1) Anlage 10
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
(A) (C)
(B) (D)
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17737
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Bellmann, Veronika CDU/CSU 23 .06 .2016
Brähmig, Klaus CDU/CSU 23 .06 .2016
Fabritius, Dr . Bernd CDU/CSU 23 .06 .2016
Ferlemann, Enak CDU/CSU 23 .06 .2016
Ferner, Elke SPD 23 .06 .2016
Groth, Annette DIE LINKE 23 .06 .2016
Heller, Uda CDU/CSU 23 .06 .2016
Hintze, Peter CDU/CSU 23 .06 .2016
Hirte, Dr . Heribert CDU/CSU 23 .06 .2016
Hübinger, Anette CDU/CSU 23 .06 .2016
Irlstorfer, Erich CDU/CSU 23 .06 .2016
Krichbaum, Gunther CDU/CSU 23 .06 .2016
Launert, Dr . Silke CDU/CSU 23 .06 .2016
Lerchenfeld, Philipp
Graf
CDU/CSU 23 .06 .2016
Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
23 .06 .2016
Mortler, Marlene CDU/CSU 23 .06 .2016
Nowak, Helmut CDU/CSU 23 .06 .2016
Petzold, Ulrich CDU/CSU 23 .06 .2016
Pflugradt, Jeannine SPD 23 .06 .2016
Radomski, Kerstin CDU/CSU 23 .06 .2016
Schäfer (Saalstadt),
Anita
CDU/CSU 23 .06 .2016
Schimke, Jana CDU/CSU 23 .06 .2016
Warken, Nina CDU/CSU 23 .06 .2016
Wicklein, Andrea SPD 23 .06 .2016
Zimmermann
(Zwickau), Sabine
DIE LINKE 23 .06 .2016
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Thomas Jarzombek (CDU/CSU)
zu der Abstimmung über den von der Bundesre
gierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Neuregelung des Kulturgutschutzrechts (Tages
ordnungspunkt 7)
Die Fraktionen CDU/CSU und SPD haben im Koaliti-
onsvertrag 2013 eine Novellierung des Kulturgutschutz-
gesetzes verabredet . Es soll ein „den Kulturgutschutz
stärkendes, kohärentes Gesetz“ geschaffen werden, um
sowohl illegal ausgeführtes Kulturgut anderer Staaten
effektiv an diese zurückzugeben, als auch deutsches
Kulturgut besser vor Abwanderung ins Ausland zu schüt-
zen .“ Dieses Ziel teile ich .
Der Schutz von national wertvollen Kulturgütern vor
dem Verkauf ins Ausland soll durch Aufnahmen in ent-
sprechende Verzeichnisse erfolgen .
Als Abgeordneter aus Nordrhein-Westfalen kenne ich
die vielfältige Kunst- und Kunsthandelsszene aus eigener
Erfahrung; Düsseldorf ist eines der wichtigsten Zentren
mit einer Vielzahl von Galerien und Kunsthändlern .
Die vielfach geäußerte Kritik am Gesetzentwurf zu
den Beschränkungen beim Import von Kulturgütern teile
ich ausdrücklich nicht . Das Ziel ist, dadurch die Geld-
ströme von Kriminellen und Terroristen aus dem Verkauf
von Antiquitäten und Kunstwerken aus Raubgrabungen
in archäologischen Stätten, insbesondere in Konflikt-
und Kriegsgebieten, auszutrocknen . Das kulturelle Erbe
der Menschheit ist für einige Konfliktparteien nur Geld-
erwerb für Terror und Verbrechen . Illegal gehandelte
Kulturgüter dürfen nicht nach Deutschland eingeführt
werden, wenn sie aus Fundstätten früherer Hochkulturen
rücksichtslos geplündert wurden und damit für das kul-
turelle Erbe der Menschheit und künftige wissenschaftli-
che Forschung unwiederbringlich verloren gehen .
Die Beschränkungen bei der Ausfuhr von Kulturgü-
tern sehe ich hingegen kritisch . Es droht die Gefahr, dass
das Gesetz das Gegenteil dessen erreicht, was es bezwe-
cken soll . Es ist zu befürchten, dass bis zum Inkrafttreten
des Gesetzes nach der Übergangszeit mehr Kulturgüter
das Land verlassen als anschließend geschützt werden .
Selbst der Westdeutsche Rundfunk (WDR) verkauft
mehrere wertvolle Werke aus seiner Sammlung zur kurz-
fristigen Finanzierung über Auktionshäuser im Ausland .
Seit der Diskussion über das Kulturgutschutzgesetz ist zu
beobachten, dass deutsche Galerien jetzt zunehmend De-
pendancen im europäischen und außereuropäischen Aus-
land eröffnen . Auch die Museen in Deutschland werden
Probleme haben, internationale Leihgaben für ihre Häu-
ser zu bekommen . Auch Sammler werden sich zukünftig
fragen, ob ein Investment in zeitgenössische Kunst sinn-
voll ist, wenn sie später nicht wissen, ob sie die Waren
verkaufen können .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617738
(A) (C)
(B) (D)
Mit dieser persönlichen Erklärung möchte ich zum
Ausdruck bringen, dass ich das Ziel und weite Teile
des Gesetzes grundsätzlich befürworte . Die praktischen
Auswirkungen der Exportbeschränkungen sehe ich aber
nicht ausreichend gewürdigt .
Aus diesem Grund enthalte ich mich bei der Abstim-
mung über den Gesetzentwurf .
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Sylvia KottingUhl (BÜND
NIS 90/DIE GRÜNEN) zu der namentlichen Ab
stimmung über die Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bun
desregierung: Fortsetzung der deutschen Beteili
gung an der internationalen Sicherheitspräsenz
in Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244
(1999) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 10. Juni 1999 und des MilitärischTechnischen
Abkommens zwischen der internationalen Sicher
heitspräsenz (KFOR) und den Regierungen der
Bundesrepublik Jugoslawien (jetzt: Republik Ser
bien) und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999
(Tagesordnungspunkt 10)
Den Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der
deutschen Beteiligung an der internationalen Sicher-
heitspräsenz in Kosovo auf der Grundlage der Resolu-
tion 1244 aus dem Jahr 1999 des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen vom 10 . Juni 1999 und des Militä-
risch-Technischen Abkommens zwischen der internatio-
nalen Sicherheitspräsenz (KFOR) und den Regierungen
der Bundesrepublik Jugoslawien (jetzt: Serbien) und der
Republik Serbien vom 9 . Juni 1999 lehne ich ab .
Ich begründe das:
Dieses Mandat besteht nunmehr seit 17 Jahren . Jahr
für Jahr wird es verlängert .
Nach 17 Jahren internationaler Sicherheitspräsenz
ist die Sicherheitslage in Kosovo und der umgebenden
Region weiterhin fragil . Übergriffe und Gewaltakte sind
fast an der Tagesordnung . Die Spannungen zwischen
Serbien und Kosovo können Beobachtern zufolge jeder-
zeit in einen offenen Konflikt münden.
Die sozioökonomische Lage in Kosovo ist unverän-
dert schlecht . Vor allem Jugendliche sind in unverant-
wortbarem Ausmaß von Perspektivlosigkeit betroffen .
Bad Governance sorgt für Klientelismus und Korruption
und setzt der weit verbreiteten organisierten Kriminalität
nichts entgegen . Das Leben von Minderheiten wie der
Roma ist grundsätzlich von Armut, Ausgrenzung und
Diskriminierung geprägt .
Macht es Sinn, aus einem solchen Land die Bun-
deswehr, die dort Teil der Sicherheitspräsenz ist, abzu-
ziehen? Nur das Dort und Jetzt betrachtet: Nein, sicher
nicht!
In dieser Denklogik verlängert der Deutsche Bundes-
tag das KFOR-Mandat jedes Jahr . Auch die Bundestags-
fraktion Bündnis 90/Die Grünen gibt ihre Zustimmung
mit großer Mehrheit . Der Grund dafür ist durchaus be-
rechtigt: Nichts würde besser, wenn das Mandat beendet
würde, im Gegenteil würde sich die Situation von Gewalt
und Bedrohung eventuell rapide verschlechtern .
Responsibility to protect kann sich für mich – wenn
der Begriff zu Ende gedacht wird – nicht in militärischer
Präsenz erschöpfen . Aber Europa und die UN versagen
völlig im Entwickeln einer zukunftsfähigen Strategie für
den Westbalkan . Die Republik Kosovo ist noch nicht ein-
mal von allen Mitgliedstaaten der EU anerkannt . Trotz
des am 1 . April 2016 in Kraft getretenen Stabilisierungs-
und Assoziierungsabkommens ist die EU kein Treiber
beim Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Insti-
tutionen in Kosovo . Mit militärischer Präsenz allein hat
aber weder die EU noch haben die Vereinten Nationen in
Kosovo ihr Soll erfüllt .
Deutschland hat darüber hinaus Kosovo inzwischen
als „Sicheres Herkunftsland“ deklariert . Daraus ergibt
sich für mich eine ganz besondere Verpflichtung, beim
Aufbau von Rechtsstaatlichkeit und Good Governance in
Kosovo behilflich zu sein. Ich nehme hier keine ange-
messenen Bemühungen wahr .
Ich lehne deshalb – anders als im letzten Jahr – die
Verlängerung des Mandats ab . Nicht, weil ich nicht über-
zeugt wäre, dass die internationale militärische Präsenz
die Sicherheit dort zumindest in einer fragilen Lage hält,
sondern, weil mir die Alibi-Verantwortungsübernahme
durch militärischen Einsatz zu wenig ist . Nach 17 Jahren
muss die Sinnhaftigkeit eines vor allem auf militärischem
Einsatz beruhenden Engagements hinterfragt werden .
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und
Energie zu dem Antrag der Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Frank Tempel, Ulla Jelpke, weite
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:
Netzneutralität im Rahmen der Vorgaben der
EUVerordnung gesetzlich absichern (Tagesord
nungspunkt 19)
Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Der vorliegende
Antrag der Fraktion Die Linke ist mittlerweile mehr als
sieben Monate alt . In diesen Monaten hat sich eine Men-
ge getan . Die Argumentation der Linken, dass wir durch
die Verordnung in ein Zwei-Klassen-Internet abrutschen
könnten, ist nicht haltbar .
Man muss erst einmal deutlich sagen: Es ist eine gro-
ße Leistung, dass die Europäische Kommission und das
Europäische Parlament mit der Verordnung zum TK-Bin-
nenmarkt eine europaweite Verordnung zur Netzneutra-
lität auf den Weg gebracht haben . Wir haben erstmals
eine einheitliche europäische Regelung . Genau das war
das Ziel, welches auch im Koalitionsvertrag verabredet
wurde .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17739
(A) (C)
(B) (D)
Wenn wir als Gesetzgeber anfangen, diese Verordnung
wieder in nationale Gesetze umzusetzen, dann machen
wir eine Rolle rückwärts . Es ist also schon vom Grundan-
satz her eigentlich widersinnig, was Sie in Ihrem Antrag
fordern . In der Verordnung zum TK-Binnenmarkt wurde
das Thema aus unserer Sicht gut umgesetzt .
Ich möchte noch mal kurz deutlich machen, warum
wir diese Verordnung brauchen . Wer sich über die Jah-
re hinweg an der Diskussion beteiligt hat, weiß, dass
Netzneutralität ein sehr dynamisches Phänomen ist . Aus
technischer Sicht haben wir stetig steigende Datenmen-
gen im Internet zu verzeichnen, mit denen wir verant-
wortungsbewusst umgehen müssen . Aus wirtschafts- und
netzpolitischer Perspektive darf beim Marktzugang nie-
mand diskriminiert werden, um innovativen Start-ups,
der Innovationskraft des Mittelstands und der Informa-
tionsfreiheit nicht im Wege zu stehen . Die gesellschafts-
politischen Fragestellungen drehen sich um einen freien,
offenen und diskriminierungsfreien Zugang, für eine
gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe am Internet .
Diesen Dreiklang galt es bei der Verordnung zu vereinen,
was meiner Meinung nach gut gelungen ist .
Wer einen Blick in die Zukunft wirft, wird zudem er-
kennen, dass der sich am Horizont abzeichnende neue
5G-Standard im Bereich der mobilen Telekommunikati-
on Einzug halten wird . Dann wird das Thema Netzneu-
tralität keine Rolle mehr spielen . Beim 4G-Standard, den
wir derzeit noch haben, ist das anders . Daher ist die Netz-
neutralität derzeit noch notwendig, aber in Zukunft wird
genügend Bandbreite zur Verfügung stehen . Aber das nur
am Rande .
Der jetzige Kompromiss sieht vor, dass wir notwen-
dige Investitionen und damit Investitionsanreize für pri-
vatwirtschaftliche Netzbetreiber schaffen wollen . Wir
benötigen diese, damit der Netzausbau noch schneller
vorangeht und weiter leistungsfähige Anschlüsse ge-
schaffen werden . Der Staat alleine wird diese Investi-
tionen nicht stemmen können . Sie werden allerdings
benötigt, um zukünftige Anwendungen im Bereich der
Telemedizin, des automatisierten Fahrens oder der Indus-
trie 4 .0 mit hohen Bandbreiten und niedrigen Latenzzei-
ten gewährleisten zu können .
In der Gesamtkonstellation ist es richtig, dass die
Bundesnetzagentur für Deutschland die Aufgabe über-
nimmt, die Umsetzung der europäischen Regelungen zu
überwachen . Die Aufgabe der Spezialdienste ist in der
Verordnung ganz klar geregelt: Sie können künftig an
der Finanzierung des zusätzlichen Infrastrukturausbaus
beteiligt werden, indem sie für kostenpflichtige quali-
tätssichernde Datenübertragungen im Internet bezahlen .
Ich kann die Diskussion darüber nicht nachvollziehen;
denn Spezialdienste dürfen nur angeboten werden, wenn
das entsprechende Angebot notwendig ist . Spezialdiens-
te dürfen kein Ersatz für offenes Internet sein; das ist
ja genau das, was wir alle hier in diesem Hohen Hause
gemeinsam fordern . Spezialdienste dürfen nur bei aus-
reichenden Netzkapazitäten erbracht werden; auch das
ist ein sehr wichtiger Punkt . Dort, wo Bandbreiten nicht
ausreichend zur Verfügung stehen, werden auch keine
Spezialdienste angeboten werden können . Auch noch
wichtig ist: Spezialdienste dürfen die gesamte Qualität
des Internets nicht beeinträchtigen .
Damit ist festzustellen: Von europäischer Ebene aus
sind entsprechende Sicherungen eingebaut worden, so-
dass man sagen kann: Das Internet für alle – und das ist
das, was wir alle wollen – ist damit abgesichert . Das offe-
ne Internet bleibt der Regelfall . Netzbetreiber dürfen aus
kommerziellen Gründen weder sperren noch verlangsa-
men . Es geht nicht darum, dass Netzbetreiber in Zukunft
entscheiden können, welche Inhalte sie transportieren,
sondern darum, dass sie in bestimmten Bereichen zusätz-
liche entgeltliche Leistungen anbieten können . Dabei ist
zu gewährleiten, dass Spezialdienste diskriminierungs-
frei ausgestaltet werden, damit keine Nachteile für den
Mittelstand oder Gründer entstehen .
Denn klar ist auch: Wir brauchen diese Spezialdienste .
Das wissen Sie selbst sehr genau . Zu den Spezialdiensten
gehören zum Beispiel lebensrettende Dienste, das kön-
nen telemedizinische Dienste sein . Das sind auch Diens-
te, die für die gesamte Steuerung des Straßenverkehrs
notwendig sind .
Insofern stehen wir zu den Spezialdiensten . Spezial-
dienste werden möglicherweise nicht zum gleichen Preis
angeboten werden, aber die Voraussetzungen für die Nut-
zung sind klar definiert.
Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Eine Umset-
zung in nationales Recht ist nicht erforderlich, da die Ver-
ordnung europaweit gilt . Ein nationaler Alleingang wäre
sogar eher kontraproduktiv, da er zu einer Zersplitterung
des Binnenmarktes führen und die Rechtsunsicherheiten
erhöhen würde . Zudem hat die europäische Regulie-
rungsstelle BEREC am 6 . Juni 2016 einen im Vergleich
zu diesem Antrag viel differenzierteren Leitlinienentwurf
vorgelegt und verschiedenste Marktteilnehmer dazu kon-
taktiert . Die Bundesnetzagentur hat nun die Aufgabe,
eine praktische Umsetzung der Regelungen in Deutsch-
land zu überwachen . Leitlinien für deren Durchsetzung
sollen bis Ende des Sommers erarbeitet werden . Ein jähr-
liches Monitoring und weitreichende Berichtspflichten
wurden ebenfalls vereinbart, um in Brüssel gegebenen-
falls gegensteuern zu können . Ich kann nur sagen: Wir
sind bei diesem Thema auf einem guten Weg . Ich hoffe,
dass der dynamische Prozess hin zum nächsten Standard
auch auf europäischer Ebene weiter verfolgt wird . Wir
werden Ihren Antrag ablehnen .
Klaus Barthel (SPD): Nach der vielfachen Diskussi-
on über diesen Antrag der Linksfraktion hätte ich erwar-
tet, dass er zurückgezogen wird, anstatt das Plenum des
Deutschen Bundestages noch mal damit zu belasten .
Schon bei der ersten Beratung am 14 . April 2016 an
dieser Stelle haben die Redner der Regierungskoalition
überzeugend dargelegt, dass der Antrag nicht geeignet
ist, uns dem gemeinsamen Ziel der Netzneutralität auch
nur einen Millimeter näher zu bringen .
Wir haben – ebenso wie der Antrag – auf die EU-Ver-
ordnung 2015/2120/EU hingewiesen . Wie die Links-
fraktion in ihrer Begründung selbst feststellt, gilt diese
Verordnung mit unmittelbarer Wirkung in allen Mitglied-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617740
(A) (C)
(B) (D)
staaten . Es ist also nicht möglich, sie durch nationale Ge-
setze zu verändern oder aufzuheben . Genau das fordert
die Linksfraktion, indem sie die Verordnung ausführlich
erörtert und kritisiert . Die Antragsverfasserinnen und
-verfasser sind sich dieses Widerspruchs unfreiwillig
bewusst, wenn sie im Schlussabsatz der Begründung
schreiben: „Mit der vorgeschlagenen Regelung wird die
EU-Verordnung umgesetzt“ – Anmerkung: sollen wir
jetzt eine Verordnung umsetzen, die Sie vorher wortreich
kritisieren? – „und in deren Rahmen die Netzneutralität
gewahrt“ – Anmerkung: nachdem Sie vorher ausgeführt
haben, dass die Verordnung dies gerade nicht tut . Weiter
heißt es: „Dies entbindet nicht davon, zukünftig dafür
zu werben, dass die Ausnahmen von der Netzneutralität
durch die EU-Verordnung wieder rückgängig gemacht
werden .“ So endet Ihr Papier .
Das wäre aber auch der ehrliche Ansatz, nämlich zu
sagen, dass die Verordnung eigentlich Mist ist, den man
ändern muss . Dann sollte man sich aber die Prosa spa-
ren, um diesen Mist vorher durch ein nationales Gesetz
umzusetzen . Logisch wäre also etwas anderes . Schon aus
rein formalen Gründen ist also der Antrag abzulehnen .
Aber auch inhaltlich können wir dem Antrag nicht
folgen . In der Tat schreibt nämlich die EU-Verordnung
die Netzneutralität als Grundsatz fest . Gleichzeitig lässt
sie Ausnahmen davon zu, aber sehr begrenzte . So dür-
fen Eingriffe nur erfolgen, soweit dies zur Aufrechter-
haltung eines effizienten Datenverkehrs erforderlich ist
oder dies im öffentlichen Interesse liegt, zum Beispiel
zur Gewährleistung der Netzsicherheit oder zur Krimi-
nalitätsbekämpfung . Bevorzugter Zugang gegen Bezah-
lung ist verboten, und Spezialdienste wie Internetfernse-
hen oder -spiele dürfen die Qualität des offenen Internets
nicht beeinträchtigen . Das ist eine wesentlich sinnvollere
Regelung als die von der Linken vorgeschlagene 5-Pro-
zent-Regelung, weil erstere auf die Art der Dienste ab-
hebt, anstatt für alles Mögliche 5 Prozent zu erlauben .
An dieser Stelle wird auch die beschränkte Bedeutung
der Netzneutralitätsdebatte sichtbar . Es geht im Kern
um die Frage: 5 Prozent von was? Für den Kunden oder
die Kundin geht es im Ergebnis um die Frage, wie viel
Bandbreite ihm oder ihr zur Verfügung steht . Die meis-
ten verfügen heute beispielsweise über 1 Megabit pro
Sekunde, es blieben also 0,95 Megabit übrig . Wer aber
über 100 Megabit pro Sekunde verfügt, hätte dann immer
noch das 100-Fache an Kapazität . Wenn wir unser Breit-
bandziel erreichen, alle mit 50 Megabit pro Sekunde zu
versorgen, hätten alle das 50-Fache des 1-Megabit-An-
schlusses .
Wir wollen also in erster Linie nicht wie Linksfrak-
tion und Grüne den Mangel verwalten, sondern die Ka-
pazitäten erhöhen . Vor diesem Hintergrund stellt sich
mir die Frage, weshalb gerade Linksfraktion und Grüne
so vehement gegen den Netzausbau durch Vectoring ab
Hauptverteiler polemisieren, das als Übergangstechnolo-
gie kurzfristig für immerhin rund 15 Prozent der Kund-
schaft höhere Übertragungsraten ermöglichen würde .
Wer glaubt, dass der Glasfaserausbau, den auch wir für
die sinnvollste Infrastrukturmaßnahme halten, schneller
ohne Vectoring voranginge, muss sich fragen lassen, wes-
halb dort nicht schon längst, bevor Vectoring kommen
konnte, mehr investiert wurde und weshalb es derzeit nur
deshalb vorangeht, weil EU, Bund, Länder und Kommu-
nen großzügig subventionieren . Woher der Anreiz kom-
men soll, hier mehr zu investieren, wenn Netzneutralität
pur kommt – so wie es der Antrag fordert – und somit ja
gerade Geschäftsmodelle mit Gewinnanreiz total verbo-
ten werden, steht für mich in den Sternen .
Der auf europäischer Ebene jetzt beschrittene Weg er-
scheint uns als der einzig sinnvolle . Das Gremium Euro-
päischer Regulierungsstellen für elektronische Kommu-
nikation, BEREC, ist jetzt in einem ersten Schritt seinem
Auftrag nachgekommen, Leitlinien zur Netzneutralität
zu entwickeln . Seit dem 6 . Juni 2016 kann man den Ent-
wurf einsehen und kommentieren . Die Konsultations-
phase dauert bis zum 18 . Juli . Also, liebe Oppositions-
fraktionen, auf geht’s! Dort ist die richtige Stelle für Ihre
Umsetzungsvorschläge, nicht hier im Bundestag .
Auch alle anderen interessierten Kreise sind aufgeru-
fen, zu kommentieren, bevor sich dann BEREC erneut
mit dem Thema befassen und am 30 . August die endgül-
tige Fassung veröffentlichen wird .
BEREC betont die Bedeutung der Netzneutralität und
definiert die Ausnahmen abschließend: Verkehrsmanage-
ment zur Erfüllung rechtlicher Anforderungen, Wahrung
von Netzintegrität und -sicherheit sowie Bewältigung
von Überlastungen, jeweils unter der Bedingung der
Gleichbehandlung gleichwertiger Daten . Es werden die
verschiedenen Arten von Diensten definiert, die Ausnah-
mebedingungen, unter denen Zero-Rating zulässig sein
könnte, ebenso das Verkehrsmanagement, Spezialdiens-
te, Transparenz usw . Schließlich wird beschrieben, wel-
che Aufgaben die nationalen Regulierungsbehörden bei
der Durchsetzung dieser Vorschriften haben .
An dieser Stelle zurück zum Antrag der Linksfrakti-
on . Sie spricht der Bundesnetzagentur die Legitimation
ab, festzustellen, was ein „diskriminierungsfreier Netz-
zugang“ ist . Mit Verlaub: Im Rahmen des TKG und der
dazugehörigen Verordnungen gehört es zum Alltagsge-
schäft der Regulierungsarbeit der Bundesnetzagentur,
mit solchen Begriffen umzugehen . Die EU-Verordnung
und die BEREC-Regeln werden es der Bundesnetzagen-
tur genauso ermöglichen, dies auszulegen . Ich wüss-
te nicht, weshalb in diesem Fall der Gesetzgeber dazu
besser befähigt wäre . Der Antrag der Linksfraktion gibt
darauf leider keine Antwort . Deshalb und aus all den
anderen Gründen empfehlen wir die Annahme der Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und
Energie, gerade im Interesse einer praktikablen Durch-
setzung der Netzneutralität .
Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Das Internet ist in
Gefahr . Zumindest das Internet, so wie wir es kennen .
Wir sind drauf und dran, das Internet als Medium für alle
zu verlieren. Schuld sind die Profitinteressen einiger we-
niger Konzerne . Sie wollen aus dem Mitmach-Internet
ein Geldmach-Internet machen . Herauskommen wird
ein Zwei-Klassen-Internet, in dem diejenigen, die wenig
besitzen, nur noch Basis-Funktionen und diejenigen, die
bereit sind, Geld locker zu machen, alle Funktionen nut-
zen können . Das klingt alles sehr drastisch, aber das wird
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17741
(A) (C)
(B) (D)
Ergebnis der EU-Verordnung sein, die Ende letzten Jah-
res verabschiedet wurde und das Prinzip der Netzneutra-
lität aushöhlt . Wir müssen endlich gewahr werden, dass
Netzneutralität nichts anderes ist als die soziale Frage
des digitalen Zeitalters . Doch so weit muss es nicht kom-
men . Denn die EU-Verordnung bietet die Möglichkeiten,
Netzneutralität weitestgehend zu sichern und das Netz
für alle offen zu halten .
Derzeit diskutiert die europäische Regulierungsbehör-
de BEREC darüber, wie die EU-Verordnung ausgelegt
werden kann . Leider hält sich die Bundesregierung kom-
plett aus dieser Diskussion raus und überlässt das lieber
der Bundesnetzagentur . Wir Linke haben spätestens seit
dem unsäglichen Vorgehen der Bundesnetzagentur bei
ihrer Entscheidung zum Ausbau von DSL-Vectoring un-
sere Zweifel, ob da wirklich etwas herauskommt, was
die Nutzerinnen und Nutzer des Internets im Fokus hat
und nicht die Profitinteressen der Konzerne. Denn was
die Bundesnetzagentur beim DSL-Vectoring veranstaltet
hat, nützt ausschließlich der Telekom . Wir wollen daher,
dass die Bundesregierung Position bezieht und selbst
dafür sorgt, dass die Netzneutralität auf Grundlage der
EU-Verordnung gesichert wird .
