Protokoll:
3001

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 3

  • date_rangeSitzungsnummer: 1

  • date_rangeDatum: 15. Oktober 1957

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 15:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 17:26 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 1. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 15. Oktober 1957 1. Sitzung Berlin, den 15. Oktober 1957 Inhalt: Ansprache der Alterspräsidentin Frau Dr. Dr. h. c. Lüders 1 A Namensaufruf der Abgeordneten und Wahl des Präsidenten 5 B Dr. Krone (CDU/CSU) 5 C D. Dr. Gerstenmaier (CDU/CSU) . 5 D, 6 A Amtsübernahme und Ansprache des Präsidenten D. Dr. Gerstenmaier 6 A Wahl der Stellvertreter des Präsidenten Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) 11 A Dr. Jaeger (CDU/CSU) i 1 A Dr. Becker (Hersfeld) (FDP) 11 A Begrüßung einer Abordnung des britischen Unterhauses i 1 A Zusammensetzung des Ältestenrates . . . 11C Nächste Sitzung 11 C Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 1. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 15. Oktober 1957 1 1. Sitzung Berlin, den 15. Oktober 1957 Stenographischer Bericht Beginn: 15.00 Uhr
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Gesamtes Protokol
Dr. Marie-Elisabeth Lüders (FDP):
Rede ID: ID0300100000
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren Abgeordneten des Deutschen Bundestages! Zum zweiten und letzten Male wird mir, einem alten Brauch entsprechend, die Ehre zuteil, als ältestes Mitglied dieses Hohen Hauses an dieser Stelle zu stehen, um den Dritten Bundestag zu eröffnen. Ich bin am 25. Juni 1878 geboren. Ich frage, ob sich außer dem Herrn Bundeskanzler

(Heiterkeit)

ein Mitglied in diesem Hohen Hause befindet, das zu einem früheren Termin geboren ist. — Das scheint nicht der Fall zu sein. Dann erkläre ich, daß der Deutsche Bundestag sich zu seiner dritten Wahlperiode gemäß § 1 Abs. 2 der Geschäftsordnung in der alten Reichshauptstadt Berlin konstituiert hat.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung gilt die bisherige Geschäftsordnung vorläufig auch für die dritte Wahlperiode.
Nach einer weiteren interfraktionellen Absprache darf ich zunächst acht Mitglieder des Hohen Hauses bitten, mir vorläufig als Schriftführer zur Seite zu stehen, und zwar bitte ich die Abgeordneten Frau Albrecht, Frau Geisendörfer, Herrn Huth, Herrn Lange, Herrn Matthes, Herrn Matzner, Herrn Stammberger und Herrn Siebel, dieses Amt zu übernehmen. Ich darf die Abgeordneten Huth und Lange bitten, neben mir Platz zu nehmen.
Meine Damen und Herren! Die Einleitung dieser Stunde wird von zwei Gedanken und sich widersprechenden Gefühlen, der Trauer und der Freude, beherrscht. Wir alle sind gemeinsam mit dem ganzen deutschen Volk tief bedrückt von dem bitteren Leid, daß ein tragisches Schicksal mit dem stolzen Schiff, der Pamir, so viele tapfere Seemänner und ihren Kapitän in die Tiefe gerissen hat.

(Die Abgeordneten erheben sich.)

Wir fühlen herzlich mit ihren schwergeprüften Angehörigen. Gleichzeitig danken wir von ganzem Herzen den Fliegern, den Seeleuten und allen anderen, die oft unter Einsatz ihres eigenen Lebens an der schwierigen Such- und Rettungsaktion teilgenommen haben. Die Männer sind trotzdem das Opfer der übermächtigen Naturgewalten — immer noch stärker als der Mensch — geworden.
Mit gleicher Trauer erfüllen uns auch die beklagenswerten Folgen des schweren Eisenbahnunglücks bei Stuttgart-Cannstatt. Mit unserer Teilnahme für die Angehörigen verbinden wir die herzlichsten Wünsche für die Genesung der Verletzten.
Unser Mitgefühl gilt auch den vielen Opfern, die von den Angehörigen anderer Staaten in großer Zahl bei jüngsten Unglücksfällen zu beklagen sind, wie z. B. in Spanien und Pakistan.
Wir gedenken auch der Trauer des ganzen norwegischen Volkes um seinen König, der in aufrichtiger demokratischer Gesinnung viele Jahrzehnte zum Segen aller unter und mit seinem Volke gelebt hat.
Neben den vielen, deren Verlust wir, meine Damen und Herren — obwohl wir keinen von ihnen persönlich gekannt haben —, so schmerzlich empfinden, steht die Erinnerung an 18 Mitglieder dieses Hohen Hauses, alles Kollegen, viele auch Freunde, die von uns gegangen sind. Ich darf unter ihnen nur wenige Namen nennen, ohne sie etwa über die anderen stellen zu wollen. Wir beklagen alle den schmerzlichen Verlust des kurz vor seinem Ableben zum Präsidenten des Bundesrates gewählten Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Dr. Otto Suhr. Er hat sich mit Aufbietung aller körperlichen und geistigen Kräfte unermüdlich dem Wohle Berlins gewidmet und, rücksichtslos gegen sich selber, im Dienst für diese Stadt aufgerieben.
Neben ihm haben wir in der überlangen Reihe der Heimgegangenen den plötzlichen Tod des Kollegen Walter Brockmann zu beklagen. Auch seine Arbeit hat vornehmlich der Stadt Berlin gegolten. Er ist, noch nicht 56 Jahre alt, in treuer Pflichterfüllung, mitten aus der Wahlarbeit gerissen worden, einer von denen, die von der Last der Arbeit erdrückt worden sind, der schon so viele Kollegen zum Opfer gefallen sind.
Vor wenigen Tagen ist unser bisheriger Kollege Michael Horlacher von uns gegangen. Er war seit 1949 im Deutschen Bundestag einer der profiliertesten bayerischen Politiker. Er war ein Bauernführer, der die Sorgen und Anliegen seines Standes im Parlament und in der Öffentlichkeit vertrat. Er verstand es, auch bei den anderen Ständen für das Bauerntum Verständnis zu wecken. Dr. Horlacher — das wissen wir alle — war ein Meister parlamentarischer Auseinandersetzungen und durch seine Sachkenntnis bei politischen Freunden und Gegnern in gleichem Maße geachtet und geschätzt.



Alterspräsidentin Frau Dr. Dr. h. c. Lüders
Verehrte Kollegen! Und abermals haben wir vor wenigen Tagen in tiefer Trauer an einer Bahre gestanden. Parlament und Regierung sind tief erschüttert durch den unerwarteten, viel zu frühen Tod Dr. Karl Georg Pfleiderers. Er war viele Jahre unser liebenswerter Kollege. Sein ganzes Streben und Arbeiten galt der Verbesserung und Ausweitung der diplomatischen Beziehungen Deutschlands auch zu den östlichen Ländern. Er diente diesem Gedanken auf dem exponierten Posten eines Botschafters in Belgrad mit dem Einsatz seines überlegenen Könnens und mit der Hingabe seines ganzen Wesens bis in seine Todesstunde.
Sie haben sich, verehrte Kolleginnen und Kollegen, zum ehrenden Gedenken an alle erhoben. Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren! Ich sagte schon, daß diese Stunde von den widerstreitenden Gefühlen der Trauer und Freude beherrscht wird. Es ist für uns alle — ich bin dessen sicher — eine lebhafte Freude, daß es uns zum ersten Male vergönnt ist, einem von mir und mehreren Kollegen gestellten Antrag entsprechend, uns endlich in der Reichshauptstadt Berlin wieder zusammenzufinden. Das ist ein erster und, so glauben wir, entscheidender Schritt aus einem achtjährigen Provisorium zurück in die angestammte Heimat der deutschen Volksvertretung.

(Beifall.)

