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    Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 1. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 15. Oktober 1957 1. Sitzung Berlin, den 15. Oktober 1957 Inhalt: Ansprache der Alterspräsidentin Frau Dr. Dr. h. c. Lüders 1 A Namensaufruf der Abgeordneten und Wahl des Präsidenten 5 B Dr. Krone (CDU/CSU) 5 C D. Dr. Gerstenmaier (CDU/CSU) . 5 D, 6 A Amtsübernahme und Ansprache des Präsidenten D. Dr. Gerstenmaier 6 A Wahl der Stellvertreter des Präsidenten Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) 11 A Dr. Jaeger (CDU/CSU) i 1 A Dr. Becker (Hersfeld) (FDP) 11 A Begrüßung einer Abordnung des britischen Unterhauses i 1 A Zusammensetzung des Ältestenrates . . . 11C Nächste Sitzung 11 C Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 1. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 15. Oktober 1957 1 1. Sitzung Berlin, den 15. Oktober 1957 Stenographischer Bericht Beginn: 15.00 Uhr
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  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Eugen Gerstenmaier


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Ich nehme die Wahl an.


Rede von Dr. Marie-Elisabeth Lüders
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Herr Präsident, bitte! — Ich wünsche Ihnen — und dabei spreche ich im Namen des ganzen Hauses -
recht guten Erfolg. Wir werden stets bemüht sein, unseren Herrn Präsidenten in seinem schweren Amt zu unterstützen.

(Lebhafter Beifall.)


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Eugen Gerstenmaier


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (None)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Meine Damen und Herren! Ihrem Rufe folgend, übernehme ich von neuem das Amt des Präsidenten des Deutschen Bundestages.
    Ich danke Ihnen für die Ehre, die Sie mir mit Ihrem Vertrauen erwiesen haben. Sie werden es mir nachfühlen können, wenn ich sage, daß ich diesem Ruf heute lieber folge als in der Stunde, in der ich zum erstenmal den Stuhl des Präsidenten eingenommen habe.

    (Heiterkeit.)

    Ich werde mir auch fortan Mühe geben, dieses Amt in gewissenhafter Gerechtigkeit zu führen. Ich bitte Sie, meine Kolleginnen und Kollegen, mir dabei zu helfen, denn ich weiß, daß es mit dem guten Willen eines vor Irrtum und Mängeln nicht gefeiten Mannes allein noch nicht getan ist.
    Eine Grundregel der Demokratie ist es, daß in ihr Geltung hat, was mit der jeweils erforderlichen Mehrheit beschlossen ist. Den Glanz und Rang des freiheitlichen Rechtsstaates aber macht es aus, daß die wechselnden Mehrheiten nicht einfach tun können, was sie wollen, sondern daß die Mehrheit wie die Minderheit den strengen Regeln eines geordneten Verfahrens unterworfen sind und daß beiden, der Mehrheit wie der Minderheit, nur das erlaubt ist zu wollen und zu tun, was nach den elementaren Grundsätzen der Verfassung Recht ist oder Recht werden kann. Als die Hansestadt Lübeck vor nunmehr einem halben Jahrtausend ihr Holstentor baute, da schrieb sie an dieses Tor die vier Worte: „Concordia domi, foris pax" — Eintracht im Innern, Frieden nach außen! Ein Wahlspruch dieser Art ist nur dort in Kraft und Geltung, wo das Recht vor der Macht steht. Unsere Verfassung ist nach ihrem eigenen Willen nur deshalb ein Provisorium, weil sie den festen Raum umhegt, von dem aus das Ringen um die nationale und staatliche Einheit Deutschlands unverdrossen weitergeführt und immer von neuem inspiriert werden muß. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die elementaren Rechtsgrundsätze unserer heutigen Verfassung auch die Grundlagen der künftigen Verfassung des geeinten Deutschlands sein müssen. Daß das Recht
    vor der Macht stehe, das soll nach dem Willen dieses Hauses eben keine situationsbedingte Einstweiligkeit sein, sondern diese Überzeugung gehört zu den fundamentalen Grundlagen unserer staatlichen Selbstgestaltung. Zu ihnen haben wir uns nach schweren Heimsuchungen zurückgefunden. An ihnen halten wir fest!
    Daß das Recht vor der Macht steht, bekundet nicht nur unsere Verfassung, sondern auch die seitherige Geschäftsordnung des Bundestags. Einer alten Übung folgend, haben Sie zu Beginn dieser Sitzung die seitherige Geschäftsordnung so lange übernommen, bis das Haus erneut darüber Beschluß gefaßt hat. Ich kann nur hoffen, daß es möglichst bald gelingt, ihre Mängel zu beseitigen. Aber ein Grundzug zumindest dieser Geschäftsordnung, nämlich die Gewährleistung des Minderheitenrechts, muß auch die Geschäftsordnung der dritten Wahlperiode des Bundestages bestimmen.
    Der Frau Alterspräsidentin gebührt der Dank des ganzen Hauses für den Rückblick und für den Ausblick auf die Arbeit des Bundestages, den sie uns in ihrer eindrucksvollen Rede gegeben hat.