Nun hat BEREC ihre Vorstellungen einer Interpreta-
tion der EU-Verordnung vorgelegt . Ganz so katastrophal
wie befürchtet sind sie zum Glück nicht . Aber es bleiben
immer noch Schlupflöcher. Und diese Schlupflöcher sind
nach meiner Auffassung die Knackpunkte, will man ein
Zwei-Klassen-Internet verhindern . Diese Knackpunkte
heißen Zero-Rating, zweiseitige Märkte und Spezial-
dienste . Diese stellen die größte Gefahr des neutralen
Internets da . Und diese wären alle nach den BEREC-Plä-
nen erlaubt .
Wir wollen, dass zweiseitige Märkte und Zero-Ra-
ting-Angebote untersagt werden . Zweiseitige Märk-
te bedeutet, dass Zugangsanbieter wie beispielsweise
die Telekom nicht nur Geld für den Internetanschluss,
sondern noch zusätzlich für dessen Nutzung nehmen
können . Wer schneller durchgeleitet werden will, muss
mehr zahlen . Hierbei handelt es sich aber um Priorisie-
rung, die nur auf kommerziellen Erwägungen beruht .
Es hängt wohl kaum ein Leben davon ab, dass ein Vi-
deostreamingdienst schneller durchgeleitet wird als ein
anderer . Das ist ausschließlich eine Einnahmequelle für
Internetanbieter . Verkehrsmanagement-Maßnahmen aus
kommerziellen Gründen sind aber laut Artikel 3 Absatz 3
der EU-Verordnung nicht erlaubt . Gleiches gilt auch für
Zero-Rating-Angebote wie die schon angesprochene
Spotify-Flatrate der Telekom . Auch das ist ein kommer-
zielles Verkehrsmanagement und wäre nicht erlaubt . Es
würde also der EU-Verordnung entsprechen, wenn zwei-
seitige Märkte und Zero-Rating-Angebote explizit unter-
sagt würden .
Darüber hinaus fordern wir, dass priorisierte Dienste
höchstens 5 Prozent der aktuellen Übertragungskapazität
ausmachen dürfen, bis ein flächendeckendes Glasfaser-
netz aufgebaut wird . So bleibt sichergestellt, dass aus-
reichend Netzkapazität für das offene Internet zur Verfü-
gung steht . Als Nebeneffekt würde dies einen Anreiz für
Telekommunikationsunternehmen bieten, das Glasfaser-
netz schnell und umfassend auszubauen .
Nun kann man argumentieren, dass ein solcher Antrag
etwas spät kommt . Dieser Auffassung, unter anderem
von den Grünen vertreten, kann ich mich nicht anschlie-
ßen . Denn würde dieser Antrag angenommen, wäre er
ein deutliches Signal an die Bundesregierung und auch
an die Bundesnetzagentur, sich konsequent in den Ver-
handlungen um die Auslegung der EU-Verordnung für
ein wirklich neutrales Netz einzusetzen . Ich kann sie nur
inständig darum bitten, mit uns gemeinsam dieses Signal
zu setzen . Denn noch ist es eben nicht zu spät, um das
Netz für alle zu sichern .
Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Netzneutralität – und damit die Gleichbehandlung von
Daten bei der Übertragung im Internet und der diskri-
minierungsfreie Zugang bei der Nutzung von Datennet-
zen – ist in unserer modernen und digitalen Gesellschaft
ein hohes und schützenswertes Prinzip . Ein offenes und
diskriminierungsfreies Netz hat große und vielfältige Be-
deutung für Demokratie sowie wirtschaftliche Innovati-
on . Wir als Politikerinnen und Politiker müssen uns dafür
einsetzen, Netzneutralität effektiv zu schützen . Es darf
nicht zu einem Zwei-Klassen-Netz kommen .
Was da nun im vergangenen Herbst auf EU-Ebene, mit
den Stimmen der SPD, abgestimmt wurde, ist eine klare
Aufweichung der Netzneutralität . Die verabschiedete
Telecom-Single-Market-Verordnung beinhaltet zahlrei-
che Schlupflöcher und unbestimmte Rechtsbegriffe, die
Spezialdienste grundsätzlich ermöglichen . Dies zeigte
sich bereits kurz nach Verabschiedung der Verordnung,
als die Telekom just die Einführung von Spezialdiensten
ankündigte . Zudem will die Telekom für schnelle Über-
tragungsdienste zukünftig am Umsatz von Unternehmen
beteiligt werden . Diese Ankündigungen sind nur ein Vor-
geschmack dafür, wie die Netzneutralität untergraben
wird .
Diese Tendenz ist auch aus wirtschaftlicher Sicht
fatal . Denn sie könnte auch zu einer Monopolisierung
der Digitalwirtschaft führen . Um Deutschland als einen
gründungsfreundlichen und innovationsstarken Wirt-
schaftsstandort zu etablieren, gilt Netzneutralität als
einer der wichtigsten Schlüssel . Um eine Vielfalt von
Inhalten und Anbietern zu garantieren, müssen alle Un-
ternehmen, vor allem auch kleine und Start-ups, Diens-
te und Anwendungen im Internet ohne Diskriminierung
und mit gleichen Chancen anbieten können – gerade
auch, weil ein Großteil der Innovationen in Start-ups und
bei nichtkommerziellen Anbietern entsteht . Diskriminie-
rungsfreier Internetzugang ist somit Basis für Vielfalt in
einer digitalisierten Gesellschaft und fördert zugleich das
Innovationspotenzial unserer Wirtschaft .
Die Bundesregierung hat hier klar versagt, sich auf
EU-Ebene für den Schutz der Netzneutralität einzuset-
zen . Indem sie nun auf die Bundesnetzagentur als Re-
gulierungsbehörde verweist, wird die Bundesregierung
ihrer Verantwortung nicht gerecht . Es braucht klare nati-
onale gesetzliche Regelungen, um die Netzneutralität zu
gewähren .
Für eine offene und digitale Gesellschaft sowie Wirt-
schaft brauchen wir einen allgemein verfügbaren Zugang
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617742
(A) (C)
(B) (D)
zu schnellem Internet . Dazu braucht es ein bundesweites
Breitbandnetz, welches die infrastrukturelle Grundla-
ge einer digitalen Gesellschaft ist . Dies so schnell wie
möglich zu erreichen, sollte unser aller Ziel sein . Eine
fehlende Festschreibung von Netzneutralität und damit
die Möglichkeit, Spezialdienste mit Zusatzgebühren an-
zubieten, steht hierzu im Widerspruch . Telekommuni-
kationsanbieter werden sich so noch weniger bemüßigt
fühlen, den Breitbandausbau voranzutreiben .
Die Diskussionen um Netzneutralität führen wir seit
Jahren . Aber es folgen keine Taten . Die Bundesregie-
rung bleibt stumm, anstatt sich klar zu einer freien und
digitalen Gesellschaft zu bekennen und sich durch kla-
re Regelungen dafür einzusetzen . Ein Blick in andere
Länder zeigt, dass dies möglich ist . In den USA hat sich
Präsident Obama für Netzneutralität ausgesprochen und
höchstpersönlich dafür eingesetzt, dass im vergangenen
Sommer weitreichende Regelungen verabschiedet wur-
den . Bezahlte Überholspuren sind danach untersagt . Zu-
dem müssen Telekommunikationsanbieter transparent
und verbindlich darlegen, zu welchen Preisen und mit
welchen Geschwindigkeiten sie ihre Dienste anbieten .
Zudem unterstützt die dortige Regulierungsbehörde FCC
als Anlaufstelle für Bürgerinnen und Bürger und Unter-
nehmen, wenn es Beschwerden gibt . Das zeigt, wo ein
Wille ist, ist auch ein Weg .
Insgesamt unterstützen wir die Intention des vorge-
legten Antrags, Netzneutralität gesetzlich zu sichern .
Allerdings kommt der Antrag zu spät und spricht sich
zudem dafür aus, einen bestimmten Prozentsatz für Spe-
zialdienste zuzulassen – dies sehen wir kritisch . Daher
enthalten wir uns .
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD: Den europäischen Binnen
markt weiter vertiefen – Bewährte Standards er
halten (Tagesordnungspunkt 18)
Astrid Grotelüschen (CDU/CSU): Der vorliegende
Antrag „Den europäischen Binnenmarkt weiter vertie-
fen – Bewährte Standards erhalten“ reiht sich in eine Viel-
zahl von Anträgen und Maßnahmen wie zum Beispiel die
Transparenzinitiative und unseren Entschließungsantrag
aus dem Januar diesen Jahres: „Berechtigte Interessen
des Handwerks und der Freien Berufe im europäischen
Binnenmarkt schützen“ ein, die wir als CDU/CSU-Frak-
tion in den vergangenen drei Jahren initiiert haben .
Wir stellen insbesondere die spezielle Bedeutung des
Binnenmarktes für einen freien Handel mit Produkten
und Dienstleistungen in den Mittelpunkt unserer Aus-
führungen . Die im Oktober 2015 veröffentlichte Kom-
missionsmitteilung spricht von 23 Einzelmaßnahmen . Im
Bereich der Dienstleistungen, der Freien Berufe und im
Handwerk sollen davon alle Punkte bis 2017 umgesetzt
werden .
Mit unserem Antrag und der heutigen Diskussion hat
sich der Bundestag vor dem Hintergrund der Binnen-
marktstrategie der Europäischen Kommission ein weite-
res Mal zu den bewährten Strukturen im Handwerk und
den Freien Berufen bekannt . Es muss aber in diesem Zu-
sammenhang weiterhin betont werden, dass die Kompe-
tenz der Mitgliedstaaten insgesamt für Berufsregelungen
nicht infrage gestellt werden darf . Aus meiner Sicht eines
der wichtigsten politische Signale in Richtung Brüssel .
Wir sollten heute ein weiteres Signal setzen . Denn im
Bereich des Binnenmarkts ist es ganz klar so, dass die
vorgelegte Binnenmarktstrategie der KOM zwar im Kern
zu begrüßen ist, aber Deutschland auf europäischer Ebe-
ne immer wieder mit angeblich „bestehenden Hindernis-
sen“ auf dem Dienstleistungsmarkt konfrontiert wird .
Wir dürfen uns hierbei aus meiner Sicht nicht verun-
sichern lassen . Im Gegenteil: Wir müssen sorgfältig da-
rauf achten, dass bestimmte geplante Maßnahmen, die
die Stärke der Freien Berufe und auch des Handwerks
ausmachen, nicht durch Deregulierung konterkariert
werden .
Ich möchte exemplarisch einige Beispiele hervorhe-
ben:
Die KOM will mit einem Dienstleistungspass, mit ei-
nem einheitlichen Mitteilungsformular und einem elek-
tronischen Dokumentenverzeichnis „für mehr Sicher-
heit“ sorgen und Hindernisse für Anbieter, die auf andere
EU-Märkte expandieren möchten, abbauen .
Zudem wird ein Analyseraster vorgeschlagen, auf das
die Mitgliedstaaten zurückgreifen können, wenn sie be-
stehende Vorschriften prüfen oder zusätzliche einführen .
Schließlich will die KOM „regulatorischer Hindernis-
se“ abbauen, zu denen unterschiedliche Rechtsformen,
Anforderungen an die Beteiligungsverhältnisse und so-
genannte „multidisziplinäre Einschränkungen“ für wich-
tige Unternehmensdienstleistungen gehören .
Ziel der Binnenmarktstrategie ist die Vertiefung des
gemeinsamen Binnenmarkts und der Abbau „ungerecht-
fertigter Regulierung“, zu der aus Sicht der Europäischen
Kommission eben auch zahlreiche berufsrechtliche Re-
gelungen der Freien Berufe und des Handwerks gehören .
Wir wollen und müssen aber dafür sorgen, dass deutsche
Produkte und Dienstleistungen zukünftig noch besser
vermarktet werden können . Und auch deshalb darf es
nicht zu einer Senkung der Qualitätsstandards oder gar
zur Einführung des Herkunftsprinzips „durch die Hinter-
tür“ kommen .
Ich denke, wir haben mit dem vorliegenden Antrag
drei grundlegende Themenblöcke markiert: in erster Li-
nie wirtschaftspolitische Fragen mit dem Blick auf die
Stärkung des Binnenmarktes, den „Motor Europas“ . Zu-
dem setzen wir zwei wichtige, zusätzliche Signale: Die
Weiterentwicklung darf auf keinen Fall zu mehr Büro-
kratie führen, und sie muss unter der Einhaltung der Sub-
sidiarität vollzogen werden .
Bei der Vielzahl der Themen innerhalb der Binnen-
marktstrategie gilt es die Kernanliegen deutlich zu ma-
chen, das heißt Schwerpunkte zu setzen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17743
(A) (C)
(B) (D)
Zentrale Forderungen unseres Antrages sind:
Praxisrelevante Binnenmarkthindernisse angehen .
Wir wollen keine neue Bürokratie aufbauen . Wir wollen
bei möglichst allen angekündigten Maßnahmen auf Prak-
tikabilität achten .
Wir wollen kein Herkunftslandprinzip „durch die Hin-
tertür“ – etwa bei Versicherungsvorschriften oder durch
den Dienstleistungspass .
Ebensowenig wollen wir den Anwendungsbereich der
DL-Richtlinie „durch die Hintertür“ ausweiten .
Es muss klar werden und notfalls beharrlich immer
wieder betont werden, dass Berufszugangs- und Be-
rufsausübungsregelungen nur eingebettet im jeweiligen
nationalen Kontext sinnvoll zu bewerten sind . Meine
Kollegin Barbara Lanzinger wird später diesen Aspekt
hervorheben .
Die genannten Punkte bedeuten für die EU, dass sie
im internationalen Standortvergleich auf Wachstum und
zugleich auf Qualitätswettbewerb setzen muss .
Es bedeutet außerdem, dass Verbraucherschutz als
wichtiges Politikziel erkannt werden muss . Wir können
nicht ausschließlich auf ökonomische Aspekte abzielen,
denn freiberufliche Dienstleistungen sind nicht „normier-
bar“ .
An dieser Stelle möchte ich kurz – als Berichterstat-
terin für die Freien Berufe – auf aktuelle Zahlen hinwei-
sen: Als Arbeitgeber beschäftigen die rund 1,3 Millionen
selbstständigen Freiberufler in Deutschland mittler-
weile über 3,3 Millionen Mitarbeiter – darunter circa
122 500 Auszubildende . Gemeinsam wird ein Jahresum-
satz von rund 370 Milliarden Euro erwirtschaftet und
somit knapp über 10 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt
beigesteuert .
Diese Zahlen sollten wir bei den möglichen Auswir-
kungen im Falle einer falschen Weichenstellung der
europäischen Binnenmarktpolitik auf die deutsche Wirt-
schaft immer im Hinterkopf behalten .
Zur Weiterentwicklung des Binnenmarktes brauchen
wir nicht immer neue Regelwerke . Wenn zum Beispiel
ein Dienstleitungsausweis keinerlei Mehrwert für die
davon in der Praxis betroffenen Unternehmen bietet,
brauchen wir ihn vielleicht auch nicht . Was wir hingegen
einfordern müssen, ist vor allem eine zielgerichtete, effi-
ziente Umsetzung und Anwendung schon beschlossener
Maßnahmen .
Mit unserem Antrag verbinden wir deshalb zum Bei-
spiel auch die Absicht, dass der Deutsche Bundestag die
Europäische Kommission auffordert, im „Bereich Un-
ternehmen“ ein umfangreiches KMU-Programm in An-
griff zu nehmen, um die Sichtbarkeit der europäischen
KMU-Politik weiter zu erhöhen . Denn es ist notwendig,
dass kleine und mittlere Unternehmen die Potenziale des
Binnenmarktes optimal nutzen und wachsen können –
auch über nationale Grenzen hinaus .
Wir werden die europäischen Rechtssetzungsprozesse
zur Umsetzung auch der digitalen Binnenmarktstrategie
weiter eng begleiten . Unser gemeinsames Ziel dabei ist
ein Binnenmarkt, der es Bürgern und Unternehmen er-
möglicht, ihre Chancen optimal zu nutzen, um an den
Vorteilen dieses Binnenmarktes teilhaben zu können .
Seit 1992 trägt der Binnenmarkt, eine der größten Er-
rungenschaften der europäischen Integration, zu Wachs-
tum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung in den
Mitgliedstaaten bei . Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
möchte, dass das so bleibt, und dass Deutschland mit
seinen hohen Standards seine erfolgreiche Vorreiterrolle,
von der unsere Bürger und unsere Unternehmen profi-
tieren, behält . In diesem Sinne bitte ich um Ihre Unter-
stützung .
Barbara Lanzinger (CDU/CSU): In diesen Tagen
ist das Thema Europa wieder sehr präsent in der öffent-
lichen Debatte . Wie wichtig die Europäische Union für
unser aller Wohl ist, für eine starke Wirtschaft und für
Frieden und Zusammenhalt in Europa, bedarf hier kei-
ner weiteren Ausführung . Allerdings – und das sehen wir
auch am heutigen Referendum der Briten zum Verbleib
in der Europäischen Union – gibt es große Herausfor-
derungen, die wir bewältigen müssen . Wir müssen der
Tatsache ins Auge schauen, dass es Menschen gibt, die
die Vorteile der Europäischen Union infrage stellen .
An dieser Stelle möchte ich den früheren tschechi-
schen Staatspräsidenten Vaclav Havel zitieren: „Wenn
die Einwohner Europas begreifen lernen, dass es sich
nicht um ein bürokratisches Monstrum handelt, das ihre
Eigenständigkeit einschränken oder gar leugnen möchte,
sondern lediglich um einen neuen Typus von Gemein-
schaft, der ihre Freiheit vielmehr wesentlich erweitert,
dann braucht der Europäischen Union um ihre Zukunft
nicht bange zu sein .“
Damit ist auf den Punkt gebracht, was meiner Ansicht
nach ein Teil unseres aktuellen Problems ist: Die Sorge
vor einem Zuviel an europäischer Regulierung und der
Aushöhlung des Subsidiaritätsprinzips gefährden die
Akzeptanz der Europäischen Union . Mit anderen Worten
muss hinsichtlich der Gesetzgebung aus Europa gelten:
So viel wie nötig, aber so wenig wie möglich .
Dieses Prinzip motiviert auch den vorliegenden An-
trag zur Binnenmarktstrategie der Europäischen Kom-
mission . Der europäische Binnenmarkt ist ganz ohne
Zweifel eine große Errungenschaft und hat entscheidend
zur Wettbewerbsfähigkeit und zum Wohlstand in Euro-
pa beigetragen . Wir begrüßen daher, dass die Kommis-
sion sich nun der Modernisierung des Binnenmarkts
annimmt . Gleichzeitig wirft die Strategie aber auch an
vielen Stellen Fragen auf .
Deshalb richten wir uns mit unserem Antrag nicht nur
an die Bundesregierung mit der Bitte, die Haltung des
Deutschen Bundestages zur Binnenmarktstrategie mit
Nachdruck gegenüber der Kommission zu vertreten, son-
dern explizit auch an die Kommission selbst .
Der Deutsche Bundestag hat bisher noch nicht um-
fassend zur Binnenmarktstrategie Stellung genommen,
sondern lediglich zu wichtigen Teilbereichen . In diesem
Antrag findet sich nun eine Positionierung zu allen Po-
litikfeldern, die in der Strategie angesprochen sind . Ich
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617744
(A) (C)
(B) (D)
möchte mich aber auf einige aus meiner Sicht entschei-
dende Punkte konzentrieren .
Wir machen explizit deutlich, wie wichtig dem Deut-
schen Bundestag die in Deutschland bewährten Berufs-
zugangs– und Ausübungsregeln und Honorarordnungen
für Freie Berufe und Handwerk sind . Diese müssen un-
bedingt weiterhin möglich bleiben, denn sie sichern Qua-
lität und die Exzellenz, für die wir international geschätzt
werden .
Sie dienen außerdem dem Verbraucherschutz . Das be-
tone ich ausdrücklich, denn aus meiner Sicht wird viel
zu häufig eine reine Preisbetrachtung angestellt, die eben
nur vermeintlich im Verbraucherinteresse ist . Die Siche-
rung der Qualitäts- und Ausbildungsstandards, also die
Professionalität der Leistungserbringung und der Erhalt
der Angebotsvielfalt, sind aber genauso wichtig für den
Verbraucherschutz .
Was wir nicht wollen, ist, dass die Vorschläge der
Kommission zum Abbau von Regulierungshemmnissen
bei den reglementierten Berufen die mitgliedstaatliche
Regelungskompetenz infrage stellen .
Es ist auch fraglich, ob es überhaupt notwendig ist,
in die gewachsenen Strukturen der nationalen Staaten
derart einzugreifen, wie es die Kommission an einigen
Stellen tut – beispielsweise, indem sie sich gegen die
Mindestsätze der Honorarordnung für Architekten und
Ingenieure wendet . Zum einen schützen die Mindestsätze
vor einem Preisunterbietungswettbewerb, der die Exis-
tenz unserer Betriebe vor Ort sichert und, wie gesagt, die
Qualität der Leistung garantiert .
Zum anderen fehlt ein Nachweis darüber, dass ein tat-
sächlicher Bedarf für eine Deregulierung besteht, dass
also tatsächlich eine nennenswerte Anzahl an ausländi-
schen Unternehmen in diesem Bereich auf den deutschen
Markt drängen würde, wenn es unsere Berufsregelungen
nicht gäbe . Die größten Hürden dürften doch wohl eher
Sprachbarrieren und mangelnde Praktikabilität einer
Leistungserbringung im Ausland sein .
Außerdem ist die Mobilität von Selbstständigen und
abhängig Beschäftigten im Binnenmarkt aus unserer
Sicht bereits über die Regelungen zur Anerkennung von
Berufsqualifikationen hinreichend abgesichert.
Aus ähnlichen Gründen ist auch fraglich, ob es über-
haupt eine Notwendigkeit für den sogenannten Dienst-
leistungspass gibt, den die Europäische Kommission
plant . Jedenfalls darf dieser nicht zu einer Einführung
des Herkunftslandprinzips durch die Hintertür führen .
Regelungen, die dem Schutz der Arbeitnehmer dienen,
wie zum Beispiel der Mindestlohn, müssen unbedingt
erhalten bleiben .
Was die Vergabe öffentlicher Aufträge betrifft, hat
die Europäische Kommission 2014 ein umfassendes
Richtlinienpaket vorgelegt, dessen Umsetzungsfrist im
April 2016 abgelaufen ist und das in Deutschland frist-
gerecht umgesetzt wurde . Bevor nun weitere gesetzge-
berische Maßnahmen ergriffen werden, sollte erst einmal
die Umsetzung in allen Mitgliedstaaten abgewartet und
evaluiert werden . Auch müssen wir vermeiden, dass es
zu neuen oder zusätzlichen bürokratischen Lasten wie
zum Beispiel Berichts- und Informationspflichten für die
Mitgliedstaaten kommt .
Last but not least möchte ich betonen, dass wir es be-
grüßen, dass die Kommission sich dem Bereich der so-
genannten „Sharing Economy“ oder der partizipativen
Wirtschaft annimmt . Dies ist ein spannender Bereich, der
jede Menge Innovationspotenzial für die Wirtschaft be-
inhaltet . Ganz besonders relevant ist er für den Bereich
Tourismus, zum Beispiel bei Online-Plattformen für pri-
vate Übernachtungsangebote oder Transportmöglichkei-
ten .
Hier gilt es, das richtige Augenmaß zu bewahren, um
diesen neuen Bereich gut zu gestalten und Innovationen
zu ermöglichen, ohne dass es zu Wettbewerbsverzerrun-
gen kommt . Und auch hier halte ich es für unabdingbar,
dass den Mitgliedstaaten bei einer Europäischen Agenda
für die Sharing Economy Gestaltungsspielraum einge-
räumt wird .
Ich betone noch einmal: Weniger ist manchmal mehr,
und gerade in diesen Tagen ist es wichtiger denn je, den
europäischen Binnenmarkt mit Augenmaß und auch mit
einer gewissen Zurückhaltung zu gestalten .
Matthias Ilgen (SPD): Fakt ist: Im Vergleich zu den
USA, aber auch zu aufstrebenden Wettbewerbern aus
China, Südkorea oder Israel entwickelt sich die digitale
Wirtschaft in Europa zu langsam . In der Binnenmarktstra-
tegie, über die wir heute beraten, widmet sich die Kom-
mission daher zu Recht der partizipativen Wirtschaft . Ich
begrüße es, dass die Kommission sich in jüngster Zeit
verstärkt der digitalen Wirtschaft annimmt . Zwar haben
wir auch bei uns viele gute Ideen für diesen neuen Wirt-
schaftszweig, die erfolgreichsten Unternehmen haben ih-
ren Sitz aber in den USA . Daher ist der Ansatz der Kom-
mission richtig, zu untersuchen, wie Hemmnisse gerade
für die partizipative Wirtschaft innerhalb der EU abge-
baut werden können . Ich denke dabei beispielsweise an
das immer noch verbreitete Geoblocking, das es in einem
Binnenmarkt eigentlich nicht geben dürfte . Was wir aber
nicht wollen, sind neue Geschäftsmodelle, die sich auf
Kosten von sozialer Sicherung, Verbraucherschutz und
Arbeitnehmerrechten durchsetzen .
Unsere volle Unterstützung hat die Kommission, wenn
sie Bürokratie abbauen will für Unternehmen, die über
die Grenzen hinweg expandieren wollen . Das zentrale
digitale Zugangstor, mit dem verschiedene Onlinediens-
te der EU zur Information und Unterstützung für KMU
gebündelt werden, ist ein Schritt in die richtige Richtung .
Auch eine einheitliche Normung in Europa würde für
Hersteller und Dienstleister in der EU vieles erleichtern .
Die gemeinsame Normungsinitiative der Kommission
begrüßen wir deshalb ausdrücklich .
Wenn die EU-Kommission die Zuwanderung von un-
ternehmerischen Talenten in die EU fördert, kann sie auf
die Unterstützung der SPD zählen . Hier geht es nicht um
einen Verdrängungswettbewerb mit bereits in Europa le-
benden Menschen, sondern darum, die EU attraktiv zu
machen für Männer und Frauen, die ihre Arbeit nicht nur
für sich selbst, sondern auch für andere mitbringen . In
Deutschland haben wir mit unserem Aufenthaltsgesetz
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17745
(A) (C)
(B) (D)
bereits die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen, da-
mit Unternehmer das Silicon Valley in Richtung Berlin
verlassen können .
Gemeinsam mit meiner Fraktion unterstütze ich das
Ziel der Kommission, den Binnenmarkt für Unterneh-
men attraktiver zu machen . Fest steht für mich auch, dass
dabei Arbeitnehmerrechte, fairer Wettbewerb und Ver-
braucherschutz nicht auf der Strecke bleiben dürfen .
Sabine Poschmann (SPD): Der gemeinsame Bin-
nenmarkt gehört ohne Zweifel zu den größten Erfolgen
der Europäischen Integration . Unternehmen können ihre
Waren ungehindert und ohne Zölle über nationale Gren-
zen hinweg vertreiben . Die Bürgerinnen und Bürger ge-
nießen Reisefreiheit und können selber entscheiden, in
welchem Land der EU sie leben, lernen und arbeiten oder
vielleicht eine Firma gründen wollen . Mir ist weltweit
kein zweiter Wirtschaftsraum dieser Art bekannt!
