen. Es kommt vielmehr darauf an, daß man das Gesetz beraten hat und daß ihm viele Kollegen — sehr schweren Herzens, wie wir wissen — zugestimmt und damit einen guten Weg beschritten haben. Das scheint mir zu Beginn einer solchen Debatte über dieses Gutachten eine wichtige Feststellung zu sein.Was den Bundesfinanzminister betrifft, so bin ich nicht mit Ihnen einverstanden, Herr Kollege Schiller,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag -- 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966 867
Dr. Starke
wenn Sie der Meinung sind, Sie dürften ihn hier schelten, daß er die Finanzreform verzögere. Ich möchte Ihnen sagen: Vielleicht kommen Sie einmal in die Verlegenheit, sich mit der Finanzreform an einer so verantwortlichen Stelle befassen zu müssen. Dann werden Sie über das, was in einer relativ kurzen Zeit in einem ausgezeichneten Gutachten geleistet worden ist, vielleicht doch etwas anders denken.
Wir alle wissen, daß uns da noch sehr schwierige und schwierigste Verhandlungen bevorstehen. Aber das hindert nicht die Feststellung, daß nun eben zunächst einmal das Gutachten als Grundlage für die Finanzreform vorliegt, auf das ich heute natürlich nicht eingehen will.Ich möchte noch ein Zweites sagen. Herr Kollege Schiller, Sie sprachen von einem Alleingang des Bundesfinanzministers bei der Sparförderung. Dazu wird ein Kollege von mir noch eingehend Stellung nehmen. Ich möchte Ihnen nur sagen, daß der Bundesfinanzminister bisher einen von ihm verantwortlich gezeichneten Plan in dieser Frage noch nicht vorgelegt hat. Das möchte ich immerhin richtigstellen, obwohl ich Ihnen auf der anderen Seite sagen muß, daß ich natürlich — was die Sache betrifft — Ihre Ausführungen keineswegs ungern gehört habe.Nun haben Sie, Herr Kollege Schiller — und das möchte ich zu Beginn noch erwähnen — von der Führung gesprochen, und zwar von der Führung durch die Bundesregierung. Sie haben die Behauptung von einer mangelnden Führung vor allem damit begründet, daß Sie darauf abhoben, daß die Bundesregierung keine quantitativen Ziele nenne. Ich möchte die Bundesregierung hier nicht in Schutz nehmen; das ist gar nicht meine Aufgabe. Ich möchte nur sagen: ich schließe mich der Bundesregierung voll und ganz an, wenn sie der Meinung ist, daß die Nennung quantitativer Ziele Festlegungen enthält, die mit großen Gefahren verbunden sind. Es wird ja so oft bei diesen Erwägungen gesagt, man könne einmal solche Ziele nennen; die müßten dann, wenn die Entwicklung weitergeht, eben wieder berichtigt werden. Ich frage mich bloß, was sie dann für einen Sinn haben. Wenn aber die Bundesregierung sie nennt ist, das natürlich etwas ganz anderes, als wenn Sie sie hier als Opposition nennen. Sie können ja immer sagen, daß es, wenn man es so gemacht hätte wie Sie, so oder so gekommen wäre. Es ist auch etwas anderes, wenn ein Institut oder meinetwegen auch das Sachverständigengutachten Ziele nennt. Ich bin dagegen, daß die Bundesregierung solche quantitativen Ziele in dieser Form nennt und sich damit zugleich Ziele steckt, von denen sie dann nicht wieder abgehen kann. Dann kommen wir zu diesen leider verhängnisvollen Entwicklungen, wie Sie sie um uns herum sehen können, daß sich nämlich Regierung und Bürokratie bemühen, diese Ziele, obwohl die Entwicklung gegenläufig ist, trotzdem zu erreichen. Das ist aber meist, wie wir alle wissen, mit einer stärkeren Geldentwertung verbunden. Es lag mir daran, das ganz besonders hervorzuheben.Ich möchte statt dessen, weil ich das neulich schon in der Debatte über die Regierungserklärung gesagt habe, noch einmal zusammenfassend erklären: Es wäre mir lieber, wenn die Opposition noch im Laufe dieser Debatte zu einer Reihe von Fragen eindeutig Stelung nähme; aber nicht durch die Nennung quantitativer Ziele in einer Form, als ob man mit der Nennung das Ziel schon erreicht hätte.
Sie sollten auch nicht so viel um Formalitäten herumreden, ob das etwa in diesem Gutachten so steht oder in dem und dem Absatz so steht, sondern Sie sollten gar konkret sagen, wie Ihre politische Haltung in diesem Hause ist. Ich habe Sie damals schon danach gefragt, Herr Kollege Schiller, und Sie sind mir darauf die Antwort schuldig geblieben. Sie wissen, daß die Ausgaben, über die Sie damals so viel gesprochen haben, zu dem Haushaltssicherungsgesetz geführt haben und nach meiner Auffassung auch führen mußten. Ich kann es mir leisten, einiges dazu zu sagen, denn ich habe immerhin schon 1961 gewarnt. Diese Ausgaben hat die Opposition mit beschlossen; sie hat darüber hinaus noch höhere Anträge gestellt.
— Nein, Sie kommen immer wieder damit, Herr Kollege Schoettle. Es tut mir leid, aber Sie kommen immer wieder damit.
Trotzdem haben Sie diese Ausgaben hier kritisiert, 1 als falsch, unrichtig und konjunkturwidrig bezeichnet. Das ist doch wichtiger, als von 2, 3 oder 4 % Geldentwertung zu sprechen; denn das hat gar keinen Sinn. Das hier ist konkrete Politik.Die zweite Frage ging dahin — auch darüber haben wir nichts gehört —, wie die Sozialdemokratie zu den Programmen steht, die wir alle kennen und die sie vor der Wahl vertreten hat.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte sehr!
Herr Kollege, Sie haben eben in einem Nebensatz gesagt, es habe gar keinen Zweck, Zahlen wie 2, 3, 4, 6 1/2 % zu nennen. Sind Sie der Meinung, daß es sinnlos war, die Zahlen, die in den sogenannten Leitlinien des Sachverständigengutachtens genannt werden und die die Bundesregierung in der von Herrn Schiller vorhin zitierten schriftlichen Antwort wiederholt hat, zu nennen? Sind Sie der Meinung, daß es für einen Sachverständigen nützlich ist, Zielzahlen zu wissen oder auszusprechen, für die Regierung jedoch schädlich, weil sie hinterher daran gebunden werden könnte?Dr. Starke FDP): Ich habe gar nichts dagegen; Sie haben nicht genau zugehört. Ich habe868 •Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966
Dr. Starke
gesagt, daß es sehr gut sei, wenn man das Sachverständigengutachten kenne. Ich halte es aber für etwas anderes, wenn sich eine verantwortliche und im Amt befindliche Regierung auf solche Zahlen festlegt, weil sie dann nämlich nicht wieder davon abgehen kann, wie das alle anderen können, wenn die Entwicklung anders verläuft.
Herr Starke, trifft diese Ihre Bemerkung auch auf die Zahl zu, die der Bundeskanzler für Löhne und Gehälter festgesetzt und auf die er sich festgesetzt hat?
Wir haben vorhin, Herr Kollege Wehner, sehr viel über die gegensätzlichen Zahlen des Bundeswirtschaftsministers und des Bundeskanzlers — oder umgedreht, wenn Sie es so haben wollen — gehört. Ich bin der Meinung, daß wir hier nicht in Tarifverhandlungen stehen, sondern daß wir Politik in diesem Hause machen.
— Ich finde, daß diese ganze Auseinandersetzung schon ein Stück Politik ist.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Bitte.
Herr Kollege, Sie haben vor zwei Minuten den Sozialdemokraten vorgeworfen, sie wichen der Frage aus. Meinen Sie nicht, daß man das von Ihnen sagen müßte, nachdem Sie auf die Frage des Kollegen Wehner mit einem Hasenschlenker geantwortet haben? Wie ist es dann wirklich? Sind Sie der Meinung, der Herr Bundeskanzler habe im Prinzip recht gehandelt, überhaupt eine Zahl zu nennen, und er habe nur eine falsche Zahl genannt, oder sind Sie der Meinung, er habe im Prinzip recht gehandelt und seine Zahl sei auch richtig?
Herr Kollege Schmidt, ich bin Ihnen natürlich unterlegen, was diese Sprechart anlangt.
Daran besteht gar kein Zweifel. Das haben Sie auch in Hamburg nicht verlernt.
Aber hier dreht es sich doch — —
— Nun lassen Sie mich doch ausreden. Ganz konkret geht es mir doch um folgendes. Ich bin der
Ansicht, daß das Nennen von solchen Zahlen hier in diesem Hause über Dinge, die wir doch nicht beschließen, keinen Sinn hat. Ich will mich — das werden Sie gleich sehen — ganz klar zu einer Reihe von Punkten äußern, wo Sie andere Meinungen geäußert haben, und das halte ich für nützlich.
Gestatten Sie eine weitere Frage des Herrn Abgeordneten Helmut Schmidt?
Ohne meinerseits zu einem Wettlauf in Sprechweisen beitragen zu wollen, möchte ich nur noch die Frage stellen, Herr Kollege, ob Sie meinen, daß es nützlich ist, außerhalb dieses Hauses Zahlen zu verkünden? Also in diesem Hause nein, aber außerhalb ja, oder wie meinen Sie es wirklich? Können Sie sich nicht dazu durchringen, Herr Kollege, klipp und klar zu sagen, daß Sie die Meinung des Herrn Bundeskanzlers für falsch halten?
Meine verehrten Damen und Herren von der Opposition, Sie dürfen bitte nicht vergessen, daß ich bei der Einleitung dieser kleinen Kontroverse dabei war, von den Zahlen zu sprechen, die die quantitativen Ziele beinhalten, die die Bundesregierung setzen soll. Sie haben dann — ich gebe Ihnen zu: in einer meisterlichen Weise — auf ein ganz anderes Gebiet übergeleitet, wo nicht die Bundesregierung Dinge festsetzt, sondern wo die Sozialpartner etwas festsetzen. Sie sind doch wie wir an der Autonomie der Sozialpartner in höchstem Maße interessiert.
Ich möchte dazu bemerken — man muß ja auch einmal so etwas aus dem Nähkästchen sagen —: ich will Ihnen gar nicht ausweichen, aber ich möchte mich nicht von Ihnen auf einen Weg bringen lassen, wo ich jetzt zu augenblicklichen Tarifverhandlungen sprechen müßte, einfach deshalb, weil schon dort drüben ein Kollege von der FDP schußbereit sitzt, der über diesen Punkt sprechen wird und dem ich die ganze Rede wegnehmen würde.
Zu den quantitativen Zielen, von denen Herr Kollege Schiller im Zusammenhang mit der Geldentwertung gesprochen hat, kann ich nur sagen: ich halte es nicht für nützlich, daß die Bundesregierung sich solche Ziele öffentlich setzt.Lassen Sie mich zum Thema zurückkehren. Ich habe danach gefragt, wie es mit den Programmen steht und wie sie in das eingebettet werden sollen, was Sie hier konjunkturpolitisch vertreten. Es tut mir leid, daß ich wieder darauf eingehen muß, aber ich vermisse eine Antwort. Wenn Sie jetzt von gewissen Konjunkturabschwächungen sprechen, so hätte ich gern einmal von der Opposition gehört: Sind Sie jetzt der Meinung, das Haushaltssicherungsgesetz, zu dem Sie nicht mehr Stellung neh-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag -- 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966 869
Dr. Starke
men, war überflüssig? Sind Sie der Meinung, daß die Konjunktur Ihnen nun eine Entschuldigung dafür geben kann, daß Sie weder dem Haushaltssicherungsgesetz zugestimmt noch irgendeine Alternative vorgelegt haben?
Das ist eine Frage, die ich gern einmal beantwortet hätte. Wir sind der Meinung, daß solche Dinge nicht mit irgendeinem quantitativen Ziel, sondern nur mit ganz konkreten politischen Aussagen gefördert werden können.Nun möchte ich einige Einzelpunkte im Zusammenhang mit dem Gutachten erörtern. Der Herr Kollege Schiller hat hier — nicht in Worten, aber dem Sinne nach — darzustellen versucht, was für eine schlechte Geldwertpolitik diese Bundesregierung betrieben habe. Ich bin anderer Meinung. Der Wirtschaftspolitik, die diese Bundesregierung seit 1949 betreibt, haben wir, wie der Bericht der Europäischen Kommission für das letzte Jahr feststellt — er ist immerhin von Herrn Marjolin verfaßt —, das höchste Wirtschaftswachstum in der EWG, den größten Produktionszuwachs, die höchste Investitionsquote und mit Belgien den niedrigsten Preisanstieg zu verdanken; das ist auch etwas, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Warum wollen wir das übersehen? Sie sagen nur: schlechte Geldwertpolitik; warten Sie ab, bis die Bevölkerung Ihnen das Mandat gibt, eine bessere zu machen.Auf der anderen Seite — das ist die Kehrseite —entbehren wir stärker und stärker des notwendigen Gleichsgewichts einer Stabilität im Innern und in der Zahlungsbilanz. Die Zuwachsraten werden geringer, die Geldeinkommen steigen, die Gesamtnachfrage wächst stärker als die industrielle Produktion, die Preise und Löhne streben nach oben, der Import wächst stärker als der Export.Nun möchte ich folgendes betonen, um das klarzustellen; ich bin für Klarheit, damit man weiß, wie der Weg weitergeht. Trotz konjunkturabschwächender Anzeichen, die wir nicht leugnen können — es wäre töricht, so etwas zu leugnen —, und trotz einer noch stärkeren Differenzierung in den einzelnen Branchen und Wirtschaftsbereichen, bleibt es wie bisher die wichtigste Aufgabe, die Geldwertstabilität zu sichern. Trotz dieser Anzeichen darf man sich davon nicht abbringen lassen. Herr Kollege Schiller, Sie haben dem Bundeskanzler und damit der Koalition und der Regierung vorgeworfen, das, was hier und da geäußert worden sei, könnte, wenn man es durchführte, zu einer allgemeinen Deflation führen; das wäre eine deflationäre Roßkur. Sie werden mit mir einer Meinung sein, daß diese Ausdrucksweise zumindest vom wissenschaftlichen Standpunkt aus als übertrieben anzusehen ist.Es kommt darauf an, die Ausgabenflut der öffentlichen Hand in Einklang mit dem Wachstum des Sozialproduktes zu bringen und zu halten. Eine weitere wichtige Aufgabe in dieser Zeit ist es, die Nachfrage von Bund, Ländern und Gemeinden nachDienstleistungen und Gütern in Einklang mit dem Angebot zu halten. Hier muß zuerst eine Einigung für die Finanzreform gefunden werden. Ferner müssen die Einkommensteigerungen und damit die Kostensteigerungen in der Wirtschaft im Rahmen der Steigerung der Produktivität gehalten werden. Schließlich müssen angesichts des Arbeitskräftemangels Arbeitszeitverkürzungen unterlassen werden.Die Freien Demokraten erwarten deshalb von der Bundesregierung weiterhin eine zielstrebige Wirtschafts-, Finanz- und Währungspolitik, die einen festen Rahmen für die soziale Marktwirtschaft setzt. Wir erwarten ein Programm zur Geldwerterhaltung, das nicht in der Nennung quantitativer Ziele besteht und das sicherlich nicht in einem Zuge verwirklicht werden kann, das aber im Zusammenhang vorgetragen werden sollte. Es würde dann nämlich vorweg wohltuend seinen Einfluß auf die Entwicklung ausüben, und das würde Vertrauen und Zuversicht in der Bevölkerung und in der Wirtschaft stärken.Wir möchten betonen, daß die Stabilität von Währung und Wirtschaft und dadurch die Erhaltung des Geldwertes und der Arbeitsplätze auf lange Sicht im Interesse der breiten Schichten unseres Volkes gerade in unserer Situation vordringlich sind. Geldwertstabilität ist für uns keine Utopie, und sie ist dem Wachstum nicht abträglich. Auf lange Sicht gibt es nach unserer Auffassung und wie die Erfahrungen gezeigt haben, kein reales Wachstum ohne Stabilität. Das Wirtschaftswunder, von dem wir so oft in unserer Bundesrepublik sprechen, ist gekennzeichnet durch ein Wachstum bei gleichem Anstieg von nominellem und realem Sozialprodukt. Das sollten wir nie vergessen. Auf eine so einfache Formel kann man es bringen. Wir wissen, diese Bemühungen um Stabilität von Währung und Wirtschaft verlangen von Staatsbürgern und Politikern, daß sie auf manche liebgewordene Vorstellung verzichten. Aber das ist der unumgängliche Preis für eine freiheitliche Entwicklung.Ein weiterer Punkt, den wir erwähnen möchten, ist folgender: Nach unserer Auffassung brächten Steuererhöhungen beim Staat keine Lösung der Probleme. Sie bedeuteten in unserer Situation, vor der Beratung über die Finanzreform und bevor wir ausreichend geistig darauf vorbereitet sind, auch einmal Geld stillzulegen, eine Flucht aus der Wirklichkeit. Das gilt auch gegenüber Äußerungen des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium, von denen ich allerdings gestehen muß, daß ich sie nur gestern in den dpa-Meldungen gelesen habe. Ich habe das Gutachten selbst noch nicht in der Hand gehabt.Ein weiterer Gesichtspunkt, der für uns von Bedeutung ist: höhere Einnahmen im Jahre 1966 müssen vor allem dazu verwendet werden, die Inanspruchnahme des Kapitalmarkts durch die öffentliche Hand zu verringern. Lassen Sie mich nur eine Zahl nennen: 3,5 Milliarden DM Anleihewünsche nur der Länder sind für 1966 zu hoch. Hier muß zuerst im gemeinsamen Handeln von Bund, Ländern und Gemeinden eine geringere Inanspruchnahme des Kapitalmarkts sichergestellt werden.
