1) Anlage 10
        Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
        (A) (C)
        (B) (D)
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17737
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Bellmann, Veronika CDU/CSU 23 .06 .2016
        Brähmig, Klaus CDU/CSU 23 .06 .2016
        Fabritius, Dr . Bernd CDU/CSU 23 .06 .2016
        Ferlemann, Enak CDU/CSU 23 .06 .2016
        Ferner, Elke SPD 23 .06 .2016
        Groth, Annette DIE LINKE 23 .06 .2016
        Heller, Uda CDU/CSU 23 .06 .2016
        Hintze, Peter CDU/CSU 23 .06 .2016
        Hirte, Dr . Heribert CDU/CSU 23 .06 .2016
        Hübinger, Anette CDU/CSU 23 .06 .2016
        Irlstorfer, Erich CDU/CSU 23 .06 .2016
        Krichbaum, Gunther CDU/CSU 23 .06 .2016
        Launert, Dr . Silke CDU/CSU 23 .06 .2016
        Lerchenfeld, Philipp
        Graf
        CDU/CSU 23 .06 .2016
        Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        23 .06 .2016
        Mortler, Marlene CDU/CSU 23 .06 .2016
        Nowak, Helmut CDU/CSU 23 .06 .2016
        Petzold, Ulrich CDU/CSU 23 .06 .2016
        Pflugradt, Jeannine SPD 23 .06 .2016
        Radomski, Kerstin CDU/CSU 23 .06 .2016
        Schäfer (Saalstadt),
        Anita
        CDU/CSU 23 .06 .2016
        Schimke, Jana CDU/CSU 23 .06 .2016
        Warken, Nina CDU/CSU 23 .06 .2016
        Wicklein, Andrea SPD 23 .06 .2016
        Zimmermann
        (Zwickau), Sabine
        DIE LINKE 23 .06 .2016
        Anlage 2
        Erklärung nach § 31 GO
        des Abgeordneten Thomas Jarzombek (CDU/CSU)
        zu der Abstimmung über den von der Bundesre
        gierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
        Neuregelung des Kulturgutschutzrechts (Tages
        ordnungspunkt 7)
        Die Fraktionen CDU/CSU und SPD haben im Koaliti-
        onsvertrag 2013 eine Novellierung des Kulturgutschutz-
        gesetzes verabredet . Es soll ein „den Kulturgutschutz
        stärkendes, kohärentes Gesetz“ geschaffen werden, um
        sowohl illegal ausgeführtes Kulturgut anderer Staaten
        effektiv an diese zurückzugeben, als auch deutsches
        Kulturgut besser vor Abwanderung ins Ausland zu schüt-
        zen .“ Dieses Ziel teile ich .
        Der Schutz von national wertvollen Kulturgütern vor
        dem Verkauf ins Ausland soll durch Aufnahmen in ent-
        sprechende Verzeichnisse erfolgen .
        Als Abgeordneter aus Nordrhein-Westfalen kenne ich
        die vielfältige Kunst- und Kunsthandelsszene aus eigener
        Erfahrung; Düsseldorf ist eines der wichtigsten Zentren
        mit einer Vielzahl von Galerien und Kunsthändlern .
        Die vielfach geäußerte Kritik am Gesetzentwurf zu
        den Beschränkungen beim Import von Kulturgütern teile
        ich ausdrücklich nicht . Das Ziel ist, dadurch die Geld-
        ströme von Kriminellen und Terroristen aus dem Verkauf
        von Antiquitäten und Kunstwerken aus Raubgrabungen
        in  archäologischen  Stätten,  insbesondere  in  Konflikt- 
        und Kriegsgebieten, auszutrocknen . Das kulturelle Erbe
        der Menschheit ist für einige Konfliktparteien nur Geld-
        erwerb für Terror und Verbrechen . Illegal gehandelte
        Kulturgüter dürfen nicht nach Deutschland eingeführt
        werden, wenn sie aus Fundstätten früherer Hochkulturen
        rücksichtslos geplündert wurden und damit für das kul-
        turelle Erbe der Menschheit und künftige wissenschaftli-
        che Forschung unwiederbringlich verloren gehen .
        Die Beschränkungen bei der Ausfuhr von Kulturgü-
        tern sehe ich hingegen kritisch . Es droht die Gefahr, dass
        das Gesetz das Gegenteil dessen erreicht, was es bezwe-
        cken soll . Es ist zu befürchten, dass bis zum Inkrafttreten
        des Gesetzes nach der Übergangszeit mehr Kulturgüter
        das Land verlassen als anschließend geschützt werden .
        Selbst der Westdeutsche Rundfunk (WDR) verkauft
        mehrere wertvolle Werke aus seiner Sammlung zur kurz-
        fristigen Finanzierung über Auktionshäuser im Ausland .
        Seit der Diskussion über das Kulturgutschutzgesetz ist zu
        beobachten, dass deutsche Galerien jetzt zunehmend De-
        pendancen im europäischen und außereuropäischen Aus-
        land eröffnen . Auch die Museen in Deutschland werden
        Probleme haben, internationale Leihgaben für ihre Häu-
        ser zu bekommen . Auch Sammler werden sich zukünftig
        fragen, ob ein Investment in zeitgenössische Kunst sinn-
        voll ist, wenn sie später nicht wissen, ob sie die Waren
        verkaufen können .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617738
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        (B) (D)
        Mit dieser persönlichen Erklärung möchte ich zum
        Ausdruck bringen, dass ich das Ziel und weite Teile
        des Gesetzes grundsätzlich befürworte . Die praktischen
        Auswirkungen der Exportbeschränkungen sehe ich aber
        nicht ausreichend gewürdigt .
        Aus diesem Grund enthalte ich mich bei der Abstim-
        mung über den Gesetzentwurf .
        Anlage 3
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Sylvia KottingUhl (BÜND
        NIS 90/DIE GRÜNEN) zu der namentlichen Ab
        stimmung über die Beschlussempfehlung des
        Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bun
        desregierung: Fortsetzung der deutschen Beteili
        gung an der internationalen Sicherheitspräsenz
        in Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244
        (1999) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
        vom 10. Juni 1999 und des MilitärischTechnischen
        Abkommens zwischen der internationalen Sicher
        heitspräsenz (KFOR) und den Regierungen der
        Bundesrepublik Jugoslawien (jetzt: Republik Ser
        bien) und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999
        (Tagesordnungspunkt 10)
        Den Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der
        deutschen Beteiligung an der internationalen Sicher-
        heitspräsenz in Kosovo auf der Grundlage der Resolu-
        tion 1244 aus dem Jahr 1999 des Sicherheitsrates der
        Vereinten Nationen vom 10 . Juni 1999 und des Militä-
        risch-Technischen Abkommens zwischen der internatio-
        nalen Sicherheitspräsenz (KFOR) und den Regierungen
        der Bundesrepublik Jugoslawien (jetzt: Serbien) und der
        Republik Serbien vom 9 . Juni 1999 lehne ich ab .
        Ich begründe das:
        Dieses Mandat besteht nunmehr seit 17 Jahren . Jahr
        für Jahr wird es verlängert .
        Nach 17 Jahren internationaler Sicherheitspräsenz
        ist die Sicherheitslage in Kosovo und der umgebenden
        Region weiterhin fragil . Übergriffe und Gewaltakte sind
        fast an der Tagesordnung . Die Spannungen zwischen
        Serbien und Kosovo können Beobachtern zufolge jeder-
        zeit in einen offenen Konflikt münden. 
        Die sozioökonomische Lage in Kosovo ist unverän-
        dert schlecht . Vor allem Jugendliche sind in unverant-
        wortbarem Ausmaß von Perspektivlosigkeit betroffen .
        Bad Governance sorgt für Klientelismus und Korruption
        und setzt der weit verbreiteten organisierten Kriminalität
        nichts entgegen . Das Leben von Minderheiten wie der
        Roma ist grundsätzlich von Armut, Ausgrenzung und
        Diskriminierung geprägt .
        Macht es Sinn, aus einem solchen Land die Bun-
        deswehr, die dort Teil der Sicherheitspräsenz ist, abzu-
        ziehen? Nur das Dort und Jetzt betrachtet: Nein, sicher
        nicht!
        In dieser Denklogik verlängert der Deutsche Bundes-
        tag das KFOR-Mandat jedes Jahr . Auch die Bundestags-
        fraktion Bündnis 90/Die Grünen gibt ihre Zustimmung
        mit großer Mehrheit . Der Grund dafür ist durchaus be-
        rechtigt: Nichts würde besser, wenn das Mandat beendet
        würde, im Gegenteil würde sich die Situation von Gewalt
        und Bedrohung eventuell rapide verschlechtern .
        Responsibility to protect kann sich für mich – wenn
        der Begriff zu Ende gedacht wird – nicht in militärischer
        Präsenz erschöpfen . Aber Europa und die UN versagen
        völlig im Entwickeln einer zukunftsfähigen Strategie für
        den Westbalkan . Die Republik Kosovo ist noch nicht ein-
        mal von allen Mitgliedstaaten der EU anerkannt . Trotz
        des am 1 . April 2016 in Kraft getretenen Stabilisierungs-
        und Assoziierungsabkommens ist die EU kein Treiber
        beim Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Insti-
        tutionen in Kosovo . Mit militärischer Präsenz allein hat
        aber weder die EU noch haben die Vereinten Nationen in
        Kosovo ihr Soll erfüllt .
        Deutschland hat darüber hinaus Kosovo inzwischen
        als „Sicheres Herkunftsland“ deklariert . Daraus ergibt
        sich  für mich  eine ganz besondere Verpflichtung,  beim 
        Aufbau von Rechtsstaatlichkeit und Good Governance in
        Kosovo  behilflich  zu  sein.  Ich  nehme  hier  keine  ange-
        messenen Bemühungen wahr .
        Ich lehne deshalb – anders als im letzten Jahr – die
        Verlängerung des Mandats ab . Nicht, weil ich nicht über-
        zeugt wäre, dass die internationale militärische Präsenz
        die Sicherheit dort zumindest in einer fragilen Lage hält,
        sondern, weil mir die Alibi-Verantwortungsübernahme
        durch militärischen Einsatz zu wenig ist . Nach 17 Jahren
        muss die Sinnhaftigkeit eines vor allem auf militärischem
        Einsatz beruhenden Engagements hinterfragt werden .
        Anlage 4
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und
        Energie zu dem Antrag der Abgeordneten Halina
        Wawzyniak, Frank Tempel, Ulla Jelpke, weite
        rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:
        Netzneutralität im Rahmen der Vorgaben der
        EUVerordnung gesetzlich absichern (Tagesord
        nungspunkt 19)
        Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Der vorliegende
        Antrag der Fraktion Die Linke ist mittlerweile mehr als
        sieben Monate alt . In diesen Monaten hat sich eine Men-
        ge getan . Die Argumentation der Linken, dass wir durch
        die Verordnung in ein Zwei-Klassen-Internet abrutschen
        könnten, ist nicht haltbar .
        Man muss erst einmal deutlich sagen: Es ist eine gro-
        ße Leistung, dass die Europäische Kommission und das
        Europäische Parlament mit der Verordnung zum TK-Bin-
        nenmarkt eine europaweite Verordnung zur Netzneutra-
        lität auf den Weg gebracht haben . Wir haben erstmals
        eine einheitliche europäische Regelung . Genau das war
        das Ziel, welches auch im Koalitionsvertrag verabredet
        wurde .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17739
        (A) (C)
        (B) (D)
        Wenn wir als Gesetzgeber anfangen, diese Verordnung
        wieder in nationale Gesetze umzusetzen, dann machen
        wir eine Rolle rückwärts . Es ist also schon vom Grundan-
        satz her eigentlich widersinnig, was Sie in Ihrem Antrag
        fordern . In der Verordnung zum TK-Binnenmarkt wurde
        das Thema aus unserer Sicht gut umgesetzt .
        Ich möchte noch mal kurz deutlich machen, warum
        wir diese Verordnung brauchen . Wer sich über die Jah-
        re hinweg an der Diskussion beteiligt hat, weiß, dass
        Netzneutralität ein sehr dynamisches Phänomen ist . Aus
        technischer Sicht haben wir stetig steigende Datenmen-
        gen im Internet zu verzeichnen, mit denen wir verant-
        wortungsbewusst umgehen müssen . Aus wirtschafts- und
        netzpolitischer Perspektive darf beim Marktzugang nie-
        mand diskriminiert werden, um innovativen Start-ups,
        der Innovationskraft des Mittelstands und der Informa-
        tionsfreiheit nicht im Wege zu stehen . Die gesellschafts-
        politischen Fragestellungen drehen sich um einen freien,
        offenen und diskriminierungsfreien Zugang, für eine
        gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe am Internet .
        Diesen Dreiklang galt es bei der Verordnung zu vereinen,
        was meiner Meinung nach gut gelungen ist .
        Wer einen Blick in die Zukunft wirft, wird zudem er-
        kennen, dass der sich am Horizont abzeichnende neue
        5G-Standard im Bereich der mobilen Telekommunikati-
        on Einzug halten wird . Dann wird das Thema Netzneu-
        tralität keine Rolle mehr spielen . Beim 4G-Standard, den
        wir derzeit noch haben, ist das anders . Daher ist die Netz-
        neutralität derzeit noch notwendig, aber in Zukunft wird
        genügend Bandbreite zur Verfügung stehen . Aber das nur
        am Rande .
        Der jetzige Kompromiss sieht vor, dass wir notwen-
        dige Investitionen und damit Investitionsanreize für pri-
        vatwirtschaftliche Netzbetreiber schaffen wollen . Wir
        benötigen diese, damit der Netzausbau noch schneller
        vorangeht und weiter leistungsfähige Anschlüsse ge-
        schaffen werden . Der Staat alleine wird diese Investi-
        tionen nicht stemmen können . Sie werden allerdings
        benötigt, um zukünftige Anwendungen im Bereich der
        Telemedizin, des automatisierten Fahrens oder der Indus-
        trie 4 .0 mit hohen Bandbreiten und niedrigen Latenzzei-
        ten gewährleisten zu können .
        In der Gesamtkonstellation ist es richtig, dass die
        Bundesnetzagentur für Deutschland die Aufgabe über-
        nimmt, die Umsetzung der europäischen Regelungen zu
        überwachen . Die Aufgabe der Spezialdienste ist in der
        Verordnung ganz klar geregelt: Sie können künftig an
        der Finanzierung des zusätzlichen Infrastrukturausbaus
        beteiligt  werden,  indem  sie  für  kostenpflichtige  quali-
        tätssichernde Datenübertragungen im Internet bezahlen .
        Ich kann die Diskussion darüber nicht nachvollziehen;
        denn Spezialdienste dürfen nur angeboten werden, wenn
        das entsprechende Angebot notwendig ist . Spezialdiens-
        te dürfen kein Ersatz für offenes Internet sein; das ist
        ja genau das, was wir alle hier in diesem Hohen Hause
        gemeinsam fordern . Spezialdienste dürfen nur bei aus-
        reichenden Netzkapazitäten erbracht werden; auch das
        ist ein sehr wichtiger Punkt . Dort, wo Bandbreiten nicht
        ausreichend zur Verfügung stehen, werden auch keine
        Spezialdienste angeboten werden können . Auch noch
        wichtig ist: Spezialdienste dürfen die gesamte Qualität
        des Internets nicht beeinträchtigen .
        Damit ist festzustellen: Von europäischer Ebene aus
        sind entsprechende Sicherungen eingebaut worden, so-
        dass man sagen kann: Das Internet für alle – und das ist
        das, was wir alle wollen – ist damit abgesichert . Das offe-
        ne Internet bleibt der Regelfall . Netzbetreiber dürfen aus
        kommerziellen Gründen weder sperren noch verlangsa-
        men . Es geht nicht darum, dass Netzbetreiber in Zukunft
        entscheiden können, welche Inhalte sie transportieren,
        sondern darum, dass sie in bestimmten Bereichen zusätz-
        liche entgeltliche Leistungen anbieten können . Dabei ist
        zu gewährleiten, dass Spezialdienste diskriminierungs-
        frei ausgestaltet werden, damit keine Nachteile für den
        Mittelstand oder Gründer entstehen .
        Denn klar ist auch: Wir brauchen diese Spezialdienste .
        Das wissen Sie selbst sehr genau . Zu den Spezialdiensten
        gehören zum Beispiel lebensrettende Dienste, das kön-
        nen telemedizinische Dienste sein . Das sind auch Diens-
        te, die für die gesamte Steuerung des Straßenverkehrs
        notwendig sind .
        Insofern stehen wir zu den Spezialdiensten . Spezial-
        dienste werden möglicherweise nicht zum gleichen Preis
        angeboten werden, aber die Voraussetzungen für die Nut-
        zung sind klar definiert.
        Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Eine Umset-
        zung in nationales Recht ist nicht erforderlich, da die Ver-
        ordnung europaweit gilt . Ein nationaler Alleingang wäre
        sogar eher kontraproduktiv, da er zu einer Zersplitterung
        des Binnenmarktes führen und die Rechtsunsicherheiten
        erhöhen würde . Zudem hat die europäische Regulie-
        rungsstelle BEREC am 6 . Juni 2016 einen im Vergleich
        zu diesem Antrag viel differenzierteren Leitlinienentwurf
        vorgelegt und verschiedenste Marktteilnehmer dazu kon-
        taktiert . Die Bundesnetzagentur hat nun die Aufgabe,
        eine praktische Umsetzung der Regelungen in Deutsch-
        land zu überwachen . Leitlinien für deren Durchsetzung
        sollen bis Ende des Sommers erarbeitet werden . Ein jähr-
        liches  Monitoring  und  weitreichende  Berichtspflichten 
        wurden ebenfalls vereinbart, um in Brüssel gegebenen-
        falls gegensteuern zu können . Ich kann nur sagen: Wir
        sind bei diesem Thema auf einem guten Weg . Ich hoffe,
        dass der dynamische Prozess hin zum nächsten Standard
        auch auf europäischer Ebene weiter verfolgt wird . Wir
        werden Ihren Antrag ablehnen .