An dieser Stelle sei erwähnt, dass auch unsere briti-
schen Freunde einen wesentlichen Beitrag zum Gelingen
dieses gemeinsamen Marktes geleistet haben – allein
schon deshalb wäre ihr Austritt aus der EU höchst be-
dauerlich .
Der gemeinsame Markt hat Europa auf vielen Gebie-
ten zusammenrücken lassen . Deshalb begrüßen wir, dass
die EU-Kommission den Binnenmarkt weiterentwickeln
will und sich neuen Herausforderungen annimmt .
Dazu gehört ohne Frage die Digitalisierung der Wirt-
schaft . Viele Branchen verändern sich, neue Geschäfts-
modelle entstehen, Innovationen werden vorangetrieben .
Davon sollen alle profitieren können. Das aber bedingt
einheitliche Spielregeln und einheitliche Rahmenbedin-
gungen . Deshalb sind wir durchaus bereit, unsere nati-
onalen Regeln zu prüfen . Allerdings sagen wir ebenso
deutlich: Es gibt Grenzen . Dienstleistungen am Men-
schen sind nicht gleichzusetzen mit Waren .
Wir machen uns mit Nachdruck dafür stark, dass unse-
re bewährten Standards erhalten bleiben, und eben nicht
in eine Abwärtsspirale geraten . Vor allem nicht, wenn es
um den Gesundheitsschutz geht, die Qualitätssicherung
und die Rechte von Arbeitnehmern . Ich denke dabei be-
sonders an die Berufsregeln für das Handwerk, aber auch
an die Honorarordnungen für einige Freie Berufe .
Warum sollen wir ein System der Transparenz, der
Unabhängigkeit und der Kompetenz aufgeben? Es ist
ein Irrglaube zu meinen, dass sich automatisch und per
se mehr Wachstum und Beschäftigung einstellen . Län-
der wie Italien, Belgien oder Österreich zeigen, dass dies
eben nicht der Fall ist .
Bei einigen der von der EU-Kommission angekün-
digten Maßnahmen müssen wir genauer hinsehen . Zum
Beispiel beim Dienstleistungspass . Mit dem Dienstleis-
tungspass soll Bürokratie abgebaut werden . Das klingt
natürlich gut, denn wer hätte etwas dagegen einzuwen-
den? Wenn aber mit einem solchen Pass das sogenann-
te Herkunftslandprinzip durch die Hintertür eingeführt
wird, werden wir dem eine Absage erteilen . Es muss si-
chergestellt sein, dass unsere bewährten Standards wei-
terhin gelten . Es muss sichergestellt sein, dass jedes Land
das Recht hat, die Einhaltung dieser Standards auch zu
prüfen .
Deshalb haben wir kein Verständnis für Vorschläge,
die zum Beispiel das Fremdkapitalverbot für Kanzleien
unterlaufen könnten . Wenn ich zu einem Rechtsanwalt
gehe, möchte ich weiter sicher sein, dass er meine Inte-
ressen vertritt und nicht die fremder Kapitalgeber oder
Anteilseigner .
Wir senden ein klares Signal an die EU-Kommission:
Ja, wir möchten den europäischen Binnenmarkt wei-
terentwickeln . Ja, wir möchten Maßnahmen, mit denen
wir Bürokratie abbauen, Verfahren vereinfachen und be-
stimmte Standards vereinheitlichen .
Was wir nicht möchten, sind der Abbau von Arbeit-
nehmerrechten sowie Verschlechterungen beim Ver-
braucherschutz und bei der Qualität von Produkten und
Dienstleistungen .
Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Es mutet schi-
zophren an, dass zu einem Zeitpunkt, zu dem die aus-
einanderstrebenden Fugalkräfte in der EU mittlerweile
unübersehbar geworden sind und munter von rechten
Regierungen bespielt werden, die Koalitionsfraktionen
einen Antrag einbringen, der sich zur Binnenmarktstra-
tegie der Kommission verhält, während wenig bis nichts
aus dieser Ecke zu den Zerfallstendenzen in der EU zu
vernehmen ist . Just heute stimmen die Briten über den
Austritt aus der EU ab . Bildlich gesprochen ist das Fun-
dament des „Hauses Europa“ am Zerbröseln, aber die
Koalition möchte im Erdgeschoss weiter rumwerkeln .
Verrückt .
Allerdings ist der gemeinsame Binnenmarkt durch-
aus Synonym für die Ursachen dieses Zerfallsprozesses .
Denn die europäische Integration hauptsächlich über ei-
nen gemeinsamen Binnenmarkt gestalten zu wollen, der
so konstruiert ist, dass sich sowohl die Arbeitenden als
auch die Unternehmen der Mitgliedsländer gegenseitig
niederkonkurrieren und staatliche Interventionsmöglich-
keiten zugunsten einer anderen, nicht neoliberalen Wirt-
schaftspolitik verunmöglicht werden, muss über kurz
oder lang zwangsweise zu ihrem Scheitern führen . Die
Finanzkrise und die Schäuble’schen „Lösungskonzepte“
waren da nur noch der Brandbeschleuniger .
Statt den Zusammenschluss des weltgrößten Wirt-
schaftsraums für harmonisierte und koordinierte Min-
deststandards zu nutzen und diese auf dem Weltmarkt zu
behaupten, basteln die EU-Eliten aber lieber an TTIP mit
den USA und CETA mit Kanada . Auch da geht es nicht
um eine Harmonisierung auf höchstem Niveau, sondern
um möglichst viel „Beinfreiheit“ für große Konzerne
und Banken . Dagegen kann nur Sozialstaatlichkeit im
Primärrecht Grenzen setzen .
Es muss wohl Ignoranz sein, denn Sie scheinen ja
ernsthaft zu glauben, dass die Bürger der EU dauerhaft
akzeptieren, dass sie Mitglied eines Vereins sind, der sie
aufeinander hetzt, sie gegeneinander ausspielt und der
Wirtschaft den Primat gegenüber der Politik einräumt .
Wirtschaftliche Interessen sind originär Interessen von
Einzelnen, bestenfalls kleinen Kreisen . Politik, zumal in
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617746
(A) (C)
(B) (D)
demokratisch verfassten Systemen, soll aber den Interes-
sen der Mehrheit zu Geltung verhelfen und die benach-
teiligter – wohlgemerkt benachteiligter! – Minderheiten
berücksichtigen .
Das würde bedeuten, für einen vertraglichen Neustart
der EU einzutreten, der gemeinsame soziale Mindest-
standards und eine koordinierte Lohnpolitik festlegt, eine
harmonisierte Unternehmensbesteuerung durchsetzt, die
Finanzmärkte endlich streng reguliert und eine Zentral-
bank installiert, deren Geld- und Währungspolitik nicht
völlig abgekoppelt ist von politischen Konstellationen
und Zielstellungen . Die Banker der EZB sind nämlich
weder demokratisch legitimiert noch müssen sie sich ir-
gendwo rechtfertigen .
Gegenwärtig haben die Menschen den Eindruck, dass
es fast egal ist, wen sie wählen, da ja sowieso alles „al-
ternativlos“ sei . An dieser Wahrnehmung ist viel dran .
Diesen Schuh muss sich aber das politische Personal von
CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP anziehen . Die haben
in trauter Einigkeit jahrelang die EU- und vor allem Kri-
senpolitik gemeinsam getragen .
Ändert sich nicht schleunigst etwas an den benannten
Punkten, wird das nicht nur das Ende der EU, sondern –
das gemahnt der Blick nach Ungarn oder Polen – wo-
möglich auch das der neuzeitlichen Demokratie . Denn
auch der europaweite Frust, die Geringschätzung gegen-
über Politikern, der Erfolgsrausch von Rechtspopulisten
und Nationalisten haben hier ihren Ursprung .
Wie auch immer: Nach dem heutigen Brexit-Refe-
rendum wird die EU nicht mehr dieselbe sein . Geben Sie
der EU einen Verstand aus Rechts- und Sozialstaatlich-
keit und ein Herz aus Solidarität!
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Der europäische Binnenmarkt hat eine überragen-
de Bedeutung für die deutsche Volkswirtschaft . Knapp
60 Prozent der deutschen Exporte gingen 2015 in Länder
der EU . Wohlstand und Lebensqualität in Deutschland
wie in Europa sind eng verknüpft mit einem funktionie-
renden europäischen Binnenmarkt . Umso wichtiger ist
es, dass dieser Binnenmarkt ständig weiterentwickelt
wird, um mit technologischen, aber auch gesellschaftli-
chen Veränderungen Schritt zu halten .
Und was legt uns die Große Koalition dazu heute vor?
Ein Papier mit 39 Spiegelstrichen – ohne erkennbare Fo-
kussierung auf die wirklich drängenden Themen, ohne
Ordnungsprinzip und in vielen Punkten diktiert von den
Interessengruppen . Das ist keine Binnenmarktstrategie,
das ist ein Luftballon mit viel heißer Luft, aufgeblasen
von den Lobbyverbänden . Was nutzt, wird gelobt, und
wenn auch mal von der Bundesrepublik regulatorische
Anpassungen eingefordert werden, um Hemmnisse im
Binnenmarkt abzubauen, wird der Status quo aufs Äu-
ßerste verteidigt, egal ob es Sinn macht oder nicht .
Lassen Sie mich das an einem Beispiel erläutern: Im
Handwerksbereich ist es nach wie vor so, dass Unter-
nehmen aus anderen Staaten der EU sehr viel leichter
Dienstleistungen erbringen können als Handwerker aus
der Bundesrepublik, die keine Meisterprüfung abgelegt
haben . Während es teilweise sehr viel leichter ist, sich
in einem anderen EU-Land selbstständig zu machen, be-
stehen hier oft hohe Hürden . Das ist nicht per se schlecht
oder falsch . Aber es ist ein objektiver Nachteil für Ar-
beitskräfte aus der Bundesrepublik . Vorschläge, wie das
verhindert werden kann, findet man bei Ihnen im Antrag
vergeblich. Man findet keine Aussagen darüber, dass wir
in Deutschland ohne Zweifel einen hohen Qualitätsstan-
dard erhalten und vielleicht wiedererlangen wollen – ich
verweise auf die immer mehr um sich greifenden Män-
gel im Bauwesen –, wir im Hinblick auf die Niederlas-
sungsfreiheit aber neue Überlegungen zu einer Öffnung
der Handwerksordnung bei gleichzeitiger Stärkung der
Qualitätsanforderungen brauchen .
Auch verlieren Sie kein Wort über eine stärkere Har-
monisierung des europäischen Unternehmenssteuer-
rechts . Gerade hier existieren große Verzerrungspoten-
ziale des europäischen Binnenmarktes . Natürlich sollte
nicht die nationale Steuerrechtskompetenz infrage ge-
stellt werden . Aber die Zersplitterung des europäischen
Binnenmarktes in 28 unterschiedliche Unternehmens-
steuerrechte führt dazu, dass internationale Konzerne
effektiv deutlich niedrigere Steuern zahlen als rein na-
tional tätige Unternehmen . Sie suchen sich die günstigs-
ten Regelungen und sorgen damit dafür, dass der inner-
europäische Steuerwettbewerb zwischen Staaten immer
schädlichere Züge angenommen hat . Eine gemeinsame
Bemessungsgrundlage für die Körperschaftsteuer und
europäische Mindeststeuersätze würden das beheben und
so auch ein Stück weit den EU-Binnenmarkt stärken . Zu-
gegeben, ein hartes Stück Arbeit, aber es gehört unbe-
dingt auf die Agenda .
Gleiches gilt bei der Mehrwertsteuer . Die Koalition
mahnt hier zu Recht an, dass die neuen Vorschläge der
Kommission nicht zulasten des nationalen Steuerauf-
kommens gehen dürfen . Es ist geradezu absurd, dass die
Kommission hier wieder ein Stück weit zurück von der
Harmonisierung gehen will . Die Bundesregierung beför-
dert das Ganze allerdings noch durch ihren lobbygetrie-
benen Einsatz für eine mehrwertsteuerliche Ermäßigung
für elektronische Dienstleistungen . Wir haben das Pro-
blem, dass die großen Internetkonzerne sich sehr ein-
fallsreich und legal einer Steuerzahlung entziehen . Der
Mehrwertsteuer können sie sich aktuell nur schlecht ent-
ziehen . Es ist also falsch, dass Union und SPD hier auf
die Einflüstereien der Internetkonzerne hören.
Damit fehlen in Ihrem Antrag wichtige Elemente, die
zum europäischen Binnenmarkt dazugehören . Richtig
sind ihre Feststellungen und Forderungen zum Erhalt so-
zialer und verbraucherschutzrechtlicher Standards . Dass
sie dabei die ökologischen Standards nicht erwähnen,
zeigt allerdings ihr Desinteresse an dieser Stelle .
Insgesamt dürfen hohe ökologische oder soziale Stan-
dards in der Tat nicht durch das Herkunftslandsprinzip
oder europäische Rechtsformen für kleine und mittlere
Unternehmen ausgehebelt werden . Hier sprechen wir
also mit einer Stimme, wenn es darum geht, Arbeitneh-
merinnen- und Arbeitnehmerinteressen und Mitbestim-
mungsrechte zu wahren und andere schädliche Gestal-
tungen zu verhindern . Auch mit anderen Punkten aus
Ihrem Antrag stimmen wir überein: Eine KMU-Strategie
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17747
(A) (C)
(B) (D)
kann helfen, Wettbewerbsnachteile kleiner und mittle-
rer Unternehmen am internationalen Markt zu beheben .
Auch die europäische Bürokratie sollte maßvoller wer-
den . Hier versagt die Bundesregierung aber schon im
eigenen Land .
Meine Damen und Herren, ich hätte mir einen Antrag
gewünscht, der klarere Akzente setzt, in den Bereichen
der Dienstleistungen, des Steuerrechts, der Digitalisie-
rung und der damit verbundenen Chancen . Das kann ich
bei dem vorliegenden Antrag nicht erkennen, deshalb
können wir dem Antrag nicht zustimmen . Da viele –
nicht alle – Einzelpunkte aber durchaus richtige Sach-
verhalte adressieren, werden wir uns zu diesem Antrag
enthalten, verbunden mit der Aufforderung an die Große
Koalition, nachzuarbeiten und klarer die Zukunftsfelder
herauszuarbeiten .
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU,
SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Standortauswahlgesetzes (Tages
ordnungspunkt 20)
Steffen Kanitz (CDU/CSU): Mit dem heute zu eva-
luierenden Standortauswahlgesetz setzen wir Empfeh-
lungen der Endlagerkommission zur Neuorganisation im
Bereich der Endlagerung um .
Allen Unkenrufen zum Trotz wird durch maßgebliche
Impulse der Endlagerkommission die größte organisato-
rische Neuordnung im Bereich der nuklearen Endlage-
rung seit über 40 Jahren umgesetzt .
Das ist ein – erster – Erfolg der Endlagerkommission,
den man nicht hoch genug einschätzen kann . Mein Dank
geht an das BMUB für die gute Zusammenarbeit, aber
auch an die weiteren beteiligten Ressorts und Fachaus-
schüsse . Wir haben ihnen mit dem verkürzten Verfahren
einiges zugemutet, aber das hatte seinen guten Sinn:
Zum einen endet die Arbeit der Kommission am 5 . Juli
2016 mit der der Übergabe des Abschlussberichts an den
Bundestagspräsidenten . Als Union ist es uns wichtig,
dass die Empfehlungen der Kommission schnell umge-
setzt werden . Die organisatorischen Voraussetzungen da-
für schaffen wir heute .
Zum anderen ist es für uns von wesentlicher Bedeu-
tung, dass Fragen der Organisation und der Sicherheit
nicht mit Finanzierungsfragen vermischt werden . Die
Ergebnisse der Kommission zur Überprüfung der Finan-
zierung des Kernenergieausstiegs (KFK) werden voraus-
sichtlich im Herbst parlamentarisch beraten . Daher woll-
ten wir eine klare zeitliche Trennung .
Nun komme ich zu dem wahrscheinlich nachvoll-
ziehbarsten Argument: Die betroffenen Mitarbeiter im
Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), der Deutschen
Gesellschaft zum Bau und Betrieb von Endlagern für
Abfallstoffe mbH (DBE), der Asse GmbH, von Schacht
Konrad sowie im Endlager für radioaktive Abfälle Mors-
leben (ERAM) und Gorleben brauchen endlich Pla-
nungssicherheit .
Über die Neuorganisation im Endlagerbereich reden
wir nun schon seit zwei Jahren, das heißt, es gibt ein Maß
der Verunsicherung, was dazu führt, dass sich viele gute
Fachkräfte wegbewerben .
Wir brauchen aber in Zukunft mehr und nicht weniger
kluge Köpfe, um die schwierige Aufgabe der Endlager-
suche erfolgreich zu betreiben .
Mit diesem Antrag sehen wir als Politik auch ein Zei-
chen: Die Endlagersuche, der Rückbau und die Stillle-
gung von Kernkraftwerken ist eine Zukunftsaufgabe, die
uns in Deutschland noch über Jahrzehnte gut bezahlte
Arbeitsplätze bietet .
Wir wollen die besten Fachkräfte gewinnen, um diese
anspruchsvolle Aufgabe zu meistern, und bitten hier um
Unterstützung .
Mit dem heutigen Antrag setzen wir europarechtliche
Vorgaben zur klaren Trennung von Aufsicht und Betrieb
um .
Wir schaffen eine effiziente Aufbau- und Ablauforga-
nisation und sichern eindeutige Zuständigkeiten .
Wir bekommen einen Regulierer, der, mit klaren
Kompetenzen ausgestattet, das Standortauswahlverfah-
ren Schritt für Schritt überwacht .
Wir gründen eine bundeseigene Gesellschaft, die als
Vorhabenträger die Betreiberaufgaben von BfS, der DBE,
Schacht Konrad, Asse GmbH, dem ERAM und Gorleben
übernimmt und zudem eigenverantwortlich sein kann .
Während in der Vergangenheit selbst Entscheidungen
von untergeordneter Bedeutung einem Lauf von Pontius
zu Pilatus gleichkamen, erhält die neu zu gründende bun-
deseigene Gesellschaft im Wege der Beleihung hoheitli-
che Kompetenzen und kann im Rahmen eines genehmig-
ten Budgets eigenverantwortlich handeln .
Diese neue Struktur wird nicht nur kostengünstiger
sein, weil der Gewinnaufschlag entfällt, sondern insbe-
sondere, weil die klaren Zuständigkeiten zu einer zügi-
gen Realisierung der Projekte beitragen . Zeit ist der ent-
behrliche Kostentreiber, und den bekommen wir jetzt in
den Griff .
Vor diesem Hintergrund ist es uns unverständlich,
dass die Linke diesem Antrag nicht zustimmt . Gerade
Ihnen war es doch so wichtig, dass wir Empfehlungen
der Endlagerkommission umsetzen . An diesen Grundsatz
sollten Sie sich auch halten und heute aus gutem Grunde
mitstimmen .
Florian Oßner (CDU/CSU): Es ist schon etwas sehr
Besonderes, wenn ein Gesetzentwurf von allen vier im
Bundestag vertretenen Fraktionen gemeinsam einge-
bracht wird .
So viel Einigkeit findet sich selten in diesem Hohen
Haus, was sicher auch ein Indiz für die sehr gute Arbeit
der Endlagerkommission ist, die im Mai 2014 ihre Arbeit
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617748
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aufgenommen hat und am 5 . Juli ihren Abschlussbericht
vorlegen wird .
Allen Beteiligten möchte ich deshalb zunächst meinen
allerherzlichsten Dank aussprechen für die sehr gute und
kollegiale Zusammenarbeit in den letzten zwei Jahren .
Besonderes Lob verdient mein geschätzter Fraktions-
kollege Steffen Kanitz, der als Sprecher unsere Positio-
nen immer wieder deutlich gemacht hat .
Lieber Steffen, du hast maßgeblich zum erfolgreichen
Abschluss des Kommissionsberichts beigetragen – gro-
ßen Dank dafür!
Erstens . Weswegen Öffentlichkeitsbeteiligung?
Die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen um die
Lagerung radioaktiver Abfallstoffe haben gezeigt, dass
Standortbenennungen, die intransparent vorbereitet und
anschließend an die breite Öffentlichkeit vermittelt wer-
den, unüberwindbare Widerstände erzeugen .
Deswegen hat bei uns in der Endlagerkommission
auch von Anfang an Einigkeit darüber geherrscht, dass
die Auswahl eines Standorts für hochradioaktive Abfäl-
le mit der bestmöglichen Sicherheit nur erfolgreich sein
kann, wenn ein gesellschaftlicher Konsens erreicht wird .
Zweitens . Zwischenlager, keine Endlager:
Bei allem, aufgrund der Geschichte auch gut nachvoll-
ziehbaren Streben danach, eine wirklich einvernehmli-
che Entscheidung zu erreichen, müssen wir uns aber auch
stets bewusst sein, dass wir die Verpflichtung haben, bei
der Suche nach einem geeigneten Standort auch zu Er-
gebnissen zu kommen .
Denn: Zwischenlager dürfen keine Endlager werden .
Dies können wir der Bevölkerung in den betroffenen Re-
gionen nicht vermitteln . So ist zum Beispiel am Standort
Isar II bei Landshut mit dem Zwischenlager BELLA nur
eine Notlösung geschaffen, welche von uns nie gewollt
und nun auch so schnell wie nur irgendwie möglich auf-
gelöst werden sollte .
Drittens . Sinn und Zweck des Nationalen Begleitgre-
miums:
Ein zentrales Element der Bürgerbeteiligungen an der
neuen Endlagersuche soll das „Nationale Begleitgremi-
um“ sein . Was genau kann man sich hierunter vorstellen?
Das Nationale Begleitgremium soll eine unabhängige
gesellschaftliche Instanz sein, dessen zentrale Aufgabe
darin besteht, den Standortauswahlprozess zu begleiten,
zu erklären und zu überwachen .
Das Gremium soll sich vor allem durch Neutralität
und Fachwissen auszeichnen und schlichtend zwischen
den Akteuren des Standortauswahlverfahrens eingreifen
können .
Viertens . Gründe für die Änderung des Standortaus-
wahlgesetzes:
Bisher war im StandAG festgelegt, dass das Begleit-
gremium erst nach der Evaluierung des Gesetzes durch
den Bundestag eingesetzt wird, und zwar auf Grundlage
des Kommissionsberichtes .
Nun besteht jedoch die Gefahr, dass zwischen der Ab-
gabe des Berichts und dem Inkrafttreten des evaluierten
StandAG der über die Jahre gewachsene, gute gesell-
schaftliche Dialog abreißen könnte .
Sowohl bei den Kommissionsmitgliedern als auch bei
allen an diesem Gesetzentwurf beteiligten Fraktionen hat
die Befürchtung bestanden, dass durch diesen „Faden-
riss“ der Konsensgedanke sowie mühsam aufgebautes
Vertrauen wieder verloren gehen könnte .
Dies gilt es unbedingt zu verhindern, weswegen wir
uns fraktionsübergreifend auf die vorliegende Änderung
des Standortauswahlgesetzes verständigt haben . Denn
die gute und harte Arbeit der Kommission, der letzten
Jahre, darf unter keinen Umständen zunichtegemacht
werden . Sie muss unbedingt ihren Niederschlag im spä-
teren Suchverfahren finden.
Das Nationale Begleitgremium muss deshalb unbe-
dingt „ab Tag 1“ der Standortauswahl einsatzbereit sein,
auch wenn dies zunächst nur in einer „Brückenphase“
der Fall sein wird .
In dieser Phase wird das Gremium zunächst aus neun
Mitgliedern bestehen . Hiervon sollen sechs Mitglieder
sich durch ein „gesellschaftlich hohes Ansehen“ aus-
zeichnen und je zur Hälfte von Bundestag und Bundes-
rat vorgeschlagen werden . Zudem sollen dem Gremium
zwei Bürger sowie ein Vertreter der „jungen Generation“
angehören .
Die Amtszeit der Mitglieder wird auf drei Jahre be-
grenzt .
Jedes Mitglied kann insgesamt dreimal berufen wer-
den und soll keiner gesetzgebenden Körperschaft in
Bund oder den Ländern sowie keiner Bundes- oder Lan-
desregierung angehören . Auch sollen die Mitglieder kei-
ne wirtschaftlichen Interessen in Bezug auf die Standort-
auswahl oder die Endlagerung im weitesten Sinn haben .
Fünftens . Stand der Arbeit der Koalition:
In Absprache mit allen Fraktionen haben wir uns da-
für entschieden, in Anpassung an die Wahl der Mitglieder
der Endlager-Kommission die Personen direkt durch den
Bundestag und Bundesrat wählen zu lassen .
Zudem sollen die zwei Bürger sowie der Vertreter
der jungen Generation durch das Bundesministerium für
Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit einge-
bracht werden .
Sechstens . Schluss:
Ich denke, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ha-
ben wir eine gangbare Regelung gefunden, um die gute
und konstruktive Arbeit der letzten Jahre offen und trans-
parent sowie mit Beteiligung der Öffentlichkeit weiter
fortzuführen . Deswegen werbe ich ausdrücklich um Zu-
stimmung zu dem Gesetzentwurf .
Dr. Matthias Miersch (SPD): Der Deutsche Bundes-
tag setzt heute ein ganz wichtiges Signal . Mit ausdrückli-
cher Unterstützung aller im Bundestag vertretenen Frak-
tionen setzen wir heute ein unabhängiges Gremium ein,
das die Suche nach einem atomaren Endlager aus Ge-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17749
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meinwohlperspektive aktiv begleiten soll . Wir nehmen
damit Vorschläge bereits zu diesem frühen Zeitpunkt auf,
die in der Kommission Lagerung hoch radioaktiver Ab-
fallstoffe erarbeitet worden sind .
Kräftig ist im Vorfeld über die Kompetenz eines sol-
chen Gremiums diskutiert worden . Nachdem wir als Be-
richterstatter den Vorschlag gemacht haben, wurden wir
von Rechtsprofessoren massiv kritisiert . Es hieß sogar,
unser Vorschlag sei mit der Verfassung nicht vereinbar .
Wir würden in die Gewaltenteilung eingreifen wollen .
Diese Kritik offenbart, dass die Lehren aus einem
jahrzehntelangen Holzweg in der Endlagersuche in
Deutschland immer noch nicht allseits anerkannt werden .