Metadaten/Kopzeile:
870 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966
Dr. Starke
Wenn wir bei den öffentlichen Haushalten sind, möchte ich auch ein Wort zu den Subventionen sagen. Auch wir sind für eine Durchforstung der Subventionen. Ohne sie ist eine Sanierung der Haushalte nicht möglich. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, wie bei der allgemeinen Entwicklung wird man hier besonders die Lage der Dienstleistungsbereiche und der lohnintensiven Bereiche im privaten wie im öffentlichen Sektor berücksichtigen müssen. Ohne Kosten- und Preiswahrheit kommt man hier nicht aus. Ich habe mit Bedauern, Herr Kollege Schiller, festgestellt, daß Sie als Begründung für ein höheres Ergebnis bei den Tarifverhandlungen der Sozialpartner angeführt haben, daß man ja Post und Bahn sanieren müsse. Ich bin — und das möchte ich für die Freien Demokraten ausdrücklich sagen — nicht der Meinung, daß diese Durchforstung der Subventionen und die dadurch angestrebte Sanierung der Haushalte erreicht werden kann, wenn jede Maßnahme von einer Lohnwelle begleitet werden würde. Denn dann würden wir besser die Hand gar nicht erst an diese Durchforstung legen. Diese Probleme gelten, wie Sie wissen, für die Bundesbahn, für die Bundespost. Sie gelten aber auch für den Wohnungsbau und nicht zuletzt für die Landwirtschaft. Ich möchte an dieser Stelle einfügen, daß geprüft werden muß, inwieweit wir bei der Landwirtschaft in der EWG etwa einen anderen Weg gehen könnten und sollten.
Herr Abgeordneter I Schiller möchte Sie etwas fragen.
Herr Kollege Starke, ich weiß nicht, wie oft Sie mich mißverstanden haben. Können Sie mir nachweisen, wann ich in meinem Beitrag eine Lohnwelle befürwortet habe? Sie haben das eben gesagt.
Nein, nein, ich habe nicht gesagt, daß Sie von einer Lohnwelle gesprochen haben. Ich habe expressis verbis gesagt, daß Sie die von Ihnen angestrebten höheren Ergebnisse bei den Tarifverträgen der Sozialpartner u. a. damit begründet haben, daß man bei Bahn und Post Sanierungen durchführen müsse, und das würde zu gewissen Tariferhöhungen oder dergleichen führen. So haben Sie das gesagt.
Ich glaube, Sie haben wirklich vieles mißverstanden oder nicht ganz mitbekommen. Würden Sie sich daran erinnern, Herr Kollege Starke, daß ich über die Prognose des Preisniveaus für das Jahr 1966 gesprochen habe
und daß ich dort auf drei Tatbestände hingewiesen habe, die unser Preisniveau sicherlich nach oben hin drücken würden?
Herr Kollege Schiller, Sie werden ja die Rede haben, Sie werden das lesen können, und ich werde es selbst nachlesen.
Wir können uns noch einmal unterhalten. Sie werden finden, daß es in dem Abschnitt über die Tarifverhandlungen steht.
— Na, ob das arrogant ist? Ich kann ja wohl noch eine andere Meinung als Herr Schiller vertreten.
Wenn das schon arrogant sein soll!
Wir wollen uns nicht über Adjektive oder Adverbien unterhalten.
Dabei sprechen wir noch nicht einmal in der besonderen Sprache der Gutachter, die Sie erwähnten, sondern in einer ganz schlichten Sprache.
Das beste ist, man spricht ganz schlicht deutsch.
Sehr gut, Herr Präsident, ich bin ganz Ihrer Meinung.
Die Bundesregierung sollte — das ist auch heute vom Kollegen Schiller wieder besonders hervorgehoben worden — mit ihren Maßnahmen zur Stabilität vorangehen. Ich stimme damit überein. Aber die Form, in der es das Gutachten tut — hier erlauben Sie mir, von dem Gutachten abzuweichen; ohne es abzulehnen, wie Sie es darstellen —, halten wir nicht für richtig. Dieses Vorangehen darf nämlich weder bedeuten, daß die Sozialpartner hinterherhinken, noch darf es etwa bedeuten, daß die Notenbank ihre Maßnahmen zur Stabilitätssicherung vorzeitig aufgibt. Andernfalls würden, wie es bisher schon gelegentlich gewesen ist — das wissen Sie alle —, die Maßnahmen des einen Teils durch das Verhalten der anderen konterkariert, und für die Erreichung der quantitativen Ziele, die wir gemeinsam anstreben, würde es gar nichts nützen.
Wir möchten ein weiteres feststellen. Inflationsmargen sollten weder bei der Planung der staatlichen Aufgaben und damit Ausgaben noch bei den Verhandlungen der Sozialpartner berücksichtigt werden.
Ich möchte das Wort „Inflationsdepp", das der Kollege Schiller hier brauchte, einmal auf eine gewisse Ebene bringen. Wer am Schluß der Inflationsdepp ist, welch große Teile der Bevölkerung es sind, das möchte ich völlig offenlassen; ob es diejenigen sind, die jetzt meinen, man sollte mit Inflationsmargen arbeiten, oder diejenigen, die der Meinung sind, daß für die ganze Bevölkerung die beschleunigte Herbeiführung der Stabilität das Allerwichtigste und Entscheidende ist. Wenn uns das gelingt, kann keiner ein Inflationsdepp sein. Das ist unsere Auffassung.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966 871
Herr Kollege Starke, können Sie mir sagen, in welchem Zeitraum ,die beschleunigte Herbeiführung der Stabilität nach Ihrer Meinungs wahrscheinlich erreicht werden kann?
Herr Kollege Schiller, nun sind wir genau bei dem Punkt, wo ich der Ansicht bin, daß solche quantitativen Zielsetzungen und Fristsetzungen nicht sehr von Nutzen sind. Wenn Sie — Sie sind ja neu hier — mein Wirken hier in diesem Hause hätten 'beobachten können, dann wüßten Sie, daß ich schon vor Jahren — 1961 — das alles angekündigt habe, was wir jetzt erleben.
Herr Kollege Starke, ist Ihnen klar, daß ich in diesem Fall nur nach einer Jahreszahl fragte, die im Gregorianischen Kalender steht, nach nichts weiter?
Meine Antwort geht dahin: So schnell wie möglich, ab heute muß man das anstreben. Ich hatte mich bemüht, Ihnen zu sagen: Ich strebe das seit Jahren mit großer Konsequenz und Nachhaltigkeit an.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch ein Wort zu der Notenbank. Ich möchte den Satz unterstreichen, den der Präsident der Notenbank im
Januar ausgesprochen hat: daß die Notenbank weder Erhöhungen der Staatsausgaben noch die Verhandlungen der Sozialpartner und die damit verbundenen Kostenerhöhungen in der Wirtschaft durch Notenbankgeld finanzieren sollte. Das ist eine der wichtigsten Aufgaben, und das ist bedeutsamer als das Reden darüber, ob die eine oder andere Maßnahme ,der Notenbank in diesem Augenblick noch aufrechterhalten werden sollte oder nicht.
Wir sind auch nicht der Meinung, daß es sich um ein Zurückdrehen der Einkommensverteilung handelt, wenn man den Satz aufstellt, daß Lohnerhöhungen, die über die Produktivitätssteigerung hinausgehen, in dieser Situation den breiten Schichten unseres Volkes keine Steigerung der realen Kaufkraft bringen. Aber sie bürden dem ganzen Volk das Risiko steigender Preise und geringerer Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft sowie eine Gefährdung der Arbeitsplätze auf längere Sicht auf.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Dr. Starke, darf ich Ihre Ausführungen so verstehen, daß Sie ein weiteres Absinken ,des Anteils der Arbeitnehmer am Sozialprodukt .befürworten, nachdem schon die Sachverständigen darauf hingewiesen haben, daß sie statt 69%, die ihnen rechnerisch eigentlich zustehen würden, nur einen Anteil von 64 % erreicht haben?
Ich möchte darauf antworten, daß ich diese Zahlen natürlich kenne. Sie wissen aber auch, daß es keinesfalls richtig ist, die Arbeitnehmer hier nun in dem einen Teil zu sehen. Sie stecken auch in den anderen Positionen mit drin.
Das wissen Sie; das können wir jetzt nicht im einzelnen ausführen. Und zweitens habe ich hier nicht über solche allgemeinen und globalen Zahlen gesprochen, sondern ich habe ganz konkret gemeint, daß für breite Schichten der Bevölkerung in der augenblicklichen Situation durch eine Lohnsteigerung über die Produktivität hinaus keine reale Kaufkraftsteigerung herbeigeführt wird. Darum geht es doch.
Eine weitere Zwischenfrage.
Herr Dr. Starke, sind Sie bereit, mir zuzugestehen, daß eine Lohnerhöhung, die nur der jetzigen Inflationsrate entspricht, in Wirklichkeit einen Stopp der Reallöhne 'bedeutet?
Ich bin keineswegs dieser Meinung.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es kann — und darauf möchte ich einmal ausdrücklich hinweisen — keineswegs Aufgabe einer Regierung und des Parlaments sein, einen Kurs zu steuern, der uns dann im weiteren Verlauf dazu zwingen würde, trotz 12 % Sparquote bei den privaten Einkommen Massenkaufkraft direkt oder indirekt durch Steuererhöhungen zu eliminieren, sie auf diese Weise dann dem Staat verfügbar zu machen, die Auswirkungen der Kostensteigerung auf die Preise aber dem Verbraucher und damit der ganzen Bevölkerung zu überbürden zu Lasten der Möglichkeit, Einkommen in breiten Schichten zu bilden. Das ist leider ein Komplex und ein Zusammenhang.Was nun die Steuerung der Investitionen betrifft, so möchten wir ganz besonders vorsichtig sein. Zunächst einmal gilt für den Augenblick und für das, was wir jetzt hier zu diskutieren haben: eine Steuerung von Investitionen der privaten Wirtschaft ist bei der gegenwärtigen Konjunkturlage nicht notwendig. Hier bedarf es zur Zeit keines Eingriffs des Staates; und — das ist wesentlich — eines solchen Eingriffs bedarf es auch nicht etwa um einer Vorleistung willen, wie man das so aus dem Gutachten entnehmen könnte. Eine Steuerung der Investitionen mit Hilfe von Abgaben und Zuschüssen und der Installierung eines Investitionsfonds erscheint uns auch für die Zukunft völlig problematisch, weil es sich hier um Wettbewerbsfragen handelt.Was das konjunkturpolitische Instrumentarium anbelangt, so erwarten die Freien Demokraten die Vorschläge der Bundesregierung für dessen Ausgestaltung. Das Parlament selbst wird im Zusammenhang mit den Erwägungen zu Art. 113 des Grund-
Metadaten/Kopzeile:
872 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966
Dr. Starke
gesetzes seine Geschäftsordnung prüfen. In jedem Falle — das möchte ich für die Freien Demokraten betonen — wird es darauf ankommen, das Parlament dabei nicht etwa aus seiner vorrangigen Verantwortung für die Stabilitätsbemühungen zu ent' lassen. Das darf nicht der Sinn solcher Dinge sein.Nun möchte ich zum Schluß noch ein paar Worte sagen. Herr Kollege Schiller nannte es die außenwirtschaftliche Absicherung eines Stabilisierungsprozesses. Ich möchte Ihnen dazu folgendes sagen. Wir sollten im Augenblick keine allzu große Angst vor einem Wiederansteigen des Außenhandels haben. Wir haben dabei ja unterdessen einiges erlebt. Wenn Sie bedenken, welche hohen Milliardenbeträge wir jährlich aus einem Überschuß der Handelsbilanz zahlungsbilanzmäßig zu finanzieren haben, dann wissen Sie, was ich meine. Ich sage das für den Fall, daß die Entwicklung in unseren Nachbarländern in der EWG zu einer solchen Verbesserung unserer Handelsbilanz beitragen sollte.Was die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft anbelangt — hier möchte ich auf etwas eingehen, was der Herr Bundeswirtschaftsminister erwähnt hat —, so sind wir der Auffassung, daß die konjunkturpolitischen Bemühungen, die Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister, mit so großem Elan vorangetrieben haben, weiter vorangetrieben werden müssen. Und zwar vorrangig, weil es sein kann, daß die Lage sehr bald in etwa umgekehrt wieder neue Probleme in der EWG aufwirft.Eines möchte ich aufgreifen, weil es uns ganz besonders am Herzen liegt — es war auch eine Bemerkung des Herrn Bundeswirtschaftsministers — wir dürfen nicht immer davon sprechen, daß es in der EWG etwa darum gehen könnte, für Frankreich und zu dessen Nutzen den Agrarmarkt, die Agrarunion, und für uns in der Bundesrepublik den Industriemarkt oder die Industrieunion herzustellen. Es geht in der Tat für beide — und für alle Partner in der EWG — ganz schlicht darum, daß wir alle den Weltmarkt brauchen. Wer sich die neuesten Zahlen — die sich von Jahr zu Jahr in dieser Richtung verschlechtert haben — ansieht, mit einer Passivität der EWG gegenüber den dritten Ländern und jetzt auch mit einer Passivität der Bundesrepublik innerhalb der EWG, der sieht das deutlich.Hier möchte ich einen Satz anschließen, Herr Bundeswirtschaftsminister: wir sollten sehr darauf achten, inwieweit etwa eine vor die Erledigung der Handelspolitik in der EWG vorgezogene Agrarpolitik uns handelspolitisch blockiert.
Wer in dritten Ländern auf unserem Erdball die Sorge vor der Entwicklung in der EWG einmal studiert hat — ich hatte die Gelegenheit —, der weiß, wie berechtigt diese unsere Ausführungen sind.Wir teilen auch in vollem Umfange die Auffassungen des Herrn Bundeswirtschaftsministers zu den internationalen Währungsfragen. Auch wir sind der Meinung, daß die Bundesregierung hier mit gutem Erfolg und mit gutem Material mit aller Vorsicht an die Fragen einer Ausdehnung der Liquidität herangeht. Das entspricht in vollem Umfange unseren Vorstellungen.Wir sind nun von Herrn Kollegen Schiller gefragt worden, wohin wir mit unserer Geidwertpolitik wollen.Nun, wir wissen — das müssen wir eingestehen —, daß wir vor großen Schwierigkeiten, ja seit geraumer Zeit schon in den Schwierigkeiten stehen. Aber mit politischem Mut werden wir diese Schwierigkeiten meistern.Unser wirtschaftspolitisches Wollen in Gestalt der sozialen Marktwirtschaft hat unserem Volke nach dem Zusammenbruch ein Höchstmaß an materiellem Lebensstandard gebracht. Und darauf haben wir unsere Gesamtpolitik gründen können. Das ist ein nicht unwesentlicher Teil dessen, was ich Ihnen zu sagen habe. Nicht die Marktwirtschaft hat versagt — darauf kommt es uns an, das zu sagen —, sondern wir haben den Rahmen, den sie benötigt, nicht fest genug gebaut. Wir haben sie überfordert, mit all den Folgen, die wir jetzt erleben.Hier möchte ich, dem Beispiel von Herrn Kollegen Burgbacher folgend, meiner tiefen Erschütterung Ausdruck geben, daß vor einigen Tagen der Mann von uns gegangen ist, Professor Röpke in Genf, der diese Warnung immer wieder ausgesprochen hat, auch an uns in den letzten Jahren. Ich habe die Genugtuung, daß ich in schwierigen Zeiten und schwierigen Fragen immer wieder mit ihm wenigstens telefonisch in Verbindung stehen konnte. Es war ein tapferer Mann, der sich nie gescheut hat, auch gegen andere und moderne Meinungen seine Ansicht zu vertreten, ein tapferer Mann von Charakter und Haltung. Wir sollten ihm dankbar sein für sein Handeln, Tun und Leben in den beiden letzten Jahrzehnten.
Herr Wehner, Ihre Frage ist natürlich berechtigt; deshalb will ich mich berichtigen, damit Sie nichts Falsches glauben. Ich habe Sie verstanden.
— Nein, Herr Kollege Wehner, wir wollen jetzt ganz ernst bleiben. Ich habe mich hier in diesem Hause darauf beschränkt, die Zeit zu zitieren, in der seine Arbeit für uns hier praktisch politisch von Wirksamkeit war. Zu der früheren Zeit, die Sie meinen, möchte ich sagen — nicht weil Sie mich herausfordern, sondern aus tiefinnerster Überzeugung, weil ich mich dem Manne befreundet gefühlt habe —: ich habe vor kaum jemandem — das soll niemand anderen ausschließen — mehr Hochachtung als vor ihm, der aus innerster Überzeugung damals hinausging und sich in seiner Haltung draußen bewährte.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966 873
Dr. Starke
Diese soziale Marktwirtschaft, die wir mit ihrem freien Spiel der Kräfte bejahen, weil sie den höchsten Nutzeffekt garantiert, braucht aber — und das haben wir immer wieder betont — einen festen Rahmen in Gestalt einer Wettbewerbsordnung und einer straffen Finanz- und Kreditpolitik; darüber sprechen wir hier, darum geht es immer wieder. Hier liegen die Aufgaben von Staat und Notenbank und von uns hier im Parlament. Es geht dabei nicht nur um die Schaffung eines Instrumentariums. So wichtig das ist — es ist nicht Selbstzweck. Es dient der Durchsetzung der ethischen Ziele, die der Staat und seine Bürger sich setzen. Ohne solche ethischen Ziele, für die sich der Staatsmann und der Politiker mit persönlicher Verantwortungsbereitschaft und eben mit der Hilfe dieses Instrumentariums einsetzen muß, kann es keine Marktwirtschaft geben und damit keine wahre Freiheit, die im geistigen und materiellen Bereich für uns unteilbar ist.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte Ihnen zum Schluß sagen, daß für uns Freie Demokraten mehr als in jedem anderen Zeitalter — ich zitiere hier bewußt einmal, daß man bestenfalls als warnendes Beispiel die Spätzeit des römischen Reiches mit ihrer hohen Zivilisation erwähnen könnte — unsere hochindustrialisierte Gesellschaft nur als eine Schicksalsgemeinschaft lebensfähig ist. Jenseits aller politischen Auseinandersetzungen, die notwendig sind, müssen wir diese Schicksalsgemeinschaft als bewußte Solidarität menschlich und staatsbürgerlich bejahen. Nur umI) diesen Preis werden wir diese Marktwirtschaft als Instrument und mit ihr die persönliche Freiheit, die uns von dem östlichen System in Wahrheit vor allem unterscheidet und die für uns unteilbar ist, auch in Zukunft gewährleisten können. Das allein ist nach unserer Auffassung der richtige Weg für unser Volk.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Pohle.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sechs oder vier Prozent, faites votre jeu: eine interessante, eine pikante Frage, Herr Kollege Schiller. Aber ich finde, der Adressat war nicht der richtige, wenn sie an den Herrn Bundeskanzler gerichtet war. Noch ist es Herr van Hüllen, noch ist es Herr Brenner, noch ist es einer der Schiedsrichter, noch ist es einer der Sachverständigen, die für diese Frage verantwortlich sind, aber nicht der Bundeskanzler, auch wenn er es von Beruf vielleicht gelernt hat. Infolgedessen geht diese Frage, meine Damen und Herren, etwas ins Leere.Das Sachverständigengutachten soll eine Orientierungshilfe sein, und insofern ist es wichtig, die Zahlen des Sachverständigengutachtens zu hören. Aber über die Höhe der Lohnerhöhungen entscheidet vorläufig der Tarifpartner und nicht das Parlament und auch nicht die Bundesregierung.