Räumlich ist es auch heute noch wieder ein Provisorium, für dessen Bereitstellung wir dem Senat der Stadt Berlin und allen, die mit unermüdlichem Eifer sich um die Herrichtung dieses, man darf wohl ohne Übertreibung sagen, grandiosen Arbeitsplatzes bemüht haben, herzlich dankbar sind.
Dieser Raum ist nicht nur ein Zeichen einzigartiger technischer und künstlerischer Leistungen. Er ist auch der sichtbare Ausdruck der großherzigen Bereitschaft der amerikanischen Benjamin-FranklinStiftung, Berlin bei der Errichtung einer seiner würdigen Kongreßhalle zu helfen; einer Bereitschaft, die wir Berliner Abgeordneten besonders dankbar empfinden. Man braucht kein Großsprecher zu sein, um zu meinen, daß auch das äußere Bild Berlins die Aufgabe hat, Ausdruck seiner politischen Bedeutung zu sein. Andere Parlamente tagen in historisch weltberühmten Gebäuden, uns hat die Kriegsfurie auch das Parlament geraubt. Aber es lebt in uns allen das unzerstörbare Gefühl für den Auftrag aus den Worten über dem Hauptportal des alten Reichstags „Dem Deutschen Volke!" Es lebt in uns die Sehnsucht und der Wille — ernsthaft gemahnt durch den Anblick unserer Parlamentsruine und durch die nur wenige hundert Meter entfernte Sektorengrenze, der ersten willkürlichen Barriere vor dahinterliegenden weiten deutschen Landen —, dem Wohl des ganzen deutschen Volkes dienen zu dürfen, vornehmlich derer, die heute noch keine frei gewählten und von uns so sehnlich erwarteten Abgeordneten in unsere Versammlung entsenden können, so wie sie früher in großer Zahl aus allen mittel-, nord- und ostdeutschen Gebieten als Kollegen und Freunde unter uns saßen.

(Beifall.)

So schön auch alles zur Stunde für uns bereitet worden ist, so hoffen wir doch, nicht undankbar zu erscheinen, wenn wir lebhaft wünschen, daß es das letzte, das allerletzte Provisorium sein möchte und das Hohe Haus in absehbarer Zeit wieder seinen traditionellen Standort beziehen kann. Liegen auch die Weinberge fern, so sind doch die märkischen Wälder und Seen nahe, durch die Flüsse ziehen, die sich mit dem großen Elbstrom vereinen, einem Strom, der aus dem Südosten Europas kommt und bei der freien Hansestadt Hamburg in das freie Meer mündet. Möchte er ein Symbol sein für den Weg der Freiheit überhaupt, nicht nur für unsere eigene Freiheit. Und für Sie alle, verehrte Kolleginnen und Kollegen, bezieht diese Stadt aus ihren Seen und Wäldern aus erster Hand die berühmte „Berliner Luft", von der wir hoffen, daß sie unsere Arbeit nicht nur in Berlin, sondern nachwirkend auch noch am Rhein beflügeln wird.

(Beifall.)

Meine Damen und Herren! Wir sind unterschiedslos von zwei Gedanken erfüllt, die der Motor unserer Wünsche und unseres Handelns sind: der Sicherung des inneren und des äußeren Friedens und der Wiedervereinigung mit den angestammten Gebieten des ehemaligen Deutschen Reiches.

(Beifall.)

Wir wissen — und wir wollen es auch nicht anders —, daß die heute noch unter fremder Verwaltung stehenden Gebiete nur auf friedlichem Wege in die deutsche Volksgemeinschaft wieder einbezogen werden können. Es ist deshalb unsere Aufgabe, mit höchstem Eifer gemeinsam auf Mittel und Wege zu sinnen, mit denen dieses unser allerhöchstes Ziel erreicht werden kann, nicht nur um Deutschlands, auch nicht nur um Europas willen, sondern weil davon der Friede der ganzen Welt abhängt. Wir jagen keinem nationalistischen Ziel, keinem überheblichen Machtstreben nach, sondern wir fühlen uns der Welt verpflichtet, täglich und stündlich mit Geduld, Ruhe und Zähigkeit unseren Beitrag zu leisten, gleichberechtigt und gleichverpflichtet allen Deutschen Freiheit und Frieden zu erringen. Freiheit und Frieden dürfen keine Zonengrenzen kennen. Es wird — ich glaube es bestimmt — trotz der erneuten bitteren Erfahrungen in gemeinsamer Arbeit ein Weg gefunden werden, mit Verstand und gegenseitigem Verständnis zu einer Verständigung zu gelangen, die allmählich auch die geistig-seelischen Schranken überwindet, die durch die erzwungene räumliche und politische Zweiteilung unsere Einheit bedrohen.
Die Wiederaufrichtung und der Ausbau unseres Landes und unserer Beziehungen zu der übrigen Welt sind in der vergangenen Legislaturperiode in beachtlichem Umfange gefördert worden. Der Anschluß an die westliche Welt ist vollzogen. Die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion sind mit unser aller Zustimmung wiederaufgenommen worden; andere Staaten, so hoffen wir trotz allem, werden folgen. Das Saargebiet ist in freier Entscheidung seiner Bewohner zu uns zurückgekehrt. Deutschland hat seine Souveränität wiedergewonnen. Das kühne Projekt der Europa-Verträge ist



Alterspräsidentin Frau Dr. Dr. h. c. Lüders
durchgeführt worden. Die Verträge über Euratom und den Gemeinsamen Markt wurden verabschiedet.
Unsere Wirtschaft hat sich nach den Prinzipien der freien Marktwirtschaft auf allen Gebieten so gefestigt, daß die Arbeitslosigkeit so gut wie beseitigt ist. Bemühen wir uns, daß in Zukunft ein Verhältnis zwischen den beiden großen Sozialpartnern in der Art entsteht, daß diese Erfolge nicht wieder in Frage gestellt und wir nicht plötzlich unsanft aus unserem Prosperitätsoptimismus gerissen werden.
Der Wohnungsbau konnte erfolgreich gefördert werden, während von der allgemeinen Sozialreform bisher nur die sogenannte Rentenreform erledigt worden ist. Sie hat zwar das Los vieler Millionen erfreulicherweise erheblich verbessert, ist aber sehr vielen leider noch vieles schuldig geblieben. Es wird nicht leicht sein, begreifliche Wünsche und oft sehr stürmische Forderungen mit den finanziellen Möglichkeiten und der notwendigen Selbstverantwortung der Fordernden in Einklang zu bringen.
Das Kartellgesetz und das Bundesbankgesetz wurden verabschiedet. Ebenso wurde der erste wichtige Schritt auf dem Wege der Reform des Familienrechts und der Änderung der Ehegattenbesteuerung getan, beide gemäß der zwingenden Vorschrift des Artikels 3 des Grundgesetzes.
Von großer Bedeutung waren die intensiven Beratungen und die schließliche Annahme der Wehrgesetze mit den dafür notwendigen Grundgesetzänderungen. Wesentliche Schritte vorwärts sind auch auf dem Gebiete des Lastenausgleichs und des Kriegsfolgengesetzes, in der Versorgung der Kriegsopfer, der Eingliederung der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen zu verzeichnen, Fortschritte, die jedoch keineswegs endgültig befriedigende und befriedende Zustände geschaffen haben.
Auf all diesen Gebieten kommt es nicht nur auf die materielle Hilfe an, die übrigens leider nur zu oft und nur zu lange auf sich warten läßt, sondern die rein menschliche seelische Verfassung der Betroffenen und ihre geistigen Bedürfnisse müssen immer von neuem unsere Sorge sein. Dies gilt vor allem für die übergroße Zahl der immer noch in Lagern und Baracken notdürftig untergebrachten Flüchtlinge, Vertriebenen und Heimatlosen. Die Sorge um das Mitmenschliche muß auch in den ausführenden Organen den sonst allzu spitzen Rechenstift führen; denn der Mensch lebt nicht von Brot allein. Guter Wille vermag viele Gräben zuzuschütten und viele verklemmte Türen zu öffnen, auch ohne ständige Erhöhung der materiellen Leistungen.
Ehe ich zu dem übergehen darf, was uns an Arbeit bevorsteht, um einiges davon anzuführen, möchte ich noch einen ganz besonderen Dank an die Presse richten. Ich darf sicher sein, daß ich hier in Ihrer aller Namen spreche. Der Presse danken wir für die unermüdliche Beobachtung und Unterstützung unserer Arbeit.

(Beifall.)