        Klaus Barthel (SPD): Nach der vielfachen Diskussi-
        on über diesen Antrag der Linksfraktion hätte ich erwar-
        tet, dass er zurückgezogen wird, anstatt das Plenum des
        Deutschen Bundestages noch mal damit zu belasten .
        Schon bei der ersten Beratung am 14 . April 2016 an
        dieser Stelle haben die Redner der Regierungskoalition
        überzeugend dargelegt, dass der Antrag nicht geeignet
        ist, uns dem gemeinsamen Ziel der Netzneutralität auch
        nur einen Millimeter näher zu bringen .
        Wir haben – ebenso wie der Antrag – auf die EU-Ver-
        ordnung 2015/2120/EU hingewiesen . Wie die Links-
        fraktion in ihrer Begründung selbst feststellt, gilt diese
        Verordnung mit unmittelbarer Wirkung in allen Mitglied-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617740
        (A) (C)
        (B) (D)
        staaten . Es ist also nicht möglich, sie durch nationale Ge-
        setze zu verändern oder aufzuheben . Genau das fordert
        die Linksfraktion, indem sie die Verordnung ausführlich
        erörtert und kritisiert . Die Antragsverfasserinnen und
        -verfasser sind sich dieses Widerspruchs unfreiwillig
        bewusst, wenn sie im Schlussabsatz der Begründung
        schreiben: „Mit der vorgeschlagenen Regelung wird die
        EU-Verordnung umgesetzt“ – Anmerkung: sollen wir
        jetzt eine Verordnung umsetzen, die Sie vorher wortreich
        kritisieren? – „und in deren Rahmen die Netzneutralität
        gewahrt“ – Anmerkung: nachdem Sie vorher ausgeführt
        haben, dass die Verordnung dies gerade nicht tut . Weiter
        heißt es: „Dies entbindet nicht davon, zukünftig dafür
        zu werben, dass die Ausnahmen von der Netzneutralität
        durch die EU-Verordnung wieder rückgängig gemacht
        werden .“ So endet Ihr Papier .
        Das wäre aber auch der ehrliche Ansatz, nämlich zu
        sagen, dass die Verordnung eigentlich Mist ist, den man
        ändern muss . Dann sollte man sich aber die Prosa spa-
        ren, um diesen Mist vorher durch ein nationales Gesetz
        umzusetzen . Logisch wäre also etwas anderes . Schon aus
        rein formalen Gründen ist also der Antrag abzulehnen .
        Aber auch inhaltlich können wir dem Antrag nicht
        folgen . In der Tat schreibt nämlich die EU-Verordnung
        die Netzneutralität als Grundsatz fest . Gleichzeitig lässt
        sie Ausnahmen davon zu, aber sehr begrenzte . So dür-
        fen Eingriffe nur erfolgen, soweit dies zur Aufrechter-
        haltung  eines  effizienten Datenverkehrs  erforderlich  ist 
        oder dies im öffentlichen Interesse liegt, zum Beispiel
        zur Gewährleistung der Netzsicherheit oder zur Krimi-
        nalitätsbekämpfung . Bevorzugter Zugang gegen Bezah-
        lung ist verboten, und Spezialdienste wie Internetfernse-
        hen oder -spiele dürfen die Qualität des offenen Internets
        nicht beeinträchtigen . Das ist eine wesentlich sinnvollere
        Regelung als die von der Linken vorgeschlagene 5-Pro-
        zent-Regelung, weil erstere auf die Art der Dienste ab-
        hebt, anstatt für alles Mögliche 5 Prozent zu erlauben .
        An dieser Stelle wird auch die beschränkte Bedeutung
        der Netzneutralitätsdebatte sichtbar . Es geht im Kern
        um die Frage: 5 Prozent von was? Für den Kunden oder
        die Kundin geht es im Ergebnis um die Frage, wie viel
        Bandbreite ihm oder ihr zur Verfügung steht . Die meis-
        ten verfügen heute beispielsweise über 1 Megabit pro
        Sekunde, es blieben also 0,95 Megabit übrig . Wer aber
        über 100 Megabit pro Sekunde verfügt, hätte dann immer
        noch das 100-Fache an Kapazität . Wenn wir unser Breit-
        bandziel erreichen, alle mit 50 Megabit pro Sekunde zu
        versorgen, hätten alle das 50-Fache des 1-Megabit-An-
        schlusses .
        Wir wollen also in erster Linie nicht wie Linksfrak-
        tion und Grüne den Mangel verwalten, sondern die Ka-
        pazitäten erhöhen . Vor diesem Hintergrund stellt sich
        mir die Frage, weshalb gerade Linksfraktion und Grüne
        so vehement gegen den Netzausbau durch Vectoring ab
        Hauptverteiler polemisieren, das als Übergangstechnolo-
        gie kurzfristig für immerhin rund 15 Prozent der Kund-
        schaft höhere Übertragungsraten ermöglichen würde .
        Wer glaubt, dass der Glasfaserausbau, den auch wir für
        die sinnvollste Infrastrukturmaßnahme halten, schneller
        ohne Vectoring voranginge, muss sich fragen lassen, wes-
        halb dort nicht schon längst, bevor Vectoring kommen
        konnte, mehr investiert wurde und weshalb es derzeit nur
        deshalb vorangeht, weil EU, Bund, Länder und Kommu-
        nen großzügig subventionieren . Woher der Anreiz kom-
        men soll, hier mehr zu investieren, wenn Netzneutralität
        pur kommt – so wie es der Antrag fordert – und somit ja
        gerade Geschäftsmodelle mit Gewinnanreiz total verbo-
        ten werden, steht für mich in den Sternen .
        Der auf europäischer Ebene jetzt beschrittene Weg er-
        scheint uns als der einzig sinnvolle . Das Gremium Euro-
        päischer Regulierungsstellen für elektronische Kommu-
        nikation, BEREC, ist jetzt in einem ersten Schritt seinem
        Auftrag nachgekommen, Leitlinien zur Netzneutralität
        zu entwickeln . Seit dem 6 . Juni 2016 kann man den Ent-
        wurf einsehen und kommentieren . Die Konsultations-
        phase dauert bis zum 18 . Juli . Also, liebe Oppositions-
        fraktionen, auf geht’s! Dort ist die richtige Stelle für Ihre
        Umsetzungsvorschläge, nicht hier im Bundestag .
        Auch alle anderen interessierten Kreise sind aufgeru-
        fen, zu kommentieren, bevor sich dann BEREC erneut
        mit dem Thema befassen und am 30 . August die endgül-
        tige Fassung veröffentlichen wird .
        BEREC betont die Bedeutung der Netzneutralität und
        definiert die Ausnahmen abschließend: Verkehrsmanage-
        ment zur Erfüllung rechtlicher Anforderungen, Wahrung
        von Netzintegrität und -sicherheit sowie Bewältigung
        von Überlastungen, jeweils unter der Bedingung der
        Gleichbehandlung gleichwertiger Daten . Es werden die
        verschiedenen Arten von Diensten definiert, die Ausnah-
        mebedingungen, unter denen Zero-Rating zulässig sein
        könnte, ebenso das Verkehrsmanagement, Spezialdiens-
        te, Transparenz usw . Schließlich wird beschrieben, wel-
        che Aufgaben die nationalen Regulierungsbehörden bei
        der Durchsetzung dieser Vorschriften haben .
        An dieser Stelle zurück zum Antrag der Linksfrakti-
        on . Sie spricht der Bundesnetzagentur die Legitimation
        ab, festzustellen, was ein „diskriminierungsfreier Netz-
        zugang“ ist . Mit Verlaub: Im Rahmen des TKG und der
        dazugehörigen Verordnungen gehört es zum Alltagsge-
        schäft der Regulierungsarbeit der Bundesnetzagentur,
        mit solchen Begriffen umzugehen . Die EU-Verordnung
        und die BEREC-Regeln werden es der Bundesnetzagen-
        tur genauso ermöglichen, dies auszulegen . Ich wüss-
        te nicht, weshalb in diesem Fall der Gesetzgeber dazu
        besser befähigt wäre . Der Antrag der Linksfraktion gibt
        darauf leider keine Antwort . Deshalb und aus all den
        anderen Gründen empfehlen wir die Annahme der Be-
        schlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und
        Energie, gerade im Interesse einer praktikablen Durch-
        setzung der Netzneutralität .
        Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Das Internet ist in
        Gefahr . Zumindest das Internet, so wie wir es kennen .
        Wir sind drauf und dran, das Internet als Medium für alle
        zu verlieren. Schuld sind die Profitinteressen einiger we-
        niger Konzerne . Sie wollen aus dem Mitmach-Internet
        ein Geldmach-Internet machen . Herauskommen wird
        ein Zwei-Klassen-Internet, in dem diejenigen, die wenig
        besitzen, nur noch Basis-Funktionen und diejenigen, die
        bereit sind, Geld locker zu machen, alle Funktionen nut-
        zen können . Das klingt alles sehr drastisch, aber das wird
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17741
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        Ergebnis der EU-Verordnung sein, die Ende letzten Jah-
        res verabschiedet wurde und das Prinzip der Netzneutra-
        lität aushöhlt . Wir müssen endlich gewahr werden, dass
        Netzneutralität nichts anderes ist als die soziale Frage
        des digitalen Zeitalters . Doch so weit muss es nicht kom-
        men . Denn die EU-Verordnung bietet die Möglichkeiten,
        Netzneutralität weitestgehend zu sichern und das Netz
        für alle offen zu halten .
        Derzeit diskutiert die europäische Regulierungsbehör-
        de BEREC darüber, wie die EU-Verordnung ausgelegt
        werden kann . Leider hält sich die Bundesregierung kom-
        plett aus dieser Diskussion raus und überlässt das lieber
        der Bundesnetzagentur . Wir Linke haben spätestens seit
        dem unsäglichen Vorgehen der Bundesnetzagentur bei
        ihrer Entscheidung zum Ausbau von DSL-Vectoring un-
        sere Zweifel, ob da wirklich etwas herauskommt, was
        die Nutzerinnen und Nutzer des Internets im Fokus hat
        und nicht die Profitinteressen der Konzerne. Denn was 
        die Bundesnetzagentur beim DSL-Vectoring veranstaltet
        hat, nützt ausschließlich der Telekom . Wir wollen daher,
        dass die Bundesregierung Position bezieht und selbst
        dafür sorgt, dass die Netzneutralität auf Grundlage der
        EU-Verordnung gesichert wird .
        Nun hat BEREC ihre Vorstellungen einer Interpreta-
        tion der EU-Verordnung vorgelegt . Ganz so katastrophal
        wie befürchtet sind sie zum Glück nicht . Aber es bleiben
        immer noch Schlupflöcher. Und diese Schlupflöcher sind 
        nach meiner Auffassung die Knackpunkte, will man ein
        Zwei-Klassen-Internet verhindern . Diese Knackpunkte
        heißen Zero-Rating, zweiseitige Märkte und Spezial-
        dienste . Diese stellen die größte Gefahr des neutralen
        Internets da . Und diese wären alle nach den BEREC-Plä-
        nen erlaubt .
        Wir wollen, dass zweiseitige Märkte und Zero-Ra-
        ting-Angebote untersagt werden . Zweiseitige Märk-
        te bedeutet, dass Zugangsanbieter wie beispielsweise
        die Telekom nicht nur Geld für den Internetanschluss,
        sondern noch zusätzlich für dessen Nutzung nehmen
        können . Wer schneller durchgeleitet werden will, muss
        mehr zahlen . Hierbei handelt es sich aber um Priorisie-
        rung, die nur auf kommerziellen Erwägungen beruht .
        Es hängt wohl kaum ein Leben davon ab, dass ein Vi-
        deostreamingdienst schneller durchgeleitet wird als ein
        anderer . Das ist ausschließlich eine Einnahmequelle für
        Internetanbieter . Verkehrsmanagement-Maßnahmen aus
        kommerziellen Gründen sind aber laut Artikel 3 Absatz 3
        der EU-Verordnung nicht erlaubt . Gleiches gilt auch für
        Zero-Rating-Angebote wie die schon angesprochene
        Spotify-Flatrate der Telekom . Auch das ist ein kommer-
        zielles Verkehrsmanagement und wäre nicht erlaubt . Es
        würde also der EU-Verordnung entsprechen, wenn zwei-
        seitige Märkte und Zero-Rating-Angebote explizit unter-
        sagt würden .
        Darüber hinaus fordern wir, dass priorisierte Dienste
        höchstens 5 Prozent der aktuellen Übertragungskapazität
        ausmachen dürfen, bis  ein flächendeckendes Glasfaser-
        netz aufgebaut wird . So bleibt sichergestellt, dass aus-
        reichend Netzkapazität für das offene Internet zur Verfü-
        gung steht . Als Nebeneffekt würde dies einen Anreiz für
        Telekommunikationsunternehmen bieten, das Glasfaser-
        netz schnell und umfassend auszubauen .
        Nun kann man argumentieren, dass ein solcher Antrag
        etwas spät kommt . Dieser Auffassung, unter anderem
        von den Grünen vertreten, kann ich mich nicht anschlie-
        ßen . Denn würde dieser Antrag angenommen, wäre er
        ein deutliches Signal an die Bundesregierung und auch
        an die Bundesnetzagentur, sich konsequent in den Ver-
        handlungen um die Auslegung der EU-Verordnung für
        ein wirklich neutrales Netz einzusetzen . Ich kann sie nur
        inständig darum bitten, mit uns gemeinsam dieses Signal
        zu setzen . Denn noch ist es eben nicht zu spät, um das
        Netz für alle zu sichern .
        Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
        Netzneutralität – und damit die Gleichbehandlung von
        Daten bei der Übertragung im Internet und der diskri-
        minierungsfreie Zugang bei der Nutzung von Datennet-
        zen – ist in unserer modernen und digitalen Gesellschaft
        ein hohes und schützenswertes Prinzip . Ein offenes und
        diskriminierungsfreies Netz hat große und vielfältige Be-
        deutung für Demokratie sowie wirtschaftliche Innovati-
        on . Wir als Politikerinnen und Politiker müssen uns dafür
        einsetzen, Netzneutralität effektiv zu schützen . Es darf
        nicht zu einem Zwei-Klassen-Netz kommen .
        Was da nun im vergangenen Herbst auf EU-Ebene, mit
        den Stimmen der SPD, abgestimmt wurde, ist eine klare
        Aufweichung der Netzneutralität . Die verabschiedete
        Telecom-Single-Market-Verordnung beinhaltet zahlrei-
        che Schlupflöcher und unbestimmte Rechtsbegriffe, die 
        Spezialdienste grundsätzlich ermöglichen . Dies zeigte
        sich bereits kurz nach Verabschiedung der Verordnung,
        als die Telekom just die Einführung von Spezialdiensten
        ankündigte . Zudem will die Telekom für schnelle Über-
        tragungsdienste zukünftig am Umsatz von Unternehmen
        beteiligt werden . Diese Ankündigungen sind nur ein Vor-
        geschmack dafür, wie die Netzneutralität untergraben
        wird .
        Diese Tendenz ist auch aus wirtschaftlicher Sicht
        fatal . Denn sie könnte auch zu einer Monopolisierung
        der Digitalwirtschaft führen . Um Deutschland als einen
        gründungsfreundlichen und innovationsstarken Wirt-
        schaftsstandort zu etablieren, gilt Netzneutralität als
        einer der wichtigsten Schlüssel . Um eine Vielfalt von
        Inhalten und Anbietern zu garantieren, müssen alle Un-
        ternehmen, vor allem auch kleine und Start-ups, Diens-
        te und Anwendungen im Internet ohne Diskriminierung
        und mit gleichen Chancen anbieten können – gerade
        auch, weil ein Großteil der Innovationen in Start-ups und
        bei nichtkommerziellen Anbietern entsteht . Diskriminie-
        rungsfreier Internetzugang ist somit Basis für Vielfalt in
        einer digitalisierten Gesellschaft und fördert zugleich das
        Innovationspotenzial unserer Wirtschaft .
        Die Bundesregierung hat hier klar versagt, sich auf
        EU-Ebene für den Schutz der Netzneutralität einzuset-
        zen . Indem sie nun auf die Bundesnetzagentur als Re-
        gulierungsbehörde verweist, wird die Bundesregierung
        ihrer Verantwortung nicht gerecht . Es braucht klare nati-
        onale gesetzliche Regelungen, um die Netzneutralität zu
        gewähren .
        Für eine offene und digitale Gesellschaft sowie Wirt-
        schaft brauchen wir einen allgemein verfügbaren Zugang
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617742
        (A) (C)
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        zu schnellem Internet . Dazu braucht es ein bundesweites
        Breitbandnetz, welches die infrastrukturelle Grundla-
        ge einer digitalen Gesellschaft ist . Dies so schnell wie
        möglich zu erreichen, sollte unser aller Ziel sein . Eine
        fehlende Festschreibung von Netzneutralität und damit
        die Möglichkeit, Spezialdienste mit Zusatzgebühren an-
        zubieten, steht hierzu im Widerspruch . Telekommuni-
        kationsanbieter werden sich so noch weniger bemüßigt
        fühlen, den Breitbandausbau voranzutreiben .
        Die Diskussionen um Netzneutralität führen wir seit
        Jahren . Aber es folgen keine Taten . Die Bundesregie-
        rung bleibt stumm, anstatt sich klar zu einer freien und
        digitalen Gesellschaft zu bekennen und sich durch kla-
        re Regelungen dafür einzusetzen . Ein Blick in andere
        Länder zeigt, dass dies möglich ist . In den USA hat sich
        Präsident Obama für Netzneutralität ausgesprochen und
        höchstpersönlich dafür eingesetzt, dass im vergangenen
        Sommer weitreichende Regelungen verabschiedet wur-
        den . Bezahlte Überholspuren sind danach untersagt . Zu-
        dem müssen Telekommunikationsanbieter transparent
        und verbindlich darlegen, zu welchen Preisen und mit
        welchen Geschwindigkeiten sie ihre Dienste anbieten .