— Ja, die Tarifpartner entscheiden darüber, das habe ich eben gesagt —, auf keinen Fall das Parlament oder die Regierung. Das ist das erste, was ich zu dem sagen wollte, was Herr Kollege Schiller hier vorgetragen hat. Ich komme vielleicht nachher in anderem Zusammenhang noch darauf zurück, soweit die mir zur Verfügung stehende Redezeit es mir erlaub t.Das zweite, was ich vorweg sagen wollte, ist, daß die Schlußausführungen des Kollegen Schiller versöhnlicher klangen. Letzten Endes sind wir ja hier zusammengekommen, um eine Synthese aus den verschiedenen Auffassungen zu finden, die sich über den Weg — und doch wohl nicht das Ziel — ergeben könnten.Das dritte ist, daß der Streit um die geistigen Prioritäten, von denen Herr Kollege Schiller gesprochen hat — wer welchen Plan zuerst erfunden hat —, doch wohl nicht weiterführt. Denn wenn es so wäre, wie Herr Kollege Schiller hier ausgeführt hat, daß die Gedankengänge des Sachverständigengutachtens bereits vorher von der Sozialdemokratischen Partei entdeckt und gefördert worden wären, dann wird er ja doch nicht so weit gehen, zu sagen, daß sich die Sachverständigen gerade diesem Programm genähert hätten, weil das doch wohl ein versteckter Zweifel an der Objektivität der Sachverständigen wäre.Auf der anderen Seite hat er davon gesprochen, und zwar unter Zitat des Biermann-Wortes, daß es gut wäre, sich zu ändern. Gut, es gibt sehr große moralische Anstalten, die das sagen, und ich finde, es ist ein sehr vernünftiger Grundsatz, daß der Mensch in sich gehen und versuchen sollte, sich nicht nur jährlich, sondern täglich zu ändern, d. h. besser zu werden. Sie werden zugeben , daß Ihr Programm sich im Laufe der Jahre ganz erheblich geändert hat.
Aber das sage ich ohne jede Spitze. Wenn wir uns ganz zum Schluß auf unser Programm, das wir bisher vernünftig vertreten haben, einigen, soll es mir recht sein.Meine Damen und Herren, das unmittelbare Problem, das sich in den Vereinigten Staaten übrigens wie in allen europäischen Staaten und Industrieländern und auch in unserer Bundesrepublik stellt — das haben die Sachverständigen richtig erkannt, und deshalb ist ja gerade das Sachverständigengutachten angefordert worden —, ist die Frage, wie die Stabilität der Währung unter gleichzeitiger Entwicklung einer angemessenen Wachstumsrate in hochentwickelten und vollbeschäftigten Industrieländern aufrechterhalten werden kann. Ich stehe nicht an, hier an dieser Stelle zu erklären, daß ich persönlich das Sachverständigengutachten für eine gründliche Arbeit und für eine gute Analyse halte. Wir haben die Einsetzung der
Metadaten/Kopzeile:
874 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966
Dr. PohleSachverständigen in diesem Hause beschlossen, und die Sachverständigen haben uns ein umfangreiches und erstaunlich reichhaltiges Material vorgelegt.Es ist verständlich, daß die Industrie, die nahezu die Hälfte des Bruttosozialprodukts erwirtschaftet, ihr Augenmerk auf die Erhaltung eines stetigen und angemessenen Wachstums richtet. Nur eine wachsende Wirtschaft kann die vielen politischen und sozialpolitischen Forderungen erfüllen, die an das Sozialprodukt gestellt werden, Wachstum vorausgesetzt; denn die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft hängt letztlich — das sind aber Binsenwahrheiten, ich möchte sie bloß dem Hohen Hause noch einmal ins Gedächtnis zurückrufen — vom Ertrage ab, der sich, nebenbei bemerkt, durchaus nicht parallel zum Umsatzwachstum entwickelt, sondern, wie wir alle wissen, hin und her schwankt. Deshalb meine ich, daß im Sachverständigengutachten ein Eingehen auf diese Ertragsentwicklung viel zu kurz gekommen ist.Meine Damen und Herren, am Ende dieses Gedankenganges komme ich zum Nervus rerum. Auch die Industrie stuft das Wachstumsziel nicht höher ein als die Erhaltung der Preisstabilität. Stabilisierung ohne Stagnation, das ist das Gleiche; der Bundeswirtschaftsminister hat davon gesprochen. Denn die Preisstabilität ist die Vorbedingung für die dauerhafte Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Unsere Aufgabe ist es, beides miteinander in Einklang zu bringen. Die schwierige Aufgabe ist, herauszufinden, ob der Weg der Sachverständigen gangbar ist oder der Weg des Kollegen Schiller oder ob andere Wege gangbar sind. Ich beziehe mich hierzu auf die zutreffenden Ausführungen des Herrn Bundeswirtschaftsministers.Meine Damen und Herren; der oberste Wirtschaftsberater des Präsidenten Johnson, Gardner Ackley, hat kürzlich gesagt:Wir lernten mit dem Wohlstand leben, und, offen gestanden, wir wissen zwar, wie man zu Wohlstand gelangt, aber wir wissen noch nicht, wie man den Wohlstand handhabt.Genau auf diesem Punkte halten auch wir. Ich muß anerkennen, daß die Sachverständigen sich gewissenhaft Mühe gegeben haben, diese Frage zu analysieren. Uns allen liegt an der Erhaltung des Wohlstands im Sinne der Acklay' schen Ausführungen. Deshalb ist es ein dringendes Anliegen auch für dieses Haus, in breiter Form über diese Frage ernsthaft zu diskutieren.Ich persönlich halte mit den Sachverständigen ein gewisses Primat des Gebarens der öffentlichen Hand für sehr wichtig und auch für richtungweisend für. die Rolle, die wir von den Tarifpartnern verlangen und verlangen müssen. Ich habe die Bundesregierung auch nicht dahin verstanden, daß sie dieses Primat leugnen will. Sie hat nur gesagt: wir können nicht sukzessive vorgehen, sondern müssen alle Maßnahmen gleichzeitig ergreifen. Das schließt nicht aus, daß wir uns in diesem Hohen Hause zunächst einmal dieses Primats bewußt sind.Ich darf dazwischenflechten, daß ich auch nicht anerkennen kann, daß sich ein unüberbrückbarerGegensatz zwischen der Rolle der Sachverständigen einerseits und der Stellungnahme der Regierung andererseits herausbildet. Es ist vielmehr so, daß die Regierung durchaus nicht in allen Fragen mit dem Sachverständigengutachten einverstanden ist, das Gutachten aber im allgemeinen als wesentlichen Diskussionsbeitrag hinnimmt und auf ihm aufbaut. Wir, die Abgeordneten des deutschen Volkes in diesem Hohen Hause, haben zunächst einmal die Aufgabe, vor unserer eigenen Tür zu kehren, d. h. — in diesem Punkte den Sachverständigen folgend — dafür einzutreten, und zwar mit absoluter Konsequenz, daß die öffentlichen Haushalte in Ordnung gebracht werden. Nur wenn dies gelingt, können wir Anspruch darauf erheben, daß sich die Tarifpartner entsprechend verhalten. Ich komme nachher darauf zurück.Bevor ich dazu noch einige Worte sage, möchte ich jedoch drei Streiflichter auf das Sachverständigengutachten werfen, in denen ich dem Sachverständigengutachten zu folgen nicht bereit bin.Das eine ist die hier in der Debatte groß herausgestellte und auch in dem Sachverständigengutachten breit angelegte, aber für meine Begriffe überbetonte Frage des sogenannten Geldwertschwundes, gleich Inflation. Wenn sich der Geldwertschwund in den Grenzen hält, die das Sachverständigengutachten selbst umreißt, nämlich um 1, um 2 oder, wie wir heute gehört haben, und 3 oder wieviel Prozent, und wenn man dabei berücksichtigt, wie dieser Faktor sich in anderen, uns benachbarten Ländern verhält, in denen auch nicht von einer totalen Unordnung gesprochen werden kann, dann erscheint es mir psychologisch gefährlich, in einem Land den Ausdruck Inflation oder Geldwertschwund in einem Maße zu beschwören, das eine Schockwirkung hervorruft und das der Sache gar nicht angemessen ist. Und dies nach zwei wirklichen und katastrophalen Geldentwertungen, die wir durchgemacht haben!Ich stimme deshalb der Bundesregierung darin zu, daß das sogenannte „Rechnen mit der Inflation" der Wirklichkeit nicht gerecht wird, wenn die Entwicklung sich in dem genannten Rahmen hält. Das bedeutet nicht, Herr Kollege Schiller, daß ich mit Ihnen und der Bundesregierung nicht die Dinge außerordentlich ernst nehme. Aber ich frage mich wirklich: haben wir — um einen früheren Ausdruck von Ihnen zu gebrauchen — eine „hausgemachte" Inflation? Dabei bagatellisiere ich die volkswirtschaftlichen Gefahren der Preissteigerungen in keiner Weise. Die Lebenshaltungskosten sind bisher um 3,8 % gestiegen. Hier ist von 4,2 % die Rede gewesen.Aber wir müssen dabei folgendes in Rechnung stellen. Woraus ergaben sich denn die höheren Preise im Warenkorb des Vier- Personen- Arbeitnehmer- Haushalts mit mittlerem Einkommen? Sie ergaben sich aus fünf Komponenten:Ich nenne erstens die Anpassung der Wohnungswirtschaft an das marktpolitische System. Diese Anpassung wird auch von der sozialdemokratischen Opposition bejaht. In dem Preisindex für die Lebenshaltung schlägt sich die Erhöhung der Mietpreise
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966 875
Dr. Pohlestark nieder: September 1965 zu September 1964 plus 5,7 %.Ich nenne zweitens die EWG-Marktordnungen, die landwirtschaftlichen Subventionen. Sie wissen, daß wir mit der Opposition übereinstimmend der Ansicht sind, daß aus ganz anderen, hier nicht zur Debatte stehenden Gründen die Landwirtschaft gesondert zu behandeln ist. Sie ergaben sich weiter auch aus den ungünstigen Witterungsverhältnissen. Die Folge ist die Nahrungsmittelpreiserhöhung September 1965 zu September 1964 plus 4 1/2 %.Sie ergeben sich drittens — das ist zuzugeben —aus strukturellen Verschiebungen der Nachfrage — das ist die sogenannte Überhitzung —, aber doch im wesentlichen durch stärkere Beanspruchung von Dienstleistungen aller Art
und durch höhere Qualitätsansprüche. Wer das leugnet, kommt nicht in die Läden, in denen die Konsumenten zu kaufen pflegen.An vierter Stelle ist zu nennen die Überbeschäftigung, gekennzeichnet durch 1,2 Millionen Gastarbeiter und 700 000 offene Stellen. Der Schritt aber oder — um mit dem Herrn Bundeswirtschaftsminister, oder auch Professor Giersch zu sprechen — der Grat von der wünschenswerten Vollbeschäftigung zur nicht mehr wünschenswerten Überbeschäftigung ist klein und schmal. Hierbei sind jene Lohnsteigerungen gefährlich, die über das jeweilige Produktivitätswachstum nicht der Globalrechnung, sondern der einzelnen Branche hinausgehen. Dabei nützt mir die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung nichts; denn die Lohninterdependenz zwingt auch die Bereiche mit kleinem Wachstum oder ohne Wachstum oder mit geringer Produktivität zu nicht vertretbaren Lohnzugeständnissen, und das bewirkt dann Kostendruck und Preisanstieg.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Dr. Pohle, sind Sie bereit, zuzugeben, daß neben der Interdependenz der Arbeitsmärkte auch eine Interdependenz der Preise bestehen muß, d. h. daß in den Industrien mit überdurchschnittlichen Produktivitätszuwachsraten die Preise gesenkt werden müßten, daß wir aber in der Bundesrepublik solche Preissenkungen dieser Industrien leider nicht zu verzeichnen haben und daß darauf die Preiserhöhungen zurückzuführen sind, nicht auf die Lohnsteigerungen in den Bereichen mit unterdurchschnittlichem Produktivitätszuwachs?
Ich glaube nicht, Herr Kollege, daß man das so sagen kann. Die Lohninterdependenz ist zweifellos stärker als die Preisinterdependenz. Das hängt schon mit der Verschiedenartigkeit der Millionen von Produkten zusammen, die auf dem Gütermarkt angeboten werden. Das können Sie nicht in einen Topf werfen.Dennoch stieg der Index der industriellen Erzeugerpreise von 1964 auf Januar/ Oktober 1965 nur um 2,5 %. Das ist eine unterdurchschnittliche Steigerung.Ich gebe in diesem Zusammenhang zu, daß bei der sattsam bekannten Steigerung der Effektivlöhne — nicht nur der Tariflöhne — als Folge der Überbeschäftigung möglicherweise alle möglichen Komponenten eine Rolle spielen. Auf jeden Fall gehört dazu aber auch die Arbeitszeitfrage; das läßt sich nicht leugnen. Die Arbeitszeitfrage ist nun ganz sicher nicht durch einzelne Unternehmungen, sondern durch die gewerkschaftliche Tarifpolitik akut geworden. Denn inzwischen hat sich herumgesprochen, daß die Realisierung weiterer Arbeitszeitverkürzungen zu weiteren Engpässen und deshalb zu sehr unangenehmen Folgen führen muß.. Niemand kann bezweifeln, daß die Realitäten des Arbeitsmarktes — die ich durchaus zugebe —, daß insbesondere diese Engpaßsituation durch die Arbeitszeitpolitik ganz wesentlich verschärft wurden. Wer heute Arbeitskräfte — auch außertarifliche — mit verlängerter Arbeitszeit halten will, muß sich dies eine Summe kosten lassen, die mit Überstundenzuschlägen und dergleichen überhaupt nichts mehr zu tun hat.Der fünfte Punkt in dem Bukett der Gründe für die Preissteigerungen ist die zu starke Expansion der öffentlichen Ausgaben — mein eigentliches Thema — mit der Folge überhöhter volkswirtschaftlicher Gesamtnachfrage. Dazu gehört auch die Überstrapazierung des Kapitalmarkts, und zwar auch die Überstrapazierung des Kapitalmarkts durch die öffentliche Hand. Hierauf will ich nicht im einzelnen eingehen.Sie sehen, es handelt sich nicht nur um eine einzige Ursache, sondern um eine Fülle von Einflußfaktoren. Ich muß es deshalb von meinem Standpunkt aus ablehnen, wenn kurzerhand behauptet wird, daß für die angeblich gewollte Anhebung des Lohn- und des Preisniveaus die Bundesregierung verantwortlich sei. Das würde bedeuten, daß nicht die Tarifpartner, sondern die Bundesregierung die Lohnpolitik betriebe.Auf den Vergleich mit den Preissteigerungen in den anderen EWG-Ländern hat Herr Starke bereits hingewiesen. Die Schlußfolgerung dieses Teils meiner Ausführungen ist: Wir haben zwar eine Preissteigerung, die uns allen gleichermaßen unangenehm ist und die bekämpft werden muß. Wir haben aber durchaus keine Inflation in diesem Sinne;
ich wehre mich dagegen, das anzuerkennen. Der Reallohn hat sich seit 1950 mehr als verdoppelt, und die Kaufkraftsteigerung war weit größer als in sämtlichen anderen europäischen Ländern mit Ausnahme, ,glaube ich, eines einzigen Landes.Von Inflation kann also nicht die Rede sein. Man kann dann aber auch nicht von einer Deflation sprechen, auch dann nicht, wenn wir den Haushalt und die Übernachfrage drosselnde Maßnahmen durchführen. Eine Zeit der Deflation, die etwa der der Brüningschen Notverordnungen gleichsteht, meine Damen und Herren, ist in der Bundesrepublik Gott
Metadaten/Kopzeile:
876 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966
Dr. Pohlesei Dank noch lange nicht gekommen, und sie wird auch nicht kommen.Das führt mich zum zweiten angreifbaren Moment des Gutachtens, dem sogenannten Stufenplan. Ich möchte mich hier kurz fassen; denn er ist schon lange behandelt worden, der Stufenplan, der die Senkung der sogenannten Inflationsrate von 2 auf 1 % für das Jahr 1967 vorsieht. Herr Schiller hat heute gesagt, er lasse mit sich reden; man könne das auch in drei Jahren machen. Nun weiß ich nicht, Herr Schiller, ob Sie nicht vielleicht demnächst den Standpunkt vertreten, das gehe auch in vier oder fünf Jahren. Man weiß bei solchen Plänen ja auch nicht, ob es wirklich — ich will die Sache einmal umdrehen — bei den 2 % bleibt. Wer sagt Ihnen das denn? Sie können ja auch bei 3% landen. Dann kommt der ganze Plan ins Wanken, dann fällt der ganze Stufenplan in sich zusammen, und der schöne, von meinem Freund Dr. Ernst Schneider so genannte „Gleitflug mit weicher Landung" hört plötzlich eist hinter der Piste auf.Es ist von kompetenter Seite gesagt worden, daß ein solcher Stufenplan leicht politischen und nicht am volkswirtschaftlichen Gesamtwohl orientierten Einflüssen ausgesetzt sei, wenn man den Prozentsatz der Senkung der Inflationsrate handelbar, wenn man ihn negotiabel mache. Ich will den Plan nicht unbedingt ablehnen, Herr Schiller. Wir wissen alle nicht, wie wir die Sache hinbekommen. Aber daß der Stufenplan nun der Stein der Weisen ist und an die Stelle des Schweißes der Edlen tritt, die sich bemühen, so schnell wie möglich zu einer Stabilisierung zu kommen, das wage ich zu bezweifeln.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Pohle, Sie haben es bei einer Preissteigerung um 4,2 % des Lebenshaltungskostenindexes abgelehnt, von Inflation zu sprechen. Wenn es aber um den Stufenplan geht und um die tolerierbare Preissteigerungsrate von 2 % und 1 % sprechen Sie von „Inflationsraten". Können Sie mir sagen, wo da der Unterschied ist und der Beweggrund liegt?