    (Lebhafter Beifall.)

    Ich möchte diesem Überblick meinerseits nichts hinzufügen, aber ich möchte Sie bitten, einigen Erwägungen zu folgen, von denen ich glaube, daß sie für die zukünftige Gestaltung unserer parlamentarischen Arbeit von Bedeutung sein können.
    Der Bundestag steht zu Beginn seiner dritten Wahlperiode vor der unabweisbaren Aufgabe, aus den Erfahrungen der vergangenen acht Jahre einige Konsequenzen zu ziehen. Der deutsche Parlamentarismus hat es in diesem Jahrhundert nicht leicht gehabt. Sein Schicksal war es bis jetzt, im Schatten großer Niederlagen zu stehen. Als am 26. Oktober 1918, also vor noch nicht einmal 40 Jahren, in Deutschland die Gewalt der Regierung der Kontrolle des Parlaments unterworfen wurde, da hatte Deutschland den ersten Weltkrieg schon endgültig verloren.
    Unser Neubeginn im Jahre 1949 stand nicht nur im Schatten einer Niederlage, sondern einer nationalen Katastrophe. Mit ihr fertig zu werden und ihre Hinterlassenschaft zu überwinden, das hielt den Bundestag bis jetzt in Atem. Sein Stil, seine Methoden, ja sogar seine Leistung im ganzen wurden von nicht wenigen seiner Kritiker in Frage gestellt. Ich sehe davon ab, was von dieser Kritik dem Unmut der Unbelehrbaren oder den überspannten Erwartungen träumender Idealisten zuzuschreiben ist. Aber es ist gerecht und billig, daß wir auf ernstzunehmende Kritik hören. Denn wir können nicht in Anspruch nehmen, daß der Bundestag mit allen seinen Leistungen und seinem Stil mustergültig vor dem deutschen Volke stehe. Aber ich möchte das Parlament der Welt sehen, das etwas Ähnliches von sich behaupten könnte.
    Im Blick auf die vergangenen acht Jahre des Bundestages darf dem noch zweierlei hinzugefügt werden:
    1. Der deutsche Parlamentarismus befindet sich noch immer in einem Prozeß seiner Durchbildung



    Präsident D. Dr. Gerstenmaier
    und seiner Festigung. Dieser Prozeß darf nicht abgebrochen werden, sondern er muß auch in den nächsten vier Jahren besonnen gefördert werden. Denn ob es die Kritiker der parlamentarischen Demokratie nun wahrhaben wollen oder nicht: in dieser Epoche schlägt das Herz des freiheitlichen Rechtsstaates in Deutschland eben nicht nur in der Kraft seiner Regierung und in der Integrität seiner Gerichte und Verwaltung, sondern vor allem in der Lebendigkeit und Kraft seines Parlaments.

    (Allgemeiner Beifall.)