        Zudem unterstützt die dortige Regulierungsbehörde FCC
        als Anlaufstelle für Bürgerinnen und Bürger und Unter-
        nehmen, wenn es Beschwerden gibt . Das zeigt, wo ein
        Wille ist, ist auch ein Weg .
        Insgesamt unterstützen wir die Intention des vorge-
        legten Antrags, Netzneutralität gesetzlich zu sichern .
        Allerdings kommt der Antrag zu spät und spricht sich
        zudem dafür aus, einen bestimmten Prozentsatz für Spe-
        zialdienste zuzulassen – dies sehen wir kritisch . Daher
        enthalten wir uns .
        Anlage 5
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags der Fraktionen der
        CDU/CSU und SPD: Den europäischen Binnen
        markt weiter vertiefen – Bewährte Standards er
        halten (Tagesordnungspunkt 18)
        Astrid Grotelüschen (CDU/CSU): Der vorliegende
        Antrag „Den europäischen Binnenmarkt weiter vertie-
        fen – Bewährte Standards erhalten“ reiht sich in eine Viel-
        zahl von Anträgen und Maßnahmen wie zum Beispiel die
        Transparenzinitiative und unseren Entschließungsantrag
        aus dem Januar diesen Jahres: „Berechtigte Interessen
        des Handwerks und der Freien Berufe im europäischen
        Binnenmarkt schützen“ ein, die wir als CDU/CSU-Frak-
        tion in den vergangenen drei Jahren initiiert haben .
        Wir stellen insbesondere die spezielle Bedeutung des
        Binnenmarktes für einen freien Handel mit Produkten
        und Dienstleistungen in den Mittelpunkt unserer Aus-
        führungen . Die im Oktober 2015 veröffentlichte Kom-
        missionsmitteilung spricht von 23 Einzelmaßnahmen . Im
        Bereich der Dienstleistungen, der Freien Berufe und im
        Handwerk sollen davon alle Punkte bis 2017 umgesetzt
        werden .
        Mit unserem Antrag und der heutigen Diskussion hat
        sich der Bundestag vor dem Hintergrund der Binnen-
        marktstrategie der Europäischen Kommission ein weite-
        res Mal zu den bewährten Strukturen im Handwerk und
        den Freien Berufen bekannt . Es muss aber in diesem Zu-
        sammenhang weiterhin betont werden, dass die Kompe-
        tenz der Mitgliedstaaten insgesamt für Berufsregelungen
        nicht infrage gestellt werden darf . Aus meiner Sicht eines
        der wichtigsten politische Signale in Richtung Brüssel .
        Wir sollten heute ein weiteres Signal setzen . Denn im
        Bereich des Binnenmarkts ist es ganz klar so, dass die
        vorgelegte Binnenmarktstrategie der KOM zwar im Kern
        zu begrüßen ist, aber Deutschland auf europäischer Ebe-
        ne immer wieder mit angeblich „bestehenden Hindernis-
        sen“ auf dem Dienstleistungsmarkt konfrontiert wird .
        Wir dürfen uns hierbei aus meiner Sicht nicht verun-
        sichern lassen . Im Gegenteil: Wir müssen sorgfältig da-
        rauf achten, dass bestimmte geplante Maßnahmen, die
        die Stärke der Freien Berufe und auch des Handwerks
        ausmachen, nicht durch Deregulierung konterkariert
        werden .
        Ich möchte exemplarisch einige Beispiele hervorhe-
        ben:
        Die KOM will mit einem Dienstleistungspass, mit ei-
        nem einheitlichen Mitteilungsformular und einem elek-
        tronischen Dokumentenverzeichnis „für mehr Sicher-
        heit“ sorgen und Hindernisse für Anbieter, die auf andere
        EU-Märkte expandieren möchten, abbauen .
        Zudem wird ein Analyseraster vorgeschlagen, auf das
        die Mitgliedstaaten zurückgreifen können, wenn sie be-
        stehende Vorschriften prüfen oder zusätzliche einführen .
        Schließlich will die KOM „regulatorischer Hindernis-
        se“ abbauen, zu denen unterschiedliche Rechtsformen,
        Anforderungen an die Beteiligungsverhältnisse und so-
        genannte „multidisziplinäre Einschränkungen“ für wich-
        tige Unternehmensdienstleistungen gehören .
        Ziel der Binnenmarktstrategie ist die Vertiefung des
        gemeinsamen Binnenmarkts und der Abbau „ungerecht-
        fertigter Regulierung“, zu der aus Sicht der Europäischen
        Kommission eben auch zahlreiche berufsrechtliche Re-
        gelungen der Freien Berufe und des Handwerks gehören .
        Wir wollen und müssen aber dafür sorgen, dass deutsche
        Produkte und Dienstleistungen zukünftig noch besser
        vermarktet werden können . Und auch deshalb darf es
        nicht zu einer Senkung der Qualitätsstandards oder gar
        zur Einführung des Herkunftsprinzips „durch die Hinter-
        tür“ kommen .
        Ich denke, wir haben mit dem vorliegenden Antrag
        drei grundlegende Themenblöcke markiert: in erster Li-
        nie wirtschaftspolitische Fragen mit dem Blick auf die
        Stärkung des Binnenmarktes, den „Motor Europas“ . Zu-
        dem setzen wir zwei wichtige, zusätzliche Signale: Die
        Weiterentwicklung darf auf keinen Fall zu mehr Büro-
        kratie führen, und sie muss unter der Einhaltung der Sub-
        sidiarität vollzogen werden .
        Bei der Vielzahl der Themen innerhalb der Binnen-
        marktstrategie gilt es die Kernanliegen deutlich zu ma-
        chen, das heißt Schwerpunkte zu setzen .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17743
        (A) (C)
        (B) (D)
        Zentrale Forderungen unseres Antrages sind:
        Praxisrelevante Binnenmarkthindernisse angehen .
        Wir wollen keine neue Bürokratie aufbauen . Wir wollen
        bei möglichst allen angekündigten Maßnahmen auf Prak-
        tikabilität achten .
        Wir wollen kein Herkunftslandprinzip „durch die Hin-
        tertür“ – etwa bei Versicherungsvorschriften oder durch
        den Dienstleistungspass .
        Ebensowenig wollen wir den Anwendungsbereich der
        DL-Richtlinie „durch die Hintertür“ ausweiten .
        Es muss klar werden und notfalls beharrlich immer
        wieder betont werden, dass Berufszugangs- und Be-
        rufsausübungsregelungen nur eingebettet im jeweiligen
        nationalen Kontext sinnvoll zu bewerten sind . Meine
        Kollegin Barbara Lanzinger wird später diesen Aspekt
        hervorheben .
        Die genannten Punkte bedeuten für die EU, dass sie
        im internationalen Standortvergleich auf Wachstum und
        zugleich auf Qualitätswettbewerb setzen muss .
        Es bedeutet außerdem, dass Verbraucherschutz als
        wichtiges Politikziel erkannt werden muss . Wir können
        nicht ausschließlich auf ökonomische Aspekte abzielen,
        denn freiberufliche Dienstleistungen sind nicht „normier-
        bar“ .
        An dieser Stelle möchte ich kurz – als Berichterstat-
        terin für die Freien Berufe – auf aktuelle Zahlen hinwei-
        sen: Als Arbeitgeber beschäftigen die rund 1,3 Millionen
        selbstständigen  Freiberufler  in  Deutschland  mittler-
        weile über 3,3 Millionen Mitarbeiter – darunter circa
        122 500 Auszubildende . Gemeinsam wird ein Jahresum-
        satz von rund 370 Milliarden Euro erwirtschaftet und
        somit knapp über 10 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt
        beigesteuert .
        Diese Zahlen sollten wir bei den möglichen Auswir-
        kungen im Falle einer falschen Weichenstellung der
        europäischen Binnenmarktpolitik auf die deutsche Wirt-
        schaft immer im Hinterkopf behalten .
        Zur Weiterentwicklung des Binnenmarktes brauchen
        wir nicht immer neue Regelwerke . Wenn zum Beispiel
        ein Dienstleitungsausweis keinerlei Mehrwert für die
        davon in der Praxis betroffenen Unternehmen bietet,
        brauchen wir ihn vielleicht auch nicht . Was wir hingegen
        einfordern müssen, ist vor allem eine zielgerichtete, effi-
        ziente Umsetzung und Anwendung schon beschlossener
        Maßnahmen .
        Mit unserem Antrag verbinden wir deshalb zum Bei-
        spiel auch die Absicht, dass der Deutsche Bundestag die
        Europäische Kommission auffordert, im „Bereich Un-
        ternehmen“ ein umfangreiches KMU-Programm in An-
        griff zu nehmen, um die Sichtbarkeit der europäischen
        KMU-Politik weiter zu erhöhen . Denn es ist notwendig,
        dass kleine und mittlere Unternehmen die Potenziale des
        Binnenmarktes optimal nutzen und wachsen können –
        auch über nationale Grenzen hinaus .
        Wir werden die europäischen Rechtssetzungsprozesse
        zur Umsetzung auch der digitalen Binnenmarktstrategie
        weiter eng begleiten . Unser gemeinsames Ziel dabei ist
        ein Binnenmarkt, der es Bürgern und Unternehmen er-
        möglicht, ihre Chancen optimal zu nutzen, um an den
        Vorteilen dieses Binnenmarktes teilhaben zu können .
        Seit 1992 trägt der Binnenmarkt, eine der größten Er-
        rungenschaften der europäischen Integration, zu Wachs-
        tum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung in den
        Mitgliedstaaten bei . Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
        möchte, dass das so bleibt, und dass Deutschland mit
        seinen hohen Standards seine erfolgreiche Vorreiterrolle,
        von  der  unsere Bürger  und  unsere Unternehmen  profi-
        tieren, behält . In diesem Sinne bitte ich um Ihre Unter-
        stützung .
        Barbara Lanzinger (CDU/CSU): In diesen Tagen
        ist das Thema Europa wieder sehr präsent in der öffent-
        lichen Debatte . Wie wichtig die Europäische Union für
        unser aller Wohl ist, für eine starke Wirtschaft und für
        Frieden und Zusammenhalt in Europa, bedarf hier kei-
        ner weiteren Ausführung . Allerdings – und das sehen wir
        auch am heutigen Referendum der Briten zum Verbleib
        in der Europäischen Union – gibt es große Herausfor-
        derungen, die wir bewältigen müssen . Wir müssen der
        Tatsache ins Auge schauen, dass es Menschen gibt, die
        die Vorteile der Europäischen Union infrage stellen .
        An dieser Stelle möchte ich den früheren tschechi-
        schen Staatspräsidenten Vaclav Havel zitieren: „Wenn
        die Einwohner Europas begreifen lernen, dass es sich
        nicht um ein bürokratisches Monstrum handelt, das ihre
        Eigenständigkeit einschränken oder gar leugnen möchte,
        sondern lediglich um einen neuen Typus von Gemein-
        schaft, der ihre Freiheit vielmehr wesentlich erweitert,
        dann braucht der Europäischen Union um ihre Zukunft
        nicht bange zu sein .“
        Damit ist auf den Punkt gebracht, was meiner Ansicht
        nach ein Teil unseres aktuellen Problems ist: Die Sorge
        vor einem Zuviel an europäischer Regulierung und der
        Aushöhlung des Subsidiaritätsprinzips gefährden die
        Akzeptanz der Europäischen Union . Mit anderen Worten
        muss hinsichtlich der Gesetzgebung aus Europa gelten:
        So viel wie nötig, aber so wenig wie möglich .
        Dieses Prinzip motiviert auch den vorliegenden An-
        trag zur Binnenmarktstrategie der Europäischen Kom-
        mission . Der europäische Binnenmarkt ist ganz ohne
        Zweifel eine große Errungenschaft und hat entscheidend
        zur Wettbewerbsfähigkeit und zum Wohlstand in Euro-
        pa beigetragen . Wir begrüßen daher, dass die Kommis-
        sion sich nun der Modernisierung des Binnenmarkts
        annimmt . Gleichzeitig wirft die Strategie aber auch an
        vielen Stellen Fragen auf .
        Deshalb richten wir uns mit unserem Antrag nicht nur
        an die Bundesregierung mit der Bitte, die Haltung des
        Deutschen Bundestages zur Binnenmarktstrategie mit
        Nachdruck gegenüber der Kommission zu vertreten, son-
        dern explizit auch an die Kommission selbst .
        Der Deutsche Bundestag hat bisher noch nicht um-
        fassend zur Binnenmarktstrategie Stellung genommen,
        sondern lediglich zu wichtigen Teilbereichen . In diesem
        Antrag findet sich nun eine Positionierung zu allen Po-
        litikfeldern, die in der Strategie angesprochen sind . Ich
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617744
        (A) (C)
        (B) (D)
        möchte mich aber auf einige aus meiner Sicht entschei-
        dende Punkte konzentrieren .
        Wir machen explizit deutlich, wie wichtig dem Deut-
        schen Bundestag die in Deutschland bewährten Berufs-
        zugangs– und Ausübungsregeln und Honorarordnungen
        für Freie Berufe und Handwerk sind . Diese müssen un-
        bedingt weiterhin möglich bleiben, denn sie sichern Qua-
        lität und die Exzellenz, für die wir international geschätzt
        werden .
        Sie dienen außerdem dem Verbraucherschutz . Das be-
        tone ich ausdrücklich, denn aus meiner Sicht wird viel
        zu häufig eine reine Preisbetrachtung angestellt, die eben 
        nur vermeintlich im Verbraucherinteresse ist . Die Siche-
        rung der Qualitäts- und Ausbildungsstandards, also die
        Professionalität der Leistungserbringung und der Erhalt
        der Angebotsvielfalt, sind aber genauso wichtig für den
        Verbraucherschutz .
        Was wir nicht wollen, ist, dass die Vorschläge der
        Kommission zum Abbau von Regulierungshemmnissen
        bei den reglementierten Berufen die mitgliedstaatliche
        Regelungskompetenz infrage stellen .
        Es ist auch fraglich, ob es überhaupt notwendig ist,
        in die gewachsenen Strukturen der nationalen Staaten
        derart einzugreifen, wie es die Kommission an einigen
        Stellen tut – beispielsweise, indem sie sich gegen die
        Mindestsätze der Honorarordnung für Architekten und
        Ingenieure wendet . Zum einen schützen die Mindestsätze
        vor einem Preisunterbietungswettbewerb, der die Exis-
        tenz unserer Betriebe vor Ort sichert und, wie gesagt, die
        Qualität der Leistung garantiert .
        Zum anderen fehlt ein Nachweis darüber, dass ein tat-
        sächlicher Bedarf für eine Deregulierung besteht, dass
        also tatsächlich eine nennenswerte Anzahl an ausländi-
        schen Unternehmen in diesem Bereich auf den deutschen
        Markt drängen würde, wenn es unsere Berufsregelungen
        nicht gäbe . Die größten Hürden dürften doch wohl eher
        Sprachbarrieren und mangelnde Praktikabilität einer
        Leistungserbringung im Ausland sein .
        Außerdem ist die Mobilität von Selbstständigen und
        abhängig Beschäftigten im Binnenmarkt aus unserer
        Sicht bereits über die Regelungen zur Anerkennung von
        Berufsqualifikationen hinreichend abgesichert. 
        Aus ähnlichen Gründen ist auch fraglich, ob es über-
        haupt eine Notwendigkeit für den sogenannten Dienst-
        leistungspass gibt, den die Europäische Kommission
        plant . Jedenfalls darf dieser nicht zu einer Einführung
        des Herkunftslandprinzips durch die Hintertür führen .
        Regelungen, die dem Schutz der Arbeitnehmer dienen,
        wie zum Beispiel der Mindestlohn, müssen unbedingt
        erhalten bleiben .
        Was die Vergabe öffentlicher Aufträge betrifft, hat
        die Europäische Kommission 2014 ein umfassendes
        Richtlinienpaket vorgelegt, dessen Umsetzungsfrist im
        April 2016 abgelaufen ist und das in Deutschland frist-
        gerecht umgesetzt wurde . Bevor nun weitere gesetzge-
        berische Maßnahmen ergriffen werden, sollte erst einmal
        die Umsetzung in allen Mitgliedstaaten abgewartet und
        evaluiert werden . Auch müssen wir vermeiden, dass es
        zu neuen oder zusätzlichen bürokratischen Lasten wie
        zum Beispiel Berichts- und Informationspflichten für die 
        Mitgliedstaaten kommt .
        Last but not least möchte ich betonen, dass wir es be-
        grüßen, dass die Kommission sich dem Bereich der so-
        genannten „Sharing Economy“ oder der partizipativen
        Wirtschaft annimmt . Dies ist ein spannender Bereich, der
        jede Menge Innovationspotenzial für die Wirtschaft be-
        inhaltet . Ganz besonders relevant ist er für den Bereich
        Tourismus, zum Beispiel bei Online-Plattformen für pri-
        vate Übernachtungsangebote oder Transportmöglichkei-
        ten .
        Hier gilt es, das richtige Augenmaß zu bewahren, um
        diesen neuen Bereich gut zu gestalten und Innovationen
        zu ermöglichen, ohne dass es zu Wettbewerbsverzerrun-
        gen kommt . Und auch hier halte ich es für unabdingbar,
        dass den Mitgliedstaaten bei einer Europäischen Agenda
        für die Sharing Economy Gestaltungsspielraum einge-
        räumt wird .
