Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alleherzlich.Ich rufe unseren ersten Tagesordnungspunkt für dieseWoche auf – Tagesordnungspunkt 1 –:Befragung der BundesregierungDie Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-binettssitzung mitgeteilt: Entwurf eines Gesetzes zurUmsetzung der Richtlinie 2014/52/EU im Städtebau-recht und zur Stärkung des neuen Zusammenlebensin der Stadt.Dazu erhält die zuständige Bundesministerin fürUmwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit, FrauHendricks, gleich das Wort für den einführenden Bericht.Wenn Sie mir schon signalisieren könnten, wer dazu Fra-gen stellen will, können wir das schon einmal zu sortie-ren beginnen.Frau Hendricks, bitte schön.Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:Danke schön. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Das Bundeskabinett hat heute das Maß-nahmenpaket „Neues Zusammenleben in der Stadt“beschlossen. Das Paket besteht vor allem aus der Um-setzung der Novellierung des Bauplanungsrechts sowieden Änderungen der TA Lärm und der Sportanlagenlärm-schutzverordnung.Wir erleben seit Jahren eine Renaissance der Städte.Das Leben in den Städten und Ballungsräumen ist ausvielen guten Gründen attraktiv und erfreut sich anhaltendhohen Zuspruchs. Es ist ganz sicher nicht die Aufgabevon Politik, in die Lebensentscheidungen der Menscheneinzugreifen und ihnen etwa vorschreiben zu wollen, wieund wo sie zu leben haben. Aber es ist sehr wohl einepolitische Aufgabe, das Zusammenleben zu organisierenund den sozialen Zusammenhalt in den Kommunen, inden Vierteln, in den Kiezen und Quartieren, zu stärken.Die Bundesregierung nimmt diese Herausforderung sehrernst, gerade in den Städten, die wachsen. Wir wollenalle zivilgesellschaftlichen Initiativen stärken und unter-stützen, die sich für das Gemeinwohl engagieren.Gerade die Kommunen sind dringend auf die Neure-gelung des Städtebaurechts angewiesen. Ich freue michdeshalb sehr, dass die Verhandlungen nun abgeschlossenwerden konnten. Mit der neuen Baugebietskategorie „Ur-bane Gebiete“ geben wir den Kommunen ein In strumentan die Hand, mit dem sie insbesondere in innerstädtischenGebieten eine nutzungsgemischte Stadt mit kurzen We-gen verwirklichen können. Konkret ermöglichen wir sozum Beispiel eine höhere Bebauungsdichte und erleich-tern die Schaffung von dringend benötigtem Wohnraum.Das ist ein ganz zentraler Punkt. Gleichzeitig passen wirdie TA Lärm den Änderungen der Baunutzungsverord-nung an.Auch die Ausübung von Sport gehört zum Zusam-menleben in der Stadt. Sport hat ja eine herausragendegesellschaftspolitische Bedeutung. Um den Spielbetriebauf Sportanlagen zu fördern, enthält die Änderungsver-ordnung zur Sportanlagenlärmschutzverordnung folgen-de Neuregelungen:Erstens. Wir erhöhen die Immissionsrichtwerte für dieabendliche Ruhezeit sowie die nachmittägliche Ruhezeitan Sonn- und Feiertagen um 5 Dezibel. Das bedeutet,dass die Richtwerte während der Ruhezeiten den tags-über geltenden Werten angeglichen werden. Um es zuerläutern: Es muss also dann der Spielbetrieb nicht mehrunterbrochen werden. Bisher gab es an Sonn- und Feier-tagen eine Ruhezeit zwischen 13 und 15 Uhr, und es gibteine abendliche Ruhezeit von 20 bis 22 Uhr. Jetzt darfder Sportbetrieb den ganzen Tag und bis in die Abend-stunden hinein fortgeführt werden, aber selbstverständ-lich nicht nach 22 Uhr.Wir gestalten außerdem den sogenannten Altanla-genbonus neu. Das sichert den Sportbetrieb auf Anlagenbesser ab, die vor 1991 errichtet worden sind. Damit istjetzt klar: Auch nach einem Einbau, zum Beispiel vonKunstrasen oder von Flutlichtanlagen, oder nach gene-rellen Modernisierungsmaßnahmen gelten die alten Im-missionsgrenzwerte fort und muss der Sportbetrieb nichteingeschränkt werden. Die Renovierung bestehender
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 201620438
(C)
(D)
Sportanlagen, die vor 1991 errichtet worden sind, führtalso nicht dazu, dass man anschließend weniger Sport be-treiben kann als vorher, sondern der Bonus dieser Anlagebleibt erhalten. Ich bin ganz sicher: Das wird zu einemAufatmen in unzähligen Sportvereinen unseres Landesführen.Ein weiteres Thema, liebe Kolleginnen und Kollegen,ist die Regelung zu Ferienwohnungen. Hier ist aufgrundvon Rechtsprechung bei vielen Kommunen und bei pri-vaten Ferienwohnungsbetreibern Unsicherheit aufge-kommen, ob Ferienwohnungen in klassischen Baugebie-ten bauplanungsrechtlich überhaupt zulässig sind. Dasregeln wir in unserem Gesetzentwurf klarstellend undweiten zudem die Steuerungsmöglichkeiten der Kommu-nen aus. Damit wird die jahrelange Rechtsunsicherheitan dieser Stelle beendet.Ich glaube, dass wir mit dem Maßnahmenpaket wich-tige neue Impulse für ein gutes Zusammenleben gebenkönnen, und ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, um Unterstützung im Gesetzgebungsverfahren.Herzlichen Dank.
Ich bedanke mich für die vorbildliche Unterbietung
der zur Verfügung stehenden Zeit. Das kommt bei Regie-
rungsbefragungen nicht allzu häufig vor.
Ich habe jetzt Wortmeldungen von nahezu allen anwe-
senden Grünenmitgliedern notiert und von niemandem
sonst. – Das wird jetzt auf erfreuliche Weise ergänzt. –
Dann beginnen wir mit dem Kollegen Meiwald, der die
erste Zusatzfrage stellen kann.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Frau Ministerin,
vielen Dank. Das, was Sie gerade zur Sportanlagenlärm-
schutzverordnung gesagt haben, lässt mich sehr hoffen.
Ich finde es gut, dass sich da etwas bewegt. Ich denke,
wir werden uns das im Detail angucken müssen. Aber
erst einmal ist es schön, dass sich in der Richtung etwas
bewegt. Das beschäftigt uns ja nun schon seit einigen
Jahren.
Meine Frage wollte ich aber zu einem Punkt stellen,
den Sie nicht angesprochen haben. Wenn man an Städte-
bau herangeht und wir uns gleichzeitig mit der Klimakri-
se auseinandersetzen, ist die Frage: Wird es für kommu-
nale Vertretungen, aber auch Städteplaner Möglichkeiten
geben, im Rahmen der Städteplanung eine integrierte
konkrete Energieplanung für eine Stadt zu entwickeln, da
einzugreifen, das also nicht nur im Gebäude oder klein-
teilig im Quartier zu versuchen, sondern übergreifend?
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Die Planungshoheit liegt selbstverständlich bei den
Kommunen, und sie sind in der Lage, auch solche in-
tegrierten Konzepte zu entwickeln. Wir unterstützen
sie durchaus dabei, auch durch Fördermaßnahmen im
Rahmen der Kommunalrichtlinie. Darüber hinaus wis-
sen Sie natürlich auch, dass wir energetische Sanierung
in Quartieren fördern und dass wir im Rahmen unserer
Städtebauförderung besondere Fördermaßnahmen unter
dem Stichwort „Grün in die Stadt“, um es mal verkürzt
zu sagen, haben. Das hat natürlich auch positive klima-
tische Folgen.
Frau Bluhm, die nächste Frage.
Danke schön, Frau Ministerin, für Ihre Ausführun-
gen. – Sie haben die Zeit, die Sie hatten, um das Projekt
auf den rund 50 Seiten des Gesetzentwurfs vorzustellen,
unterboten. Deswegen würde ich Sie als Erstes fragen
wollen, wie die neuen Regelungen zu Ferienwohnun-
gen aussehen. Sie haben davon gesprochen, dass sie
klarstellend sind und dass das den Kommunen größeren
Handlungsspielraum in der Einzelabwägung geben soll.
Vielleicht nutzen wir jetzt die Zeit, indem Sie dazu noch
etwas ausführen, damit die allgemeine Öffentlichkeit
auch weiß, was da geregelt wird.
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Gern, Frau Kollegin Bluhm. – Insbesondere wegen
eines Urteils des Oberverwaltungsgerichts Greifswald
hatte es Probleme in der Auslegung gegeben. Sie sehen
daran schon: Es war das Ostseegebiet betroffen.
Das Oberverwaltungsgericht Greifswald hatte, wenn
ich es knapp zusammenfasse, entschieden, Ferienwoh-
nungen, die in dem Sinne gewerblich vermietet werden,
also immer wiederkehrend vermietet werden, bei denen
es also unter steuerrechtlichen Gesichtspunkten um eine
gewerbliche Vermietung geht, dürfe es in Wohngebieten
oder auch in allgemeinen Mischgebieten nicht mehr ge-
ben. Das ist natürlich völlig verrückt; denn im Umkehr-
schluss dürften Ferienwohnungen dann nur noch in Ge-
werbegebieten erlaubt werden; da wiederum dürfen aber
keine Wohnungen sein. Deswegen wurde es zwingend
nötig, für eine Klarstellung zu sorgen.
Das gibt den Kommunen jetzt die Möglichkeit an die
Hand, zu sagen: In Wohngebieten und auch in Misch-
gebieten dürfen Ferienwohnungen sein. – Andererseits
haben die Kommunen auch das Recht, Beschränkungen
aufzuerlegen, dies also für bestimmte Straßenzüge zum
Beispiel nicht zuzulassen. Es geht also im Wesentlichen
darum, die Planungshoheit der Kommunen auch in die-
sem Fall zu stärken.
Herr Kollege Kühn.Christian Kühn (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Danke, Frau Ministerin, für Ihre Ausführungen. – Inden Ausführungen habe ich einen Punkt vermisst, undzwar die Neuregelung durch § 13b in Ihrem Gesetzent-wurf. Wir begrüßen die Einführung des urbanen Ge-bietes. Ich glaube, es ist unerlässlich, dass wir zu einerstärkeren Innenentwicklung kommen und dass wir denBundesministerin Dr. Barbara Hendricks
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 2016 20439
(C)
(D)
Kommunen hier mehr Instrumente geben. Deswegenverstehe ich nicht, warum in diesem Gesetzesvorhabengleichzeitig durch § 13b neu geregelt wird, dass es sozu-sagen Ausnahmen im Außenbereich geben soll, dass imAußenbereich leichter entwickelt werden kann. Ich glau-be, das konterkariert das eigentliche Gesetzesvorhabenzum urbanen Gebiet, wo es darum geht, Innenentwick-lung zu ermöglichen und zu erleichtern. Das passt nichtzusammen; es ist nicht konsistent.Ich frage mich auch, wie angesichts dieser Maßnah-me das Flächenverbrauchsziel von 30 Hektar pro Tag bis2020 erreicht werden soll. Innenentwicklungspotenzialeheben zu wollen und gleichzeitig Ausnahmen für den Au-ßenbereich zuzulassen, das passt nicht zusammen, unddas passt auch nicht zu einer Umwelt- und Baupolitik,wie ich sie verstehe. Dazu würde ich gerne Ihre Meinunghören.Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:Herr Kollege Kühn, da kann man in der Tat geteilterMeinung sein. Die ursprüngliche Intention des Gesetz-entwurfes hat sich tatsächlich auf die Innenentwicklungder Städte gerichtet; das haben Sie völlig richtig darge-stellt. Es gab und gibt aber auch andere Ansprüche inBezug auf Entwicklungsmöglichkeiten, im Sinne einerZurverfügungstellung von Baugrund. Deswegen habenwir uns im Gesetzgebungsverfahren darauf eingelassen,auch, wenngleich befristet auf drei Jahre, vorzusehen,dass sich an im Zusammenhang bebaute Ortsteile an-schließende Flächen bis zu 10 000 Quadratmeter, also10 Hektar, im beschleunigten Verfahren als Baugebietausgewiesen werden dürfen. Das Interesse daran war vorallem im Süden unseres Landes besonders ausgeprägt.
Frau Lay.
Vielen Dank auch von meiner Seite, Frau Ministerin,
für die Ausführungen. – Ich würde meine Frage gerne
zum Themenkomplex „Urbanes Gebiet“ stellen. Nun
sind wir uns, denke ich, als Wohnungspolitiker und Woh-
nungspolitikerinnen einig, dass eine Innenverdichtung
das Mittel der Wahl ist. Darüber hinaus konzentrieren
sich viele der Diskussionen über den Gesetzentwurf auf
das Thema Lärm. Sie schreiben im Vorblatt Ihres Ge-
setzentwurfes, dass das grundsätzlich hohe Lärmschutz-
niveau nicht verlassen wird. Gleichzeitig sollen die
TA Lärm geändert und, wenn wir das richtig verstehen,
die Werte angehoben werden.
Vielleicht können Sie uns noch einmal erläutern, was
Sie genau planen, was zu dieser Entscheidung geführt hat
und warum Sie nicht die Option gezogen haben, andere
Maßnahmen zu ergreifen, beispielsweise den Messpunkt
zu verändern und dadurch passive Lärmschutzmaßnah-
men zuzulassen, sondern sich stattdessen für eine Anhe-
bung der Werte in der TA Lärm entschieden haben.
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Ja, Frau Kollegin Lay, Sie berichten das richtig. Wir
wollen in der Tat im Zusammenhang mit der Ausweisung
des urbanen Gebietes die Möglichkeit schaffen, dass dort
ein um 3 Dezibel höherer Lärm, sowohl zu Tages- als
auch zu Nachtzeiten, als in bestehenden Mischgebieten
zulässig ist. Es liegt natürlich in der Verantwortung der
Kommunen, ein urbanes Gebiet auszuweisen oder nicht;
niemand ist dazu gezwungen, das ist vollkommen klar.
Die Kommunen werden einschätzen, ob sie das für sinn-
voll, notwendig und richtig halten.
Aber – und deswegen ist die Aussage im Vorblatt des
Gesetzentwurfes, die Sie richtig zitieren, zutreffend – das
hohe Lärmschutzniveau als solches bleibt in der Weise
erhalten, dass die Verursacher von Lärm weiterhin natür-
lich mindestens diese Grenzwerte einhalten müssen. Sie
können also nicht einfach ad infinitum Lärm machen, ob-
wohl in dem neuen urbanen Gebiet Arbeiten, Wirtschaf-
ten und Wohnen nebeneinander möglich werden sollen.
Zur Frage des Messpunktes und des passiven Lärm-
schutzes: Das kehrt das Prinzip um. Dann würde näm-
lich das Vorsorgeprinzip nicht mehr eingehalten werden.
Also derjenige, der den Lärm verursacht, wäre dann nicht
mehr dafür verantwortlich, sondern derjenige, der in der
Wohnung lebt, müsste zusehen, dass er den Lärm aus-
sperrt. Das widerspricht allen Prinzipien des Umwelt-
rechtes, weil wir auf diese Weise das Vorsorgeprinzip
aushebeln. Ich weiß, dass es in manchen Fällen gar nicht
anders geht, zum Beispiel in der Nähe von Flughäfen.
Da machen wir passiven Lärmschutz, weil es anders gar
nicht geht. Aber wir wollen vermeiden, dass das in inner-
städtische Bereiche übergreift.
Frau Höhn.
Frau Ministerin, die Bundesregierung hat das Ziel, bis2020 zu erreichen, dass der Flächenverbrauch pro Tag30 Hektar nicht überschreitet. Davon sind wir noch weitentfernt. Warum nutzen Sie jetzt nicht diese Novellie-rung, um zum Beispiel das Ausufern von Privilegien imAußenbereich endlich einzudämmen? Sie haben in dieseRichtung auch andere Vorschläge gemacht. Warum nut-zen Sie das in diesem Fall nicht? Das wäre der beste undeinfachste Hebel, um Nutzungen im Außenbereich nichtmehr zuzulassen, die von der Gesellschaft nicht gewolltsind und dieses Privileg auch nicht verdienen.Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:Frau Kollegin, Sie sprechen das Thema an, das ich so-zusagen parallel auf den Weg gebracht habe, nämlich diePrivilegierung von Tiermastanlagen im Außenbereich.Wir sind dort in Vorbesprechungen. Das wird jetzt nichtChristian Kühn
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 201620440
(C)
(D)
in diesem Gesetzentwurf geregelt. Aber wir sind inner-halb der Bundesregierung im Gespräch.
– Das 30-Hektar-Ziel wird bis zum Jahr 2020 nicht mehrerreicht werden. Das ist unbestritten.Sie wissen es, aber ich darf den Kolleginnen undKollegen insgesamt sagen, wann das 30-Hektar-Ziel inder Bundesregierung beschlossen worden ist. Es ist einVerdienst der damaligen Umweltministerin Dr. AngelaMerkel, die zu Beginn des Jahres 1998 dieses 30-Hek-tar-Ziel für das Jahr 2020 vorgegeben hat. Damals habenwir pro Tag fast 130 Hektar verbraucht. Jetzt verbrau-chen wir – versiegeln wir neu; wir verbrauchen nicht;vielmehr versiegeln wir neu; also aus Grünland wirdetwas anderes, Bauland oder Straße, um es vereinfachtzu sagen – 69 Hektar. Wir werden bis 2020 30 Hektarnicht erreichen. Immerhin haben wir schon die Hälfte ge-schafft, von 140 Hektar auf knapp 70 Hektar.
Frau Bluhm.
Frau Ministerin, in dem Vorblatt zum Gesetzentwurf
greifen Sie einen Gedanken auf, den wir mit 196 Staaten
auf der Habitat-Konferenz von Quito diskutiert haben.
Es muss in den Städten neue Problemlösungen für neue
Anforderungen geben. Wir möchten wieder mehr soziale
Gerechtigkeit und Teilhabe haben. Ich würde Sie bitten
wollen, hier ganz kurz darzustellen, wie Gerechtigkeit
und Teilhabe mit diesem Gesetzentwurf umgesetzt wer-
den sollen und ob die Bürgerinnen und Bürger in ihren
Städten tatsächlich auch mehr Teilhabe bei der Mitbe-
stimmung darüber haben, was in ihren Städten passiert.
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Frau Kollegin Bluhm, Teilhabe wird dadurch nicht er-
höht, aber ich darf darauf hinweisen, dass wir natürlich
Teilnahme bei den kommunalen Entscheidungen haben.
Wenn also ein neues Baugebiet ausgewiesen wird, dann
wird dieses zunächst als Entwurf veröffentlicht. Dann
muss eine kommunale Satzung beschlossen werden. Es
ist ein kommunaler Planungsprozess, der öffentlich statt-
findet, bei dem die Bürgerinnen und Bürger, jedenfalls
in Deutschland, die Möglichkeit haben, sich in den Bür-
gerausschüssen der städtischen und gemeindlichen Ver-
tretungen zu Wort zu melden. Natürlich können sie auch
Einwendungen erheben. Erst danach wird im kommuna-
len Rat, also im Gemeinderat oder Stadtrat, darüber ent-
schieden. Ich glaube, dass die Beteiligungsmöglichkei-
ten der Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik
Deutschland, was das anbelangt, gut ausgebildet sind,
was aber nicht für alle 196 Länder zutrifft, die in Quito
zusammengekommen sind.
Frau Paus.
Frau Ministerin, Sie haben gerade selber gesagt, dass
Sie das Flächenverbrauchsziel 2020 nicht mehr schaffen
werden. Könnten Sie noch einmal erläutern, inwieweit
Sie Anstrengungen unternommen haben, dieses Ziel in
diesem Gesetzgebungsverfahren doch zu erreichen? Mit
welchen Maßnahmen, glauben Sie, könnte es erreicht
werden? Welche Gründe waren in der Bundesregierung
dafür maßgeblich, dass dieses Ziel nicht Teil des Geset-
zes ist? Denn damit reißen wir selbstgesteckte Ziele, die
seit langem feststehen, noch einmal offiziell.
Ferner: Können Sie einen Termin nennen? Sie haben
gesagt, es gibt zum Thema „Mastställe im Außenbereich“
einen weiteren Abstimmungsprozess in der Bundesregie-
rung. Dieses Thema findet sich ja nicht in diesem Ge-
setzentwurf wieder. Können Sie uns eine Terminplanung
nennen, wann die Bundesregierung das abschließen wird
und wir mit einem Gesetz rechnen können?
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Zunächst einmal ist die Intention des vorliegenden
Gesetzes, durch Verdichtung dafür zu sorgen, dass weni-
ger Flächen verbraucht werden. Es handelt sich bei den
neu ausgewiesenen urbanen Gebieten um Flächen, die in
innerstädtischen Bereichen liegen, die möglicherweise
Industriebrachen sind oder waren, also schon einmal ge-
nutzt und zum Teil versiegelt waren. Zum Beispiel kön-
nen es auch aufgelassene Flächen von Güterbahnhöfen
sein, die wir in vielen Städten finden. Da wird ja nicht
Fläche neu verbraucht, sondern sozusagen Fläche ge-
nutzt, die sowieso schon in der Nutzung war, jetzt aber
anderer Nutzung zugeführt wird.
Außerdem erlaubt die Einstufung als urbanes Gebiet
mehr Geschossflächen. Das bedeutet natürlich auch, dass
man tendenziell weniger Fläche verbraucht, um mehr
Wohnungen zu errichten. Das ist genau die Intention
dieses Gesetzes; sie ist ihm nicht abzusprechen. Deswe-
gen machen wir genau das: Wir versuchen, zusätzlichen
Wohnraum in den Städten zu schaffen, ohne dafür zu-
sätzlichen Freiraum außerhalb der Städte zu verwenden.
In der Tat – der Kollege Kühn hat zu Recht darauf hin-
gewiesen –, der § 13b scheint dem auf den ersten Blick
zu widersprechen. Allerdings ist es, wenn Sie so wollen,
ein Probelauf, der auf drei Jahre begrenzt ist. Das wird
also nicht auf Dauer zu Flächenverbrauch im Außenbe-
reich führen.
Volkmar Vogel.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Ministerin, Siehaben es bereits angesprochen: die verbesserte Bauland-bereitstellung im Außenbereich oder, ich sage besser,im Randbereich von Kommunen. Kann sie auch dazuBundesministerin Dr. Barbara Hendricks
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 2016 20441
(C)
(D)
führen, dass zum Beispiel Familien mit Kindern, Fami-lien mit einem geringeren Einkommen auf diese Art undWeise besser zu Bauland kommen können, und löst daszumindest zu einem kleinen Teil die soziale Frage desWohnens?Die zweite Frage bezieht sich auf den Innenbereich.Wir wollen mehr verdichten, was zwangsläufig natürlichauch zu Problemen des Zusammenlebens führen könnte.Hilft hier das von uns neugeschaffene Programm „Grünin der Stadt“, und was hat das Ministerium in diesem Be-reich vor, wenn es um Lärmminderung und Minderungder Staubentwicklung geht?Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:Sie haben recht, Herr Kollege Vogel: Es ist Familiengewöhnlich eher im ländlichen Raum möglich, Eigentumzu errichten, weil dort die Grundstückspreise niedrigersind als im städtischen Verdichtungsraum. Insofern istdas nicht von der Hand zu weisen; das ist vollkommenklar. Aber es ist natürlich auch für den ländlichen Raumgut, sich zunächst die Innenentwicklung der Dörfer an-zusehen. Auch dort gibt es häufig Möglichkeiten, zu-sätzliche Grundstücke bereitzustellen. Das gelingt nichtimmer, weil nicht alle, denen Grundstücke gehören, sieauch verkaufen wollen; das ist einfach so.Was Ihre zweite Frage anbelangt: Ja, „Grün in derStadt“ ist etwas, was uns im Zusammenhang mit demverdichteten Raum hilft. Was Feinstaub und andere Be-lastungen anbelangt, so werde ich demnächst Vorschlägevorlegen, um es den Kommunen zu ermöglichen, damitumzugehen.
Frau Lay.
Ich möchte gerne an meine vorherige Frage anknüp-
fen. Sie haben ausgeführt, dass Sie sich beim Thema
Lärm wegen des Vorsorgeprinzips für diese Variante
entschieden haben. Es ist ja so, dass die Kritiker sagen,
dass gerade durch die Anhebung der Richtwerte der TA
Lärm das Vorsorgeprinzip insofern, ich will nicht sagen,
ausgehebelt, aber aufgeweicht wird, weil es für Gewer-
bebetriebe zum Beispiel bedeutet, dass sie technische
Möglichkeiten, die sie zur Lärmreduktion nutzen könn-
ten, eben nicht mehr nutzen müssen, weil die Richtwerte
der TA Lärm angehoben werden. Vielleicht können Sie
darauf eingehen, wie Sie dieser Kritik begegnen.