Nicht alle Kommentare waren für uns unbedingt beglückend. Aber das darf unseren Dank nicht mindern, sondern wir müssen das Recht der Meinungsfreiheit für die Presse mit verteidigen. In dieser Verteidigung gehören die Volksvertretung und die Presse zusammen. Wir danken der Presse für die Kameradschaft, die sie uns in den vergangenen Jahren erwiesen hat.
Meine Damen und Herren! Auch der noch vor uns liegende Weg ist hart und dornig genug, um zu einem Staat sozialer Gerechtigkeit zu gelangen, ohne die Freiheit und Demokratie nur leere Worte sind. Das muß vor allem beachtet werden im Hinblick auf unsere Brüder und Schwestern in Mittel- und Ostdeutschland, die beides leider nur vom Hörensagen kennen.
Wir sehen auch mit Sorge auf die weitere Entwicklung der weltweiten Bemühungen um die Abrüstung und mit ihr auf die Frage nach der Verwendung spaltbaren Materials einzig und allein zu friedlichen Zwecken. Man braucht kein Schwarzmaler zu sein, um die latente Lebensangst von Millionen zu verstehen, die Leben und Gesundheit, auch der noch Ungeborenen, durch Kräfte bedroht sehen, die segenspendend, aber auch zerstörend sein können. Es liegt leider nicht allein in unserer Hand, ob diese Kräfte zum Guten oder zum Bösen angewendet werden; denn, um mit einem alten persischen Wort zu sprechen, „ob Wissenschaft nur reinen Segen spendet, kommt darauf an, wozu man sie verwendet". Um so mehr wird es unsere Aufgabe sein, alle Schutzmöglichkeiten gegen schädliche Nebenwirkungen, insbesondere durch Strahlen und Nebenprodukte, zu erforschen und mit äußerster Anstrengung alle Maßnahmen und Einrichtungen zum Schutze der Bevölkerung zu fördern. Für die Erfüllung dieser Aufgabe darf keine Ausgabe zu hoch sein; denn in der weltbedrohenden Atomfrage liegt der Schlüssel zur Erhaltung des äußeren Friedens. Der neueste atemberaubende Vorstoß in die überirdische Welt kann vielleicht alle veranlassen, durch die geistige Gemeinschaft auf wissenschaftlichem Gebiet und ihre nie geahnten Resultate, die zum Heil wie zum Übel eines jeden ausschlagen können, die politischen Gegensätze auf unserem ach so kleinen Sternlein zu überwinden. Die Voraussetzung hierfür liegt allerdings nicht in dem Wettlauf um die Verbreitung von Furcht und Schrecken, sondern in dem Willen, unsere ganze Kraft der Erhaltung der ewig gültigen sittlichen Werte für die ganze Menschheit zuzuwenden, bevor uns allen das Schicksal des Ikarus bereitet wird.
Mit großer Sorge verfolgen wir auch die durch Kriegs- und Nachkriegsfolgen sowie durch äußere Einflüsse gefährdete Verfassung der Jugend. Sie wird uns zwingen, auch weiterhin sehr ernsthaft über Mittel und Wege nachzudenken, die der Jugend den notwendigen Schutz vor sich selber und vor skrupelloser Ausbeutung ihrer geistig-seelischen Labilität durch Dritte gewähren, ohne sie in ungebührlichem Maße an das Gängelband nehmen zu wollen.



Alterspräsidentin Frau Dr. Dr. h. c. Lüders
In diesen Bemühungen steht auch — trotz der bestehenden Kompetenzschranken — die Aufgabe vor uns, den Ausbau unseres Erziehungs-, des Schul- und Hochschulwesens auf allen Gebieten weit mehr als bisher zu fördern und Forschung und Lehre zu unterstützen, um mit der übrigen wissenschaftlichen Welt überhaupt Schritt halten zu können. Hierzu, meine Damen und Herren, gehört auch die von höchster Stelle bereits mehrfach geforderte Anerkennung geistiger und künstlerischer Leistungen, deren Bewertung dem angeblichen Volke der Dichter und Denker wahrlich nicht immer zur Ehre gereicht.
Zahlreiche gesetzgeberische Arbeiten liegen vor uns, z. B. auf dem Gebiete der Steuerreform und Steuervereinfachung im Einklang mit einer Reform des Kapitalmarktes und mit den Erfordernissen der sozialen Marktwirtschaft, einer Steuerpolitik, die den Staat zum Sparen zwingt und dem Bürger das Sparen erleichtert. Ferner wartet die dringend notwendige Sozialreform auf uns, die — wie bereits angedeutet — keineswegs mit der Rentenreform erschöpft ist. Für die Strafrechtsreform ist schon überaus wertvolle Vorarbeit geleistet worden. Das Urheberrecht und das Richtergesetz analog dem Beamtengesetz, das immer wieder hinausgeschobene Jugendarbeitsschutzgesetz und das Lebensmittelgesetz warten ebenso auf uns wie der Abschluß des unvollendet gebliebenen Kriegsfolgengesetzes.
Meine Damen und Herren! Der Wahlkampf hat auch die Notwendigkeit eines Parteiengesetzes erneut erwiesen. Bei einem solchen Gesetz werden alle nicht nur an der Frage interessiert sein, welchen Quellen die für die notwendige Parteiarbeit aufzubringenden Gelder entstammen, sondern auch daran, ob es weiterhin erwünscht sein kann, parteigebundene Zuwendungen — einerlei, von wem sie kommen — steuerlich zu begünstigen. Das ist, wie wir wohl alle fühlen, keineswegs nur eine steuerpolitische Frage, sondern es berührt direkt die politische und die moralische Unabgängigkeit der Parteien, auf die wir alle den größten Wert legen. Vielleicht wird auch einmal die Frage zu prüfen sein, ob der beliebige Wechsel der Fraktionszugehörigkeit — in der letzten Bundestagsperiode wechselten 85 Mitglieder die Fraktion — dem ursprünglichen Auftrag des Wählers an seinen Abgeordneten entspricht.

(Beifall bei der SPD. — Zustimmung des Abg. Dr. Becker [Hersfeld].)

Ein Fleißzeugnis, meine Damen und Herren, über die Anzahl der verabschiedeten Gesetze tut es aber keineswegs. Etwa 500 Gesetze hat der 2. Bundestag durchgearbeitet. Manches dieser Gesetze hält jedoch einer ernsthaften Prüfung der logischen und gesetzestechnischen Voraussetzungen für seine reibungslose Durchführung leider nicht stand. Die dadurch bedingten zahllosen Novellen und Verordnungen belasten Gesetzgebung und Verwaltung gleichermaßen. Vielleicht sollten wir gegen allzu großen Gesetzgebungseifer die Feststellung des alten Bräsig beachten: „In die Fixigkeit ist er mir über, in die Richtigkeit bin ich ihm über." Wenn wir uns bemühen, meine Damen und Herren, die uns gestellten Aufgaben durch ernsthafte gemeinsame Arbeit — der Ton liegt wieder auf der Gemeinsamkeit — und durch gewissenhafte Entscheidungen zu erfüllen, dann werden wir zwar, wie der Bundestagspräsident in der letzten Sitzung des 2. Bundestages sagte, keine Festreden halten können, aber der Würde des Parlaments, wie er hinzufügte, gerecht werden. Diese Würde dokumentiert sich nicht nur in unserem äußeren Verhalten in dem Hohen Hause, das sich, wie Sie alle wissen, in breitester Offentlichkeit, vor einer nicht gerade wenig kritischen Zuschauerschaft abspielt. Die Würde des Parlaments, meine Damen und Herren, und damit auch das Ansehen der Demokratie nach innen und außen ist vielmehr in die Hand eines jeden einzelnen von uns gelegt; wir haben sie, unbekümmert um persönliche Vor- oder Nachteile, unerbittlich gegen jeden Versuch zu verteidigen, der von außen durch einzelne, durch Gruppen oder deren Vertreter gemacht wird, daß auch nur einer von uns den egoistischen Interessen dieses oder jenes unsere höchste Pflicht: allein aus der Verantwortung des eigenen Gewissens zu handeln, zum Opfer bringt. Nur die Wahrung der eigenen Würde gibt uns letztlich auch das Anrecht auf das wertvolle Gut der Immunität.
Die persönliche Würde bewahrt uns auch vor der Gefahr, „Arbeit" und „Betrieb" zu verwechseln, der Organisierung, der Mechanisierung und der Verstaatlichung unseres Menschseins anheimzufallen und uns dem Druck des Apparates zu beugen; denn Integrität und Immunität sind untrennbar. Das Parlament ist mehr als nur eine Versammlung mit mehr oder weniger nach ihrem Belieben tätigen Mitgliedern. Nein, meine Damen und Herren, wir repräsentieren, jeder einzelne stellvertretend für das ganze Volk, die höchste, die gesetzgebende Gewalt mit der Last der vollen Verantwortung eines jeden dem ganzen Volke gegenüber. Die beiden anderen Gewalten empfangen den Inhalt und Umfang ihrer Aufgaben und die Möglichkeit ihrer Durchführung aus unserer Hand. Wir besitzen also eine an sich totale Macht, die nur durch unsere eigene Verantwortung gegenüber dem Volke und durch die Schranken, die die Verfassung gesetzt hat, begrenzt ist. Unserer Macht entspricht aber die auf uns liegende politische und persönliche Last. Das, meine Damen und Herren, werden unsere neuen Kollegen erst nach und nach erfahren.
Wir waren uns schon lange darüber einig, daß die gemeinsame Arbeit auf keinem Gebiet von so entscheidender Bedeutung ist wie in der Außenpolitik, von der auch die Möglichkeit zur Wiedervereinigung in hohem Maße abhängig ist. Wir haben uns alle in der Hitze des Gefechtes in Wort und Schrift, in Überbild und Überschall im Lautsprecher auseinandermanövriert. Machen wir doch alle einen Strich unter die sehr gefährliche Verwechslung der Begriffe „Gegner" und „Feind". Halten wir auf allen Gebieten Maß — nicht nur in dem Hohen Hause —, damit nicht verletzender Übermut im Bewußtsein des Monopols der Macht auf der einen und verbitternder Groll auf der anderen Seite Deutschlands Leben noch schwerer macht, als es — denken wir nur an Mittel- und Ostdeutschland! — sowieso schon ist. Nur auf der Grund-