        Ich betone noch einmal: Weniger ist manchmal mehr,
        und gerade in diesen Tagen ist es wichtiger denn je, den
        europäischen Binnenmarkt mit Augenmaß und auch mit
        einer gewissen Zurückhaltung zu gestalten .
        Matthias Ilgen (SPD): Fakt ist: Im Vergleich zu den
        USA, aber auch zu aufstrebenden Wettbewerbern aus
        China, Südkorea oder Israel entwickelt sich die digitale
        Wirtschaft in Europa zu langsam . In der Binnenmarktstra-
        tegie, über die wir heute beraten, widmet sich die Kom-
        mission daher zu Recht der partizipativen Wirtschaft . Ich
        begrüße es, dass die Kommission sich in jüngster Zeit
        verstärkt der digitalen Wirtschaft annimmt . Zwar haben
        wir auch bei uns viele gute Ideen für diesen neuen Wirt-
        schaftszweig, die erfolgreichsten Unternehmen haben ih-
        ren Sitz aber in den USA . Daher ist der Ansatz der Kom-
        mission richtig, zu untersuchen, wie Hemmnisse gerade
        für die partizipative Wirtschaft innerhalb der EU abge-
        baut werden können . Ich denke dabei beispielsweise an
        das immer noch verbreitete Geoblocking, das es in einem
        Binnenmarkt eigentlich nicht geben dürfte . Was wir aber
        nicht wollen, sind neue Geschäftsmodelle, die sich auf
        Kosten von sozialer Sicherung, Verbraucherschutz und
        Arbeitnehmerrechten durchsetzen .
        Unsere volle Unterstützung hat die Kommission, wenn
        sie Bürokratie abbauen will für Unternehmen, die über
        die Grenzen hinweg expandieren wollen . Das zentrale
        digitale Zugangstor, mit dem verschiedene Onlinediens-
        te der EU zur Information und Unterstützung für KMU
        gebündelt werden, ist ein Schritt in die richtige Richtung .
        Auch eine einheitliche Normung in Europa würde für
        Hersteller und Dienstleister in der EU vieles erleichtern .
        Die gemeinsame Normungsinitiative der Kommission
        begrüßen wir deshalb ausdrücklich .
        Wenn die EU-Kommission die Zuwanderung von un-
        ternehmerischen Talenten in die EU fördert, kann sie auf
        die Unterstützung der SPD zählen . Hier geht es nicht um
        einen Verdrängungswettbewerb mit bereits in Europa le-
        benden Menschen, sondern darum, die EU attraktiv zu
        machen für Männer und Frauen, die ihre Arbeit nicht nur
        für sich selbst, sondern auch für andere mitbringen . In
        Deutschland haben wir mit unserem Aufenthaltsgesetz
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17745
        (A) (C)
        (B) (D)
        bereits die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen, da-
        mit Unternehmer das Silicon Valley in Richtung Berlin
        verlassen können .
        Gemeinsam mit meiner Fraktion unterstütze ich das
        Ziel der Kommission, den Binnenmarkt für Unterneh-
        men attraktiver zu machen . Fest steht für mich auch, dass
        dabei Arbeitnehmerrechte, fairer Wettbewerb und Ver-
        braucherschutz nicht auf der Strecke bleiben dürfen .
        Sabine Poschmann (SPD): Der gemeinsame Bin-
        nenmarkt gehört ohne Zweifel zu den größten Erfolgen
        der Europäischen Integration . Unternehmen können ihre
        Waren ungehindert und ohne Zölle über nationale Gren-
        zen hinweg vertreiben . Die Bürgerinnen und Bürger ge-
        nießen Reisefreiheit und können selber entscheiden, in
        welchem Land der EU sie leben, lernen und arbeiten oder
        vielleicht eine Firma gründen wollen . Mir ist weltweit
        kein zweiter Wirtschaftsraum dieser Art bekannt!
        An dieser Stelle sei erwähnt, dass auch unsere briti-
        schen Freunde einen wesentlichen Beitrag zum Gelingen
        dieses gemeinsamen Marktes geleistet haben – allein
        schon deshalb wäre ihr Austritt aus der EU höchst be-
        dauerlich .
        Der gemeinsame Markt hat Europa auf vielen Gebie-
        ten zusammenrücken lassen . Deshalb begrüßen wir, dass
        die EU-Kommission den Binnenmarkt weiterentwickeln
        will und sich neuen Herausforderungen annimmt .
        Dazu gehört ohne Frage die Digitalisierung der Wirt-
        schaft . Viele Branchen verändern sich, neue Geschäfts-
        modelle entstehen, Innovationen werden vorangetrieben .
        Davon sollen alle profitieren können. Das aber bedingt 
        einheitliche Spielregeln und einheitliche Rahmenbedin-
        gungen . Deshalb sind wir durchaus bereit, unsere nati-
        onalen Regeln zu prüfen . Allerdings sagen wir ebenso
        deutlich: Es gibt Grenzen . Dienstleistungen am Men-
        schen sind nicht gleichzusetzen mit Waren .
        Wir machen uns mit Nachdruck dafür stark, dass unse-
        re bewährten Standards erhalten bleiben, und eben nicht
        in eine Abwärtsspirale geraten . Vor allem nicht, wenn es
        um den Gesundheitsschutz geht, die Qualitätssicherung
        und die Rechte von Arbeitnehmern . Ich denke dabei be-
        sonders an die Berufsregeln für das Handwerk, aber auch
        an die Honorarordnungen für einige Freie Berufe .
        Warum sollen wir ein System der Transparenz, der
        Unabhängigkeit und der Kompetenz aufgeben? Es ist
        ein Irrglaube zu meinen, dass sich automatisch und per
        se mehr Wachstum und Beschäftigung einstellen . Län-
        der wie Italien, Belgien oder Österreich zeigen, dass dies
        eben nicht der Fall ist .
        Bei einigen der von der EU-Kommission angekün-
        digten Maßnahmen müssen wir genauer hinsehen . Zum
        Beispiel beim Dienstleistungspass . Mit dem Dienstleis-
        tungspass soll Bürokratie abgebaut werden . Das klingt
        natürlich gut, denn wer hätte etwas dagegen einzuwen-
        den? Wenn aber mit einem solchen Pass das sogenann-
        te Herkunftslandprinzip durch die Hintertür eingeführt
        wird, werden wir dem eine Absage erteilen . Es muss si-
        chergestellt sein, dass unsere bewährten Standards wei-
        terhin gelten . Es muss sichergestellt sein, dass jedes Land
        das Recht hat, die Einhaltung dieser Standards auch zu
        prüfen .
        Deshalb haben wir kein Verständnis für Vorschläge,
        die zum Beispiel das Fremdkapitalverbot für Kanzleien
        unterlaufen könnten . Wenn ich zu einem Rechtsanwalt
        gehe, möchte ich weiter sicher sein, dass er meine Inte-
        ressen vertritt und nicht die fremder Kapitalgeber oder
        Anteilseigner .
        Wir senden ein klares Signal an die EU-Kommission:
        Ja, wir möchten den europäischen Binnenmarkt wei-
        terentwickeln . Ja, wir möchten Maßnahmen, mit denen
        wir Bürokratie abbauen, Verfahren vereinfachen und be-
        stimmte Standards vereinheitlichen .
        Was wir nicht möchten, sind der Abbau von Arbeit-
        nehmerrechten sowie Verschlechterungen beim Ver-
        braucherschutz und bei der Qualität von Produkten und
        Dienstleistungen .
        Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Es mutet schi-
        zophren an, dass zu einem Zeitpunkt, zu dem die aus-
        einanderstrebenden Fugalkräfte in der EU mittlerweile
        unübersehbar geworden sind und munter von rechten
        Regierungen bespielt werden, die Koalitionsfraktionen
        einen Antrag einbringen, der sich zur Binnenmarktstra-
        tegie der Kommission verhält, während wenig bis nichts
        aus dieser Ecke zu den Zerfallstendenzen in der EU zu
        vernehmen ist . Just heute stimmen die Briten über den
        Austritt aus der EU ab . Bildlich gesprochen ist das Fun-
        dament des „Hauses Europa“ am Zerbröseln, aber die
        Koalition möchte im Erdgeschoss weiter rumwerkeln .
        Verrückt .
        Allerdings ist der gemeinsame Binnenmarkt durch-
        aus Synonym für die Ursachen dieses Zerfallsprozesses .
        Denn die europäische Integration hauptsächlich über ei-
        nen gemeinsamen Binnenmarkt gestalten zu wollen, der
        so konstruiert ist, dass sich sowohl die Arbeitenden als
        auch die Unternehmen der Mitgliedsländer gegenseitig
        niederkonkurrieren und staatliche Interventionsmöglich-
        keiten zugunsten einer anderen, nicht neoliberalen Wirt-
        schaftspolitik verunmöglicht werden, muss über kurz
        oder lang zwangsweise zu ihrem Scheitern führen . Die
        Finanzkrise und die Schäuble’schen „Lösungskonzepte“
        waren da nur noch der Brandbeschleuniger .
        Statt den Zusammenschluss des weltgrößten Wirt-
        schaftsraums für harmonisierte und koordinierte Min-
        deststandards zu nutzen und diese auf dem Weltmarkt zu
        behaupten, basteln die EU-Eliten aber lieber an TTIP mit
        den USA und CETA mit Kanada . Auch da geht es nicht
        um eine Harmonisierung auf höchstem Niveau, sondern
        um möglichst viel „Beinfreiheit“ für große Konzerne
        und Banken . Dagegen kann nur Sozialstaatlichkeit im
        Primärrecht Grenzen setzen .
        Es muss wohl Ignoranz sein, denn Sie scheinen ja
        ernsthaft zu glauben, dass die Bürger der EU dauerhaft
        akzeptieren, dass sie Mitglied eines Vereins sind, der sie
        aufeinander hetzt, sie gegeneinander ausspielt und der
        Wirtschaft den Primat gegenüber der Politik einräumt .
        Wirtschaftliche Interessen sind originär Interessen von
        Einzelnen, bestenfalls kleinen Kreisen . Politik, zumal in
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617746
        (A) (C)
        (B) (D)
        demokratisch verfassten Systemen, soll aber den Interes-
        sen der Mehrheit zu Geltung verhelfen und die benach-
        teiligter – wohlgemerkt benachteiligter! – Minderheiten
        berücksichtigen .
        Das würde bedeuten, für einen vertraglichen Neustart
        der EU einzutreten, der gemeinsame soziale Mindest-
        standards und eine koordinierte Lohnpolitik festlegt, eine
        harmonisierte Unternehmensbesteuerung durchsetzt, die
        Finanzmärkte endlich streng reguliert und eine Zentral-
        bank installiert, deren Geld- und Währungspolitik nicht
        völlig abgekoppelt ist von politischen Konstellationen
        und Zielstellungen . Die Banker der EZB sind nämlich
        weder demokratisch legitimiert noch müssen sie sich ir-
        gendwo rechtfertigen .
        Gegenwärtig haben die Menschen den Eindruck, dass
        es fast egal ist, wen sie wählen, da ja sowieso alles „al-
        ternativlos“ sei . An dieser Wahrnehmung ist viel dran .
        Diesen Schuh muss sich aber das politische Personal von
        CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP anziehen . Die haben
        in trauter Einigkeit jahrelang die EU- und vor allem Kri-
        senpolitik gemeinsam getragen .
        Ändert sich nicht schleunigst etwas an den benannten
        Punkten, wird das nicht nur das Ende der EU, sondern –
        das gemahnt der Blick nach Ungarn oder Polen – wo-
        möglich auch das der neuzeitlichen Demokratie . Denn
        auch der europaweite Frust, die Geringschätzung gegen-
        über Politikern, der Erfolgsrausch von Rechtspopulisten
        und Nationalisten haben hier ihren Ursprung .
        Wie auch immer: Nach dem heutigen Brexit-Refe-
        rendum wird die EU nicht mehr dieselbe sein . Geben Sie
        der EU einen Verstand aus Rechts- und Sozialstaatlich-
        keit und ein Herz aus Solidarität!
        Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Der europäische Binnenmarkt hat eine überragen-
        de Bedeutung für die deutsche Volkswirtschaft . Knapp
        60 Prozent der deutschen Exporte gingen 2015 in Länder
        der EU . Wohlstand und Lebensqualität in Deutschland
        wie in Europa sind eng verknüpft mit einem funktionie-
        renden europäischen Binnenmarkt . Umso wichtiger ist
        es, dass dieser Binnenmarkt ständig weiterentwickelt
        wird, um mit technologischen, aber auch gesellschaftli-
        chen Veränderungen Schritt zu halten .
        Und was legt uns die Große Koalition dazu heute vor?
        Ein Papier mit 39 Spiegelstrichen – ohne erkennbare Fo-
        kussierung auf die wirklich drängenden Themen, ohne
        Ordnungsprinzip und in vielen Punkten diktiert von den
        Interessengruppen . Das ist keine Binnenmarktstrategie,
        das ist ein Luftballon mit viel heißer Luft, aufgeblasen
        von den Lobbyverbänden . Was nutzt, wird gelobt, und
        wenn auch mal von der Bundesrepublik regulatorische
        Anpassungen eingefordert werden, um Hemmnisse im
        Binnenmarkt abzubauen, wird der Status quo aufs Äu-
        ßerste verteidigt, egal ob es Sinn macht oder nicht .
        Lassen Sie mich das an einem Beispiel erläutern: Im
        Handwerksbereich ist es nach wie vor so, dass Unter-
        nehmen aus anderen Staaten der EU sehr viel leichter
        Dienstleistungen erbringen können als Handwerker aus
        der Bundesrepublik, die keine Meisterprüfung abgelegt
        haben . Während es teilweise sehr viel leichter ist, sich
        in einem anderen EU-Land selbstständig zu machen, be-
        stehen hier oft hohe Hürden . Das ist nicht per se schlecht
        oder falsch . Aber es ist ein objektiver Nachteil für Ar-
        beitskräfte aus der Bundesrepublik . Vorschläge, wie das
        verhindert werden kann, findet man bei Ihnen im Antrag 
        vergeblich. Man findet keine Aussagen darüber, dass wir 
        in Deutschland ohne Zweifel einen hohen Qualitätsstan-
        dard erhalten und vielleicht wiedererlangen wollen – ich
        verweise auf die immer mehr um sich greifenden Män-
        gel im Bauwesen –, wir im Hinblick auf die Niederlas-
        sungsfreiheit aber neue Überlegungen zu einer Öffnung
        der Handwerksordnung bei gleichzeitiger Stärkung der
        Qualitätsanforderungen brauchen .
        Auch verlieren Sie kein Wort über eine stärkere Har-
        monisierung des europäischen Unternehmenssteuer-
        rechts . Gerade hier existieren große Verzerrungspoten-
        ziale des europäischen Binnenmarktes . Natürlich sollte
        nicht die nationale Steuerrechtskompetenz infrage ge-
        stellt werden . Aber die Zersplitterung des europäischen
        Binnenmarktes in 28 unterschiedliche Unternehmens-
        steuerrechte führt dazu, dass internationale Konzerne
        effektiv deutlich niedrigere Steuern zahlen als rein na-
        tional tätige Unternehmen . Sie suchen sich die günstigs-
        ten Regelungen und sorgen damit dafür, dass der inner-
        europäische Steuerwettbewerb zwischen Staaten immer
        schädlichere Züge angenommen hat . Eine gemeinsame
        Bemessungsgrundlage für die Körperschaftsteuer und
        europäische Mindeststeuersätze würden das beheben und
        so auch ein Stück weit den EU-Binnenmarkt stärken . Zu-
        gegeben, ein hartes Stück Arbeit, aber es gehört unbe-
        dingt auf die Agenda .
        Gleiches gilt bei der Mehrwertsteuer . Die Koalition
        mahnt hier zu Recht an, dass die neuen Vorschläge der
        Kommission nicht zulasten des nationalen Steuerauf-
        kommens gehen dürfen . Es ist geradezu absurd, dass die
        Kommission hier wieder ein Stück weit zurück von der
        Harmonisierung gehen will . Die Bundesregierung beför-
        dert das Ganze allerdings noch durch ihren lobbygetrie-
        benen Einsatz für eine mehrwertsteuerliche Ermäßigung
        für elektronische Dienstleistungen . Wir haben das Pro-
        blem, dass die großen Internetkonzerne sich sehr ein-
        fallsreich und legal einer Steuerzahlung entziehen . Der
        Mehrwertsteuer können sie sich aktuell nur schlecht ent-
        ziehen . Es ist also falsch, dass Union und SPD hier auf
        die Einflüstereien der Internetkonzerne hören. 
        Damit fehlen in Ihrem Antrag wichtige Elemente, die
        zum europäischen Binnenmarkt dazugehören . Richtig
        sind ihre Feststellungen und Forderungen zum Erhalt so-
        zialer und verbraucherschutzrechtlicher Standards . Dass
        sie dabei die ökologischen Standards nicht erwähnen,
        zeigt allerdings ihr Desinteresse an dieser Stelle .
        Insgesamt dürfen hohe ökologische oder soziale Stan-
        dards in der Tat nicht durch das Herkunftslandsprinzip
        oder europäische Rechtsformen für kleine und mittlere
        Unternehmen ausgehebelt werden . Hier sprechen wir
        also mit einer Stimme, wenn es darum geht, Arbeitneh-
        merinnen- und Arbeitnehmerinteressen und Mitbestim-
        mungsrechte zu wahren und andere schädliche Gestal-
        tungen zu verhindern . Auch mit anderen Punkten aus
        Ihrem Antrag stimmen wir überein: Eine KMU-Strategie
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17747
        (A) (C)
        (B) (D)
        kann helfen, Wettbewerbsnachteile kleiner und mittle-
        rer Unternehmen am internationalen Markt zu beheben .