Es geht nicht um die Schwächung von Politik und Ver-
waltung . Es geht darum, jahrzehntelang gewachsenes –
und in der Endlagerfrage auch begründetes – Misstrau-
en in staatliche Strukturen wettzumachen . Das wird nur
durch deutliche Signale der Vertrauensbildung erreicht
werden können . Diese müssen auch institutionell abgesi-
chert werden . Insoweit ist das Nationale Begleitgremium
ein Mosaikstein in einer neuen Kultur der Transparenz
und des Lernens . An den Kompetenzen der Gewalten in
unserem Verfassungssystem wird nicht gerüttelt . Aber
wir setzen auf ein unabhängiges Gremium, das den Pro-
zess von Beginn an begleitet, fragt und Empfehlungen
aussprechen kann . Es kann wissenschaftliche Expertise
anfordern und Defizite klar benennen, wenn sie denn auf-
treten . Dabei geht es um die gesamtgesellschaftliche Per-
spektive . Insoweit ist es wichtig, dieses Gremium jetzt
auf den Weg zu bringen und nicht erst, wenn Bundestag
und Bundesrat die Empfehlungen der Endlagerkommis-
sion ausgewertet haben . Bereits jetzt werden Behörden
gebildet . Auch das bringen wir heute auf den Weg, sodass
die Begleitung auf Augenhöhe von Anfang an entschei-
dend ist .
Dabei greifen wir direkt auch Vorschläge auf, die di-
rekt aus den Workshops der Kommission heraus entstan-
den sind . Von den zunächst eingesetzten neun Mitglie-
dern des Nationalen Begleitgremiums werden drei nach
dem Zufallsprinzip ausgewählt . Darunter wird auch eine
Vertreterin oder ein Vertreter der jüngeren Generation
sein . Sicher, Zufallsbürger sind kein Garant für ein faires
Verfahren . Viele Beispiele – bis hin zu der Erarbeitung
von Verfassungen in anderen Staaten – belegen aber, dass
Zufallsbürger den Prozess positiv beeinflussen können.
Der Begründungsdruck wird gesteigert . Die Anforderun-
gen an Plausibilität und Nachvollziehbarkeit von Ent-
scheidungen werden erhöht . Insoweit ist auch diese Ent-
scheidung ein wichtiger Schritt, dass wir Neues wagen .
Wie schon erwähnt, werden wir mit dem Gesetz heute
auch die Behördenstruktur neu regeln . Diese Novellie-
rung basiert ebenfalls auf einem Beschluss der Endla-
gerkommission . Entscheidende Neuerung dabei ist die
Entprivatisierung der atomaren Entsorgungsaufgaben .
Denn die deutsche bundeseigene Gesellschaft für kern-
technische Entsorgung, kurz die BGE, wird als Vorha-
benträger im Bereich der Endlagersuche fungieren und
damit Aufgaben des Bundesamtes für Strahlenschutzes
übernehmen, das sich bislang privater Gesellschaften als
Verwaltungshelfer bedienen musste . Da die Verträge zum
Teil aus den 80er-Jahren stammen und der monopolisti-
schen Aufgabe entsprechend gestaltet sind, wird mit der
nun angestrebten Neuordnung auf lange Sicht erhebli-
ches Einsparpotenzial verbunden sein .
Durch die Strukturänderung agiert das Bundesamt für
kerntechnische Entsorgungssicherheit (BfE) zukünftig
vollständig getrennt von der für die Auswahl, die Errich-
tung, den Betrieb und die Stilllegung von Endlagern so-
wie der für die Schachtanlage Asse II zuständigen Orga-
nisationseinheit. Die Verwaltung wird dadurch effizienter
und transparenter das Verfahren steuern . Zudem haben
wir für Planungssicherheit bei den Beschäftigten der
DBE und der Asse GmbH gesorgt .
Machen wir uns nichts vor: Die Suche nach einem
atomaren Endlager wird noch ein sehr langer Weg . Es
geht um ganz viel . Viel Vertrauen ist in der Vergangen-
heit zerstört worden . Gerade deshalb müssen wir unserer
Verantwortung auch gegenüber nachfolgenden Genera-
tionen gerecht werden . Die Einsetzung des Nationalen
Begleitgremiums ist ein erster wichtiger Schritt .
Hubertus Zdebel (DIE LINKE): Wieder einmal be-
schäftigt sich der Bundestag mit dem Thema Atommüll,
wie die radioaktiven Abfälle unter Kontrolle zu bringen
und wie sie dauerhaft und möglichst sicher zu lagern sind .
Das nukleare Erbe einer unverantwortlichen Energiepo-
litik, die niemals hätte begonnen werden dürfen und mit
der sich noch viele Generationen abquälen müssen .
Meine Fraktion hat das Standortauswahlgesetz bei sei-
ner Einbringung 2013 abgelehnt, und daran halten wir
auch weiterhin fest .
Noch ist die Kommission bis nächste Woche dabei,
ihre Empfehlungen zur Evaluation dieses Gesetzes zu
beschließen . Aber ich verrate hier kein Geheimnis, wenn
ich sage: Wir sind sehr skeptisch, dass die von uns und
vielen Antiatomorganisationen kritisierten schweren
Mängel in dem Gesetz tatsächlich beseitigt werden .
Meine Fraktion Die Linke wird sich heute in der
Abstimmung des anstehenden Änderungsantrages zum
Standortauswahlgesetz enthalten .
Wir unterstützen ausdrücklich die Initiative, ein nati-
onales Begleitgremium für die Bürgerbeteiligung bei der
Suche nach einem Atommüll-Dauerlager vorzuziehen .
Dies haben wir gemeinsam mit den Berichterstattern der
anderen Fraktionen auf den Weg gebracht, denn damit
wird eine Lücke bei der Öffentlichkeitsbeteiligung ge-
schlossen .
Wir finden es auch richtig, wenn im Zuge der verän-
derten Behördenstrukturen die Deutsche Gesellschaft
zum Bau und Betrieb von Endlagern für Abfallstoffe
(DBE), die zu 75 Prozent den AKW-Betreibern gehört,
nicht mehr Teil des Verfahrens sein wird . Denn dieses
muss in verstaatlichten Strukturen ablaufen .
Wir enthalten uns dennoch, weil mit dem „Bundesamt
für kerntechnische Entsorgung“ eine Superbehörde beim
Bundesumweltministerium entstehen soll, die nur sinn-
voll ist, wenn es als Ausgleich sehr starke Bürgerrechte
und vor allem Klagerechte für die künftig Betroffenen
gibt . Dazu liegt uns derzeit nichts vor, die Endlagersuch-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617750
(A) (C)
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kommission strickt noch an Vorschlägen, aber wir müs-
sen befürchten, dass es diese erforderlichen starken Bür-
ger- und Klagerechte am Ende nicht geben wird .
Wenn es gelingen soll, den seit Jahrzehnten andauern-
den schweren gesellschaftlichen Atomkonflikt zu über-
winden, dann gehört zu dem oft behaupteten Neustart bei
der Endlagersuche aus meiner Sicht unbedingt dazu, eine
Politik staatlicher und wirtschaftlicher Machtdurchset-
zung zu beenden .
Frau Umweltministerin Hendricks . Sie haben der An-
tiatombewegung jüngst bescheinigt, dass sich diese um
„unser Land verdient gemacht“ hat, weil sie die „Risiken
einer zu gefährlichen Art der Energieerzeugung“ nicht
hingenommen hat . Für diese Worte danke ich Ihnen .
Aber lassen Sie mich auch feststellen: Atomkraftgegner
haben nicht nur „Schmähungen“, wie Sie sagen, ertragen
müssen . Sie sind immer wieder mit massiver Staatsge-
walt, mit Kriminalisierung, Demonstrationsverboten und
vielem mehr konfrontiert worden . Diese Antiatombewe-
gung hat aufgrund vieler – oft sehr persönlicher – Erfah-
rungen gute Gründe, staatlichem Agieren gegenüber sehr
misstrauisch zu sein .
Daher braucht es auch mehr als nur warmer Worte und
Beteuerungen, wenn es bei der Atompolitik tatsächlich
um einen Neustart gehen soll . Es ist jedenfalls nicht son-
derlich überzeugend, von Neustart zu sprechen, wenn im
gleichen Moment die Haftung der Atomkonzerne für die
Finanzierung der Atommüllberge letztlich abgeschafft
wird und den Bürgerinnen und Bürgern im Wendland er-
klärt wird, dass Gorleben weiter im Rennen bleibt . Das
schafft kein Vertrauen und keinen Neuanfang .
Ein Neustart braucht nicht nur Worte, sondern konkre-
te Taten: Deshalb muss Gorleben aus dem Verfahren ge-
nommen werden, und deshalb braucht es zum Ausgleich
einer zentralisierten Behördenstruktur starke Bürger- und
Klagerechte .
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Vor zwei Jahren wurde auf Basis des Standortauswahl-
gesetzes eine Kommission aus Politik, Wissenschaft und
Zivilgesellschaft eingesetzt, die unter anderem auch den
Auftrag hatte, das gerade beschlossene Gesetz zu evalu-
ieren . Dem sind wir in aller Ausführlichkeit nachgekom-
men . Wenn die Kommission am kommenden Montag
ihre Arbeit mit Beschluss ihres Berichtes abschließt, dann
werden Bundestag und Bundesrat nicht nur Empfehlun-
gen für neue Partizipationsstrukturen übergeben, nicht
nur Kriteriensätze für die sicherheitsorientierte Stand-
ortauswahl, sondern auch viele weitere Empfehlungen
zum Rechtsschutz, zum Exportverbot von Atommüll,
zur Behördenstruktur – um nur die Herausragendsten zu
nennen . Zwei Teile dieses umfassenden Konvoluts legen
wir bereits heute vor . Zwei Teile, deren Implementierung
bereits vor Beginn der Standortsuche nötig ist . Es geht
einmal um das Nationale Begleitgremium und zum ande-
ren um die Behördenstruktur .
Ich begrüße es sehr, dass wir bei der vorgezogenen
Einsetzung des Nationalen Begleitgremiums einen Kon-
sens über alle Bundestagsfraktionen hinweg erzielen
konnten . Dies ist ein gutes Zeichen und gibt Hoffnung,
dass alle politischen Kräfte bei dem so herausfordernden
wie singulären Projekt einer vergleichenden Endlagersu-
che konstruktiv an der Erreichung des Ziels mitwirken .
Es wird alle Kräfte brauchen, um die Endlagersuche am
Ende nicht in einen Bürgerkrieg münden zu lassen, son-
dern durch Transparenz, Partizipation und nachvollzieh-
bare Sicherheitsorientiertheit der Akzeptanz eine Chance
zu geben .
Das Nationale Begleitgremium wird hierbei ein un-
verzichtbarer Akteur sein . Als gemeinwohlorientierter
Vermittler und Beobachter soll es der Behörde und dem
Vorhabenträger beratend zur Seite stehen und darauf
achten, dass das Verfahren entsprechend der gesetzlichen
Vorgabe und den Empfehlungen der Kommission umge-
setzt wird . Das Gremium wird eine moralische Instanz
sein, vergleichbar dem Ethikrat, das die Rechte aller Be-
troffenen und übrigens auch der nachfolgenden Genera-
tionen im Blick haben wird . Dieses Gremium ist ganz
ausdrücklich keine Vertretung irgendwelcher Einzelinte-
ressen, weshalb dort auch keine Vertreter betroffener Re-
gionen Mitglieder sein sollen . Diese wirken in anderen
Beteiligungsgremien und Formaten wie den Regional-
konferenzen oder dem Rat der Regionen mit .
Anders als in der Endlagerkommission, in der es da-
rum ging, die diversen Akteure der Gesellschaft, die ein
Interesse an der Entwicklung des Suchverfahrens haben,
zusammenzubringen, geht es im Nationalen Begleitgre-
mium darum, Personen zu finden, denen von einem mög-
lichst großen Teil der Gesellschaft hohes Vertrauen und
Wertschätzung entgegengebracht wird . Sie werden zwei
Drittel des Nationalen Begleitgremiums ausmachen . Das
dritte Drittel soll von „Zufallsbürgern“ gebildet werden .
Einer der Schlüsselbegriffe der neuen Standortsuche ist
das „Lernende Verfahren“ . Aus Fehlern zu lernen, aber
auch die Bereitschaft, Dinge anders zu machen, als man
sie immer gemacht hat, weil es genügend Hinweise gibt,
dass es anders besser ist, das wird für das Gelingen des
großen und langwierigen Verfahrens notwendig sein . Wir
haben – soweit wir dazu fähig waren – schon mal damit
angefangen . Auch mit dem Zufallsbürger schlagen wir
Neues vor . Die Idee wurde aus den Beteiligungsformaten
an der Kommissionsarbeit an uns herangetragen, und wir
wollen sie umsetzen .
Es ist sehr schade, dass die Linke, anders als bei der
vorgezogenen Einsetzung des Nationalen Begleitgremi-
ums, der Neuorganisation der Behördenstruktur nicht
zustimmen will . Mit der neuen Struktur schaffen wir
Klarheit . Die Befürchtung der Linken, wir würden eine
Superbehörde schaffen, die schwer zu kontrollieren ist,
ist in meinen Augen nicht begründet . Das Auswahlver-
fahren wird in seinem Verlauf immer wieder an Bun-
destag und Bundesrat zurückgegeben, die sich mit den
Vorschlägen der Behörde befassen und sowohl über die
Standorte zur obertägigen und untertägigen Erkundung
als auch über den endgültigen Standort per Gesetz ent-
scheiden . Das letzte Wort hat also der Gesetzgeber .
Die Endlagerkommission hat bei der Neuorganisati-
on der Behördenstruktur Lehren aus der Vergangenheit
gezogen . Es soll – anders als noch im Standortauswahl-
gesetz von 2013 festgelegt – nur eine Bundesbehörde
für die Endlagersuche geben, die für Aufsicht und Ge-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17751
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nehmigung zuständig ist . Der Vorhabenträger wird eine
neue bundeseigene Gesellschaft sein, die zu 100 Prozent
in öffentlicher Hand sein wird und deren zukünftige Pri-
vatisierung ausgeschlossen ist . Die Energieversorgungs-
unternehmen, die über ihre Tochter GNS die bisherige
Endlagerbaugesellschaft DBE zu 75 Prozent besitzen,
werden an Endlagersuche und Endlagerbau also nicht
mehr beteiligt sein .
Diese Struktur beschließen wir heute, allerdings harrt
die mögliche Umsetzung noch der dafür notwendigen
Gespräche mit den Energieversorgern . Die Verhandlun-
gen wurden, als die Atomfinanzierungskommission KFK
eingerichtet wurde, auf Eis gelegt . Über die Ergebnisse
der KFK wird an anderer Stelle noch zu reden sein . Die
Gespräche mit den Energieversorgern sollten jetzt drin-
gend wieder aufgenommen werden .
Der heute vorgelegte Gesetzentwurf ist nur ein klei-
ner Teil dessen, was die Endlagerkommission empfiehlt.
Dass sowohl in der Vorbereitung des Gesetzentwurfs wie
auch in der Beratung im Umweltausschuss große Einig-
keit herrschte, nehme ich als gutes Zeichen für die große
Novelle des Standortauswahlgesetzes, die wir im Herbst
vor uns haben .
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit: Wir haben
uns in der letzten Legislaturperiode parteiübergreifend
ein sehr großes Ziel vorgenommen: Nach dem endgül-
tigen Ausstieg aus der Atomenergie in wenigen Jahren
in Deutschland wollen wir mit den atomaren Hinterlas-
senschaften verantwortungsvoll und in größtmöglichem
gesellschaftlichen Konsens umgehen . Bis Mitte des Jahr-
hunderts soll ein Endlager für die hochradioaktiven Ab-
fälle gefunden und fertiggestellt werden .
Die Koalition hat vereinbart, in dieser Legislaturperi-
ode die Lösung der Endlagerfrage ein großes Stück vo-
ranzubringen . Nur wenn wir von Anfang an darauf ach-
ten, dass alle Schritte sorgsam und zeitgerecht gegangen
werden, wird es möglich sein, den zwar lang erscheinen-
den, tatsächlich aber doch ambitionierten Zeitplan ein-
zuhalten .
Wir haben uns das Thema nicht selbst ausgesucht,
aber wir sehen das als unsere Verantwortung gegenüber
den Generationen an, die nach uns kommen .
Eine der drängenden Aufgaben ist die Fertigstellung
des Endlagers Konrad für die schwach- und mittelradio-
aktiven Abfälle . Dass es in der Vergangenheit aus ver-
schiedensten Gründen zu Verzögerungen gekommen ist,
ist zwar bedauerlich, aber „Bauen im Bestand“ birgt im-
mer auch zeitliche Risiken; das ist nicht zu ändern .
Was verbessert werden kann und muss, ist die Orga-
nisation im Bereich der Endlagerung, die im Moment
noch auf Entscheidungen aus den 70er-Jahren beruht . Sie
gewährleistet heute keine effiziente Erledigung der hoch-
komplexen Endlageraufgaben mehr .
Wir wollen optimale Bedingungen für die Suche
nach einem Endlagerstandort insbesondere für Wär-
me entwickelnde Abfälle schaffen . Deswegen wird der
fraktionsübergreifende Gesetzentwurf zur Änderung
des Standortauswahlgesetzes von der Bundesregierung
vollumfänglich mitgetragen .
Der vorliegende Gesetzentwurf zielt darauf ab, die
Zuständigkeiten eindeutig zuzuordnen und eine effizien-
tere Aufgabenerledigung zu gewährleisten . Die Betrei-
ber- und Betriebsführungsaufgaben, die bislang durch
das Bundesamt für Strahlenschutz einerseits und die Ver-
waltungshelfer DBE mbH und Asse GmbH andererseits
wahrgenommen wurden, werden zukünftig auf eine bun-
deseigene, privatrechtliche Gesellschaft übertragen .
Dadurch werden „lange Wege“ zwischen Vorhaben-
träger und Verwaltungshelfer beseitigt, was völlig richtig
und sinnvoll ist .
Auf behördlicher Seite werden die Genehmigungs-
und Aufsichtsaufgaben im Bundesamt für kerntechni-
sche Entsorgung konzentriert . Durch die Trennung von
Betreiberaufgaben und Regulierungsaufgaben werden
die Zuständigkeiten eindeutig festgelegt . Außerdem kann
die Zulassungs- und Aufsichtsbehörde so vollständig un-
abhängig agieren .
Und schließlich wird das Bundesamt für Strahlen-
schutz als eigenständige Bundesoberbehörde erhalten
und sich ausschließlich auf die vielfältigen Fragen des
Strahlenschutzes konzentrieren können, die in der öf-
fentlichen Wahrnehmung in der Vergangenheit häufig im
Schatten der Entsorgungsfragen standen .
Mit dem vorliegenden Gesetz setzen wir übrigens
auch einen entsprechenden Beschluss der Endlagerkom-
mission um .
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, den Mitgliedern
der Endlagerkommission, aber auch den involvierten
Behörden BfS und BfE für die geleistete Arbeit bei der
Neuorganisation herzlich zu danken .
Der Deutsche Bundestag hat die Kommission 2014
eingesetzt, mit dem Ziel, die Entscheidungsgrundlagen
für ein Standortauswahlverfahren zu entwickeln . Die Ar-
beit dort läuft sehr konstruktiv . Wir erwarten, dass die
Beratungen noch in diesem Monat abgeschlossen und der
Bericht im Anschluss vorgelegt werden kann .
Der Gesetzentwurf sieht auch vor, das Nationale Be-
gleitgremium für den Standortauswahlprozess vorzeitig
einzusetzen, damit der Faden der gesellschaftlichen Be-
teiligung nicht abreißt .
Dadurch kann die gemeinwohlorientierte Begleitung
des beginnenden Auswahlverfahrens fortgeführt werden,
die ursprünglich erst nach der Evaluierung des Standort-
auswahlgesetzes vorgesehen war . Die Aufgabe dieses
Gremiums wird vor allem eine vermittelnde und unab-
hängige Begleitung des Prozesses sein .
Ich bin der festen Überzeugung, dass ein Konsens bei
der Suche nach einem Standort für ein Endlager möglich
ist . Ein Konsens kann gelingen, wenn alle Beteiligten bis
zum Schluss vertrauensvoll zusammenarbeiten – und der
Prozess für die Öffentlichkeit transparent gestaltet wird .
Neben der offenen Diskussion, die für mich selbstver-
ständlich ist, machen klare Organisationsstrukturen die
Sache besser und verständlicher .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617752
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(B) (D)
Die Atomkraft bindet uns bis in alle Ewigkeit an die
Folgen einer Technologie, die gerade einmal 60 Jahre
lang in Betrieb war. Wir haben die Verpflichtung, den
kommenden Generationen dieses Problem in geordneter
Weise zu übergeben . Das heute vorgelegte Gesetz wird
uns dabei nachdrücklich helfen .
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD: Sozialen Basisschutz in Entwick
lungsländern schaffen (Tagesordnungspunkt 21)
Dr. Georg Kippels (CDU/CSU): 1948 wurde in der
Allgemeinen Menschenrechtserklärung das Recht auf so-
ziale Sicherheit aufgenommen . Funktionierende soziale
Sicherungssysteme sind dafür zwingend notwendig . So-
ziale Sicherungssysteme entstehen aber nicht über Nacht .
Ein funktionierendes System muss wachsen, es muss aus
dem individuellen Staat heraus gebildet werden . Wie aus
dem ILO-Bericht von 2015 hervorgeht, werden diesem
Ideal heute nur 27 Prozent der weltweiten Staaten mit
einem umfassenden sozialen Sicherungssystem gerecht .
73 Prozent haben nur partielle oder gar keine Deckung .
Blicken wir in unsere eigene Vergangenheit, zeigt
sich der Grundstein des deutschen Sozialstaates in der
Verkündung der sogenannten „Kaiserlichen Botschaft“
durch Reichskanzler Otto von Bismarck am 17 . Novem-
ber 1881 . Meilensteine waren 1883 die Krankenversiche-
rung, 1884 die Unfallversicherung, 1889 die Rentenver-
sicherung . Dem folgte ein langer Weg mit den Lehren aus
zwei Weltkriegen, der zum modernen sozialen Netz der
Bundesrepublik geführt hat . Damit zeigt sich, dass auch
eines der heute am besten ausgebauten Systeme sozialer
Sicherung einen langen und steinigen Weg hinter sich
bringen musste, um zu dem zu werden, was es ist . Zu-
dem entstand unser eigenes System der sozialen Siche-
rung durch innenpolitischen Druck . Dieser wurde zum
einen durch die Industrialisierung und Verarmung weiter
Bevölkerungskreise und zum anderen als Reaktion auf
einen erstarkenden Sozialismus, dem Bismarck durch die
Einführung der Versicherungen den Wind aus den Segeln
nehmen wollte, verursacht .
Also war auch in unserer eigenen Geschichte nicht ein
Ideal Ausgangspunkt für die Etablierung der sozialen Si-
cherung, sondern machtpolitische Erwägungen und die
Erkenntnis bzw . Prognose der gesellschaftspolitischen
und wirtschaftlichen Vorteile, die eine soziale Sicherung
bringen würde . Und genau diese Erkenntnis der Vorteile
der Einführung eines Systems der sozialen Sicherung ist
es, die wir aus unserer über hundertjährigen Erfahrung
weitergeben müssen .
Diese Erkenntnisse um die Entstehungsgeschich-
te müssen aber auch in der Umsetzung im Rahmen der
Entwicklungspolitik beachtet werden . Soziale Sicherung
steht nicht im freien Raum des Staates, sondern muss so-
wohl in der Gesellschaft als auch im politischen Raum
manifestiert werden . Soziale Sicherung ist nie Selbst-
zweck, sondern ein Baustein für ein funktionierendes
Gemeinwesen . Daran müssen sich dann aber auch die
sonstigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen orien-
tieren . Sonst verfehlt die soziale Sicherung ihren Zweck,
Nachteile auszugleichen und Menschen zu schützen .
Die Etablierung von sozialer Sicherung ersetzt aber
vor allem nicht die weiter gehende Entwicklungspolitik,
die den Aufbau eines tragfähigen und leistungsfähigen
Wirtschafts- und Gesellschaftssystems zum Ziel haben
muss, aus dem dann die sozialen Sicherungssysteme
dauerhaft gespeist werden . Die gewissermaßen im staat-
lichen Entwicklungsprozess vorgezogene Einrichtung
sozialer Sicherungssysteme dient der Beschleunigung
des Vorgangs, weil die Lasten der Entwicklung redu-
ziert werden . Dies gilt vor allem dann, wenn durch ein
stetiges und zunehmendes Bevölkerungswachstum das
notwendige Wirtschaftswachstum nicht Schritt zu halten
vermag .
Es besteht mithin eine Wechselwirkung zwischen so-
zialer Sicherung und Entwicklungsprozess .
Seit der Millenniumentwicklungserklärung im
Jahr 2000 hat sich die Weltgemeinschaft entschlossen,
mit konkreten Zielen ihren eigenen Ansprüchen gerecht
zu werden . Die Verwirklichung der Bekämpfung von
extremer Armut und Hunger, der allgemeinen Grund-
schulbildung, die Förderung der Gleichstellung der Ge-
schlechter, die Senkung der Kindersterblichkeit, die Ver-
besserung der Müttergesundheit, die Bekämpfung von
HIV/Aids, Malaria und anderen, die Sicherung der öko-
logischen Nachhaltigkeit, der Aufbau einer weltweiten
Entwicklungspartnerschaft sind nicht vorzustellen ohne
den Aufbau sozialer Sicherungssysteme .
Die 2015 verabschiedeten Nachhaltigkeitsziele neh-
men noch konkreter Bezug auf die Etablierung von so-
zialer Sicherheit . SDG 1 .3 fordert, den nationalen Ge-
gebenheiten entsprechende Sozialschutzsysteme und
-maßnahmen für alle umzusetzen, einschließlich eines
Basisschutzes, und bis 2030 eine breite Versorgung der
Armen und Schwachen zu erreichen . SDG 3 .8 fordert
eine allgemeine Gesundheitsversorgung, einschließlich
der Absicherung gegen finanzielle Risiken, den Zugang
zu hochwertigen grundlegenden Gesundheitsdiensten
und den Zugang zu sicheren, wirksamen, hochwertigen
und bezahlbaren unentbehrlichen Arzneimitteln und
Impfstoffen für alle . SDG 5 .4 fordert, die unbezahlte
Pflege- und Hausarbeit durch die Bereitstellung öffentli-
cher Dienstleistungen und Infrastrukturen, Sozialschutz-
maßnahmen und die Förderung geteilter Verantwortung
innerhalb des Haushalts und der Familie entsprechend
den nationalen Gegebenheiten anzuerkennen und zu
wertschätzen .
Deshalb fordern wir in unserem Antrag unter Betrach-
tung der länderspezifischen Gegebenheiten speziell den
Auf- und Ausbau von Verwaltungs- und Steuersystemen
sowie den Aufbau und die Stärkung von Gesundheitssys-
temen . Dabei steigt und fällt der Erfolg aller Bemühun-
gen mit der Bereitschaft der Schwellen- und Entwick-
lungsländer, Eigenverantwortung zu übernehmen und
zur Verfügung gestellte Mittel der Anschubfinanzierung
verantwortungsvoll und nachhaltig zum Wohle ihrer
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17753
(A) (C)
(B) (D)
Bevölkerung zu verwenden . Modellrechnungen zeigen
schon heute, dass auch Schwellen- und Entwicklungs-
länder mithilfe einer Anschubfinanzierung sozialen Ba-
sisschutz bereitstellen können .