Der Unterschied ist der, daß Sie übersehen haben, daß ich den Ausdruck „Inflationsrate" in Anführungsstriche gesetzt habe; denn die „Inflationsrate" mit dem Stufenplan stammt ja von Ihnen. Darauf, Herr Kollege Schiller, bin ich nicht so schnell festzulegen.Ich möchte aber in diesem Zusammenhang noch eine andere Bemerkung machen, und zwar zu den Vorschlägen des Gutachtens zur Einschränkung auch der privaten Investitionen durch Kürzung der Abschreibungen oder durch Investitionsabgaben. Dieser Stellungnahme des Gutachtens — ich habe dazu skeptische Stimmen von allen Seiten gehört — stehe ich selbst sehr skeptisch gegenüber, jedenfalls soweit es sich um die Produktivitätsinvestitionen handelt. Im Vordergrund hat auch hier die Aufrechterhaltung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit zu stehen. Damen weise ich darauf hin, daß überallim Ausland steuerliche Abschreibungen gelten, die in Zeitablauf und Umfang dem tatsächlichen Kapitalverzehr entsprechen und auch über ihn hinausreichen.Was die Investitionsabgabe anlangt, so hat sie auch Nachteile, überwiegend Nachteile, möchte ich sagen; denn sie geht auch zu Lasten solcher Investitionen — jedenfalls ist das Problem noch nicht gelöst —, die unaufschiebbar sind. Man könnte also in eine Art betrieblichen Zwangssparens hineinkommen, d. h. in eine zeitlich variable, gebundene Spezialsteuer.Ist es noch nötig, die private Investitionslust zu dämpfen? Wer das in diesem Augenblick noch sagt, dem empfehle ich, sich die Auftragslage in der Investitionsgüterindustrie anzusehen. Das Investitionsklima hat sich seit September 1965 ganz bestimmt grundsätzlich geändert. Die Zuwachsrate beträgt nur noch 5 %. Das Ifo-Institut hat bekanntlich erklärt, daß der Rückgang der privaten Investitionstätigkeit die Konjunkturentwicklung erheblich weniger beeinflusse als in den vergangenen Jahren.Meine dritte Bemerkung bezieht sich auf den außenwirtschaftlichen Bereich. Meine Damen und Herren, der außenwirtschaftliche Bereich hat entgegen den vorjährigen Erwartungen der Sachverständigen nicht zu Preissteigerungen im Jahre 1965 beigetragen. Damit ist eine tragende These des vorigen Gutachtens entfallen, die These nämlich, die die flexiblen Wechselkurse rechtfertigen sollte. Andererseits muß die deutsche Industrie das ausländische Angebot an Fertigwaren und an Produktionsfaktoren immer mehr in Rechnung stellen. Dabei kommt es meines Erachtens — das ist der Gesichtspunkt, auf den ich in diesem Hohen Hause hinweisen will — nicht nur auf die Fähigkeit an, ausländische Arbeitskräfte für deutsche Produktionsstätten anzuwerben und hier weiter zu investieren, sondern wir müssen auch unser Augenmerk sehr genau darauf richten, daß deutsche Unternehmen ihre Fertigung immer mehr ins Ausland verlegen. Das mag richtig oder falsch sein; auf jeden Fall muß darauf hingewiesen werden, daß großenteils seriöse Firmen — das hat mit Oasen und dergleichen gar nichts zu tun, nehmen Sie beispielsweise die BASF — das tun, weil sie draußen billiger, schneller produzieren, z. B. wegen des Stroms und der Arbeitskräfte.
Die Amerikaner kommen doch hier überall hinein. Aber das besagt nichts darüber, daß Arbeitskräfte hier im Lande überhaupt nicht mehr zu bekommen sind und deshalb viele Unternehmen ins Ausland gehen.Meine Damen und Herren, ich meine, wir sollten deshalb praktischer und weniger theoretisch werden. Herr Schiller, die schöne Entwicklung der These zwischen „Freiburger Imperativ", also dem Befehl zum Wettbewerb, und der „Keynesianischen Botschaft", also der staatlichen Steuerung der Gesamtnachfrage — Sie haben es auch einmal so ausge-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966 877
Dr. Pohledrückt: die Marktwirtschaft von links : —, das ist alles sehr schön; aber was können wir in der Praxis mit diesen Theorien nun wirklich anfangen?
Sehen Sie, in der Praxis ist es doch so, daß die Betriebe ihre Produkte produzieren und verkaufen wollen. Sie wollen genügend Erträge erwirtschaften und müssen es tun, wenn sie ihre volkswirtschaftliche Funktion erfüllen wollen, um ihre Kosten zu verdienen. Sie müssen die Löhne bezahlen, sie müssen Material einkaufen, sie müssen Ersatz- und Modernisierungsinvestitionen vornehmen. Dafür muß man eben die Voraussetzungen schaffen. Das ist eine Frage der Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit und eine Frage der Aufrechterhaltung unserer nackten Existenz.
Das bedeutet aber nicht: Wachstum um jeden Preis, sondern das bedeutet: Aufrechterhaltung der Stabilität. Insofern knüpfe ich an das an, was mein Freund Burgbacher am Anfang ausgeführt hat, daß eben auch der Haushalt in solchen Zeiten als Bremse wirken muß. Wir haben nun bereits den Weg der Sanierung des Haushalts beschritten, darauf wartet die gesamte deutsche Bevölkerung und die gesamte deutsche Wirtschaft. Man kann nicht sagen, daß nichts geschehen sei; im Gegenteil!Es ist vom Haushaltssicherungsgesetz gesprochen worden, gegen das die Sozialdemokraten gestimmt haben. Wir haben gesagt, es ist der erste Schritt,') weitere werden folgen. Wir werden bei den Haushaltsberatungen, denen ich in keiner Weise vorgreifen will — denn darüber wird in genau zwei Wochen in großer Breite gesprochen werden —, sehr ernst jede Position prüfen müssen. Wir werden dabei den von der Regierung bereits angekündigten mittelfristigen Finanzplan und den Haushaltsplan für einige Jahre entgegennehmen. Das alles sind Dinge, die im Sachverständigengutachten behandelt sind und auf die die Regierung eingeht.Ferner werden wir uns mit der Bundesbahn und der Bundespost zu beschäftigen haben. Sie werden verstehen, daß ich jetzt nicht im Rahmen dieser Gesamtdebatte einen allgemeinen Plan für diese beiden Institute entwerfe. Das gehört auch nicht hierher. Wir werden uns auch über das den Abgeordneten leider noch nicht vorliegende große Gutachten über die Finanzreform unterhalten, in dem das Verhältnis zwischen Bund und Ländern behandelt ist.Herr Kollege Schiller, in diesem Zusammenhang möchte ich gern Ihren Standpunkt hören, der sich vielleicht gewandelt hat. Mich interessiert, wie Sie über die Subventionen denken. Soweit ich mich erinnere, haben Sie vor etwa 14 Tagen bei der Wirtschaftsdebatte dieses Thema aufgegriffen und gesagt: Der Subventionsfonds — oder so ähnlich — ist für mich einer der gegebenen Ansatzpunkte, um eine Deckungsmöglichkeit im Rahmen des Haushalts zu finden. Sie haben weiter gesagt: Bei Philippi sehen wir uns wieder! Ich frage: Wo ist Philippi? Ist heute Philippi? Ist hier Philippi?
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter? — Bitte!
Herr Kollege Pohle, ist Ihnen wirklich nicht klar, daß ich in diesem Fall die Beratung des Haushalts für 1966 gemeint habe? Das war Philippi.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gut, dann nehme ich das zur Kenntnis. Also dieses „Philippi” wird in 14 Tagen stattfinden. Dann soll also über diese Dinge gesprochen werden, und Sie werden es mir nicht übelnehmen, Herr Kollege Schiller, wenn ich Sie dann bei der Durchforstung der Subventionen beim' Wort nehme.
Sie haben nur beiläufig von der Sparprämienförderung gesprochen. Zweifellos gehört das in dieses Gebiet hinein. Sie haben dann aber in bezug auf den Haushalt 1966 gesagt: Vom konjunkturpolitischen Standpunkt aus ist eine Kürzung nicht mehr notwendig. Schön, auch das haben wir zur Kenntnis genommen. Allerdings ist das etwas salomonisch. Soll das nun bedeuten, daß Sie nun gegen jede Kürzung sind? Sie haben es nach der konjunkturpolitischen Seite abgewandelt. Aber ich bleibe dabei: wir können uns in der Situation, in der sich die Bundesrepublik befindet, keine defizitären Haushalte leisten. Wir dürfen auch nicht nachlassen in unserem Bemühen, nach weiteren Einsparungsmöglichkeiten in diesem Haushalt zu suchen — zur Frage der Höhe kann ich nicht Stellung nehmen —, solche Einsparungsmöglichkeiten kritisch zu prüfen und zu finden; denn davon hängt die ganze Stabilisierungsbemühung ab. Der Bund ist nun einmal beispielhaft für die Länder und für die Gemeinden. Der Bund sollte auch beispielhaft für die Tarifpartner sein. Unser Ziel muß sein: die Feststellung einer angemessenen Zuwachsrate, gemessen am Ist von 1965. Das beispielhafte Verhalten des Bundes ist für meine Freunde und mich unabdingbar. Denn nur dann hat auch ein sogenanntes „konzertiertes Verhalten" der großen Interessengruppen eine Chance.Hier ist von mittelfristigen Finanzplänen die Rede gewesen. Diese Pläne sind wichtig. Ich selbst gehöre zu denjenigen, die wünschen, daß uns diese Pläne vorgelegt werden. Die Regierung hat das zugesagt. Wir sind uns selbstverständlich darüber einig, daß diese Pläne nicht der Stein der Weisen sein können, sondern Wandlungen unterliegen. Daß Prognosen stets die Gefahr von Fehleinschätzungen, vielleicht auch die Gefahr von Umkehrungen der Voraussagen in sich bergen, wissen wir aus der Führung wirtschaftlicher Unternehmen ganz genau. Die Pläne müssen also anpassungsfähig und locker sein; denn auch sie können die Eigendynamik des Marktes nicht zerstören, die anderen Gesetzen unterliegt. Ich bin aber der Ansicht, daß trotz all dieser Schwierigkeiten die Pläne vorgelegt werden müssen, damit wir zu klaren Verhältnissen kommen.
Metadaten/Kopzeile:
878 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966
Dr. PohleAuch eine volkswirtschaftliche Gesamtschau -Herr Schiller hat von einer sogenannten Projektion gesprochen — ist notwendig. Allerdings war es hier sehr interessant und ich möchte das an dieser Stelle ausdrücklich festhalten, daß er im Zusammenhang mit der volkswirtschaftlichen Gesamtschau heute auch von einer Globalsteuerung gesprochen hat. Ich möchte diesen Ausdruck ausdrücklich festhalten; wir werden darauf zurückkommen.
— Diese Frage könnte man stellen.
Ich komme zum Schluß. Wenn wir — das geht an unser aller Adresse — in diesem Hause nicht zur Sparsamkeit gelangen und wenn wir nicht die Haushaltsberatungen 1966 wie die kommenden Haushaltsberatungen 1967 und in den folgenden Jahren außerordentlich ernst nehmen, wird unser aller Bemühen nichts nutzen. Dieser Weg ist sehr unbequem, und er ist viel unbequemer als jener, ein unbeschränktes Wachstum ins Auge zu fassen. Der letzte ist bequemer und einfacher, denn dabei brauchen wir uns um Preiserhöhungen und Lohnerhöhungen nicht zu kümmern. Damit verlassen wir aber die Grundlage der Stabilität. Gerade darum geht es.Die Stellungnahme des Bundestages, die Reden zum Haushalt und seinem Ausgleich, zur weiterenSparsamkeit in diesem Lande und zur Erhaltung des erreichten Wohlstandes sind, wie ich behaupte, für unser Ansehen im Ausland entscheidend. Die Geltung der Bundesrepublik und ihr politisches Ansehen hängen letztlich von der Aufrechterhaltung ihrer wirtschaftlichen Stabilität ab; das ist gar nicht anders möglich.
— Ich spreche das ganze Haus an, Herr Möller. Wir wollen nicht die alten Kamellen wieder aufwärmen. Ich wende mich mit meinem Appell an das ganze Haus; da kann sich niemand ausnehmen, auch Sie nicht.
— Herr Wehner, ich mime nicht, ich fasse das, was ich sage, sehr ernst auf. Aber schließlich sind die gesamten Bewilligungen im vorigen Bundestag nicht nur von der Regierungspartei und von der Regierung, sondern vom ganzen Hause zu verantworten. Wir bemühen uns um eine Änderung dieses Kurses, wir bemühen uns um eine Stabilität und haben deshalb als erstes — ich muß es jetzt noch einmal sagen - das Haushaltssicherungsgesetz eingebracht, gegen das Sie gestimmt haben.
Alle anderen Wege sind sehr viel einfacher; auchder Weg, Steuererhöhungen vorzunehmen, istfurchtbar einfach. Bevor wir dieses die Kosten weiter erhöhende Element in Erwägung ziehen, sollten wir uns bemühen, in den kommenden Haushaltsberatungen eine andere Lösung zu finden. Insofern stimme ich dem Sachverständigengutachten vollkommen zu. Gerade darauf legt das Gutachten das Schwergewicht. Sie können doch nicht in diesem Punkte plötzlich von dem Sachverständigengutachten abweichen, nachdem Sie es vorher verteidigt haben. Das ist der entscheidende Punkt. Nur so können wir zu klaren stabilen Verhältnissen kommen. Ich hoffe, daß in diesem Sinne auch die Haushaltsberatungen in 14 Tagen geführt werden.
Meine Damen und Herren, gestatten Sie, daß ich die Debatte einen Augenblick unterbreche und dem Hause folgendes mitteile. Auf der Zeche Rossenray der Firma Krupp am linken Niederrhein hat sich eine Schlagwetterexplosion ereignet.
Bisher sind 5 Tote geborgen worden; 13 Bergarbeiter werden noch vermißt. Ich spreche den Angehörigen der Bergarbeiter, die hier zu Tode gekommen sind, im Namen des Deutschen Bundestages die herzliche Anteilnahme aus. — Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Leber.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jedes Volk hat seine empfindlichen Stellen. Bei uns sind das in einem besonderen Maße Währung, Inflation, Krise und alles, was um diese Fragenkomplexe kreist. Ich glaube, das liegt daran, daß kein Volk so schlimme Folgen dieser Tatbestände erlebt hat wie unser Volk. Diese Begriffe sind seit einigen Monaten in unserem Lande hart ins Gespräch gekommen. Ich habe den Eindruck, daß draußen in der Bevölkerung eine ungeheure Verwirrung entstanden ist, die fast das Stadium einer Hysterie erreicht hat, je nachdem, wo man dabei hinguckt. Ich begrüße es deshalb, daß wir heute hier die Gelegenheit haben, auf der Grundlage des Gutachtens und aller Fragen, die sich darum ranken, einmal in aller Ruhe über den ganzen Sachverhalt zu sprechen. Ich glaube, wir müssen auch alle die Verpflichtung spüren, das Unsere dazu beizutragen, daß diese Verwirrung draußen geklärt wird und diese hysterische Atmosphäre, wo sie vorhanden ist, beseitigt wird.
— Wir wollen gar nicht mit Vorwürfen beginnen. Sie haben hier in der Debatte einen klassischen Beweis für diese Hysterie erbracht, indem Sie hier gefordert haben, wir sollten eine Zeitlang eine Lohnpause machen, obwohl Sie wissen, daß das gar nicht geht. So fängt man nämlich an, Hysterie zu machen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966 879
Leber— Ich rede von uns und unserem Beitrag. Sie und ich sind im Augenblick gar nicht im Spiel. Ich meine den Verhandlungstisch, wo über Arbeitszeit geredet wird.Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, wie man dieses Gutachten charakterisieren oder symbolisieren könnte. Die einen sagen, es sei eine feste Maßschnur, die auf alle Fälle gilt, andere halten gar nichts davon. Ich bin der Auffassung, diesem Gutachten wird man am ehesten gerecht, wenn man sich vorstellt, es sei ein Leuchtfeuer, das uns in den Wirrnissen und Fährnissen, die hier um diese Fragen entstanden sind, ein gut überlegtes und die Finsternis durchdringendes Licht macht. Das erste, was wir tun sollten, ist: wir sollten überlegen, welche Schlußfolgerungen wir daraus zu ziehen haben, was wir zur Klärung dieser Wirrnis beitragen können. Das möchte ich gern versuchen. Außerdem möchte ich über einen Fragenkomplex, der mir besonders naheliegt, ein paar Ausführungen machen.Meine Damen und Herren, draußen im Lande wird von Krise gesprochen, auch wenn das hier verschwiegen wird. Das Wort ist hier auch einige Male, wenn auch in Parenthese, gefallen. Ich frage mich, gibt es Anzeichen dafür, daß wir am Beginn einer krisenähnlichen Entwicklung unserer Wirtschaft stehen? Wir haben Vollbeschäftigung, wir haben vielerorts lange Lieferfristen, wir haben keine schlechten Auftragsbestände, wir haben rund eineinhalb Millionen Fremdarbeiter im Lande, wir erleben einen Kampf der Tarifpartner um die Verhinderung der Verkürzung der Arbeitszeit. Das ist schließlich nicht ein Beweis dafür, daß wir auf Arbeitslosigkeit oder Krisen lossteuern.Meine Damen und Herren, im ganzen haben wir keine schlechte Konjunktur, auch wenn wir in partiellen Bereichen strukturelle Schwierigkeiten haben. Das wissen wir alle.
— Sie haben vorhin Andeutungen gemacht, als würden Sie daran zweifeln. Trotzdem — das möchte ich hier gern dazu sagen — erleben wir eine gewisse Wandlung, nämlich einen Übergang von einer überhitzten Konjunktur und einer zum Teil überzogenen Konjunktur zu einer normalisierten Konjunktur — allerdings dann mit erhöhtem Wettbewerb und mit erhöhten Wettbewerbsanstrengungen der einzelnen Unternehmer. Das ist vielen unbequem geworden. Deshalb rufen sie jetzt schon „Krise", ohne daß auch nur Anzeichen dafür da sind.