Vielleicht können Sie in diesem Zusammenhang zur
Klarstellung sagen, wie Sie sich jetzt entschieden haben,
ob das urbane Gebiet nur für neu ausgewiesene inner-
städtische Brachen gelten soll oder ob bestehende Gebie-
te dann auch zu urbanen Gebieten umgewidmet werden
können. Das ist für die bestehende Wohnbevölkerung
wichtig zu wissen.
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Zu Ihrer zweiten Frage: Ja, die Kommunen können
natürlich auch bestehende Gebiete in urbane Gebiete um-
wandeln. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass zum
Beispiel ein bestehendes Mischgebiet in ein urbanes Ge-
biet umgewandelt wird, weil man dann zum Beispiel hö-
her bauen darf als bisher im Mischgebiet oder weil man
tatsächlich mehr verdichten kann, also zum Beispiel die
Grundstücksgrößen anders ausgenutzt werden können.
Das halte ich für eine Möglichkeit. Es ist aber jeweils
in der kommunalen Verantwortung, zu entscheiden, ob
man das tut. Wir gehen zunächst einmal davon aus, dass
eher Brachen und auch Baulücken infrage kommen. Um
Baulücken in bestehenden Zusammenhängen überhaupt
nutzen zu können – auch dafür kann die Ausweisung ei-
nes urbanen Gebietes hilfreich sein.
Was den Lärmschutz anbelangt, so sind mir die Kri-
tikpunkte bekannt. Ich habe mich gleichwohl für diesen
Vorschlag entschieden.
Kollege Kühn.Christian Kühn (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Frau Ministerin, ich habe eine Frage zu dem neuen§ 13b. Ich hätte ja noch dafür Verständnis gehabt, wennman seinen Geltungsbereich auf Gebiete mit Wohnraum-mangel beschränkt. Jetzt soll er aber – so wie ich dasverstanden habe – überall gelten, also auch im ländlichenRaum und auch in den Bereichen, in denen es keinenDruck in Innenstädten gibt. Deshalb meine Frage: Gab esÜberlegungen im Ministerium, diesen Passus auf Gebie-te mit Wohnraummangel zu begrenzen?Wenn man fragt: „In welchen Fällen wird diese Rege-lung angewendet werden, wenn man das in den nächstendrei Jahren generell erlaubt?“, dann heißt es zum einen,dass dadurch die Flüchtlingsunterbringung organisiertwird. Aber das halte ich für falsch, weil man so die Men-schen nicht integriert, sondern an den Stadtrand schiebt.Zweitens wird man im ländlichen Bereich den Wettlaufder Kommunen bei der Ausweisung von Baugebietenweiter vorantreiben. Beides halte ich für falsch, und des-wegen ist der neue § 13b auch so falsch. Ich kann nichtverstehen, warum dieser Paragraf in diesem Gesetz ent-halten sein muss.Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:Ihrer Einschätzung, dass damit die Flüchtlingsunter-bringung geregelt werden soll, stimme ich ausdrücklichnicht zu. Das halte ich nicht für den Impetus, der hinterdiesem Wunsch steht, der mir im vorbereitenden Gesetz-gebungsverfahren vorgetragen worden ist. Ich weiß – dassagte ich eben schon –, man kann das kritisch sehen. Ichgehe aber davon aus, dass die Anzahl der Fälle wegender Beschränkung auf drei Jahre überschaubar sein wird.Volkmar Vogel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 201620442
(C)
(D)
Frau Höhn.
Frau Ministerin, Sie haben eben beschrieben, dass Sie
sich beim Lärmschutz für eine Variante entschieden ha-
ben, die durchaus strittig ist. 3 Dezibel – das hört sich
nach nicht viel an. Aber weil es sich dabei um eine lo-
garithmische Größe handelt, muss man sagen: Der Zu-
wachs ist extrem hoch, und in vielen Fällen wird dann die
Schwelle zum umweltgefährdenden Lärm überschritten.
Die Kommunen haben vermehrt flexiblere Lösungen ge-
fordert, zum Beispiel das „Hamburger Fenster“. Warum
haben Sie das nicht in Betracht gezogen?
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Frau Kollegin Höhn, ich möchte darauf hinweisen,
dass wir, wenn wir das „Hamburger Fenster“ vorsehen
würden, das Verursacherprinzip aushebeln. Das heißt,
man darf draußen so viel Lärm machen, wie man will,
und drinnen muss man sich selber schützen gegen den
Lärm, den jemand anders verursacht. Das ist nicht die
Regelung, die wir im Umweltrecht normalerweise vorse-
hen. Ich sagte eben schon: In Ausnahmefällen, zum Bei-
spiel im Umfeld von Flughäfen, lässt es sich nicht anders
regeln – das ist mir schon klar –, aber wir wollen nicht
das Vorsorgeprinzip in Innenstädten gleichsam aushe-
beln. Deswegen kommt es uns darauf an, dass diejenigen,
die den Lärm verursachen, auch in Zukunft dafür verant-
wortlich sind, den Lärm zu begrenzen. Damit bleibt das
hohe Schutzniveau erhalten.
Frau Paus.
Vorab möchte ich als Berlinerin sagen, dass wir es
ausdrücklich begrüßen, dass das Gesetz diese urbanen
Gebiete vorsieht. Wir haben es im Vorgriff zu diesem Ge-
setz in den Koalitionsvertrag von Rot-Rot-Grün in Berlin
aufgenommen.
Nichtsdestotrotz geht es jetzt darum, zu überlegen,
inwieweit man das Gesetz nutzen kann, um den Flächen-
verbrauch zu reduzieren. Deswegen möchte ich die Frage
vom Kollegen Kühn noch einmal wiederholen: Warum
haben Sie die Anwendungsmöglichkeit nicht auf Gebie-
te mit Wohnraummangel beschränkt? Denn es geht doch
zentral darum, bezahlbaren Wohnraum, insbesondere für
Familien, zu schaffen.
Eine weitere Fragen ist auch noch offen geblieben:
Wann wird es in dieser Legislaturperiode ein Gesetz zur
Beschränkung von Mastbetrieben in Außenbereichen ge-
ben?
Meine dritte Frage lautet: Wie sieht es aus mit dem
Flächenverbrauch? Hat die Bundesregierung überhaupt
noch das Ziel, den Flächenverbrauch zu reduzieren?
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Zunächst zu Ihrer letzten Frage. Selbstverständlich
besteht das Ziel der Bundesregierung fort, den Flächen-
verbrauch zu reduzieren. Die Ausweisung von urbanen
Gebieten ist einer der wichtigen Punkte, der dabei helfen
wird. Gleichwohl: Auch wenn wir dieses Ziel bis zum
Jahr 2020 nicht erreichen, so streben wir es weiterhin
an, und wir wollen es natürlich nicht außer Acht lassen.
Aber, ja, ich räume ein: Es wird nicht bis zum Jahr 2020
erreichbar sein.
Ich kann Ihnen nicht zusichern, ob es in dieser Legis-
laturperiode tatsächlich noch gelingt, die Privilegierung
von Tiermastställen im Außenbereich zu begrenzen. Ich
bin aber in guten Gesprächen mit den Ministerkollegen.
Wie lautete Ihre erste Frage noch gleich?
– Ja. – Dies ist ein Regierungsentwurf. Sollte sich in die-
sem Haus eine Mehrheit dafür finden, dieses Gesetz auf
Gebiete mit besonderem Wohnungsbedarf zu beschrän-
ken, dann wird das so sein. Ich sehe allerdings nicht, dass
es dazu kommt.
Kollege Vogel noch einmal.
Vielen Dank. – Frau Ministerin, „Urbanes Gebiet“klingt sehr nach Großstadt; aber die Baunutzungsver-ordnung gilt in jeder Kommune. Insofern stellt sich dieFrage, ob die von uns vorgesehene Definition von ei-nem „urbanen Gebiet“ auch kleinen Kommunen undDörfern hilft. Man muss ja bedenken, dass auch sie at-traktiv bleiben müssen, vor allen Dingen durch vor Ortangesiedeltes Gewerbe; denn wenn die Gewerbebetrie-be im Ort bleiben können, können auch die Menschenihre Existenz vor Ort sichern und müssen dafür nicht indie großen Städte gehen. Die Habitat-III-Konferenz hatja gezeigt, dass der Zuzug in die Metropolen Problememit sich bringt. Die mit dem Zuzug in die großen Städteverbundenen Probleme wollen wir vermeiden, indem wirden Zuzug, der nicht unbedingt notwendig ist, vermei-den. Wie sehen Sie das?Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:Herr Kollege Vogel, Sie haben vollkommen recht mitIhrer Einschätzung. Die Definition „urbane Gebiete“ istselbstverständlich auch interessant für kleinere Städte,nicht gerade für Dörfer, für kleinere Städte aber durch-aus. Es geht uns um die Nutzungsmischung. Wir habenja ein neues Leitbild für die europäische Stadt. Leitbildder europäischen Stadt ist nicht mehr die „autogerech-te Stadt“, sondern seit der Leipzig-Charta die „Stadt derkurzen Wege“. Nachhaltigkeit ist ein wichtiger Punkt,der in diesem Zusammenhang zu beachten ist. Selbstver-ständlich ist es auch für kleinere Städte interessant, aufdie neue Baugebietskategorie zurückzugreifen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 2016 20443
(C)
(D)
Zu diesem Thema liegen keine weiteren Wortmeldun-
gen vor. Ich frage, ob es Fragen zu anderen Themen der
Kabinettssitzung gibt. – Herr Kollege Meiwald.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich habe eine Frage
an die Bundesregierung: War die Haltung der Bundes-
regierung gegenüber der EU-Kommission zum Thema
„hormonell wirksame Stoffe/Biozid- und Pestizidverord-
nung“ Thema der heutigen Kabinettssitzung? Wenn nein,
wann ist eine Befassung mit diesem Thema geplant?
Wenn ja, wie sieht das weitere Vorgehen der Bundesre-
gierung in Brüssel aus, wie sieht der Zeitplan aus, und
in welcher Form wird das Kabinett sich damit befassen?
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Das Kabinett hat sich heute nicht mit dem Thema be-
fasst. Allerdings sind die fachlich zuständigen Ministe-
rien, zum Beispiel das Gesundheitsministerium und das
Umweltministerium, in guten Abstimmungsgesprächen.
Wir werden unsere abgestimmte Position selbstverständ-
lich in Brüssel vortragen. Das Kabinett wird sich höchst-
wahrscheinlich nicht eigens damit befassen müssen.
Eine Nachfrage?
Es ist nett, dass ich nachfragen darf. – Gibt es einen
Zeitplan? Wissen Sie schon, wann Sie das in Brüssel vor-
tragen werden?
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Selbstverständlich rechtzeitig.
Die Verblüffung ist allgemein, Frau Ministerin. – An-
dere Fragen zur Kabinettssitzung sehe ich nicht. Ich fra-
ge, ob es sonstige Fragen an die Bundesregierung gibt. –
Herr Kollege Mutlu, dann der Kollege Kühn.
Danke, Herr Präsident. – Meine Frage richtet sich an
die Bundesregierung. Es geht um die Reform des Spit-
zensports. In der vergangenen Woche hat der Bundesin-
nenminister gemeinsam mit dem Präsidenten des Deut-
schen Olympischen Sportbunds die Eckpunkte bzw. das
Konzept als solches vorgestellt. In diesem Zusammen-
hang war die Rede von einer umfangreichen Umfrage
unter Athletinnen und Athleten sowie einem Manifest der
Athletinnen und Athleten. Meine Frage an die Bundes-
regierung lautet: Kennen Sie dieses Manifest und diese
Umfrage, und wie schätzen Sie dieses Manifest und diese
Umfrage unter den Athletinnen und Athleten ein?
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Herr Kollege Mutlu, Herr Präsident, ich bitte, damit
einverstanden zu sein, dass der Kollege Schröder die Be-
antwortung übernimmt, der gerade rechtzeitig das Spiel-
feld betreten hat.
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
D
Vielen Dank dafür, dass wir als zuständiges Bundes-
ministerium des Innern diese Frage beantworten dür-
fen. – Uns ist eine solche Umfrage nicht bekannt. Das ist
ja auch Sache des Deutschen Olympischen Sportbundes.
Eine Nachfrage? – Bitte schön, Herr Mutlu.
Danke, Herr Präsident. – Ich hätte eine weitere Frage.
Wenn Ihnen dieses Manifest, das in einer Pressekonfe-
renz in Anwesenheit des Bundesinnenministers, der zu-
gleich Bundessportminister ist, vorgestellt worden ist,
nicht bekannt ist und die Existenz einer solchen Umfrage
bislang auch nicht vom DOSB nachgewiesen worden ist,
möchte ich gerne wissen: Wie ist denn das Vertrauens-
verhältnis zwischen Ihrem Hause und dem DOSB, wenn
in einer Angelegenheit des deutschen Spitzensports, bei
der der deutsche Steuerzahler mehrere 100 Millionen
Euro investiert, jetzt so etwas ohne Grundlage in die Öf-
fentlichkeit gebracht wird?
Herr Staatssekretär.
D
Wir arbeiten mit dem Deutschen Olympischen Sport-
bund sehr vertrauensvoll zusammen. Wir haben die Re-
form des Spitzensports in den Gremien zusammen erar-
beitet und haben eine Projektstruktur entwickelt, bei der
es darum geht, auch externe Experten hinzuzuziehen.
Diese Projektgruppen haben das Ergebnis jetzt auf den
Weg gebracht. Es erfährt auch sehr große Unterstützung
von den Sportverbänden. Aber wie über das Ganze jetzt
innerhalb des Deutschen Olympischen Sportbundes dis-
kutiert wird, gerade auch in der Mitgliederversammlung,
ist Sache des Sports. Da mischt sich die Bundesregierung
natürlich nicht ein.
Herr Kollege Kühn.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 201620444
(C)
(D)
Christian Kühn (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Auch wenn es jetzt um allgemeine Fragen an dieBundesregierung geht, stelle ich eine Frage, die den Be-reich von Ihnen, Frau Hendricks, betrifft. Herr Kauderhatte die Einführung eines Baukindergeldes vorgeschla-gen. Daraufhin kamen Sie mit dem Vorschlag für einenstaatlichen Zuschuss zum Eigenheim für Familien umdie Ecke. Wir haben heute das urbane Gebiet behandelt.Wenn ich mir den Zeitplan unseres Ausschusses an-schaue, sehe ich, dass wir die Kategorie „Urbanes Ge-biet“ wahrscheinlich irgendwann im Mai beschließenwerden. Deswegen ist meine Frage: Rechnen Sie mit derUmsetzung eines staatlichen Zuschusses zum Eigenheimfür Familien noch in dieser Legislaturperiode? Gibt es ei-nen Zeitplan im Kabinett, wann sozusagen ein Vorschlagder Bundesregierung für diese Eigenheimförderung fürFamilien umgesetzt wird? Haben Sie eine Abschätzungder Kosten? Was wird die Umsetzung Ihres Vorschlages,den Sie medial sehr breit verkündet haben – auch heutewird er, glaube ich, in allen großen Medien erwähnt –,den Bund am Ende kosten?Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:Zunächst, Herr Kollege: Meine Einschätzung ist, dasswir das Verfahren für den heute vorgelegten Gesetzes-vorschlag und die Verordnungen zum 31. März abschlie-ßen können, wenn alle guten Willen zeigen. Es muss alsonicht Mai werden.Was die Einführung eines Zuschusses zum Eigenheimfür Familien anbelangt, so bin ich mit dem KollegenSchäuble im Gespräch, und zwar schon seit einiger Zeit.Allerdings kann ich nicht zusichern, dass das noch in die-ser Legislaturperiode gelingt. Die Interessenlage in denbeiden Koalitionsfraktionen ist allerdings sehr ähnlich.
Gibt es noch sonstige Fragen an die Bundesregie-
rung? – Das ist zwar offenkundig im Prinzip vorstellbar,
aber konkret im Augenblick nicht erkennbar. Dann been-
de ich hiermit die Befragung der Bundesregierung.
Ich rufe unseren nächsten Tagesordnungspunkt auf,
und zwar Tagesordnungspunkt 2:
Fragestunde
Drucksache 18/10442
Nach dem üblichen Verfahren werden die eingereich-
ten Fragen, so sie nicht schriftlich beantwortet werden, in
der Reihenfolge der Geschäftsbereiche der Bundesregie-
rung aufgerufen, die Ihnen mitgeteilt worden ist.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi-
nisteriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit. Die Fragen 1 und 2 der Kollegin Caren Lay
werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe jetzt die Frage 3 des Kollegen Hubertus
Zdebel auf:
Wann ist die Bundesregierung über die eingesetzte
deutsch-belgische Arbeitsgruppe zu Fragen der kerntechni-
schen Sicherheit oder andere Wege über die vom Chef der
belgischen Atomaufsichtsbehörde , Jan Bens, an die
Betreiber der belgischen Atomkraftwerke Tihange und Doel,
Electrabel und ENGIE, in den durch die belgische Zeitung La
Libre veröffentlichten Briefen vom Juli und September 2016
adressierte Kritik an der fehlenden Sicherheitskultur und
Warnung vor einer „alarmierenden Wahrscheinlichkeit einer
Bundesregierung im Zusammenhang damit ergreifen?
Ich bitte die Staatssekretärin, Frau Schwarzelühr-
Sutter, um Beantwortung.
Ri
Sehr geehrter Herr Kollege Zdebel, die Bundesre-gierung hat Kenntnis über die Schreiben der belgischenAufsichtsbehörde FANC. Die Schreiben aus dem Som-mer 2016 sind im Rahmen des aufsichtlichen Handelnsder Atomaufsicht erstellt und von der belgischen Pressejüngst veröffentlicht worden. In dem ersten Schreibenmahnt FANC an, dass der Betreiber die Ergebnisse ei-ner Brandrisikostudie nicht mit sicherheitsbezogenerErnsthaftigkeit behandeln würde. Das zweite Schreibenbemängelt aufgrund einer Häufung von Ereignissen inden belgischen Atomkraftwerken eine unzureichende Si-cherheitskultur des Betreibers. Auch sei die Umsetzungder von FANC geforderten Maßnahmen nicht zufrieden-stellend.Auch wenn die FANC mit Pressemitteilung vom24. November 2016 bestätigt, dass der Betreiber seitden Schreiben Maßnahmen ergriffen hat und Fortschrittefestzustellen sind, nimmt die Bundesregierung die In-formationen und Bedenken von FANC sehr ernst. DieSchreiben bestätigen die Bundesregierung in ihrer Sorgeüber die Sicherheitsmängel, die die Bundesministerin be-reits mehrfach gegenüber der belgischen Regierung zumAusdruck gebracht hatte.Die Bundesregierung hatte schon im Januar an FANCeine Liste mit 15 offenen Fragen zur Sicherheit derAtomkraftwerke Tihange 2 und Doel 3 übergeben. DieSchreiben kommentierte die Bundesministerin daherauch kritisch. Sie forderte die belgische Regierung erneutzum Handeln auf:Es geschieht nicht alle Tage, dass die zuständigeAufsichtsbehörde einen AKW-Betreiber auffordert,Mängel in der Sicherheitskultur und in der Orga-nisationsstruktur des Unternehmens zu beseitigen.Dass die belgische Atomaufsicht vor dem Hinter-grund einer Häufung von Ereignissen insbesondeream AKW-Standort Tihange sogar von Lässigkeitdes Betreibers beim Handeln mit der Sicherheitspricht, finde ich gravierend. Das ist für mich einklares Zeichen von mangelnder Sicherheitskultur,das nicht ohne Konsequenzen bleiben kann.So hat die Ministerin es übermittelt.http://www.lalibre.be/actu/belgique/surete-nucleaire-deux-lettres-accablantes-et-alarmantes-destinees-a-electrabel-582f70d6cd70735194a3ed84http://www.lalibre.be/actu/belgique/surete-nucleaire-deux-lettres-accablantes-et-alarmantes-destinees-a-electrabel-582f70d6cd70735194a3ed84http://www.lalibre.be/actu/belgique/surete-nucleaire-deux-lettres-accablantes-et-alarmantes-destinees-a-electrabel-582f70d6cd70735194a3ed84http://www.heise.de/tp/news/Alarmierende-Wahrscheinlichkeit-eines-Supergaus-in-belgischen-Atomkraftwerken-3494478.htmlhttp://www.heise.de/tp/news/Alarmierende-Wahrscheinlichkeit-eines-Supergaus-in-belgischen-Atomkraftwerken-3494478.htmlhttp://www.heise.de/tp/news/Alarmierende-Wahrscheinlichkeit-eines-Supergaus-in-belgischen-Atomkraftwerken-3494478.html
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 2016 20445
(C)
(D)
Zusatzfrage? – Bitte schön.
Danke, Frau Parlamentarische Staatssekretärin, für
die Antwort. – Eine Zusatzfrage: Mich würde interessie-
ren, über welchen Weg Sie Kenntnis davon bekommen
haben. Hat Sie die belgische Atomaufsicht selbst darüber
informiert, haben Sie das nur aus Presse erfahren, oder
war es möglicherweise auch Thema in der deutsch-bel-
gischen Arbeitsgruppe, die vor einiger Zeit eingerichtet
worden ist?
Ri
Ich beginne mit dem Ende. Die deutsch-belgische
Arbeitsgruppe trifft sich morgen; morgen ist der 1. De-
zember. Dort wird das noch einmal thematisiert werden.
Natürlich gibt es im Rahmen der Treffen auch einen Aus-
tausch. Wie gesagt: Morgen ist das Thema in der Arbeits-
gruppe.
Eine weitere Zusatzfrage?
Danke, Herr Präsident. – Frau Schwarzelühr-Sutter,
noch eine Nachfrage. Das, was Sie gerade vorgetragen
haben, ist in der Tat alarmierend, nämlich die fehlende
Sicherheitskultur, die in diesen Briefen ausgerechnet
vom Chef der FANC festgestellt worden ist. Er spricht
darin von einer „alarmierenden Wahrscheinlichkeit einer
Kernschmelze“ in Tihange, und das an einem Ort, der
etwa 70 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt ist.
Wir alle wissen, welche Konsequenzen eine Kernschmel-
ze für ganz Nordrhein-Westfalen haben würde.
Vor diesem Hintergrund frage ich Sie: Es gibt nach
wie vor Exporte von Kernbrennstoffen von deutschem
Boden aus an die belgischen Atommeiler. Wir hatten das
schon einmal thematisiert. Sehen Sie jetzt verstärkt eine
Veranlassung, tatsächlich zu einer Maßnahme zu kom-
men, die den weiteren Export von Brennstoffen an belgi-
sche Atommeiler ausschließt?
Ri
Es ist Sache der Aufsichtsbehörde, die für den sicheren
Betrieb der Anlagen zuständig ist, die Anlage vorüberge-
hend stillzulegen. Das können wir nicht mitentscheiden.
Wie, mit welchen Brennstoffen das Kernkraftwerk in
Belgien arbeitet, das wird die Entscheidung des jeweili-
gen Betreibers sein.
Kollege Hunko.
Vielen Dank. – Als Abgeordneter aus Aachen, das
direkt östlich von dem Kernkraftwerk in Tihange liegt,
möchte ich nur einmal übermitteln, welche Sorgen und
auch welche Empörung es zum Teil in der Stadt gibt, dass
das Atomkraftwerk Tihange, insbesondere Tihange 2,
weiter am Netz ist. Ich will nur daran erinnern: Der Chef
der belgischen Sicherheitsbehörde sagt, es gebe eine
„alarmierende Wahrscheinlichkeit einer Kernschmelze“,
und mehr als das, was wir bis jetzt gehört haben, passiert
nicht. Da es eine alarmierende Wahrscheinlichkeit einer
Kernschmelze gibt, möchte ich Sie fragen: Wie würden
Sie darauf reagieren, wenn diese Kernschmelze eintreten
würde, und wie würden Sie die Stadt Aachen und die an-
grenzende Region dann evakuieren wollen?
Ri
Sehr geehrter Herr Kollege, ich kann Ihre Sorge gut
nachvollziehen; denn ich wohne im Umkreis eines aus-
ländischen Kernkraftwerks von weniger als 5 Kilome-
tern. Diese Sorgen sind mir daher sehr wohl bekannt. Sie
wissen aber, dass immer nur die jeweilige Aufsichts- und
Sicherheitsbehörde die nötigen Schlussfolgerungen in
Bezug auf die Sicherheitsmängel ziehen kann. Wir wer-
den diese Problematik aber bei dem Arbeitstreffen mit
der belgischen Sicherheitsbehörde morgen noch einmal
thematisieren.
Frau Kotting-Uhl hat das Wort zu einer weiteren Zu-
satzfrage.