Alterspräsidentin Frau Dr. Dr. h. c. Lüders
lage des inneren Friedens im politischen und menschlichen Bereich, nur mit dem Willen zur Toleranz kann es uns gelingen, auch den äußeren Frieden zu erhalten, Brücken zu schlagen, über die wir unser aller höchstes Ziel, die Wiedervereinigung, erreichen können.
Meine Damen und Herren! Deutschland und Frankreich haben schon einmal durch ihre Staatsmänner Stresemann und Briand in Genf den ersten bedeutsamen Schritt zur Sicherung des Friedens durch Verständigung getan. Wir erinnern uns an die Hoffnungen, die von der ganzen Welt an jene Stunde geknüpft worden sind. Wir haben es aber auch mit Schaudern erlebt, wie der gotteslästerliche Übermut eines verbrecherischen Systems alles wieder niedergerissen und Millionen in den Abgrund gestürzt hat. Und wieder ist uns eine neue Hoffnung erstanden! Wir haben zusammen mit Frankreich der Welt abermals ein Beispiel dafür gegeben, daß es möglich ist, jahrzehnte-, nein jahrhundertealte Mißhelligkeiten, Vorurteile, Leidenschaften, nationales Prestigestreben und viele nur allzu bittere Erfahrungen zu überwinden und mit Verständnis auch für den anderen zu einer Verständigung zu kommen. Meine Damen und Herren, das war doch nur möglich durch den guten Willen auf beiden Seiten, auch die geistigen und gefühlsmäßigen Trümmer zum Nutzen aller endlich abzutragen. Sollte das nicht, meine Damen und Herren, auch unter uns Deutschen selber möglich sein?
Gelingt uns das, dann, meine Damen und Herren, wird Tacitus' Urteil über uns Deutsche keine Geltung mehr haben, daß wir leicht die Beute anderer werden, weil ein jeder Stamm aus Mißgunst, aus Neid, „propter invidiam" der Feind des anderen sei.
Ob Stamm, ob Stand, ob Gruppe oder einzelner, lassen wir uns alle von dem Wort leiten:
Und handeln sollst du so, als hinge von dir und deinem Tun allein
das Schicksal ab der deutschen Dinge und die Verantwortung wär dein!

(Lebhafter Beifall im ganzen Hause.)

In Anbetracht dessen, daß es sich um die konstituierende Sitzung des Bundestags handelt, lasse ich in Abweichung von der bisherigen Übung die Namen der beurlaubten Abgeordneten bekanntgeben. Ich bitte den Herrn Schriftführer Huth, die Namen zu verlesen.

Eugen Huth (CDU):
Rede ID: ID0300100100
Der Herr Präsident hat Urlaub erteilt den Abgeordneten Bauer (Wasserburg), Dr. Bechert, Etzel, Freiherr von Feury, Geiger (Aalen), Geiger (München), Dr. Gleissner (München), Günther, Höfler, Illerhaus, Knobloch, Kunze, Lücker (München), Frau Meyer-Laule, Peters, Dr. Pferdmenges, Reitzner, Scheel, Schultz, Dr. Starke, Strauß und Wehr.

Dr. Marie-Elisabeth Lüders (FDP):
Rede ID: ID0300100200
Ich komme nunmehr zu Punkt 2 der Tagesordnung:
Namensaufruf der Abgeordneten.
Ich empfehle, zur Vereinfachung des Geschäftsganges diesen Punkt der Tagesordnung mit Punkt 3:
Wahl des Präsidenten,
zu verbinden. Das Hohe Haus ist, wie ich sehe, damit einverstanden.
Die Wahl des Präsidenten und seiner Stellvertreter ist in § 2 der Geschäftsordnung geregelt. Er bestimmt erstens, daß die Wahl des Präsidenten mit verdeckten Stimmzetteln durchzuführen ist, und zweitens, daß gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erhält. Die Berliner Abgeordneten sind voll stimmberechtigt. Es ist daher auch nur eine Urne im Saal aufgestellt.
Ich bitte um Vorschläge zur Wahl des Präsidenten. — Herr Dr. Krone, wenn ich bitten darf.

Dr. Heinrich Krone (CDU):
Rede ID: ID0300100300
Hochverehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Namens der Fraktion der Christlich-Demokratischen und der Christlich-Sozialen Union schlage ich dem Hohen Hause vor, den Präsidenten des 2. Deutschen Bundestages, unseren verehrten Kollegen D. Dr. Gerstenmaier, zum Präsidenten wählen zu wollen.

Dr. Marie-Elisabeth Lüders (FDP):
Rede ID: ID0300100400
Sie haben den Vorschlag gehört. Werden weitere Vorschläge gemacht? — Das ist, wie ich sehe, nicht der Fall.
Meine Damen und Herren! Bei der Wahlhandlung bitte ich die Mitglieder des Hauses, sich der weißen Karte ohne Namen zu bedienen und den Namen des Abgeordneten darauf zu schreiben, den sie wählen wollen. Als Stimmenthaltungen werden nur unbeschriebene Karten gewertet. Ungültig sind die Karten, die einen anderen Namen als den des vorgeschlagenen Mitglieds haben.
Der Namensaufruf beginnt. —
Der Namensaufruf ist abgeschlossen.
Befinden sich Mitglieder des Hauses im Saal, die ihre Stimmkarte nicht abgegeben haben?

Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0300100500
Ich habe an der Abstimmung nicht teilgenommen.

Dr. Marie-Elisabeth Lüders (FDP):
Rede ID: ID0300100600
Haben sonst Mitglieder ihre Stimmkarte noch nicht abgegeben? — Das ist nicht der Fall. Die Abstimmung ist geschlossen. Das Ergebnis wird ermittelt.
Ich darf Ihnen den Vorschlag machen, daß wir zu diesem Zweck die Sitzung auf 15 Minuten unterbrechen.

(Unterbrechung der Sitzung von 16.20 Uhr bis 16.40 Uhr.)


Dr. Marie-Elisabeth Lüders (FDP):
Rede ID: ID0300100700
Meine Damen und Herren! Die Wahl hat folgendes Ergebnis: Es wurden 494 Stimmen abgegeben. Damit ist die Beschlußfähigkeit des Hauses bestätigt. Es erhielt der Herr Abgeordnete Dr. Gerstenmaier 437 Stimmen. Es wurden 54 weiße Karten abgegeben. 3 Stimmen waren ungültig.



Alterspräsidentin Frau Dr. Dr. h. c. Lüders
Ich stelle fest, daß der Abgeordnete Dr. Gerstenmaier die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Hauses auf sich vereinigt hat und somit zum Präsidenten des Bundestages gewählt ist.

(Allgemeiner Beifall.)

Herr Abgeordneter Dr. Gerstenmaier, ich frage Sie, ob Sie die Wahl annehmen.

Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0300100800
Ich nehme die Wahl an.

Dr. Marie-Elisabeth Lüders (FDP):
Rede ID: ID0300100900
Herr Präsident, bitte! — Ich wünsche Ihnen — und dabei spreche ich im Namen des ganzen Hauses -
recht guten Erfolg. Wir werden stets bemüht sein, unseren Herrn Präsidenten in seinem schweren Amt zu unterstützen.