Die Vorteile von Sozialschutzsystemen für eine nach-
haltige Entwicklung sind mannigfaltig . Betrachtet man
die Entwicklungschancen eines Kindes, das in einem
Land mit sozialen Sicherungssystemen aufwächst, zeigt
sich deren immenser Einfluss auf das Leben der Men-
schen . Mit der Absicherung im Krankheitsfall, bei Ar-
beitsunfällen oder Invalidität und der daraus resultieren-
den Einkommenssicherheit kann Kinderarbeit verhindert
werden . Sind Familien nicht auf das Einkommen ihrer
Kinder angewiesen, sind die Lebensverhältnisse von Fa-
milien nicht äußerst prekär, verbessern sich Chancen der
Kinder zu einem erfolgreichen Schulbesuch und in der
Konsequenz auch zu einer qualifizierten Beschäftigung
mit besseren Erwerbschancen . Bieten Staaten funktio-
nierende Gesundheitssysteme, wird ein Kind von der
Geburt an betreut, steigt seine Chance auf ein gesundes
und produktives Leben und einen erfolgreichen Besuch
der Schule erheblich . Der Druck auf Frauen, möglichst
viele Kinder zu gebären, sinkt, da die Überlebenschance
eines Kindes wesentlich größer ist . Auch ein Rentensys-
tem senkt zudem den Druck, möglichst viele Kinder zu
bekommen, um die Eltern im Alter zu versorgen . Bekom-
men Frauen weniger Kinder, sind sie wirtschaftlich leis-
tungsfähiger und tragen zur Prosperität eines Staates bei .
Wirtschaftliche Kraft und damit Einfluss tragen auch zu
mehr Gleichberechtigung bei und fördern damit Demo-
kratie .
Lassen Sie uns deshalb mit unserem Antrag die Be-
deutung der steten Förderung von sozialen Sicherungs-
systemen in der deutschen Entwicklungspolitik ebenso
unterstreichen wie die stete Forderung nach Übernahme
der Verantwortung für das Wohlergehen der eigenen Be-
völkerung durch die Entwicklungs- und Schwellenlän-
der . Die internationale Gemeinschaft kann Bewusstsein
schaffen und beim Start helfen . Für nachhaltigen Erfolg
können nur die Länder selbst sorgen .
Stefan Rebmann (SPD): Wenn in unserem Land von
sozialen Sicherungssystemen die Rede ist, dann denkt
eine große Mehrheit wohl an notwendige Reformvorha-
ben . Zu Recht .
Was wir uns aber nur selten vor Augen halten: Was
für uns selbstverständlich ist, nämlich überhaupt über
ein System von Arbeitslosigkeits-, Kranken-, Pflege- und
Rentenversicherung zu verfügen, auch wenn es unbe-
streitbar nachjustiert werden muss, existiert für einen
Großteil der Menschen weltweit gar nicht .
Dabei ist das Recht jedes Einzelnen auf soziale Si-
cherheit ein seit 1948 auch in der Allgemeinen Erklärung
für Menschenrechte der UN verbrieftes Menschenrecht .
Leider aber ein unverwirklichtes, denn noch immer le-
ben 73 Prozent der Weltbevölkerung ohne umfassende
soziale Absicherung . Bis zu 90 Prozent der Bevölkerung
in Niedriglohnländern leben ohne jegliche Absicherung
bei Arbeitslosigkeit; 48 Prozent weltweit besitzen kei-
ne soziale Sicherung im Alter . Und jeden Tag sterben
18 000 Kinder, vor allem an vermeidbaren Ursachen, die
durch eine angemessene soziale Sicherung effektiv be-
kämpft werden könnten .
Was das konkret bedeutet, schilderten mir vor ein paar
Tagen erst Gewerkschaftsgäste aus Ecuador und Costa
Rica eindrucksvoll anhand der Arbeit auf Bananen- und
Ananasplantagen in ihren Ländern . 10- bis 14-Stundenta-
ge schwerer körperlicher Arbeit, stets ausgesetzt den aus
aggressiven Chemikalien bestehenden Pestiziden zum
Insektenschutz bei Pflanzen und Hungerlöhnen, die für
Frauen noch mal halbiert werden . Sexuelle Übergriffe
auf Frauen während der Arbeit gehören zum Alltag – wer
sich wehrt, bekommt eine Extraschicht, das Gehalt ge-
kürzt oder im schlimmsten Fall die Kündigung . Gleiches
gilt für Arbeiterinnen und Arbeiter, die versuchen, sich in
Betriebsräten oder Gewerkschaften zu organisieren . Die
fehlende Absicherung macht gefügig . Seit 80 Jahren wer-
den in Ecuador Bananen angebaut und exportiert – kein
Plantagenarbeiter ist je in Rente gegangen .
Ein solider Basisschutz würde diesem weit verbrei-
teten Phänomen von prekärer Arbeit und weitgehender
Abhängig- und Schutzlosigkeit entschieden entgegen-
wirken . Es ist erwiesen, dass bereits minimale Anstren-
gungen im Bereich eines Basisschutzes, der freilich spä-
ter auszubauen sein sollte, verblüffende Effekte erzielen .
Als Beispiele zu erwähnen sind hier, erstens, die konditi-
onierten Geldtransfers in Brasilien (Bolsa Familia), Me-
xiko und anderen lateinamerikanischen Ländern, die eine
Art Sozialhilfe in der Weise eingeführt haben, dass sie
Familien ein Mindesteinkommen sichern, wenn sie ihre
Kinder zur Schule bzw . zum Arzt schicken .
Zweitens . Ebenso scheinen in einigen Ländern aber
auch bedingungslose Transfers zu funktionieren . So hat
Lesotho im südlichen Afrika eine staatliche Grundrente
für alle Menschen ab 70 Jahren eingeführt . Diese Grund-
rente ist verglichen mit unseren Standards zwar sehr be-
scheiden, sie hilft aber durchaus insofern, als alte Men-
schen ihren Familien nicht mehr zur Last fallen müssen
und nicht selten sogar die eine oder andere, zum Beispiel
schulische Investition für ihre Enkelkinder tätigen kön-
nen .
Drittens . Und Indien hat einen Versuch unternommen,
eine steuerfinanzierte Krankenversicherung einzurichten,
die arme Menschen absichert, Menschen mit mittleren
Einkommen bezuschusst und die wohlhabende Schichten
selbst finanzieren müssen. Leider scheint die Umsetzung
hier noch nicht optimal, aber was nicht ist, kann ja hof-
fentlich noch werden .
Ich finde, diese Beispiele machen Mut. Und sie sollten
uns ermutigen, unsere Partner und Partnerinnen in Ent-
wicklungs- und Schwellenländern beim Auf- und Ausbau
ihrer individuellen sozialen Sicherungssysteme mit unser
Expertise – aber ohne ihnen unser konkretes Modell auf-
drücken zu wollen –, mit technischem Know-how und
bei Bedarf auch phasenweise mit finanziellen Investitio-
nen zu unterstützen .
Denn eine soziale Grundsicherung ist eines der effek-
tivsten Mittel gegen Armut und Ungleichheit . Sie gibt
dem Individuum Sicherheit und damit Perspektive, ist
ökonomisch sinnvoll, weil nur wer mindestabgesichert
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617754
(A) (C)
(B) (D)
ist, investiert; sie ist gesellschaftlich sozial und ist last,
but not least auch politisch nützlich . Denn ein Staat, der
seinen Bürgerinnen und Bürgern Schutz vor Lebensrisi-
ken gibt, wird im Gegenzug eher Vertrauen und Legitimi-
tät erhalten . Soziale Sicherung ist eine zentrale Voraus-
setzung für gutes Leben . Weltweit .
Lassen Sie uns deshalb den Antrag zur Unterstützung
unserer Partnerländer im globalen Süden beim Auf- und
Ausbau ihrer individuellen sozialen Sicherungssysteme
gemeinsam annehmen .
Niema Movassat (DIE LINKE): Der vorliegende
Koalitionsantrag mit dem schönen Titel „Sozialen Basis-
schutz in Entwicklungsländern schaffen“ reiht sich ein
die die Sammlung wohlklingender Bundestagsanträge
ohne jegliche Konsequenz .
Die Einleitung könnte ebenso gut einem Antrag der
Linken voranstehen . Sie verweist darauf, dass soziale
Sicherheit ein Menschenrecht ist, das die Vereinten Na-
tionen 1948 nach der Barbarei zweier Weltkriege dekla-
riert haben – auf den VN-Sozialpakt von 1966, die Agen-
da 2030 für nachhaltige Entwicklung, die in den nächsten
14 Jahren die extreme Armut weltweit beseitigen will .
Alles richtig, wichtig, schön und gut . Das Problem ist
nur, die konkrete Politik der Bundesregierung hat nati-
onal als auch international vor allem ein gemeinsames
Merkmal: Sie schwächt soziale Sicherungssysteme . Sie
konzentriert Reichtum in immer weniger, immer rei-
cheren Händen . Im Umkehrschluss führt sie zu immer
weniger sozialer Sicherheit für immer mehr Menschen .
Gleichzeitig haben Union, SPD gemeinsam mit FDP und
Grünen in Deutschland die einst gut funktionierenden
Sozialversicherungen in den letzten Jahren abgeholzt .
Sie haben die Mittelschicht dezimiert und weite Teile der
Bevölkerung abgehängt, indem sie reine Konkurrenz ge-
predigt und jeden ganz alleine für sein eigenes Wohl ver-
antwortlich erklärt haben . In dieser Logik stärken sozia-
le Sicherungssysteme vor allem das Humankapital und
erleichtern so den Strukturwandel in Volkswirtschaften,
wie es in dem Antrag heißt .
Sozialer Friede basiert aber auf Solidarität . Solidari-
tät bedeutet, dass man Schwächeren zur Seite steht, auch
wenn es einem selbst vielleicht Nachteile bringt . Die
Wirtschafts- und Entwicklungspolitik der Bundesregie-
rung dient aber vor allem der deutschen Wirtschaft . Cre-
do bei der Entwicklungszusammenarbeit ist: Für jeden
Euro, den wir investieren, fließen drei nach Deutschland
zurück . Wer also an Entwicklungszusammenarbeit vor
allem noch verdienen will, zeigt sein wahres Gesicht . Da
hilft es dann auch nichts, sich verbal für soziale Basisge-
sundheitssysteme auszusprechen .
Gerade erst hat der Bundesverband der Deutschen In-
dustrie für eine noch stärkere staatliche Unterstützung
bei Investitionen in Entwicklungsländern geworben .
Entwicklungshelfer müssten deutschen Unternehmen
beim Zugang zu Märkten helfen . Das ist deshalb absurd,
weil die Bundesregierung und die EU genau das seit
Jahrzehnten bis zum Exodus einheimischer Wirtschafts-
zweige in Entwicklungsländern exerzieren . Altbekanntes
Beispiel ist der Export von subventioniertem Milchpul-
ver in afrikanische Länder . Wenn die dort ansässigen
Milchproduzenten ihre Existenzgrundlage zugunsten der
europäischen Milchwirtschaft verlieren, brauchen sie
erst gar keine Sozialtranfers . Bevor die Bundesregierung
die Symptome bekämpft, sollte sie lieber die Ursachen
beseitigen .
Der Antrag fordert kaum konkrete Handlungen, son-
dern beschränkt sich fast ausschließlich auf allgemeine
Appelle .
Wenn die Koalition fordert, die Bundesregierung solle
sich für den Aufbau und die Stärkung von Gesundheits-
systemen in Entwicklungsländern einsetzen, sage ich
Ihnen: Halten Sie doch erst mal ihr 0,7-Prozent-Entwick-
lungshilfequote-Versprechen und erhöhen Sie endlich die
Budgethilfe, statt weiter zahllose fremdbestimmte Ein-
zelprojekte in den Ländern des Südens unter Einbindung
etwa der Pharmaindustrie durchzuführen .
Wenn die Koalition fordert, die Partnerländer beim
Aufbau effizienter Steuersysteme zu unterstützen, sage
ich Ihnen: Verpflichten Sie deutsche Unternehmen doch
endlich zu einer öffentlichen Country-by-Country-Be-
richterstattung über grundlegende Geschäftszahlen, da-
mit Unternehmen aus den reichen Industriestaaten nicht
länger bis zu 200 Milliarden Dollar jährlich an Steuer-
zahlungen an Entwicklungsländer vermeiden oder hin-
terziehen .
Wenn die Koalition fordert, den Kampf gegen die
Korruption in den Ländern des Südens zu unterstützen,
sage ich Ihnen: Räumen Sie doch erst mal bei VW und in
anderen deutschen Großkonzernen auf – zur Korruption
braucht es immer zwei –, und bringen Sie doch hierzu-
lande erst mal ein paar vernünftige Antikorruptionsgeset-
ze auf den Weg .
Von Worten zu Taten ist es ein weiter Weg, sagt ein
deutsches Sprichwort . Leider macht sich die Bundes-
regierung mit diesem Antrag immer noch nicht auf den
Weg .
Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich
begrüße sehr, dass die Koalition das Thema soziale Si-
cherung mit dem vorliegenden Antrag endlich aufgreift .
Eine entsprechende Initiative war längst überfällig . Nach
wie vor wird der Bereich soziale Sicherung viel zu stief-
mütterlich von dieser Bundesregierung behandelt . Wir
haben bereits 2012 im Rahmen eines Antrags einen Ak-
tionsplan zum Aufbau sozialer Sicherungssysteme welt-
weit gefordert . Geschehen ist in diesem Zusammenhang
leider immer noch viel zu wenig . Auch mit dem vorlie-
genden Antrag benennen Sie zwar die bestehenden De-
fizite teils deutlich, verpassen aber die Chance, konkre-
te Instrumente aufzuzeigen, mit denen die bestehenden
Lücken gefüllt werden sollen . Die strukturellen Hinder-
nisse, die dem Aufbau sozialer Sicherungssysteme ent-
gegenstehen, wie beispielsweise Steuervermeidung und
-hinterziehung durch transnationale Unternehmen, wer-
den in Ihrer Analyse gleich ganz ausgespart .
Sie weisen darauf hin, dass gerade im Gesundheits-
bereich der Aufbau sozialer Sicherungssysteme beson-
ders dringend benötigt wird . Dem stimme ich zu . Es sind
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17755
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vor allem die Ärmsten, die im Krankheitsfall durch das
Fehlen sozialer Absicherung besonders bedroht sind . Die
Kosten für Behandlung und Medikamente stürzen ge-
rade die ärmsten Bevölkerungsgruppen oftmals in den
endgültigen Ruin . Krankheit bleibt nicht nur Folge, son-
dern auch Ursache von Armut . Damit konterkariert der
fehlende Zugang zu sozialer Absicherung die Ziele einer
nachhaltigen Entwicklung .
Erst im vergangenen Jahr wurden wir im Zuge der
Ebola-Epidemie Zeuge, welche dramatischen und teils
tödlichen Folgen das Fehlen eines stabilen öffentlichen
Gesundheitssystems haben kann . Mit den vielbeschwo-
renen „lessons learned“ aus der Ebola-Epidemie ist das
Schlagwort Gesundheitssystemförderung längst zu ei-
nem Modewort aufgestiegen, das selbst die Kanzlerin
in regelmäßigen Abständen bei G7-Gipfeln bemüht . Ich
denke, es ist höchste Zeit, dass wir die Stärkung von
Gesundheitssystemen nicht mehr nur als rhetorisches
Allheilmittel herbeibeschwören . Die Bundesregierung
muss mit einem neuen Aktionsplan den Aufbau von Ge-
sundheitssystemen in Entwicklungsländern wirksam vo-
rantreiben . Beginnen wir bei der Finanzierung: Anstatt
entsprechend der WHO-Empfehlung 0,1 Prozent des
Bruttonationaleinkommens für Entwicklungszusammen-
arbeit im Gesundheitsbereich zur Verfügung zu stellen,
stagniert der deutsche Beitrag bei 0,028 Prozent . Es ist
höchste Zeit, dies zu ändern .
Gerade Deutschland verfügt über wertvolle Expertise,
um den Aufbau von öffentlichen und solidarisch orga-
nisierten Sicherungssystemen wirksam zu unterstützen .
Diese Expertise gilt es zu nutzen und das Feld nicht allein
privaten Versicherungskonzernen zu überlassen . Gerade
im Gesundheitsbereich, der durch privatwirtschaftliche
und philanthropische Initiativen in vielen Entwicklungs-
ländern besonders beeinflusst wird, ist besondere Wach-
samkeit geboten . Nicht überall dort, wo derzeit Gesund-
heitssystemförderung plakatiert wird, ist am Ende auch
solidarisch und systemisch organisierte Gesundheitsför-
derung enthalten .
Werte Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wir sind
uns einig: Soziale Sicherheit bildet eine entscheidende
Grundlage für Entwicklung . Ich hoffe, dieser Antrag
bleibt mehr als eine bloße Bestandsaufnahme .
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkom
men vom 19. Februar 2013 über ein Einheitli
ches Patentgericht
– des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung patent
rechtlicher Vorschriften auf Grund der europä
ischen Patentreform
(Tagesordnungspunkt 22 a und b)
Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): Wir beraten
heute über die Umsetzung der europäischen Patentre-
form . Mit den beiden heute erstmals zu beratenden Ge-
setzentwürfen wollen wir dieser Reform einerseits zu
einer nahtlosen Einfügung in unser nationales Recht ver-
helfen und andererseits dem Übereinkommen über ein
Einheitliches Patentgericht zustimmen .
Die vorliegende europäische Patentreform ist ein gro-
ßer Durchbruch; durch sie wird das Patentsystem in Eu-
ropa nachhaltig zum Positiven verändert . Der Zugang zu
einem einheitlichen Patentschutz innerhalb der EU wird
nicht nur den Schutz von Erfindungen stärken, sondern
auch deutlich verbesserte Rahmenbedingungen für eine
innovative Industrie und einen integrierten europäischen
Binnenmarkt schaffen .
Bereits seit den 1960er-Jahren gab es Bestrebungen in
Europa, den Patentschutz zu vereinheitlichen . Zahlreiche
Verhandlungen und Bemühungen sind in der Vergangen-
heit gescheitert . Auch bei der vorliegenden Patentreform
gab es große Herausforderungen . Trotz intensiver Ver-
handlungen war es leider nicht möglich, innerhalb der
EU die Zustimmung aller Mitgliedstaaten zu erlangen .
Die Verabschiedung des Reformpakets war daher nur im
Wege der verstärkten Zusammenarbeit möglich . Klagen
vor dem EuGH, die im weiteren Verlauf durch Italien und
Spanien angestrengt wurden, blieben aber erfolglos . Er-
freulicherweise wirkt Italien inzwischen bei der verstärk-
ten Zusammenarbeit mit, gemeinsam mit 25 weiteren
EU-Staaten .
Die Reform besteht rechtstechnisch aus drei Elemen-
ten: zwei EU-Verordnungen, die sich zum einen auf die
Schaffung des einheitlichen Patentschutzes und zum
zweiten auf die insoweit anzuwendenden Übersetzungs-
regeln beziehen, sowie dem dritten Element, einem völ-
kerrechtlichen Vertrag zur Schaffung eines Einheitlichen
Patentgerichts .
Warum aber ist diese Reform notwendig?
Bislang gibt es nationale Patente, die auf national-
staatlicher Ebene gemäß den jeweiligen nationalen Ver-
fahrensvorschriften erteilt werden . Außerdem ist es mög-
lich, ein sogenanntes „Europäisches Patent“ zu erhalten,
das vom Europäischen Patentamt auf Grundlage des Eu-
ropäischen Patentübereinkommens erteilt wird . Nach ei-
nem einheitlichen Prüfungsverfahren erteilt das Europä-
ische Patentamt durch einen einzigen Erteilungsakt das
Patent, das jedoch in ein Bündel von nationalen Patenten
für die benannten Vertragsstaaten zerfällt, weshalb man
auch vom sogenannten „Bündelpatent“ spricht .
Konsequenz ist, dass wie bei jedem nationalen Patent
gerichtlicher Rechtsschutz für das europäische Patent
oder Bündelpatent nur vor den jeweiligen nationalen
Gerichten möglich ist . Der Rechtsschutz bleibt natio-
nalstaatlich beschränkt . Für Patentverletzungsverfahren
oder -nichtigkeitsverfahren bedarf es daher bislang einer
Reihe von Gerichtsverfahren in den jeweiligen Vertrags-
staaten . Dies kann zu sich widersprechenden Urteilen
über die Verletzung oder den Bestand des Schutzrechts
innerhalb des gemeinsamen Binnenmarktes führen . Die
Folge ist nicht nur erheblicher Aufwand und eine ent-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617756
(A) (C)
(B) (D)
sprechende Rechtsunsicherheit, sondern auch eine Zer-
splitterung des Marktes .
Die vorliegende Reform löst diese Probleme und führt
in begrüßenswerter Weise zu einem einheitlichen europä-
ischen Patentrechtsschutz, der langfristig den Flickentep-
pich nationalstaatlicher Regelungen ersetzen soll .
Das „europäische Patent mit einheitlicher Wirkung“
oder Einheitspatent stellt den teilnehmenden Staaten ein
Patent mit einer einheitlichen Schutzwirkung für alle
teilnehmenden EU-Staaten zur Verfügung . Dementspre-
chend kann das Patent auch nur auf alle Mitgliedstaaten
beschränkt, übertragen oder für nichtig erklärt werden
oder erlöschen .
In Hinblick auf die Erteilung wird die bestehende In-
frastruktur des Europäischen Patentamtes genutzt, die
sich über die letzten Jahrzehnte bewährt hat . Patentan-
meldungen für das Einheitspatent erfolgen beim Euro-
päischen Patentamt, wobei das bisherige Prüfverfahren
unverändert beibehalten wird . Erteilt das Europäische
Patentamt wie bisher üblich ein Bündelpatent, kann der
Patentanmelder innerhalb eines Monats die einheitliche
Wirkung des Patents beantragen .
Dabei ist eine Kombination aus Einheits- und Bündel-
patent möglich . Für die an der verstärkten Zusammenar-
beit teilnehmenden EU-Staaten kann ein Einheitspatent
erlangt werden, während für die nicht an der verstärkten
Zusammenarbeit teilnehmenden EU-Staaten, wie etwa
Spanien, oder für Nicht-EU-Staaten, die Vertragsstaaten
des EPÜ sind, wie beispielsweise Norwegen, die Schweiz
oder die Türkei, ein Bündelpatent erlangt werden kann .
Die Übersetzungsregelungen zum Einheitspatent ba-
sieren auf dem Drei-Sprachen-System des europäischen
Patentamts (Deutsch/Englisch/Französisch), das heißt,
eine Patentanmeldung hat grundsätzlich in einer Sprache
des Drei-Sprachen-Systems zu erfolgen beziehungswei-
se ist zeitnah entsprechend zu übersetzen .
Das Übereinkommen über ein Einheitliches Patentge-
richt komplettiert als drittes Element die Patentreform .
Das Einheitliche Europäische Patentgericht wird in erster
Instanz in Zentral-, Regional- und Lokalkammern aufge-
teilt . In Deutschland soll es für die erste Instanz insge-
samt vier Lokalkammern geben . Damit wollen wir eine
räumliche Nähe zum Gericht und einen leichteren Zu-
gang zur Gerichtsbarkeit ermöglichen . Mit Düsseldorf,
Hamburg, Mannheim und München haben wir für die
vier deutschen Lokalkammern die bereits jetzt für Ge-
richtsverfahren in Patentstreitigkeiten wichtigsten Stand-
orte ins Auge gefasst .
In zweiter Instanz kann ein Berufungsgericht angeru-
fen werden, das seinen Sitz in Luxemburg haben wird .
Ist eine Frage des Unionsrechtes zu klären, wird wie bei
nationalen Gerichten eine Vorlage an den EuGH zur Vor-
abentscheidung erfolgen . Sachlich zuständig wird das
Einheitliche Patentgericht für Patentverletzungsklagen,
Nichtigkeitsklagen und einstweilige Maßnahmen und
Sicherheitsmaßnahmen einschließlich einstweiliger Ver-
fügungen sein .
Auf nationaler Ebene soll durch den Gesetzentwurf
zur Anpassung patentrechtlicher Vorschriften aufgrund
der europäischen Patentreform die Einarbeitung des neu-
en Schutzrechts in das deutsche Recht erfolgen . Durch
die vorgesehenen Änderungen insbesondere des Interna-
tionalen Patentübereinkommensgesetzes werden Anwen-
dungsschwierigkeiten, die sich aus einem Nebeneinander
von innerstaatlichen und europäischen Regelungen erge-
ben könnten, vermieden .
Unberührt von der europäischen Patentreform blei-
ben nationale Patente, die wie bisher auch weiterhin von
nationalen Behörden erteilt werden können . Die Einfüh-
rung des europäischen Einheitspatents schließt die oben
genannten Optionen des Bündelpatents und des natio-
nalen Patents also keineswegs aus . Vielmehr erhält der
Anmelder die Möglichkeit der alternativen Patentanmel-
dungen, damit er individuell bestimmen kann, welcher
Patentschutz den individuellen Bedürfnissen am ehesten
entspricht .
Der Entwurf sieht darüber hinaus aber auch die Auf-
hebung des bisher bestehenden Doppelschutzverbo-
tes vor. Für dieselbe Erfindung wäre demnach künftig
Schutz durch ein nationales Patent und parallel dazu
durch ein europäisches Patent mit oder ohne einheitliche
Wirkung möglich . Der Befürchtung einer missbräuchli-
chen Durchsetzung inhaltsgleicher Schutzrechte in unter-
schiedlicher Jurisdiktion durch den Schutzrechtsinhaber
begegnet der Entwurf durch die Einführung der „Einrede
der doppelten Inanspruchnahme“ .
Die Einführung einer solchen Einrede ist, will man das
Doppelschutzverbot aufheben, zwingend notwendig . Ob
die Ausgestaltung der Einrede in ihrer jetzigen Form der
Befürchtung der missbräuchlichen Durchsetzung hinrei-
chend begegnen kann, werden wir im weiteren Gesetzge-
bungsverfahren sicherlich näher beleuchten müssen .
Ebenfalls erscheint es mir notwendig, sich mit der
grundsätzlichen Frage nach der Abschaffung des Dop-
pelschutzverbotes auseinanderzusetzen . Der europäische
Rechtsrahmen räumt den Mitgliedstaaten in dieser Hin-
sicht Gestaltungsspielraum ein, und im Rahmen des Mar-
ken- und Geschmacksmusterrechtes wurden positive Er-
fahrungen einer Koexistenz gemacht . Zugleich soll durch
die europäische Patentreform eine System- und Verfah-
rensvereinfachung mit einer damit verbundenen Kosten-
reduktion und Erhöhung der Rechtssicherheit erreicht
werden . Die Zulässigkeit von parallelen Schutzrechten
für ein und dieselbe Erfindung könnte gerade diese Ziele
der Reform konterkarieren und die verbesserte Integrati-
on des Binnenmarktes untergraben .