Danke schön, Herr Präsident. – Ich möchte gerne ganz
konkret an die Frage von Hubertus Zdebel nach der Lie-
ferung von Brennelementen auch für Tihange anknüpfen.
Sie sagten eben, die Betreiber würden entscheiden, mit
welchen Brennelementen sie arbeiten. Die Bundesregie-
rung trägt jedoch Verantwortung für die einzige Uranan-
reicherungsanlage bei uns in Deutschland, die zu einem
Drittel RWE und Eon gehört, und sie trägt natürlich auch
einen gewissen Teil Verantwortung für die Brennelemen-
tefertigung bei uns in Deutschland. Stimmen Sie nicht
mit mir überein, Frau Schwarzelühr-Sutter, dass es nicht
der richtige Umgang mit der Sorge ist, die ich hier zum
Ausdruck gebracht habe und die zu Recht sehr gravie-
rend ist – ich finde, Frau Hendricks verhält sich hier ab-
solut richtig –, wenn man genau dieses Atomkraftwerk
mit Lieferungen aus Deutschland mit in Betrieb hält?
Ri
Die Anlage in Gronau, die Sie ansprechen, hat eineBetriebsbewilligung. Insofern müsste man die gesetzli-chen Voraussetzungen dafür schaffen, dass kein Betriebmehr möglich ist, sodass keine Lieferungen mehr erfol-gen können. Das steht im Moment bei uns nicht zur De-batte.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 201620446
(C)
(D)
Die Frage 4 des Kollegen Oliver Krischer wird schrift-
lich beantwortet.
Damit kommen wir zur Frage 5 der Abgeordneten
Sylvia Kotting-Uhl:
Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung zu zwei Briefen
der belgischen Atomaufsicht FANC an den Atomkraftwerksbe-
treiber Electrabel vom Juli und September 2016, in denen die
Sicherheitskultur des Atomkraftwerks Tihange nicht nur stark
kritisiert wird, sondern auch – basierend auf der Studie zum
Brandschutz „Fire PSA“ – für die Atomkraftwerke Doel 3 und 4
sowie Tihange 1, 2 und 3 die „alarmierende Wahrscheinlichkeit
einer Kernschmelze“ untermauert wird, und was hat die Bun-
desregierung hinsichtlich dieser besorgniserregenden Erkennt-
Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort.
Ri
Die Antwort wird sich nicht groß von der vorherigen
Antwort unterscheiden, weil es die gleiche Frage ist,
Frau Kotting-Uhl. Es geht wieder um unsere Kenntnis-
se in diesem Zusammenhang. – Ich werde das aber noch
einmal aufnehmen.
Die Schreiben aus dem Sommer 2016 sind im Rahmen
des aufsichtlichen Handelns der Atomaufsicht erstellt
und von der belgischen Presse jüngst veröffentlicht wor-
den. Die Sicherheitsmängel habe ich schon beschrieben.
Sie ergeben sich zum Teil aus der Brandrisikostudie. Au-
ßerdem ist aufgrund der Häufung von Ereignissen eine
unzureichende Sicherheitskultur zu bemängeln.
Wenn Sie einverstanden sind, können wir uns den
Rest der Antwort ersparen und gleich zu den Nachfragen
kommen.
Frau Kotting-Uhl.
Damit bin ich sehr einverstanden, Frau Staatssekretä-
rin; diese Zeit können wir dem Plenum sparen. Sie sehen,
wie sehr die Opposition dieses Problem in Tihange um-
treibt, weil wir fast deckungsgleiche Fragen dazu stellen.
Aus diesen Briefen geht ganz deutlich hervor, dass
Electrabel die Kritik der Atomaufsicht ganz offensichtlich
nicht ernst genug nimmt. Ich gehe einmal davon aus – so
habe ich es auch erlebt –, dass bei uns in Deutschland
andere Maßnahmen ergriffen würden, als den Betreiber
noch einmal anzusprechen und ihm zu sagen, dass wir
es nicht in Ordnung finden, dass er das nicht ernst genug
nimmt. In Belgien wird von Zwangsmaßnahmen gespro-
chen, wobei sich mir nicht erschließt, worum es dabei
geht, und Pläne verlangt, aus denen hervorgeht, wann
das Problem behoben sein soll, während Electrabel aber
einfach nichts macht. Deswegen die Frage: Ist das auch
Gesprächsthema in der bilateralen Atomkommission, die
jetzt eingerichtet werden soll? Man kann ja auch im Vor-
feld schon reden. Haben Sie vor, auch von Atomaufsicht
zu Atomaufsicht einmal darüber zu reden, wie man einen
solchen Vollzug durchsetzen und umsetzen kann?
Ri
Sie wissen natürlich – das ist auch bei ausländischen
Aufsichtsbehörden so –, dass es immer erst Aufgabe und
Angelegenheit der ausländischen Aufsichtsbehörde ist,
die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Teilweise
wird vorübergehend stillgelegt, bis die Vorgaben umge-
setzt bzw. die Fehler entsprechend korrigiert und die not-
wendigen Umsetzungsmaßnahmen vollzogen wurden.
Ich bin überzeugt, dass das Thema „Alterung der AKWs“
und die Frage der Sicherheitskultur bei den Kommissi-
onssitzungen im Mittelpunkt stehen werden. Solange die
Kommission noch nicht eingerichtet ist, wird dieses The-
ma im Arbeitskreis in Belgien angesprochen werden.
Frau Kotting-Uhl.
Ich habe noch eine zweite Frage; danke. – Ich teile
Ihre Überzeugung absolut, Frau Staatssekretärin, dass
diese Themen uns in Deutschland, auch im Parlament,
immer wieder beschäftigen werden. Mit der Alterung der
AKWs werden die Probleme zunehmen. Sind Sie denn
in Ihrem Haus bereit, in der EU endlich einmal vorstel-
lig zu werden mit dem Vorschlag, Anrainerstaaten, die
von dem GAU eines Atomkraftwerkes im Nachbarland
in Grenznähe betroffen wären – so wie wir bei den Atom-
kraftwerken Tihange und Beznau –, in Fragen der Sicher-
heit von Atomkraftwerken im Rahmen entsprechender
Umweltverträglichkeitsprüfungen bei Neuvorhaben ein
Mitspracherecht einzuräumen, um so dem Grenzen miss-
achtenden Risiko von Atomkraftwerken und der Gefahr
von Unfällen gerecht zu werden?
Ri
Liebe Frau Kotting-Uhl, Sie wissen, dass wir das im
Zusammenhang mit Laufzeitverlängerungen und Um-
weltverträglichkeitsprüfungen angesprochen haben. Es
wäre sicherlich begrüßenswert, wenn wir das Thema auf
EU-Ebene noch stärker voranbringen könnten. In den
nächsten Tagen findet die internationale Konferenz der
Atomaufsichtsbehörden in Wien statt; da wird das sicher-
lich Thema sein. Unser Haus hat die Frage der Sicher-
heitskultur auf EU-Ebene immer wieder thematisiert.
Herr Kollege Zdebel.
Danke schön, Frau Präsidentin. – Frau Schwarzelühr-Sutter, ich komme auf den Export von Brennstäben undhttp://www.lalibre.be/actu/belgique/surete-nucleaire-deux-lettres-acclablantes-et-alarmantes-destinees-a-electrabel-582f70d6cd70735194a3ed84http://www.lalibre.be/actu/belgique/surete-nucleaire-deux-lettres-acclablantes-et-alarmantes-destinees-a-electrabel-582f70d6cd70735194a3ed84http://www.lalibre.be/actu/belgique/surete-nucleaire-deux-lettres-acclablantes-et-alarmantes-destinees-a-electrabel-582f70d6cd70735194a3ed84
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 2016 20447
(C)
(D)
Brennstoffen aus Deutschland nach Belgien für derenAtommeiler zurück. Wir haben diese Diskussion schoneinmal geführt, auch im Zusammenhang mit dem fürExporte zuständigen Bundesamt für Wirtschaft und Aus-fuhrkontrolle. Auf meine Kleine Anfrage wurde mir ge-antwortet, es entspräche nicht der Rechtssystematik desAtomgesetzes, das Bundesamt für Wirtschaft und Aus-fuhrkontrolle dafür in Anspruch zu nehmen.Exporte können ausgeschlossen werden, wenn dieinnere Sicherheit Deutschlands bedroht ist. Meines Er-achtens ist die innere Sicherheit durch den Zustand desAtomkraftwerks Tihange bedroht, wenn es dort zu einerKernschmelze kommen könnte. Wären Sie denn be-reit, auf dem Weg mitzugehen und die Systematik desAtomgesetzes in der Form zu ändern? Ein Export von inDeutschland hergestellten Brennstäben könnte verbotenwerden, wenn das gesetzlich möglich wäre, und durchden Entzug von Brennstoffen könnte der Gefahr einerKernschmelze entgegengewirkt werden.Ri
Sehr geehrter Herr Kollege Zdebel, Sie unterstellen
jetzt, dass die Kernschmelze eine akute Gefahr ist. Das
ist von der logischen Abfolge seitens FANC kein The-
ma. Die Rechtssystematik hat sich, wie Sie wissen, nicht
verändert. Wir werden uns das aber natürlich genau an-
schauen und es prüfen.
Ich rufe die Frage 6 der Abgeordneten Sylvia Kotting-
Uhl auf:
Wie stark wird nach Kenntnis der Bundesregierung in
Deutschland und dem europäischen Ausland das Notkühlwas-
ser von Reaktoren aufgeheizt ,
und welcher Wert gilt nach Kenntnis der Bundesregierung
in den jeweiligen Ländern als Limit/Höchsttemperatur, über
dem/der eine Notfallkühlung des Reaktorkerns nicht mehr ge-
währleistet ist?
Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort.
Ri
Die Notkühlbehälter befinden sich bei den deutschen
Kernkraftwerken, wie Sie sicherlich wissen – Frau
Kotting-Uhl, Sie sind ja Expertin –, im Unterschied zu
einem Teil der ausländischen Anlagen im Reaktorgebäu-
de. Anforderungen an die Notkühlwassertemperaturen
ergeben sich anlagenspezifisch aus dem Zusammenwir-
ken der nach dem kerntechnischen Regelwerk zu unter-
stellenden Ereignisse und den dabei zu unterstellenden
Randbedingungen zum Erreichen der geforderten Nach-
weisziele. Die Bewertung der Nachweise zum Erreichen
der geforderten Nachweisziele unterliegt der für eine An-
lage zuständigen Genehmigungs- und Aufsichtsbehörde;
so ist das auch hier.
Der Bundesregierung ist bekannt, dass die Vorwär-
mung des Notkühlwassers in einer Reihe von auslän-
dischen Anlagen realisiert wird. In den finnischen, slo-
wakischen, tschechischen und ungarischen Anlagen
des Typs WWER zum Beispiel liegen die Notkühlwas-
sertemperaturen zwischen 50 und 60 Grad Celsius; in
der belgischen Anlage Doel 3 wurde aufgrund des im
Jahr 2012 bekanntgewordenen Werkstoffzustandes des
Reaktordruckbehälters eine Vorwärmung des Notkühl-
wassers auf mindestens 40 Grad festgelegt. Dann gibt es
noch einige französische Anlagen, bei denen sich die Be-
hälter für Notkühlwasser außerhalb des Reaktorgebäudes
befinden. Dort gibt es eine Vorwärmung auf eine Min-
desttemperatur.
Die Bundesregierung geht davon aus, dass den zustän-
digen Aufsichtsbehörden die anlagenspezifischen Nach-
weise zur Gewährleistung der Kernkühlung unter diesen
Bedingungen vorliegen.
Frau Kotting-Uhl.
Danke, Frau Präsidentin. – Frau Staatssekretärin, blei-
ben wir bei Tihange. Sie haben mir auf eine schriftliche
Frage vom Februar 2016 geantwortet, dass nach Kennt-
nis der Bundesregierung für Tihange 2 bisher keine
Festlegung zur Erhöhung der Temperatur des Notkühl-
wassers getroffen wurde. Würden Sie mir diese Antwort
immer noch so geben? Ist es nach Ihrer Kenntnis nach
wie vor so? Das würde mich sehr wundern, weil gerade
in Tihange 2 aufgrund der Risse im Reaktordruckbehäl-
ter erhebliche Probleme mit dem Sprödbruchsicherheits-
nachweis bestehen.
Ri
Bei Doel und Tihange haben wir aufgrund des Werk-
stoffzustands die Vorwärmung des Notkühlwassers. In-
sofern ist das von den belgischen Aufsichtsbehörden ent-
sprechend zu prüfen.
Frau Kotting-Uhl.
Danke schön. – Das haben Sie mir im Februar schrift-lich anders beantwortet, nämlich dass es nach IhrerKenntnis keine Erhöhung der Temperatur des Notkühl-wassers in Tihange 2 gebe.Aber ich möchte Sie noch etwas Fachliches fragen:Besteht nach Kenntnis der Bundesregierung bei derErwärmung des Notkühlwassers die Gefahr, dass dieKühlung des Reaktorkerns im Notkühlfall nicht mehrgewährleistet ist, und wenn ja, ab spätestens welchemErwärmungsgrad sehen Sie als Bundesregierung diesesProblem?Hubertus Zdebel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 201620448
(C)
(D)
Ri
Das hängt einerseits vom Reaktor ab und andererseits
vom Materialzustand, also davon, wie alt und versprödet
der Reaktordruckbehälter ist. Dafür zuständig sind die
ausländischen Aufsichts- und Sicherheitsbehörden. Sie
wissen auch, dass wir in Deutschland kein Notkühlwas-
ser erwärmen.
Herr Kollege Zdebel.
Danke schön, Frau Präsidentin. – Ich komme auch
noch einmal auf Tihange 2 im Zusammenhang mit
dem Kühlwasser zurück. Sie haben gerade gesagt, Frau
Schwarzelühr-Sutter, dass Sie sich am 1. Dezember, also
morgen, wieder in der deutsch-belgischen Arbeitsgruppe
treffen. Würden Sie dort den belgischen Kolleginnen und
Kollegen diese Frage stellen und uns das Ergebnis, ob
es da tatsächlich nicht zu einer Kühlwassererwärmung
kommt, dann im Bundestag mitteilen?
Ri
Ich werde das in meinem Haus weitergeben. Ich neh-
me es mit, Herr Zdebel.
Dann rufe ich die Frage 7 des Abgeordneten Christian
Kühn auf:
Plant die Bundesregierung eine Beteiligung der Produzen-
ten von HBCD-haltigen Dämmstoffen an den Entsorgungskos-
ten, und wenn nicht, wer soll sie tragen?
Frau Staatssekretärin.
Ri
Lieber Kollege Kühn, die Bundesregierung plant nicht,
die Produzenten der HBCD-haltigen Wärmedämmplat-
ten an den Entsorgungskosten zu beteiligen. Nach den
§§ 6 bis 8 des Kreislaufwirtschaftsgesetzes sind die Ab-
fallerzeuger für die ordnungsgemäße und schadlose Ent-
sorgung verantwortlich. Insoweit müssen diese auch die
Kosten für die Entsorgung tragen.
Herr Kühn, wünschen Sie eine Nachfrage?
Christian Kühn (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Ja, sehr gerne.
Dann haben Sie jetzt die Gelegenheit.
Christian Kühn (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Das Thema HBCD-belastete Polystyrol-Dämmplatten
im Wärmedämmverbundsystem beschäftigt uns gera-
de im Baubereich und im Umweltbereich sehr. Es gab
Schlagzeilen wie „Baustellen in Deutschland stehen
still“, „Dachdecker und Stuckateure in Kurzarbeit“ und
anderes. Wie sieht die Bundesregierung die derzeitige Si-
tuation auf den Baustellen? Ist es nicht an der Zeit, dass
die Bundesbauministerin sich noch einmal selbst dieses
Themas als Chefsache annimmt, statt, wie mehrfach be-
richtet wurde, den Ländern den Schwarzen Peter zuzu-
schieben?
Ri
Sie bevorzugen das Verursacherprinzip. Fakt ist aber
nun einmal, dass im Bundesrat die Länder diese Maßga-
be beschlossen haben und es dadurch zu Problemen kam.
Wir hatten ursprünglich einen Verordnungsentwurf vor-
gelegt, der nicht zu dieser Situation geführt hätte. Jetzt
geht es darum, eine praktikable Lösung zu finden. Da hat
sich die Bundesministerin entsprechend eingesetzt. Auf
der in dieser Woche stattfindenden Umweltministerkon-
ferenz werden wir das noch einmal aufgreifen.
Herr Kühn.
Christian Kühn (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Noch eine Frage dazu. Wenn Sie eine andere Auffas-
sung hatten und als Bundesministerium gesagt haben:
„Hier gibt es eine Problematik“, und diese auch erkannt
haben: Warum haben Sie dann dies verkündet? Sie hätten
als Bundesministerium von Ihrem Recht Gebrauch ma-
chen können und das nicht verkünden müssen, sondern
zurückhalten können – das wäre durchaus möglich ge-
wesen –, um dann noch einmal auf die Probleme hinzu-
weisen. Duckt sich das Bundesministerium bei diesem
Problem auf deutschen Baustellen nicht eher weg? Hätte
es diesen Prozess nicht viel früher in die Hand nehmen
und ihn moderieren müssen?
Ri
Bevor wir anfangen, das Schwarze-Peter-Spiel zuspielen, verweise ich darauf, dass der Vollzug des Ab-fallrechts nach der verfassungsgemäßen Kompetenzzu-weisung den Ländern in eigener Verantwortung obliegt.Das gilt auch im Zusammenhang mit der Entsorgung derin Rede stehenden Abfälle, den sogenannten HBCD-hal-tigen Dämmplatten. Aus Sicht der Bundesregierungsollten die Länder weiterhin darauf hinwirken, dass dieBetreiber von Müllverbrennungsanlagen – das ist derKnackpunkt – ihre Genehmigungen erweitern, um dieseAbfälle thermisch zu behandeln. Die Betreiber der Müll-verbrennungsanlagen haben sich der Maßgabe entspre-chend dann anders verhalten. Dem Vernehmen nach sind
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 2016 20449
(C)
(D)
die Kosten der Entsorgung der Dämmplatten gestiegen,weil es nur noch sehr wenige Müllverbrennungsanlagengibt, die diese entsorgen. Insofern ist es wichtig, dasswir gemeinsam eine praktikable Lösung finden. Das istdurchaus aussichtsreich. Ich glaube, das bekommen wirzusammen mit den Ländern auch hin.
Mit liegen keine weiteren Fragen für diesen Ge-
schäftsbereich vor.
Wir wechseln zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung. Die Fragen wird Herr Parlamentarischer
Staatssekretär Joachim Fuchtel beantworten.
Als Erstes rufe ich die Frage 8 des Abgeordneten
Niema Movassat auf:
Welche Kooperation ist im Rahmen des GIZ-geführten
Regionalvorhabens „Better Migration Management“, welches
unter anderem auch eine Zusammenarbeit mit dem Südsudan
vorsieht, mit der Regierung bzw. den Behörden des Südsudan
angedacht und unter den derzeitigen bürgerkriegsartigen Zu-
desregierung die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit mit
dem Südsudan aufrecht, obwohl das Regime von Präsident
Salva Kiir sowohl als äußerst gewalttätig als auch korrupt gilt
Herr Staatssekretär.
Ha
Ich darf antworten, dass aufgrund der andauernden
Krise bislang keine offiziellen Kontakte mit der Regie-
rung des Südsudans gegeben sind, auch nicht im Rahmen
der im Mai/Juni durchgeführten Prüfmission.
Herr Movassat.
Danke, Herr Staatssekretär. – Das ist zuerst einmal
eine beruhigende Antwort. Mich interessiert, ob es be-
reits Planungen gibt, wann man eine Zusammenarbeit
aufnehmen möchte, oder ob eine Zusammenarbeit nicht
mehr stattfinden wird.
Ha
Herr Kollege, es gibt zwei Implementierungspart-
ner des „Better Migration Management“-Programms.
Das sind zum einen die Internationale Organisation für
Migration und zum anderen das Büro der Vereinten Na-
tionen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung, welche
im Rahmen ihrer Regionalprogramme Maßnahmen im
Südsudan durchführen. Auf deren Erkenntnisse und Ex-
pertisen wird aufgebaut. Dann wird über die Umsetzung
potenzieller Aktivitäten entschieden.
Herr Movassat.
Meine zweite Nachfrage. Herr Staatssekretär, die GIZ
ist nach Auskunft der Bundesregierung bis 2018 in einem
Polizeiprogramm „Afrika“ aktiv; das haben Sie bestätigt
als Antwort auf eine Kleine Anfrage von mir und meiner
Fraktion auf Drucksache 18/9246. Dieses Polizeipro-
gramm ist auch im Südsudan aktiv. Ziel des Programms
sind insbesondere der Auf- und Ausbau von Polizeistruk-
turen. Da dieses Projekt laut Ihrer Antwort auch im Süd-
sudan stattfindet, interessiert mich, was ich mir darun-
ter konkret vorzustellen habe. Was läuft da? Findet eine
Ausbildung von Polizisten statt, und wenn ja, wie sieht
sie aus? Das interessiert mich sehr.
Ha
Wenn ich mich richtig erinnere, Herr Kollege, ist in
letzter Zeit über diese Frage in verschiedenen Gremien
herauf und herunter debattiert worden. Ich kann Ihnen
nur sagen, dass im Augenblick ausschließlich Ortskräfte
der GIZ vor Ort sind und so etwas nur in diesem Rahmen
geschehen könnte. Ich kann Ihnen jetzt im Augenblick
nicht bestätigen, dass das Programm aktiv von diesen
Leuten betrieben wird.
Wir wechseln zum Geschäftsbereich der Bundeskanz-
lerin und des Bundeskanzleramtes. Die Beantwortung
der Fragen wird Staatsminister Dr. Helge Braun überneh-
men.
Ich rufe die Frage 9 des Abgeordneten Christian Kühn
auf:
Plant die Bundesregierung, für ihre G-20-Präsidentschaft
2017 die Umsetzung der Forderung des Gutachtens des Wis-
senschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Um-
weltveränderungen , das Thema „Urbanisierung und
Transformation“ dauerhaft zu einem Tagesordnungspunkt der
G 20 aufzuwerten, und, wenn nicht, warum nicht?
Herr Staatsminister.
D
Frau Präsidentin! Herr Kollege, die Bundesregierung
wird während der deutschen G-20-Präsidentschaft das
Thema „Urbanisierung und Transformation“ im Kontext
der Agenda 2030 in geeigneter Weise aufgreifen. Die
G 20 wird durch nationale und gemeinsame Maßnahmen
nachdrücklich für die rasche und umfassende Umsetzung
der Agenda 2030 mit ihren globalen Zielen für die nach-
haltige Entwicklung arbeiten.
Wie in dem von Ihnen erwähnten WBGU-Gutachten
dargestellt, ist die nachhaltige Gestaltung der Urbanisie-
rung dabei von einer besonderen Bedeutung. Im Rahmen
der Übernahme der Präsidentschaft am morgigen 1. De-
zember wird auch das G-20-Programm der deutschen
Präsidentschaft veröffentlicht.
Pa
Rede von: Unbekanntinfo_outline
//www.nytimes.com/2016/09/13/world/africa/south-sudan-salva-kiir-riek-machar-corruption.html?_r=0http://www.nytimes.com/2016/09/13/world/africa/south-sudan-salva-kiir-riek-machar-corruption.html?_r=0
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 201620450
(C)
(D)
Herr Kühn.
Christian Kühn (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Könnten Sie kurz darlegen, was „in geeigneter Weise“
aus Ihrer Sicht oder der Sicht des Bundeskanzleramtes
bedeutet?
D
Sie wissen, dass der Bereich Urbanisierung im Kon-
text der Agenda 2030, die Gegenstand der Beratungen
der G 20 sein wird, einen ganz zentralen Punkt einnimmt.
Deshalb können Sie davon ausgehen, dass darüber ge-
sprochen wird und dass sich auch in dem Maßnahmen-
paket sowohl national als auch gemeinschaftlich im
Rahmen der G 20 entsprechende Antworten auf diese
wichtige Herausforderung finden werden. Aber den Ver-
handlungen von G 20 können wir einen Tag, bevor wir
überhaupt die Präsidentschaft übernommen haben, und
ein halbes Jahr, bevor die entscheidende Sitzung ist, nicht
vorgreifen.
Herr Kühn.
Christian Kühn (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Darf ich noch einmal nachfragen: Deutschland will
im Rahmen der Präsidentschaft der G 20 das Thema der
Urbanisierung wirklich auf die Tagesordnung setzen und
nicht als einen Punkt unter vielen hinten runterfallen las-
sen?
D
Das Thema wird sicherlich nicht hinten runterfallen.
Es wird in geeigneter Weise im Rahmen der Behandlung
der Agenda 2030 aufgegriffen.
Christian Kühn (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Danke schön.