Meine Damen und Herren, zum zweiten: Wir haben im Jahre 1965 zurückgehende oder nur geringe oder keine Exportüberschüsse mehr gehabt. Nun, da gibt es Leute, die haben gemeint, deshalb fällt bei uns der Himmel ein. Ich möchte hie in diesem Hohen Hause die Frage aufwerfen — denn auch hier in diesem Hause ist darüber gezetert worden, daß wir keine Exportüberschüsse mehr hatten —: Ist das denn so schlimm, daß wir nicht mehr soviele Milliarden Exportüberschüsse wie in den Jahren vorher haben? Haben wir das von hier aus nicht bewußt angestrebt, daß diese Wandlung eingetreten ist? Wo sind denn die Debatten über die Veränderung der Autozölle und über die Importe, die hereinkonnten, geführt worden? Wo ist verlangt worden, daß Nahrungsmittel hereinsollten? Das ist das Ergebnis einer bewußt betriebenen Politik dieser Regierung, die auch von diesem Haus gebilligt worden ist. Nun kann sich doch niemand darüber beschweren, daß die Exportüberschüsse nicht in der gleichen Höhe geblieben sind.
Wir sollten, statt einander Vorwürfe zu machen und sie draußen zuzulassen, in dieser Richtung hier ein paar klärende Worte sagen.Ein Drittes. Gustav Freytag hat einmal von den Römern gesagt: „Sie saßen am Rhein, sie tranken Wein und aßen Rinderbraten; da war's vorbei mit ihren Heldentaten." Ich frage: Ist dieses Volk noch arbeitsam und fleißig? Will es noch? Meine Damen und Herren, es gibt dafür Beweise. Die Zahl der erwerbstätigen Personen in diesem Lande ist die absolut höchste in der EWG und in Europa. Mit 45,8 % Erwerbstätigen liegt die Bundesrepublik absolut an der Spitze. Die Zahl der im Erwerb tätigen Frauen ist in Deutschland die absolut höchste , die es in vergleichbaren Ländern der ganzen Welt gibt, wenn man einmal ein paar Elendsländer ausnimmt. Das ist doch schließlich kein Beweis dafür, daß die Leute bei uns nicht arbeiten wollen. Es gibt da im Hintergrund immer die sonderbaren Maßhalteappelle.Sind die Kosten bei uns zu hoch geworden?
Gestatten Sie eine Frage?
Ja.
Sind Sie bereit, mir zuzustimmen, daß diese hohe Zahl der Erwerbstätigen ein Erfolg der gegen Ihren Willen eingeführten Marktwirtschaft ist?
So können Sie jemanden fragen, der das erstemal nach Europa kommt, aber nicht mich. Entschuldigen Sie, darauf kann ich Ihnen keine Antwort geben.
Eine vierte Frage: Sind unsere Lohnkosten zu hoch? Meine Damen und Herren, das sieht im Verhältnis von 1964 zu 1963 — jüngere amtliche Statistiken von 1965 zu 1964 gibt es nicht — so aus: 7 % für Italien je Produktionseinheit, Belgien plus 5 %, England plus 2 %, Frankreich und Deutschland plus 1 %. Wir haben die absolut niedrigste Steigerungsstufe unter allen Ländern der EWG pro Produktionseinheit.
Metadaten/Kopzeile:
880 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966
Leber— Dann müssen Sie sie mir sagen; aber nicht amtliche, sondern von Ihnen errechnete, Herr Dr. Elbrächter. Die glaube ich Ihnen nicht ohne weiteres, solange nicht die Möglichkeit besteht, das nachzuprüfen.
Wenn Sie im Gutachten nachlesen, werden Sie feststellen — das hören Sie vielleicht nicht gern, aber hören Sie doch mal zu —, daß sich im Jahre 1964 das Produktivitätswachstum und die Tariflohnsteigerung einander gerade die Waage hielten. 1963 war das Tariflohnwachstum niedriger als die Steigerung der Produktivität. Von da aus möchte ich eine Schlußfolgerung für das Jahr 1965 oder, wenn Sie wollen, für 1966 ziehen. Lohnpolitik wird zu irgendeinem Zeitpunkt gemacht. Wenn sie am Anfang eines Jahres gemacht wird, ist niemand in der Lage, exakt vorauszuschätzen oder gar im voraus zu beweisen, was in diesem Jahr geschehen wird. Ebenso gut, wie das im Jahre 1963 einmal hinter der realen Entwicklung zurücklag, kann das im Jahre 1965 einmal in Bruchteilen hinter dem Komma darüber hinausgehen. Deshalb braucht man sich nicht gegenseitig Vorwürfe zu machen. Das Ganze ist aber ein Beweis dafür, daß auch von den Gewerkschaften der Wille aufgebracht worden ist, de facto und in der Praxis sich an sachlichen Gegebenheiten zu orientieren; nur das wollte ich gesagt haben.
Heute sind hier zahme Töne geredet worden. Das, was ich sage, bezieht sich aber nicht nur auf das, was hier in diesem Hause heute gesagt worden ist, sondern auch auf manches, was von Mitgliedern dieses Hauses außerhalb dieses Hauses gesagt worden ist. Denn da draußen wird ja Politik gemacht, auch in den Boulevard-Blättchen, je nachdem, wie man das draußen lanciert.Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen eine zweite Statistik, die nicht uninteressant ist, mitteilen. Ich hatte mir mal das Wachstum der Einkommen angesehen und es ins Verhältnis zu bestimmten Vorgängen gesetzt. Dabei bin ich zu dem überraschenden Ergebnis gekommen: fette Jahre für die Arbeitnehmer waren die Jahre 1953, 1957, 1961 und 1965. Wenn Sie scharf nachdenken, werden Sie feststellen: Das waren Wahljahre. Da ist das alles verhältnismäßig glatt gegangen.
Magere Jahre, meine Damen und Herren, mit Blessing-Gutachten und Maßhalteappellen und, wer weiß, was es alles gab — das können Sie alles aus dem Gutachten ablesen —, waren 1954, 1958, 1962 und 1966. Wir sind wieder mitten dabei, dieses Jahr für die Arbeitnehmer zu einem mageren Jahr zu machen. Sehen Sie, das ist ein Zyklus, ein neuer Zyklus. Das ist der Zyklus der Legislaturperiode.
Vor den Wahlen gebt ihnen was! Und jetzt zitiereich ein Rundschreiben, meine Damen und Herren,das einmal aus einem Ministerium an Unternehmer-verbände gegangen ist. Das habe ich zu Hause. Ich kann es Ihnen geben.
Darin steht: „Vor den Wahlen maßhalten! Nach den Wahlen gibt es wieder Gelegenheit genug, das in Ordnung zu bringen, worauf wir vorübergehend einmal verzichtet haben."
Dann kommt, weil ja solche politischen Entscheidungen nicht anstehen, so etwas auf uns zu.
— Das gibt's übrigens schon hier in den Protokollen des Bundestages. Ich habe nur 30 Minuten Zeit zur Verfügung, meine Herren.Für diesen Teil der Entwicklung, soweit die Tariflöhne in Betracht kommen, sind die Gewerkschaften zuständig.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Frage? — Bitte, Herr Mick!
Herr Kollege Leber, ist Ihnen entgangen, daß wir z. B. im Juni Wahlen in Nordrhein-Westfalen und in Bayern haben werden?
Ja, aber in Landtagen werden doch keine Konjunkturdebatten geführt, Herr Kollege Mick. Das müssen Sie doch wissen.
Für diesen Teil der Entwicklung, den ich soeben bezeichnet habe, sind die Gewerkschaften verantwortlich, für diesen Teil müssen sie geradestehen. Ich glaube, das Zeugnis, das die Wissenschaft ihnen erteilt hat, war nicht schlecht. Die Tariflöhne sind aber nicht in allen Fällen ausschlaggebend, sondern, wie ebenfalls festgestellt worden ist, ist über den Tariflöhnen ein hohes Maß zusätzlicher Zuwächse entstanden — das sind die effektiven Zulagen —, für die von außen her eine Verpflichtung gar nicht eintritt.Nun hat der Kollege Dr. Pohle soeben gesagt, das sei eine Folge der Arbeitszeitverkürzung. Meine Damen und Herren, ich möchte einmal wissen, was in unserem Land nicht alles als eine direkte Folge der Arbeitszeitverkürzungen herausgestellt wird. Wir haben in der Zwischenzeit eineinhalb Millionen ausländische Arbeitnehmer im Land. Wir haben eine von Jahr zu Jahr gewachsene Produktivität, wir haben eine höhere Leistung, wir haben zusätzlich neue Personen in den Arbeitsprozeß eingeführt, und immer noch ist die Arbeitszeitverkürzung die Ursache allen Übels. Damit müssen Sie endlich einmal aufhören. Ich will Ihnen einmal etwas sagen: das sind Durchschnittszahlen. Sie dürfen sich nicht an einem Streit aufhängen, der momentan in eine m deutschen Wirtschaftszweig herrscht. Das sind ja Vorgänge, die von Wirtschaftszweig zu Wirtschaftszweig völlig unterschiedlich sind. Sie sind alle befangen unter dem Eindruck von Zei-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966 881
Lebertungsartikeln gegen die Arbeitszeitverkürzung, die in den letzten Wochen erschienen sind. Machen Sie sich doch einmal frei davon und stellen Sie fest, wo die Arbeitszeit jetzt effektiv liegt, nicht nur das, was in Tarifen festgelegt ist, sondern auch das, was die Gewerkschaften trotz tariflicher Festlegung an effektiver Arbeitszeit draußen gestatten! Können Sie mir eine Gewerkschaft nennen, die schon einmal darum gekämpft hat, daß das durchgeführt wird, was an Arbeitszeitverkürzungen in den Tarifverträgen steht?
— Das konnten wir auch.
— Arbeitszeitverkürzung und Lohnerhöhung haben nur insofern etwas miteinander zu tun, als Lohnausgleich für Arbeitszeitverkürzung aufgebracht wird, und wenn die Arbeitszeit nicht wirklich reduziert wird, bleibt nur noch die Frage eines Überstundenzuschlags, wenn nach wie vor so lange gearbeitet wird.
Nächste Frage: Lebt dieses Volk über seine Verhältnisse? Nun, der private Verbrauch in unserem Lande ist von 1954 bis 1965 ständig von Jahr zu Jahr zurückgegangen, von 60,5 im Jahre 1954 auf 56,1 °/o 1965. Auch ein Ausfluß der Entwicklung! In dieser Zeit haben sich die Quoten des privaten Verbrauchs in den uns vergleichbaren Ländern konstant gehalten. Der private Verbrauch liegt in Frankreich, in Italien, in England und in den Vereinigten Staaten um 6 bis 8 % über dem privaten Verbrauch in unserem Lande. Das deutsche Volk verbraucht nicht mehr, als es einnimmt, sondern das deutsche Volk hat bei einer steigenden Konjunktur, bei einer expansiven Wirtschaft von Jahr zu Jahr aus dem Sozialprodukt, das alle erarbeiten, weniger verbraucht, als es ursprünglich prozentual einmal der Fall gewesen ist.Und dann das nächste — das hören Sie nicht gern —: die Zahl der Ausfalltage durch Arbeitsstreitigkeiten ist in unserem Land die absolut niedrigste in der ganzen freien, zivilisierten Welt.
Da gibt es eindeutige Statistiken. Diese vernünftige Haltung der Gewerkschaften ist von niemandem erzwungen worden, sondern die halben die Gewerkschaften selber in Freiheit erbracht. Darauf kommt es an.
Wenn Sie dann fragen: Was ist denn eigentlich außer Rand und Band geraten, was ist in Unordnung?, — die Preise sind gestiegen! Das ist alles! Das ist noch keine Inflation. Wieviel? Meine Damen und Herren, auch darüber reden Sie nicht gern. Sie bringen da wer weiß was alles für verschleierte Schlüsselzahlen. Es sind 4,2% im Dezember 1965 mehr im Verhältnis zu Dezember 1964. Nur das ist das, was draußen, wenn man von inflationärer Tendenz spricht, wichtig ist. Wer dazu Inflation sagt, der züchtet auch schon wieder Verwirrung und ' etwas, was nicht gut ist.
Denn in dem Augenblick, wo dieser Vorgang als Inflation bezeichnet wird, geschieht etwas sehr Konkretes: die, die ein paar Groschen gespart haben unter denen, die es schwer haben zu sparen, überlegen dann, ob sie es dort lassen sollen.
— Aber das Wort kommt ja sehr oft von der Regierungsbank her. Sagen Sie das doch mal Ihrem Regierungschef!
— Meine sehr verehrten Damen und Herren, vielleicht haben Sie es nötig, daß Sie einige Erkenntnisse auf dem Gebiet sammeln. Ich habe jedenfalls versucht, da das meine zu tun.Meine Damen und Herren, die Preise sind gestiegen. Das macht eine bestimmte Frage nötig, und zwar die Frage: Wie sind diese Preissteigerungen entstanden? Nach den Untersuchungen des Gutachtens und nach denen, die Sie auch anderwärts lesen können — bei der Bundesbank sehr ausführlich und sehr eindringlich —, sind rund 50 % dieser Preissteigerungen in ihrer Gewichtung auf die steigenden Preise für Ernährungsgüter zurückzuführen.
— Da kommt noch ganz was anderes! — Meine Damen und Herren, ich kann Sie nur bitten, wenn Sie hier mit Über das Gutachten debattieren wollen: Lesen Sie es erst einmal; das steht schwarz auf weiß darin geschrieben.
— Ich will Ihnen einmal etwas sagen. Ich habe Maurer gelernt, und es gibt keine landwirtschaftliche Arbeit, die Sie mir vormachen müßten; ich habe jede zu Hause gelernt.
Ich weiß allerdings auch — wenn Sie so wollen: „Man müßte Bauer sein!" —, wie es in bestimmten Zeitläufen schwierig und weniger schwierig war, den oder jenen Beruf auszuüben. Manchmal habe ich mir auch als Maurer auf dem Gerüst gedacht: Wenn wir uns jetzt so verhalten würden wie manche andere, dann müßten wir eigentlich einen kleinen Teppichvorleger auf das Baugerüst legen; dann rutschen wir wenigstens nicht so leicht aus.
— Entschuldigen Sie, — wenn Sie sich davon betroffen fühlen, ziehen Sie sich den Schuh nur ruhig an!
Metadaten/Kopzeile:
882 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966
LeberIch möchte nämlich eine Frage stellen, vor der Sie wahrscheinlich Angst haben,
und zwar an die Regierung, nicht an Sie; Sie werden sie wahrscheinlich gar nicht beantworten wollen. Ich habe die Frage an die Bundesregierung — an Herrn Minister Schmücker, der Herr Bundeskanzler ist leider nicht mehr da —: Sind Sie der Überzeugung, daß die Preissteigerungen auf dem Ernährungssektor durch die gestiegenen Löhne der Landarbeiter entstanden sind? Was hat sie verursacht?
Herr Minister, ich erwarte — —. Das haben Sie nicht behauptet. Ich möchte nur einmal klären, wie das entstanden ist. — Sie nicht; ich habe eine Antwort von Herrn Höcherl gehört.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Frage?
Es geht hier nur darum, einmal öffentlich klarzustellen: Wodurch sind die Preissteigerungen entstanden? Sie haben nämlich draußen den Eindruck erweckt — nach der Methode: „Haltet den Dieb" —, dafür seien die Gewerkschaften und die Lohnsteigerungen verantwortlich. Ich möchte Sie daher konkret fragen: Sind 50% der Preissteigerungen, die amtlich ausgewiesen sind, das Ergebnis der gestiegenen Landarbeiterlöhne? Denn daran können doch die Eisenbahner oder die Metallarbeiter oder die Uhrmacher wohl nicht schuld sein.
— Meine Damen und Herren, halten Sie etwas zurück mit Ihrer Kraft; das wird noch viel schöner!
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Frage?
Bitte!
Herr Abgeordneter Sander, bitte!
Herr Kollege Leber, ich habe mit Ihnen ja über diese Probleme schon gesprochen. Aber ist Ihnen denn wirklich nicht bekannt, daß im letzten Jahr infolge der nassen Witterung die Kartoffelernte schlecht war,
ist Ihnen wirklich nicht bekannt, daß wir dadurch höhere Gemüsepreise hatten, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa,
und, Herr Leber, wollen Sie denn nicht anerkennen,
daß Sie doch keine Relation zu Landarbeiterlöhnen
aufstellen können? Sie wissen ganz genau, wie gering der Anteil der Landarbeiterlöhne ist,
und Sie wissen ganz genau, — —
Herr Abgeordneter Sander, Sie haben hier keine Rede zu halten, sondern zu fragen.
Sie, Herr Kollege Leber, haben immer wieder gesagt, — —
Gehen Sie auf Ihren Platz, Herr Abgeordneter!
Herr Kollege, Sie haben sich viel zu früh aufgeregt. Wir sind vielleicht einer Meinung — ich weiß es nicht. Ich habe jetzt gar nichts anderes getan — vielleicht habe ich da eine wunde Stelle getroffen —, als die Frage gestellt, ob an der Hälfte der Preissteigerungen, die amtlich ausgewiesen sind, die Landarbeiter die Hauptschuldigen sind.
— Entschuldigen Sie, Ihre ganze Reaktion ist unverständlich. Hören Sie mich doch Ich bringe nämlich selber zwei Erklärungen: Erstens sind, soweit ich das Feld übersehen kann, für die gestiegenen Preise auf dem Ernährungssektor Ursachen vorhanden, die sich aus der Entwicklung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Agrarpolitik in diesem Lande ergeben.
— Sehen Sie, das steht in meinem Konzept, und auch ohne daß Sie so geschrien hätten, hätte ich das hier gesagt. — Zweitens sind daran die Witterungsverhältnisse schuld.
Dazu habe ich aber noch etwas zu sagen: Meinen Kollegen regnet es genauso in die Bude wie den Landarbeitern,
und die können Witterungsausfälle nicht geltend machen, wenn sie nach Hause gehen müssen. Drittens sagt man, es seien veränderte Verbrauchsgewohnheiten. Das ist aber nur zu einem minimalen Teil der Anlaß; in der Hauptsache sind es Auswirkungen aus der europäischen Entwicklung.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966 883
Herr Kollege Leber, gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Bitte, Herr Minister!
Darf ich Sie fragen, Herr Kollege Leber, warum Sie diese , Mitteilungen, diese Behauptungen, die Sie soeben aufgestellt haben, zum Angriff gegen die Regierung benutzen. Ist Ihnen entgangen, daß ich vorhin gesagt habe:
Die Preisentwicklung dürfte bei normalen Witterungsverhältnissen voraussichtlich etwas günstiger ausfallen als bisher abgenommen. Der beträchtliche Preisanstieg im Ernährungsbereich war im Jahre 1965 zum großen Teil das Ergebnis außerordentlicher Verhältnisse, ohne daß übrigens der Einkommenausfall der Landwirtschaft ausgeglichen worden wäre.