    Ein lebendiges Parlament braucht nicht mit scheelen Augen auf eine kraftvolle Regierung zu sehen, sondern es wird eine kraftvolle Regierung als einen angemessenen Partner würdigen. Umgekehrt darf sich eine starke Regierung nicht ein schwächliches Parlament wünschen. In ihrem eigenen Interesse müßte sie ein Parlament wünschen, das sich auch seines Ranges und Gewichtes bewußt ist.
    2. Trotz allem, was in den Jahren 1945 bis 1949 in den Länderparlamenten und Zonenverwaltungen geschehen war, stand der Bundestag in seinen ersten und auch in seinen zweiten vier Jahren vor Aufgaben, die, aus dem Chaos geboren, das normale Maß dessen, was einem Parlament aufgegeben ist, weit überstiegen. Im Dienste des Wiederaufbaues, im Dienste der Durchbildung unserer sozialen und rechtsstaatlichen Ordnung und als Folge unserer Rückkehr in die Weltpolitik hat der Bundestag seine Mitglieder, vor allem seine führenden und besonders sachverständigen Köpfe in den Regierungs- wie in den Oppositionsparteien, in einer I Weise in Anspruch nehmen müssen, die sich nur rechtfertigen läßt durch das Ausmaß des nationalen Notstandes, dem sich Bundestag und Bundesregierung stellen mußten. Um damit einigermaßen fertig zu werden, mußte nicht nur hart und viel, sondern es mußte auch schnell gearbeitet werden.
    Die jetzt beginnende dritte Wahlperiode des Bundestages sollte sich von den vergangenen acht Jahren zunächst dadurch unterscheiden, daß dieses Tempo und dieser Druck der parlamentarischen Arbeit auf das Maß zurückgebracht werden, das einer Normalbelastung des Parlaments einigermaßen entspricht. Gewiß, wir sind mit vielem noch nicht über den Berg. Die deutsche Politik steht auch in den nächsten vier Jahren vor großen und schwierigen Aufgaben. Neben einigen großen gesetzgeberischen Arbeiten, neben der Festigung unserer Wirtschaft und unseres Lohn- und Preisgefüges denke ich dabei natürlich vor allem an die Wiederherstellung der deutschen Einheit und, damit zusammenhängend, an die Weiterbildung unserer Außenpolitik. Ich glaube, daß gerade diese Arbeit nicht gefördert wird durch ein überhitztes Tempo des parlamentarischen Betriebs, sondern durch den Willen zur inneren Sammlung, zur besonnen durchdachten politischen Aktion und durch die Fähigkeit, unsere Lage in der weltpolitischen Situation und der uns mitverpflichtenden weltgeschichtlichen Entwicklung fest und nüchtern zu erfassen.
    Wir haben heute trauernd unseres ehemaligen Kollegen Karl Georg Pfleiderer gedacht. Die „Süddeutsche Zeitung" hat in einer ihm gewidmeten Betrachtung darauf hingewiesen, daß er die Freiheit besessen habe, einen Schritt zurückzutreten, um den rechten Abstand zu gewinnen auf sein größeres Ziel hin. In diesem Satz ist etwas ausgesprochen, auf das keiner von uns verzichten sollte, ja gar nicht verzichten dürfte. Denn der Deutsche Bundestag ist eben nicht nur ein Betrieb, in dem die nun einmal notwendigen Gesetze — gelegentlich vielleicht auch weniger notwendige fabriziert werden. Nein, in diesem Haus ist das deutsche Volk so präsent, daß es sich seine Regierung zu geben, ihre Gewalt zu kontrollieren und unmittelbare politische Entscheidungen zu treffen vermag. Das ist über die Gesetzgebung hinaus die unabweisbare Pflicht des ganzen Parlaments. Ihre Ausübung verlangt gebieterisch Männer und Frauen, die dem Leitbild des Abgeordneten gerecht zu werden vermögen, das das Grundgesetz in seinem Artikel 38 in dem markanten Satz umschreibt: „Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen." Das und nicht weniger muß Geltung haben, wenn die Mitglieder dieses Hauses der im Bundestag auf sie wartenden Aufgaben nicht nur äußerlich gerecht werden wollen. Von jedem einzelnen von uns kann zwar nicht in allen Dingen, die hier zur Entscheidung stehen, ein eigenes sachverständiges Urteil erwartet werden; aber von jedem einzelnen von uns wird erwartet und muß verlangt werden, daß er sich bei den Entscheidungen, die ihm hier abverlangt werden, davon leiten läßt, daß er ein Vertreter des g a n z en Volkes ist. Das heißt schlicht und unmißverständlich, daß er sich also nicht nur den besonderen Belangen seines Wahlkreises verpflichtet oder vorwiegend den Interessen der Gruppen oder Kreise dienstbar fühlen darf, die ihm ihr besonderes Vertrauen gewährt haben.
    Dieses Parlament ist die oberste Vertretung des freien Teiles des deutschen Volkes. Es führt darum auch stellvertretend die Stimme für die, die seit Jahr und Tag von einer Regierung ohne Legitimität niedergehalten werden.