Zu diesem Geschäftsbereich liegen mir keine weiteren
Fragen vor.
Deshalb leiten wir über zum Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie. Die
Frage 10 des Abgeordneten Özcan Mutlu zu Rüstungsex-
porten in die Türkei wird schriftlich beantwortet.
Damit wechseln wir zum Geschäftsbereich des Aus-
wärtigen Amts. Hier wird Staatsminister Michael Roth
die Antworten übernehmen.
Die Frage 11 der Abgeordneten Brigitte Pothmer, die
Fragen 12 und 13 der Abgeordneten Sevim Dağdelen
und die Frage 14 der Abgeordneten Heike Hänsel werden
schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 15 des Abgeordneten Movassat auf:
Welche sollen die Schwerpunkte der Migrationspartner-
schaft mit Ägypten sein, die die Bundesregierung und die EU
nach Aussagen der Bundesregierung im Ausschuss für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung des Deutschen
Bundestages vom 9. November 2016 zusätzlich zu den beste-
henden Partnerschaften mit Äthiopien, Mali, dem Niger, Ni-
geria und dem Senegal anstreben, und inwiefern teilt die Bun-
desregierung die Befürchtung von Gerald Knaus, die er bei
einer Veranstaltung des Afrika-Vereins der deutschen Wirt-
schaft am 5. Oktober 2016 in Anwesenheit etlicher Mitarbeiter
des Auswärtigen Amts und des Bundesministeriums für wirt-
lich dass Flüchtlingsdeals mit afrikanischen Migrationstransit-
ländern menschenrechtlich nicht zu verantworten seien?
Herr Staatsminister, Sie haben das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege
Movassat, Ziel der Bundesregierung ist es, die Lebens-
bedingungen der Flüchtlinge sowohl in ihren Herkunfts-
ländern als auch in den Transitländern zu verbessern, die
Schleusung und den Menschenhandel zu bekämpfen,
Migration besser zu gestalten und zu steuern. Dafür ist
es nach Ansicht der Bundesregierung notwendig, mit den
Nachbarländern einen Dialog zu führen und vor allem
die migrationspolitische Zusammenarbeit zu verstärken.
Es gibt bislang keinen Beschluss der Europäischen
Union, mit weiteren Herkunfts- und Transitstaaten Ver-
handlungen über eine EU-Migrationspartnerschaft auf-
zunehmen. Sie wissen, dass bislang fünf Länder in die-
se Migrationspartnerschaften einbezogen worden sind:
Niger, Mali, Senegal, Äthiopien und Nigeria. Perspek-
tivisch setzt sich die Bundesregierung im EU-Kreis für
eine Ausweitung der migrationspolitischen Zusammen-
arbeit mit anderen Staaten ein. Dazu gehört auch Ägyp-
ten. Erst wenn hierüber im EU-Kreis Einigkeit erzielt
wurde, können wir über die Form und mögliche Schwer-
punkte einer solchen Zusammenarbeit reden bzw. sie be-
schließen. Dabei ist die Einhaltung menschenrechtlicher
Standards eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen
jeglicher migrationspolitischen Zusammenarbeit.
Herr Movassat.
Danke schön. – Es ist natürlich sehr gut, Herr Staats-minister, dass Sie die Frage der Menschenrechte sehrhoch aufhängen und zur Bedingung für diese Partner-schaft machen, weil Sie selber ja in einer Antwort aufeine Kleine Anfrage der Grünen relativ klar sagen, dassdie Situation hinsichtlich der Menschenrechte in Ägyp-ten besorgniserregend ist. Es gibt glaubhafte Berichteüber Folter und Misshandlung in Ägypten und darüber,dass eben auch Flüchtlinge aus Ägypten in den Sudanabgeschoben werden. Das heißt, sowohl die Situationder Ägypter im Hinblick auf die Menschenrechte ist sehrhttp://www.afrikaverein.de/fileadmin/user_upload/Pressemitteilungen/Africa%20Insight%20-%20Der%20Merkel-Plan.pdfhttp://www.afrikaverein.de/fileadmin/user_upload/Pressemitteilungen/Africa%20Insight%20-%20Der%20Merkel-Plan.pdfhttp://www.afrikaverein.de/fileadmin/user_upload/Pressemitteilungen/Africa%20Insight%20-%20Der%20Merkel-Plan.pdf
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 2016 20451
(C)
(D)
schlecht als auch die Situation der Flüchtlinge in Ägyp-ten.Vor diesem Hintergrund frage ich Sie, ob es wirklichsein kann, dass man erwägt – das haben Sie ja geradenoch einmal bestätigt –, die Migrationszusammenar-beit mit Ägypten auszubauen; denn ich kann mir kaumvorstellen, dass Sie erreichen, dass dies dort menschen-rechtsbasiert funktionieren kann. Vielmehr haben wirdort ein diktatorisches Regime, das Menschenrechte mitFüßen tritt und das im Bereich der Migrationspartner-schaft sicherlich nicht anders agieren würde.
Herr Staatsminister.
Frau Präsidentin! Herr Kollege Movassat, die migra-
tionspolitische Zusammenarbeit, die sogenannten Migra-
tionspartnerschaften, dienen den Migrantinnen und
Migranten und sind nicht auf Einzelinteressen von Re-
gimen und von Staaten ausgerichtet. Wir wollen nicht
Flüchtlinge bekämpfen, wir wollen die Ursachen von
Flucht bekämpfen, und wir wollen die Lage der Geflüch-
teten dort verbessern, wo sie leben. Das tun wir im Übri-
gen im Libanon, in Jordanien und in vielen anderen Staa-
ten, das tun wir auch in der Türkei. Genau darauf sind die
Migrationspartnerschaften ausgerichtet.
Es geht natürlich auch noch um eine Reihe von an-
deren Aspekten, die ich eingangs schon erwähnt habe.
Ich kann mich dabei nur noch einmal wiederholen: Sie
haben völlig recht, derzeit ist die Menschenrechtslage in
Ägypten besorgniserregend, und gerade deshalb, weil sie
besorgniserregend ist, richten wir ja auch unsere migrati-
onspolitische Zusammenarbeit auf die Verbesserung der
Menschenrechtslage aus.
Herr Movassat.
Sie müssten ja, wenn Sie mit Ägypten im Bereich
der Migration zusammenarbeiten wollen, mit dem
ägyptischen Staat zusammenarbeiten. Es ist ein offenes
Geheimnis, dass das Schlepperwesen in Ägypten im
Wesentlichen von zehn Familien organisiert wird, die
engste Kontakte in höchste Regierungs- und Militärkrei-
se haben. Mir ist zum Beispiel vor kurzem berichtet wor-
den, dass im Hafen von Alexandria zwei neue, moderne
Kliniken entstehen, in denen fortlaufend Transplantati-
onen von Nieren etc. vorgenommen werden, womit die
Flüchtlinge ihre Schleuser bezahlen können. Solche Ope-
rationen in einem Krankenhaus können natürlich nur mit
Wissen der Behörden, der offiziellen staatlichen Institu-
tionen, stattfinden. Mich würde interessieren: Was weiß
die Bundesregierung über derartige Verflechtungen zwi-
schen Schleusern und dem ägyptischen Staat, und wie
stellen Sie sich vor, mit demselben ägyptischen Staat,
der diese Schleuserbanden deckt, sie unterstützt und mit
ihnen zusammenarbeitet, nun das Schleuserwesen be-
kämpfen zu wollen?
Herr Staatsminister.
Ich habe schon deutlich gemacht, worum es uns
geht. Erstens. Wir sind der Verbesserung der Menschen-
rechtslage verpflichtet, gerade auch durch die Migrati-
onspartnerschaften, und selbstverständlich ist einer der
wesentlichen Schwerpunkte die Bekämpfung des Men-
schenschmuggels. Insofern liegen wir da auf einer Linie.
Ich könnte Ihnen jetzt für die Bundesregierung eine
Fülle von Beispielen benennen, wo aus unserer Sicht An-
lass zu großer Sorge besteht: Es gibt willkürliche Verhaf-
tungen; sie treffen nicht nur Anhänger der Muslimbrüder.
Vielmehr geraten zunehmend auch Menschenrechtsver-
teidiger, Gewerkschaftsvertreter, Journalisten, Wissen-
schaftler und friedliche Demonstranten in den Fokus der
Sicherheitsdienste; Menschenrechtsorganisationen wer-
den ausgegrenzt und diskriminiert.
Das sind nur einige wenige Beispiele, die belegen,
dass die Menschenrechtssituation in Ägypten dezidiert
nicht gut ist, im Gegenteil. Zu den von Ihnen konkret be-
nannten Fällen kann ich Ihnen derzeit nichts sagen; dazu
liegen mir keine weiteren Informationen vor. Ich bin aber
gerne bereit, mich darüber noch einmal entsprechend
kundig zu machen. Danke auch für Ihren Hinweis.
Frau Keul.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Staatsminister,
mich würde in diesem Zusammenhang einmal interes-
sieren, welche Rolle bei Ihren Überlegungen die Tatsa-
che spielt, dass Ägypten nach wie vor General Haftar in
Libyen militärisch unterstützt und Libyen destabilisiert.
Das ist für uns eines der größten Probleme. Dort sitzen
noch Hunderttausende von Flüchtlingen. Wie gehen Sie
damit um? Welche Möglichkeiten sehen Sie für die Bun-
desregierung, auf Ägypten einzuwirken, diese Destabili-
sierung einzustellen?
Frau Präsidentin! Frau Kollegin, Sie wissen ja, dasswir in den vergangenen Monaten und auch Jahren sehrintensiv daran gearbeitet haben, die Verhältnisse in Li-byen zu stabilisieren, auch durch die konkrete Unterstüt-zung der Regierung der Nationalen Einheit. Derzeit sindwir noch weit von den Verhältnissen entfernt, die wün-schenswert sind. Ich gebe Ihnen recht, dass die Lage derFlüchtlinge in Libyen dramatisch ist.Aber bezogen auf Ägypten geht es uns vor allem auchdarum – ich will das wiederholen –, die Situation der Ge-flüchteten, der Migrantinnen und Migranten zu verbes-sern. Von den rund 160 000 Geflüchteten, die seit Anfangdieses Jahres – Stand ungefähr Oktober – insbesonderenach Italien gekommen sind, haben ungefähr 10 Prozentden Seeweg über das Mittelmeer von Ägypten aus ge-startet. Also ist Ägypten weniger ein Herkunftsland fürNiema Movassat
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 201620452
(C)
(D)
Migration als vielmehr ein Transitland. Insofern spielt esfür uns eine ganz besonders wichtige Rolle. Die wichtig-ste Rolle dabei spielt Libyen. Aber die Verhältnisse sinddort deutlich fragiler und schlechter als in Ägypten.
Herr Hunko.
Vielen Dank. – Herr Staatsminister Roth, ungeachtet
der jetzt auch von Ihnen beschriebenen Verletzungen der
Menschenrechte in Ägypten hat die Bundesregierung
auch einen Polizeivertrag mit Ägypten unterzeichnet.
In diesem Polizeivertrag ist auch die Kooperation mit
dem berüchtigten Staatssicherheitsdienst NSS vorge-
sehen. Das ist faktisch ein Geheimdienst. Wir wissen,
dass das Bundeskriminalamt mit dem NSS kooperiert.
Aber die Inhalte dieses Polizeivertrages, dieses Abkom-
mens, blieben gegenüber uns Abgeordneten, gegenüber
der Bevölkerung bislang geheim. Wie können Sie diese
Geheimhaltung angesichts dieser Situation in Ägypten
rechtfertigen?
Herr Staatsminister.
Frau Präsidentin! Herr Abgeordneter Hunko, mit einer
Reihe von Staaten pflegen wir eine sicherheitspolitische
Zusammenarbeit, die vor allem darauf ausgerichtet ist,
die Sicherheitsdienste und insbesondere die Polizei auf
rechtsstaatliches Verhalten, auf die Achtung menschen-
rechtlicher Aspekte zu verpflichten. Wir wollen dabei
helfen. Wir wollen dabei konkret unterstützen. Die Maß-
stäbe, die ich jetzt genannt habe, gelten selbstverständlich
auch für die Sicherheitszusammenarbeit mit Ägypten.
Sie hatten nur eine Zusatzfrage, Herr Hunko; tut mir
leid.
Herr Ströbele.
Danke. – Herr Staatsminister, Sie haben mich jetzt
hier auf den Plan gerufen, weil Sie von der Anerkennung
der Regierung der Nationalen Einheit gesprochen und
auch erwähnt haben, dass die Bundesregierung diese Re-
gierung unterstützt; Sie haben sich auch darauf berufen.
Wie kommen Sie eigentlich dazu, diese Regierung der
Nationalen Einheit zu rechtfertigen, die von niemandem
im Land legitimiert ist – außer von auswärtigen Stellen?
Herr Staatsminister.
All das, was wir tun, tun wir natürlich in enger Ab-
stimmung mit den Vereinten Nationen. Auch Sie wissen,
dass Herr Kobler in Libyen eine wichtige Arbeit leistet.
Wir tun das natürlich auch in engster Abstimmung mit der
Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheits-
politik, Federica Mogherini, und damit auch in enger Zu-
sammenarbeit mit den Mitgliedstaaten der Europäischen
Union. Insofern ist das kein Alleingang, sondern das ist
eine abgestimmte Position, um ein fragiles Land – das ist
noch sehr diplomatisch formuliert – im Interesse der dort
lebenden Menschen zu stabilisieren.
Ich rufe die Frage 16 des Abgeordneten Hunko auf:
Welchen Stand hat die seit April 2014 ausstehende Be-
antwortung eines Fragenkatalogs der Bundesregierung an
die US-Regierung zur Beteiligung von US-Anlagen in Ram-
stein oder Stuttgart als Relaisstation am US-Drohnenkrieg
Auswärtige Amt zunächst „fortgesetzt“, dann „eindringlich“
und „mit Nachdruck“, zwischenzeitlich „fortgesetzt eindring-
lich“ und nunmehr „wiederholt nachdrücklich“ erinnert haben
Dr. Maria Böhmer mir auf meine mündliche Frage 3, Plenar-
protokoll 18/45, vor zweieinhalb Jahren die Beantwortung
„innerhalb weniger Wochen“ versprach, und inwiefern rechnet
die Bundesregierung während der Amtszeit des US-Präsiden-
ten Barack Obama überhaupt noch mit einer Beantwortung
bzw. sonstigen finalen Klärung ihrer offenen Fragen, zumal
amtierenden US-Präsidenten in Berlin in der 46. Kalenderwo-
che dieses Jahres zur Sprache kam?
Herr Staatsminister.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Hunko,die Bundesregierung hat sich zu dem Themenbereich,den Sie jetzt in Ihrer Frage angesprochen haben, bereitsam 28. September 2016 im Rahmen der PSK-Unterrich-tung der Obleute des Auswärtigen Ausschusses geäußert.Die Unterrichtung wurde damals von meinem Kollegen,dem Politischen Direktor des Auswärtigen Amts, vorge-nommen.Der Politische Direktor unterrichtete damals die Ob-leute des Auswärtigen Ausschusses über ein am 26. Au-gust 2016 erfolgtes Gespräch mit Vertretern der US-Bot-schaft im Auswärtigen Amt. Die US-Seite hat in demdamals stattgefundenen Gespräch bestätigt – abermalsbestätigt –, dass unbemannte Luftfahrzeuge von Ram-stein aus weder gestartet noch gesteuert würden. Sie teil-te überdies mit, dass die globalen Kommunikationswegeder USA zur Unterstützung unbemannter LuftfahrzeugeStaatsminister Michael Roth
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 2016 20453
(C)
(D)
Fernmeldepräsenzpunkte auch in Deutschland einschlös-sen, von denen aus die Signale weitergeleitet würden.Einsätze unbemannter Luftfahrzeuge würden von ver-schiedenen Standorten aus geflogen, unter Nutzung di-verser Fernmelderelaisschaltungen, von denen einigeauch in Ramstein laufen würden. Außerdem teilte sie mit,dass im Jahr 2015 in Ramstein eine Vorrichtung zur Ver-besserung der bereits zuvor vorhandenen Fernmeldeaus-stattung fertiggestellt worden sei, und sie hat uns darüberinformiert, dass Ramstein eine Reihe weiterer Aufgabenunterstütze, darunter die Planung, Überwachung, Aus-wertung von zugewiesenen Luftoperationen.In Reaktion auf diese neuen Informationen haben wirhochrangige Gespräche in Washington Mitte Septembergeführt, wiederum über unseren Politischen Direktor,und wir werden dazu selbstverständlich auch weiterhinmit der amerikanischen Seite in Kontakt bleiben.Für uns, Herr Abgeordneter Hunko, ist aber ein Punktganz entscheidend: Es gilt weiterhin die Zusicherung derVereinigten Staaten, dass Aktivitäten in US-Militärlie-genschaften in Deutschland im Einklang mit dem gelten-den Recht erfolgen.
Herr Hunko.
Vielen Dank. – Herr Staatsminister Roth, das ist jetzt
interessant. Wir haben über Jahre nachgefragt, ob Ram-
stein eine Relaisstation für den völkerrechtswidrigen
US-Drohnenkrieg ist.
Es ist jetzt zum ersten Mal die Bestätigung auch durch
die Bundesregierung gekommen, dass Ramstein eine Re-
laisstation ist. Vielen Dank dafür.
Mich würde schon interessieren, welche Konsequen-
zen Sie daraus ziehen. Sie sagen: Na ja, es ist nicht völ-
kerrechtswidrig, weil die USA sagen: Es ist nicht völ-
kerrechtswidrig. – Wie ist denn Ihre Einschätzung des
US-Drohnenkriegs, für den Ramstein eine zentrale Re-
laisstation ist?
Herr Staatsminister.
Ich habe Ihnen schon die Stellungnahme der Bundes-
regierung dazu übermittelt. Die Informationen, die für
Sie jetzt offenkundig neu sind, Herr Hunko, haben wir
bereits vor Monaten dem Auswärtigen Ausschuss ge-
geben. Aus der bloßen Tatsache, dass Deutschland den
USA Gelände für die Luftwaffenbasis Ramstein zur Ver-
fügung stellt, folgt keine allgemeine Verantwortung für
alle Einsätze, nur weil für diese relevante Steuerungssi-
gnale möglicherweise auch über Ramstein geleitet wer-
den könnten. Für uns gilt die Zusicherung der Vereinig-
ten Staaten, und diese Zusicherung habe ich Ihnen noch
einmal übermittelt.
Herr Hunko.
Vielen Dank. – Herr Roth, ich will sagen: Das ist kei-
ne neue Information für uns. Aber neu ist, dass die Bun-
desregierung das hier zum ersten Mal öffentlich macht.
Ich will trotzdem noch einmal nachfragen. Sie sagen,
die Zusicherung der USA sei für Sie maßgeblich. Wie
ist denn die eigene Einschätzung der Bundesregierung
bezüglich der Völkerrechtskonformität oder -nichtkon-
formität des US-Drohnenkriegs, der offenbar auch über
Ramstein läuft?
Noch einmal: Zu der Frage, ob solche Einsätze auch
ohne die Relaisstation in Ramstein durchgeführt werden
könnten, hat sich die US-Regierung ja nicht geäußert. Es
ist auch ausgesprochen unwahrscheinlich, Herr Kollege,
dass sich die amerikanische Regierung überhaupt zu ope-
rativen Details einschließlich solcher, zu denen Operati-
onen unbemannter Luftfahrzeuge gehören, äußern wird.
Für die Vereinigten Staaten von Amerika ist dies kein
völkerrechtswidriger Vorgang.
Insofern ist Ihnen die Position bekannt.
Es ist auch aus unserer Sicht so allgemein kein völker-
rechtswidriger Vorgang, weil wir uns – auch das zeichnet
die Rechtsprechung aus – nur den genauen und konkre-
ten Einzelfall veranschaulichen können. Ich kann nicht
generell von einem völkerrechtswidrigen Verhalten spre-
chen; wir können das nur auf den Einzelfall bezogen tun.
Insofern kann ich darüber auch nichts sagen; denn ich
vermag die Verantwortlichkeiten, die sich aus Ramstein
heraus ergeben, nicht zu beurteilen.
Herr Movassat.
Danke. – Herr Staatsminister, ich glaube, die Völ-kerrechtsliteratur, zumindest hier in Europa, ist sichweitgehend einig, dass der sogenannte Krieg gegen denTerror – unter diesem Label finden ja auch die US-Droh-neneinsätze statt – aus völkerrechtlicher Sicht nicht einenbewaffneten Konflikt darstellt. Man ist sich gleichzeitigeinig, dass außerhalb bewaffneter Konflikte die Tötungvon Menschen völkerrechtswidrig ist und damit natürlichauch gegen das Grundgesetz verstößt, weil die Regelndes Völkerrechts über das Grundgesetz Anwendung inDeutschland finden.Staatsminister Michael Roth
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 201620454
(C)
(D)
Insofern muss die Erkenntnis, dass über Ramstein dieFunksignale an die Drohnen übermittelt werden, für dieBundesregierung ein Grund sein, das völkerrechtlichintensivst zu prüfen und daraus Schlüsse zu ziehen. Icherinnere hier an eine Entscheidung des Verwaltungsge-richtes Köln, das, weil ihm ein Nachweis auf der Tatsa-chenebene nicht möglich war, die Klage von Jemeniten,die hier geklagt hatten, abgewiesen hat. Aber das, wasSie hier sagen, ändert natürlich schon die Tatsachen-grundlage.Daher meine Frage: Welche völkerrechtliche Prüfungplant die Bundesregierung zu diesem Thema? Oder wol-len Sie sich ausschließlich auf das verlassen, was dieUS-Regierung Ihnen mitteilt?
Frau Präsidentin! Herr Abgeordneter Movassat, wir
verlassen uns ja nicht alleine auf die Aussagen, sondern
wir bleiben mit den Vereinigten Staaten im regelmäßigen
Gespräch. Wir bleiben da am Ball, um die notwendigen
Informationen zu erhalten.
Ich habe aber schon deutlich gemacht, dass die Be-
wertung von Einsätzen unbemannter Luftfahrzeuge aus
Sicht der Bundesregierung immer von den Umständen
des Einzelfalls abhängig ist. Wir können deshalb keine
pauschalen Äußerungen und Bewertungen darüber tref-
fen.
Herr Ströbele.
Herr Staatsminister, es ist doch immer wieder wichtig,
dass man in die Fragestunde kommt; –
Stimmt.
– denn da bekommt man tatsächlich auch mal neue
Informationen. – Ich gehe davon aus, dass dem Außen-
ministerium und auch Ihnen bekannt ist, dass ein aus-
gewachsener Untersuchungsausschuss des Deutschen
Bundestages sich intensiv mit diesem Thema beschäftigt,
insbesondere mit dem, was über Ramstein geschieht.
Jetzt meine konkrete Frage: Ist der Bundesregierung
bzw. dem Außenministerium bekannt, dass im Unter-
suchungsausschuss ein Zeuge aus den USA, Brandon
Bryant, ausgesagt hat, dass er selber ein solcher Droh-
nenpilot gewesen ist, der die Drohnen von den USA in
Ziele etwa in Somalia gelenkt hat, dass die Befehle, die
er dazu bekommen hat, und die Leitungen immer über
Ramstein gelaufen sind, dass er weit über 1 000 solcher
Einsätze – also von den USA aus gelenkt – geflogen hat,
dass dabei viele Menschen umgekommen sind und dass
er für diese Tätigkeit sogar einen Orden in den USA be-
kommen hat? Ist das nicht Anlass genug für die Bundes-
regierung, der Frage nachzugehen, ob die Einsätze, die
über Ramstein laufen, nicht tatsächlich auch gegen deut-
sches Recht verstoßen – die einzelnen Einsätze?
Frau Präsidentin! Herr Ströbele, auch ich freue mich
immer sehr, wenn Sie hier sind; das ist für mich gewinn-
bringend, sehr häufig zumindest.
Ich will noch einmal deutlich machen, dass wir uns
nicht einfach nur auf irgendwelche Informationen verlas-
sen, sondern Ansprechpartner für uns ist die Regierung
der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Aussagen sind
für uns die Informationen, die ich an Sie und an Kolle-
ginnen und Kollegen des Bundestages weiterleite. Das
habe ich heute getan. Das haben die Kolleginnen und
Kollegen bereits im Sommer getan, unmittelbar nach
den neuen Erkenntnissen, die uns seitens der Vereinigten
Staaten übermittelt worden sind.
Ich will noch hinzufügen, dass die Vereinigten Staaten
für die Drohneneinsätze konkrete, am Völkerrecht orien-
tierte Regeln entwickelt haben, die kürzlich öffentlich zu-
gänglich gemacht worden sind. Im Juli und August dieses
Jahres wurden neue und bestehende US-Richtlinien zu
Einsätzen unbemannter Luftfahrzeuge veröffentlicht. Ich
sage das noch einmal, weil selbstverständlich auch für
uns das Völkerrecht strikt gilt. Die Vereinigten Staaten
haben uns gegenüber zum Ausdruck gebracht, dass diese
Maßstäbe selbstverständlich auch für sie gelten.