        Auch die europäische Bürokratie sollte maßvoller wer-
        den . Hier versagt die Bundesregierung aber schon im
        eigenen Land .
        Meine Damen und Herren, ich hätte mir einen Antrag
        gewünscht, der klarere Akzente setzt, in den Bereichen
        der Dienstleistungen, des Steuerrechts, der Digitalisie-
        rung und der damit verbundenen Chancen . Das kann ich
        bei dem vorliegenden Antrag nicht erkennen, deshalb
        können wir dem Antrag nicht zustimmen . Da viele –
        nicht alle – Einzelpunkte aber durchaus richtige Sach-
        verhalte adressieren, werden wir uns zu diesem Antrag
        enthalten, verbunden mit der Aufforderung an die Große
        Koalition, nachzuarbeiten und klarer die Zukunftsfelder
        herauszuarbeiten .
        Anlage 6
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU,
        SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
        NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
        Änderung des Standortauswahlgesetzes (Tages
        ordnungspunkt 20)
        Steffen Kanitz (CDU/CSU): Mit dem heute zu eva-
        luierenden Standortauswahlgesetz setzen wir Empfeh-
        lungen der Endlagerkommission zur Neuorganisation im
        Bereich der Endlagerung um .
        Allen Unkenrufen zum Trotz wird durch maßgebliche
        Impulse der Endlagerkommission die größte organisato-
        rische Neuordnung im Bereich der nuklearen Endlage-
        rung seit über 40 Jahren umgesetzt .
        Das ist ein – erster – Erfolg der Endlagerkommission,
        den man nicht hoch genug einschätzen kann . Mein Dank
        geht an das BMUB für die gute Zusammenarbeit, aber
        auch an die weiteren beteiligten Ressorts und Fachaus-
        schüsse . Wir haben ihnen mit dem verkürzten Verfahren
        einiges zugemutet, aber das hatte seinen guten Sinn:
        Zum einen endet die Arbeit der Kommission am 5 . Juli
        2016 mit der der Übergabe des Abschlussberichts an den
        Bundestagspräsidenten . Als Union ist es uns wichtig,
        dass die Empfehlungen der Kommission schnell umge-
        setzt werden . Die organisatorischen Voraussetzungen da-
        für schaffen wir heute .
        Zum anderen ist es für uns von wesentlicher Bedeu-
        tung, dass Fragen der Organisation und der Sicherheit
        nicht mit Finanzierungsfragen vermischt werden . Die
        Ergebnisse der Kommission zur Überprüfung der Finan-
        zierung des Kernenergieausstiegs (KFK) werden voraus-
        sichtlich im Herbst parlamentarisch beraten . Daher woll-
        ten wir eine klare zeitliche Trennung .
        Nun komme ich zu dem wahrscheinlich nachvoll-
        ziehbarsten Argument: Die betroffenen Mitarbeiter im
        Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), der Deutschen
        Gesellschaft zum Bau und Betrieb von Endlagern für
        Abfallstoffe mbH (DBE), der Asse GmbH, von Schacht
        Konrad sowie im Endlager für radioaktive Abfälle Mors-
        leben (ERAM) und Gorleben brauchen endlich Pla-
        nungssicherheit .
        Über die Neuorganisation im Endlagerbereich reden
        wir nun schon seit zwei Jahren, das heißt, es gibt ein Maß
        der Verunsicherung, was dazu führt, dass sich viele gute
        Fachkräfte wegbewerben .
        Wir brauchen aber in Zukunft mehr und nicht weniger
        kluge Köpfe, um die schwierige Aufgabe der Endlager-
        suche erfolgreich zu betreiben .
        Mit diesem Antrag sehen wir als Politik auch ein Zei-
        chen: Die Endlagersuche, der Rückbau und die Stillle-
        gung von Kernkraftwerken ist eine Zukunftsaufgabe, die
        uns in Deutschland noch über Jahrzehnte gut bezahlte
        Arbeitsplätze bietet .
        Wir wollen die besten Fachkräfte gewinnen, um diese
        anspruchsvolle Aufgabe zu meistern, und bitten hier um
        Unterstützung .
        Mit dem heutigen Antrag setzen wir europarechtliche
        Vorgaben zur klaren Trennung von Aufsicht und Betrieb
        um .
        Wir schaffen eine effiziente Aufbau- und Ablauforga-
        nisation und sichern eindeutige Zuständigkeiten .
        Wir bekommen einen Regulierer, der, mit klaren
        Kompetenzen ausgestattet, das Standortauswahlverfah-
        ren Schritt für Schritt überwacht .
        Wir gründen eine bundeseigene Gesellschaft, die als
        Vorhabenträger die Betreiberaufgaben von BfS, der DBE,
        Schacht Konrad, Asse GmbH, dem ERAM und Gorleben
        übernimmt und zudem eigenverantwortlich sein kann .
        Während in der Vergangenheit selbst Entscheidungen
        von untergeordneter Bedeutung einem Lauf von Pontius
        zu Pilatus gleichkamen, erhält die neu zu gründende bun-
        deseigene Gesellschaft im Wege der Beleihung hoheitli-
        che Kompetenzen und kann im Rahmen eines genehmig-
        ten Budgets eigenverantwortlich handeln .
        Diese neue Struktur wird nicht nur kostengünstiger
        sein, weil der Gewinnaufschlag entfällt, sondern insbe-
        sondere, weil die klaren Zuständigkeiten zu einer zügi-
        gen Realisierung der Projekte beitragen . Zeit ist der ent-
        behrliche Kostentreiber, und den bekommen wir jetzt in
        den Griff .
        Vor diesem Hintergrund ist es uns unverständlich,
        dass die Linke diesem Antrag nicht zustimmt . Gerade
        Ihnen war es doch so wichtig, dass wir Empfehlungen
        der Endlagerkommission umsetzen . An diesen Grundsatz
        sollten Sie sich auch halten und heute aus gutem Grunde
        mitstimmen .
        Florian Oßner (CDU/CSU): Es ist schon etwas sehr
        Besonderes, wenn ein Gesetzentwurf von allen vier im
        Bundestag vertretenen Fraktionen gemeinsam einge-
        bracht wird .
        So viel Einigkeit findet sich selten  in diesem Hohen 
        Haus, was sicher auch ein Indiz für die sehr gute Arbeit
        der Endlagerkommission ist, die im Mai 2014 ihre Arbeit
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617748
        (A) (C)
        (B) (D)
        aufgenommen hat und am 5 . Juli ihren Abschlussbericht
        vorlegen wird .
        Allen Beteiligten möchte ich deshalb zunächst meinen
        allerherzlichsten Dank aussprechen für die sehr gute und
        kollegiale Zusammenarbeit in den letzten zwei Jahren .
        Besonderes Lob verdient mein geschätzter Fraktions-
        kollege Steffen Kanitz, der als Sprecher unsere Positio-
        nen immer wieder deutlich gemacht hat .
        Lieber Steffen, du hast maßgeblich zum erfolgreichen
        Abschluss des Kommissionsberichts beigetragen – gro-
        ßen Dank dafür!
        Erstens . Weswegen Öffentlichkeitsbeteiligung?
        Die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen um die
        Lagerung radioaktiver Abfallstoffe haben gezeigt, dass
        Standortbenennungen, die intransparent vorbereitet und
        anschließend an die breite Öffentlichkeit vermittelt wer-
        den, unüberwindbare Widerstände erzeugen .
        Deswegen hat bei uns in der Endlagerkommission
        auch von Anfang an Einigkeit darüber geherrscht, dass
        die Auswahl eines Standorts für hochradioaktive Abfäl-
        le mit der bestmöglichen Sicherheit nur erfolgreich sein
        kann, wenn ein gesellschaftlicher Konsens erreicht wird .
        Zweitens . Zwischenlager, keine Endlager:
        Bei allem, aufgrund der Geschichte auch gut nachvoll-
        ziehbaren Streben danach, eine wirklich einvernehmli-
        che Entscheidung zu erreichen, müssen wir uns aber auch
        stets bewusst sein, dass wir die Verpflichtung haben, bei 
        der Suche nach einem geeigneten Standort auch zu Er-
        gebnissen zu kommen .
        Denn: Zwischenlager dürfen keine Endlager werden .
        Dies können wir der Bevölkerung in den betroffenen Re-
        gionen nicht vermitteln . So ist zum Beispiel am Standort
        Isar II bei Landshut mit dem Zwischenlager BELLA nur
        eine Notlösung geschaffen, welche von uns nie gewollt
        und nun auch so schnell wie nur irgendwie möglich auf-
        gelöst werden sollte .
        Drittens . Sinn und Zweck des Nationalen Begleitgre-
        miums:
        Ein zentrales Element der Bürgerbeteiligungen an der
        neuen Endlagersuche soll das „Nationale Begleitgremi-
        um“ sein . Was genau kann man sich hierunter vorstellen?
        Das Nationale Begleitgremium soll eine unabhängige
        gesellschaftliche Instanz sein, dessen zentrale Aufgabe
        darin besteht, den Standortauswahlprozess zu begleiten,
        zu erklären und zu überwachen .
        Das Gremium soll sich vor allem durch Neutralität
        und Fachwissen auszeichnen und schlichtend zwischen
        den Akteuren des Standortauswahlverfahrens eingreifen
        können .
        Viertens . Gründe für die Änderung des Standortaus-
        wahlgesetzes:
        Bisher war im StandAG festgelegt, dass das Begleit-
        gremium erst nach der Evaluierung des Gesetzes durch
        den Bundestag eingesetzt wird, und zwar auf Grundlage
        des Kommissionsberichtes .
        Nun besteht jedoch die Gefahr, dass zwischen der Ab-
        gabe des Berichts und dem Inkrafttreten des evaluierten
        StandAG der über die Jahre gewachsene, gute gesell-
        schaftliche Dialog abreißen könnte .
        Sowohl bei den Kommissionsmitgliedern als auch bei
        allen an diesem Gesetzentwurf beteiligten Fraktionen hat
        die Befürchtung bestanden, dass durch diesen „Faden-
        riss“ der Konsensgedanke sowie mühsam aufgebautes
        Vertrauen wieder verloren gehen könnte .
        Dies gilt es unbedingt zu verhindern, weswegen wir
        uns fraktionsübergreifend auf die vorliegende Änderung
        des Standortauswahlgesetzes verständigt haben . Denn
        die gute und harte Arbeit der Kommission, der letzten
        Jahre, darf unter keinen Umständen zunichtegemacht
        werden . Sie muss unbedingt ihren Niederschlag im spä-
        teren Suchverfahren finden.
        Das Nationale Begleitgremium muss deshalb unbe-
        dingt „ab Tag 1“ der Standortauswahl einsatzbereit sein,
        auch wenn dies zunächst nur in einer „Brückenphase“
        der Fall sein wird .
        In dieser Phase wird das Gremium zunächst aus neun
        Mitgliedern bestehen . Hiervon sollen sechs Mitglieder
        sich durch ein „gesellschaftlich hohes Ansehen“ aus-
        zeichnen und je zur Hälfte von Bundestag und Bundes-
        rat vorgeschlagen werden . Zudem sollen dem Gremium
        zwei Bürger sowie ein Vertreter der „jungen Generation“
        angehören .
        Die Amtszeit der Mitglieder wird auf drei Jahre be-
        grenzt .
        Jedes Mitglied kann insgesamt dreimal berufen wer-
        den und soll keiner gesetzgebenden Körperschaft in
        Bund oder den Ländern sowie keiner Bundes- oder Lan-
        desregierung angehören . Auch sollen die Mitglieder kei-
        ne wirtschaftlichen Interessen in Bezug auf die Standort-
        auswahl oder die Endlagerung im weitesten Sinn haben .
        Fünftens . Stand der Arbeit der Koalition:
        In Absprache mit allen Fraktionen haben wir uns da-
        für entschieden, in Anpassung an die Wahl der Mitglieder
        der Endlager-Kommission die Personen direkt durch den
        Bundestag und Bundesrat wählen zu lassen .
        Zudem sollen die zwei Bürger sowie der Vertreter
        der jungen Generation durch das Bundesministerium für
        Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit einge-
        bracht werden .
        Sechstens . Schluss:
        Ich denke, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ha-
        ben wir eine gangbare Regelung gefunden, um die gute
        und konstruktive Arbeit der letzten Jahre offen und trans-
        parent sowie mit Beteiligung der Öffentlichkeit weiter
        fortzuführen . Deswegen werbe ich ausdrücklich um Zu-
        stimmung zu dem Gesetzentwurf .
        Dr. Matthias Miersch (SPD): Der Deutsche Bundes-
        tag setzt heute ein ganz wichtiges Signal . Mit ausdrückli-
        cher Unterstützung aller im Bundestag vertretenen Frak-
        tionen setzen wir heute ein unabhängiges Gremium ein,
        das die Suche nach einem atomaren Endlager aus Ge-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17749
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        (B) (D)
        meinwohlperspektive aktiv begleiten soll . Wir nehmen
        damit Vorschläge bereits zu diesem frühen Zeitpunkt auf,
        die in der Kommission Lagerung hoch radioaktiver Ab-
        fallstoffe erarbeitet worden sind .
        Kräftig ist im Vorfeld über die Kompetenz eines sol-
        chen Gremiums diskutiert worden . Nachdem wir als Be-
        richterstatter den Vorschlag gemacht haben, wurden wir
        von Rechtsprofessoren massiv kritisiert . Es hieß sogar,
        unser Vorschlag sei mit der Verfassung nicht vereinbar .
        Wir würden in die Gewaltenteilung eingreifen wollen .
        Diese Kritik offenbart, dass die Lehren aus einem
        jahrzehntelangen Holzweg in der Endlagersuche in
        Deutschland immer noch nicht allseits anerkannt werden .
        Es geht nicht um die Schwächung von Politik und Ver-
        waltung . Es geht darum, jahrzehntelang gewachsenes –
        und in der Endlagerfrage auch begründetes – Misstrau-
        en in staatliche Strukturen wettzumachen . Das wird nur
        durch deutliche Signale der Vertrauensbildung erreicht
        werden können . Diese müssen auch institutionell abgesi-
        chert werden . Insoweit ist das Nationale Begleitgremium
        ein Mosaikstein in einer neuen Kultur der Transparenz
        und des Lernens . An den Kompetenzen der Gewalten in
        unserem Verfassungssystem wird nicht gerüttelt . Aber
        wir setzen auf ein unabhängiges Gremium, das den Pro-
        zess von Beginn an begleitet, fragt und Empfehlungen
        aussprechen kann . Es kann wissenschaftliche Expertise
        anfordern und Defizite klar benennen, wenn sie denn auf-
        treten . Dabei geht es um die gesamtgesellschaftliche Per-
        spektive . Insoweit ist es wichtig, dieses Gremium jetzt
        auf den Weg zu bringen und nicht erst, wenn Bundestag
        und Bundesrat die Empfehlungen der Endlagerkommis-
        sion ausgewertet haben . Bereits jetzt werden Behörden
        gebildet . Auch das bringen wir heute auf den Weg, sodass
        die Begleitung auf Augenhöhe von Anfang an entschei-
        dend ist .
        Dabei greifen wir direkt auch Vorschläge auf, die di-
        rekt aus den Workshops der Kommission heraus entstan-
        den sind . Von den zunächst eingesetzten neun Mitglie-
        dern des Nationalen Begleitgremiums werden drei nach
        dem Zufallsprinzip ausgewählt . Darunter wird auch eine
        Vertreterin oder ein Vertreter der jüngeren Generation
        sein . Sicher, Zufallsbürger sind kein Garant für ein faires
        Verfahren . Viele Beispiele – bis hin zu der Erarbeitung
        von Verfassungen in anderen Staaten – belegen aber, dass
        Zufallsbürger  den Prozess  positiv  beeinflussen  können. 
        Der Begründungsdruck wird gesteigert . Die Anforderun-
        gen an Plausibilität und Nachvollziehbarkeit von Ent-
        scheidungen werden erhöht . Insoweit ist auch diese Ent-
        scheidung ein wichtiger Schritt, dass wir Neues wagen .
        Wie schon erwähnt, werden wir mit dem Gesetz heute
        auch die Behördenstruktur neu regeln . Diese Novellie-
        rung basiert ebenfalls auf einem Beschluss der Endla-
        gerkommission . Entscheidende Neuerung dabei ist die
        Entprivatisierung der atomaren Entsorgungsaufgaben .
        Denn die deutsche bundeseigene Gesellschaft für kern-
        technische Entsorgung, kurz die BGE, wird als Vorha-
        benträger im Bereich der Endlagersuche fungieren und
        damit Aufgaben des Bundesamtes für Strahlenschutzes
        übernehmen, das sich bislang privater Gesellschaften als
        Verwaltungshelfer bedienen musste . Da die Verträge zum
        Teil aus den 80er-Jahren stammen und der monopolisti-
        schen Aufgabe entsprechend gestaltet sind, wird mit der
        nun angestrebten Neuordnung auf lange Sicht erhebli-
        ches Einsparpotenzial verbunden sein .
        Durch die Strukturänderung agiert das Bundesamt für
        kerntechnische Entsorgungssicherheit (BfE) zukünftig
        vollständig getrennt von der für die Auswahl, die Errich-
        tung, den Betrieb und die Stilllegung von Endlagern so-
        wie der für die Schachtanlage Asse II zuständigen Orga-
        nisationseinheit. Die Verwaltung wird dadurch effizienter 
        und transparenter das Verfahren steuern . Zudem haben
        wir für Planungssicherheit bei den Beschäftigten der
        DBE und der Asse GmbH gesorgt .
        Machen wir uns nichts vor: Die Suche nach einem
        atomaren Endlager wird noch ein sehr langer Weg . Es
        geht um ganz viel . Viel Vertrauen ist in der Vergangen-
        heit zerstört worden . Gerade deshalb müssen wir unserer
        Verantwortung auch gegenüber nachfolgenden Genera-
        tionen gerecht werden . Die Einsetzung des Nationalen
        Begleitgremiums ist ein erster wichtiger Schritt .