Im laufenden Gesetzgebungsverfahren sollten wir
daher insbesondere die Abstimmung und das Verhältnis
zwischen dem nationalen und dem europäischen Recht
noch einmal genau unter die Lupe nehmen .
Damit die europäische Patentreform und die beiden
erwähnten EU-Verordnungen zur Anwendung gelangen,
muss das Übereinkommen über ein Einheitliches Patent-
gericht in Kraft treten . Von dreizehn notwendigen Ver-
tragsstaaten haben zehn Staaten das Übereinkommen be-
reits ratifiziert. Ferner ist die Ratifikation durch die drei
Mitgliedstaaten, in denen es im Jahr vor dem Jahr der
Unterzeichnung des Übereinkommens die meisten gel-
tenden europäischen Patente gab, zwingend notwendig .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17757
(A) (C)
(B) (D)
Dies sind Deutschland, Frankreich und das Vereinigte
Königreich . Frankreich hat das Übereinkommen bereits
ratifiziert und ist mit gutem Beispiel vorangegangen.
Dem sollten wir zügig folgen .
Nicht nur in Hinblick auf das Einheitspatent bleibt
schließlich zu hoffen, dass das Vereinigte Königreich
sich für einen Verbleib in der EU bei dem heute stattfin-
denden Referendum entscheidet . Ein Austritt des Verei-
nigten Königreichs wäre nicht nur ein schwarzer Tag für
Europa und die EU, sondern würde auch das Inkrafttreten
der europäischen Patentreform um einige Zeit verzögern
oder schlimmstenfalls diese sogar durch den Verlust des
so wichtigen Marktes Großbritannien gänzlich infrage
stellen .
Christian Flisek (SPD): Mit dem Gesetz zum Über-
einkommen über ein Einheitliches Patentgericht, welches
wir heute beschließen, stellen wir unseren europäischen
Patentbau fertig, mit dessen Errichtung wir 1977 begon-
nen haben, als das Europäische Patent- und Markenamt
gegründet wurde . Mit diesem letzten Stein runden wir
unser gemeinsames, europäisches Patentschutzsystem
ab .
Ein Einheitliches Patentgericht ist vor allem für die-
jenigen wichtig, die auf effektiven Patentschutz ange-
wiesen sind . Das sind die klugen Köpfe aus Forschung
und Wissenschaft, aber auch forschungs- und damit ri-
sikofreudige Unternehmen . Für ein wirtschaftlich und
sozial attraktives Europa ist es essenziell, ein innovati-
onsfreundliches Rechtsumfeld für diese Personen und
Unternehmen zu schaffen . Das Einheitliche Patentgericht
ist dafür ein wichtiger Baustein .
Besonders positiv hervorzuheben ist, dass die Reform,
die wir heute beschließen, mit immensen Kosteneinspa-
rungen vor allem für Forschungseinrichtungen sowie
kleine und mittlere Unternehmen verbunden ist, die auf-
grund ihrer begrenzten Ressourcen auf einen effektiven
Schutz ihrer Erfindungen am dringendsten angewiesen
sind . Von jetzt an ist ein sogenannter Doppelschutz gege-
ben, das heißt, neben einem europäischen Schutztitel er-
hält der Patentinhaber in Zukunft Schutz durch nationale
Patente in jedem Mitgliedstaat . Kommt es zu rechtlichen
Konflikten, muss der Patentinhaber seine Patente aber
nicht mehr in jedem Mitgliedstaat separat durchsetzen,
sondern kann dies zentral bei dem neuen Einheitlichen
Patentgericht tun . Zugleich steht dem Patentinhaber die
Einrede doppelter Inanspruchnahme zu, wonach ein-
gewendet werden kann, nicht aus zwei Schutztiteln für
dieselbe Erfindung in Anspruch genommen werden zu
können .
Für die Patentinhaber sind diese Neuerungen mit deut-
lichen Kosteneinsparungen verbunden, weil sich sowohl
die laufenden Ausgaben, etwa für Übersetzungen oder
bei den jährlichen Gebühren, als auch die Kosten für die
Rechtedurchsetzung signifikant verringern. Vergleicht
man etwa die Gebühren für die Erteilung und Aufrecht-
erhaltung nationaler Patente in allen 26 teilnehmenden
EU-Ländern mit denen für ein genauso wirksames neues
Einheitspatent, können die Einsparungen bis zu 80 Pro-
zent betragen .
Das neue Patentsystem bringt aber nicht nur Kos-
teneinsparungen für die Betroffenen mit sich, es stärkt
auch die Stellung Europas im globalen Wettstreit um die
attraktivsten Innovationsbedingungen . Wir beenden die
Fragmentierung der europäischen Patentrechtsdurchset-
zung und verringern damit bisher bestehende Rechtsun-
sicherheit . Das wird in Zukunft dazu führen, dass die EU
als Innovationsstandort gegenüber den USA und asiati-
schen Ländern attraktiver wird . Ich bitte daher um Ihre
Zustimmung .
Klaus Ernst (DIE LINKE): Wir behandeln heute zwei
Gesetzentwürfe der Bundesregierung in erster Lesung .
Der erste dient dazu, die Voraussetzung zur Ratifizie-
rung des Übereinkommens vom 19 . Februar 2013 über
ein Einheitliches Patentgericht zu schaffen, der zweite
der Anpassung patentrechtlicher Vorschriften an dieses
Übereinkommen sowie an mehrere EU-Verordnungen .
Die Bundesregierung erhofft sich, mit dieser Reform
die Rahmenbedingungen für die innovative Industrie im
europäischen Binnenmarkt durch einen besseren Schutz
von Erfindungen nachhaltig zu stärken. Die besondere
wirtschaftliche Bedeutung eines flächendeckenden ein-
heitlichen Patentschutzes in Europa liege in der Kosten-
günstigkeit und darin, dass er „in einem Verfahren vor
dem Einheitlichen Patentgericht mit Wirkung für alle
teilnehmenden EU-Mitgliedstaaten durchgesetzt werden
kann“ . Insbesondere die deutsche Industrie, auf die rund
40 Prozent der an Anmelder aus Europa erteilten euro-
päischen Patente entfallen, soll von dem verbesserten
Schutz ihrer Erfindungen profitieren.
Wie es auf der Seite des Bundesministeriums der Jus-
tiz und für Verbraucherschutz heißt, bringt die europäi-
sche Patentreform „mehr als fünf Jahrzehnte währende
Bemühungen erfolgreich zum Abschluss“ . Angesichts
dieser beachtlichen Zeitspanne davon zu sprechen, dass
„die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten damit
ihre Handlungsfähigkeit bei der Schaffung gemeinsamer
verbesserter Rahmenbedingungen für ein innovatives
Europa eindrucksvoll unter Beweis“ stellen, wie es Bun-
desjustizminister Heiko Maas in einer Pressemitteilung
tut, ist etwas fehl am Platz . Wermutstropfen bleibt auch,
dass diese Einigung nur über den Umweg einer „ver-
stärkten Zusammenarbeit“ gelang, das heißt unter Aus-
schluss Italiens und Spaniens als Gegner des EU-Patents
in Zusammenhang mit der Sprachenregelung des Euro-
päischen Patentübereinkommens, nach der die Amtsspra-
chen des Europäischen Patentamts Englisch, Französisch
und Deutsch sind . – Aber das nur nebenbei bemerkt .
Um was geht es?
Das Einheitliche Patentgericht soll bei Streitigkeiten
über Patente, die vom Europäischen Patentamt erteilt
wurden, mit europaweiter Wirkung entscheiden . Die ers-
te Instanz soll ihren Sitz in Paris nehmen, mit Außenstel-
len in London und München . Die Berufungsinstanz soll
in Luxemburg angesiedelt werden . Von dieser Zentrali-
sierung erhofft man sich Konsistenz und Kostenersparnis
für die streitenden Parteien . Bisher muss bei Nichtig-
keitsklagen und Verletzung vor den jeweiligen nationa-
len Gerichten geklagt werden, die Wirkung der gerichtli-
chen Entscheidung bleibt auf das jeweilige Staatsgebiet
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617758
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beschränkt . Insofern ist die vorgesehene Errichtung eines
Einheitlichen Patentgerichts zu begrüßen .
Große Frage bleibt die Kostentragfähigkeit für kleine
und mittlere Unternehmen – war es doch eines der Kern-
anliegen der politischen Bemühungen um die Schaffung
eines Einheitspatents und eines Einheitlichen Patentge-
richts, kleinen und mittleren Unternehmen die Anmel-
dung und Durchsetzung von Patenten zu erleichtern . –
Dazu später .
Neben der europäischen Patentgerichtsbarkeit soll ein
„Einheitliches Europäisches Patent“, auch EU-Patent ge-
nannt, eingeführt werden . Bisher gab es zwei Arten von
Schutzrechten: nationale Patente und europäische (Bün-
del-)Patente . Bei europäischen Patenten erfolgen die An-
meldung und das Verfahren zur Erteilung zentral beim
Europäischen Patentamt . Doch nach der Erteilung hat es
dieselbe Wirkung wie ein nationales Patent in jenen Staa-
ten, die in der Anmeldung benannt wurden und für wel-
che die jeweiligen nationalen Phasen durch Zahlung der
entsprechenden Gebühren und Übersetzung der Patent-
schrift in die jeweilige Amtssprache eingeleitet wurden .
Bei Rechtsstreitigkeiten sind die jeweiligen nationalen
Gerichte zuständig .
Das ändert sich mit dem EU-Einheitspatent: Es soll in
der gesamten Europäischen Union bzw . durch den Spe-
zialfall der Verstärkten Zusammenarbeit in 25 EU-Mit-
gliedstaaten einheitliche Gültigkeit haben . Die Überset-
zungsanforderungen sind geringer . Davon verspricht man
sich Vereinfachung und erhebliche Kosteneinsparungen .
In einer Pressemitteilung des Europäischen Parla-
ments vom 11 . Dezember 2012 heißt es: „Nach über
30 Jahre währenden Bemühungen werden die Kosten für
ein EU-Patent um bis zu 80 Prozent sinken, was auch
die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den USA oder Ja-
pan stärkt . Das Parlament hat die Kosten besonders für
KMU gesenkt und die neuen Vorschriften deren Bedürf-
nissen angepasst .“ Damals allerdings fehlten jegliche
konkreten Kostenregelungen . Es gibt Stimmen, die die
Kosten ersparnis für kleine und mittlere Unternehmen
stark in Zweifel ziehen . Eine Untersuchung des briti-
schen Patent amts prognostizierte bereits 2014, dass die
Kosten des neuen Systems wahrscheinlich die KMU am
stärksten treffen werden . Auch die EU-Kommission sah
in einem Arbeitspapier die Notwendigkeit einer Prozess-
kostenversicherung für KMU . Eine solche gibt es jedoch
nicht .
Wie kommt es zu den unterschiedlichen Einschätzun-
gen?
Offenbar beruhten die positiven Prognosen für KMU
auf recht unrealistischen Vergleichsberechnungen zwi-
schen EU-Patent und Bündelpatent: So ist es etwa nicht
üblich, Patente in sämtlichen EU-Länder anzumelden,
sondern nur in den jeweils relevanten – in der Berech-
nung ging man dennoch davon aus . Außerdem werden
nicht mal 10 Prozent aller Patentverletzungsstreitigkeiten
in mehr als einem Mitgliedstaat ausgetragen . Während
sich die Gerichtskosten im Rahmen bewegen, sind die
Vertretungskosten sehr hoch und aufgrund von Ausnah-
me- und Ermessensregelungen unkalkulierbar und gehen
damit mit einem hohen Risiko einher .
Wirksame Maßnahmen zur Förderung von KMU wä-
ren auf der Erteilungsseite eine Rabattierung der Amtsge-
bühren und auf der Durchsetzungsseite die Ausweitung
der Prozesskostenhilfe auf juristische Personen und die
Schaffung einer geeigneten Prozesskostenversicherung .
Doch davon ist bisher nichts im europäischen Patent-
paket zu finden. „Profiteure des ‚Einheitspatent-Pakets‘
sind diejenigen, die einen geografisch möglichst breiten
Patentschutz benötigen und über die erforderliche Fi-
nanzausstattung verfügen, um die hierfür und für die ge-
richtliche Durchsetzung ausgerufenen Kosten zu tragen .
Das ausdrückliche Kernziel des Gesetzgebers aber war
die Förderung von KMU .“ Das schlussfolgert deshalb
der Autor des Buches „Die parlamentarische Historie des
‚europäischen Einheitspatents‘ .“
Es sollte sich daher von selbst verstehen, vor einer
endgültigen Verabschiedung der beiden Gesetze sicher-
zustellen, dass auch KMU von der Reform profitieren
können .
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es
ist Donnerstag, der 23 . Juni 2016 . Während hier im Deut-
schen Bundestag über ein Einheitliches Europäisches
Patentgericht beraten wird, wird im Vereinigten König-
reich über den Brexit abgestimmt . Die F.A.Z. schrieb
am 21 . Juni: „Kommt der Brexit, steht das gesamte neue
europäische Patentsystem wieder auf der Kippe – noch
bevor es überhaupt gestartet ist .“ Damit wird anschaulich
deutlich, welch massive Auswirkungen die Entscheidung
der Britinnen und Briten bis in Detailregelungen hinein
haben kann .
Umgekehrt wird deutlich: Das neue europäische Pa-
tentsystem ist keine europäische Fußnote . Jahrzehnte-
lang verhandelten die Mitgliedstaaten der EU über die
Schaffung eines einheitlichen Patents und eines einheitli-
chen europäischen Patentgerichts . Im Jahr 2012 erfolgte
der Durchbruch: Bald bringt das geplante europäische
Einheitspatent Erfindern echten supranationalen Schutz.
Derzeit entscheiden nationale Gerichte und andere
Behörden über die Verletzung und die Rechtsgültigkeit
europäischer Patente . In der Praxis führt dies zu einer
Reihe von Problemen, wenn ein Patentinhaber in mehre-
ren Ländern ein europäisches Patent durchsetzen möchte
oder ein Dritter in mehreren Ländern den Widerruf ei-
nes europäischen Patents erwirken will: Hohe Kosten,
die Gefahr voneinander abweichender Entscheidungen
und mangelnde Rechtssicherheit sind die Folgen . „Fo-
rum-Shopping“ ist ebenfalls unvermeidlich, denn Betei-
ligte versuchen, die Unterschiede in der Auslegung des
harmonisierten europäischen Patentrechts durch nationa-
le Gerichte und im jeweiligen Verfahrensrecht sowie in
der Geschwindigkeit der Verfahren und der Zuerkennung
von Schadenersatzzahlungen auszunutzen .
Das Übereinkommen über ein Einheitliches Patent-
gericht löst die vorgenannten Probleme durch die Ein-
richtung eines eigenständigen Patentgerichts mit der
ausschließlichen gerichtlichen Zuständigkeit für Strei-
tigkeiten in Bezug auf europäische Patente . Die Quali-
tät der Rechtsprechung des Einheitlichen Patentgerichts
wird eng verknüpft sein mit seiner Besetzung durch
https://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ische_Union
https://de.wikipedia.org/wiki/Verst%C3%A4rkte_Zusammenarbeit
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17759
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fachkundige Richterinnen und Richter . Denn letztlich
werden das neue EU-Patentsystem und seine Akzeptanz
von der Qualität und Verlässlichkeit der Rechtsprechung
des Einheitlichen Patentgerichts abhängen . Danach wird
sich zeigen, wie schnell sich das neue System etabliert .
Wegen der Mitwirkung von Richterinnen und Richtern
aus unterschiedlichen europäischen Jurisdiktionen wird
es einige Zeit dauern, bis sich eine gefestigte und einheit-
liche Rechtsprechung herausbildet .
Denn die wesentliche Frage ist, wie sich das neue Pa-
tentsystem und sein Gericht inhaltlich bewähren . Gerade
in Technologieländern wie Deutschland gelten Patente in
vielen Branchen als „Marker“ für die Innovationskraft
von Branchen oder sogar von Staaten . Speziell in deut-
schen Kernsektoren wie dem Fahrzeug- oder Maschinen-
bau werden jährlich Tausende von Patenten angemeldet
und erteilt, um damit geistiges Eigentum zu schützen .
Der Deutsche Bundestag hatte die Bundesregierung
zu Recht in der vergangenen Wahlperiode in einem An-
trag – 17/8344 – dazu aufgefordert, keine Patente auf
konventionelle Züchtungsverfahren für landwirtschaftli-
che Nutztiere und Nutzpflanzen zuzulassen. Denn es ist
ein Unterschied, ob ich ein Patent auf ein Radio anmelde
oder auf Radieschen . Die Große Beschwerdekammer des
Europäischen Patentamts hat im Brokkoliurteil biologi-
sche Verfahren wie Kreuzung und Selektion von einer
Patentierung ausgenommen . Konventionelle Züchtungs-
verfahren werden damit in Deutschland und in Europa
auch in Zukunft unpatentierbar bleiben .
Es gibt aber bei den Biopatenten auch noch offene
Baustellen . Das gilt gerade auch für die Patentierung der
Produkte aus konventionellen Züchtungsverfahren . Die
Vielfalt der Nutzpflanzen und Nutztiere ist das Produkt
der Arbeit vieler vorhergehender Generationen . Unseren
Landwirtinnen und Landwirten, den Züchterinnen und
Züchtern muss diese Vielfalt auch weiterhin in vollem
Umfang zur Verfügung stehen . Deshalb spreche ich mich
ganz klar gegen die Patentierung der Produkte aus klas-
sischen Züchtungsverfahren aus . Der Zugang zu den ge-
netischen Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft
muss weiterhin für alle offen stehen .
Im Bereich der Biopatente liegt seit Februar 2012 ein
klarer Auftrag des Bundestages an die Bundesregierung
vor: Um die wiederholte Erteilung umstrittener Biopa-
tente zu stoppen, soll die Bundesregierung die dafür
verantwortlichen Grauzonen im nationalen und europä-
ischen Biopatentrecht bereinigen . Wir dürfen in diesem
Parlament stolz auf diesen einstimmigen Beschluss sein .
Deswegen habe ich nun im Statut für das Einheitliche
Patentgericht und in den geänderten patentrechtlichen
Vorschriften nachgeschaut, ob die Chance genutzt wurde,
diesen Beschluss des Bundestages umzusetzen. Ich finde
ihn darin jedoch nicht wieder . Ja; das im deutschen Recht
bekannte Pflanzenzüchterprivileg, wonach die Nutzung
biologischen Materials zum Zwecke der Züchtung, Ent-
deckung und Entwicklung einer neuen Pflanzensorte
erlaubt ist, ist auf deutsche Anregung hin im Überein-
kommen verankert worden (Artikel 27 Buchstabe c des
Übereinkommens) . Aber das ist auch schon alles .
Es ist beschämend, dass die Bundesregierung mit ih-
rem Gesetzentwurf dem gemeinsamen Beschluss von
2012 nicht nachkommt . Grade der Ausschluss von Paten-
ten auf die Produkte ist jetzt nicht aufgenommen, ebenso
fehlt eine Ergänzung zu technisch ergänzten Züchtungs-
verfahren .
Für uns Grüne steht fest: Pflanzen und Tiere sind kein
„geistiges Eigentum“, das irgendjemand für sich rekla-
mieren darf . Und eine Tomate, die aus einem nicht-pa-
tentierbaren Züchtungsverfahren hervorgeht, darf ebenso
wenig patentierbar sein wie ein Ketchup, das ohne wei-
tere „Erfindungsleistung“ aus dieser Tomate gewonnen
wird .
Wir haben schon viel zu viel an biologischer Vielfalt
verloren, da dürfen wir die sowieso schon rasante Mo-
nopolisierung im Saatgut- und Lebensmittelbereich nicht
auch noch durch Biopatente verstärken .
Christian Lange, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister der Justiz und für Verbraucherschutz: Mit
den beiden vorliegenden Gesetzentwürfen sendet die
Bundesregierung ein positives Signal nach Europa: Wir
möchten die europäische Patentreform, auf die wir uns
nach jahrzehntelangen Verhandlungen erfolgreich geei-
nigt haben, endlich in die Tat umsetzen: Mit dem Über-
einkommen über ein Einheitliches Patentgericht vom
19 . Februar 2013 soll ein für alle teilnehmenden EU-Mit-
gliedstaaten zuständiges Gericht geschaffen werden, das
über erstinstanzliche Kammern in den Mitgliedstaaten
und ein Berufungsgericht in Luxemburg verfügt . Das
Gericht soll über bestehende europäische Patente so-
wie das neue EU-Einheitspatent urteilen, das im Wege
zweier EU-Verordnungen im Dezember 2012 geschaffen
worden ist . In Deutschland als bedeutendem Patentland
sind vier Lokalkammern – Düsseldorf, Hamburg, Mann-
heim, München – und eine Zentralkammerabteilung –
München – vorgesehen . Das vorliegende Vertragsgesetz
schafft die Voraussetzungen für die Ratifikation des
Übereinkommens .
Mit dieser Reform sollen die Rahmenbedingungen für
die innovative Industrie im europäischen Binnenmarkt
durch einen besseren Schutz von Erfindungen nachhaltig
gestärkt werden . Das ist von besonderer wirtschaftlicher
Bedeutung. Künftig wird es in Europa einen flächende-
ckenden einheitlichen Patentschutz geben . Er wird kos-
tengünstig zu erlangen sein. Und er wird auch effizient
in einem Verfahren vor dem Einheitlichen Patentgericht,
dem ersten grenzüberschreitend zuständigen Zivilgericht
Europas, mit Wirkung für alle teilnehmenden EU-Mit-
gliedstaaten durchgesetzt werden können . Die deutsche
Industrie wird von dem verbesserten Schutz ihrer Erfin-
dungen besonders profitieren. Rund 40 Prozent der vom
Europäischen Patentamt an europäische Anmelder erteil-
ten europäischen Patente entfallen auf die deutsche In-
dustrie .
An den Arbeiten zur Schaffung eines Einheitlichen
Patentgerichts hat sich die Bundesregierung von Anfang
an mit großem Engagement beteiligt . Wir haben dabei
insbesondere auch die Interessen der kleinen und mitt-
leren Unternehmen im Blick . Gerade auch den kleinen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617760
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und mittleren Unternehmen kommt es zugute, dass in
einem europäischen Verfahren Rechtssicherheit für den
gemeinsamen Markt geschaffen werden kann . Besonders
wichtig ist: Wir konnten uns mit unserer Forderung nach
einer attraktiven Höhe der Verlängerungsgebühren für
das künftige EU-Einheitspatent durchsetzen, das kommt
diesen Unternehmen zugute .
Das Begleitgesetz soll im deutschen Recht die Vo-
raussetzungen für die Umsetzung der europäischen Pa-
tentreform schaffen . Es enthält überwiegend technische
Anpassungen, die erforderlich sind, um das EU-Einheits-
patent und das Europäische Patentgericht mit der nati-
onalen Rechtsordnung zu verzahnen . Lassen Sie mich
aber ein Element hervorheben: Wir wollen in Deutsch-
land künftig neben einem europäischen Patentschutz für
dieselbe Erfindung auch den Schutz durch ein nationales
Patent zulassen, was bislang nicht möglich ist . Damit ein
Beklagter wegen derselben Patentverletzung aber nicht
mehrfach verklagt werden kann, soll diesem im nationa-
len Verfahren eine Einrede zustehen, wenn er bereits vor
dem Europäischen Patentgericht in Anspruch genommen
wird. Mit dieser Neuerung wollen wir unseren Erfindern
Optionen für den Schutz ihrer Innovationen bieten . Er-
finder können sich dann für den für sie im Einzelfall am
besten geeigneten Schutz entscheiden .
Für die Bundesregierung ist die europäische Patentre-
form ein bedeutsames Projekt . Wir beteiligen uns weiter
mit großem Engagement an den bereits sehr weit ge-
diehenen Arbeiten in den vorbereitenden Gremien . An-
gestrebt wird, dass das Einheitliche Patentgericht nach
einer noch für 2016 vorgesehenen Phase der vorläufigen
Anwendung des Übereinkommens, in der die Arbeitsfä-
higkeit des Gerichts endgültig hergestellt wird, dann im
Frühjahr 2017 den Echtbetrieb aufnimmt .
Sehr geehrter Herr Präsident, werte Kolleginnen und
Kollegen, ich bitte um Ihre Unterstützung dieses Vor-
habens . Es liegt in unserem Interesse, beide Gesetzge-
bungsverfahren möglichst zügig durchzuführen .
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge
setzes zur Änderung berg, umweltschadens und
wasserrechtlicher Vorschriften zur Umsetzung
der Richtlinie 2013/30/EU über die Sicherheit von
OffshoreErdöl und Erdgasaktivitäten (Tages
ordnungspunkt 23)
Dr. Herlind Gundelach (CDU/CSU): 19 Millionen
Barrel ausgelaufenes Öl, 2000 Kilometer verschmutzte
Küste, elf Menschenleben – der Untergang der Ölplatt-
form „Deepwater Horizon“ brachte Opfer und katastro-
phale Folgen mit sich, Folgen in einem Ausmaß, welches
es in dieser Art bisher nur selten gab .
Die Havarie sollte zu einem Wendepunkt in der Um-
weltgeschichte werden . Die internationale Politik hat
sich der Katastrophe angenommen, sie hat darauf re-
agiert . Glücklicherweise blieben europäische Gewässer
zwar von auch nur annähernd verheerenden Katastro-
phen bisher verschont, das war aber kein Grund für die
Europäische Gemeinschaft, ihre Augen zu verschließen .
Eine solche Katastrophe darf es – egal wo – nicht noch
einmal geben .
Daher ist uns sehr daran gelegen, die im Zusammen-
hang mit „Deepwater Horizon“ überarbeiteten europä-
ischen Richtlinien national bestmöglich umzusetzen .
Seit Jahrzehnten gehören wir zu den Vorkämpfern einer
fortschrittlichen und nachhaltigen Umweltpolitik . Im Be-
reich der Erdöl- und Erdgasförderung haben wir daher
bereits sehr strenge Auflagen, die sich in vielen Teilen
schon mit den europäischen Richtlinien decken .
Zwar nutzen wir in unseren flachen deutschen Ge-
wässern lediglich die als risikoarm eingeschätzte
Flachwassertechnik . Außerdem beherbergen unsere
Hoheitsgebiete nur zwei der insgesamt 600 Erdöl- und
Erdgasplattformen in europäischen Gewässern . Für den
Erlass der EU-Offshore-Richtlinie nach dem Unfall im
Golf von Mexiko haben wir uns trotzdem intensiv ein-
gesetzt. Die Definition einheitlicher Standards für Off-
shore-Erdöl- und -Erdgasaktivitäten muss ein internatio-
nales Interesse sein .