Dr. Neu.
Vor gut einem Jahr waren Kollege Ströbele und ichunter anderem in Ramstein. Wir haben den dortigenKommandanten gefragt, ob es irgendeine Verbindungzwischen Ramstein und den Drohneneinsätzen gibt. Dashat er aufgrund der militärischen Signalerfassung ausge-schlossen. Das heißt, der dortige Kommandant hat uns,Kollegen Ströbele und mich, offensichtlich belogen. Soist der Stand, den Sie uns gerade mitgeteilt haben, dassdurchaus die Relaisstation Ramstein eine wesentlicheRolle spielt. Wir halten fest: Der US-amerikanischeKommandant in Ramstein hat die Abgeordneten desDeutschen Bundestages im Oktober 2015 bezüglich derFrage, inwiefern Ramstein eine Rolle im Drohnenkriegspielt, belogen.Nun zu meiner Frage: Der Bundesgerichtshof inLeipzig hat infolge des Irakkrieges 2003 das Urteil ge-fällt, dass auch die Zurverfügungstellung des eigenenTerritoriums – in diesem Fall Deutschland –, sei es derLuftraum, sei es der Boden, für Dritte – in diesem Fall dieUSA – für völkerrechtswidrige Kriege eine Beteiligungan einem völkerrechtswidrigen Einsatz darstellt. MeineFrage ist: Wie bewerten Sie dieses Urteil des Bundesge-richtshofs aus dem Jahre 2003 vor dem Hintergrund IhrerInterpretation?Niema Movassat
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 2016 20455
(C)
(D)
Herr Staatsminister.
Frau Präsidentin! Herr Kollege Neu, ich kann mich
nur noch einmal wiederholen: Es gilt nach wie vor die
strikte Zusicherung der Regierung der Vereinigten Staa-
ten von Amerika, dass in Deutschland geltendes Recht
eingehalten wird.
Darüber hinaus kann ich zu Ihrer Spekulation, dass je-
mand die Unwahrheit gesagt hat, nichts sagen, weil ich
die Aussagen des Repräsentanten der US-Armee, den Sie
und Herr Ströbele getroffen haben, nicht kenne.
Damit ist der Geschäftsbereich beendet.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums des Innern. Die Beantwortung übernimmt
der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Schröder.
Ich rufe Frage 17 des Abgeordneten Andrej Hunko
auf:
Was ist der Bundesregierung darüber bekannt, ob die
EU-Polizeiausbildungsmission EUBAM Libyen, an der auch
die deutsche Bundespolizei beteiligt ist, die libysche Einheits-
regierung dazu berät, wohin Geflüchtete zu verbringen wä-
heitsgewässern aufgreift, und was kann die Bundesregierung
zu Plänen oder Maßnahmen mitteilen, die Voraussetzungen für
den Übergang von EUNAVFOR MED zur „Phase 3“ zu schaf-
fen, was laut der taz.die tageszeitung vom 24. November 2016
unter anderem bedeutet, dass Libyen Migranten nach interna-
tionalen Standards aufnehmen können muss, wozu die Zeitung
schreibt, es gebe unter den 24 libyschen Internierungslagern
auch solche, die der Regierung unterstehen?
Herr Staatssekretär.
D
Frau Präsidentin! Herr Kollege Hunko, ich beantworte
Ihre Frage wie folgt: Nach Kenntnis der Bundesregierung
gibt es keine Beratung libyscher Behörden durch die zi-
vile Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik,
Mission EUBAM, European Union Border Assistance
Mission Libyen, zur Verbringung von aufgegriffenen
Migranten. Eine solche Beratung ist auch nicht vorge-
sehen.
Die militärische GSVP-Mission EUNAVFOR MED
Operation Sophia befindet sich derzeit in der gemäß
Ratsbeschluss vom 18. Mai 2015 vorgesehenen Phase 2i.
Das umfasst das An-Bord-Gehen, Durchsuchen, Be-
schlagnahmen und Umleiten von Schleuserschiffen.
Am 23. Mai 2016 wurde das Mandat der Operation
um die zusätzlichen Aufgaben „Unterstützung der liby-
schen Küstenwache und Marine durch Ausbildung und
Kapazitätsaufbau“ sowie „Maßnahmen auf Hoher See
zur Durchsetzung des Waffenembargos von und nach Li-
byen“ erweitert. Die Bundesregierung hat keine Kennt-
nis von Plänen oder Maßnahmen zur Vorbereitung eines
Übergangs in Phase 3 der Operation.
Herr Hunko.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Dr. Schröder,
welche der nach meiner Kenntnis 18 libyschen Gefäng-
nisse oder sonstigen geschlossenen Verwahranstalten,
in denen Migranten festgehalten werden, unterstehen
jetzt der libyschen Einheitsregierung, und welche dieser
Anstalten werden von den Milizen geführt, die sich nur
manchmal der Einheitsregierung gegenüber loyal erklä-
ren?
In einer früheren Antwort hatten Sie mir bestätigt,
dass Migranten in libyschen Gefängnissen misshandelt
und gefoltert werden. Ich gehe auch davon aus, dass
sich das nicht geändert hat; Berichte von Human Rights
Watch und Amnesty International bestätigen das. Haben
Sie einen Überblick über die 18 Gefängnisse, in denen
Migranten festgehalten werden?
Herr Staatssekretär.
D
Darüber haben wir keinen Überblick. Diese Polizei-
mission befindet sich zurzeit auch nicht in Libyen, son-
dern außerhalb Libyens, und ist, nur wenn es die Sicher-
heitslage zulässt, tageweise in Libyen.
Herr Hunko.
Vielen Dank. – Eine Studie des Overseas Development
Institute vom September dieses Jahres zählt mindestens
3 500 afrikanische Migranten, die in überfüllten liby-
schen Gefängnissen interniert sind. Über welche Zahlen
verfügt die Bundesregierung? Trifft es zu, dass die Ge-
fangenen weder Zugang zu einem ordentlichen Verfahren
haben noch von ihren Familien besucht werden können,
und wie wollen Sie einwirken, um das zu ändern?
Herr Staatssekretär.
D
Hierzu besitzt die Bundesregierung keine eigenen Er-kenntnisse.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 201620456
(C)
(D)
Die Fragen 18 und 19 der Abgeordneten Ulla Jelpke
werden schriftlich beantwortet.
Damit rufe ich jetzt die Frage 20 des Abgeordneten
Beck auf:
Wie viele homo- bzw. transphob motivierte Straf- und
Gewalttaten wurden nach Kenntnis
der Bundesregierung im ersten Halbjahr bzw. den ersten drei
Quartalen 2016 im Vergleich zum Vorjahr erfasst, und welche
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
D
Herr Kollege, ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Für
das Jahr 2016 wurden bis Ende September 205 politisch
motivierte Straftaten mit der Nennung des Unterthemas
sexuelle Orientierung gemeldet. Zu diesen 205 poli-
tisch motivierten Straftaten konnten 99 Tatverdächtige
ermittelt werden. Im vergangenen Jahr, 2015, waren es
bis Ende September 171 entsprechende Straftaten und
86 Tatverdächtige.
In dieser Kategorie werden nicht nur homo- und trans-
phobe Straftaten erfasst, sondern alle gegen Lesben,
Schwule, Trans- und Intersexuelle motivierten Strafta-
ten. Zu beachten ist außerdem, dass es sich um vorläufi-
ge Fallzahlen handelt, die sich bis zum Meldeschluss am
31. Januar 2017 noch verändern können, weil es sich hier
um eine Verlaufsstatistik handelt.
Herr Beck.
Der Anstieg, den Sie aber vermelden können, deckt
sich mit Beobachtungen der Polizei in Berlin, die von ei-
nem noch dramatischeren Anstieg in diesem Jahr ausgeht.
Danach sind im ersten Dreivierteljahr so viele homo- und
transphobe Straftaten begangen worden wie im ganzen
letzten Jahr. Das wäre ein Anstieg um über 30 Prozent.
Ich wollte Sie fragen, wie die Bundesregierung auf diese
dramatische Erhöhung der Zahl der Straftaten in diesem
Bereich reagiert und wie sie sich diese Erhöhung erklärt.
Herr Staatssekretär.
D
Wir haben es mit einer Erhöhung zu tun. Soweit wir
es beurteilen, sind es aber Schwankungen, die sich im
Rahmen der letzten Jahre abgespielt haben. Aber natür-
lich müssen wir da sehr wachsam sein und insbesondere
auch berücksichtigen, dass nicht alle Straftaten gemeldet
werden.
Herr Beck.
Sie haben ja aufgeführt, dass laut Statistik 99 Tatver-
dächtige ermittelt wurden. Mich interessiert auch, inwie-
fern man diese Täter – ich glaube, das hatte ich in der
Ausgangsfrage eigentlich auch gefragt – den verschiede-
nen Kategorien der politisch motivierten Kriminalität –
„links“, „rechts“, „Ausländerkriminalität“ und „sonsti-
ge“ – zuordnen kann.
Herr Staatssekretär.
D
Das wird aufgeführt. Ich würde Ihnen die Zahlen ger-
ne schriftlich zur Verfügung stellen, wenn es Ihnen recht
ist.
Damit rufe ich jetzt die Frage 21 ebenfalls des Abge-
ordneten Beck auf:
Wie viele islamfeindliche Gewalt- und Straftaten wurden
nach Kenntnis der Bundesregierung seit Jahresbeginn 2016
erfasst, und wie viele Menschen waren von diesen Taten be-
troffen?
Herr Staatssekretär, Sie haben wieder das Wort.
D
Bislang werden im Rahmen des Kriminalpolizeilichen
Meldedienstes politisch motivierte Kriminalität und is-
lamfeindliche Straftaten als Teilmenge der Hasskrimi-
nalität erfasst. Diese Straftaten sind aber nicht gesondert
bezifferbar.
Ab dem 1. Januar 2017 werden wir islamfeindliche
Straftaten als eigenständige Kategorie in der Statistik
erfassen. Das hat die Innenministerkonferenz auf ihrer
Frühjahrssitzung beschlossen. Im kommenden Jahr wer-
den wir dann einen noch genaueren Überblick über die
Lage haben. Das ist insbesondere vor dem Hintergrund
der Flüchtlingsdebatte und der anstehenden Bundestags-
wahl sehr zu begrüßen.
Herr Beck.
Das heißt, Ihnen liegen keine Erkenntnisse vor überdas Ausmaß von islamfeindlichen Straftaten sowohl ge-gen Personen als auch gegen Einrichtungen. Denn derEindruck, der uns insbesondere von den islamischen Ver-bänden vermittelt wird, ist, dass in letzter Zeit zumindestdie Zahl der Anschläge auf Moscheen und Einrichtun-gen – Schmierereien, Hassparolen und dergleichen – zu-genommen hat. Man hätte natürlich gerne ein validesGesamtbild.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 2016 20457
(C)
(D)
Herr Staatssekretär.
D
Wie gesagt: Islamfeindliche Straftaten werden ab dem
1. Januar 2017 als eigenständige Kategorie erfasst. Erst
dann können wir die entsprechenden Zahlen liefern.
Es gibt Zahlen über das Angriffsziel Moschee. Bis
Ende September 2016 wurden dem Bundeskriminalamt
insgesamt 65 Straftaten gemeldet, davon 4 Gewaltde-
likte, 2 Brandstiftungen, 1 Sprengstoffdelikt und 1 Kör-
perverletzung, bei der eine Person verletzt wurde. Im
Jahr 2015 gab es bis Ende September erst 50 Straftaten,
eine dieser Straftaten war ein Gewaltdelikt. Glücklicher-
weise kam bei dem Gewaltdelikt im Jahr 2015 keine Per-
son zu Schaden.
Herr Beck.
Die Tendenz bei beiden Fragen – vorhin Homo- und
Transphobie und jetzt Islamfeindlichkeit – scheint darauf
hinzudeuten, dass Straftaten, die durch gruppenbezo-
gene Menschenfeindlichkeit motiviert sind, zunehmen.
Das entspricht auch den Ergebnissen der Untersuchun-
gen der Universität Leipzig bezüglich autoritärer und
rechtsextremer Einstellungen in Deutschland – Stichwort
„Mitte“-Studie – und dergleichen mehr. Welche Konse-
quenzen will die Bundesregierung ziehen, um dieser Ent-
wicklung sowohl hinsichtlich der Einstellungen als auch
hinsichtlich der Taten, die aus den Einstellungen folgen,
präventiv entgegenzusteuern?
Herr Staatssekretär.
D
Es gibt einen entsprechenden Aktionsplan der Bundes-
regierung, der Anfang 2017 verabschiedet werden soll.
Ich habe noch die Zahlen der homo- bzw. transphob
motivierten Straftaten gefunden, nach denen Sie eben ge-
fragt haben. Sie fragten auch, durch wen Straftaten began-
gen wurden. Mir liegen die Zahlen für das Jahr 2015 vor:
aus dem Bereich „links“: 3, aus dem Bereich „rechts“:
98, aus dem Bereich „Ausländer“: 22, „sonstige“: 99. Ich
kann die Zahlen aber gerne auch noch schriftlich nach-
reichen.
Vielen Dank. – Ich rufe die Frage 22 des Abgeordne-
ten Christian Ströbele auf:
Haben Nachrichtendienste des Bundes seit 1985 entgegen
ben teils aus anderen als Bundessteuermitteln bestritten, etwa
durch ergänzende Zuwendungen privater Dritter oder aus
wie lauten – bejahendenfalls – die Einzelheiten (Dienst, Jahr,
Zuwender, Betrag, Zweck)?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
D
Das Bundesamt für Verfassungsschutz bestreitet seine
Ausgaben vollständig aus dem Bundeshaushalt. Die Aus-
gaben des BfV werden gemäß § 10a Absatz 3 der Bun-
deshaushaltsordnung jährlich vom Bundesrechnungshof
geprüft. Der Bundesrechnungshof unterrichtet das Ver-
trauensgremium und das Parlamentarische Kontrollgre-
mium über das Ergebnis der Prüfung. Ein Verstoß gegen
den Haushaltsgrundsatz der Vollständigkeit wurde für
das BfV dabei nicht festgestellt.
Zum Militärischen Abschirmdienst. Er bestreitet seine
Ausgaben ebenfalls ausschließlich aus Haushaltsmitteln
des Bundes. Seine Ausgaben sind im Einzelplan 14 des
Bundeshaushalts entsprechend veranschlagt.
Der Bundesnachrichtendienst hat seit 1985 ebenfalls
keine Ausgaben entgegen der zitierten Drucksache des
Bundestages bestritten.
Ich möchte darauf hinweisen, dass es uns angesichts
des sehr langen Zeitraums, der hier abgefragt wird, näm-
lich seit 1985, nicht möglich war, eine intensivere Suche
über die 30 Jahre zurückliegenden Sachverhalte durchzu-
führen. Dazu hat die Zeit einfach nicht ausgereicht.
Herr Ströbele.
Herr Staatssekretär, das, was Sie mir jetzt gesagt ha-
ben, war mir schon bekannt. – Mich wundert übrigens,
dass Sie die Frage beantworten. Soweit ich informiert
bin, liegt die Koordination der Nachrichtendienste in den
Händen des Bundeskanzleramtes und nicht in den Hän-
den des Innenministeriums; aber wenn Sie sich kundig
gemacht haben, nehme ich das zur Kenntnis. – Eines ist
mir nicht bekannt, und deshalb frage ich ganz konkret
nach – ich weiß nicht, ob Sie die Frage beantworten
können, auch für den Bundesnachrichtendienst –: Hatte
ein Nachrichtendienst der Bundesrepublik Deutschland
in dieser Zeit jemals Firmen – danach habe ich ja auch
gefragt – selber oder über Vertrauenspersonen, Mittels-
personen, wie auch immer, gegründet, die finanzielle Ge-
schäfte getätigt haben?
Herr Staatssekretär.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 201620458
(C)
(D)
D
Jedenfalls hat sich der Bundesnachrichtendienst nach
1985 so verhalten, wie es in der entsprechenden Druck-
sache von ihm verlangt wurde.
Na, das beantwortet meine Frage natürlich wieder
nicht. – Meine letzte Frage, ganz konkret – unter ande-
rem darauf zielt die ganze Frage –: Hat der Bundesnach-
richtendienst oder der Verfassungsschutz – der Bundes-
nachrichtendienst liegt da wesentlich näher – jemals von
dem Mitarbeiter Herr Mauss, der mit Klarnamen Mauss
heißt, aber mit den verschiedensten Namen unterwegs
gewesen ist, gegen den derzeit ein Strafprozess wegen
solcher finanzieller – möglicherweise – Manipulationen,
direkt oder indirekt über seine Anwälte Geld bezogen?
Herr Staatssekretär.
D
Dazu kann ich Ihnen keine Auskunft geben.
Frau Kollegin, Sie haben das Wort.
Wenn das Bundesinnenministerium dazu aus Zustän-
digkeitsgründen keine Aussage treffen kann, würde ich
das Bundeskanzleramt bitten, zu antworten.
D
Es geht ja nicht um die Zuständigkeit. Gefragt wurde
ja in der ursprünglichen Frage nach dem Zeitraum nach
1985. Ob irgendwann vor 1985 so etwas stattgefunden
hat – der Kollege Ströbele hat ja gefragt, ob „jemals“ so
etwas stattgefunden hat –, darüber habe ich einfach keine
Kenntnisse.
Ich würde jetzt trotzdem den Staatsminister fragen, ob
er die Frage der Kollegin Lemke beantworten kann.
D
Frau Präsidentin! Ich kann den Aussagen des Kolle-
gen Schröder nichts hinzufügen.
Sie können keine zweite Frage stellen. Sorry. – Herr
Kollege Beck.
Ich wollte die Bundesregierung fragen, ab welchem
Zeitraum sie garantieren kann, dass diese Praxis, die vom
Kollegen Ströbele abgefragt wurde, definitiv nicht mehr
stattgefunden hat oder nicht stattgefunden hat.
Herr Staatssekretär.
D
In dem Zeitraum, der von ihm in der ursprünglichen
Frage abgefragt wird, nämlich seit 1985.
– Herr Ströbele hat ja gefragt, ob „jemals“ so etwas
stattgefunden hat. Da kann ich nur wiederholen, dass
der Bundesnachrichtendienst seit 1985 keine Ausgaben
entgegen den Angaben in der zitierten Drucksache des
Bundestages bestritten hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Siewirklich bitten. Wir haben hier eine Fragestunde. Siemüssen Ihre Fragen schon präzise stellen.
– Das haben Sie ja auch gemacht.
– Das hat er auch getan, soweit ich ihn verstanden habe,Herr Beck.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 2016 20459
(C)
(D)
– Ich bin immer daran interessiert, dass die Kollegen eineAntwort erhalten. – Herr Schröder.D
Ich habe für die anderen Dienste bereits geantwortet.
Daraus ergibt sich, dass auch für die anderen Dienste für
den Zeitraum nach 1985 solche Ausgaben nicht getätigt
wurden. Das können Sie im Protokoll noch einmal nach-
lesen.
Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, kommen wir
jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der
Justiz und für Verbraucherschutz. Die Frage 23 des Ab-
geordneten Özcan Mutlu wird schriftlich beantwortet.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Finanzen. Die Frage 24 des Abge-
ordneten Hans-Christian Ströbele sowie die Fragen 25
und 26 der Abgeordneten Sabine Zimmermann werden
schriftlich beantwortet.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Arbeit und Soziales. Die Frage 27 der
Abgeordneten Brigitte Pothmer sowie die Fragen 28 und
29 der Abgeordneten Katrin Werner werden schriftlich
beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi-
nisteriums der Verteidigung. Ich rufe die Frage 30 des
Abgeordneten Dr. Alexander Neu auf:
Welche Erkenntnisse besitzen die Bundesregierung und
nachgeordnete Behörden/Stellen über die Anwesenheit von
Angehörigen der Bundeswehr und deutscher Nachrichten-
ten seit Juli 2015?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
D
Herr Kollege Neu, ich antworte Ihnen wie folgt: Seit
Juli 2015 befanden und befinden sich keine Angehörigen
der Bundeswehr in staatlicher Funktion oder im Auftrag
einer internationalen Organisation auf syrischem Staats-
gebiet. Über die Anwesenheit von Angehörigen deutscher
Nachrichtendienste kann aus Gründen des Staatswohls
nicht offen informiert werden. Arbeitsmethoden und
Vorgehensweisen der Nachrichtendienste des Bundes
sind im Hinblick auf die künftige Erfüllung des gesetz-
lichen Auftrags aus § 1 Absatz 2 des Gesetzes über den
Bundesnachrichtendienst besonders schutzwürdig. Dies-
bezüglich wird auf die Bundestagsdrucksache 18/9876
verwiesen, in der eine Teilantwort der Bundesregierung
als Verschlusssache gemäß § 3 Nummer 2 Verschluss-
sachenanweisung mit dem Geheimhaltungsgrad Geheim
eingestuft und zur Einsichtnahme bei der Geheimschutz-
stelle des Deutschen Bundestages hinterlegt ist.
Herr Neu.
Se
Liegen der Bundesregierung
oder nachgeordneten Instanzen Erkenntnisse vor, dass
deutsche Staatsbürger im Dienst von Söldnerfirmen, von
Sicherheitsfirmen, seien es deutsche, seien es ausländi-
sche Sicherheitsfirmen, auf syrischem Territorium tätig
sind?
Herr Staatssekretär.
D
Herr Kollege Neu, Sie haben die Frage gestellt in
Bezug auf Angehörige der Bundeswehr und deutscher
Nachrichtendienste.
Diese Frage habe ich Ihnen beantwortet. Darüber hinaus
habe ich zu der von Ihnen jetzt aufgeworfenen Zusatzfra-
ge keine Erkenntnisse.
Herr Neu, noch eine weitere Frage?
Wir werden die Frage nachreichen.
Die Frage 31 der Abgeordneten Heike Hänsel wirdschriftlich beantwortet.Damit sind wir beim Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur. DieFragen 32 und 33 des Abgeordneten Stephan Kühn, dieFrage 34 des Abgeordneten Oliver Krischer, die Fra-gen 35 und 36 der Abgeordneten Katrin Kunert sowie dieFragen 37 und 38 des Abgeordneten Achim Post werdenschriftlich beantwortet.Damit ist die Fragestunde beendet.Ich unterbreche die Sitzung. Wir setzen die Sitzungum 15.35 Uhr fort mit der Aktuellen Stunde zur aktuellenLage in Aleppo und Syrien.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 201620460
(C)
(D)
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir setzen unsereunterbrochene Sitzung fort. Ich rufe den Zusatzpunkt 1auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENAktuelle Lage in Aleppo und SyrienIch eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hatKatrin Göring-Eckardt für die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen das Wort.
Frau Präsidentin! Lassen Sie mich eingangs ein Wortdirekt an das syrische Volk richten: Ajjuha al-Schaabal-Suri, nahnu nufakkiru bi-kum. – Verehrtes syrischesVolk, wir denken an euch.Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir können in dieser Woche nicht hier im Parlament sit-zen, ohne über Aleppo zu sprechen. 250 000 Menschenleben derzeit in der belagerten Stadt – so viele wie in Kieloder Erfurt. Sie werden täglich von Flugzeugen des syri-schen Regimes und von Russland bombardiert. Ein nor-males Leben hat es seit 2012 nicht mehr gegeben. VierJahre Krieg. Jeden Tag. Die Bewohner Aleppos habenkaum noch Versorgung mit Nahrungsmitteln und Wasserund keine funktionierenden Krankenhäuser mehr. Kran-kenhäuser wurden bombardiert.Allein in den letzten sechs Monaten hat sich die Zahlder belagerten Menschen in Syrien auf über eine Milli-on verdoppelt. Das alles ist schlimm genug, aber das istnicht alles. Dazu kommen bunkerbrechende Bomben,Fassbomben, Angriffe mit Giftgas, wie erst diese Wochein Aleppo. Das alles sind Kriegsverbrechen, und wir soll-ten sie auch so nennen.