        Hubertus Zdebel (DIE LINKE): Wieder einmal be-
        schäftigt sich der Bundestag mit dem Thema Atommüll,
        wie die radioaktiven Abfälle unter Kontrolle zu bringen
        und wie sie dauerhaft und möglichst sicher zu lagern sind .
        Das nukleare Erbe einer unverantwortlichen Energiepo-
        litik, die niemals hätte begonnen werden dürfen und mit
        der sich noch viele Generationen abquälen müssen .
        Meine Fraktion hat das Standortauswahlgesetz bei sei-
        ner Einbringung 2013 abgelehnt, und daran halten wir
        auch weiterhin fest .
        Noch ist die Kommission bis nächste Woche dabei,
        ihre Empfehlungen zur Evaluation dieses Gesetzes zu
        beschließen . Aber ich verrate hier kein Geheimnis, wenn
        ich sage: Wir sind sehr skeptisch, dass die von uns und
        vielen Antiatomorganisationen kritisierten schweren
        Mängel in dem Gesetz tatsächlich beseitigt werden .
        Meine Fraktion Die Linke wird sich heute in der
        Abstimmung des anstehenden Änderungsantrages zum
        Standortauswahlgesetz enthalten .
        Wir unterstützen ausdrücklich die Initiative, ein nati-
        onales Begleitgremium für die Bürgerbeteiligung bei der
        Suche nach einem Atommüll-Dauerlager vorzuziehen .
        Dies haben wir gemeinsam mit den Berichterstattern der
        anderen Fraktionen auf den Weg gebracht, denn damit
        wird eine Lücke bei der Öffentlichkeitsbeteiligung ge-
        schlossen .
        Wir finden es auch richtig, wenn im Zuge der verän-
        derten Behördenstrukturen die Deutsche Gesellschaft
        zum Bau und Betrieb von Endlagern für Abfallstoffe
        (DBE), die zu 75 Prozent den AKW-Betreibern gehört,
        nicht mehr Teil des Verfahrens sein wird . Denn dieses
        muss in verstaatlichten Strukturen ablaufen .
        Wir enthalten uns dennoch, weil mit dem „Bundesamt
        für kerntechnische Entsorgung“ eine Superbehörde beim
        Bundesumweltministerium entstehen soll, die nur sinn-
        voll ist, wenn es als Ausgleich sehr starke Bürgerrechte
        und vor allem Klagerechte für die künftig Betroffenen
        gibt . Dazu liegt uns derzeit nichts vor, die Endlagersuch-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617750
        (A) (C)
        (B) (D)
        kommission strickt noch an Vorschlägen, aber wir müs-
        sen befürchten, dass es diese erforderlichen starken Bür-
        ger- und Klagerechte am Ende nicht geben wird .
        Wenn es gelingen soll, den seit Jahrzehnten andauern-
        den  schweren  gesellschaftlichen Atomkonflikt  zu  über-
        winden, dann gehört zu dem oft behaupteten Neustart bei
        der Endlagersuche aus meiner Sicht unbedingt dazu, eine
        Politik staatlicher und wirtschaftlicher Machtdurchset-
        zung zu beenden .
        Frau Umweltministerin Hendricks . Sie haben der An-
        tiatombewegung jüngst bescheinigt, dass sich diese um
        „unser Land verdient gemacht“ hat, weil sie die „Risiken
        einer zu gefährlichen Art der Energieerzeugung“ nicht
        hingenommen hat . Für diese Worte danke ich Ihnen .
        Aber lassen Sie mich auch feststellen: Atomkraftgegner
        haben nicht nur „Schmähungen“, wie Sie sagen, ertragen
        müssen . Sie sind immer wieder mit massiver Staatsge-
        walt, mit Kriminalisierung, Demonstrationsverboten und
        vielem mehr konfrontiert worden . Diese Antiatombewe-
        gung hat aufgrund vieler – oft sehr persönlicher – Erfah-
        rungen gute Gründe, staatlichem Agieren gegenüber sehr
        misstrauisch zu sein .
        Daher braucht es auch mehr als nur warmer Worte und
        Beteuerungen, wenn es bei der Atompolitik tatsächlich
        um einen Neustart gehen soll . Es ist jedenfalls nicht son-
        derlich überzeugend, von Neustart zu sprechen, wenn im
        gleichen Moment die Haftung der Atomkonzerne für die
        Finanzierung der Atommüllberge letztlich abgeschafft
        wird und den Bürgerinnen und Bürgern im Wendland er-
        klärt wird, dass Gorleben weiter im Rennen bleibt . Das
        schafft kein Vertrauen und keinen Neuanfang .
        Ein Neustart braucht nicht nur Worte, sondern konkre-
        te Taten: Deshalb muss Gorleben aus dem Verfahren ge-
        nommen werden, und deshalb braucht es zum Ausgleich
        einer zentralisierten Behördenstruktur starke Bürger- und
        Klagerechte .
        Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Vor zwei Jahren wurde auf Basis des Standortauswahl-
        gesetzes eine Kommission aus Politik, Wissenschaft und
        Zivilgesellschaft eingesetzt, die unter anderem auch den
        Auftrag hatte, das gerade beschlossene Gesetz zu evalu-
        ieren . Dem sind wir in aller Ausführlichkeit nachgekom-
        men . Wenn die Kommission am kommenden Montag
        ihre Arbeit mit Beschluss ihres Berichtes abschließt, dann
        werden Bundestag und Bundesrat nicht nur Empfehlun-
        gen für neue Partizipationsstrukturen übergeben, nicht
        nur Kriteriensätze für die sicherheitsorientierte Stand-
        ortauswahl, sondern auch viele weitere Empfehlungen
        zum Rechtsschutz, zum Exportverbot von Atommüll,
        zur Behördenstruktur – um nur die Herausragendsten zu
        nennen . Zwei Teile dieses umfassenden Konvoluts legen
        wir bereits heute vor . Zwei Teile, deren Implementierung
        bereits vor Beginn der Standortsuche nötig ist . Es geht
        einmal um das Nationale Begleitgremium und zum ande-
        ren um die Behördenstruktur .
        Ich begrüße es sehr, dass wir bei der vorgezogenen
        Einsetzung des Nationalen Begleitgremiums einen Kon-
        sens über alle Bundestagsfraktionen hinweg erzielen
        konnten . Dies ist ein gutes Zeichen und gibt Hoffnung,
        dass alle politischen Kräfte bei dem so herausfordernden
        wie singulären Projekt einer vergleichenden Endlagersu-
        che konstruktiv an der Erreichung des Ziels mitwirken .
        Es wird alle Kräfte brauchen, um die Endlagersuche am
        Ende nicht in einen Bürgerkrieg münden zu lassen, son-
        dern durch Transparenz, Partizipation und nachvollzieh-
        bare Sicherheitsorientiertheit der Akzeptanz eine Chance
        zu geben .
        Das Nationale Begleitgremium wird hierbei ein un-
        verzichtbarer Akteur sein . Als gemeinwohlorientierter
        Vermittler und Beobachter soll es der Behörde und dem
        Vorhabenträger beratend zur Seite stehen und darauf
        achten, dass das Verfahren entsprechend der gesetzlichen
        Vorgabe und den Empfehlungen der Kommission umge-
        setzt wird . Das Gremium wird eine moralische Instanz
        sein, vergleichbar dem Ethikrat, das die Rechte aller Be-
        troffenen und übrigens auch der nachfolgenden Genera-
        tionen im Blick haben wird . Dieses Gremium ist ganz
        ausdrücklich keine Vertretung irgendwelcher Einzelinte-
        ressen, weshalb dort auch keine Vertreter betroffener Re-
        gionen Mitglieder sein sollen . Diese wirken in anderen
        Beteiligungsgremien und Formaten wie den Regional-
        konferenzen oder dem Rat der Regionen mit .
        Anders als in der Endlagerkommission, in der es da-
        rum ging, die diversen Akteure der Gesellschaft, die ein
        Interesse an der Entwicklung des Suchverfahrens haben,
        zusammenzubringen, geht es im Nationalen Begleitgre-
        mium darum, Personen zu finden, denen von einem mög-
        lichst großen Teil der Gesellschaft hohes Vertrauen und
        Wertschätzung entgegengebracht wird . Sie werden zwei
        Drittel des Nationalen Begleitgremiums ausmachen . Das
        dritte Drittel soll von „Zufallsbürgern“ gebildet werden .
        Einer der Schlüsselbegriffe der neuen Standortsuche ist
        das „Lernende Verfahren“ . Aus Fehlern zu lernen, aber
        auch die Bereitschaft, Dinge anders zu machen, als man
        sie immer gemacht hat, weil es genügend Hinweise gibt,
        dass es anders besser ist, das wird für das Gelingen des
        großen und langwierigen Verfahrens notwendig sein . Wir
        haben – soweit wir dazu fähig waren – schon mal damit
        angefangen . Auch mit dem Zufallsbürger schlagen wir
        Neues vor . Die Idee wurde aus den Beteiligungsformaten
        an der Kommissionsarbeit an uns herangetragen, und wir
        wollen sie umsetzen .
        Es ist sehr schade, dass die Linke, anders als bei der
        vorgezogenen Einsetzung des Nationalen Begleitgremi-
        ums, der Neuorganisation der Behördenstruktur nicht
        zustimmen will . Mit der neuen Struktur schaffen wir
        Klarheit . Die Befürchtung der Linken, wir würden eine
        Superbehörde schaffen, die schwer zu kontrollieren ist,
        ist in meinen Augen nicht begründet . Das Auswahlver-
        fahren wird in seinem Verlauf immer wieder an Bun-
        destag und Bundesrat zurückgegeben, die sich mit den
        Vorschlägen der Behörde befassen und sowohl über die
        Standorte zur obertägigen und untertägigen Erkundung
        als auch über den endgültigen Standort per Gesetz ent-
        scheiden . Das letzte Wort hat also der Gesetzgeber .
        Die Endlagerkommission hat bei der Neuorganisati-
        on der Behördenstruktur Lehren aus der Vergangenheit
        gezogen . Es soll – anders als noch im Standortauswahl-
        gesetz von 2013 festgelegt – nur eine Bundesbehörde
        für die Endlagersuche geben, die für Aufsicht und Ge-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17751
        (A) (C)
        (B) (D)
        nehmigung zuständig ist . Der Vorhabenträger wird eine
        neue bundeseigene Gesellschaft sein, die zu 100 Prozent
        in öffentlicher Hand sein wird und deren zukünftige Pri-
        vatisierung ausgeschlossen ist . Die Energieversorgungs-
        unternehmen, die über ihre Tochter GNS die bisherige
        Endlagerbaugesellschaft DBE zu 75 Prozent besitzen,
        werden an Endlagersuche und Endlagerbau also nicht
        mehr beteiligt sein .
        Diese Struktur beschließen wir heute, allerdings harrt
        die mögliche Umsetzung noch der dafür notwendigen
        Gespräche mit den Energieversorgern . Die Verhandlun-
        gen wurden, als die Atomfinanzierungskommission KFK 
        eingerichtet wurde, auf Eis gelegt . Über die Ergebnisse
        der KFK wird an anderer Stelle noch zu reden sein . Die
        Gespräche mit den Energieversorgern sollten jetzt drin-
        gend wieder aufgenommen werden .
        Der heute vorgelegte Gesetzentwurf ist nur ein klei-
        ner Teil dessen, was die Endlagerkommission empfiehlt. 
        Dass sowohl in der Vorbereitung des Gesetzentwurfs wie
        auch in der Beratung im Umweltausschuss große Einig-
        keit herrschte, nehme ich als gutes Zeichen für die große
        Novelle des Standortauswahlgesetzes, die wir im Herbst
        vor uns haben .
        Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
        welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit: Wir haben
        uns in der letzten Legislaturperiode parteiübergreifend
        ein sehr großes Ziel vorgenommen: Nach dem endgül-
        tigen Ausstieg aus der Atomenergie in wenigen Jahren
        in Deutschland wollen wir mit den atomaren Hinterlas-
        senschaften verantwortungsvoll und in größtmöglichem
        gesellschaftlichen Konsens umgehen . Bis Mitte des Jahr-
        hunderts soll ein Endlager für die hochradioaktiven Ab-
        fälle gefunden und fertiggestellt werden .
        Die Koalition hat vereinbart, in dieser Legislaturperi-
        ode die Lösung der Endlagerfrage ein großes Stück vo-
        ranzubringen . Nur wenn wir von Anfang an darauf ach-
        ten, dass alle Schritte sorgsam und zeitgerecht gegangen
        werden, wird es möglich sein, den zwar lang erscheinen-
        den, tatsächlich aber doch ambitionierten Zeitplan ein-
        zuhalten .
        Wir haben uns das Thema nicht selbst ausgesucht,
        aber wir sehen das als unsere Verantwortung gegenüber
        den Generationen an, die nach uns kommen .
        Eine der drängenden Aufgaben ist die Fertigstellung
        des Endlagers Konrad für die schwach- und mittelradio-
        aktiven Abfälle . Dass es in der Vergangenheit aus ver-
        schiedensten Gründen zu Verzögerungen gekommen ist,
        ist zwar bedauerlich, aber „Bauen im Bestand“ birgt im-
        mer auch zeitliche Risiken; das ist nicht zu ändern .
        Was verbessert werden kann und muss, ist die Orga-
        nisation im Bereich der Endlagerung, die im Moment
        noch auf Entscheidungen aus den 70er-Jahren beruht . Sie
        gewährleistet heute keine effiziente Erledigung der hoch-
        komplexen Endlageraufgaben mehr .
        Wir wollen optimale Bedingungen für die Suche
        nach einem Endlagerstandort insbesondere für Wär-
        me entwickelnde Abfälle schaffen . Deswegen wird der
        fraktionsübergreifende Gesetzentwurf zur Änderung
        des Standortauswahlgesetzes von der Bundesregierung
        vollumfänglich mitgetragen .
        Der vorliegende Gesetzentwurf zielt darauf ab, die
        Zuständigkeiten eindeutig zuzuordnen und eine effizien-
        tere Aufgabenerledigung zu gewährleisten . Die Betrei-
        ber- und Betriebsführungsaufgaben, die bislang durch
        das Bundesamt für Strahlenschutz einerseits und die Ver-
        waltungshelfer DBE mbH und Asse GmbH andererseits
        wahrgenommen wurden, werden zukünftig auf eine bun-
        deseigene, privatrechtliche Gesellschaft übertragen .
        Dadurch werden „lange Wege“ zwischen Vorhaben-
        träger und Verwaltungshelfer beseitigt, was völlig richtig
        und sinnvoll ist .
        Auf behördlicher Seite werden die Genehmigungs-
        und Aufsichtsaufgaben im Bundesamt für kerntechni-
        sche Entsorgung konzentriert . Durch die Trennung von
        Betreiberaufgaben und Regulierungsaufgaben werden
        die Zuständigkeiten eindeutig festgelegt . Außerdem kann
        die Zulassungs- und Aufsichtsbehörde so vollständig un-
        abhängig agieren .
        Und schließlich wird das Bundesamt für Strahlen-
        schutz als eigenständige Bundesoberbehörde erhalten
        und sich ausschließlich auf die vielfältigen Fragen des
        Strahlenschutzes konzentrieren können, die in der öf-
        fentlichen Wahrnehmung in der Vergangenheit häufig im 
        Schatten der Entsorgungsfragen standen .
        Mit dem vorliegenden Gesetz setzen wir übrigens
        auch einen entsprechenden Beschluss der Endlagerkom-
        mission um .
        Ich möchte die Gelegenheit nutzen, den Mitgliedern
        der Endlagerkommission, aber auch den involvierten
        Behörden BfS und BfE für die geleistete Arbeit bei der
        Neuorganisation herzlich zu danken .
        Der Deutsche Bundestag hat die Kommission 2014
        eingesetzt, mit dem Ziel, die Entscheidungsgrundlagen
        für ein Standortauswahlverfahren zu entwickeln . Die Ar-
        beit dort läuft sehr konstruktiv . Wir erwarten, dass die
        Beratungen noch in diesem Monat abgeschlossen und der
        Bericht im Anschluss vorgelegt werden kann .
        Der Gesetzentwurf sieht auch vor, das Nationale Be-
        gleitgremium für den Standortauswahlprozess vorzeitig
        einzusetzen, damit der Faden der gesellschaftlichen Be-
        teiligung nicht abreißt .
        Dadurch kann die gemeinwohlorientierte Begleitung
        des beginnenden Auswahlverfahrens fortgeführt werden,
        die ursprünglich erst nach der Evaluierung des Standort-
        auswahlgesetzes vorgesehen war . Die Aufgabe dieses
        Gremiums wird vor allem eine vermittelnde und unab-
        hängige Begleitung des Prozesses sein .
        Ich bin der festen Überzeugung, dass ein Konsens bei
        der Suche nach einem Standort für ein Endlager möglich
        ist . Ein Konsens kann gelingen, wenn alle Beteiligten bis
        zum Schluss vertrauensvoll zusammenarbeiten – und der
        Prozess für die Öffentlichkeit transparent gestaltet wird .
        Neben der offenen Diskussion, die für mich selbstver-
        ständlich ist, machen klare Organisationsstrukturen die
        Sache besser und verständlicher .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617752
        (A) (C)
        (B) (D)
        Die Atomkraft bindet uns bis in alle Ewigkeit an die
        Folgen einer Technologie, die gerade einmal 60 Jahre
        lang  in  Betrieb  war. Wir  haben  die Verpflichtung,  den 
        kommenden Generationen dieses Problem in geordneter
        Weise zu übergeben . Das heute vorgelegte Gesetz wird
        uns dabei nachdrücklich helfen .