    (Lebhafte Zustimmung.)

    Darum ist der Bundestag, unbeschadet der politischen und ständischen Meinungsverschiedenheiten, die in ihm Platz haben, kein Kollegium von Standesgruppen und Interessenvertretern. Nicht nur der Bundestag in seiner Gesamtheit, sondern jeder einzelne von uns ist dem Schicksal des Vaterlandes, dem Wohl des ganzen Volkes, dem Weg der ganzen Nation verpflichtet.
    Je ernster wir uns zu Beginn unserer Arbeit daran erinnern, desto einsichtiger werden auch die Bemühungen von diesem Hause aufgenommen und unterstützt werden, die mit dem Wort „Parlamentsreform" etwas pauschal bezeichnet werden. Hier ist nicht der Ort und die Zeit, von einzelnem zu reden. Hier kommt es nur darauf an, den Sinn und die Notwendigkeit, die eine solche Parlamentsreform erforderlich machen, anzudeuten. Je ernster wir unser Mandat nehmen, desto mehr wird der einzelne, dem Leitbild des Artikels 38 des Grundgesetzes fol-



    Präsident D. Dr. Gerstenmaier
    gend, nicht nur diesen oder jenen sachverständigen Fraktionskollegen, diesen oder jenen Arbeitskreis vor den großen Entscheidungen zu Rate ziehen, sondern er wird darauf Wert legen müssen, mit seinem eigenen Gewissen und Urteil zu Rate zu gehen. Dazu, meine Kolleginnen und Kollegen, gehören Zeit und Besinnung.
    Das Haus als solches ist es seinen Mitgliedern schuldig, ihnen die Ökonomie ihrer Zeit und Kraft zu ermöglichen, die ihnen diese Besinnung erlaubt und die es ihnen darüber hinaus gestattet, möglichst auch in beruflicher Verbindung mit dem täglichen Leben zu bleiben.
    Die Konsequenz daraus: Nach meiner Überzeugung kann die seitherige Arbeitsweise in der dritten Wahlperiode nicht fortgesetzt werden. Es besteht nicht nur ein zwingendes menschliches, sondern auch ein unabweisbares sachliches und politisches Bedürfnis, daß das Haus darum möglichst schnell sich über eine neue Zeit- und Arbeitsgestaltung und andere Maßnahmen der Rationalisierung einigt. Ganz allgemein aber sollten wir in dieser Wahlperiode darauf dringen, nicht möglichst viele, sondern möglichst gute Gesetze zu machen.

    (Lebhafte Zustimmung.)

    Alle Mitglieder und Fraktionen des Hauses muß ich darum bitten, notfalls energisch auch gegen die Antreiber von a u ß en aufzutreten,

    (erneute laute Zustimmung)

    die der Meinung sind, daß nicht geruht und nicht gerastet werden dürfte, bis auch ihre letzten Wünsche und Bedürfnisse durch ein Bundesgesetz befriedigt sind.
    Als der Reichskanzler Fürst Hohenlohe, damals noch Statthalter von Elsaß-Lothringen, im Juni 1890 nach Berlin kam, schrieb er in sein Tagebuch: „Zwei Dinge sind mir in den drei Tagen, die ich jetzt hier zugebracht habe, aufgefallen: erstens, daß niemand Zeit hat und alle in größerer Hetze sind als früher, zweitens, daß die Individuen geschwollen sind.

    (Heiterkeit.)