(Lebhafter Beifall.)


Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0300101000
Meine Damen und Herren! Ihrem Rufe folgend, übernehme ich von neuem das Amt des Präsidenten des Deutschen Bundestages.
Ich danke Ihnen für die Ehre, die Sie mir mit Ihrem Vertrauen erwiesen haben. Sie werden es mir nachfühlen können, wenn ich sage, daß ich diesem Ruf heute lieber folge als in der Stunde, in der ich zum erstenmal den Stuhl des Präsidenten eingenommen habe.

(Heiterkeit.)

Ich werde mir auch fortan Mühe geben, dieses Amt in gewissenhafter Gerechtigkeit zu führen. Ich bitte Sie, meine Kolleginnen und Kollegen, mir dabei zu helfen, denn ich weiß, daß es mit dem guten Willen eines vor Irrtum und Mängeln nicht gefeiten Mannes allein noch nicht getan ist.
Eine Grundregel der Demokratie ist es, daß in ihr Geltung hat, was mit der jeweils erforderlichen Mehrheit beschlossen ist. Den Glanz und Rang des freiheitlichen Rechtsstaates aber macht es aus, daß die wechselnden Mehrheiten nicht einfach tun können, was sie wollen, sondern daß die Mehrheit wie die Minderheit den strengen Regeln eines geordneten Verfahrens unterworfen sind und daß beiden, der Mehrheit wie der Minderheit, nur das erlaubt ist zu wollen und zu tun, was nach den elementaren Grundsätzen der Verfassung Recht ist oder Recht werden kann. Als die Hansestadt Lübeck vor nunmehr einem halben Jahrtausend ihr Holstentor baute, da schrieb sie an dieses Tor die vier Worte: „Concordia domi, foris pax" — Eintracht im Innern, Frieden nach außen! Ein Wahlspruch dieser Art ist nur dort in Kraft und Geltung, wo das Recht vor der Macht steht. Unsere Verfassung ist nach ihrem eigenen Willen nur deshalb ein Provisorium, weil sie den festen Raum umhegt, von dem aus das Ringen um die nationale und staatliche Einheit Deutschlands unverdrossen weitergeführt und immer von neuem inspiriert werden muß. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die elementaren Rechtsgrundsätze unserer heutigen Verfassung auch die Grundlagen der künftigen Verfassung des geeinten Deutschlands sein müssen. Daß das Recht
vor der Macht stehe, das soll nach dem Willen dieses Hauses eben keine situationsbedingte Einstweiligkeit sein, sondern diese Überzeugung gehört zu den fundamentalen Grundlagen unserer staatlichen Selbstgestaltung. Zu ihnen haben wir uns nach schweren Heimsuchungen zurückgefunden. An ihnen halten wir fest!
Daß das Recht vor der Macht steht, bekundet nicht nur unsere Verfassung, sondern auch die seitherige Geschäftsordnung des Bundestags. Einer alten Übung folgend, haben Sie zu Beginn dieser Sitzung die seitherige Geschäftsordnung so lange übernommen, bis das Haus erneut darüber Beschluß gefaßt hat. Ich kann nur hoffen, daß es möglichst bald gelingt, ihre Mängel zu beseitigen. Aber ein Grundzug zumindest dieser Geschäftsordnung, nämlich die Gewährleistung des Minderheitenrechts, muß auch die Geschäftsordnung der dritten Wahlperiode des Bundestages bestimmen.
Der Frau Alterspräsidentin gebührt der Dank des ganzen Hauses für den Rückblick und für den Ausblick auf die Arbeit des Bundestages, den sie uns in ihrer eindrucksvollen Rede gegeben hat.

(Lebhafter Beifall.)

Ich möchte diesem Überblick meinerseits nichts hinzufügen, aber ich möchte Sie bitten, einigen Erwägungen zu folgen, von denen ich glaube, daß sie für die zukünftige Gestaltung unserer parlamentarischen Arbeit von Bedeutung sein können.
Der Bundestag steht zu Beginn seiner dritten Wahlperiode vor der unabweisbaren Aufgabe, aus den Erfahrungen der vergangenen acht Jahre einige Konsequenzen zu ziehen. Der deutsche Parlamentarismus hat es in diesem Jahrhundert nicht leicht gehabt. Sein Schicksal war es bis jetzt, im Schatten großer Niederlagen zu stehen. Als am 26. Oktober 1918, also vor noch nicht einmal 40 Jahren, in Deutschland die Gewalt der Regierung der Kontrolle des Parlaments unterworfen wurde, da hatte Deutschland den ersten Weltkrieg schon endgültig verloren.
Unser Neubeginn im Jahre 1949 stand nicht nur im Schatten einer Niederlage, sondern einer nationalen Katastrophe. Mit ihr fertig zu werden und ihre Hinterlassenschaft zu überwinden, das hielt den Bundestag bis jetzt in Atem. Sein Stil, seine Methoden, ja sogar seine Leistung im ganzen wurden von nicht wenigen seiner Kritiker in Frage gestellt. Ich sehe davon ab, was von dieser Kritik dem Unmut der Unbelehrbaren oder den überspannten Erwartungen träumender Idealisten zuzuschreiben ist. Aber es ist gerecht und billig, daß wir auf ernstzunehmende Kritik hören. Denn wir können nicht in Anspruch nehmen, daß der Bundestag mit allen seinen Leistungen und seinem Stil mustergültig vor dem deutschen Volke stehe. Aber ich möchte das Parlament der Welt sehen, das etwas Ähnliches von sich behaupten könnte.
Im Blick auf die vergangenen acht Jahre des Bundestages darf dem noch zweierlei hinzugefügt werden:
1. Der deutsche Parlamentarismus befindet sich noch immer in einem Prozeß seiner Durchbildung



Präsident D. Dr. Gerstenmaier
und seiner Festigung. Dieser Prozeß darf nicht abgebrochen werden, sondern er muß auch in den nächsten vier Jahren besonnen gefördert werden. Denn ob es die Kritiker der parlamentarischen Demokratie nun wahrhaben wollen oder nicht: in dieser Epoche schlägt das Herz des freiheitlichen Rechtsstaates in Deutschland eben nicht nur in der Kraft seiner Regierung und in der Integrität seiner Gerichte und Verwaltung, sondern vor allem in der Lebendigkeit und Kraft seines Parlaments.

(Allgemeiner Beifall.)