        Anlage 7
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
        CSU und SPD: Sozialen Basisschutz in Entwick
        lungsländern schaffen (Tagesordnungspunkt 21)
        Dr. Georg Kippels (CDU/CSU): 1948 wurde in der
        Allgemeinen Menschenrechtserklärung das Recht auf so-
        ziale Sicherheit aufgenommen . Funktionierende soziale
        Sicherungssysteme sind dafür zwingend notwendig . So-
        ziale Sicherungssysteme entstehen aber nicht über Nacht .
        Ein funktionierendes System muss wachsen, es muss aus
        dem individuellen Staat heraus gebildet werden . Wie aus
        dem ILO-Bericht von 2015 hervorgeht, werden diesem
        Ideal heute nur 27 Prozent der weltweiten Staaten mit
        einem umfassenden sozialen Sicherungssystem gerecht .
        73 Prozent haben nur partielle oder gar keine Deckung .
        Blicken wir in unsere eigene Vergangenheit, zeigt
        sich der Grundstein des deutschen Sozialstaates in der
        Verkündung der sogenannten „Kaiserlichen Botschaft“
        durch Reichskanzler Otto von Bismarck am 17 . Novem-
        ber 1881 . Meilensteine waren 1883 die Krankenversiche-
        rung, 1884 die Unfallversicherung, 1889 die Rentenver-
        sicherung . Dem folgte ein langer Weg mit den Lehren aus
        zwei Weltkriegen, der zum modernen sozialen Netz der
        Bundesrepublik geführt hat . Damit zeigt sich, dass auch
        eines der heute am besten ausgebauten Systeme sozialer
        Sicherung einen langen und steinigen Weg hinter sich
        bringen musste, um zu dem zu werden, was es ist . Zu-
        dem entstand unser eigenes System der sozialen Siche-
        rung durch innenpolitischen Druck . Dieser wurde zum
        einen durch die Industrialisierung und Verarmung weiter
        Bevölkerungskreise und zum anderen als Reaktion auf
        einen erstarkenden Sozialismus, dem Bismarck durch die
        Einführung der Versicherungen den Wind aus den Segeln
        nehmen wollte, verursacht .
        Also war auch in unserer eigenen Geschichte nicht ein
        Ideal Ausgangspunkt für die Etablierung der sozialen Si-
        cherung, sondern machtpolitische Erwägungen und die
        Erkenntnis bzw . Prognose der gesellschaftspolitischen
        und wirtschaftlichen Vorteile, die eine soziale Sicherung
        bringen würde . Und genau diese Erkenntnis der Vorteile
        der Einführung eines Systems der sozialen Sicherung ist
        es, die wir aus unserer über hundertjährigen Erfahrung
        weitergeben müssen .
        Diese Erkenntnisse um die Entstehungsgeschich-
        te müssen aber auch in der Umsetzung im Rahmen der
        Entwicklungspolitik beachtet werden . Soziale Sicherung
        steht nicht im freien Raum des Staates, sondern muss so-
        wohl in der Gesellschaft als auch im politischen Raum
        manifestiert werden . Soziale Sicherung ist nie Selbst-
        zweck, sondern ein Baustein für ein funktionierendes
        Gemeinwesen . Daran müssen sich dann aber auch die
        sonstigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen orien-
        tieren . Sonst verfehlt die soziale Sicherung ihren Zweck,
        Nachteile auszugleichen und Menschen zu schützen .
        Die Etablierung von sozialer Sicherung ersetzt aber
        vor allem nicht die weiter gehende Entwicklungspolitik,
        die den Aufbau eines tragfähigen und leistungsfähigen
        Wirtschafts- und Gesellschaftssystems zum Ziel haben
        muss, aus dem dann die sozialen Sicherungssysteme
        dauerhaft gespeist werden . Die gewissermaßen im staat-
        lichen Entwicklungsprozess vorgezogene Einrichtung
        sozialer Sicherungssysteme dient der Beschleunigung
        des Vorgangs, weil die Lasten der Entwicklung redu-
        ziert werden . Dies gilt vor allem dann, wenn durch ein
        stetiges und zunehmendes Bevölkerungswachstum das
        notwendige Wirtschaftswachstum nicht Schritt zu halten
        vermag .
        Es besteht mithin eine Wechselwirkung zwischen so-
        zialer Sicherung und Entwicklungsprozess .
        Seit der Millenniumentwicklungserklärung im
        Jahr 2000 hat sich die Weltgemeinschaft entschlossen,
        mit konkreten Zielen ihren eigenen Ansprüchen gerecht
        zu werden . Die Verwirklichung der Bekämpfung von
        extremer Armut und Hunger, der allgemeinen Grund-
        schulbildung, die Förderung der Gleichstellung der Ge-
        schlechter, die Senkung der Kindersterblichkeit, die Ver-
        besserung der Müttergesundheit, die Bekämpfung von
        HIV/Aids, Malaria und anderen, die Sicherung der öko-
        logischen Nachhaltigkeit, der Aufbau einer weltweiten
        Entwicklungspartnerschaft sind nicht vorzustellen ohne
        den Aufbau sozialer Sicherungssysteme .
        Die 2015 verabschiedeten Nachhaltigkeitsziele neh-
        men noch konkreter Bezug auf die Etablierung von so-
        zialer Sicherheit . SDG 1 .3 fordert, den nationalen Ge-
        gebenheiten entsprechende Sozialschutzsysteme und
        -maßnahmen für alle umzusetzen, einschließlich eines
        Basisschutzes, und bis 2030 eine breite Versorgung der
        Armen und Schwachen zu erreichen . SDG 3 .8 fordert
        eine allgemeine Gesundheitsversorgung, einschließlich
        der Absicherung gegen finanzielle Risiken, den Zugang 
        zu hochwertigen grundlegenden Gesundheitsdiensten
        und den Zugang zu sicheren, wirksamen, hochwertigen
        und bezahlbaren unentbehrlichen Arzneimitteln und
        Impfstoffen für alle . SDG 5 .4 fordert, die unbezahlte
        Pflege- und Hausarbeit durch die Bereitstellung öffentli-
        cher Dienstleistungen und Infrastrukturen, Sozialschutz-
        maßnahmen und die Förderung geteilter Verantwortung
        innerhalb des Haushalts und der Familie entsprechend
        den nationalen Gegebenheiten anzuerkennen und zu
        wertschätzen .
        Deshalb fordern wir in unserem Antrag unter Betrach-
        tung der  länderspezifischen Gegebenheiten speziell den 
        Auf- und Ausbau von Verwaltungs- und Steuersystemen
        sowie den Aufbau und die Stärkung von Gesundheitssys-
        temen . Dabei steigt und fällt der Erfolg aller Bemühun-
        gen mit der Bereitschaft der Schwellen- und Entwick-
        lungsländer, Eigenverantwortung zu übernehmen und
        zur Verfügung gestellte Mittel der Anschubfinanzierung 
        verantwortungsvoll und nachhaltig zum Wohle ihrer
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17753
        (A) (C)
        (B) (D)
        Bevölkerung zu verwenden . Modellrechnungen zeigen
        schon heute, dass auch Schwellen- und Entwicklungs-
        länder mithilfe einer Anschubfinanzierung sozialen Ba-
        sisschutz bereitstellen können .
        Die Vorteile von Sozialschutzsystemen für eine nach-
        haltige Entwicklung sind mannigfaltig . Betrachtet man
        die Entwicklungschancen eines Kindes, das in einem
        Land mit sozialen Sicherungssystemen aufwächst, zeigt
        sich  deren  immenser  Einfluss  auf  das  Leben  der Men-
        schen . Mit der Absicherung im Krankheitsfall, bei Ar-
        beitsunfällen oder Invalidität und der daraus resultieren-
        den Einkommenssicherheit kann Kinderarbeit verhindert
        werden . Sind Familien nicht auf das Einkommen ihrer
        Kinder angewiesen, sind die Lebensverhältnisse von Fa-
        milien nicht äußerst prekär, verbessern sich Chancen der
        Kinder zu einem erfolgreichen Schulbesuch und in der
        Konsequenz auch zu  einer qualifizierten Beschäftigung 
        mit besseren Erwerbschancen . Bieten Staaten funktio-
        nierende Gesundheitssysteme, wird ein Kind von der
        Geburt an betreut, steigt seine Chance auf ein gesundes
        und produktives Leben und einen erfolgreichen Besuch
        der Schule erheblich . Der Druck auf Frauen, möglichst
        viele Kinder zu gebären, sinkt, da die Überlebenschance
        eines Kindes wesentlich größer ist . Auch ein Rentensys-
        tem senkt zudem den Druck, möglichst viele Kinder zu
        bekommen, um die Eltern im Alter zu versorgen . Bekom-
        men Frauen weniger Kinder, sind sie wirtschaftlich leis-
        tungsfähiger und tragen zur Prosperität eines Staates bei .
        Wirtschaftliche Kraft und damit Einfluss tragen auch zu 
        mehr Gleichberechtigung bei und fördern damit Demo-
        kratie .
        Lassen Sie uns deshalb mit unserem Antrag die Be-
        deutung der steten Förderung von sozialen Sicherungs-
        systemen in der deutschen Entwicklungspolitik ebenso
        unterstreichen wie die stete Forderung nach Übernahme
        der Verantwortung für das Wohlergehen der eigenen Be-
        völkerung durch die Entwicklungs- und Schwellenlän-
        der . Die internationale Gemeinschaft kann Bewusstsein
        schaffen und beim Start helfen . Für nachhaltigen Erfolg
        können nur die Länder selbst sorgen .
        Stefan Rebmann (SPD): Wenn in unserem Land von
        sozialen Sicherungssystemen die Rede ist, dann denkt
        eine große Mehrheit wohl an notwendige Reformvorha-
        ben . Zu Recht .
        Was wir uns aber nur selten vor Augen halten: Was
        für uns selbstverständlich ist, nämlich überhaupt über
        ein System von Arbeitslosigkeits-, Kranken-, Pflege- und 
        Rentenversicherung zu verfügen, auch wenn es unbe-
        streitbar nachjustiert werden muss, existiert für einen
        Großteil der Menschen weltweit gar nicht .
        Dabei ist das Recht jedes Einzelnen auf soziale Si-
        cherheit ein seit 1948 auch in der Allgemeinen Erklärung
        für Menschenrechte der UN verbrieftes Menschenrecht .
        Leider aber ein unverwirklichtes, denn noch immer le-
        ben 73 Prozent der Weltbevölkerung ohne umfassende
        soziale Absicherung . Bis zu 90 Prozent der Bevölkerung
        in Niedriglohnländern leben ohne jegliche Absicherung
        bei Arbeitslosigkeit; 48 Prozent weltweit besitzen kei-
        ne soziale Sicherung im Alter . Und jeden Tag sterben
        18 000 Kinder, vor allem an vermeidbaren Ursachen, die
        durch eine angemessene soziale Sicherung effektiv be-
        kämpft werden könnten .
        Was das konkret bedeutet, schilderten mir vor ein paar
        Tagen erst Gewerkschaftsgäste aus Ecuador und Costa
        Rica eindrucksvoll anhand der Arbeit auf Bananen- und
        Ananasplantagen in ihren Ländern . 10- bis 14-Stundenta-
        ge schwerer körperlicher Arbeit, stets ausgesetzt den aus
        aggressiven Chemikalien bestehenden Pestiziden zum
        Insektenschutz bei Pflanzen und Hungerlöhnen, die  für 
        Frauen noch mal halbiert werden . Sexuelle Übergriffe
        auf Frauen während der Arbeit gehören zum Alltag – wer
        sich wehrt, bekommt eine Extraschicht, das Gehalt ge-
        kürzt oder im schlimmsten Fall die Kündigung . Gleiches
        gilt für Arbeiterinnen und Arbeiter, die versuchen, sich in
        Betriebsräten oder Gewerkschaften zu organisieren . Die
        fehlende Absicherung macht gefügig . Seit 80 Jahren wer-
        den in Ecuador Bananen angebaut und exportiert – kein
        Plantagenarbeiter ist je in Rente gegangen .
        Ein solider Basisschutz würde diesem weit verbrei-
        teten Phänomen von prekärer Arbeit und weitgehender
        Abhängig- und Schutzlosigkeit entschieden entgegen-
        wirken . Es ist erwiesen, dass bereits minimale Anstren-
        gungen im Bereich eines Basisschutzes, der freilich spä-
        ter auszubauen sein sollte, verblüffende Effekte erzielen .
        Als Beispiele zu erwähnen sind hier, erstens, die konditi-
        onierten Geldtransfers in Brasilien (Bolsa Familia), Me-
        xiko und anderen lateinamerikanischen Ländern, die eine
        Art Sozialhilfe in der Weise eingeführt haben, dass sie
        Familien ein Mindesteinkommen sichern, wenn sie ihre
        Kinder zur Schule bzw . zum Arzt schicken .
        Zweitens . Ebenso scheinen in einigen Ländern aber
        auch bedingungslose Transfers zu funktionieren . So hat
        Lesotho im südlichen Afrika eine staatliche Grundrente
        für alle Menschen ab 70 Jahren eingeführt . Diese Grund-
        rente ist verglichen mit unseren Standards zwar sehr be-
        scheiden, sie hilft aber durchaus insofern, als alte Men-
        schen ihren Familien nicht mehr zur Last fallen müssen
        und nicht selten sogar die eine oder andere, zum Beispiel
        schulische Investition für ihre Enkelkinder tätigen kön-
        nen .
        Drittens . Und Indien hat einen Versuch unternommen,
        eine steuerfinanzierte Krankenversicherung einzurichten, 
        die arme Menschen absichert, Menschen mit mittleren
        Einkommen bezuschusst und die wohlhabende Schichten
        selbst finanzieren müssen. Leider scheint die Umsetzung 
        hier noch nicht optimal, aber was nicht ist, kann ja hof-
        fentlich noch werden .
        Ich finde, diese Beispiele machen Mut. Und sie sollten 
        uns ermutigen, unsere Partner und Partnerinnen in Ent-
        wicklungs- und Schwellenländern beim Auf- und Ausbau
        ihrer individuellen sozialen Sicherungssysteme mit unser
        Expertise – aber ohne ihnen unser konkretes Modell auf-
        drücken zu wollen –, mit technischem Know-how und
        bei Bedarf auch phasenweise mit finanziellen Investitio-
        nen zu unterstützen .
        Denn eine soziale Grundsicherung ist eines der effek-
        tivsten Mittel gegen Armut und Ungleichheit . Sie gibt
        dem Individuum Sicherheit und damit Perspektive, ist
        ökonomisch sinnvoll, weil nur wer mindestabgesichert
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617754
        (A) (C)
        (B) (D)
        ist, investiert; sie ist gesellschaftlich sozial und ist last,
        but not least auch politisch nützlich . Denn ein Staat, der
        seinen Bürgerinnen und Bürgern Schutz vor Lebensrisi-
        ken gibt, wird im Gegenzug eher Vertrauen und Legitimi-
        tät erhalten . Soziale Sicherung ist eine zentrale Voraus-
        setzung für gutes Leben . Weltweit .
        Lassen Sie uns deshalb den Antrag zur Unterstützung
        unserer Partnerländer im globalen Süden beim Auf- und
        Ausbau ihrer individuellen sozialen Sicherungssysteme
        gemeinsam annehmen .
        Niema Movassat (DIE LINKE): Der vorliegende
        Koalitionsantrag mit dem schönen Titel „Sozialen Basis-
        schutz in Entwicklungsländern schaffen“ reiht sich ein
        die die Sammlung wohlklingender Bundestagsanträge
        ohne jegliche Konsequenz .
        Die Einleitung könnte ebenso gut einem Antrag der
        Linken voranstehen . Sie verweist darauf, dass soziale
        Sicherheit ein Menschenrecht ist, das die Vereinten Na-
        tionen 1948 nach der Barbarei zweier Weltkriege dekla-
        riert haben – auf den VN-Sozialpakt von 1966, die Agen-
        da 2030 für nachhaltige Entwicklung, die in den nächsten
        14 Jahren die extreme Armut weltweit beseitigen will .
        Alles richtig, wichtig, schön und gut . Das Problem ist
        nur, die konkrete Politik der Bundesregierung hat nati-
        onal als auch international vor allem ein gemeinsames
        Merkmal: Sie schwächt soziale Sicherungssysteme . Sie
        konzentriert Reichtum in immer weniger, immer rei-
        cheren Händen . Im Umkehrschluss führt sie zu immer
        weniger sozialer Sicherheit für immer mehr Menschen .
        Gleichzeitig haben Union, SPD gemeinsam mit FDP und
        Grünen in Deutschland die einst gut funktionierenden
        Sozialversicherungen in den letzten Jahren abgeholzt .
        Sie haben die Mittelschicht dezimiert und weite Teile der
        Bevölkerung abgehängt, indem sie reine Konkurrenz ge-
        predigt und jeden ganz alleine für sein eigenes Wohl ver-
        antwortlich erklärt haben . In dieser Logik stärken sozia-
        le Sicherungssysteme vor allem das Humankapital und
        erleichtern so den Strukturwandel in Volkswirtschaften,
        wie es in dem Antrag heißt .
        Sozialer Friede basiert aber auf Solidarität . Solidari-
        tät bedeutet, dass man Schwächeren zur Seite steht, auch
        wenn es einem selbst vielleicht Nachteile bringt . Die
        Wirtschafts- und Entwicklungspolitik der Bundesregie-
        rung dient aber vor allem der deutschen Wirtschaft . Cre-
        do bei der Entwicklungszusammenarbeit ist: Für jeden
        Euro, den wir investieren, fließen drei nach Deutschland 
        zurück . Wer also an Entwicklungszusammenarbeit vor
        allem noch verdienen will, zeigt sein wahres Gesicht . Da
        hilft es dann auch nichts, sich verbal für soziale Basisge-
        sundheitssysteme auszusprechen .