    Jeder einzelne fühlt sich." Ich erlaube mir kein Urteil darüber, ob Fürst Hohenlohe seine Zeit damit getroffen oder ob er ihr Unrecht getan hat. Aber uns sollte jedenfalls daran gelegen sein, daß über uns und unsere Tage anderes notiert wird. Sicher scheint mir, daß wir inner- und außerhalb unseres politischen Lebens nicht mehr Tempo, mehr Selbstbewußtsein und noch mehr Betrieb brauchen, sondern daß wir mit weniger Tagungen, mit mehr Besinnung und Sammlung dem Land und uns selber keinen kleineren Dienst täten.
    Nun haben wir hier in der alten Hauptstadt des Reichs mit der Arbeit des Bundestages wieder begonnen. Wir sind nicht gekommen, um Phrasen zu machen, und wir sind auch nicht gekommen, um die Bevölkerung dieser tapferen Stadt und der sie umgebenden Zone mit schönen Worten über eine Not hinwegzutrösten, deren wir allein nicht mächtig sind. Wäre es an dem, so würde Deutschlands Einheit nicht heute und hier vollendet, sondern sie wäre spätestens in der ersten Sitzung des Bundestages vor acht Jahren zustande gebracht worden. Aber nun müssen wir Deutsche uns darauf gefaßt machen, daß wir allmählich nicht wenigen einflußreichen Gestalten der Weltpolitik auf die Nerven gehen mit unserem Verlangen nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit. So wenig wir uns erlauben sollten, uns gedankenlos für den Nabel der Welt zu halten, so wenig vermögen wir jedoch in dieser Sache jemals zu schweigen.

    (Allgemeiner lebhafter Beifall.)

    Es ist keine leichte, sondern eine, wie mir scheint, jeden Tag schwerer werdende Aufgabe der Bundesregierung, des Bundestags und der uns befreundeten Regierungen des Auslandes, das Einheitsverlangen der Deutschen immer von neuem so wirkungsvoll in der Welt zu vertreten, daß diejenigen, die es angeht, darüber weder einzuschlafen noch sich die Ohren zu verstopfen vermögen.
    Sicher ist es nicht damit getan, daß wir hier in Berlin oder in Bonn von Zeit zu Zeit feierliche Entschließungen fassen und unseren Einheitswillen immer von neuem bekunden. Sicher ist es wichtiger, daß wir nach innen alle Hände rühren, um der Resignation zu wehren. Und sicher ist es wichtig, mit welchen politischen Methoden die Bundesregierung um die Verwirklichung dieses nationalen Ziels kämpft. Darüber haben in den letzten acht Jahren die weitaus ernstesten parlamentarischen Auseinandersetzungen stattgefunden. Wahrscheinlich wird diese dritte Legislaturperiode dieses Hauses das Gepräge geben. Ich halte nicht dafür, daß dieser Methodenstreit zu bedauern ist. Auch ein standhafter Vertreter des Wunsches nach einer gemeinsamen deutschen Außenpolitik kann sich der Einsicht nicht verschließen, daß es auch in der Außenpolitik nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie auf die Gemeinsamkeit ankommt, sondern auf die Richtigkeit. Es wäre nicht nur unrealistisch, sondern auch dem Ethos dieses Hauses nicht gemäß, wenn die Wahrheits- oder Erkenntnisfrage der staatspolitischen oder der parteipolitischen Opportunität untergeordnet würde. Dies vorausgeschickt, wird man jedoch nicht nur den Wunsch aussprechen, sondern auch immer wieder den Versuch unterstützen dürfen, zu einer Gemeinsamkeit unserer Außenpolitik zu kommen. Gelingt es, dann wäre es ein beglückender Fortschritt. Gelingt es nicht, nun, so braucht es noch keine Katastrophe zu sein.
    Wir kommen aus einem harten, viel zu lange geführten Wahlkampf. Es ist darum verständlich, wenn in den Auseinandersetzungen der vergangenen Wochen nicht wenigen der Blick für das, was uns in diesem Hause seither gemeinsam war und hoffentlich auch in der Zukunft gemeinsam sein wird, getrübt oder verlorengegangen ist. Es ist auch natürlich, wenn in der bald beginnenden politischen Auseinandersetzung des Hauses, die nun einmal zum Wesen des Parlaments gehört, wiederum die Verschiedenheiten und Gegensätze mehr als die Gemeinsamkeiten in die Erscheinung treten. Es ist aber wichtig, meine Kolleginnen und Kollegen, daß wir mit unserem Volk dabei ein Bewußt-