Die Europäische Union nahm die Katastrophe in Me-
xiko zum Anlass, einheitliche Standards für die Erdöl-
und Erdgasförderung auf EU-Ebene festzusetzen . Die
Richtlinie 2004/35/EG wurde geändert . Gleichwohl wur-
de mit der RL 2013/30/EU des Europäischen Parlaments
und des Rates vom 12 . Juni 2013 eine neue Richtlinie
über die Sicherheit von Offshore-Erdöl- und -Erdgasak-
tivitäten beschlossen . Ihr zum Dank können Unfälle im
Zusammenhang mit Offshore-Erdöl- und -Erdgasaktivi-
täten in Zukunft verhindert werden . Der Umweltschutz
kann erhöht und die Notfallmechanismen im Falle eines
Unfalls können verbessert werden .
Die nationale Umsetzung dieser europäischen Richt-
linie über die Sicherheit von Offshore-Erdöl- und
-Erdgasaktivitäten in Deutschland wird in einer neuen
Offshore-Bergverordnung umgesetzt . Risikomanage-
ment, Sicherheits- und Umwelterwägungen in Bezug
auf die Genehmigungsverfahren sowie die Aufgaben der
zuständigen Behörden und das Berichtswesen sind die
Hauptpunkte des Regelwerks . Bisherige Bestimmungen
zu Offshore-Erdöl- und -Erdgasaktivitäten, welche in der
Festlandsockel-Bergverordnung und im Anhang 3 der
Allgemeinen Bundesbergverordnung festgelegt waren,
werden in der Novelle zusammengenommen .
Die Bereiche Risikomanagement, Arbeits- und Ge-
sundheits- sowie Umweltschutz werden so in einer
Verordnung gebündelt . Dies ist sowohl hilfreich in der
betrieblichen Praxis als auch in der Rechtsanwendung .
Gleichzeitig wird das Risiko für schwere Unfälle mini-
miert, da auf diesem Weg alle Aspekte gemeinsam be-
trachtet werden .
Die europäische Richtlinie sieht vor, dass Unterneh-
men eine Vorsorge zur Deckung von Haftungsverbind-
lichkeiten zu treffen und die technische und finanzielle
Leistungsfähigkeit nachzuweisen haben .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17761
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Im Rahmen der Arbeiten an unserer nationalen Off-
shore-Verordnung hat sich ergeben, dass es für die Um-
setzung einer Vorgabe dieser europäischen Richtlinie an
einer eindeutigen Ermächtigungsgrundlage im Bundes-
berggesetz fehlt .
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf schaffen wir
nun in § 66 des Bundesberggesetzes mit einer Ergänzung
diese Ermächtigungsgrundlage .
Aufgrund der Rechtssystematik erfolgen außerdem
Anpassungen im Wasserhaushaltsgesetz, im Umwelt-
schadensgesetz sowie in der Verordnung über die Um-
weltverträglichkeitsprüfung bergbaulicher Vorhaben .
Die europäische Richtlinie über die Sicherheit von
Offshore-Erdöl- und -Erdgasaktivitäten erhöht den
Schutz der Meeresumwelt und verbessert entscheidend
die Notfallmechanismen im Falle eines Unfalls oder ei-
ner Havarie . Unser heute zu beratender Gesetzentwurf
schafft Rechtssicherheit bei der nationalen Umsetzung .
Ich hoffe dabei auf ihre Unterstützung .
Johann Saathoff (SPD): Am 20 . April ereignete sich
im Golf von Mexiko ein schrecklicher Unfall . Bei der
Explosion der Bohrinsel „Deepwater Horizon“ kamen
insgesamt elf Menschen zu Tode, und es kam zu einer der
schwersten Umweltkatastrophen der Vereinigten Staaten .
Infolge der Explosion traten Tonnen an Erdöl ungehin-
dert ins Meer .
Die Explosion der „Deepwater Horizon“ war aber
nicht nur für die Umwelt im Golf von Mexiko eine Ka-
tastrophe unvorstellbaren Ausmaßes . Die Folgen waren
sogar noch weit verheerender . Ein Großteil der Bevöl-
kerung in der Region lebt von der Fischerei . Der Fische-
reibetrieb musste im Sommer 2010 aber in weiten Teilen
eingestellt werden . Die Umweltkatastrophe hatte damit
auch eine schwere wirtschaftliche und soziale Krise zur
Folge .
Mit diesem Gesetz wollen wir nun dazu beitragen,
dass sich genau solche schrecklichen Ereignisse nicht
wiederholen . Konkret geht es heute um die Schaffung
eindeutiger und europaweit einheitlicher Sicherheitsstan-
dards im Bereich der Offshore-Erdöl- und -Erdgasakti-
vitäten . Damit wollen wir einen Teil einer Richtlinie des
Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates
vom 12 . Juni 2013 umsetzen .
Die Schaffung einheitlicher Standards und Rahmen-
bedingungen auf europäischer Ebene ist der folgerichti-
ge Schritt nach der Explosion der „Deepwater Horizon“ .
Sie ist auch sinnvoll vor dem Hintergrund, dass mehr als
90 Prozent des in Europa geförderten Erdöls und mehr
als 60 Prozent des geförderten Erdgases aus der Off-
shore-Produktion kommen . Das sind beachtliche Zahlen,
insbesondere im Zusammenhang mit der Tatsache, dass
im Jahre 2015 noch immer mehr als 50 Prozent des Pri-
märenergieverbrauchs durch Erdöl und Erdgas gedeckt
wurden . Die Offshore-Förderung von Erdöl und Erdgas
spielt eine wichtige Rolle im Zusammenhang der Ener-
gieversorgungssicherheit .
In Deutschland selbst gibt es derzeit zwei Off-
shore-Anlagen . Die Bohr- und Förderinsel Mittelplate
und die Gasförderplattform A6-A . Das heißt, auch für
unsere Küstenregionen besteht ein gewisses, wenn auch
eher ein marginales Risiko einer vergleichbaren Umwelt-
katastrophe .
Es soll an dieser Stelle nun nicht darum gehen, grund-
sätzliche Kritik an der Offshore-Förderung von Erdöl
und Erdgas zu üben . Unfälle wie im Golf von Mexiko
sind glücklicherweise die sehr seltene Ausnahme . Die
Frage der Sicherheit der Meeresumwelt und der Küs-
tenregionen ist meiner Ansicht nach aber immer mit be-
sonderer Sorgfalt zu behandeln . Man „mutt d’n Alltied
n’Oog an hemm“ würde man in Ostfriesland sagen, stets
wachsam bleiben .
Gerade im Bereich der Offshore-Erdöl- und -Erdgas-
aktivitäten besteht ein Interesse daran, besonders hohe
Sicherheitsstandards zu setzen . Die Verabschiedung die-
ses Gesetzes soll dazu beitragen, dass der Schutz und die
Erhaltung der Umwelt auch weiter gewährleistet werden
kann und dass ein vernünftiger Umgang mit den natürli-
chen Ressourcen sichergestellt ist .
Denn stellen Sie sich einmal die Auswirkungen einer
mit der Explosion im Golf von Mexiko vergleichbaren
Katastrophe an der deutschen Küste vor . Ich komme aus
Ostfriesland, einer Region, die insbesondere auch für das
Wattenmeer bekannt ist . Der Nationalpark Niedersächsi-
sches Wattenmeer gehört seit dem 26 . Juni 2009 mit zum
UNESCO-Welterbe .
Damit profitieren ostfriesische Gemeinden unglaub-
lich stark vom Tourismus . Die Bedeutung des Tourismus
und die enorme touristische Wertschöpfung in den Küs-
tenregionen lassen sich exemplarisch anhand von weni-
gen Zahlen verdeutlichen .
Insbesondere für die ostfriesischen Inseln ist der
Anteil des Tourismus an der Wertschöpfung natürlich
enorm . Allein die Insel Norderney verzeichnete im
Jahr 2014 über 500 000 Besucher . Es wurden damit mehr
als 3,4 Millionen Übernachtungen generiert .
Doch auch das Festland gehört zu den Profiteuren des
Tourismus . Auch in der Gemeinde Krummhörn ist die
Wertschöpfung durch die Tourismusbranche beachtlich .
Aktuelle Zahlen kommen zu dem Schluss, dass sich für
die Krummhörn eine touristische Wertschöpfung von
insgesamt 56,4 Millionen Euro ergibt .
Die langfristigen Folgen einer vergleichbaren Ölkata-
strophe wären also auch hier fatal . Einerseits die Folgen
für den Umweltschutz und andererseits die wirtschaftli-
chen und sozialen Folgen für unsere Küstenregionen .
Es ist demnach aus vielerlei Hinsicht zu begrüßen,
dass mit dem Gesetz nun einheitliche europäische Rah-
menbedingungen und höchste Umwelt- und Sicherheits-
standards sichergestellt werden .
Hubertus Zdebel (DIE LINKE): Heute diskutieren
wir erneut über die Umsetzung der Richtlinie 2013/30/
EU vom 12 . Juni 2013 über die Sicherheit von Off shore-
Erdöl- und -Erdgasaktivitäten . Ziel der Richtlinie ist, „die
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617762
(A) (C)
(B) (D)
Häufigkeit von schweren Unfällen im Zusammenhang
mit Offshore-Erdöl- und -Erdgasaktivitäten so weit wie
möglich zu verringern und ihre Folgen zu begrenzen …“ .
Die Umsetzung der Richtlinie erfolgt dabei nicht nur
über gesetzliche Vorschriften, sondern auch über eine
Verordnung . Am 25 . Mai dieses Jahres hat die Bundes-
regierung die Änderungsverordnung zu bergrechtlichen
Vorschriften beschlossen . Sie liegt jetzt dem Bundesrat
zur Beschlussfassung vor . Über die gesetzlichen Ände-
rungen kann nicht gesprochen werden, ohne sich mit der
Änderungsverordnung auseinanderzusetzen .
Ich hätte erwartet, dass wir eine intensive Debatte da-
rüber führen, wie wir einen hohen Standard der Anlagen-
sicherheit für Offshore-Aktivitäten erreichen . Stattdes-
sen haben sich SPD und CDU/CSU in der ersten Lesung
lediglich selbst gelobt und nichts zu einer Fachdebatte
beigetragen . Die Kollegin von den Grünen hat es vor-
gezogen, auf das Thema „internationaler Meeresschutz“
auszuweichen .
Dies hätten Sie in der Sitzung des Wirtschaftsaus-
schusses am letzten Mittwoch korrigieren können . Doch
stattdessen gab es von Ihnen keine einzige Wortmeldung
zu diesem Thema . Diese Sprachlosigkeit wird der großen
Bedeutung des Themas Störfallvorsorge nicht gerecht .
Demonstratives Desinteresse am Thema Offshore-
Öl- und -Gasförderung haben wir Ende letzten Jahres
schon bei der Bundesregierung festgestellt . So hatte die
Firma Maersk Oil beantragt, in der dänischen Nordsee
im Grenzgebiet zum deutschen Entenschnabel mit neu-
en Bohrungen Öl und Gas zu fördern . Im Rahmen des
GORM-Projekts will die Firma dabei die umweltzer-
störende Fördermethode Fracking anwenden . Während
Fracking bereits an Land unverantwortbar ist, wären
die Folgen eines Offshore-Frackings noch weniger be-
herrschbar . Die notwendigen Aktivitäten der Bundesre-
gierung, um dieses Projekt zu verhindern, hat es jedoch
nie gegeben .
Bereits am 9 . Juni habe ich darauf hingewiesen:
Offshore-Fracking kombiniert die Gefahren des Fra-
ckings an Land mit den klassischen Gefahren der Öl- und
Gasgewinnung im Meer . Durch die eingesetzten Frack-
flüssigkeiten, deren Zusammensetzungen nicht veröf-
fentlicht werden, kann es zu Wasserkontaminationen
kommen . Das Aufbrechen des Untergrundgesteins und
das Wiederverpressen des Flowbacks kann Erdbeben
hervorrufen . Und durch Leckagen kann in erheblichem
Maß das klimaschädliche Treibhausgas Methan entwei-
chen .
Während der Sondierungs-, Förder- und Außerbe-
triebnahmeaktivitäten kann es außerdem zu schweren
Unfällen kommen . Dazu gehören Öl- und Chemikalien-
freisetzungen im Falle einer Schiffskollision oder von
Pipelineleckagen . Größere Gasfreisetzungen können auf-
grund eines Blowouts erfolgen . Eine mögliche größere
Ölpest hätte erhebliche negative Auswirkungen auf das
empfindliche marine Ökosystem.
Angesichts dieser möglichen Folgen ist Offshore-Fra-
cking nicht verantwortbar . Fracking auf hoher See muss
auf jeden Fall verboten werden . Das sieht die Bundes-
regierung im vorliegenden Offshore-Regelungspaket je-
doch nicht vor .
Dies ist nicht der einzige Kritikpunkt . Die Linke for-
dert, Offshore-Aktivitäten unter den Geltungsbereich der
Störfall-Verordnung fallen zu lassen, um einen einheit-
lichen und hohen Sicherheitsstandard zu erreichen . Die
nun vorgesehenen Sicherheitsanforderungen sind jedoch
bedeutend geringer als im üblichen Recht der Anlagen-
sicherheit .
Die betrifft nicht nur die Einführung des undefinier-
ten Begriffs des „vertretbaren Risikos“, mit dem der in
Deutschland übliche auswirkungsorientierte Ansatz ver-
lassen wird . Die Öl- und Gaskonzerne können so selbst
bestimmen, was sie für vertretbar halten und welchen
Gefahren sie Mensch und Umwelt aussetzen .
Dies gilt auch für die in der Störfall-Verordnung klar
festgelegte Hierarchie, dass Störfälle zu verhindern sind,
und nur dann, wenn dies nicht möglich sein sollte, ihre
Auswirkungen so gering wie möglich zu halten . In § 3
der oben genannten Änderungsverordnung zu bergrecht-
lichen Vorschriften verwischt diese Hierarchie, die An-
forderungen werden auf eine Ebene gestellt .
Zudem kritisieren wir, dass Leitfäden zu bewährten
Verfahren für die Beherrschung ernster Gefahren bei Ak-
tivitäten für die gesamte Auslegungs- und Betriebspha-
se der Offshore-Erdöl- und -Erdgasaktivitäten nicht von
unabhängigen Stellen erstellt werden sollen . Stattdessen
formuliert der jeweilige Unternehmer oder sein Unter-
nehmensverband diese selbst . Damit wird dem Miss-
brauch Tür und Tor geöffnet .
Aus diesen Gründen fordert die Linke, dieses Paket
zurückzuziehen und grundlegend zu überarbeiten .
Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir reden heute wieder über die Sicherheit an Öl- und
Gas-Förderplattformen in den Meeren . Dazu muss die
Bundesregierung eine europäische Regelung in nationa-
les Recht umsetzen . Mit der Umsetzung hat sie sich mal
wieder sehr viel Zeit gelassen . Sie wartet ja immer so
lange, bis sie sich die europäische Watschen mit einem
Vertragsverletzungsverfahren abholt . Darum muss das
Gesetz nun kurz vor der Sommerpause im Hauruckver-
fahren durch das Parlament geprügelt werden .
Liebe Kollegen von der Linken, Ihre Verbindung zu
Fracking, die Sie in der letzten Debatte eingebracht ha-
ben, ist doch wirklich sehr konstruiert . In Deutschland
gibt es nach meinem Wissensstand nur zwei Öl- und Gas-
förderanlagen im Meer . Das sind die Ölbohrinsel Mittel-
plate vor Dithmarschen und die Gasbohrinsel A6/B4 in
der Außenwirtschaftszone . Weitere Förderanlagen sind
nicht absehbar, geschweige denn Offshore-Fracking-An-
lagen zur Förderung von Erdöl oder Erdgas . Auch in den
Nachbarstaaten sind solche Vorhaben nicht geplant . Ihr
Einwurf ist also unqualifiziert.
Richtig aber ist: Fracking ist die denkbar schlechteste
Fördermethode und mit großem Risiko verbunden . Aber
das Thema hat mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
nichts zu tun . Das behandeln wir erst am Freitagmorgen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17763
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Wir sollten uns vielmehr Gedanken darüber machen,
wie wir unsere Meere auch in Zukunft sauber halten, lie-
be Kollegen von der Linksfraktion . Sehr viel wichtiger
sind in diesem Zusammenhang internationale Standards
zu Rohstoffförderungen in arktischen Regionen oder in
der extremen Tiefsee . So was ist Realität, zum Beispiel
vor Brasilien oder vor Westafrika . Gerade die Schlampe-
rei von BP bei „Deepwater Horizon“ im Jahre 2010 hat
gezeigt, dass diese Risiken real sind und nicht nur graue
Theorie . Aber das scheint Sie von der Linkspartei nicht
zu interessieren .
Wir sollten also darauf bedacht sein, dass in Europa
die Standards für Rohstoffförderungen hoch sind . Damit
setzen wir auch Maßstäbe für andere Regionen weltweit .
Es kann nicht sein, dass in arktischen Regionen Erdöl ge-
fördert wird, aber völlig unklar ist, wie die Rettung im
Fall einer Havarie aussieht .
Die Rettungseinrichtungen und Versorgungshäfen
sind in arktischen Regionen meist sehr weit weg . Mee-
resströmungen können das kalte zähe Erdöl in abgele-
gene Regionen bringen . Mit Eis verbunden wird eine
Entsorgung nahezu unmöglich . Solch ein Unfall muss
konsequent verhindert werden . Das ist die Zukunftsauf-
gabe in der Meeres- und Energiepolitik . Das sind wir un-
seren nachfolgenden Generationen schuldig .
Wir werden heute dem Gesetzentwurf zustimmen .
Die europäische Richtlinie zur Sicherheit von Erdöl- und
Erdgas-Förderplattformen muss endlich auch in Deutsch-
land umgesetzt werden . So erhöhen wir die Sicherheit an
solchen Anlagen .
Auf diesem Vorhaben darf sich die Bundesregierung
aber nicht ausruhen . Viele weitere Regelungen stehen
noch an, um den Meeresschutz regional in Deutschland,
aber auch auf europäischer und internationaler Ebene um-
zusetzen . Denn Meeresschutz ist jetzt mit dem SDG 14
ein internationales Nachhaltigkeitsziel . Da sollten wir in
der Umsetzung konsequent sein .
Meeresschutz wäre doch eine wunderbare Aufgabe für
den Maritimen Koordinator der Bundesregierung . Dann
hätte er richtig was zu tun .
Heute gehen wir nur einen kleinen, aber notwendi-
gen Schritt in Richtung Meeresschutz . Dafür hat sich die
Regierung sehr lange Zeit gelassen . Zeigen Sie endlich
mehr Engagement beim Schutz der Meere!
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur steuerlichen
Förderung von Elektromobilität im Straßenver
kehr (Tagesordnungspunkt 27)
Florian Oßner (CDU/CSU): Als CDU/CSU-Frak-
tion haben wir der Elektromobilität schon immer einen
besonders hohen Stellenwert zugemessen . Auch haben
wir stets die enorm hohe Bedeutung der Elektromobili-
tät sowohl für den Umwelt- und Klimaschutz als auch
für den Automobilstandort Deutschland und dessen Zu-
kunftsfähigkeit herausgestellt . Ich würde sogar so weit
gehen, die Förderung der Elektromobilität, inklusive der
Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie, als das
bedeutendste Verkehrsthema der absehbaren Zukunft zu
bezeichnen .
Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf sind wir
unserem Ziel, bis 2020 unseren CO2-Ausstoß gegenüber
1990 um mindestens 40 Prozent zu senken, einen großen
Schritt näher gekommen . Denn jeder Schritt, der Elektro-
mobilität für die Nutzer attraktiver macht, ist ein Schritt
für eine nachhaltigere automobile Zukunft .
Wir wollen, dass der Straßenverkehr seinen adäquaten
Beitrag zur Reduktion der CO2-Emissionen und somit
zur angestrebten Dekarbonisierung leistet . Hierfür ist
jedoch zwingend erforderlich, dass sich die Anzahl von
Elektrofahrzeugen im Straßenverkehr deutlich erhöht .
Besonders freut es uns natürlich, wenn es sich hierbei
vornehmlich um Fahrzeuge aus heimischer Produktion
und nicht solcher aus Übersee handelt .
Erstens . BMW-Werk Landshut als Beispiel/Aufgabe
der Politik:
In meinem Wahlkreis in Landshut hat die Firma
BMW ein Kompetenzzentrum für Leichtbau und Elekt-
romobilität errichtet . Rund 160 Ingenieure forschen hier
technologieübergreifend an innovativen Werkstoffen,
Mischbaukonzepten und Fertigungsverfahren . Daneben
werden im dazugehörigen Werk verschiedene Bauteile
für die Elektromotoren und CFK-Karosserieteile für die
Elektro- und Hybridfahrzeuge i3 und i8 gefertigt .
Schon frühzeitig hat man hier die enormen Chancen
erkannt, die das Zusammenwirken von Leichtbau und
Elektromobilität für Umweltschutz und Nachhaltigkeit
sowie für die Zukunft der Automobilindustrie und ihrer
Zulieferer in Deutschland bietet . Als weiteren wichtigen
Schritt in meiner Heimatregion sehe ich die Schaffung
einer Wasserstofftankstelle, an deren Umsetzung wir ge-
rade arbeiten .
Unsere primäre Aufgabe als Politik sollte es daher
sein, Sorge dafür zu tragen, dass derartige Innovationen
in Deutschland auch weiterhin möglich bleiben, denn nur
so werden wir im internationalen Markt weiter gegen die
Konkurrenz aus Japan, Südkorea und den USA bestehen
können .
Wir dürfen uns als Politik aber nicht nur darauf be-
schränken, die Rahmenbedingungen für eine innova-
tive Forschung und Fertigung im Automobilbereich zu
schaffen, sondern sollten diese auch aktiv unterstützen,
damit Deutschland weiterhin die „Poleposition“ als füh-
render Innovationstreiber im Automobilbau behaupten
kann . Arbeitsplätze sollen weiter bei BMW, Mercedes
und Volkswagen entstehen und nicht nur bei Tesla und
Toyota .
Deswegen appelliere ich an Sie, liebe Kollegen von
den Grünen und den Linken, lassen Sie endlich dieses
ständige Störfeuer gegen die Automobilbranche . Sie sä-
gen sich damit auch Ihren eigenen Ast ab, auf dem Sie
sitzen . Wir dürfen nicht mit der einen Hand das umrei-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617764
(A) (C)
(B) (D)
ßen, was wir mit der anderen in mühsamer Arbeit jahr-
zehntelang aufgebaut haben .
Zweitens . Maßnahmen im Gesetz:
Mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurf nehmen wir
einige Änderungen im Bereich der Kraftfahrzeugsteuer
und der Einkommensteuer vor, um die Elektromobilität
auf Deutschlands Straßen ein ganzes Stück voranzutrei-
ben:
Bei erstmaliger Zulassung reiner Elektrofahrzeuge
gilt seit dem 1 . Januar 2016 bis zum 31 . Dezember 2020
eine fünfjährige Kraftfahrzeugsteuerbefreiung . Diese
wird rückwirkend zum 1 . Januar 2016 nun auf zehn Jah-
re verlängert . Die zehnjährige Steuerbefreiung für reine
Elektrofahrzeuge wird zudem auf technisch angemesse-
ne, verkehrsrechtlich genehmigte Umrüstungen zu rei-
nen Elektrofahrzeugen ausgeweitet .
Im Einkommensteuergesetz werden vom Arbeitge-
ber gewährte Vorteile für das elektrische Aufladen ei-
nes privaten Elektro- oder Hybridelektrofahrzeugs des
Arbeitnehmers im Betrieb des Arbeitgebers und für die
zur privaten Nutzung zeitweise überlassene betriebliche
Ladevorrichtung steuerbefreit . Der Arbeitgeber erhält
die Möglichkeit, geldwerte Vorteile aus der unentgeltli-
chen oder verbilligten Übereignung der Ladevorrichtung
und Zuschüsse pauschal mit 25 Prozent Lohnsteuer zu
besteuern . Die Regelungen werden befristet für den Zeit-
raum vom 1 . Januar 2017 bis 31 . Dezember 2020 .
Diese steuerlichen Maßnahmen stellen ein eindeutiges
Bekenntnis zu einer klimagerechten Zukunftspolitik dar
und ergänzen das Maßnahmenbündel der Bundesregie-
rung zur Förderung der Elektromobilität im Straßenver-
kehr, das zeitlich begrenzte Anreize, weitere Mittel für
den Ausbau der Ladeinfrastruktur sowie zusätzliche An-
strengungen bei der öffentlichen Beschaffung von Elek-
tro- und Brennstoffzellenfahrzeugen beinhaltet .
Drittens . Schluss:
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zum bedeu-
tendsten Verkehrsthema der absehbaren Zukunft zeigt die
CDU/CSU-Fraktion wieder einmal, dass wir Antworten
auf die drängenden Fragen geben – und nicht nur me-
ckern und uns beklagen, wie die linken Parteien .
Aus den genannten Gründen bitte ich um Zustimmung
für den Antrag .
Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD): Die meis-
ten von Ihnen werden mir zustimmen: Die Elektromobi-
lität ist von besonderer klimapolitischer und verkehrspo-
litischer Relevanz .
In der Debatte wird hingegen oft übersehen: Es ist
eine industriepolitische Schicksalsfrage, ob Deutsch-
land sich als Industriestandort und Synonym für hoch-
qualitative Spitzenfahrzeuge behaupten kann . Das ist die
Entscheidungsfrage für die rund 800 000 Menschen, die
heute in der deutschen Automobilindustrie in Lohn und
Brot stehen . Ob diese Arbeitsplätze erhalten bleiben, das
hängt davon ab, ob die Industrie es schafft, sich auf die-
sem Leitmarkt der Zukunft zu positionieren .
Hersteller aus China und den USA befinden sich im
Bereich der massentauglichen E-Fahrzeuge wie auch im
Luxussegment schon lange auf der Überholspur . Damit
diese Überholmanöver sich nicht auf Dauer nachhaltig
negativ auf die deutsche Automobilindustrie auswirken,
müssen Politik und Wirtschaft jetzt gemeinsam Lösun-
gen entwickeln und sie mit Vollgas dann auch umsetzen .
Die Politik hat mit den hier vorgebrachten Initiativen ei-
nen wichtigen Beitrag dazu geleistet .
Das Laden beim Arbeitgeber wird einfacher, die
Kfz-Steuerbefreiung wird verlängert, es gibt eine Kauf-
prämie, die von der EU grünes Licht bekommen hat . Und
über die öffentliche Beschaffungspolitik werden mehr
Elektroautos auf die Straßen kommen . Zudem wird in
den Ausbau der Ladeinfrastruktur investiert, deren Stan-
dards klar definiert wurden.