Herr Minister .Schmücker, wenn Sie das als einen Angriff auf die Regierung aufgefaßt haben: das war gar keiner!
Ich habe die Regierung gefragt, ob sie der Meinung ist, daß die Landarbeiterlöhne in erster Linie an den Preissteigerungen auf dem Ernährungssektor schuld seien. Was Sie dazu gesagt haben, ist etwas ganz anderes.
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Frage?
Fragen Sie, Herr Minister!
Herr Kollege Leber, finden Sie es richtig, daß man nicht nur nach dem Text, sondern auch nach dem Ton gehen muß? Man muß aber außerdem noch nach dem Fingerzeichen gehen. Denn Sie haben den Herrn Kollegen Brese angesprochen und ihm gesagt, Sie würden nicht ihn, sondern die Regierung fragen. Daraus muß ich schließen, daß damit ein Angriff auf die Regierung gemeint war. Die meisten haben es hier auch so aufgefaßt. Das können Sie doch nicht bestreiten oder?
Herr Minister, ich habe hier geredet, und der Herr Abgeordnete Brese hat sich aufgeregt. Da habe ich gesagt: Von Ihnen will ich ja gar nichts, sondern ich möchte von der Regierung eine Antwort haben, ob sie glaubt, die Landarbeiterlöhne seien daran schuld. — Ich glaube, wir sind wieder einig.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie noch eine Frage des Abgeordneten Ertl?
Ja; mir kommt es nur darauf an, daß das registriert wird. Ich werde jetzt schon die Hälfte der Zeit gefragt.
Herr Kollege Leber, ist Ihnen bekannt, daß die Verbrauchsgewohnheiten sich auch in der Form geändert haben, daß immer höhere Ansprüche an Verarbeitung und Verpackung gestellt werden und daß erhöhte Lohnaufwendungen bei diesen Gewerben die Folge sind und somit die Lohnerhöhungen dann doch durchschlagen?
Das habe ich gehört. Ich habe allerdings auch gehört, die Verpackung werde mitgewogen.
Meine Damen und Herren, ich möchte einen zweiten Komplex nennen, von dem ich meine, daß er bedeutsam ist: das sind die gestiegenen Mieten. Sie machen 18,9 °/o der Preissteigerung in dem Warenkorb aus, um den es im Konkreten bei allen Überlegungen hier geht.
— Darauf komme ich gleich zu sprechen, lieber Herr. Die Zahl 5,9 % täuscht nämlich. Das ist eine Durchschnittszahl. Ernähren müssen sich alle. Aber diese Mieterhöhungen betragen im Durchschnitt 5,9 %; da, wo sie wirklich eintreten, macht das zum Teil 15, 20 und 30 % des Einkommens aus.
Meine Damen und Herren, jetzt habe ich die Frage zu stellen — ohne Vorwurf, Herr Minister Schmücker —: Wer ist für diese Steigerungen auf dem Ernährungssektor und auf dem Sektor Mieten zunächst zuständig?
— Das ist nämlich ein Irrtum. Die Häuser, die 1965 gebaut worden sind, werden wahrscheinlich erst 1966 bewohnt, und für die gilt die ganze Mietgesetzgebung nicht. Hier handelt es sich um Mieten für Wohnungen, die vor 20 oder 30 oder 50 Jahren schon gebaut worden sind, die sogenannten Altbaumieten. Sie müssen etwas tiefer in die Probleme hineingehen.
Meine Damen und Herren, die Löhne, die im Augenblick gezahlt werden, spielen dabei überhaupt keine Rolle. Auch darüber können wir uns gleich gerne unterhalten. Hier geht es darum, daß als Folge dieser Entwicklung, die ich gar nicht kritisieren will, jetzt Belastungen auf den Verbraucher zugekommen sind.Die Frage, die ich habe — und das geht jetzt gegen die Regierung —: Mußten denn in einem Jahr wie 1965, in dem die Regierung wußte, daß außerordentliche und schwerwiegende Belastungen aus der europäischen Entwicklung auf die Verbraucher in diesem Lande zukommen, ausgerechnet auch noch Mieterhöhungen in dieser Höhe auf sie zukommen, die rund ein Fünftel der ganzen Preissteigerungen ausmachen? So etwas kann man steuern.
Metadaten/Kopzeile:
884 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966
Leber1 Tenn Sie meinen, das müsse sein, kann man das dosieren in Zeitläuften, wo das nicht so addierbar ist, wie das im vergangenen Jahr der Fall war. Wir haben ja gemeint, das solle zwei Jahre später sein. Zwei Jahre später, dann wäre die ganze Entwicklung etwas entwirrt gewesen.Meine Damen und Herren, ich habe gefragt, ob Sie glauben, daß die Regierung diese Dinge, die mit der Entwicklung auf dem europäischen Markt in Zusammenhang stehen, zu vertreten hat oder jemand anders. Wenn das so ist, dann habe ich die Frage: Warum tritt diese Regierung dann nicht vor das Volk? Warum erklärt unsere Regierung unserem Volk nicht die Entscheidungen, die sie getroffen hat, und klärt es auch über die Folgen auf, die damit verbunden sind? Diese Regierung hätte vor das deutsche Volk treten können und hätte ihm sagen können: Die europäische Integration ist ein großes und ein wichtiges Ziel; dem müssen wir Priorität einräumen;
wir verfolgen diese europäische Politik. Da hätte hier niemand widersprochen, wenn man sich das Ziel vorgenommen hätte, auch dann nicht, wenn wir dem Volk auf dem Weg nach Europa zeitweise Opfer zumuten müssen. Warum hat die Regierung das nicht getan? Warum hat sie sich nicht vor das Volk gestellt und ist sie nicht geradegestanden für die politische Entscheidung, die sie trifft? Die Regierung hätte auch sagen können: Auf dem Weg nach Europa darf unsere Landwirtschaft nicht in den Straßengräben der Wege dorthin liegenbleiben; für sie muß auch etwas getan werden. Ich kritisiere, daß die Regierung diese Antworten offenläßt und draußen den Eindruck erweckt, die Arbeiter und ihre Löhne seien an diesen Preissteigerungen schuld.
Wenn ich mir in meiner Phantasie vorstelle, was Staatsmänner wie Churchill oder Roosevelt aus einer solchen Situation gemacht hätten! Sie hätten aus einem solchen Appell an das Volk, Opfer zu bringen für ein hohes politisches Ideal, einen politischen Feiertag gemacht.
Bei uns wird es verschwiegen, und es bleibt draußen ungeklärt, worauf die Belastungen zurückzuführen sind. Den anderen werden diese Belastungen zugeschoben. Wo ist hier jemals ein solches Wort von dieser Regierungsbank gefallen: Das sind die Folgen unserer politischen Entscheidung; wir muten sie dem Volk zu, weil wir glauben, daß das, was damit erreicht werden soll, dieses Opfer zwangsläufig nach sich ziehen muß, wobei man noch darüber streiten kann, ob das so oder so sein soll. Meine Damen und Herren, dieser Mangel an Offenheit ist es, den ich beklage. -
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Leber, ist Ihnen entgangen, daß die Christlichen Demokraten ihre gesamte Wahlagitation mit aller Offenheit gerade in bezug auf diese Problematik, die Sie hier hinsichtlich Europas, hinsichtlich der Landwirtschaft anführen, bestritten haben?
Ist Ihnen entgangen, daß wir damit vor unsere Bevölkerung getreten sind, und auch mit einem recht guten Effekt?
Ich habe nur im Ohr, daß Sie von Preissenkungen und stabilen Preisen gesprochen haben — sonst nichts — und daß Sie diese Dinge nicht erwähnt haben.Meine Damen und Herren, jetzt komme ich auf unsere Zwischenfrage von vorhin zu sprechen. Herr Kollege Burgbacher, das ist der Sinn meiner Frage vorhin an Sie gewesen, als Sie ein Zitat von Herrn Professor Röpke hier vorlasen. Ich habe das, was an Mißtrauen in die Bevölkerung gezogen wird, auf die Regierung projiziert lediglich unter dem Gesichtspunkt, daß hier Verantwortlichkeiten nicht klargestellt werden und dadurch Mißtrauen in der Bevölkerung erzeugt wird. Das ist das, worum es mir geht. Statt dafür geradezustehen, wird draußen noch anders gesprochen. Selbst wenn Sie das hier bestreiten, — fragen Sie jemand, der draußen vor dem Hause steht, wer schuld ist an den Preissteigerungen. Der wird Ihnen sagen: Die Gewerkschaften und die Arbeiterlöhne. Das sind doch die Dinge, mit den wir uns hier auseinandersetzen müssen. Der Vorwurf wird also an die Mehrheit des Volkes delegiert. Die Arbeitnehmer, das ist nämlich in Wirklichkeit die Mehrheit des Volkes, meine Damen und Herren. Auch die, die Sie gewählt haben — unter den Arbeitnehmern —, fühlen sich davon getroffen. Da ist eine Verwirrung entstanden. Da ist nicht überall der Überblick über die wirtschaftlichen Zusammenhänge, wie so etwas zustande kommt. Viele glauben das und nehmen es für bare Münze. Deshalb wird es vielleicht von manchem zu bestimmten Zeitläuften bewußt so dargestellt und so ausgestreut.Ich denke nicht daran, alles das, was die Gewerkschaften tun — ich bin ja jetzt bei dem Thema —, in Schutz zu nehmen. Im Gegenteil, ich könnte eine Broschüre — vielleicht würde es auch ein dünnes Buch — über Unklugheiten und Fehler schreiben, die die Gewerkschaften begangen haben. Wahrscheinlich wäre das Kapitel, das ich über mich schreiben würde, gar nicht so klein.
Das sage ich Ihnen in aller Offenheit. Aber worum es hier geht, das ist nicht, welche Fehler die Gewerkschaften manchmal machen oder auch machen, sondern ob sie an dieser Entwicklung schuld sind oder nicht, die hier konkret zur Debatte steht, die dieses Mißverhältnis draußen ausgelöst hat.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966 885
LeberEine wichtige politische Folgerung: viele Arbeitnehmer durchschauen dieses Spiel. Sie sehen, wie hier mit dem Entsetzen des Volkes auch Politik gemacht wird. Sie spüren, wie sie sich hinter dieser Politik auch kalt und nüchtern berechnete Interessen verbergen. Das ist das, was ich gern noch dazu sagen wollte.Bitte, Herr Kollege Burgbacher.
Herr Kollege Leber, wollen Sie uns klarmachen, daß die Lohn- und Tarif- und Arbeitszeitpolitik in allen Fällen preisneutral war?
Das habe ich überhaupt nicht behauptet, sondern ich habe vorhin ausdrücklich gesagt, das pendele mal darunter und das pendele mal darüber, und die Statistik gibt mir da recht. Das können Sie nicht generalisieren. Ich bringe gleich ein paar konkrete Beispiele, dann werden wir uns beide sehr leicht verständigen können.
- Sie werden sich wundern, wenn das ins Spezielle
geht, wie schwierig das für Sie wird, meine Herren.
Schlimm an dieser Entwicklung ist, daß, selbst wenn diese Rechnung in Mark und Pfennig aufgeht, Mißtrauen in unserem Volk dadurch ausgelöst wird, von dem ich meine, daß es gefährlich werden kann.
) Wenn das Vertrauen der Bevölkerung in etwas einmal schwindet, ist das so leicht nicht wiederherzustellen. Mißtrauen gegen eine Regierung, die sich so verhält — wenn das einmal durchschaut wird —, ist leicht umzumünzen in einer so jungen Demokratie in Mißtrauen gegen den Staat. Und davor. habe ich Angst aus solchen Zusammenhängen.
Noch eines! Ich gehe noch einen Schritt weiter. Das ständige Tröpfchen Gift und das ständige Mißtrauen, das da dauernd auch zwischen Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften eingestreut wird, das . kann dem Staat einmal gefährlich werden, wenn er in einer schlimmen Stunde darauf angewiesen ist, daß die Arbeitnehmer auf ihre Gewerkschaften hören. Daran sollten Sie auch einmal denken. Das hat es in unserer Geschichte schon gegeben.
Dann noch einen Satz — wenn Sie wollen, sage ich den aus ziemlicher Höhe —; daran kann man einiges messen. Der ermordete amerikanische Präsident Kennedy, der für solche Dinge eine Ader hatte, hat einmal in Amerika Industriellen gesagt: „Wirklich demokratische Verhältnisse kann man daran erkennen, ob es in einem solchen Staat freiheitliche Gewerkschaften gibt; und ob es wirklich demokratisch ist dort, kann man noch mehr daran erkennen, wie sehr es eine Regierung den Gewerkschaften gestattet, ihr selbst unbequem zu werden." Sie wollen bequeme Gewerkschaften. Wenn sie unbequem werden, dann schimpfen Sie auf sie, meine Damen und Herren.
Und noch einen Satz! Große demokratische Staatsmänner kann man auch daran erkennen, wie sie mit unbequemen Gewerkschaften zurechtkommen. Das ist auch eine Sache, über die manch einer einmal nachdenken sollte im Zusammenhang mit seiner eigenen Größe.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Frage?
Herr Kollege Leber, ich verstehe nicht ganz Ihre Erregung.
Erregt bin ich überaupt nicht.
Können Sie mir konkret sagen, wer den Gewerkschaften den Vorwurf macht, sie seien an der jetzigen Entwicklung schuld?
Hören Sie mal!
Es war eine Frage!
Zum Beispiel der Herr Bundeskanzler, — wenn Ihnen der dafür repräsentativ genug ist.
— Meine Damen und Herren, ich bitte Sie um Verständnis. Ich sehe die Uhr dort oben. Meine Uhr läuft bald ab. Wenn der Herr Präsident einverstanden ist, daß meine Redezeit verlängert wird, nehme ich jede Frage an.
Sie haben keine festgesetzte Redezeit, Herr Abgeordneter. Wollen Sie noch eine Frage beantworten?
Bitte!
Herr Kollege Leber, ich sehe das nicht als Antwort an. Können Sie mir konkret sagen, wann der Bundeskanzler oder diese Bundesregierung behauptet hätte, an dieser Entwicklung seien die Gewerkschaften schuld?
In der „Welt" vom 29. Januar z. B.; das ist das Jüngste. Ich reiche Ihnen aber ein Kilo Aussagen des Herrn Bundeskanzlers nach, die in diese Richtung gehen. Sogar in den Protokollen dieses Hohen Hauses gibt es eine Menge solcher Äußerungen.
Metadaten/Kopzeile:
886 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966
Gestatten Sie noch eine Frage?
Bitte!
Herr Kollege Leber, haben Sie nicht mit mir den Eindruck, daß Sie jetzt zu sehr Ihre Person und Ihre Fraktion mit den Gewerkschaften identifizieren?
Herr Kollege Russe, ich habe überhaupt nicht den Auftrag, für die Gewerkschaften zu reden, sondern ich bin — im Unterschied zu manch einem von Ihnen — ein mit großer Mehrheit direkt gewählter Abgeordneter.
— Wollen Sie noch etwas fragen?
Gestatten Sie noch eine Frage?
Bitte!
Ich bedanke mich für die Zwischenbemerkung, Herr Kollege Leber. ) Wenn Sie in dieser Aussage mit mir einig sind, darf ich fragen, was Sie zu der Feststellung Ihres Fraktionsvorsitzenden am 20. Oktober im Deutschen Fernsehen zu sagen haben — eben unter Bezugnahme auf diese Ihre Äußerung, die Sie jetzt gemacht haben —, daß Sie keine Identität mit den Gewerkschaften, wohl aber eine freundschaftliche Partnerschaft hätten und daß Sie als Volkspartei nicht das automatische Vollzugsorgan der Gewerkschaften sein könnten? Wenn Sie das zum Ausdruck bringen wollen, verstehe ich nicht Ihre Argumentation, die Sie hier vorgebracht haben.
Meine Damen und Herren, und vor allen Dingen Sie, verehrter Herr Kolle Russe: Unabhängigkeit zwischen einer Partei und den Gewerkschaften heißt doch noch nicht, daß es in diesem Hause künftig überhaupt keine Partei mehr gibt, die sich um die Interessen der Arbeitnehmer kümmert,
auch um die Interessen der Gewerkschaften. Das ist doch nicht ein institutionelles Verflochtensein. Ich möchte mal wissen, in welcher Eigenschaft manch einer, der große Konzerne vertritt, dann redet, wenn er an diesem Pult steht,
ob als Beauftragter seines Konzerns oder im Auftrage seiner Wähler.
— Herr Müller, jetzt habe ich mal genug geantwortet. Wir haben ja im Augenblick keine Fragestunde.Meine Damen und Herren, jetzt zu dem speziellen Problem, wie sich das z. B. im Jahre 1965 ausgewirkt hat. Im Jahre 1965 gab es im Baugewerbe eine Lohnerhöhung von 61)/0. Die Kaufkraft dieser Lohnerhöhung ist durch Preissteigerungen um 4,2 % aufgezehrt worden, von Dezember zu Dezember. Im Dezember 1965 war also von der Lohnerhöhung nur noch eine Substanz von 1,8% verblieben.
— Das ist nicht die Durchschnittszahl. Was die Hausfrau praktisch interessiert, ist, was sie zu Weihnachten dafür kaufen konnte. Für sie ist nicht interessant, was das durchschnittlich im Jahr ausmacht, sondern um wieviel Prozent die Kaufkraft im Dezember geschwunden ist.Und jetzt möchte ich gern eine Koalition mit der Landwirtschaft herstellen, wenn das geht. Meine Kollegen im Baugewerbe haben im vergangenen Jahr bis Mitte Juli 28 wetterbedingte Ausfalltage gehabt, ohne daß sie dafür einen Pfennig ersetzt bekommen haben. Davon haben sie 22 Tage nachgeholt — an Samstagen, an Sonntagen und in Nächten —, 6 sind nicht nachgeholt worden. Das macht nach einer einfachen Rechnung einen effektiven Ausfall von 3,2 %. Wenn Sie das zu den 4,2 % Preissteigerungen hinzurechnen, so stellen Sie fest, daß im Dezember 1965 die Kaufkraft dieses MonatsLohneinkommens geringer war als am Anfang des Jahres.
Ich erzähle Ihnen das, um Ihnen einmal etwas die Auswirkungen im Detail zu zeigen. Ich bin dafür, meine Damen und Herren, wir sollten uns künftig nicht soviel Vorwürfe machen.