Ein lebendiges Parlament braucht nicht mit scheelen Augen auf eine kraftvolle Regierung zu sehen, sondern es wird eine kraftvolle Regierung als einen angemessenen Partner würdigen. Umgekehrt darf sich eine starke Regierung nicht ein schwächliches Parlament wünschen. In ihrem eigenen Interesse müßte sie ein Parlament wünschen, das sich auch seines Ranges und Gewichtes bewußt ist.
2. Trotz allem, was in den Jahren 1945 bis 1949 in den Länderparlamenten und Zonenverwaltungen geschehen war, stand der Bundestag in seinen ersten und auch in seinen zweiten vier Jahren vor Aufgaben, die, aus dem Chaos geboren, das normale Maß dessen, was einem Parlament aufgegeben ist, weit überstiegen. Im Dienste des Wiederaufbaues, im Dienste der Durchbildung unserer sozialen und rechtsstaatlichen Ordnung und als Folge unserer Rückkehr in die Weltpolitik hat der Bundestag seine Mitglieder, vor allem seine führenden und besonders sachverständigen Köpfe in den Regierungs- wie in den Oppositionsparteien, in einer I Weise in Anspruch nehmen müssen, die sich nur rechtfertigen läßt durch das Ausmaß des nationalen Notstandes, dem sich Bundestag und Bundesregierung stellen mußten. Um damit einigermaßen fertig zu werden, mußte nicht nur hart und viel, sondern es mußte auch schnell gearbeitet werden.
Die jetzt beginnende dritte Wahlperiode des Bundestages sollte sich von den vergangenen acht Jahren zunächst dadurch unterscheiden, daß dieses Tempo und dieser Druck der parlamentarischen Arbeit auf das Maß zurückgebracht werden, das einer Normalbelastung des Parlaments einigermaßen entspricht. Gewiß, wir sind mit vielem noch nicht über den Berg. Die deutsche Politik steht auch in den nächsten vier Jahren vor großen und schwierigen Aufgaben. Neben einigen großen gesetzgeberischen Arbeiten, neben der Festigung unserer Wirtschaft und unseres Lohn- und Preisgefüges denke ich dabei natürlich vor allem an die Wiederherstellung der deutschen Einheit und, damit zusammenhängend, an die Weiterbildung unserer Außenpolitik. Ich glaube, daß gerade diese Arbeit nicht gefördert wird durch ein überhitztes Tempo des parlamentarischen Betriebs, sondern durch den Willen zur inneren Sammlung, zur besonnen durchdachten politischen Aktion und durch die Fähigkeit, unsere Lage in der weltpolitischen Situation und der uns mitverpflichtenden weltgeschichtlichen Entwicklung fest und nüchtern zu erfassen.
Wir haben heute trauernd unseres ehemaligen Kollegen Karl Georg Pfleiderer gedacht. Die „Süddeutsche Zeitung" hat in einer ihm gewidmeten Betrachtung darauf hingewiesen, daß er die Freiheit besessen habe, einen Schritt zurückzutreten, um den rechten Abstand zu gewinnen auf sein größeres Ziel hin. In diesem Satz ist etwas ausgesprochen, auf das keiner von uns verzichten sollte, ja gar nicht verzichten dürfte. Denn der Deutsche Bundestag ist eben nicht nur ein Betrieb, in dem die nun einmal notwendigen Gesetze — gelegentlich vielleicht auch weniger notwendige fabriziert werden. Nein, in diesem Haus ist das deutsche Volk so präsent, daß es sich seine Regierung zu geben, ihre Gewalt zu kontrollieren und unmittelbare politische Entscheidungen zu treffen vermag. Das ist über die Gesetzgebung hinaus die unabweisbare Pflicht des ganzen Parlaments. Ihre Ausübung verlangt gebieterisch Männer und Frauen, die dem Leitbild des Abgeordneten gerecht zu werden vermögen, das das Grundgesetz in seinem Artikel 38 in dem markanten Satz umschreibt: „Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen." Das und nicht weniger muß Geltung haben, wenn die Mitglieder dieses Hauses der im Bundestag auf sie wartenden Aufgaben nicht nur äußerlich gerecht werden wollen. Von jedem einzelnen von uns kann zwar nicht in allen Dingen, die hier zur Entscheidung stehen, ein eigenes sachverständiges Urteil erwartet werden; aber von jedem einzelnen von uns wird erwartet und muß verlangt werden, daß er sich bei den Entscheidungen, die ihm hier abverlangt werden, davon leiten läßt, daß er ein Vertreter des g a n z en Volkes ist. Das heißt schlicht und unmißverständlich, daß er sich also nicht nur den besonderen Belangen seines Wahlkreises verpflichtet oder vorwiegend den Interessen der Gruppen oder Kreise dienstbar fühlen darf, die ihm ihr besonderes Vertrauen gewährt haben.
Dieses Parlament ist die oberste Vertretung des freien Teiles des deutschen Volkes. Es führt darum auch stellvertretend die Stimme für die, die seit Jahr und Tag von einer Regierung ohne Legitimität niedergehalten werden.

(Lebhafte Zustimmung.)

Darum ist der Bundestag, unbeschadet der politischen und ständischen Meinungsverschiedenheiten, die in ihm Platz haben, kein Kollegium von Standesgruppen und Interessenvertretern. Nicht nur der Bundestag in seiner Gesamtheit, sondern jeder einzelne von uns ist dem Schicksal des Vaterlandes, dem Wohl des ganzen Volkes, dem Weg der ganzen Nation verpflichtet.
Je ernster wir uns zu Beginn unserer Arbeit daran erinnern, desto einsichtiger werden auch die Bemühungen von diesem Hause aufgenommen und unterstützt werden, die mit dem Wort „Parlamentsreform" etwas pauschal bezeichnet werden. Hier ist nicht der Ort und die Zeit, von einzelnem zu reden. Hier kommt es nur darauf an, den Sinn und die Notwendigkeit, die eine solche Parlamentsreform erforderlich machen, anzudeuten. Je ernster wir unser Mandat nehmen, desto mehr wird der einzelne, dem Leitbild des Artikels 38 des Grundgesetzes fol-



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gend, nicht nur diesen oder jenen sachverständigen Fraktionskollegen, diesen oder jenen Arbeitskreis vor den großen Entscheidungen zu Rate ziehen, sondern er wird darauf Wert legen müssen, mit seinem eigenen Gewissen und Urteil zu Rate zu gehen. Dazu, meine Kolleginnen und Kollegen, gehören Zeit und Besinnung.
Das Haus als solches ist es seinen Mitgliedern schuldig, ihnen die Ökonomie ihrer Zeit und Kraft zu ermöglichen, die ihnen diese Besinnung erlaubt und die es ihnen darüber hinaus gestattet, möglichst auch in beruflicher Verbindung mit dem täglichen Leben zu bleiben.
Die Konsequenz daraus: Nach meiner Überzeugung kann die seitherige Arbeitsweise in der dritten Wahlperiode nicht fortgesetzt werden. Es besteht nicht nur ein zwingendes menschliches, sondern auch ein unabweisbares sachliches und politisches Bedürfnis, daß das Haus darum möglichst schnell sich über eine neue Zeit- und Arbeitsgestaltung und andere Maßnahmen der Rationalisierung einigt. Ganz allgemein aber sollten wir in dieser Wahlperiode darauf dringen, nicht möglichst viele, sondern möglichst gute Gesetze zu machen.

(Lebhafte Zustimmung.)

Alle Mitglieder und Fraktionen des Hauses muß ich darum bitten, notfalls energisch auch gegen die Antreiber von a u ß en aufzutreten,

(erneute laute Zustimmung)

die der Meinung sind, daß nicht geruht und nicht gerastet werden dürfte, bis auch ihre letzten Wünsche und Bedürfnisse durch ein Bundesgesetz befriedigt sind.
Als der Reichskanzler Fürst Hohenlohe, damals noch Statthalter von Elsaß-Lothringen, im Juni 1890 nach Berlin kam, schrieb er in sein Tagebuch: „Zwei Dinge sind mir in den drei Tagen, die ich jetzt hier zugebracht habe, aufgefallen: erstens, daß niemand Zeit hat und alle in größerer Hetze sind als früher, zweitens, daß die Individuen geschwollen sind.

(Heiterkeit.)

Jeder einzelne fühlt sich." Ich erlaube mir kein Urteil darüber, ob Fürst Hohenlohe seine Zeit damit getroffen oder ob er ihr Unrecht getan hat. Aber uns sollte jedenfalls daran gelegen sein, daß über uns und unsere Tage anderes notiert wird. Sicher scheint mir, daß wir inner- und außerhalb unseres politischen Lebens nicht mehr Tempo, mehr Selbstbewußtsein und noch mehr Betrieb brauchen, sondern daß wir mit weniger Tagungen, mit mehr Besinnung und Sammlung dem Land und uns selber keinen kleineren Dienst täten.
Nun haben wir hier in der alten Hauptstadt des Reichs mit der Arbeit des Bundestages wieder begonnen. Wir sind nicht gekommen, um Phrasen zu machen, und wir sind auch nicht gekommen, um die Bevölkerung dieser tapferen Stadt und der sie umgebenden Zone mit schönen Worten über eine Not hinwegzutrösten, deren wir allein nicht mächtig sind. Wäre es an dem, so würde Deutschlands Einheit nicht heute und hier vollendet, sondern sie wäre spätestens in der ersten Sitzung des Bundestages vor acht Jahren zustande gebracht worden. Aber nun müssen wir Deutsche uns darauf gefaßt machen, daß wir allmählich nicht wenigen einflußreichen Gestalten der Weltpolitik auf die Nerven gehen mit unserem Verlangen nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit. So wenig wir uns erlauben sollten, uns gedankenlos für den Nabel der Welt zu halten, so wenig vermögen wir jedoch in dieser Sache jemals zu schweigen.

(Allgemeiner lebhafter Beifall.)