Jeden Tag bergen die Weißhelme und die verbliebe-nen Zivilisten tote und verletzte Menschen, tote und ver-letzte Kinder aus den zerbombten Häusern. Das passiertin Aleppo. Aber genauso können wir auch über Madaja,Duma, Sabadani oder Jarmuk reden. In all diesen Städtengibt es weiterhin Menschen, die leben wollen, die jedesRecht auf Leben haben, Menschen, die unsere Nachbarnund Freunde sein könnten, Menschen, die mit der halbenMillion Syrerinnen und Syrer in unserem Land verwandtoder befreundet sind. Auch an die denke ich, wenn ichjeden Tag die furchtbaren Nachrichten sehe.Was dieser Tage in Aleppo, in Syrien passiert, wirdsich historisch in eine Reihe finden mit Ruanda, Grosnyund Srebrenica. Wie damals gibt es bei den meisten vonuns ein Gefühl der Ohnmacht. Wie damals sind wir derSchutzverantwortung nicht gerecht geworden. Und ge-rade darum will ich die Regierung fragen, will ich aberauch uns alle fragen: Tun Sie, tun wir wirklich genugfür den Frieden? Tun Sie, tun wir wirklich genug, umwenigstens ein bisschen mehr Humanität nach Syrien zubringen? Tun Sie, tun wir wirklich genug, um die, die denHorror verantworten, nicht straffrei aus diesem Krieg ge-hen zu lassen? – Das klingt nach drei einfachen Fragen.Aber ich frage Sie und auch uns noch einmal: Tun wirwirklich genug? Ich denke, man kann nie genug tun.Eine Syrerin hat am Montagabend auf einer Veranstal-tung zur Ehrung der Weißhelme hier in Berlin gesagt: Ichweiß auch nicht genau, was man tun kann. Aber wennich nichts tun kann, dann kann ich wenigstens Lärm ma-chen. – Insofern ist es das Mindeste, was wir tun können,in dieser Woche hier und weiter und immer weiter überSyrien zu reden, liebe Kolleginnen und Kollegen, unsnicht wegzuducken, sondern weiter nachzudenken.
Ich bin auch der Meinung, dass wir und Sie von derBundesregierung mehr tun können und müssen.Erstens. Wie steht es um die humanitäre Versorgungder Menschen in Syrien? Können wir nicht doch mehrtun, um die Versorgung vom Boden oder aus der Luftzu gewährleisten? Meine Damen und Herren, doch, ichdenke, wir können!
Und liebe Koalitionsfraktionen, können Sie nicht nocheinmal überlegen, ob es wirklich angemessen ist, denFamiliennachzug weiter auszusetzen? Heute sind 70 000weitere Menschen auf der Flucht in Aleppo. Ich finde,das ist ein Gebot der Humanität in diesen Tagen, an die-sem Tag.
Zweitens. Wie sieht es aus mit den belagerten Städten,wenn sie aufgeben müssen? Übernehmen Assad, Russ-land und Iran anders als bei Daraja die Verantwortung fürdie Sicherheit der Zivilbevölkerung? Stellen sie sicher,dass es nicht zu ethnischen Säuberungen kommt? Gibt esausreichend Druck auf sie? Drei Fragezeichen!Drittens. Wie aktiv redet die Bundesregierung mit denAkteuren im Konflikt? Gibt es genug Druck? Gibt es Ge-spräche mit der iranischen Regierung, mit der saudi-ara-bischen, mit der katarischen? Ich weiß, es ist kompliziert,Druck auszuüben und etwas zu erreichen, aber ich weißauch: Wir dürfen nicht nachlassen, und Sie dürfen nichtnachlassen, meine Damen und Herren.
Und Russland? Staffan de Mistura hat uns letzte Wo-che berichtet, dass aus seiner Sicht derzeit in Moskau derSchlüssel zum Frieden liegt. Das Bomben muss aufhören.Der Schutz der Zivilbevölkerung muss endlich garantiertwerden. Das zerstörte Land muss auch wiederaufgebautwerden. Putin muss Verantwortung übernehmen, und da-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 2016 20461
(C)
(D)
raus dürfen wir ihn nicht entlassen, meine Damen undHerren.
Wir dürfen die Menschen in Syrien nicht vergessen.Es sind unsere Nachbarn. Es geht darum, ob es Ost-Alep-po in ein paar Wochen, in ein paar Tagen überhaupt nochgeben wird. Es geht um unsere Verantwortung. Zuschau-en ist keine Option, und Zurückhaltung ist keine Mög-lichkeit. Es ist an uns, wenigstens laut zu sein und jedenTag – jeden Tag! – neu zu überlegen: Tun Sie als Regie-rung genug? Tun wir alle wirklich genug?Nahnu nufakkiru bi-kum. – Wir denken an euch.Vielen Dank.
Als nächster Redner hat Dr. Norbert Röttgen für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Meine Vorrednerin, Kollegin Göring-Eckardt, hat,so gut es geht, den Horror in Aleppo in Worte gefasst.Ich glaube, nachempfinden kann man es nicht, wenn mandie Hölle dort nicht selbst erlebt hat. Es sind auch dieVerantwortlichen genannt worden: das Assad-Regime,Russland – eine aktive Kriegspartei –, Iran, das schiiti-sche Milizen finanziert und steuert, und auch dschihadis-tische Terroristen.Aus dem ganzen Komplex, den man hier benennenmüsste, möchte ich einen Aspekt herausgreifen. Ichmöchte über uns reden – mit „uns“ meine ich Deutsch-land, Europa, die USA, den Westen.Nach meiner Einschätzung steht Aleppo für das größ-te Desaster westlicher Außenpolitik in den letzten Jahr-zehnten. Eine Erscheinungsform des Desasters ist unsereOhnmacht angesichts des Leids, der Hunderttausendenvon Toten, der brutalen Gewalt, des Kriegsverbrechensals Alltag. Ich möchte mich mit dieser Ohnmacht be-schäftigen: Was sind die Einflüsse, auf die wir nichteinwirken können? Sind wir wirklich ohnmächtig, oderkönnten wir etwas tun?Das Erste, was ich sagen möchte, ist: Die Ohnmachtzu überwinden, beginnt damit, dass wir die Realität unse-rer Einflusslosigkeit aussprechen, statt uns immer wiederin eine ritualisierte Appell- und Betroffenheitsrhetorik zuflüchten, die so tut, als würden wir Politik machen, dieaber eigentlich nur der Schein von Politik ist.Wer einen Zweifel an europäischer Einflusslosigkeithat, der kann nach Lausanne gucken, wo Staaten zusam-mensitzen, um zu verhandeln, um eine politische Lösungzu erreichen. An diesem Verhandlungstisch sitzt die Tür-kei, und an diesem Verhandlungstisch sitzt aus gutenGründen auch Katar, ein Land mit 300 000 Einwohnern.Von den 28 Mitgliedsländern der Europäischen Unionsitzt kein einziges an diesem Tisch, auch die EuropäischeUnion selbst nicht. Wir sind die Nachbarregion, die wiekeine zweite Weltregion von diesem Elend betroffen ist.Es ist unsere Nachbarregion, aber wir als Europäer sitzennoch nicht einmal am Tisch.Wie ist es zu dieser Ohnmacht gekommen? Das istsehr komplex. Dazu gibt es eine lange Vorgeschichte; diekann man im Rahmen dieser Aktuellen Stunde nicht auf-arbeiten. Darum möchte ich nur den Zeitpunkt benennen,ab dem die Katastrophe definitiv ihren Lauf nahm. Daswar, als endgültig klar war, dass es keinen militärischenSchutz durch die USA geben würde – kein anderes Landwäre dafür infrage gekommen –, weder in der Luft nocham Boden. Es war klar: Es gibt keine Flugverbotszone, esgibt keine militärisch geschützte humanitäre Schutzzoneam Boden. Damit war der Weg frei für den russischenMilitäreinsatz, den wir nun seit Monaten sehen und auchnoch für Wochen und vielleicht Monate sehen werden.Hier ist erneut nicht der Zeitpunkt bzw. die Gelegenheit,über das Für und Wider dieser Maßnahmen zu sprechen.Ich möchte nur sagen: Man kann durch Tun schuldigwerden, aber Nichttun schützt nicht davor, schuldig zuwerden.Wir sagen oft: Es gibt keine militärischen Lösungen. –Der Satz ist richtig. Aber Präsident Putin denkt und han-delt genau gegenteilig. Für ihn ist die militärische Lö-sung die Voraussetzung, der Boden für nachfolgendeDiplomatie und Politik. Das müssen wir sehen. EineAußenpolitik, die immer nur die eigene Logik vorträgt,aber die ganz gegenteilige Logik entscheidender Akteureignoriert, mag zwar heimischen Beifall finden, aber sieerzeugt auch eigene politische Ohnmacht.Aleppo ist kein Endpunkt. Das Leiden wird weiter-gehen. Aleppo wird fallen. Das Sterben, das Bombar-dement, der Terrorismus – es wird weitergehen, meineDamen und Herren. Darum stellt sich auch die Frage:Bleibt es bei unserer Ohnmacht? Sind wir zur Ohnmachtverpflichtet, oder können wir etwas tun? Ich glaube, sowenig wir tun können, es gibt etwas, was wir tun könn-ten, und ich möchte zwei Dinge benennen.Der erste Punkt ist, dass wir wirtschaftliche Sankti-onen als nichtmilitärisches Mittel gegenüber Kriegsver-brechen und Kriegsverbrechern anwenden. Wir, die Eu-ropäische Union und die USA, haben als Reaktion aufdie völkerrechtswidrige Annexion der Krim Wirtschafts-sanktionen verhängt. Heute sind in Aleppo Kriegsverbre-chen an der Tagesordnung. Wir müssen uns fragen, waswir tun könnten. Diejenigen, die das kritisieren, frage ichzurück: Was ist die Alternative? Wenn das Nichttun dieAlternative ist, dann müssen wir zu diesem nichtmilitä-rischen Entgegenstemmen gegen Kriegsverbrechen alsdem Instrument, das wir haben, greifen, meine Damenund Herren, jedenfalls wenn es kein anderes und keinbesseres Instrument gibt. Es wäre der Ausdruck, dass wirdie Kriegsverbrechen, die unzweifelhaft da sind, nichtKatrin Göring-Eckardt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 201620462
(C)
(D)
hinnehmen, sondern dass wir uns denen entgegenstem-men und sie verurteilen.
Der zweite und letzte Punkt: Es handelt sich umKriegsverbrechen. Darum müssen wir bzw. die VereintenNationen damit anfangen, die Kriegsverbrechen zu doku-mentieren, damit wir schon heute den Tätern sagen: Ihrwerdet nicht davonkommen, sondern die internationaleGemeinschaft dokumentiert und sammelt die Grundla-gen und tatsächlichen Umstände eurer Verbrechen. Eswird euch ein Gerichtsverfahren von der internationa-len Gemeinschaft gemacht werden. – Auch das ist heuteschon möglich.Wir dürfen nicht einfach nur willenlos, nur betroffensein, sondern die wenigen Möglichkeiten, die wir haben,müssen wir wahrnehmen, meine Damen und Herren.
Darüber müssen wir zumindest debattieren. Darum ist esgut, dass wir das hier tun.Mein letzter Satz. Es ist richtig, zu sagen: Es gibt kei-ne militärischen Lösungen. – Aber es reicht nicht, zu sa-gen: Es gibt keine militärischen Lösungen. – Wir müssenetwas dagegen tun, dass andere militärische Lösungenpraktizieren.Vielen Dank.
Als nächste Rednerin hat Heike Hänsel für die Frakti-
on Die Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Göring-Eckardt, wir denken heute an die Menschenin Syrien. Wir denken aber auch an die Menschen im Irak,im umkämpften Mosul. Wir denken an die Menschen imJemen, im ausgehungerten Jemen, an die Menschen imzerschlagenen Libyen, an die Menschen in den zerstörtenkurdischen Städten. Menschliches Leid ist unteilbar, undKrieg ist immer ein Verbrechen.
Die Lage im Osten Aleppos ist dramatisch: zahlrei-che Tote – wir kennen nicht die genaue Zahl – und über30 000 Menschen, die vor den erneuten Kämpfen zwi-schen syrischen Regierungstruppen und den Milizen deral-Qaida und der Ahrar al-Scham fliehen müssen. Genaudeswegen fordern wir einen sofortigen Waffenstillstand,an den sich alle Seiten – ausnahmslos alle Seiten! – zuhalten haben. Dazu gibt es keine Alternative,
damit die Menschen in Aleppo endlich mit Lebensmit-teln und Medikamenten unterstützt werden können unddamit es überhaupt wieder Raum für Gespräche gibt. Wirbegrüßen ausdrücklich alle Bemühungen von Außenmi-nister Frank-Walter Steinmeier, genau dies zu erreichen.
Eines kann ich Ihnen aber nicht ersparen: Die Empö-rung darüber, was in Aleppo passiert, und die Forderungnach einem sofortigen Waffenstillstand wären glaubwür-diger, wenn die Bundesregierung und die Fraktionen derGroßen Koalition auch eine sofortige Waffenruhe gefor-dert hätten, als die Al-Qaida-Milizen vor wenigen Mona-ten in Syrien auf dem Vormarsch waren – denn auch daswar eine Katastrophe für die Menschen vor Ort –, wennSie deutliche Kritik an der islamistischen TerrormilizAhrar al-Scham geübt hätten, als sie sich geweigert hatte,sich an einem Waffenstillstand zu beteiligen, oder wennSie den Syrien-Beauftragten de Mistura unterstützt hät-ten, als er eindringlich an die Rebellentruppen in Aleppoappelliert hat, unter UN-Begleitschutz aus den Stadttei-len abzuziehen.
All das wären humanitäre Lösungen für die Menschenvor Ort gewesen.
Es ist auch widersprüchlich, dass Sie die Bombar-dierungen und Kämpfe in Ost-Aleppo verurteilen – waszwingend ist –, aber dass das Bombardieren und Ab-riegeln der Millionenstadt Mosul vonseiten der US-ge-führten Allianz von Ihnen begrüßt und unterstützt wird.Dabei werden auch zahlreiche Opfer in der Zivilbevölke-rung in Kauf genommen, und auch die humanitäre Lageder Menschen wird immer dramatischer. Die UN-Koor-dinatorin für den Irak, Lise Grande, warnt eindrücklich:Wir stehen vor einer humanitären Katastrophe. Die ge-samte Wasserversorgung ist zusammengebrochen, unddie Kämpfe können noch über Monate andauern.Menschliches Leid ist unteilbar, und Krieg ist immerein Verbrechen und das Scheitern von Politik.
Deswegen fordern wir auch eine deutliche Wende in derdeutschen Syrien-Politik.Es ist ein richtiger Schritt, endlich von einer verhee-renden Regime-Change-Politik Abstand zu nehmen, diewir in so vielen Ländern – in Syrien und anderswo – er-leben und die nur dazu beigetragen hat, dass ganze Regi-onen in Schutt und Asche gelegt wurden.Es ist richtig, dass das Grauen des Krieges beendetwerden soll, wie Herr Steinmeier sagt, und erneut Ver-handlungen aufgenommen werden sollen. Das unterstüt-zen wir ausdrücklich. Auch hier gilt es, viel mehr Men-schen in einen neuen Anlauf einzubeziehen. Es gibt zumBeispiel die zivile Friedensinitiative „Peace in Syria“,die über breite Schichten der syrischen Zivilgesellschafthinweg eine föderale Verfassung erarbeitet hat. SolcheDr. Norbert Röttgen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 2016 20463
(C)
(D)
Initiativen müssen doch viel stärker unterstützt und alsAngebote in den Mittelpunkt gestellt werden.Lassen Sie uns auch ein gemeinsames Zeichen für dieVerbesserung der Situation vor Ort setzen: Heben Sieendlich die Wirtschaftssanktionen gegen Syrien auf!
Sie treffen hauptsächlich die Bevölkerung in Syrien, undsie sind fatal in ihren Auswirkungen. Es dient nieman-dem, wenn es in Syrien keine Medikamente und nichtmehr das Nötigste zum Überleben gibt. All das bewirkendie Wirtschaftssanktionen. Und diese haben die islamis-tischen Terrormilizen noch gestärkt. Denn dadurch ist einSchwarzmarkt entstanden, von dem allein diese Gruppenprofitieren können.Wir halten auch nichts von dem verbalen Säbelras-seln, Herr Röttgen, das Sie, Herr Kauder und andere desrechten Flügels Ihrer Fraktion betreiben, indem Sie im-mer gegen Russland hetzen
und neue Sanktionen fordern. Aber zum Glück setzenSie sich damit in Ihrer Fraktion bisher nicht durch. Wirbrauchen nämlich nicht noch mehr Falken, sondern mehrFriedenstauben in der deutschen Außenpolitik.
Wir fordern eine Waffenruhe für alle eingeschlosse-nen Gebiete in Syrien, auch für die von islamistischenMilizen eingeschlossenen. Alle Waffen müssen schwei-gen. Darauf müssen unsere diplomatischen Bemühungengerichtet sein. Und, Herr Röttgen, Sie haben durchausEinfluss auf Ihre Partner, die Türkei und Saudi-Arabien,
die leider die islamistischen Milizen nach wie vor mitWaffen und Geld logistisch unterstützen. Hier haben Sieeinen großen Einfluss. Nutzen Sie ihn!
Vielen Dank.
Als nächster Redner hat Niels Annen für die SPD-Frak-
tion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich muss ehrlich sagen: Ich hätte mir angesichtsder dramatischen Bilder aus Aleppo und Syrien eine an-dere Debatte hier gewünscht.Auch der angemessene Ton täuscht am Ende dieje-nigen, die heute unserer Debatte lauschen, nicht darü-ber hinweg, dass all die Fragen, die Sie, Frau Göring-Eckardt, gestellt haben, hier von diesem Podium aus vomBundesaußenminister längst beantwortet worden sind. Esist schon fast eine Unterstellung, hier die Frage zu stel-len: „Tun wir genug?“, weil man diese Frage natürlichimmer mit Nein beantworten kann, sie so wahrscheinlichsogar beantworten muss, wenn man sich die Bilder an-schaut. Aber Sie unterstellen hiermit doch indirekt, dasswir uns nicht um Frieden in Syrien bemühten. Deshalbwill ich Ihrem Gedächtnis einmal ein bisschen auf dieSprünge helfen. Ich muss das leider auch zu meinemKollegen Norbert Röttgen sagen, der, soweit ich weiß, jadie Sitzungen des Auswärtigen Ausschusses geleitet hat,in denen systematisch und regelmäßig darüber berichtetwurde, was wir gemacht haben. Ich will Sie deswegendaran erinnern, was wir gemacht haben.Es war Außenminister Steinmeier, der sich vom ers-ten Tag an, nachdem er in das Amt zurückgekehrt ist,um das Dossier gekümmert hat, der sich darum bemühthat, ja darum gekämpft hat, dass die unterschiedlichenausländischen Mächte, die dort Einfluss nehmen, endlichan einem Tisch Platz nehmen. Das haben wir am Endeauch erreicht. Es sind Abgeordnete aus allen Fraktionendieses Hauses dabei gewesen: bei schwierigen Reisen inden Iran, nach Saudi-Arabien, bei Gesprächen auf inter-nationalen Konferenzen.Nun kann man sich natürlich hinstellen – das würdeich ja vielleicht auch tun – und sagen: Das war insgesamtnoch nicht genug. – Aber wir sind ein Teil der Weltge-meinschaft. Wir sind keine Militärmacht in der Region,und wir wollen das auch nicht sein.Dann habe ich auch die schöne Frage hier gehört:Tun wir humanitär genug? Frau Göring-Eckardt, als Siedie Frage gestellt haben, hätten Sie auch einmal daraufhinweisen können, dass dieser Bundestag gerade einenHaushalt beschlossen hat, der uns zur größten Geberna-tion für die Flüchtlinge in Syrien und in den syrischenNachbarländern macht.
Sie haben auch nicht darüber gesprochen, was wir alle inunseren Gemeinden und Kommunen bei der Aufnahmevon Flüchtlingen leisten.Ich glaube, dass diese Debatte, die wir mit einer Mi-schung aus Ohnmacht und Wut führen – einer Wut, diewir alle empfinden –, nicht dazu führen darf, dass wir unshier auf ein hohes moralisches Podest stellen und uns ge-genseitig Vorwürfe machen. Das hilft übrigens auch denMenschen in Syrien nicht weiter. Ich will Sie stattdessennoch einmal daran erinnern, dass wir viele der Punkte,die hier indirekt in Vorwurfsform formuliert worden sind,längst umsetzen:Das Außenministerium unterstützt, seit Frank-WalterSteinmeier wieder Außenminister ist, die juristische Auf-arbeitung der Kriegsverbrechen, die in Syrien begangenwerden, Herr Kollege Röttgen. Wir finanzieren einenGroßteil der Arbeit der Commission for InternationalJustice and Accountability, die mit Kontaktleuten in derHeike Hänsel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 201620464
(C)
(D)
Region, mit zivilen Organisationen, die unter unfassba-ren Bedingungen noch immer in Syrien arbeiten können,Kriegsverbrechen dokumentiert. Deswegen ist die Bot-schaft an Diktator Assad und seine russischen Verbünde-ten, aber auch – da muss ich Frau Hänsel zustimmen – aneinige der islamistischen Milizen, die dort Verbrechenbegehen, ganz eindeutig: Wir wollen alles dafür tun,dass es ein politisches Arrangement gibt. – Wir habendie Erfahrung im Bürgerkrieg in Jugoslawien gemacht,dass beides möglich ist: ein politisches Arrangement undtrotzdem zu einem späteren Zeitpunkt die juristische Ver-folgung von schweren und schwersten Straftaten. Das,meine sehr verehrten Damen und Herren, ist die Politikder Bundesregierung. Ich finde das richtig.Da hier einige meiner Kollegen die Gespräche mit denWeißhelmen erwähnt haben: Auch ich habe solche Ge-spräche gemeinsam mit der Kollegin Brantner geführt.Seit Frank-Walter Steinmeier wieder Außenminister un-seres Landes ist, unterstützt das Auswärtige Amt die Ar-beit der Weißhelme mit relevanten finanziellen Mitteln.Wir haben die Vertreter der Weißhelme hier gemeinsamund hochrangig empfangen und zugesagt, wir werdenderen Arbeit weiter unterstützen. Hier duckt sich alsoniemand weg.Ich empfinde es auch als einen infamen Vorwurf, hierindirekt zu suggerieren, es werde nicht über den Krieg inSyrien gesprochen. Wir schweigen auch nicht über denKrieg in Syrien. Aber über eines müssen wir uns, glaubeich, im Klaren sein: Wenn wir uns als Abgeordnete desDeutschen Bundestages hierhinstellen und unsere eigeneOhnmacht zelebrieren und nicht über das reden, was wirin unglaublich mühsamen, schwierigen Verhandlungenan fragilen Netzwerken zur Lösung dieses Konfliktesauf den Weg gebracht haben, dann dürfen wir uns auchnicht wundern, wenn die Bürgerinnen und Bürger, diemöglicherweise dieser Debatte zuschauen, den Eindruckhaben: Da kann man eh nichts machen. – Ich bin nichtdieser Meinung. Ich bin deswegen auch nicht der Mei-nung, dass es das richtige Signal ist, auf der einen Seitezu sagen: „Wir brauchen eine politische Lösung“, undmit dem nächsten Satz zu sagen: Wir müssen jetzt zu-sätzliche Sanktionen verhängen.
Ich möchte denjenigen sehen, der das Gespräch mitder russischen Seite führt, wenn das die erste Botschaftist. Es ist ein Teil der Ehrlichkeit, die hier eingefordertwird – auch mir gefällt das nicht –, ganz nüchtern da-rauf hinzuweisen, dass sich ohne Russland dieser Kon-flikt nicht wird lösen lassen. Deswegen müssen wir die-sen Gesprächsdraht zwischen Frank-Walter Steinmeierund Herrn Lawrow aufrechterhalten, ohne dabei überdie Verbrechen, für die Moskau mitverantwortlich ist, zuschweigen, und das tun wir auch nicht.
Das Wort hat der Kollege Roderich Kiesewetter für
die CDU/CSU-Fraktion.