    Präsident D. Dr. Gerstenmaier
    sein dessen behalten, daß wir im gleichen Staatsschiff die stürmische See der Weltpolitik befahren und daß wir auch in den keineswegs friedlich stillen Gewässern unserer Innen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik in einem Boote sitzen. Wir haben so viel, so heftig und so lange gegeneinander geredet und werden das, wenn auch hoffentlich weniger stürmisch, weiterhin tun, daß ich mir in dieser Stunde Ihre Zustimmung dafür erbitte, ausnahmsweise auch wieder einmal auf einige Gemeinsamkeiten von elementarer Bedeutung für das ganze Haus und die ganze Nation hinzuweisen. Über den vielen verschiedenen Bäumen sollten wir schließlich nicht den einen Wald übersehen, in dem alle diese Bäume stehen.
    Mit einiger Vorsicht, aber, wie ich glaube, mit hinreichender Bestimmtheit wird man mindestens von den folgenden sechs Elementen unserer Politik sagen dürfen, daß sie dem ganzen Deutschen Bundestag — gleichgültig, oh Oppositions- oder Regierungsparteien — gemeinsam sind.
    1. Der Wille zum freiheitlichen Rechtsstaat. Seit dem Ausscheiden der Kommunisten aus dem Bundestag ist der gemeinsame Wille zur Wiederherstellung ganz Deutschlands nach den Grundsätzen des freiheitlichen Rechtsstaates in diesem Hause völlig eindeutig. Das gilt auch dann, wenn zahlreiche Einzelfragen seiner Durchgestaltung kontrovers sind. Überschreite ich die Grenze dessen, was gemeinsam aussagbar ist, wenn ich hinzufüge, daß der, der glaubt, daß das Recht vor der Macht stehe, auch bereit sein muß, notfalls die Macht zum Schutze des Rechtes und der Freiheit einzusetzen? Es gibt Beispiele dafür, daß große und kleine Konfessionen, von der Kraft des Geistes getragen, darauf zu verzichten vermögen. Aber es gibt kein Beispiel dafür, daß ohne die Indienstnahme der Macht ein Rechtsstaat geschichtlichen Bestand hätte erlangen können. Wer das Recht vor die Macht stellt, der ist nicht nur zur Toleranz verpflichtet, sondern auch zur Wachsamkeit an den Grenzen, die dieser Toleranz auch um des Bestandes des Rechtsstaates willen gezogen sind.

    (Beifall.)

    2. Der gemeinsame Wille, ganz Deutschland in Freiheit wiederherzustellen, ist in den vergangenen vier Jahren im Bundestag vielleicht am eindrucksvollsten durch eine auch methodische Übereinstimmung aller Fraktionen unterstrichen worden, nämlich der gemeinsamen Ablehnung von Verhandlungen mit der Regierung von Pankow.
    3. Der Wille zu einer wirtschaftlichen Leistung und einer krisenfesten Währung, die jedem Arbeitswilligen und Arbeitsunfähigen zur sozialen Sicherheit verhelfen.
    4. Das Bekenntnis zur freien Welt. Dieses Bekenntnis ist in diesem Hause unzweifelhaft auch dann ein gemeinsames, wenn seine aktuelle politische Gestalt, zum Beispiel das NATO-Bündnis, umstritten bleibt.
    5. Der Wille zur Bewahrung des Friedens ist in Deutschland, wie ich glaube, niemals glaubwürdiger dokumentiert worden als durch die Tatsache, daß der Bundestag diesem Willen jederzeit alle wohlbegründeten nationalen Wünsche und Ansprüche untergeordnet hat. Ich glaube, daß es wahr ist, daß Bundestag und Bundesregierung den Krieg als ein Mittel der Politik so entschieden und so grundsätzlich ablehnen, daß auf ihn auch dann kategorisch verzichtet würde, wenn er sich dem bloßen rationalen Kalkül als mögliches Mittel anbieten würde.

    (Lebhafte Zustimmung.)

    Vielleicht wäre es möglich, noch auf ein weiteres Element der Gemeinsamkeit gerade in diesem Zusammenhang zu verweisen, nämlich auf die Bereitschaft aller in diesem Hause vertretenen Parteien, dem Angriff von außen Widerstand entgegenzusetzen. Aber ich bin mir völlig bewußt, daß ich damit an die Grenze dessen trete, was für das ganze Haus aussagbar ist. Sicher aber gehört in diesem Zusammenhang die einmütige Überzeugung des ganzen Hauses von der unerläßlichen Notwendigkeit einer durchgreifenden, weltweiten kontrollierten Abrüstung der Atom- wie der konventionellen Waffen.

    (Beifall.)