Viele Kritiker missverstehen die Kaufförderung als
eine Art Bevorzugung reicherer Käuferschichten . Dem
kann man zuerst entgegenhalten, dass die Kaufprämie
zu gleichen Teilen von Staat und Herstellern getragen
wird . Und nicht zuletzt ist das Setzen von Kaufanreizen
zugleich eine industriepolitische Flankierung, um den
Markthochlauf zu stimulieren . Denn ohne Absatz kein
Leitmarkt . Die Erfahrungen anderer Länder zeigen, dass
eine Kaufförderung die Marktdurchdringung von Elekt-
roautos beschleunigt .
Die SPD-Bundestagsfraktion hat weitergehende Maß-
nahmen gefordert, so zum Beispiel eine bessere degressi-
ve Abschreibung für gewerbliche Nutzer . Und das bereits
vor zwei Jahren .
Ich möchte hier niemandem den schwarzen Peter zu-
schieben, aber es ist den teils diffusen ordnungspoliti-
schen Bedenken unseres Koalitionspartners geschuldet,
dass wir so lange auf konkrete Maßnahmen warten muss-
ten . Doch natürlich gilt auch hier: Es ist jetzt besser, eine
Kerze anzuzünden, als über die Dunkelheit zu jammern .
Die Politik hat klare Impulse gegeben, nun sind die
Hersteller gefragt . Die Politik kann die Automobilindus-
trie schließlich nicht ständig zum Jagen treiben .
Hatte es noch vor kurzem den Anschein, als habe man
bei VW, BMW, Audi und Daimler den Startschuss über-
hört, mehren sich inzwischen die Anzeichen für einen
Spätstart .
Vielleicht liegt es an Dieselgate, vielleicht auch an
der allgemeinen Einsicht, dass Wettbewerber der Zielge-
raden schon deutlich näher sind . Die deutsche Automo-
bilindustrie stellt sich jetzt jedenfalls mit deutlich mehr
Elan der Herausforderung Elektromobilität und alternati-
ver Antriebe . Die Zahl der alternativ angetriebenen Autos
in den Flotten steigt . Man widmet sich endlich wieder
der erforderlichen Batteriezellproduktion, was zentral für
den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit ist .
Bei dieser neuen Dynamik ist es zumindest möglich,
das Ziel der 1 Million Elektrofahrzeuge auf Deutschlands
Straßen bis 2020 nicht gänzlich aus dem Auge zu verlie-
ren .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17765
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Andreas Schwarz (SPD): Die Bundesrepublik
Deutschland tut viel für den Klimaschutz . Aber wir müs-
sen uns noch mehr anstrengen, wenn wir die Klimaziele
von Paris erreichen wollen . Wenn wir diese Ziele errei-
chen wollen, müssen wir endlich mehr Elektroautos auf
die Straße bringen . Es ist ja vollkommen richtig, dass
auf unseren Straßen viel zu wenige Elektrofahrzeuge
unterwegs sind . Im letzten Jahr waren es gerade mal
25 500 Fahrzeuge . Wenn wir hier nichts unternehmen,
sind die Klimaziele von Paris in Gefahr . Und deshalb
begrüßen wir ausdrücklich, dass hier das Bundeswirt-
schaftsministerium mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
aktiv geworden ist, um uns auf diesem Gebiet endlich
entscheidend voranzubringen .
Die Bundesregierung verfolgt dabei den absolut rich-
tigen Ansatz, mit einer Kaufprämie die nötigen Anreize
für höhere Verkaufszahlen zu schaffen . Die 4 000 Euro
Kaufprämie – bei Hybrid 3 000 Euro – sind ein überzeu-
gendes Signal an die vielen Interessentinnen und Interes-
senten in unserem Land . Und wir fördern hier ausdrück-
lich keine Luxusklassenfahrzeuge für die Gutsituierten .
Wir haben bewusst eine Obergrenze von 60 000 Euro
eingezogen, damit vor allem die breite Masse profitiert.
Unser Ziel ist es, dass in den nächsten Jahren 300 000
zusätzliche Elektroautos zugelassen werden .
Und es wirkt ja jetzt schon, obwohl das Gesetz noch
gar nicht verabschiedet ist . Autohersteller melden uns,
dass sowohl Interesse als auch Nachfrage der Kundinnen
und Kunden seit dem Beschluss der Bundesregierung,
hier ein milliardenschweres Förderprogramm für Elek-
tromobilität aufzulegen, deutlich angestiegen ist . Das
freut uns . Und das alles, wie gesagt, bevor die Kaufprä-
mie abgerufen werden konnte .
In diesem Zusammenhang begrüßen wir, dass das
Prüfverfahren der EU-Kommission nun endlich abge-
schlossen ist und die Menschen die Kaufprämie endlich
in Anspruch nehmen können .
Aber allein der Anreiz über die Kaufprämie wird nicht
den erhofften und gewünschten Erfolg bringen . Da be-
darf es schon eines Maßnahmenbündels, und zwar von
Maßnahmen, die nur gemeinsam wirken können .
Das von der Bundesregierung beschlossene Maßnah-
menpaket gibt genau die richtigen Antworten auf die
Frage vieler Interessenten, die gerne ein Elektrofahrzeug
kaufen würden, aber vor Ort zu wenige Ladestationen
vorfinden. Wir brauchen also die Kaufprämie und zu-
sätzliche Investitionen in den Ausbau der Infrastruktur,
um erfolgreich zu sein . Die SPD-Bundestagsfraktion un-
terstützt daher die Investitionen in den Ausbau der In-
frastruktur für Elektrofahrzeuge . Uns war auch wichtig,
dass sich auch die Autoindustrie an den Gesamtkosten
dieses Maßnahmenpakets von gut 1 Milliarde Euro hälf-
tig beteiligt . Ich bin überzeugt, diese Summe ist für beide
Seiten gut investiertes Geld!
Zusätzlich schaffen wir einen steuerlichen Anreiz . Es
sollen diejenigen steuerlich belohnt werden, die sich ein
Elektrofahrzeug zulegen . Eine zehnjährige Steuerbefrei-
ung ist genau das richtige Signal an all diejenigen, die
jetzt einsteigen wollen .
Ich komme zum Schluss: Wenn wir jetzt den Markt
mithelfen anzuschieben, wird das überdies dazu führen,
dass die deutsche Automobilindustrie noch intensiver an
Innovationen, beispielsweise an noch besseren Batterie-
zellen, arbeiten wird .
Wir stimmen diesem Gesetzentwurf zu, weil wir über-
zeugt sind, dass wir damit auf einem erfolgreichen Weg
sind .
Richard Pitterle (DIE LINKE): Kürzlich erklärte der
christlich-soziale Bundesminister für Landwirtschaft und
Ernährung Christian Schmidt den Bauern, die der Preis-
verfall bei Milch in den Ruin treibt, es sei in einer sozi-
alen Marktwirtschaft nicht Aufgabe des Staates, sich in
die Preispolitik einzumischen .
Und kaltschnäuzig hieb die sozialdemokratische Mi-
nisterpräsidentin Hannelore Kraft in die gleiche Kerbe,
als sie Flutopfern die Hilfe des Landes verweigerte, weil
schließlich nicht alle mit Steuermitteln begünstigt wer-
den könnten, die keine Versicherung abschlössen .
Heute aber stehen wir hier und beraten auf Initiative
der schwarz-roten Koalition die milliardenschwere Ein-
mischung des Staates in die Preispolitik durch Begünsti-
gungen aus Steuermitteln . Wieder einmal!
Nur kurz zur Erinnerung:
Gegen unseren Widerstand wurden superreichen Ree-
dern Milliarden in der naiven, längst widerlegten Hoff-
nung geschenkt, sie würden dann wohlgefällig vielleicht
den einen oder anderen Arbeitsplatz in der maritimen
Wirtschaft erhalten .
Gegen unseren Widerstand versuchen Sie, mit Steuer-
geschenken kopf- und planlos den Bau von Wohnungen
zu fördern, nachdem Sie jahrzehntelang dem Todeskampf
des sozialen Wohnungsbaus von der Seitenlinie zugese-
hen haben, obwohl Ihnen Experten nur Mitnahmeeffekte
für Luxuswohnungen prophezeien .
Und gegen unseren Widerstand und sogar trotz klarer
Ansagen des Bundesverfassungsgerichts gegen die Ver-
schonung superreicher Erbinnen und Erben wird die Bi-
lanz Ihrer schon peinlichen Auseinandersetzung um die
Reform darauf hinauslaufen, die Reichsten der Reichen
weiterhin zu verschonen .
Nun bin ich wie auch meine Partei Die Linke sicher
nicht verdächtig, neoliberaler Wirtschaftspolitik das Wort
zu reden . Denn genau das machen Kraft und Schmidt,
wenn sie den Staat aus der Verantwortung entlassen und
auf Markt und Eigenverantwortung verweisen . Und ge-
nau das macht, wer Steuervorteile prinzipiell geißelt .
Das Steuerrecht wird in vielen Politikbereichen nicht
nur zur Einnahmenerzielung, sondern auch oder sogar
fast ausschließlich zur Verhaltenslenkung genutzt . In
einer komplexen Gesellschaft wie der unsrigen ist dies
unbestreitbar ein effizientes und auch unverzichtbares
Mittel, um Politikziele zu erreichen .
Bei von Justi heißt es im Jahre 1766: „Die Steuer ist
ein sehr glückliches Mittel, den Staat zu bilden und ein-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617766
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(B) (D)
zurichten, wie es den Absichten einer ‚weisen‘ Regie-
rung gemäß sei“ .
Das heißt aber nicht, dass wir die wenig weise Steu-
erpolitik nach schwarz-rotem Rezept gutheißen . Dieses
schlichte Rezept passt sogar auf einen Bierdeckel: Mäch-
tige Wirtschaftslobbyisten flüstern den Untergang des
Mittelstandes, wenn nicht gleich der Welt ein, der nur mit
Steuergeschenken vorzugsweise an sich und an Besser-
verdienende aufgehalten werden kann .
In dieser langjährigen Tradition findet sich die nun
breit angelegte Förderung der Elektromobilität im Stra-
ßenverkehr wieder, für die vorliegender Gesetzentwurf
ein Baustein ist . Als Resultat von Kamingesprächen
im Kanzlerinnenamt mit den Lobbyisten der deutschen
Autoindustrie wird nun ein gewaltiges Subventions-
programm auch für einen halbstaatlichen Autokonzern
aufgelegt, der wegen illegaler Abgasmanipulationen mit
dem Rücken zur Wand steht und die internationale tech-
nische Entwicklung einfach verschlafen hat .
Die Querfinanzierung Ihrer Förderung durch Steuer-
geschenke an Besserverdienende zahlen diejenigen Bür-
gerinnen und Bürger, für die Elektromobilität im Alltag
so realistisch ist wie der Jahresurlaub in der Karibik .
Wie falsch Ihr Ansatz ist, lässt sich aber am deutlichs-
ten in Zahlen ausdrücken:
So ziemlich alle größeren Volkswirtschaften fördern
die Elektromobilität seit vielen Jahren . In den meisten
Staaten gibt es vergleichbare Programme seit gut acht
Jahren . In Japan sogar seit 1996! Neben klassischen
Förderungen mit Kaufanreizen wie Kaufprämien, Steu-
ererstattungen gibt es viele weitere, wie kostenlose Park-
plätze, Mautfreiheit, die Nutzung von Sonderspuren im
Straßenverkehr . Die Höhe der Kaufanreize ist ebenfalls
ähnlich: in der Regel mehrere tausend Euro für ein Fahr-
zeug .
Was hat es gebracht?
Derzeit gibt es weltweit circa 1,5 Milliarden Fahrzeu-
ge . Davon sind circa 1 Million Fahrzeuge Elektroautos .
Also weniger als 0,001 Prozent . Weltweit führend sind
derzeit noch die USA, obwohl China mit massiver und
bekannt wenig marktwirtschaftlicher staatlicher Inter-
vention die Führungsposition angreift . Der milliarden-
schwere Wettkampf hat aber bisher nur zu 400 000 Elek-
troautos, also 0,3 Prozent der Fahrzeuge, in den USA
gereicht . Die Zahl der Neuzulassungen in den USA stag-
niert, obwohl neben Bundesprogrammen auch die Bun-
desstaaten eigene Förderprogramme haben .
Deutschland ist ohne Förderung weltweit auf Platz 7
mit einem Elektrofahrzeuganteil von 0,07 Prozent . Vor-
zeigeland Norwegen hat gerade mal eine 1,6-prozentige
Quote trotz massiver Förderung .
Eine Umfrage des Instituts für Verkehrsforschung be-
stätigt die Nutzlosigkeit von steuerlichen und sonstigen
Kaufanreizen: Kaufentscheidend sind eine öffentliche
Ladeinfrastruktur, die Zuverlässigkeit der Technik und
günstige Strompreise .
Investieren Sie in die Forschung und Entwicklung,
in die allgemeine Infrastruktur und in alternative Ver-
kehrskonzepte, statt mit Steuergeschenken Strohfeuer
anzufachen .
Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Steuerliche Anreize zur Förderung der Elektro-
mobilität sind als begleitende Maßnahme grundsätzlich
richtig . Die Verlängerung der Kfz-Steuerbefreiung für
reine Elektrofahrzeuge auf zehn Jahre ist allerdings eine
rein symbolische Maßnahme . Ein Fahrzeughalter eines
leichten Nissan Leaf würde gerade mal 45 Euro pro Jahr
sparen . Über zehn Jahre macht das also eine Steuerer-
sparnis von mageren 450 Euro . Das ist kein wirksamer
Anreiz, sich ein Elektroauto zu kaufen .
Der Gesetzentwurf sieht zudem vor, das Einkommen-
steuergesetz zu ändern . Ermöglicht der Arbeitgeber dem
Arbeitnehmer die Möglichkeit, sein privates Elektroauto
während der Arbeitszeit am Arbeitsort aufzuladen, so soll
dies steuerbefreit werden – also kein geldwerter Vorteil .
Gleiches gilt, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer
die betriebliche Ladevorrichtung zeitweise zur privaten
Nutzung überlässt . Diese Maßnahme begrüßen wir . So
können Arbeitgeber mit nur geringen Kosten die Elekt-
romobilität ihrer Mitarbeiter fördern, ohne dass sich da-
durch neue bürokratische Hürden auftun .
Ich will die Gelegenheit mit der Beratung des Gesetz-
entwurfes nutzen, um auf die fehlende Gesamtstrategie
der Bundesregierung zur Förderung der Elektromobilität
zu sprechen zu kommen:
Vor ziemlich genau einem Jahr wurde das Elektromo-
bilitätsgesetz beschlossen . Es hat bisher keine Impulse
für die Förderung der Elektromobilität gesetzt . So gut
wie keine Kommune hat Busspuren für Elektroautos
freigegeben, Zufahrtsbeschränkungen gelockert oder
kostenlose Parkplätze eingerichtet . Die neuen E-Kenn-
zeichen sind ein Ladenhüter . Ein Scheitern mit Ansage:
Es ist naiv, zu glauben, Kunden würden sich in Scharen
für Elektroautos entscheiden, weil sie kostenfrei parken
oder die Busspur nutzen können, während die Fahrzeuge
deutlich teurer sind und Ladeinfrastruktur fehlt .
Das Elektromobilitätsgesetz muss daher überarbeitet
werden . Jetzt müssen die Rechtsgrundlagen für die Aus-
rüstung von Wohnhäusern und öffentlichen Gebäuden
mit Ladeinfrastruktur geschaffen werden . Frankreich
macht es uns vor: Bei öffentlichen Einrichtungen gehört
Ladeinfrastruktur zum Standard .
Die ein Jahr diskutierte Kaufprämie für Elektroautos
ist mittlerweile beschlossen . Doch anstatt die Prämie
über ein Bonus-Malus-System bei der Kfz-Steuer zu fi-
nanzieren und damit eine ökologische Lenkungswirkung
zu schaffen, werden die Mittel aus dem Energie- und Kli-
mafonds genommen . Diese Gelder werden nun für ande-
re wichtige Klimaschutzprojekte fehlen . Um wesentlich
stärkere Klimaschutzwirkungen zu erzielen, müsste stär-
ker in andere Bereiche investiert werden .
Elektromobilität bedeutet für die Bundesregierung le-
diglich, dass Autos elektrisch fahren sollen . Das ist mehr
als kurzsichtig . Die Förderung der Elektromobilität darf
nicht zu reiner Industriepolitik verkommen . Sie ist eine
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17767
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zentrale verkehrspolitische Herausforderung . Was wir
brauchen, ist ein verkehrsträgerübergreifender Ansatz:
Mit den 600 Millionen Euro Steuergeldern sollten
wir besser Elektrobusse, E-Taxis und elektrische Nutz-
fahrzeuge für die städtische Logistik fördern . Denn bei
Elektromobilität geht es bei weitem nicht nur um den
Austausch des Antriebs, sondern um die Veränderung bis-
heriger Verkehrsstrukturen und um neue Mobilitätskon-
zepte . Gerade in Ballungsräumen rückt die Vernetzung
unterschiedlicher Verkehrsträger in den Vordergrund .
Der Schienenverkehr fährt bereits heute weitgehend
elektrisch . Viele Bahnstrecken, insbesondere im länd-
lichen Raum, warten jedoch noch auf ihre Elektrifizie-
rung. Hier wäre ein Elektrifizierungsprogramm notwen-
dig, was auch den Güterverkehr auf der Schiene fördern
würde . Allein die Umstellung des gesamten Bahnstroms
auf Ökostrom würde achtmal mehr CO2 einsparen als
400 000 Elektroautos, die über die Kaufprämie gefördert
werden sollen .
Widersprüchlich ist die uneinheitliche Definition von
Elektroautos bei der Bundesregierung und die damit ein-
hergehende Förderung: Nach dem Elektromobilitätsge-
setz zählen auch Leichtfahrzeuge der Klassen L3e, L4e,
L5e und L7e als Elektroautos und erhalten ein E-Kenn-
zeichen . Von der Förderung durch die Kaufprämie sind
die aber ausgeschlossen . Von der Kfz-Steuerbefreiung
profitieren lediglich reine Elektrofahrzeuge sowie – und
neu im vorliegenden Gesetzentwurf – Fahrzeuge, die von
Verbrennungs- auf reinen Elektromotor umgerüstet wur-
den . Die einkommensteuerlichen Maßnahmen beziehen
sich wiederum sowohl auf Elektrofahrzeuge als auch auf
Plug-in-Hybride . Wie sollen die Verbraucherinnen und
Verbraucher da noch durchsehen? Sie sind nicht stringent
und schaffen einen Förderdschungel .
Der Verkehr ist das Sorgenkind im Klimaschutz . Seine
Treibhausgasemissionen liegen heute über denen im Ba-
sisjahr 1990 . Wir müssen Elektromobilität daher endlich
breit fördern und uns nicht nur auf das Auto fokussieren .
Sonst sind die Klimaschutzziele nicht zu schaffen .
Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister der Finanzen: Im Mai dieses Jahres hat die
Bundesregierung ein Maßnahmenpaket zur Förderung
der Elektromobilität beschlossen . Teil des Paketes sind
auch Steuervorteile für Elektrofahrzeuge .
Eine richtige Entscheidung . Warum?
Die im vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur steu-
erlichen Förderung von Elektromobilität im Straßenver-
kehr enthaltenen Maßnahmen machen die Nutzung von
umweltschonenden, klimafreundlichen Elektrofahrzeu-
gen attraktiver, für Privatpersonen und für Unternehmen .
Die Steuervorteile ergeben sich zum einen bei der Kraft-
fahrzeugsteuer und zum anderen bei der Einkommen-
steuer .
Drei praktische Beispiele darf ich Ihnen vorab an die
Hand geben:
Erstens . Wer im Zeitraum vom 1 . Januar 2016 bis zum
31 . Dezember 2020 ein reines Elektroauto erstmals zu-
lässt, ist zehn Jahre lang von der Kraftfahrzeugsteuer be-
freit . Dies entspricht im Vergleich zum Status quo einer
Verdoppelung des Befreiungszeitraumes .
Zweitens . Wer sein privates Elektrofahrzeug im Be-
trieb des Arbeitgebers aufladen darf, kann sich darüber
freuen, dass dieser sogenannte „geldwerte Vorteil“ lohn-
steuerfrei ist . Der Arbeitnehmer spart sich die Stromkos-
ten sowie die darauf entfallende Einkommensteuer, und
der Arbeitgeber braucht für das „Volltanken“ mit Strom
keine Lohnsteuer einzubehalten und abzuführen . So pro-
fitieren beide Seiten.
Drittens . Übereignet der Arbeitgeber dem Arbeitneh-
mer die Ladevorrichtung verbilligt oder gibt er ihm einen
Kaufzuschuss, so ist eine Pauschalierung der Lohnsteuer
mit nur 25 Prozent möglich .
Sie sehen: So einfach kann Steuerrecht sein .
Die mit diesem Gesetzentwurf verfolgten steuerlichen
Maßnahmen sollen in erster Linie eine entsprechende
Lenkungswirkung haben und der Verwirklichung der
Ziele der Bundesregierung dienen: der Verbesserung der
Luftreinhaltung und einer klimagerechten Zukunftspoli-
tik .
Mit dem Ziel vor Augen, bis 2020 den CO2-Ausstoß
gegenüber 1990 um mindestens 40 Prozent zu senken,
sind auch im Verkehrssektor Emissionsminderungen not-
wendig . Die Steigerung des Anteils von Elektrofahrzeu-
gen ist eine zentrale Maßnahme, um den Straßenverkehr
umweltverträglicher zu machen und einen adäquaten
Beitrag zur Reduktion der CO2-Emissionen zu leisten .
Um die Zahl der Neuzulassungen von Elektrofahrzeu-
gen und den Umstieg auf klimafreundlichere Fahrzeuge
deutlicher zu erhöhen, braucht es jedoch mehr Akzeptanz
und Attraktivität für die Nutzer .
Mit dem nunmehr vorliegenden Maßnahmenpaket
zur Förderung der Elektromobilität stellt der Bund zu-
sätzlich etwa 1 Milliarde Euro für die direkte Förderung
des Erwerbs von E-Fahrzeugen – sogenannter Umwelt-
bonus – sowie für die Verbesserung der Ladeinfrastruk-
tur bereit . Und auch die öffentliche Hand selbst wird bei
ihren eigenen Fuhrparks mit gutem Beispiel vorangehen .
Der Anteil der durch die Bundesregierung in ihrem Ge-
schäftsbereich zu beschaffenden Elektrofahrzeuge soll
auf mindestens 20 Prozent erhöht werden . Ziel des Maß-
nahmenpakets ist, neben der weiteren Förderung von
Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten dem Markt-
hochlauf für E-Fahrzeuge einen kräftigen Impuls zu ge-
ben .
Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren im
Rahmen des Regierungsprogrammes Elektromobilität
gut 1,5 Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung
bereitgestellt . Durch Forschungs- und Entwicklungsakti-
vitäten, aber auch durch steuerliche Anreize soll Elektro-
mobilität kostengünstiger und alltagstauglicher werden .
Im Einzelnen sieht der Ihnen vorliegende Gesetzent-
wurf folgende Maßnahmen vor .
Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617768
(A) (C)
(B) (D)
Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
Momentan gilt bei erstmaliger Zulassung reiner Elek-
trofahrzeuge im Zeitraum vom 1 . Januar 2016 bis zum
31 . Dezember 2020 eine fünfjährige Steuerbefreiung ab
der Erstzulassung . Diese Kraftfahrzeugsteuerbefreiung
soll rückwirkend zum 1 . Januar 2016 in eine zehnjährige
Befreiung verlängert werden .
Die zehnjährige Steuerbefreiung für reine Elektro-
fahrzeuge soll darüber hinaus auch für solche Fahrzeuge
gelten, die technisch angemessen und verkehrsrechtlich
genehmigt zu reinen Elektrofahrzeugen umgerüstet wor-
den sind .
Änderung des Einkommensteuergesetzes:
Im Zeitraum vom 1 . Januar 2017 bis 31 . Dezember
2020 sollen vom Arbeitgeber an Arbeitnehmer gewährte
Vorteile für das elektrische Aufladen eines privaten Elek-
trofahrzeugs oder Hybridelektrofahrzeugs im Betrieb des
Arbeitgebers steuerfrei sein; Gleiches soll für die zur pri-
vaten Nutzung zeitweise überlassenen betrieblichen La-
devorrichtungen gelten .
Der Arbeitgeber soll zudem die Möglichkeit erhalten,
geldwerte Vorteile aus der unentgeltlichen oder verbil-
ligten Übereignung der Ladevorrichtung und Zuschüsse
pauschal mit 25 Prozent Lohnsteuer zu besteuern .
Das Thema Elektromobilität liegt der Bundesregie-
rung am Herzen . Maßnahmen zur Förderung der Elektro-
mobilität sind Antwort auf die steigenden Anforderungen
an Klimaschutz – CO2-Ausstoß – und Luftreinhaltung –
Stickoxid, Rußpartikel etc . . Als Bindeglied zwischen der
Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen und
dem Verkehrssektor ist die Elektromobilität ein wichtiger
Baustein der Energiewende .
Mithilfe der Elektromobilität können wir verkehrsbe-
dingte lokale Emissionen verringern und zum Ausbau
klimafreundlicher Verkehrssysteme beitragen . Durch in-
novative Ideen und Technologien tragen wir zur Nach-
haltigkeit und zum Klimaschutz bei .
Deutschland braucht die Elektromobilität, und die
Elektromobilität bringt Deutschland eine Verbesserung
der Luftreinhaltung und eine klimagerechte Zukunftspo-
litik .
Lassen Sie uns mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
gemeinsam einen weiteren Schritt nach vorne in Rich-
tung einer klimagerechten Zukunft machen .
Ich freue mich auf die Beratungen in den entsprechen-
den Fachausschüssen .
179. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 5 Forschung und Innovation 2016
TOP 6, ZP 1 Klimaschutz
ZP 2 u. 3 25 Jahre deutsch-polnischer Vertrag
TOP 29, ZP 4 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 30 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
ZP 5 Aktuelle Stunde zu ärztlichen Attesten in Abschiebeverfahren
TOP 7 Neuregelung des Kulturgutschutzrechts
TOP 9 Aktionsplan gegen Sexismus
TOP 10 Bundeswehreinsatz in Kosovo (KFOR)
TOP 11 Unterstützung queerer Jugendlicher
TOP 12 Bundeswehreinsatz im Libanon (UNIFIL)
TOP 13, ZP 6 u. 7 Mietrecht
TOP 8 Änderung des SGB II – Rechtsvereinfachung
TOP 15 Mindestqualitätsvorgaben für Internetzugänge
TOP 16 Digitalisierung der Energiewende
TOP 17 Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft
ZP 8 Weiterentwicklung des Strommarktes
TOP 19 Netzneutralität
TOP 18 Europäischer Binnenmarkt
TOP 20 Änderung des Standortauswahlgesetzes
TOP 21 Sozialer Basisschutz in Entwicklungsländern
TOP 22 Anpassung patentrechtlicher Vorschriften
TOP 23 Sicherheit von Offshore-Erdöl- und Erdgasaktivitäten
TOP 27 Steuerliche Förderung von Elektromobilität
Anlagen
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10