Es ist keine leichte, sondern eine, wie mir scheint, jeden Tag schwerer werdende Aufgabe der Bundesregierung, des Bundestags und der uns befreundeten Regierungen des Auslandes, das Einheitsverlangen der Deutschen immer von neuem so wirkungsvoll in der Welt zu vertreten, daß diejenigen, die es angeht, darüber weder einzuschlafen noch sich die Ohren zu verstopfen vermögen.
Sicher ist es nicht damit getan, daß wir hier in Berlin oder in Bonn von Zeit zu Zeit feierliche Entschließungen fassen und unseren Einheitswillen immer von neuem bekunden. Sicher ist es wichtiger, daß wir nach innen alle Hände rühren, um der Resignation zu wehren. Und sicher ist es wichtig, mit welchen politischen Methoden die Bundesregierung um die Verwirklichung dieses nationalen Ziels kämpft. Darüber haben in den letzten acht Jahren die weitaus ernstesten parlamentarischen Auseinandersetzungen stattgefunden. Wahrscheinlich wird diese dritte Legislaturperiode dieses Hauses das Gepräge geben. Ich halte nicht dafür, daß dieser Methodenstreit zu bedauern ist. Auch ein standhafter Vertreter des Wunsches nach einer gemeinsamen deutschen Außenpolitik kann sich der Einsicht nicht verschließen, daß es auch in der Außenpolitik nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie auf die Gemeinsamkeit ankommt, sondern auf die Richtigkeit. Es wäre nicht nur unrealistisch, sondern auch dem Ethos dieses Hauses nicht gemäß, wenn die Wahrheits- oder Erkenntnisfrage der staatspolitischen oder der parteipolitischen Opportunität untergeordnet würde. Dies vorausgeschickt, wird man jedoch nicht nur den Wunsch aussprechen, sondern auch immer wieder den Versuch unterstützen dürfen, zu einer Gemeinsamkeit unserer Außenpolitik zu kommen. Gelingt es, dann wäre es ein beglückender Fortschritt. Gelingt es nicht, nun, so braucht es noch keine Katastrophe zu sein.
Wir kommen aus einem harten, viel zu lange geführten Wahlkampf. Es ist darum verständlich, wenn in den Auseinandersetzungen der vergangenen Wochen nicht wenigen der Blick für das, was uns in diesem Hause seither gemeinsam war und hoffentlich auch in der Zukunft gemeinsam sein wird, getrübt oder verlorengegangen ist. Es ist auch natürlich, wenn in der bald beginnenden politischen Auseinandersetzung des Hauses, die nun einmal zum Wesen des Parlaments gehört, wiederum die Verschiedenheiten und Gegensätze mehr als die Gemeinsamkeiten in die Erscheinung treten. Es ist aber wichtig, meine Kolleginnen und Kollegen, daß wir mit unserem Volk dabei ein Bewußt-



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sein dessen behalten, daß wir im gleichen Staatsschiff die stürmische See der Weltpolitik befahren und daß wir auch in den keineswegs friedlich stillen Gewässern unserer Innen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik in einem Boote sitzen. Wir haben so viel, so heftig und so lange gegeneinander geredet und werden das, wenn auch hoffentlich weniger stürmisch, weiterhin tun, daß ich mir in dieser Stunde Ihre Zustimmung dafür erbitte, ausnahmsweise auch wieder einmal auf einige Gemeinsamkeiten von elementarer Bedeutung für das ganze Haus und die ganze Nation hinzuweisen. Über den vielen verschiedenen Bäumen sollten wir schließlich nicht den einen Wald übersehen, in dem alle diese Bäume stehen.
Mit einiger Vorsicht, aber, wie ich glaube, mit hinreichender Bestimmtheit wird man mindestens von den folgenden sechs Elementen unserer Politik sagen dürfen, daß sie dem ganzen Deutschen Bundestag — gleichgültig, oh Oppositions- oder Regierungsparteien — gemeinsam sind.
1. Der Wille zum freiheitlichen Rechtsstaat. Seit dem Ausscheiden der Kommunisten aus dem Bundestag ist der gemeinsame Wille zur Wiederherstellung ganz Deutschlands nach den Grundsätzen des freiheitlichen Rechtsstaates in diesem Hause völlig eindeutig. Das gilt auch dann, wenn zahlreiche Einzelfragen seiner Durchgestaltung kontrovers sind. Überschreite ich die Grenze dessen, was gemeinsam aussagbar ist, wenn ich hinzufüge, daß der, der glaubt, daß das Recht vor der Macht stehe, auch bereit sein muß, notfalls die Macht zum Schutze des Rechtes und der Freiheit einzusetzen? Es gibt Beispiele dafür, daß große und kleine Konfessionen, von der Kraft des Geistes getragen, darauf zu verzichten vermögen. Aber es gibt kein Beispiel dafür, daß ohne die Indienstnahme der Macht ein Rechtsstaat geschichtlichen Bestand hätte erlangen können. Wer das Recht vor die Macht stellt, der ist nicht nur zur Toleranz verpflichtet, sondern auch zur Wachsamkeit an den Grenzen, die dieser Toleranz auch um des Bestandes des Rechtsstaates willen gezogen sind.

(Beifall.)

2. Der gemeinsame Wille, ganz Deutschland in Freiheit wiederherzustellen, ist in den vergangenen vier Jahren im Bundestag vielleicht am eindrucksvollsten durch eine auch methodische Übereinstimmung aller Fraktionen unterstrichen worden, nämlich der gemeinsamen Ablehnung von Verhandlungen mit der Regierung von Pankow.
3. Der Wille zu einer wirtschaftlichen Leistung und einer krisenfesten Währung, die jedem Arbeitswilligen und Arbeitsunfähigen zur sozialen Sicherheit verhelfen.
4. Das Bekenntnis zur freien Welt. Dieses Bekenntnis ist in diesem Hause unzweifelhaft auch dann ein gemeinsames, wenn seine aktuelle politische Gestalt, zum Beispiel das NATO-Bündnis, umstritten bleibt.
5. Der Wille zur Bewahrung des Friedens ist in Deutschland, wie ich glaube, niemals glaubwürdiger dokumentiert worden als durch die Tatsache, daß der Bundestag diesem Willen jederzeit alle wohlbegründeten nationalen Wünsche und Ansprüche untergeordnet hat. Ich glaube, daß es wahr ist, daß Bundestag und Bundesregierung den Krieg als ein Mittel der Politik so entschieden und so grundsätzlich ablehnen, daß auf ihn auch dann kategorisch verzichtet würde, wenn er sich dem bloßen rationalen Kalkül als mögliches Mittel anbieten würde.

(Lebhafte Zustimmung.)

Vielleicht wäre es möglich, noch auf ein weiteres Element der Gemeinsamkeit gerade in diesem Zusammenhang zu verweisen, nämlich auf die Bereitschaft aller in diesem Hause vertretenen Parteien, dem Angriff von außen Widerstand entgegenzusetzen. Aber ich bin mir völlig bewußt, daß ich damit an die Grenze dessen trete, was für das ganze Haus aussagbar ist. Sicher aber gehört in diesem Zusammenhang die einmütige Überzeugung des ganzen Hauses von der unerläßlichen Notwendigkeit einer durchgreifenden, weltweiten kontrollierten Abrüstung der Atom- wie der konventionellen Waffen.

(Beifall.)

6. Der Einigung der europäischen Völker und der Schaffung einer gemeinsamen europäischen Ordnung wird auch in den nächsten Jahren nicht wenig von unserer gemeinsamen Arbeit gehören. Auch hier sind die Meinungen in den vergangenen Jahren oft weit und heftig auseinandergegangen über Pläne und Wege. Aber dem Ziel im ganzen ist, wenn ich mich recht erinnere, jedenfalls in den letzten vier Jahren im Bundestag von keiner Seite abgesagt worden. Mehr und mehr hat sich in diesem Willen zur Einigung Europas die Einsicht geltend gemacht, daß wir als das Volk in der Mitte Europas in besonderer Weise den Völkern im Osten und im Südosten Europas gegenüber offen sein müssen. Daß aus dieser Bereitschaft bislang nicht mehr gefolgt ist, wird weniger der katastrophalen Hinterlassenschaft des zweiten Weltkriegs zuzuschreiben sein — so bedrückend sie gerade hier ist — als dem unvermindert heftigen ideologischen Gegensatz. Er zerreißt die eng und überschaubar werdende eine Welt mit brutaler Gewalt in zwei Hälften, deren Brandlinie mitten durch Deutschland geht.
Meine Damen und Herren! In seiner bedeutenden Arbeit über die „Geschichte des Nationalismus in Europa" hat Eugen Lemberg gesagt, daß es keine wirkliche deutsche Selbstbesinnung und Wiedergeburt gebe ohne Einordnung in ein Weltkonzept. Die deutsche Politik ist, soweit sie im Bundestag mitverfochten oder -verworfen wurde, von dieser Einsicht getragen worden. Über ihre Methoden wurde erbittert gestritten, immer weniger aber über ihr Ziel. Das ist nicht verwunderlich, denn darüber besteht weithin breite Übereinstimmung. Auch das heutige Zusammentreten des Bundestages in der Hauptstadt des Reiches möchte das zum Ausdruck bringen. Wir möchten damit zu Beginn unserer Arbeit schlicht sagen, daß wir uns Deutschlands Geschichte, der Einheit der Nation und der Schicksalsgemeinschaft mit dem Teil unseres Volkes, der noch immer im Schatten