Liebe Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es istschon wahr: Auch die heutige Debatte zeigt, dass Aleppounbarmherzig unsere Handlungsohnmacht offenbart. Daseinzig Erfreuliche an dieser Debatte ist, dass wir frakti-onsübergreifend versuchen, Auswege aufzuzeigen.Ja, wir hatten letzte Woche zwei bemerkenswerte Ver-treter der Weißhelme, die in Ost-Aleppo gearbeitet habenund jetzt in Aleppo arbeiten, zu Gast im Bundestag. Wirhaben mit ihnen gesprochen. Es war sehr bewegend, ih-nen zuzuhören. Was mich am meisten bewegt hat, warihre Bereitschaft, ihre quasi zu spürende Eile, sofort wie-der – letzte Woche Donnerstag war das – zurückzureisen,nicht hier zu bleiben und die Ruhe des freien Westenszu genießen, nicht Asyl zu beantragen, sondern vor Ortzu helfen und uns aufzurütteln. Dieses Aufrütteln mussauch dazu führen, dass wir deutlich stärker über unserewerte- und interessengeleitete Außenpolitik nachdenken.Ich will das an drei Beispielen deutlich machen.Erstens. Humanitäre Hilfe, die wir leisten – der Kolle-ge Annen hat es angesprochen, auch Kollege Röttgen –,muss ankommen. Es ist natürlich schön, wenn wir hoheSummen an Geldern zur Verfügung stellen, aber schlecht,wenn wir diese nicht den Menschen vor Ort zugutekom-men lassen können. Da gibt es natürlich Überlegungen,die heikel sind. Aber wir dürfen hier keine Denkverbotehaben und müssen auch darüber nachdenken, ob es mög-lich ist – und wenn ja, in welcher Weise –, mittels Air-drops Hilfsgüter unmittelbar abzuwerfen. Ist es möglich,Russland zu überzeugen, dass wir da wirken können?Humanitäre Hilfe muss auch ankommen, und es darf unsnicht beruhigen, dass wir Mittel dafür bereitstellen.Zweitens. Haben wir die richtigen Prioritäten? Ist esrichtig, dass wir dem russischen Rational folgen und dieMacht von Assad zementieren? Führt das nicht geradezudazu, dass ein Großteil der syrischen Bevölkerung sichmit den IS-Extremisten, mit Daesh, solidarisiert, weilnun einmal Assad einen Großteil der eigenen Bevölke-rung in die Flucht und ins Elend getrieben hat? Das istder entscheidende Punkt. Die Kollegen von der Linken,insbesondere die Fraktionsvorsitzende, fordern öffentlichauch noch einen Interessenausgleich mit Russland. Dasist das Bittere. Diese Form von Machtpolitik stützen wirnicht. Die Lage ist viel zu ernst, als dass wir das zemen-tieren lassen dürfen.
Der dritte Punkt ist: Neben vielleicht einer Neuorien-tierung der Priorisierung, dass Assad ein Mann des Über-gangs ist, der bald abgelöst werden muss, ist natürlicheine bessere Koordinierung des Kampfes gegen den ISnötig. Auch hier gibt es noch viel zu tun. Aber die Ze-mentierung, die Russland gerade leistet, führt zu tschet-schenischen Verhältnissen. Wir wollen keinen Friedenvon Grosny, weder in Damaskus noch in Aleppo. Dage-Niels Annen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 2016 20465
(C)
(D)
gen müssen wir uns alle wehren, liebe Kolleginnen undKollegen.
Deshalb abschließend vielleicht einige Folgerungen –unsere Kollegen haben es bereits angesprochen –: DasSterben wird weitergehen, die Flucht wird weitergehen.Was bedeutet das für uns Europäer? Der erste Aspekt:Wir sollten alle diplomatischen Anstrengungen daraufrichten, dass Iran und Saudi-Arabien weiter miteinanderverhandeln, dass das, was letztes Jahr unter unserem Au-ßenminister in Genf erreicht wurde, endlich in die Praxisumgesetzt wird. Damals ist es ihm und anderen gelun-gen, Saudi-Arabien und Iran an einen Tisch zu bringen.Das muss so bleiben, und das muss verstärkt werden;denn die beiden Staaten führen dort Stellvertreterkriege,nicht nur im Jemen, nicht nur im Irak, sondern gerade inSyrien.Der zweite wichtige Aspekt: Wir haben nächste Wo-che den Europäischen Rat; der Bratislava-Prozess sollfortgesetzt werden. Das bedeutet, dass wir Europäer unsim europäischen Umfeld für Stabilität und für die Er-tüchtigung auch ziviler Strukturen einsetzen: Bildungund Ausbildung, Schulen, Rahmenbedingen für eine guteLebensführung, sauberes Wasser, bessere medizinischeBehandlung.All dies müssen wir fortsetzen; da sind wir bis jetzt zuschwach. Hier brauchen wir mehr europäische Beherzt-heit, und man kann nur hoffen, dass die Abstimmungenam 4. Dezember in Österreich und in Italien im Sinne desZusammenhalts der Europäischen Union ausgehen. Hiermüssen wir ganz schnell handeln, wenn diese Abstim-mungen erfolgt sind.Noch ein anderer Gedanke: Wir Europäer brauchengute Partner in unserem Umfeld. Die Brexit-Verhand-lungen sollten zu einem Drittstaatenabkommen führen,das die Türkei auch an die Gemeinsame Sicherheits- undVerteidigungspolitik der EU heranführt, vielleicht auchdie Maghreb-Staaten und andere. Wir müssen schauen,dass wir Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in diesenDrittstaatenabkommen durchsetzen.Deshalb unterstütze und begrüße ich die vorhin an-gesprochene Initiative, die vorrangig von Kanada vo-rangetrieben wird, dass wir in der Generalversammlungder Vereinten Nationen, die durch den Weltsicherheitsratgelähmt sind, dieses Amt eines Sonderbeauftragten bean-tragen, der die Menschenrechtsverletzungen dokumen-tiert, damit dies dazu führt, dass beim InternationalenStrafgerichtshof dereinst die Verbrechen in Syrien wieseinerzeit die Verbrechen in Srebrenica angesprochenund gesühnt werden.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Sevim Dağdelen für die
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Bomben schaffen keinen Frieden, wederrussische Bomben noch US-amerikanische Bomben.
Und ebenso schafft – das muss man hier sagen – die Bei-hilfe der Bundeswehr zum Bombenkrieg in Syrien kei-nen Frieden.
Immer werden eben auch Zivilisten getroffen, und dasstärkt den Terror, weil es neuen Hass schürt, ob im syri-schen Aleppo oder eben auch im irakischen Mosul. Des-halb treten wir Linke dafür ein, dass die Waffen in Syriensofort schweigen.Ich muss dazusagen: Wir haben dies gefordert und ge-sagt, als die Terrormilizen al-Qaida und Ahrar al-Schamauf dem Vormarsch waren, und wir sagen es jetzt, da sie,diese Milizen, zurückgedrängt werden.
Wir müssen jetzt alles dafür tun, dass es einen sofor-tigen Waffenstillstand gibt und die Menschen im von is-lamistischen Terrorbanden kontrollierten Ostteil Alepposendlich auch mit humanitären Gütern versorgt werden.Aber bei der humanitären Hilfe dürfen wir keine Poli-tik der doppelten Standards betreiben.
Auch deshalb müssen wir endlich die Wirtschaftssankti-onen gegen Syrien aufheben; denn diese treffen lediglichdie syrische Bevölkerung, meine Damen und Herren,
und nicht irgendwelche Eliten, die es immer wieder ver-meiden, getroffen zu werden.In diesem Zusammenhang möchte ich aus dem an dieEuropäische Union gerichteten Appell kirchlicher Wür-denträger aus Syrien, die Sanktionen aufzuheben, der vorkurzem veröffentlicht wurde, zitieren:In diesen fünf Jahren haben die Sanktionen gegenSyrien dazu beigetragen, die syrische Gesellschaftzu zerstören: Sie lieferten sie dem Hunger, Epide-mien und Elend aus und arbeiten somit den Milizenvon Integralisten und Terroristen, die heute auch inEuropa zuschlagen, in die Hand.Weiter wird gesagt:Das Gerede über die Kriegsflüchtlinge aus Syriensieht nach purer Heuchelei aus, solange man gleich-zeitig diejenigen, die in Syrien bleiben, weiter aus-hungert, ihnen die medizinische Versorgung, Trink-wasser, Arbeit, Sicherheit und die elementarstenRechte verweigert.So weit aus dem Appell der kirchlichen Würdenträger.
Ich möchte Sie fragen, ob angesichts des Nahrungs-und Medikamentenmangels, den man aufgrund dieserRoderich Kiesewetter
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 201620466
(C)
(D)
Sanktionen zu verantworten hat, tatsächlich eine politi-sche Lösung des Konflikts gefördert werden kann. DieseWirtschaftssanktionen nehmen die einfache syrische Be-völkerung kollektiv in Haftung. Was glauben Sie denn,was man damit bewirken kann, wenn es eben keine Me-dikamente mehr gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen,gegen Krebs, gegen Diabetes oder wenn es weniger Nah-rungsmittel gibt? Wer Wirtschaftssanktionen gegenüberSyrien beibehalten will, straft alle Erklärungen hier Lü-gen, dass man den Menschen in Syrien wirklich helfenwill. So sehen es auch die kirchlichen Würdenträger.
Was die humanitäre Hilfe angeht, müssen wir auchBerichten nachgehen, dass offenbar viel weniger Hilfein von syrischen Regierungstruppen kontrollierten Ge-bieten ankommt, so zum Beispiel in Deir al-Sor, das javom „Islamischen Staat“ eingeschlossen und belagert istund wo über 200 000 Menschen leben. Das Gleiche giltfür al-Fuaa oder Kifraja, wo über 50 000 Menschen vonder al-Qaida eingeschlossen sind. Wir brauchen Hilfe inOst-Aleppo – jawohl –, aber auch in den anderen bela-gerten Enklaven. Ich würde mir wünschen, dass die Bun-desregierung hier aktiv wird, damit endlich humanitäreHilfe in alle eingeschlossenen Städte und auch Stadtteilein Syrien gelangen kann.
Zum Schluss frage ich mich natürlich auch: Wenn manes denn mit der Forderung nach einem Ende des Kriegesin Syrien ernst nimmt, warum liefert man dann weiterWaffen an Staaten wie die Türkei oder Saudi-Arabien,von denen man weiß, dass sie weiter Waffen liefern anislamistische Terrorbanden?
Sie von der Bundesregierung konnten bis heute in Ih-ren Antworten auf mehrere Anfragen von uns nicht aus-schließen, dass Waffen, die an den türkischen DiktatorErdogan geliefert worden sind, in seinem Krieg gegendie Kurden benutzt werden oder an islamistische Mör-derbanden in Syrien weitergereicht werden. Ich findediese Politik wirklich unverantwortlich.
Wir brauchen dringend ein Waffenembargo für denNahen und Mittleren Osten, und das muss eben die Tür-kei und Saudi-Arabien umfassen.
Wir brauchen hier auch keine Scharfmacherei in Sa-chen Forderung nach mehr Sanktionen, sondern wirbrauchen, wie ich finde, die Bündelung aller Kräfte, umeinen Waffenstillstand in Aleppo wie auch den Zugangzu humanitärer Hilfe in Syrien zu gewährleisten. Mit derAufhebung der Wirtschaftssanktionen, nicht der Maß-nahmen gegen die Person Assad und sein Umfeld – dasmöchte ich betonen –, könnten Sie hier direkt einen Bei-trag leisten, die Lage der Bevölkerung in Syrien gera-de angesichts des nahenden Winters zu verbessern. Daswäre ein Beitrag für die humanitäre Hilfe.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Ute Finckh-Krämer für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren oben auf den Tribünen!Frau Dağdelen, ich habe mir eben gerade noch einmaldie Sanktionsliste der EU für Syrien angeschaut: Daraufstehen weder Lebensmittel noch Medikamente.
Das Einzige, was darauf steht und was nur ganz indirektmit landwirtschaftlicher Produktion zu tun haben könnte,sind Erdöl und Erdölprodukte. Es sind auch keine Indus-triegüter für die Medikamentenindustrie auf der Sankti-onsliste. Insofern haben Sie hier eine unsinnige Aussagegemacht, und ich finde, das ist unserer Debatte nicht an-gemessen.
Was ich wichtig finde, ist, dass wir uns alle gemeinsamüberlegen, was von dem, was wir schon getan haben,hilfreich war bzw. nicht hilfreich war. Was zum Beispielnur begrenzt hilfreich war, war, dass 2012 eine Gruppevon Regimegegnern als legitime Vertretung Syriens an-erkannt wurde. Damit hat man sich bestimmte Verhand-lungsmöglichkeiten verbaut.Hilfreich war, glaube ich, alles, was im Bereichder humanitären Hilfe gemacht wurde. Da war und istDeutschland einer der ganz großen Geber und versuchtimmer, mit den Partnern zusammenzuarbeiten, die in denunterschiedlichen Regionen Syriens noch aktiv sein kön-nen. Das sind in manchen Gegenden eher NGOs. ZumTeil läuft es über Partner von medico international; essind die Weißhelme, die, was eben noch nicht erwähntwurde, gerade den Alternativen Nobelpreis erhalten ha-ben – zu Recht. Wir haben mit der Parlamentargruppe„Alternativer Nobelpreis“ fraktionsübergreifend gesternAbend Preisträger und Preisträgerinnen, aber auch Ver-treter eingeladen. Wir waren, glaube ich, alle von dembeeindruckt, was der Vertreter der Weißhelme uns be-richtet hat.Als wir im UN-Menschenrechtsrat 2015 den Vorsitzhatten, unter Botschafter Rücker, haben wir das Thema„Sonderbeauftragter für die Menschenrechtssituation inSyrien“ auf die Tagesordnung gesetzt. Das heißt, wirhaben uns im Rahmen der deutschen Außenpolitik be-reits dafür eingesetzt, dass Menschenrechtsverletzungen,Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlich-keit, dokumentiert werden.SevimDağdelen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 2016 20467
(C)
(D)
Die AG Menschenrechte der SPD-Bundestagsfrakti-on war am 19. September in Genf beim UN-Menschen-rechtsrat. Wir haben dort die Entgegennahme eines sol-chen Berichtes live erlebt. Insofern ist das nichts, was mitdem Ende des deutschen Vorsitzes im Menschenrechtsratwieder in der Versenkung verschwunden ist. Das ist vonanderen aufgegriffen und fortgeführt worden, und das istauch gut so.
In der letzten Woche hat Staffan de Mistura hier inBerlin die Dag-Hammarskjöld-Medaille der DeutschenGesellschaft für die Vereinten Nationen erhalten, und erhat in einem sehr nachdenklichen Beitrag geäußert, wiekomplex die Verhandlungssituation in Syrien ist, wieviel Kraft er brauchte, wie viel Unterstützung er brauch-te, um da nicht einfach aufzugeben. Er hat auch deut-lich gemacht, dass, egal welchen Blickwinkel man aufdie Situation dort hat, das Verhandeln mit allen, die dortim Augenblick militärisch oder politisch Einfluss neh-men, die einzige Lösung ist, die den Menschen in Syrienwenigstens mittelfristig helfen kann. Er bekommt dafürUnterstützung aus dem Auswärtigen Amt, von vielenEU-Staaten, vom Auswärtigen Dienst der EuropäischenUnion, und das ist auch gut und richtig so.
Insofern können und müssen wir uns tatsächlich je-den Tag neu fragen, was wir noch tun können, um denMenschen in Syrien zu helfen. Wir können etwas auf derBasis dessen tun, was schon versucht wurde. Wir könnenetwas in Anerkenntnis dessen tun, dass manches nichtzielführend war. Wir können zusammen mit vielen Un-terstützern und Verbündeten etwas tun, und wir solltendas weiter tun. Wir sollten das auch selber immer wiederpositiv reflektieren.Danke schön.
Der Kollege Omid Nouripour hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Aleppo fällt. Der Außenminister hat dieser Tage gesagt:
Wenn Ost-Aleppo fällt, dann ist das noch nicht das Ende
des Krieges in Syrien. – Er hat recht.
Aber man darf nicht verschweigen, dass die militä-
rische Lage sich danach massiv verändern würde. Das
wäre eine gewaltige Verschiebung der militärischen
Kräfte – hin zu viel mehr Asymmetrie, zu viel mehr Gue-
rillakriegen. Es würde am Ende mittel- und langfristig
einen Gewinner geben, und das wären die dschihadis-
tischen Bewegungen. Das muss man auch den Russen
klarmachen.
Ich habe in dieser Woche auch einen der Weißhelme
getroffen, einen jungen Mann, 31 Jahre alt, Arzt. Er war
verzweifelt, aber unglaublich mutig, und er hat nicht
nachgelassen, drei Dinge zu fordern: erstens Druck auf
Russland, damit wenigstens Schulen und Krankenhäuser
nicht mehr bombardiert werden; zweitens humanitäre
Korridore, damit die Menschen aus den belagerten Ge-
bieten rauskönnen; und drittens irgendeine Möglichkeit,
dass humanitäre Güter wieder reinkommen.
Reden wir über Druck auf Russland. Kollege Annen,
ich bin ein wenig verwirrt. Sie haben völlig zu Recht ge-
sagt, wir brauchen einen anderen Ton in der Diskussion.
Wenn meine Fraktionsvorsitzende sich die bei den Bil-
dern aus Aleppo am ehesten aufdrängende Frage stellt,
ob wir nicht mehr tun können, so getan wird, als wäre das
Majetätsbeleidigung in Richtung Außenminister, dann ist
das genau der Ton, der in der Diskussion gerade nicht zu
einer Lösung führt.
Ich will die Schulen als Beispiel nennen. Wenn wir
wollen, dass Schulen nicht mehr bombardiert werden,
dann sollten wir doch mit gutem Beispiel vorangehen. Es
gibt eine Lucens-Erklärung, in der sich Länder verpflich-
ten, dass ihre Armeen in Kriegen Schulen nicht mehr
bombardieren und Schulen nicht mehr verwenden. Diese
Bundesregierung unterschreibt diese Erklärung einfach
nicht. Wollen wir Druck machen auf Russland, sollten
wir das ändern.
Hilfslieferungen: 90 Prozent der Hilfslieferungen
kommen in Gebiete, in denen Assad die Kontrolle hat,
und 75 Prozent der Anfragen, ob sie woandershin gelie-
fert werden können, werden erst gar nicht beantwortet.
Aber reden Sie weiter über die Sanktionen, die ja angeb-
lich schuld an allem sind.
Resolution 2139 , Resolution 2165 (2014),
Resolution 2191 , Resolution 2258 (2015) – alles
Resolutionen der Vereinten Nationen, die verabschiedet
worden sind mit den Stimmen Russlands im Sicherheits-
rat, mit dem Ziel, dass alle, die Hilfe brauchen, Hilfe be-
kommen, unabhängig davon, unter welcher Kontrolle sie
leben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
mit den Stimmen Russlandsverabschiedet. In dieser Resolution geht es um den poli-tischen Prozess und darum, dass keine Fassbomben mehrfliegen. Aber sie fliegen weiterhin, obwohl die Russen invielen Teilen des Landes die Lufthoheit haben.Resolution 2118 , Vernichtung aller Chemie-waffen: mit den Stimmen Russlands verabschiedet. Wirwissen von den Vereinten Nationen, dass danach über100 Chemiewaffenangriffe vom Assad-Regime durchge-führt worden sind. Wenn die Russen sich nicht einmalan ihre eigenen Worte erinnern, dann ist das ein großesProblem.Da wiederum, Herr Kollege Annen, muss ich sagen:Wir müssen natürlich darüber streiten, welche Druckmit-tel die richtigen sind. Auch bei uns gibt es darüber eineDiskussion. Aber wenn alles so perfekt ist in der Sozial-demokratie, dann stelle ich mir die Frage, ob das auchbei den Saunabesuchen des Vizekanzlers ein Thema war
Dr. Ute Finckh-Krämer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 201620468
(C)
(D)
und ob das auch mit den Ministerpräsidenten besprochenwird, die grundsätzlich jedes Thema nehmen, um zu er-klären, warum man größere Geschäfte mit Russland ma-chen sollte.
Russland müssen wir daran erinnern, dass dieser Wie-deraufbau teuer wird. 180 Milliarden Dollar, sagt dieWeltbank, beträgt der bisher entstandene Schaden. Nachdem Motto „You break it, you own it“ ist offenkundig,dass die Russen die Verantwortung dafür werden tragenmüssen. Wir müssen Druckmittel finden. Aber wir soll-ten vielleicht auch darüber nachdenken – bei dem Themakönnen wir mehr tun –, ob wir nicht auch darüber reden,wie wir uns am Wiederaufbau beteiligen. Vielleicht istdas ein Weg – von dem ich nicht weiß, ob er zum Erfolgführen wird –, den wir einschlagen sollten.Korridore: Viele Menschen fliehen nicht aus den be-lagerten Städten, weil sie Angst haben und weil sie nichtwissen, ob mit ihnen dasselbe geschieht wie in Daraja,wo es eine ethnische Säuberung gegeben hat. Sollten wirnicht die Vereinten Nationen in die Lage versetzen, dieRegistrierung durchzuführen?Luftbrücke: De Mistura hat dieser Tage gesagt, dassdie Airdrops keine gute Möglichkeit sind, aber die bestealler schlechten, um den Menschen zu helfen. Ein Jahrlang hat uns die Bundesregierung in allen Ausschüssengesagt, der Landweg wäre besser. Das wissen wir. Aberdie Leute sind belagert; die Konvois kommen einfachnicht durch. Und die Vereinten Nationen haben doch oftdarum gebeten, dass wir ihnen helfen, dass wir unserenBeitrag leisten. Wenn alles so perfekt ist, was die Bun-desregierung tut, frage ich mich: Warum ist das nicht er-folgt?Der Kollege Kiesewetter hat dieser Tage gesagt, dassei alles möglich und das solle man doch einfach machen.Da kann ich nur sagen: Reden ist einfach, damit in dieZeitung zu kommen auch. Aber wir hatten am 20. Okto-ber eine Abstimmung darüber im Deutschen Bundestag,und da haben Sie dagegen gestimmt.
Ich flehe Sie an: Nehmen Sie einfach unseren Antrag,schreiben Sie Ihren Namen darüber, vergessen Sie dieGrünen, bringen Sie ihn selber ein, und Sie haben dannunsere Stimme. Das ist notwendig, damit endlich etwaspassiert, damit endlich wieder Hilfslieferungen ins Landkommen können.
Wir müssen ins Tun kommen und dürfen uns nicht im-mer nur gegenseitig erklären, wie toll wir sind. Es gibtneue Dynamik, hoffentlich, durch den Brief vieler Kolle-ginnen und Kollegen im britischen Parlament an TheresaMay. Die Franzosen wollen das Thema jetzt in den Si-cherheitsrat bringen. Wir sollten das nutzen.Ich will schließen mit dem Tweet einer Siebenjäh-rigen, Bana al-Abed, die zusammen mit ihrer Mutter, Fatima al-Abed, zurzeit aus Aleppo twittert. Ich kannjedem nur empfehlen, sich das anzuschauen; das ist herz-zerreißend. Sie schreibt vor wenigen Tagen: Lasst Nah-rungsmittel rein, bitte, für die Tausenden Verhungernden.Warum ist das ein Problem?Diese Frage müssen diejenigen beantworten, die dieLebensmittel nicht reinlassen – aber auch diejenigen, dienicht alles tun, was in ihrer Macht steht.
Das Wort hat der Kollege Tobias Zech für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zeitgleich mit uns tagt der UN-Sicherheitsrat zu demgleichen Thema. Zeitgleich passieren in Aleppo Gräuel-taten. Man kann die Situation in Aleppo nur mit einemWort beschreiben: katastrophal, und zwar nicht nur in denletzten zwei, drei Wochen, sondern seit über 50 Monaten.Seit über vier Jahren wird in Syrien massiv gekämpft,seit sechs Jahren herrscht Krieg, seit vier Jahren wird inAleppo gekämpft, vor allem um Aleppo gekämpft. Esgibt dort seit zwei Wochen keine Nahrung mehr. Es gibtseit ein paar Tagen in Ost-Aleppo kein einziges Kranken-haus mehr. Über die hygienische Situation, glaube ich,kann sich jeder von uns selber Gedanken machen.20 000 Menschen sind auf der Flucht. Wir habeneine doppelte Geiselhaft der Zivilisten, der Menschen inAleppo:Zum einen werden sie vom Regime durch Fassbom-ben, durch Kriegsverbrechen, durch Angriffe auf Kinder-heime, durch Angriffe auf Kinderkrankenhäuser, durchAngriffe auf die White Helmets in Geiselhaft genommen.Ich selber habe mit der Hilfsorganisation Feuerwehrautosnach Syrien, nach Aleppo gebracht. Diese sind mittler-weile alle zerstört. Sie waren bewusst Ziel der Luftan-griffe.Zum anderen werden die Menschen in Aleppo – dasmuss man hier auch erwähnen – durch die islamistischenTerroristen in Geiselhaft genommen. Diese sitzen im-mer noch in Aleppo, sie schießen und morden. Mit Sni-per-Angriffen, mit Scharfschützenangriffen, werden dieMenschen gezielt an der Flucht gehindert. Besondersbetroffen sind die Menschen aus Ost-Aleppo. Beides istMord. Beides sind Kriegsverbrechen. Keines ist besserals das andere. Für beides brauchen wir eine Lösung.Die Menschen in Aleppo haben keine Hoffnung mehr;die Menschen in Aleppo verlieren jeden Tag mehr anRaum. Wenn die Weltgemeinschaft nicht bald eine Lö-sung findet, wird es Aleppo nicht mehr geben. Vor allemOst-Aleppo wird dem Boden gleichgemacht. Darüberhaben wir schon mehrmals diskutiert. Das letzte Malim Oktober. Kollege Nouripour hat es angesprochen.Wir haben es aber auch im September diskutiert. Die Si-tuation hat sich seitdem massiv verändert; sie ist nochschlechter geworden.Omid Nouripour
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 2016 20469
(C)
(D)
Da wir über Auseinandersetzungen sprechen, erlaubenSie mir, dass ich als jemand, der von der CSU ist, einmaleinen Linken zitiere. Brecht hat einmal geschrieben:Denn die einen sind im Dunkeln Und die andern sind im Licht. Und man siehet die im Lichte. Die im Dunkeln sieht man nicht.So ähnlich ist es auch bei diesen kriegerischen Aus-einandersetzungen. Wir schauen immer nur mit demSpotlight darauf. Der Krieg in Syrien und alles, was inLibyen, im Jemen, aber auch in Mosul passiert, findetzeitgleich statt. Ich glaube, es wäre geboten, dass wirüberall gleichzeitig hingucken und darüber sprechen. Fürmich ist es wichtig, dass wir, wenn wir über die huma-nitäre Versorgung von Aleppo sprechen, die humanitäreVersorgung von Mosul mit der gleichen Anstrengung si-cherstellen, aber hoffentlich mit mehr Erfolg.Wir fordern eine politische Lösung. Wir haben – NielsAnnen hat es angesprochen – politisch schon sehr viel aufden Weg gebracht. Allerdings gehört es auch zur Wahr-heit, dass wir in Genf gescheitert sind: nicht nur einmal,sondern ständig. Außerdem gehört es zur Wahrheit, dasswir nicht nur einmal, sondern mehrmals Waffenruhenvereinbart haben, die immer wieder gebrochen wordensind, und zwar von jeder Seite. Jede Seite in diesem Kon-flikt hat schon einmal die Waffenruhe gebrochen.Wir werden jetzt vor Fakten gestellt. Ich kann mirnicht vorstellen, dass die Angriffe des Regimes gestopptwerden können. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieAngriffe des Regimes verhindert werden können, wennwir nicht einen kohärenten, einen inklusiven Ansatzfinden können. Die Lösung heißt: mit allen Beteiligten.Dazu gehören auch die, die die Truppen in Syrien füh-ren. Wir brauchen eine Waffenruhe. Wir brauchen einenWaffenstillstand, übrigens auch dann, wenn wir Airdropoder eine Luftbrücke einsetzen würden. Denn bei einerLuftbrücke muss es Luftsicherheit geben. Luftsicherheitbedeutet, dass man auch bereit sein muss, Angriffe aufHilfslieferungen abzuwehren.