    6. Der Einigung der europäischen Völker und der Schaffung einer gemeinsamen europäischen Ordnung wird auch in den nächsten Jahren nicht wenig von unserer gemeinsamen Arbeit gehören. Auch hier sind die Meinungen in den vergangenen Jahren oft weit und heftig auseinandergegangen über Pläne und Wege. Aber dem Ziel im ganzen ist, wenn ich mich recht erinnere, jedenfalls in den letzten vier Jahren im Bundestag von keiner Seite abgesagt worden. Mehr und mehr hat sich in diesem Willen zur Einigung Europas die Einsicht geltend gemacht, daß wir als das Volk in der Mitte Europas in besonderer Weise den Völkern im Osten und im Südosten Europas gegenüber offen sein müssen. Daß aus dieser Bereitschaft bislang nicht mehr gefolgt ist, wird weniger der katastrophalen Hinterlassenschaft des zweiten Weltkriegs zuzuschreiben sein — so bedrückend sie gerade hier ist — als dem unvermindert heftigen ideologischen Gegensatz. Er zerreißt die eng und überschaubar werdende eine Welt mit brutaler Gewalt in zwei Hälften, deren Brandlinie mitten durch Deutschland geht.
    Meine Damen und Herren! In seiner bedeutenden Arbeit über die „Geschichte des Nationalismus in Europa" hat Eugen Lemberg gesagt, daß es keine wirkliche deutsche Selbstbesinnung und Wiedergeburt gebe ohne Einordnung in ein Weltkonzept. Die deutsche Politik ist, soweit sie im Bundestag mitverfochten oder -verworfen wurde, von dieser Einsicht getragen worden. Über ihre Methoden wurde erbittert gestritten, immer weniger aber über ihr Ziel. Das ist nicht verwunderlich, denn darüber besteht weithin breite Übereinstimmung. Auch das heutige Zusammentreten des Bundestages in der Hauptstadt des Reiches möchte das zum Ausdruck bringen. Wir möchten damit zu Beginn unserer Arbeit schlicht sagen, daß wir uns Deutschlands Geschichte, der Einheit der Nation und der Schicksalsgemeinschaft mit dem Teil unseres Volkes, der noch immer im Schatten



    Präsident D. Dr. Gerstenmaier
    der Diktatur leben muß, verpflichtet wissen in allem, was wir tun.
    Man kann nicht hierherkommen und sich Gedanken darüber machen, wo wir stehen und wohin wir gehen, ohne sich Rechenschaft zu geben, unter welchem Aspekt das nationale Ziel, dem wir verpflichtet sind, heute von uns allen gesehen werden muß. Dieser Aspekt ist nicht mehr der der Reichsgründung, er ist auch nicht mehr der der Weimarer Republik, und er ist erst recht nicht mehr jener Groß- und Weltmachttraum, der Deutschland in das Verhängnis gestürzt hat. Nein, dieser Aspekt ist eben der, der sich aus der grundstürzenden Wandlung dieses Jahrhunderts ergibt: das vereinte Deutschland, das geeinte Europa in einer befriedeten Welt. Meine Kolleginnen und Kollegen, es ist nichts mehr mit den alten Konzepten, in denen nationale Gebietserweiterung und Souveränität Maß und Ziel der politischen Weisheit waren. Wem das die beiden Weltkriege noch nicht gesagt haben, dem sollte es der Auftakt einer Epoche klarmachen, in der die Atomkraft in Dienst genommen wird und der Weltraum sich dem Menschen öffnet. Diese Zeit verlangt auch in der Politik gewandelte Methoden und gewandelte Denkweisen.

    (Allgemeine lebhafte Zustimmung.)