Präsident D. Dr. Gerstenmaier
der Diktatur leben muß, verpflichtet wissen in allem, was wir tun.
Man kann nicht hierherkommen und sich Gedanken darüber machen, wo wir stehen und wohin wir gehen, ohne sich Rechenschaft zu geben, unter welchem Aspekt das nationale Ziel, dem wir verpflichtet sind, heute von uns allen gesehen werden muß. Dieser Aspekt ist nicht mehr der der Reichsgründung, er ist auch nicht mehr der der Weimarer Republik, und er ist erst recht nicht mehr jener Groß- und Weltmachttraum, der Deutschland in das Verhängnis gestürzt hat. Nein, dieser Aspekt ist eben der, der sich aus der grundstürzenden Wandlung dieses Jahrhunderts ergibt: das vereinte Deutschland, das geeinte Europa in einer befriedeten Welt. Meine Kolleginnen und Kollegen, es ist nichts mehr mit den alten Konzepten, in denen nationale Gebietserweiterung und Souveränität Maß und Ziel der politischen Weisheit waren. Wem das die beiden Weltkriege noch nicht gesagt haben, dem sollte es der Auftakt einer Epoche klarmachen, in der die Atomkraft in Dienst genommen wird und der Weltraum sich dem Menschen öffnet. Diese Zeit verlangt auch in der Politik gewandelte Methoden und gewandelte Denkweisen.

(Allgemeine lebhafte Zustimmung.)

Wer heute Deutschland dienen will, der tut vor allem gut daran, allen Illusionen und eitlen Ansprüchen abzusagen und die Welt, die ans umgreift, in der Härte ihres ideologischen Widerstreites zu erfassen.
Was daraus für die Revision überkommener Grundbegriffe, wie z. B. der nationalen Souveränität oder der bisherigen Gestalt des positiven Völkerrechts — und damit für die nationale wie für die. internationale Politik — folgt, das hat der Bundesverfassungsrichter Gerhard Leibholz in einer ebenso prägnanten wie glänzenden Abhandlung kürzlich der jungen Bundeswehr ans Herz gelegt. Das Ideologische, d. h. das für Mensch und Welt sittlich Wesentliche und existentiell Entscheidende, habe den Vorrang „vor den sich aus dem Nationalstaat ergebenden Forderungen". So sagt Leibholz. Und ich meine, er hat recht. Was sind die Bedürfnisse nationaler Prestigepolitik vor den Notwendigkeiten unserer Zeit: den Menschen mit seiner ewigen Bestimmung vor der Preisgabe an unerhörte Gewalten zu retten?
Die Politik ist kein Cocktail aus Taktik, Propaganda, Gruppeninteressen und Prestigebedürfnissen, gemischt zur Befriedigung nationalen oder persönlichen Machtdurstes! Gewiß, das gab es, und das gibt es auch heute noch! Aber welche Verheißung und welchen Sinn soll so etwas haben? Nein, die Politik, mit der wir uns in diesem Haus befassen müssen, sie greift in andere Bereiche und sie fordert eine andere Gesinnung. Wir können, wenn wir bestehen wollen, nicht verzichten auf die Kräfte eines gewandelten und geläuterten nationalen Bewußtseins, und wir werden Deutschland nicht vor dem Schicksal bewahren, eine Provinz, eine abhängige, bedeutungslose Provinz im Weltgeschehen zu werden, wenn neben unsere wirtschaftliche und organisatorische Leistung nicht eine ebenbürtige geistige und kulturelle Leistung tritt.

(Beifall.)

Selbstverständlich bestimmt sie das Niveau und Format der Politik höchst wesentlich. Sie schärft Blick und Urteilsvermögen. Und darauf kommt es an! Denn hinter den zuweilen unwandelbar scheinenden Fassaden des politischen Vordergrundes drängen mächtig herauf die bewegenden und wandelnden Kräfte einer neuen Zeit.
Inmitten einer Welt voller Gefahr, aber auch voll nie gekannter großer Möglichkeiten beginnen wir diese Wahlperiode. „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch." Dieses Wort Hölderlins ist kein vager Trost, sondern die Einsicht in das Geheimnis der Welt, die in Gottes Händen ruht. Hier, in Deutschlands Hauptstadt, fangen wir unsere Arbeit wieder an. Es ist keine politische Voraussage, sondern ein Wunsch, ja es ist ein Gebet: Gebe Gott, daß wir sie hier im geeinten und befriedeten Vaterland vollenden!

(Lebhafter allgemeiner Beifall.)

Meine Damen und Herren, ich komme zu Punkt 5 der Tagesordnung:
Wahl der Stellvertreter des Präsidenten.
Ich nehme an, das Haus ist mit folgendem Modus, der interfraktionell verabredet ist, einverstanden: daß wir uns in diesem Fall von der Vorschrift des § 2 hinsichtlich der Wahl durch Stimmzettel entbinden. — Ich höre keinen Widerspruch; das Haus ist damit einverstanden.
Es liegt mir ein interfraktioneller Vorschlag vor. Danach werden vorgeschlagen für die Wahl zu Vizepräsidenten von der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands der Herr Abgeordnete Professor Carlo Schmid, von der Fraktion der Christlich-Demokratischen und Christlich-Sozialen Union der Herr Abgeordnete Dr. Jaeger und von der Fraktion der Freien Demokratischen Partei der Herr Abgeordnete Dr. Becker.
Ich frage, ob weitere Vorschläge gemacht werden. — Das ist nicht der Fall. Ich nehme an, das Haus ist damit einverstanden, daß wir en bloc abstimmen. Ich bitte diejenigen, die diesem Vorschlag zustimmen wollen, um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Meine Damen und Herren. ich kann Ihnen die erfreuliche Mitteilung machen, daß im Unterschied zum Präsidenten dieses Hauses einstimmig — —

(Zuruf: Eine Enthaltung!)

– Ich muß mich korrigieren; einer der Schriftführer sieht schärfer als ich — —

(Zuruf: Zwei Enthaltungen!)

- Zwei Enthaltungen? — Nun, also bei zwei Enthaltungen!
Herr Professor Carlo Schmid, ich frage Sie, ob Sie diese Wahl annehmen.
Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 1. Sitzung Berlin, Dienstag, den 15. Oktober 1957 11

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0300101100
Ich nehme die Wahl an.

Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0300101200
Sie nehmen die Wahl an.
Herr Dr. Jaeger, ich frage Sie, ob Sie die Wahl annehmen.

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0300101300
Ich nehme die Wahl an.

Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0300101400
Herr Dr. Becker, ich frage Sie, ob Sie die Wahl annehmen.

Dr. Max Becker (FDP):
Rede ID: ID0300101500
Ich nehme die Wahl an.

Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0300101600
Ich bedanke mich, meine Herren Kollegen, heiße Sie als getreue und nächste Mitarbeiter herzlich willkommen und spreche Ihnen die Glückwünsche des Hauses zu Ihrer Wahl aus.

(Beifall.)

Ehe ich den Punkt 6 unserer Tagesordnung aufrufe, meine Damen und Herren, möchte ich Ihnen mitteilen, daß wir die Freude haben, in dieser konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestages eine Delegation von sieben Mitgliedern des britischen Unterhauses in unserer Mitte herzlich willkommen heißen zu dürfen.

(Lebhafter Beifall.)

Ich komme zu Punkt 6 der Tagesordnung:
Beschlußfassung über die Zusammensetzung des Altestenrates.
Es liegt ein Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP, DP betreffend Stärke des Ältestenrates vor, Drucksache 1. Ich frage, ob dazu das Wort gewünscht wird. — Auf Begründung wird verzichtet, zur Aussprache wird das Wort nicht gewünscht. Wer diesem Antrag zustimmen will, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist einstimmig angenommen.
Damit, meine Damen und Herren, sind wir am Ende der konstituierenden Sitzung der dritten Wahlperiode des Deutschen Bundestages. Ich berufe die zweite Sitzung der dritten Wahlperiode ein auf Dienstag, den 22. Oktober 1957, 11 Uhr, Bonn, Bundeshaus.
Die Sitzung ist geschlossen.