— Das können Sie einer Opposition nicht übelnehmen.Das Gutachten liegt jetzt vor. Es geht nun darum, ob die Essenz aus diesem Gutachten draußen verwirklicht werden kann. Dazu gehört Vertrauen, und darüber möchte ich gern etwas sagen. Das setzt nämlich voraus, daß wie Kollege Schiller, Kollege Burgbacher, Kollege Pohle und wer auch immer hier gesprochen hat, alle bereit sind, das Gutachten— ganz egal, welche Zahl sie nun aus ihm schlußfolgern — als eine gute, brauchbare Grundlage anzuerkennen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966 887
LeberDer Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie hat zwar in diesem Hause keinen Sitz, aber ich habe ihn sagen hören: „Was sind das für Leute, die das Gutachten gemacht haben? Ich betrachte die Leute nicht als Sachverständige. Ich war ja auch gegen das Gutachten."
Glauben Sie, daß das nicht stört, wenn hier von einer Vertrauensbasis gesprochen wird? Ich habe den Herrn Präsidenten Fritz Dietz sagen hören: „Ich halte nicht viel von Gutachten. Wo gibt es überhaupt objektive Leute, die jemals mit der Praxis der Wirtschaft konfrontiert worden sind?" So werden hier Wissenschaftler abqualifiziert, meine Damen und Herren.Ich habe noch etwas. Ich sehe Herrn Kollegen Professor Stein nicht hier; ich will es deshalb etwas konzentriert machen. Er hat am 15. Dezember vor der CDU in Köln über das Gutachten geredet. Ich habe hier den „Industriekurier", der berichtet ja korrekt, wie Sie wissen.
Darin steht, was Herr Stein alles über den Inhalt des Gutachtens gesagt hat. Das Gutachten ist aber erst fünf Tage später veröffentlicht worden. Ich möchte wissen, woher Herr Stein am 15. Dezember schon Kenntnis vom Inhalt des Gutachtens hatte.
Wir hatten als Opposition den Zugang zu diesen Dingen nicht; sie lagen im Schrank. Ich bedaure, daß das geschehen ist.Her Burgbacher, Sie haben ja in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" einen Artikel geschrieben und gesagt, die Wissenschaftler wären nahe bei der SPD.
Nun, da haben Sie sich nicht getäuscht.
Gestatten Sie eine Frage des Abgeordneten Menne?
Ich möchte Herrn Leber fragen, ob ihm bekannt ist, daß ich Vizepräsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie bin. Wenn ihm das bekannt sein sollte, möchte ich hinzufügen, daß derartige Äußerungen, wie sie getan worden sind, durchaus nicht bedeuten, daß der ganze Bundesverband der Deutschen Industrie im einzelnen diese Meinungen teilt.
Herr Dr. Menne, ich bin Ihnen für diese Klärung außerordentlich dankbar. Das habe ich auch nicht behauptet. Ich habe nur Fritz Berg zitiert. Das kann also nur zur Klarheit dienen.
Meine Damen und Herren, das Gutachten stellt mehrere Hypothesen auf. Es geht um die Frage: Wie kann man mit diesen Preissteigerungen fertig werden? Soll das in Etappen geschehen, zunächst mit einer Beschränkung auf 6 %, wie es die Gutachter vorschlagen? Soll das mit einer Radikalkur geschehen, mit einer Reduzierung auf 4 %, wie das die Bundesregierung vorhat? Oder soll das so nach der Methode Fritz Burgbacher — Entschuldigung! — geschehen, der sagt: auf der Stelle treten, dann wird alles andere von selbst geschehen.
Meine Damen und Herren, wenn die Arbeitnehmer auf diese Formel 4 % eingingen, würde das bedeuten, daß sie bereit sind, alle Folgewirkungen aus der europäischen Entwicklung im Jahre 1965 allein auf ihr Konto zu nehmen. Das können Sie von ihnen doch billigerweise nicht verlangen; das verstehen Sie doch genauso gut wie wir. Außerdem ist es sehr leicht möglich, daß genau das Gegenteil eintritt, eine Entwicklung zur Stagnation. Das hat mein Kollege Schiller schon gesagt. Bei der Realität, die da in der freien Wirtschaft im Spiel ist, ist Vernunft, die nur von einem Teil eingebracht wird, in der Regel nicht Vernunft, sondern da gibt es welche, die sagen, das sei Dummheit gewesen. Solange nicht sichergestellt ist, daß alle, die zu diesem „Konzert" gehören, sich freiwillig an diesem „Konzert" beteiligen, halte ich es für ein gewagtes Spiel, von 4 % zu reden, weil ich der Meinung bin, daß das, was die Gutachter vorschlagen, auf viel mehr Bereitschaft stößt, auf dieser Basis ein wirklich gutes „Konzert" miteinander zu versuchen. Das macht die Bundesregierung ja nicht allein, sondern da hängt es davon ab, daß alles in Freiheit, ohne daß ein Zwang ausgeübt werden kann, von sich aus nun in diese „Noten", die die Gutachter da gesetzt haben, einstimmt. Und da habe ich einige Bedenken.
Eine wichtige Voraussetzung, die nötig ist, wenn von so unterschiedlichen Interessen her geprägte heterogene Kräfte einmal aufeinander synchronisiert werden sollen — wie in diesem „Konzert" —, ist ein Mindestmaß von Vertrauen, das bei allen Beteiligten erforderlich ist. Dieses Mindestmaß von Vertrauen wäre zuerst Sache des Kanzlers. Das hat er leider nicht geschaffen — ich will das hier nicht härter ausdrücken —, sondern da hat es immer wieder Gelegenheiten gegeben, wo die Lager aufgespalten worden sind.
Ich möchte statt einer ganzen Reihe von Bemerkungen, die ich noch zu machen gehabt hätte, noch folgendes dazu sagen. Man könnte über die Zahlen vielleicht mit jedem hier reden, wenn nicht bloß über die Einkommensseite des Ganzen, über die Lohnpolitik gesprochen würde. Es wird über öffentliche Haushalte, öffentliche Ausgaben und Lohnpolitik gesprochen. Warum fangen Sie dann nicht einmal an und reden von den Möglichkeiten, die Sie als Regierung haben, auf die Preise einzuwirken? Wir sind doch mitten in einer Preissteigerung für das Jahr 1966 drin und tun so, als wenn das Jahr 1966 noch eine jungfräuliche Sache wäre. Meine Damen und Herren, als die amerikanische Industrie in einer
Leber
solchen Situation einmal drohte, die Preise für Aluminium zu erhöhen, und der amerikanische Präsident Johnson sich hinstellte und sagte: „Wagt es nur, die Preise zu erhöhen! Ich mache die Militärläger frei und gebe sie auf den Markt zu Preisen, die wir verantworten können", da war es aus mit den Preissteigerungen. Wir haben Butterberge angesammelt, wiederholt Butterberge gestapelt, oft auch deshalb, um die Preise zu stützen. Wollen Sie nicht auch einmal daran denken, daß man einen Butterberg abtragen könnte, um die Preise auf einem vernünftigen Niveau zu halten? Wo sind denn da die Vorstellungen der Regierung? Warum sagt sie uns in dieser Beziehung nichts? Damit würde sie doch die ganze Diskussion draußen entlasten, wenn man weiß, daß von der Seite auch etwas zu erwarten ist.
Im übrigen meine Damen und Herren, ist das nicht nur eine Sache des Einkommens. Mit diesem Gedanken möchte ich gern schließen, obwohl ich neben der Vertrauensfrage gern noch viel gesagt hätte. Es geht nämlich nicht nur darum, wieviel Einkommen den Arbeitnehmern zuwächst, sondern es geht auch darum, was mit diesem Einkommen geschieht.
Meine Damen und Herren, es wäre eine große Sache, wenn es möglich wäre, eine Formel zu finden, um vier Dinge auf einen Nenner zu bringen und zu synchronisieren: den gerechtfertigten Anspruch des Arbeitnehmers an das Wachstum des Sozialprodukts, unser eigenes Anliegen, etwas für die Sicherheit der Währung zu tun, gleichzeitig genügend Mittel für die Investitionen zur Verfügung zu stellen und damit schließlich eine Reihe anderer öffentlicher Aufgaben zu erfüllen.
— Ich weiß einen solchen Weg, meine Damen und Herren.
— Sie kennen ihn ja überhaupt noch nicht. Hören Sie erst einmal zu! Warum gehen Sie, warum geht unsere Regierung, die von Ihnen gestellt wird, nicht dazu über und untersucht einmal, ob es solche Möglichkeiten gibt? Warum ermuntern Sie beispielsweise die Arbeitgeberverbände nicht, mit den Gewerkschaften Tarifverträge über vermögensbildende Leistungen abzuschließen?
— Was Sie, Herr Dr. Burgbacher, sagen, weiß ich, nicht wahr; aber das zieht scheinbar nicht genug. Da gibt es andere Kräfte.
— Ach Gott, meine Damen und Herren, damit wollen wir doch nicht anfangen, wer gegen wen das Gesetz durchgesetzt hat. Das ist aktenkundig, und
die Patentrechte sind angemeldet, Herr Kollege. Darüber brauchen wir uns hier nicht mehr zu streiten.
Ich möchte nur einmal folgende Gedanken erwägen. Herr Kollege Russe, darüber haben Sie früher auch schon in den Sozialausschüssen gesprochen; ich weiß das alles.
— Eben, natürlich! Lassen Sie mich aber bitte den Gedanken abschließen. Dann können wir uns darüber nachher unterhalten, wenn Sie wollen.
Ich möchte, daß diese vier Anliegen aufeinander synchronisiert werden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Es sind schon sehr viele Zwischenfragen gewesen. Irgendwann einmal muß man ja zu Ende kommen.
Der Redner läßt keine Zwischenfrage zu.
Wie wäre es, wenn ein Einkommensteil zusätzlich zu dem Teil, von dem wir alle meinen, daß er in bezug auf das konsumierbare Einkommen nicht überschritten werden dürfe, nämlich als vermögensbildender Teil, angelegt würde, weil hier meinetwegen eine Quote von 2 bis 2 1/2 %, die nicht in die Nachfrage geht, preissenkend eingesetzt werden könnte?
— Ich rede gar nicht theoretisch. Wir haben das gemacht, Herr Kollege. Auf diese Weise würde den Arbeitnehmern mehr Gerechtigkeit zuteil, und manche Streitigkeiten, die draußen im Lande vorhanden sind und noch ausbrechen, wären beseitigt. Aber das liegt bei Ihnen. Es gibt nämlich draußen so etwas wie ein Lohnkartell. Es ist gar nicht so, daß die Preise — —
- Ich kenne Unternehmerverbände, die gesagthaben: Das wäre an sich vernünftig; aber wir stehen unter dem Druck von Absprachen; über 4 % dürfen wir nicht hinausgehen. Und dieser Bundeskanzler hat den Leuten Waffenhilfe geleistet, indem er für sie Partei ergriffen hat,
er hat diese Kräfte noch ermutigt, er hat sie noch ermuntert, er hat Partei ergriffen, und er hat deshalb die Möglichkeit, sich hier als neutraler Sachwalter aufzuspielen, auch in diesem Fall verspielt.Überdies möchte ich auch einmal die Frage aufwerfen — Herr Kollege Dr. Pohle, vielleicht verteitigen Sie das nicht; ich 'weiß es nicht —: Welche
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966 889
Leber •wesentliche Situation hat es in diesem Lande schon einmal gegeben, in der zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern irgendeine eine wichtige Sache streitig war und in der Ludwig Erhard auf der Seite der Arbeitnehmer oder der Gewerkschaften war? Er ist in jedem Fall auf der anderen Seite gewesen, und das wird wohl auch so bleiben.
— Herr Pohle, meutern Sie doch nicht! Sagen Sie mir doch einmal einen Fall! Ich wäre Ihnen dafür dankbar; ich würde mich dann entschuldigen und sagen: außer einem Fall ist es so gewesen.
-- Wenn Sie mich als „Klassenkämpfer" bezeichnen, kennen Sie meine ganze Entwicklung nicht.Bei einem solchen Versuch würde dem Arbeitnehmer Gerechtigkeit werden. Die Erfüllung seines Anspruchs wäre unter Sicherheiten für die Währung erfüllbar. Er brauchte sich nur in bezug auf die Konsumierbarkeit des Lohnzuwachses Einschränkungen aufzuerlegen. Auf diese Weise würde Investitionskapital aufgebracht werden. Die Wirtschaft müßte nur — Herr Kollege Elbrächter! — bereit sein, dort, wo sie nicht aus eigenen Gewinnen Eigenkapital schaffen könnte, in einer gewissen Weise Fremdkapital aufzunehmen. Dann wäre das Investitionsproblem gelöst.Es geht nicht nur urn die Investitionen in der gewerblichen Wirtschaft. Wir haben es auch mit öffentlichen Investitionen zu tun: Infrastruktur, Bildungswesen und was weiß ich noch alles. Ich habe einmal eine Zahl ausgerechnet — das ist eine ganz private Rechnung von mir; ich habe von niemandem den Auftrag; wenn Sie wollen, sage ich das sogar als einzelner —: 2,5% der Lohnsumme für die Unselbständigen, das würde etwas mehr als 5 Milliarden DM ausmachen. Stellen Sie sich bitte einmal vor, daß die Hälfte davon nicht in die gewerbliche Wirtschaft, sondern in die Anlage gehen, für öffentliche Investitionen, die ja auch Wertobjekte darstellen, zur Verfügung stehen würde. Damit könnten Universitäten, Schulen und was sonst noch alles gebaut werden. Es ginge lediglich darum, statt des Kapitalaufbringens über Steuereinkünfte für eine ordentliche Verzinsung zu sorgen. Ich glaube, das wäre eine gute Wertanlage.
— Hören Sie mal, Sie dürfen nicht über alles spötteln; sonst muß ich Ihnen Schiller zitieren. Da werden Sie sich vielleicht wundern.
— Wenn Sie wollen, Karl Schiller und Friedrich von ... Der letztere ist dann noch bissiger.Meine Damen und Herren, auf diese Weise würden verschiedene Möglichkeiten miteinander in Einklang gebracht werden. Ich meine, man sollte diese Gedankengänge einmal in einem solchen Zusammenhang gründlich mit überlegen. Warum sollen denn nichtbestimmte Vermögen, die öffentlich dienstbar sein müssen, auf dem Wege über private Kapitalansammlungen zustande kommen, wenn sie ordentlich verzinst werden können und Wertobjekte darstellen? Im Ausland, beispielsweise in Amerika, hat man das sehr oft praktiziert. Ich halte davon viel mehr als von den Versuchen, unrentablen öffentlichen Besitz zu reprivatisieren. Es wäre sogar politisch eine großartige Sache, insbesondere wenn ich an die Ausführungen denke, die hier in der letzten Debatte von Ihrer Seite gemacht worden sind. Es geht darum, überschäumende Nachfrage in der Gegenwart zugunsten des Sozialkonsums von übermorgen zu transferieren. Hier wäre eine Gelegenheit. Sie zu ergreifen wäre besser, als hier viele Reden zu halten. Lösungen gibt es nur, wenn wir alle wollen. Das kann aber nicht nur mit Worten geschehen, sondern dazu bedarf es der Tat. Nach unserer Auffassung sind die Empfehlungen der Gutachter eine gute Richtschnur. Es gelingt aber nur, sie zu verwirklichen, wenn keiner dabei für dumm verkauft werden soll, wenn keiner durch die Maschen schlüpft. Darauf kommt es an.
Deshalb ist es des Schweißes der Edlen und auch eines Streites darüber wert. Ich sage Ihnen dazu: es gelingt nur, wenn keiner dabei seine Interessen so recht erfüllt bekommt,
wenn bei einer solchen Lösung, bei einem konzertierten Verhalten, jeder etwas einlenken muß und keiner so recht auf seine Rechnung kommt. Wenn nachher von allen Beteiligten — da schließe ich mich gerne ein —
keiner dabei von sich sagen kann, er sei Sieger geblieben, dann sehe ich eine Chance. Dann, nur dann! Dann aber gewiß wird es einen Sieger geben, nämlich die Interessen des Volkes daran, daß das Geld etwas stabiler wird, und daran wollen wir mitarbeiten.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Wirtschaft.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie Ihre Empfindungen nicht auf die recht bemerkenswerten Schlußworte meines Herrn Vorredners einstellen würden, sondern wenn Sie einige Zeilen seiner Rede zurückgehen würden; dann treffen Sie nämlich das, auf das ich kurz antworten möchte.Herr Kollege Schiller, ich bin sehr überrascht, daß ich von Ihrer Fraktion so schnell den Wahrheitsbeweis für meine These bekomme. Sie haben nach der Pressemitteilung Ihrer Fraktion folgendes gesagt:Damit kommen wir auf das Hauptproblem: die quantitative Zielangabe. Der auch von der Bundesregierung befürwortete Weg des Dialogs mit den Sozialpartnern kann nur dann zum
Metadaten/Kopzeile:
890 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966
Bundesminister SchmückerZiele führen, wenn diesen Partnern quantitative Orientierungshilfen gegeben werden.Herr Kollege Schiller, ich habe meine Bedenken gegen einen solchen Weg ausgedrückt. Ich meine, daß es darauf ankommt, allgemeine Richtlinien zu geben, die Beteiligten mit den wirtschaftlichen Tatbeständen zu konfrontieren und dann unter Achtung der Tarifautonomie die Selbstverantwortung der Beteiligten zu fordern und sie selber eine Entscheidung fällen zu lassen.Ich bin ein einziges Mal gebeten worden, in einem Tarifstreit zu vermitteln. Als es um die endgültigen Ziffern ging, habe ich das Lokal verlassen. Um so schneller haben sich dann die Partner geeinigt. Ich wollte dartun, daß dieser Weg der verantwortlichen Entscheidung der Partner der richtige ist.Nun gehen Sie davon aus, daß der Bundeskanzler in einem Interview mit der „Welt" gesagt habe, 4 % seien der richtige Satz. Ich habe mir die Zeitung geben lassen. Der Bericht ist eine allgemeine Darstellung einer Unterhaltung; es handelt sich nicht etwa um ein Interview. Es heißt darin folgendermaßen: „Die in dem Gutachten genannten 4 % Produktivitätszuwachs als Norm für Einkommenserhöhungen sollten nach Meinung Erhards als Höchstziffer gelten." Das war also eine durchaus allgemeine Formulierung.