    Wer heute Deutschland dienen will, der tut vor allem gut daran, allen Illusionen und eitlen Ansprüchen abzusagen und die Welt, die ans umgreift, in der Härte ihres ideologischen Widerstreites zu erfassen.
    Was daraus für die Revision überkommener Grundbegriffe, wie z. B. der nationalen Souveränität oder der bisherigen Gestalt des positiven Völkerrechts — und damit für die nationale wie für die. internationale Politik — folgt, das hat der Bundesverfassungsrichter Gerhard Leibholz in einer ebenso prägnanten wie glänzenden Abhandlung kürzlich der jungen Bundeswehr ans Herz gelegt. Das Ideologische, d. h. das für Mensch und Welt sittlich Wesentliche und existentiell Entscheidende, habe den Vorrang „vor den sich aus dem Nationalstaat ergebenden Forderungen". So sagt Leibholz. Und ich meine, er hat recht. Was sind die Bedürfnisse nationaler Prestigepolitik vor den Notwendigkeiten unserer Zeit: den Menschen mit seiner ewigen Bestimmung vor der Preisgabe an unerhörte Gewalten zu retten?
    Die Politik ist kein Cocktail aus Taktik, Propaganda, Gruppeninteressen und Prestigebedürfnissen, gemischt zur Befriedigung nationalen oder persönlichen Machtdurstes! Gewiß, das gab es, und das gibt es auch heute noch! Aber welche Verheißung und welchen Sinn soll so etwas haben? Nein, die Politik, mit der wir uns in diesem Haus befassen müssen, sie greift in andere Bereiche und sie fordert eine andere Gesinnung. Wir können, wenn wir bestehen wollen, nicht verzichten auf die Kräfte eines gewandelten und geläuterten nationalen Bewußtseins, und wir werden Deutschland nicht vor dem Schicksal bewahren, eine Provinz, eine abhängige, bedeutungslose Provinz im Weltgeschehen zu werden, wenn neben unsere wirtschaftliche und organisatorische Leistung nicht eine ebenbürtige geistige und kulturelle Leistung tritt.

    (Beifall.)

    Selbstverständlich bestimmt sie das Niveau und Format der Politik höchst wesentlich. Sie schärft Blick und Urteilsvermögen. Und darauf kommt es an! Denn hinter den zuweilen unwandelbar scheinenden Fassaden des politischen Vordergrundes drängen mächtig herauf die bewegenden und wandelnden Kräfte einer neuen Zeit.
    Inmitten einer Welt voller Gefahr, aber auch voll nie gekannter großer Möglichkeiten beginnen wir diese Wahlperiode. „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch." Dieses Wort Hölderlins ist kein vager Trost, sondern die Einsicht in das Geheimnis der Welt, die in Gottes Händen ruht. Hier, in Deutschlands Hauptstadt, fangen wir unsere Arbeit wieder an. Es ist keine politische Voraussage, sondern ein Wunsch, ja es ist ein Gebet: Gebe Gott, daß wir sie hier im geeinten und befriedeten Vaterland vollenden!

    (Lebhafter allgemeiner Beifall.)

    Meine Damen und Herren, ich komme zu Punkt 5 der Tagesordnung:
    Wahl der Stellvertreter des Präsidenten.
    Ich nehme an, das Haus ist mit folgendem Modus, der interfraktionell verabredet ist, einverstanden: daß wir uns in diesem Fall von der Vorschrift des § 2 hinsichtlich der Wahl durch Stimmzettel entbinden. — Ich höre keinen Widerspruch; das Haus ist damit einverstanden.
    Es liegt mir ein interfraktioneller Vorschlag vor. Danach werden vorgeschlagen für die Wahl zu Vizepräsidenten von der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands der Herr Abgeordnete Professor Carlo Schmid, von der Fraktion der Christlich-Demokratischen und Christlich-Sozialen Union der Herr Abgeordnete Dr. Jaeger und von der Fraktion der Freien Demokratischen Partei der Herr Abgeordnete Dr. Becker.
    Ich frage, ob weitere Vorschläge gemacht werden. — Das ist nicht der Fall. Ich nehme an, das Haus ist damit einverstanden, daß wir en bloc abstimmen. Ich bitte diejenigen, die diesem Vorschlag zustimmen wollen, um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Meine Damen und Herren. ich kann Ihnen die erfreuliche Mitteilung machen, daß im Unterschied zum Präsidenten dieses Hauses einstimmig — —

    (Zuruf: Eine Enthaltung!)

    – Ich muß mich korrigieren; einer der Schriftführer sieht schärfer als ich — —

    (Zuruf: Zwei Enthaltungen!)

    - Zwei Enthaltungen? — Nun, also bei zwei Enthaltungen!
    Herr Professor Carlo Schmid, ich frage Sie, ob Sie diese Wahl annehmen.
    Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 1. Sitzung Berlin, Dienstag, den 15. Oktober 1957 11