Die beste Lösung ist immer noch der Weg über das Land.Das ist die einzig sinnvolle Lösung. Sie können im urba-nen Gelände Airdrops nicht so einfach durchführen.Wichtig ist, dass wir an der großen Lösung festhaltensollten. Wir sollten auch den Außenminister bestärken,für die große Lösung zu kämpfen, aber nicht allein, son-dern mit der Europäischen Union. Ich möchte eine EUsehen – dazu gehört die Außenbeauftragte der Europäi-schen Union Mogherini und auch der Kommissionsprä-sident Juncker –, die dieses Thema auf die Tagesordnungsetzt, und zwar ganz oben. Wir sprechen hier über dieNachbarregion der Europäischen Union. Wir müssenuns auch auf die Folgen vorbereiten, die sich ergebenwerden. Wir brauchen aus meiner Sicht relativ schnelleinen EU-Flüchtlingskommissar, der sich nur um Ange-legenheiten rund um die Flucht kümmert. Wir brauchenUnterstützung aus der kompletten Europäischen Unionfür die Nachbarländer Syriens, viel mehr als noch in derVergangenheit. Deutschland ist das Paradebeispiel, mitdem Entwicklungsminister Gerd Müller an der Spitze;kein Land gibt mehr aus als wir.Wir können hier eine Sternstunde europäischer Au-ßenpolitik für unsere Werte erleben, wenn wir jetzt zu-sammenstehen, wenn wir den Nachbarländern helfen,mit den Flüchtlingen, die bald ankommen werden, umzu-gehen. Wir müssen alles daransetzen, dass wir über denLandweg eine humanitäre Lösung für Aleppo hinbekom-men – für die Menschen in dieser Region und für mehrSicherheit in diesem Land. Das geht nur politisch. Dafürbraucht man viel Kraft; dafür braucht der Außenministerviel Kraft und unsere Unterstützung.Herzlichen Dank.
Der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner hat für die
SPD-Fraktion das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen undKollegen! Mit manchen Tageszeitungen könnte man sa-gen: Nun ist also auch der Ostteil der Stadt in den Hän-den des Regimes, in den Händen Assads. Die Zeitungensind voll mit Nachrichten darüber. Es wird kolportiert –wir haben das heute in der Debatte auch schon gehört –,dass wir uns nur empören, Kriegsverbrecher anprangern,mit weit geöffneten Augen durch die Talkshows ziehen,Schuld, Verantwortung und das Warum definieren unddann angeblich die Menschen vor Ort hilflos, obdachlos,perspektivlos zurücklassen und nichts tun. Nichts vondem ist wahr; denn die Bundesrepublik Deutschland, dieAußenpolitiker der Bundesrepublik und unser Außen-minister Frank-Walter Steinmeier, ist ununterbrochenim Einsatz, um den schrecklichsten Bürgerkrieg, denman sich vorstellen kann, der in einer näheren Regionherrscht, diplomatisch zu lösen – ein Krieg, der über400 000 Tote gefordert hat und 11 Millionen Menschenheimatlos gemacht hat, ein Krieg, der sich, meine Kolle-ginnen und Kollegen, eben nicht auf Begriffe wie „Assadgegen das Volk“, „Putin für Assad“, „der Iran gegen dieSunniten“ oder „die USA und die Koalitionäre gegenDaesh“ reduzieren lässt.Mir ist persönlich ist zum Heulen, wenn ich die Hilflo-sigkeit der Menschen vor Ort sehe. Und ich verstehe ihreSituation, ihren Wunsch, den wir auch vor Ort verspü-ren: nur noch weg! – Was sollen sie auch tun, wenn sieüberlebt haben? Es gibt wegen der gezielten Zerstörungvon Krankenhäusern keine medizinische Versorgung.Wer Glück hat, findet noch eine der letzten existierendenNotkliniken in Kellern, in Löchern. Eine wirkliche medi-zinische Versorgung ist das jedoch nicht. Ärzte und an-dere Zivilisten, die in Ost-Aleppo geblieben sind, müssenVerhaftungen durch das Regime befürchten. Denn wiesoll bei rund 1 200 unterschiedlichen Rebellengruppennoch zwischen Kämpfern und Zivilisten, zwischen gutenTobias Zech
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 201620470
(C)
(D)
Rebellen und Daesh, zwischen Kriminellen und anderenMenschen unterschieden werden?Die Menschen, die heute fliehen, befürchten Rache-akte des Regimes; sie fürchten Folter und Tod entwederdurch Assads Regime selbst oder durch den Daesh oderwen auch immer. Und wir müssen – so wie FerdinandLassalle es einmal sagte – das aussprechen, was ist. Undwir können nicht abwarten und zuschauen, sondern wirmüssen weiterhin für eine diplomatische Lösung, sowie dies Frank-Walter Steinmeier, unser Außenminis-ter, bereits macht, den Weg bereiten – für die Menschenzwischen den Fronten, deren Lebensmittelvorräte aufge-braucht sind, deren Wasserversorgung zusammengebro-chen ist, deren Häuser und Straßen in der gesamten Stadtzerstört sind.Nicht zuletzt müssen wir das mit der Versorgung ver-bundene Risiko für uns und für die Menschen mit ein-preisen. Es ist viel zu kurz gesprungen, sich für die ver-meintlich schnelle und einfache Lösung der Versorgungüber Airdrops auszusprechen und sie der Lösung derVersorgung über den Landweg gegenüberzustellen, wennman weiß, dass die Vereinten Nationen nach umfangrei-cher Prüfung festgestellt haben, dass das Angriffsrisikodabei zu hoch ist.Ich weiß: Wir, die wir hier im beheizten Reichstagsge-bäude sitzen, können uns nicht vorstellen, was die Men-schen dort vor Ort erleben. Ich war gestern Abend beider von der Kollegin Finckh-Krämer erwähnten Veran-staltung zum Alternativen Nobelpreis, bei der die Vertre-ter der Syria Civil Defense, der sogenannten Weißhelme,von ihrer Arbeit berichtet haben. Ich gebe ganz offen zu,dass mich ein Satz nicht loslässt – es war der letzte –:Bitte unterstützt uns, bitte helft uns!Der UN-Sicherheitsrat tagt am heutigen Mittwoch zurhumanitären Notlage in Aleppo. Er befasst sich damit. Eswird also nicht nichts getan.
Der UN-Sondergesandte Staffan de Mistura wird dieWeltgemeinschaft über die Situation in Aleppo informie-ren. Der französische UN-Botschafter warnt, dass dasKriegsgeschehen in der Stadt zum schlimmsten Massa-ker an der Zivilbevölkerung seit dem Zweiten Weltkriegwerden könnte. – Deshalb muss dieser Krieg beendetwerden. Der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestagshat heute grünes Licht gegeben, das Kriegsstrafrecht zuverschärfen. Das ist gut, das ist richtig. Der AuswärtigeAusschuss dokumentiert die Menschenrechtsverletzun-gen dort. Wir dürfen nämlich nicht schweigen, sondernwir müssen sie klar und deutlich benennen.
Das alles ist gut und richtig. Jedoch frage ich mich:Wie können wir unserer Verantwortung insgesamt ge-recht werden? Denn es geht jetzt nicht um Recht, umMacht und um Einfluss, sondern es geht um die Men-schen. Internationale Hilfslieferungen müssen von dersyrischen Regierung und auch von Russland wieder zuden Menschen durchgelassen werden, und das geht nur,wenn man redet, und zwar mit jedem, auch mit denjeni-gen, mit denen man lieber nicht reden würde.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, man mussauch den Partner Türkei in die Verantwortung nehmen.Deshalb hier die klare Aufforderung an die Türkei: Küm-mern Sie sich um den Kampf gegen den IS in Syrien!Treiben Sie den Finanziers die Gedanken aus dem Kopf,damit die völkerrechtswidrigen Luftangriffe im NordenSyriens endlich beendet werden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Lichtam Rednerpult leuchtet auf. Meine Zeit, die mir gegebenist, ist zu Ende.
– Ja, nur die Redezeit. Stimmt! – Nichtsdestotrotz möch-te ich einen Gedanken an die Zukunft gerichtet formu-lieren. Wir haben den Wiederaufbau des Landes aus denAugen verloren. Wir werden für die WiederbesiedlungVorbereitungen treffen. Die Frage ist: Welche Hilfe müs-sen wir durch unsere Peacekeeper leisten? Lasst uns da-rüber reden, wie wir Leib und Leben unserer Entwick-lungshelfer und dann auch der Heimkehrer schützenkönnen, und zwar in einer Region, die es wert ist, wiedermit Menschen besiedelt zu werden.
Interessanter Versuch, Kollege, aber Sie müssen jetzt
einen Punkt setzen.
Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Michael Brand für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir sind in der Adventszeit. Sie alle kennen das Lied„Kling, Glöckchen, klingelingeling“. In der ersten Stro-phe heißt es:Lasst mich ein, ihr Kinder, ist so kalt der Winter,öffnet mir die Türen, lasst mich nicht erfrieren.Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch in Syrien stehtder Winter bevor. Die Lage wird sich dort noch weiterverschlechtern. Die Medikamente gehen aus, ebenso dieLebensmittel. Ich möchte zwei Punkte aus der Debatteaufgreifen.Es ist von der „großen Lösung“ gesprochen worden.Ja, natürlich, jeder wünscht sich die große, die schnel-le Lösung, aber wenn die große Lösung nicht möglichist, dann muss ich mich um Alternativen kümmern; dennDr. Karl-Heinz Brunner
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 2016 20471
(C)
(D)
ansonsten ist in Syrien keiner mehr da, alle sind wegge-bombt. Deswegen muss sich die Weltgemeinschaft natür-lich die Frage nach Airdrops, die Frage nach Korridoren,die Frage nach einer Schutzzone stellen, und zwar bei allden Risiken, die das haben kann; wir haben es in Bosnienerlebt.
Wir müssen in Alternativen denken und den Mut haben,über diese konkreten Fragen zu diskutieren und zu ent-scheiden. Wir müssen eine Antwort auf die Frage finden,ob wir dazu bereit sind.Ich möchte einen zweiten Punkt aufgreifen. Die hu-manitäre Hilfe ist angesprochen worden. In der Tat: DerDeutsche Bundestag hat in der vergangenen Woche mitder Verabschiedung des Bundeshaushaltes eine wichtigeEntscheidung gefällt und die Mittel für Hilfe für die Kri-senregionen verdreifacht. Das ist notwendig, auch aus ei-genem Interesse. Aber die Wahrheit ist, dass die humani-täre Hilfe oftmals genau dort nicht ankommt, wo sie amdringendsten gebraucht wird. Deswegen sind die Fragen,die ich eben aufgeworfen habe, Fragen, denen wir unsjetzt stellen müssen, sonst wird in Syrien niemand mehrsein, wenn vielleicht mal die große Lösung kommt.Ich möchte heute etwas Ungewöhnliches tun und mei-ne Stimme Ahmad al-Jussuf geben. Ich muss ehrlich sa-gen: Es fällt mir schwer, noch Worte zu finden angesichtsdes Infernos in Aleppo und in Syrien. Ahmad al-Jussufwar gestern zu Gast im Deutschen Bundestag. Mit Ab-geordneten aus allen Fraktionen haben wir vor wenigenWochen erst die Parlamentariergruppe „Alternativer No-belpreis“ gegründet. Es war gestern Abend eine Premierehier im Hohen Haus, dass die Preisträger, wenige Tagenach der Auszeichnung in Schweden, nach Berlin gekom-men sind, um wachzurütteln. Es waren Preisträger dabeiwie die älteste und unabhängige Tageszeitung Cumhu-riyet, die ägyptische Frauenrechtlerin Mozn Hassan, die74-jährige russische Menschenrechtsaktivistin SwetlanaGannuschkina und eben der „Syrische Zivilschutz“, diesogenannten „Weißhelme“.Diese Gruppe von Freiwilligen hat über 70 000 Men-schen aus den Trümmern in Syrien gerettet. Sie gehendorthin, wo die Bomben fallen. Sie buddeln Verschütte-te aus, löschen Brände, versorgen Verletzte. Im Internetfinden Sie Aufnahmen davon, wie sie kleine Kinder undBabys aus den Trümmern befreien.Unser Freund aus Syrien hat uns gestern Folgendesgesagt:Mein Name ist Ahmad al-Jussuf. Ich bin aus Syri-en, repräsentiere hier den syrischen Zivilschutz, diesogenannten Weißhelme, die einzige Organisationin Syrien zur Rettung von Zivilisten, die Opfer destäglichen Bombardements werden. Bei uns arbei-ten etwa 3 000 Freiwillige in 120 Stützpunkten inacht syrischen Provinzen, die sich dafür entschiedenhaben, ihr Leben einzusetzen für die Rettung vonMenschenleben an einem der gefährlichsten Orteder Welt, wo die Moral der Welt angesichts der Bar-barei verschwunden ist und angesichts des organi-sierten Verbrechens, das dem syrischen Volk, aberauch der ganzen Menschheit angetan wird.Ganz ehrlich gesagt, ich bin ratlos und stehe hilf-los vor Ihnen und hilflos vor meinen Angehörigenin Syrien, insbesondere in der östlichen Region vonGhuta bei Damaskus und in Aleppo. Aleppo, wo dieWelt heute zusieht, wie Menschen abgeschlachtetwerden, und wo die Welt zusieht, wie ganze Städtezerstört werden.Ehrlich gesagt, ich habe gezögert, bevor ich michentschied, hierherzukommen. Ich erinnere mich anmeine Kameraden, meine 150 Kameraden vom Zi-vilschutz, die bei ihrer Arbeit, bei ihrem Versuch,Menschenleben zu retten, selbst ums Leben kamen.Ich habe mit vielen von ihnen gesprochen, und ichhabe sie zurückgelassen. Sie blicken dort dem Todins Auge, und ich weiß nicht, mit welcher Botschaftich zu ihnen zurückkommen soll.Wir schätzen es sehr, dass Sie uns diesen Preisverliehen haben. Wir bedanken uns für alle Preise;denn sie sind eine Botschaft der Solidarität, die unsHoffnung gibt. Wir bedanken uns auch für die Kran-kenwagen und die Feuerwehrfahrzeuge, die Sie unsschicken und die uns dabei helfen, Zivilisten zu ret-ten, bevor sie von syrischen und russischen Flug-zeugen bombardiert werden. Gleichzeitig ist es miraber auch peinlich, solche Preise entgegenzuneh-men, während unsere Angehörigen in Syrien Tag fürTag getötet werden.In diesem Moment, während ich zu Ihnen spreche,werden Zivilisten in Aleppo, in Ost-Aleppo, ob-dachlos gemacht. Sie fliehen aus der Katastrophe.Sie laufen durch Trümmer und suchen nach einemSchutz. Währenddessen verbluten Verwundete an-gesichts der Ohnmacht der Ärzte, die ihnen keineMedikamente mehr und keine Behandlung mehrzuteilwerden lassen können, nachdem syrische undrussische Flugzeuge alle Krankenhäuser und Klini-ken zerstört haben.Stellen Sie sich einmal vor, welch dramatische Si-tuation das ist! Was in Syrien passiert, ist ein unbe-schreiblicher und unglaublicher Schrecken, und dasUnvermögen der Welt, Schritte zu unternehmen, umall das zu beenden und um das Töten zu beenden,ist ebenso unglaublich! Was sich daraus entwickelnwird, aus Tragödien, Schmerz und Hass, ist ebensounglaublich.Wir tragen die Botschaft des Lebens an unser Volkund an die Welt. Wo sind unsere Partner? Wer wirdsich bereiterklären, uns angesichts dieses Todes inSyrien beizustehen und uns auf dem Weg des Le-bens zu begleiten? Stehen Sie zu uns, meine Da-men und Herren! Stehen Sie uns bei! Stehen Sie derMenschlichkeit bei!
Michael Brand
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 201620472
(C)
(D)
Das Wort hat der Kollege Thorsten Frei für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Indieser Aktuellen Stunde haben zahlreiche meiner Vorred-ner auf das hingewiesen, was in Aleppo, was in Syrienpassiert. Wir erleben einen totalen Zivilisationsbruch,den ich kein weiteres Mal beschreiben muss.Es ist auch darauf hingewiesen worden – das scheintmir wichtig zu sein, weil es nach vorne gerichtet ist –,dass das, was wir in Aleppo erleben, als Pars pro totoletztlich für das ganze Land steht. Nach UN-Angabenhaben fast 1 Million Menschen in Syrien in den unter-schiedlichsten Städten und Regionen unter nahezu dengleichen Bedingungen zu leben. Sie sind abgeschnittenvon humanitären und medizinischen Hilfsleistungen. Siesind deshalb genauso ins Licht zu rücken wie die Men-schen im Ostteil Aleppos.Natürlich ist es richtig, zu überlegen: Was könnenwir tun, und was tun wir? Auch die Frage, Frau Göring-Eckardt: „Tun wir genug?“, ist natürlich berechtigt.Aber wir müssen aus den Antworten letztlich auchKonsequenzen ziehen. Das heißt für mich, dass wir diebescheidenen Möglichkeiten, die wir in Syrien haben,auch tatsächlich nutzen sollten. Es ist weiter an den di-plomatischen Initiativen zu arbeiten. Es ist weiter daranzu arbeiten, dass humanitäre Hilfe auch ankommt. Dennwir leisten dort in der Tat genug. Deutschland war Mit-initiator der Londoner Geberkonferenz im Februar. Dortwurde mehr Geld als je zuvor eingesammelt: 10 Milliar-den Euro. Deutschland allein hat mit 2,3 Milliarden Euromehr als jeder andere gegeben. Jetzt kommt es daraufan, dass man die Hilfe auch dorthin bringt, wo man siebenötigt.Das bedeutet, neue Wege zu gehen. Das bedeutet, ris-kantere Wege zu gehen. Das bedeutet auch, dass, wenndie beste Lösung nicht realisierbar ist, die zweitbeste inAngriff genommen werden muss. Deswegen muss mandie Vorbereitungen für mögliche Airdrops treffen.
Es bedeutet auch – mein Kollege Röttgen hat es ange-sprochen –, dass wir uns zumindest ernsthaft darüber Ge-danken machen, ob das Verhängen von Sanktionen einprobates Mittel sein kann. Wir sollten es jedenfalls nichtpauschal ausschließen und sagen: Sanktionen und Ver-handlungen gehen nicht zusammen. Denn dies ist durchdie Geschichte widerlegt. Ich erinnere hier an die Ukrai-ne. Deshalb meine ich: Wir sollten sehr wohl überlegen,ob wir mehr tun können, als wir derzeit tun.
Wir haben in dieser Debatte die vielen verschiedenenFacetten aufgedröselt. Wir haben auch Verantwortlich-keiten benannt und über Russland und seine Verantwor-tung gesprochen. Daher ist es, glaube ich, wichtig, daraufhinzuweisen, dass Russland und namentlich PräsidentPutin hier nicht nur Kriegsverbrechen begeht, sondernletztlich angesichts seiner Politik die Verantwortung da-für zu übernehmen hat, wenn das Morden in Syrien wei-tergeht. Es könnte sein, dass es am Ende in eine Reihemit den Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien zustellen ist.Es könnte etwas entstehen, das man als das neue So-malia bezeichnen muss. Denn über Jahre oder vielleichtauch Jahrzehnte hinweg ist der Staat dort gescheitertund nicht in der Lage, Sicherheit und Wohlfahrt für sei-ne Menschen zu gewährleisten. Das muss man klar unddeutlich benennen. Genauso deutlich zu nennen ist dieVerantwortlichkeit des Iran, der seine eigene Agendaverfolgt und letztlich einen Zugang für Militärbasen amMittelmeer möchte. Der Iran betreibt dort seine eigeneschiitische Politik, führt Allianzen und sorgt dafür, dassin Syrien in der Tat auch ein Stellvertreterkrieg geführtwird. Das muss man alles klar benennen; das ist voll-kommen richtig.
Aber es ist ja immer so, dass Finger auf einen zurück-zeigen, wenn man auf andere zeigt. Ich möchte gerneeinen Schritt weitergehen, als es die Vorredner getan ha-ben. Es ist doch in der Tat so, dass die Rolle, die wir inSyrien spielen – damit meine ich Deutschland, die Euro-päische Union und die Gemeinschaft der europäischenStaaten –, eine jämmerliche ist. Ich will das in dieserDeutlichkeit formulieren. Das ist jetzt nicht nur ein Ver-weis nach Brüssel, sondern es ist auch ein Verweis an unsselbst. Wir sitzen bei Verhandlungen über Syrien nichteinmal am Katzentisch.
Es sind Russland und die USA, die verhandeln. Wir sindes definitiv nicht.
Trotz aller Bemühungen, die es in der Vergangenheit ge-geben hat, sind wir letztlich nicht in der Lage, machtvol-ler Spieler in diesem Bereich zu sein.
Wir müssen daraus Konsequenzen ziehen. In Europabrauchen wir eine stärkere Zusammenarbeit in der Si-cherheits- und Verteidigungspolitik.
Auch wir Deutschen müssen unsere Hausaufgabenmachen. Die USA wenden zehnmal mehr für Sicherheitund Verteidigung auf als wir.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 30. November 2016 20473
(C)
(D)
Die 500 Millionen Menschen in den 28 Staaten Europaskommen zusammen nicht einmal auf die Hälfte der Auf-wendungen der USA. Die Aufwendungen sind doppeltso hoch wie die der Russen. Trotzdem schaffen wir nichteinmal die Hälfte der Effektivität. Das ist für mich eineLehre.Hier müssen wir etwas ändern. Es gab Ruanda, undnichts ist passiert. Es gab Srebrenica, und nichts ist pas-siert. Jetzt stehen wir vor Aleppo und Syrien. Wir solltenendlich aufwachen und eine Politik betreiben, die aufeuropäische Zusammenarbeit setzt! Wir sollten unse-re Hausaufgaben machen! Das ist, glaube ich, die Bot-schaft, die mit diesem Thema für uns verbunden ist.Vielen Dank.
Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich danke Ihnen allen
für diese Debatte.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Donnerstag, den 1. Dezember 2016,
10 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen bis dahin alles Gute. In diese guten
Wünsche beziehe ich auch all diejenigen ein, die unse-
rer Debatte heute Nachmittag gefolgt sind, einschließlich
der 30 jungen Damen aus Rheinhessen, die mir beson-
ders ans Herz gelegt wurden.
Die Sitzung ist geschlossen.