— Entschuldigen Sie, ich bin so sehr auf Ihre Mitarbeit angewiesen, daß ich Sie nicht verärgern, son-dern überzeugen will.
Herr Kollege Leber, jetzt will ich einmal unterstellen, der Herr Bundeskanzler hätte tatsächlich damit eine Richtlinie für die akuten Lohnverhandlungen geben wollen. Herr Brandt hat, glaube ich 6,5 % genannt; der Sekretär des Sachverständigenrates hat ausgerechnet, das seien in Wirklichkeit viel mehr. Sie haben Ihre Ziffern genannt. Was haben wir damit zuwege gebracht? Einen wunderbar flammenden Streit über die Ziffern. Dabei wird dem einen vorgeworfen, er halte zu dem anderen. Es wird also genau das erreicht, was wir unter allen Umständen verhindern müssen: der Streit wird intensiviert und vertieft und politisiert.Darum bitte ich Sie, Herr Leber, beachten Sie das, was Herr Schiller zum Schluß sehr richtig gesagt hat:Wir stehen in der Tat in einem Experiment, das für die Weiterentwicklung unserer Wirtschaftsordnung von großer Wichtigkeit ist. ... Wir befinden uns nämlich ... in der ersten Phase tastender Versuche, in der die autonomen Tarifparteien gesamtwirtschaftliche Orientierungshilfen ... anzuwenden beginnen. Diese Versuche sollte man nicht mutwillig oder durch Unentschiedenheit oder durch Störfeuer zerschlagen.Ich weise nochmals auf die Gefahr hin, die darin besteht, daß derartige zur Diskussion gestellte Leitziffern unterschiedlich errechnet werden. Die Ziffern haben dann die Wirkung von Parolen. Dadurch werden Gegnerschaften aufgebaut, die wir nicht gebrauchen können. Wenn wir zum Ziel kommen wollen, über die die konzertierte Aktion die Stabilität zu erreichen, dann müssen wir Gegensätze abbauen. Ich bitte Sie, daß Sie in diesem Sinne die Debatte fortsetzen.
Herr Bundesminister, geben Sie mir zu, daß die Nennung der 4 0/o durch den Herrn Bundeskanzler in dem Interview eine beträchtliche Abweichung von den Leitlinien des Sachverständigengutachtens ist?
Wenn ich die 4 % für eine Leitlinie in Ihrem Sinne halten würde, ja; aber ich tue das nicht.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Menne.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst dem Herrn Kollegen Leber meinen herzlichsten Dank aussprechen. Meiner Meinung nach war dieses Haus vor seiner Rede in einer großen Gefahr. Ich hatte den Eindruck, daß sich unsere Debatte in ein volkswirtschaftliches Seminar zu verwandeln drohte. Da aber Kollege Leber recht wenig über das Sachverständigengutachten gesprochen hat, ist diese Gefahr gebannt.
Ich würde mich freuen, wenn wir das Sachverständigengutachten nicht nur auf seine Statistiken untersuchten, sondern wenn wir uns auch überlegten, was wir als Politiker damit machen können. Da Kollege Leber von meinem Freund Fritz Berg und von Gustav Stein sprach, möchte ich den Gutachtern ausdrücklich Dank sagen für ihre Arbeit. Ich bin einer von denen, die das Gutachten für gut halten, aber ich bin nicht der Meinung, daß jedermann verpflichtet ist, es für gut zu halten, und da wir in einer Demokratie leben, können ja Berg und Stein abweichende Meinungen äußern.Zum Gutachten selbst möchte ich zunächst einmal sagen: Ich glaube, der Haupterfolg der Sache ist, daß das Interesse der Öffentlichkeit für wirtschaftliche Fragen geweckt worden ist. Es ist zwar bedauerlich, daß wir hier Stunde um Stunde verbringen müssen, um über diese Dinge zu reden, und ich will ganz offen sagen, daß ich mich als Mann der Praxis — nicht als Theoretiker — nicht so sehr für die tausend Einzelheiten der grauen Theorie interessiere, die in diesem Gutachten enthalten sind, sondern mehr für die praktischen Folgerungen, die man daraus ziehen kann.Eingangs sprach Herr Kollege Schiller davon, daß das Gutachtergremium außerhalb der Politik stehen würde. Ich möchte doch immerhin anmerken, daß es von der Politik, nämlich von diesem Hause, geschaffen worden ist, und ich hoffe, daß es eine gute
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966 891
Dr. h. c. Menne
Erfindung war. Man muß aber immerhin bedenken — und das ist kein Fehler der Gutachter —, daß es ja eigentlich nur die Zahlen bis zum 30. Juni exakt beinhaltet und vielleicht in mancher Hinsicht noch bis zum 1. oder sogar 30. September vorgedrungen ist. Daß das Gutachten also nicht mehr sehr aktuell ist, liegt, wie Sie vielleicht meinen, an der Bundesregierung. Ich bin anderer Ansicht. Mit einer derartig dicken Schwarte von etwa 200 Seiten — ich habe mehrere Tage gebraucht, um sie wirklich zu lesen und mich damit zu beschäftigen — kann man nicht in ein paar Minuten fertig werden.Ich möchte auch sagen, daß ich Herrn Leber zustimme — und meine Freunde von der Landwirtschaft werden mir hoffentlich nicht so böse sein, wie sie es ihm waren —, daß fast 50% der Rate — der Inflationsrate oder wie Sie sie nennen wollen — des letzten Jahres auf die landwirtschaftlichen Produkte zurückgehen.
Aber, meine Damen und Herren, das ist eine ganz einfache, logische Entwicklung aus einer politischen Entscheidung — nämlich der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft — und zweitens aus den Verhältnissen in unserem Lande. Ich spreche jetzt gar nicht einmal von der schlechten Witterung, worüber wohl niemand streiten kann, sondern ich spreche davon, daß unsere Felder in diesem Lande soviel kleiner sind. Wenn Sie einmal nach Kanada fahren und sich dort die Felder ansehen, können Sie die Gründe erkennen, warum der Landwirt hier nicht zu 1 denselben Leistungen in der Lage ist. Ich bin jedenfalls froh, daß wir eine Landwirtschaft behalten — selbst wenn sie etwas kostet —, die mich noch verpflegen kann, denn ich habe zwei Kriege mitgemacht. Die 20%ige Mietensteigerung hat auch stattgefunden; es war ein Entschluß dieses Hauses, und es war ein richtiger Entschluß. Ich bedauere die armen Rentner und alten Leute, die zum Teil davon betroffen worden sind. Wir sollten alles tun, um das in Ordnung zu bringen, soweit es nicht schon geschehen ist. Aber wir müssen Herrn Leber recht geben. Zwei Drittel der Inflationsrate des vorigen Jahres ist durch andere Umstände entstanden als durch Produktionsverteuerung oder durch Dienstleistungsgewerbe.Hier möchte ich auch noch etwas sagen zu der Frage des Dienstleistungsgewerbes. Der Beweis liegt für mich bei der Bundesbahn, der Beweis liegt für mich bei der Post. Das Dienstleistungsgewerbe ist nun einmal lohnabhängig, und wie soll man denn zu einer vernünftigen Bilanz kommen, wenn die Löhne immer höher werden, man aber mit Maschinen im Dienstleistungsgewerbe nicht oder nur bis zu einem gewissen Punkt arbeiten kann!? Wir müssen also zunächst einmal akzeptieren, daß beim Dienstleistungsgewerbe — ob es das Handwerk, der Handel oder der Verkehr ist — eine Preissteigerung eintreten wird, solange die Löhne steigen. Jedermann versucht heute, mit Maschineneinsatz durchzukommen. Aber so leicht ist es nicht! Wenn das aber richtig ist, was Herr Leber gesagt hat, daß im vorigen Jahr zwei Drittel dieser Steigerung auf außerordentliche Faktoren zurückzuführen gewesen ist, dann bin ich kein Optimist, wenn ich sage: Warum soll es in diesem Jahr wieder so kommen? Ich bin nämlich nicht der Meinung der Sachverständigen, daß eine so hohe Steigerung unbedingt wiederkommen muß. Allerdings, sie kann kommen. Ich bitte um Entschuldigung, Herr Leber — ich sehe ihn gar nicht; ach, Verzeihung, Herr Leber, ich hatte Sie nicht gesehen; ich wollte Sie gerne dabei anblicken, wenn ich das sage —: ich bin der Meinung, daß die Zeit für Arbeitszeitverkürzungen nicht gekommen ist. Sie haben sich vorhin aufgeregt. Ich kann nicht so erregt sprechen und die Masse so beeinflussen, wie Sie das — vorzüglich — können.
— Natürlich, Sie haben den berechtigten Einwand gebracht, daß Abgeordnete dieses Hohen Hauses keine „Masse" sind; ich bitte vielmals um Entschuldigung;
außerdem sind nicht viele mehr hier; aber das hängt mit der vorgerückten Stunde zusammen.Ich möchte also sagen, daß die Arbeitszeitverkürzung meiner Ansicht nach möglichst verzögert werden sollte. Wir haben jetzt etwa 42 Stunden im Durchschnitt, ich spreche von der tariflichen Arbeitszeit. Diese auf 40 Stunden zurückzudrehen ist etwas, was wir jetzt unterlassen sollten, wenn wir stabilisieren wollen. Wenn wir es mit der Stabilisierung ernst meinen, sollten wir das nicht tun.
Nun zur Frage des Lohnes. Da kann ich nur sagen, daß ich mich über jeden Produktivitätserfolg freue, der es ermöglicht, unseren Leute mehr zu zahlen. Ich bin ja ein Mann der Praxis; ich weiß, welche Löhne gezahlt worden sind, und ich sage das, ohne daß ich das von der Seite der Industrie oder von der Seite der Gewerkschaften betrachten muß. Ich bin glücklich darüber, wie die Löhne seit 1949 bis heute gestiegen sind. Ich hoffe, daß sie weiter steigen können; aber sie können nur im Rahmen der Produktivität, nicht im Rahmen des Produktionszuwachses steigen. Deshalb möchte ich entschieden dafür plädieren, daß die Arbeitszeitverküzung zurückgestellt wird.Herr Leber, Sie haben hier die Diskussion der Sozialpartner etwas hereingebracht. Ich persönlich glaube, daß es nicht ganz richtig ist, das zu tun; das soll ja außerhalb des Hauses geschehen.
Ich kann mich aber nicht einer Bemerkung dazu enthalten. Wenn Sie einen hoch rationalisierten Betrieb nehmen, ergibt sich folgende Lage: Bei einem einschichtigen Betrieb bedeutet die verkürzte Arbeitszeit eine geringere Ausnutzung der sehr kostspieligen Anlagen und damit auch eine geringere Rendite für die Verzinsung des investierten Kapitals. Bei einem kontinuierlichen Betrieb schreiben die Maschinen überhaupt das Arbeitstempo und die Zeit vor. Ich bin der Meinung, unser Bedarf an ausländischen Gastarbeitern könnte erheblich verrringert werden, wenn wir von Arbeitszeitverkürzungen absähen. Man muß ja schließlich
Metadaten/Kopzeile:
892 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966
Dr. h. c. Menne
bedenken, daß 42 Stunden Arbeitszeit in Wirklichkeit nur 37 Stunden Arbeit sind; denn der wohlverdiente Urlaub, der natürlich sein muß, ist im Grunde abzuziehen. Das wird häufig übersehen.Ich habe Iden Eindruck, unsere Leute sind sehr arbeitsfreudig. Die Fraktion der FDP hat schon im vorigen Jahr versucht, in diesem Hohen Hause einen konkreten Vorschlag durchzubringen, der sicherlich sehr geholfen hätte; ich -meine den Vorschlag zur Befreiung der Überstunden von Steuern und Sozialabgaben.
Ich verstehe einfach nicht, warum das Hohe Haus diesem Vorschlag damals nicht zugestimmt hat. Ich habe mir die Mühe gemacht, mit Inhabern von kleinen und großen Betrieben zu sprechen, ich habe mit vielen Leuten im Betrieb gesprochen, ich habe mit unseren Betriebsräten gesprochen. Sie alle sagen: „Jawohl, das wäre ausgezeichnet, dann würde die Schwarzarbeit aufhören". Wir können ja doch nicht bestreiten: die Schwarzarbeiter zahlen keine Steuern, haben aber das große Risiko der Unfälle; denn für die Unfälle während der Schwarzarbeit sind sie nicht versichert. Wir stehen vor der Tatsache, daß durch Schwarzarbeit immer mehr Unfälle entstehen. Dann wenden sich die Leute an die Firma oder an die Krankenkasse und sagen: Bitte, bezahlt! Dann muß sich die Firma entscheiden, ob sie es aus eigener Tasche bezahlen will, um den Mann zu behalten, oder was zu machen ist.Ich möchte noch einmal vorschlagen — und ich bitte meine Fraktion, diesen Antrag erneut zu stellen —, die Überstunden von Steuern und Sozialabgaben zu befreien.
Dabei möchte ich ausdrücklich vorschlagen —, diese Befreiung nur für eine beschränkte Anzahl von Überstunden einzuführen, damit wir den Arbeiter nicht dazu verführen, Tag und Nacht zu arbeiten, um diesen zusätzlichen Gewinn einzustecken. Ich erwarte nicht mehr, als daß die Arbeit, die zur Zeit als Schwarzarbeit geleistet wird, künftig wieder in den Fabriken geleistet wird und der Produktion nützt.Nun möchte ich dieses Thema verlassen. Die Zeit ist vorgerückt. Aber einer Bemerkung kann ich mich doch nicht enthalten: Ich 'bin zwar nicht der Meinung, daß. die deutschen Illustrierten unbedingt die führenden Wirtschaftsblätter Deutschlands sind. Immerhin hat aber doch eine Illustrierte kürzlich eine Umfrage veranstaltet und dabei die Frage gestellt, ob man bereit sei, pro Woche eine Stunde mehr zu arbeiten. Ich kann nicht untersuchen, wen man befragt hat und wieviel Personen man befragt hat. Aber das kann man ja tun. 57% der Befragten haben uneingeschränkt ja, 26 % nein gesagt. Ich bin der Meinung, daß unsere Arbeiter durchaus bereit sind, zusätzliche Arbeit zu leisten.Nun möchte ich noch auf die Kosteninflation zu sprechen kommen; denn die Preisinflation ist ja eine Kosteninflation. Hier ist nicht allein der Lohn ein entscheidener Faktor; auch die Steuer ist ein wichtiger Faktor; denn wir bezahlen die höchsten Steuern, die es in irgendeinem Lande gibt. Es mag sein, daß es in irgendeinem ausgefallenen Land noch, höhere Steuern gibt. Deshalb will ich mich hier berichtigen: ich spreche von normalen industriellen Produktionsländern. Aus diesem Grunde habe ich auch den Vorschlag der Gutachter nicht begrüßt, auch noch die Investitionen, die schon zurückgegangen sind, zu besteuern. Das ist doch ein wahrer Hohn, das zu tun, wenn man auf der anderen Seite bei der Vollbeschäftigung bleiben und die Produktivität erhöhen will.Ich bin weiter der Meinung, daß auch variable Abschreibungen ihre Gefahren haben. Die Gutachter haben von variablen Abschreibungen gesprochen. Aber ich glaube nicht, daß sie jemals an einem Schreibtisch gesessen haben und sich überlegen mußten, wo sie die Millionen herbekämen, um neue Maschinenanlagen erstellen zu können. Und dann soll man mit variablen Abschreibungen arbeiten! Natürlich, Herr Minister Schmücker, Abschreibungen könnten auch nach unten gehen. Das ist mir bekannt. Aber im allgemeinen haben die Steuern nicht die Tendenz nach unten.Die Frage der Investitionen macht mir etwas Sorge, und zwar in umgekehrter Richtung wie den Gutachtern. Die Investitionsfreudigkeit hat nachgelassen. Statt der vielleicht mit Recht vermuteten 8% sind es inzwischen nur 5 % geworden. Warum wird nicht investiert? Es wird nicht investiert, weil die Leute zum Teil den Mut verloren haben. Sie sehen in vielen Dingen Unklarheiten auf sich zukommen. Ich bin der Meinung, daß man etwas tun sollte, um Investitionen zu erleichtern, besonders im Mittelstand und für diejenigen Industrien, die Anlagen in das Ausland liefern. Denn wir können im Ausland nicht Anlagen mit 8 % Zinsen pro Jahr verkaufen, wenn der ausländische Konkurrent 5 1/4 Prozent nimmt. Ich bin der Meinung, daß hier die Bundesbank, deren Restriktionspolitik ich sehr begrüße und unterstütze, etwas selektiv arbeiten müßte.In diesem Zusammenhang möchte ich zum Schluß noch sagen, daß meine Fraktion es sehr begrüßt, daß die EWG-Verhandlungen in Brüssel wieder besser geworden sind. Wir sind jedoch nicht dafür, hier weiter mit Vorleistungen zu arbeiten. Aber diese EWG-Verhandlungen werden hoffentlich dazu führen, daß wir die Kennedy-Runde doch noch behandeln können, und ich möchte Herrn Minister Schmükker bitten, sich doch für die Kennedy-Runde sehr stark gegenüber unseren Partnern einzusetzen. Nicht jeder ist dafür, das wissen wir. Aber wir müssen die Kennedy-Runde haben, sonst haben wir keine Aussicht, uns auf die Dauer den Export nach den USA in vollem Umfange zu erhalten.Ich möchte ein gutes Beispiel geben und in Anbetracht der vorgerückten Zeit nicht weiter sprechen, sondern damit meine Ausführungen schließen. Ich hoffe, daß wir im Wirtschaftsausschuß noch Gelegenheit finden werden, uns über alle diese Probleme zu unterhalten und vielleicht Lösungen zu finden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Februar 1966 893
Meine Damen und Herren, an den Präsidenten ist die Frage herangetragen worden, ob es nicht zweckmäßiger wäre, jetzt die Debatte zu unterbrechen, da sie morgen sowieso fortgesetzt wird.
— Ich stelle lediglich die Frage an die Fraktionen des Hauses. Sind Sie einverstanden, daß wir die Sitzung jetzt abbrechen?
— Gut, dann fahren wir in der Debatte fort. Ich erteile das Wort dem Herrn Abgeordneten Luda.
— Herr Abgeordneter Luda nimmt seine Wortmeldung zurück.
Ich erteile das Wort der Frau Abgeordneten Dr. Krips.
— Angesichts der allgemeinen Unschlüssigkeit breche ich die Debatte ab und schließe die heutige Sitzung.
Ich berufe die nächste Sitzung auf morgen vormittag 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.