        Gerade erst hat der Bundesverband der Deutschen In-
        dustrie für eine noch stärkere staatliche Unterstützung
        bei Investitionen in Entwicklungsländern geworben .
        Entwicklungshelfer müssten deutschen Unternehmen
        beim Zugang zu Märkten helfen . Das ist deshalb absurd,
        weil die Bundesregierung und die EU genau das seit
        Jahrzehnten bis zum Exodus einheimischer Wirtschafts-
        zweige in Entwicklungsländern exerzieren . Altbekanntes
        Beispiel ist der Export von subventioniertem Milchpul-
        ver in afrikanische Länder . Wenn die dort ansässigen
        Milchproduzenten ihre Existenzgrundlage zugunsten der
        europäischen Milchwirtschaft verlieren, brauchen sie
        erst gar keine Sozialtranfers . Bevor die Bundesregierung
        die Symptome bekämpft, sollte sie lieber die Ursachen
        beseitigen .
        Der Antrag fordert kaum konkrete Handlungen, son-
        dern beschränkt sich fast ausschließlich auf allgemeine
        Appelle .
        Wenn die Koalition fordert, die Bundesregierung solle
        sich für den Aufbau und die Stärkung von Gesundheits-
        systemen in Entwicklungsländern einsetzen, sage ich
        Ihnen: Halten Sie doch erst mal ihr 0,7-Prozent-Entwick-
        lungshilfequote-Versprechen und erhöhen Sie endlich die
        Budgethilfe, statt weiter zahllose fremdbestimmte Ein-
        zelprojekte in den Ländern des Südens unter Einbindung
        etwa der Pharmaindustrie durchzuführen .
        Wenn die Koalition fordert, die Partnerländer beim
        Aufbau  effizienter  Steuersysteme  zu  unterstützen,  sage 
        ich Ihnen: Verpflichten Sie deutsche Unternehmen doch 
        endlich zu einer öffentlichen Country-by-Country-Be-
        richterstattung über grundlegende Geschäftszahlen, da-
        mit Unternehmen aus den reichen Industriestaaten nicht
        länger bis zu 200 Milliarden Dollar jährlich an Steuer-
        zahlungen an Entwicklungsländer vermeiden oder hin-
        terziehen .
        Wenn die Koalition fordert, den Kampf gegen die
        Korruption in den Ländern des Südens zu unterstützen,
        sage ich Ihnen: Räumen Sie doch erst mal bei VW und in
        anderen deutschen Großkonzernen auf – zur Korruption
        braucht es immer zwei –, und bringen Sie doch hierzu-
        lande erst mal ein paar vernünftige Antikorruptionsgeset-
        ze auf den Weg .
        Von Worten zu Taten ist es ein weiter Weg, sagt ein
        deutsches Sprichwort . Leider macht sich die Bundes-
        regierung mit diesem Antrag immer noch nicht auf den
        Weg .
        Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich
        begrüße sehr, dass die Koalition das Thema soziale Si-
        cherung mit dem vorliegenden Antrag endlich aufgreift .
        Eine entsprechende Initiative war längst überfällig . Nach
        wie vor wird der Bereich soziale Sicherung viel zu stief-
        mütterlich von dieser Bundesregierung behandelt . Wir
        haben bereits 2012 im Rahmen eines Antrags einen Ak-
        tionsplan zum Aufbau sozialer Sicherungssysteme welt-
        weit gefordert . Geschehen ist in diesem Zusammenhang
        leider immer noch viel zu wenig . Auch mit dem vorlie-
        genden Antrag benennen Sie zwar die bestehenden De-
        fizite teils deutlich, verpassen aber die Chance, konkre-
        te Instrumente aufzuzeigen, mit denen die bestehenden
        Lücken gefüllt werden sollen . Die strukturellen Hinder-
        nisse, die dem Aufbau sozialer Sicherungssysteme ent-
        gegenstehen, wie beispielsweise Steuervermeidung und
        -hinterziehung durch transnationale Unternehmen, wer-
        den in Ihrer Analyse gleich ganz ausgespart .
        Sie weisen darauf hin, dass gerade im Gesundheits-
        bereich der Aufbau sozialer Sicherungssysteme beson-
        ders dringend benötigt wird . Dem stimme ich zu . Es sind
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17755
        (A) (C)
        (B) (D)
        vor allem die Ärmsten, die im Krankheitsfall durch das
        Fehlen sozialer Absicherung besonders bedroht sind . Die
        Kosten für Behandlung und Medikamente stürzen ge-
        rade die ärmsten Bevölkerungsgruppen oftmals in den
        endgültigen Ruin . Krankheit bleibt nicht nur Folge, son-
        dern auch Ursache von Armut . Damit konterkariert der
        fehlende Zugang zu sozialer Absicherung die Ziele einer
        nachhaltigen Entwicklung .
        Erst im vergangenen Jahr wurden wir im Zuge der
        Ebola-Epidemie Zeuge, welche dramatischen und teils
        tödlichen Folgen das Fehlen eines stabilen öffentlichen
        Gesundheitssystems haben kann . Mit den vielbeschwo-
        renen „lessons learned“ aus der Ebola-Epidemie ist das
        Schlagwort Gesundheitssystemförderung längst zu ei-
        nem Modewort aufgestiegen, das selbst die Kanzlerin
        in regelmäßigen Abständen bei G7-Gipfeln bemüht . Ich
        denke, es ist höchste Zeit, dass wir die Stärkung von
        Gesundheitssystemen nicht mehr nur als rhetorisches
        Allheilmittel herbeibeschwören . Die Bundesregierung
        muss mit einem neuen Aktionsplan den Aufbau von Ge-
        sundheitssystemen in Entwicklungsländern wirksam vo-
        rantreiben . Beginnen wir bei der Finanzierung: Anstatt
        entsprechend der WHO-Empfehlung 0,1 Prozent des
        Bruttonationaleinkommens für Entwicklungszusammen-
        arbeit im Gesundheitsbereich zur Verfügung zu stellen,
        stagniert der deutsche Beitrag bei 0,028 Prozent . Es ist
        höchste Zeit, dies zu ändern .
        Gerade Deutschland verfügt über wertvolle Expertise,
        um den Aufbau von öffentlichen und solidarisch orga-
        nisierten Sicherungssystemen wirksam zu unterstützen .
        Diese Expertise gilt es zu nutzen und das Feld nicht allein
        privaten Versicherungskonzernen zu überlassen . Gerade
        im Gesundheitsbereich, der durch privatwirtschaftliche
        und philanthropische Initiativen in vielen Entwicklungs-
        ländern besonders beeinflusst wird, ist besondere Wach-
        samkeit geboten . Nicht überall dort, wo derzeit Gesund-
        heitssystemförderung plakatiert wird, ist am Ende auch
        solidarisch und systemisch organisierte Gesundheitsför-
        derung enthalten .
        Werte Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wir sind
        uns einig: Soziale Sicherheit bildet eine entscheidende
        Grundlage für Entwicklung . Ich hoffe, dieser Antrag
        bleibt mehr als eine bloße Bestandsaufnahme .
        Anlage 8
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – des von der Bundesregierung eingebrachten
        Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkom
        men vom 19. Februar 2013 über ein Einheitli
        ches Patentgericht
        – des von der Bundesregierung eingebrachten
        Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung patent
        rechtlicher Vorschriften auf Grund der europä
        ischen Patentreform
        (Tagesordnungspunkt 22 a und b)
        Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): Wir beraten
        heute über die Umsetzung der europäischen Patentre-
        form . Mit den beiden heute erstmals zu beratenden Ge-
        setzentwürfen wollen wir dieser Reform einerseits zu
        einer nahtlosen Einfügung in unser nationales Recht ver-
        helfen und andererseits dem Übereinkommen über ein
        Einheitliches Patentgericht zustimmen .
        Die vorliegende europäische Patentreform ist ein gro-
        ßer Durchbruch; durch sie wird das Patentsystem in Eu-
        ropa nachhaltig zum Positiven verändert . Der Zugang zu
        einem einheitlichen Patentschutz innerhalb der EU wird
        nicht nur den Schutz von Erfindungen stärken, sondern 
        auch deutlich verbesserte Rahmenbedingungen für eine
        innovative Industrie und einen integrierten europäischen
        Binnenmarkt schaffen .
        Bereits seit den 1960er-Jahren gab es Bestrebungen in
        Europa, den Patentschutz zu vereinheitlichen . Zahlreiche
        Verhandlungen und Bemühungen sind in der Vergangen-
        heit gescheitert . Auch bei der vorliegenden Patentreform
        gab es große Herausforderungen . Trotz intensiver Ver-
        handlungen war es leider nicht möglich, innerhalb der
        EU die Zustimmung aller Mitgliedstaaten zu erlangen .
        Die Verabschiedung des Reformpakets war daher nur im
        Wege der verstärkten Zusammenarbeit möglich . Klagen
        vor dem EuGH, die im weiteren Verlauf durch Italien und
        Spanien angestrengt wurden, blieben aber erfolglos . Er-
        freulicherweise wirkt Italien inzwischen bei der verstärk-
        ten Zusammenarbeit mit, gemeinsam mit 25 weiteren
        EU-Staaten .
        Die Reform besteht rechtstechnisch aus drei Elemen-
        ten: zwei EU-Verordnungen, die sich zum einen auf die
        Schaffung des einheitlichen Patentschutzes und zum
        zweiten auf die insoweit anzuwendenden Übersetzungs-
        regeln beziehen, sowie dem dritten Element, einem völ-
        kerrechtlichen Vertrag zur Schaffung eines Einheitlichen
        Patentgerichts .
        Warum aber ist diese Reform notwendig?
        Bislang gibt es nationale Patente, die auf national-
        staatlicher Ebene gemäß den jeweiligen nationalen Ver-
        fahrensvorschriften erteilt werden . Außerdem ist es mög-
        lich, ein sogenanntes „Europäisches Patent“ zu erhalten,
        das vom Europäischen Patentamt auf Grundlage des Eu-
        ropäischen Patentübereinkommens erteilt wird . Nach ei-
        nem einheitlichen Prüfungsverfahren erteilt das Europä-
        ische Patentamt durch einen einzigen Erteilungsakt das
        Patent, das jedoch in ein Bündel von nationalen Patenten
        für die benannten Vertragsstaaten zerfällt, weshalb man
        auch vom sogenannten „Bündelpatent“ spricht .
        Konsequenz ist, dass wie bei jedem nationalen Patent
        gerichtlicher Rechtsschutz für das europäische Patent
        oder Bündelpatent nur vor den jeweiligen nationalen
        Gerichten möglich ist . Der Rechtsschutz bleibt natio-
        nalstaatlich beschränkt . Für Patentverletzungsverfahren
        oder -nichtigkeitsverfahren bedarf es daher bislang einer
        Reihe von Gerichtsverfahren in den jeweiligen Vertrags-
        staaten . Dies kann zu sich widersprechenden Urteilen
        über die Verletzung oder den Bestand des Schutzrechts
        innerhalb des gemeinsamen Binnenmarktes führen . Die
        Folge ist nicht nur erheblicher Aufwand und eine ent-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617756
        (A) (C)
        (B) (D)
        sprechende Rechtsunsicherheit, sondern auch eine Zer-
        splitterung des Marktes .
        Die vorliegende Reform löst diese Probleme und führt
        in begrüßenswerter Weise zu einem einheitlichen europä-
        ischen Patentrechtsschutz, der langfristig den Flickentep-
        pich nationalstaatlicher Regelungen ersetzen soll .
        Das „europäische Patent mit einheitlicher Wirkung“
        oder Einheitspatent stellt den teilnehmenden Staaten ein
        Patent mit einer einheitlichen Schutzwirkung für alle
        teilnehmenden EU-Staaten zur Verfügung . Dementspre-
        chend kann das Patent auch nur auf alle Mitgliedstaaten
        beschränkt, übertragen oder für nichtig erklärt werden
        oder erlöschen .
        In Hinblick auf die Erteilung wird die bestehende In-
        frastruktur des Europäischen Patentamtes genutzt, die
        sich über die letzten Jahrzehnte bewährt hat . Patentan-
        meldungen für das Einheitspatent erfolgen beim Euro-
        päischen Patentamt, wobei das bisherige Prüfverfahren
        unverändert beibehalten wird . Erteilt das Europäische
        Patentamt wie bisher üblich ein Bündelpatent, kann der
        Patentanmelder innerhalb eines Monats die einheitliche
        Wirkung des Patents beantragen .
        Dabei ist eine Kombination aus Einheits- und Bündel-
        patent möglich . Für die an der verstärkten Zusammenar-
        beit teilnehmenden EU-Staaten kann ein Einheitspatent
        erlangt werden, während für die nicht an der verstärkten
        Zusammenarbeit teilnehmenden EU-Staaten, wie etwa
        Spanien, oder für Nicht-EU-Staaten, die Vertragsstaaten
        des EPÜ sind, wie beispielsweise Norwegen, die Schweiz
        oder die Türkei, ein Bündelpatent erlangt werden kann .
        Die Übersetzungsregelungen zum Einheitspatent ba-
        sieren auf dem Drei-Sprachen-System des europäischen
        Patentamts (Deutsch/Englisch/Französisch), das heißt,
        eine Patentanmeldung hat grundsätzlich in einer Sprache
        des Drei-Sprachen-Systems zu erfolgen beziehungswei-
        se ist zeitnah entsprechend zu übersetzen .
        Das Übereinkommen über ein Einheitliches Patentge-
        richt komplettiert als drittes Element die Patentreform .
        Das Einheitliche Europäische Patentgericht wird in erster
        Instanz in Zentral-, Regional- und Lokalkammern aufge-
        teilt . In Deutschland soll es für die erste Instanz insge-
        samt vier Lokalkammern geben . Damit wollen wir eine
        räumliche Nähe zum Gericht und einen leichteren Zu-
        gang zur Gerichtsbarkeit ermöglichen . Mit Düsseldorf,
        Hamburg, Mannheim und München haben wir für die
        vier deutschen Lokalkammern die bereits jetzt für Ge-
        richtsverfahren in Patentstreitigkeiten wichtigsten Stand-
        orte ins Auge gefasst .
        In zweiter Instanz kann ein Berufungsgericht angeru-
        fen werden, das seinen Sitz in Luxemburg haben wird .
        Ist eine Frage des Unionsrechtes zu klären, wird wie bei
        nationalen Gerichten eine Vorlage an den EuGH zur Vor-
        abentscheidung erfolgen . Sachlich zuständig wird das
        Einheitliche Patentgericht für Patentverletzungsklagen,
        Nichtigkeitsklagen und einstweilige Maßnahmen und
        Sicherheitsmaßnahmen einschließlich einstweiliger Ver-
        fügungen sein .
        Auf nationaler Ebene soll durch den Gesetzentwurf
        zur Anpassung patentrechtlicher Vorschriften aufgrund
        der europäischen Patentreform die Einarbeitung des neu-
        en Schutzrechts in das deutsche Recht erfolgen . Durch
        die vorgesehenen Änderungen insbesondere des Interna-
        tionalen Patentübereinkommensgesetzes werden Anwen-
        dungsschwierigkeiten, die sich aus einem Nebeneinander
        von innerstaatlichen und europäischen Regelungen erge-
        ben könnten, vermieden .
        Unberührt von der europäischen Patentreform blei-
        ben nationale Patente, die wie bisher auch weiterhin von
        nationalen Behörden erteilt werden können . Die Einfüh-
        rung des europäischen Einheitspatents schließt die oben
        genannten Optionen des Bündelpatents und des natio-
        nalen Patents also keineswegs aus . Vielmehr erhält der
        Anmelder die Möglichkeit der alternativen Patentanmel-
        dungen, damit er individuell bestimmen kann, welcher
        Patentschutz den individuellen Bedürfnissen am ehesten
        entspricht .
        Der Entwurf sieht darüber hinaus aber auch die Auf-
        hebung des bisher bestehenden Doppelschutzverbo-
        tes  vor.  Für  dieselbe  Erfindung  wäre  demnach  künftig 
        Schutz durch ein nationales Patent und parallel dazu
        durch ein europäisches Patent mit oder ohne einheitliche
        Wirkung möglich . Der Befürchtung einer missbräuchli-
        chen Durchsetzung inhaltsgleicher Schutzrechte in unter-
        schiedlicher Jurisdiktion durch den Schutzrechtsinhaber
        begegnet der Entwurf durch die Einführung der „Einrede
        der doppelten Inanspruchnahme“ .
        Die Einführung einer solchen Einrede ist, will man das
        Doppelschutzverbot aufheben, zwingend notwendig . Ob
        die Ausgestaltung der Einrede in ihrer jetzigen Form der
        Befürchtung der missbräuchlichen Durchsetzung hinrei-
        chend begegnen kann, werden wir im weiteren Gesetzge-
        bungsverfahren sicherlich näher beleuchten müssen .
        Ebenfalls erscheint es mir notwendig, sich mit der
        grundsätzlichen Frage nach der Abschaffung des Dop-
        pelschutzverbotes auseinanderzusetzen . Der europäische
        Rechtsrahmen räumt den Mitgliedstaaten in dieser Hin-
        sicht Gestaltungsspielraum ein, und im Rahmen des Mar-
        ken- und Geschmacksmusterrechtes wurden positive Er-
        fahrungen einer Koexistenz gemacht . Zugleich soll durch
        die europäische Patentreform eine System- und Verfah-
        rensvereinfachung mit einer damit verbundenen Kosten-
        reduktion und Erhöhung der Rechtssicherheit erreicht
        werden . Die Zulässigkeit von parallelen Schutzrechten
        für ein und dieselbe Erfindung könnte gerade diese Ziele 
        der Reform konterkarieren und die verbesserte Integrati-
        on des Binnenmarktes untergraben .
        Im laufenden Gesetzgebungsverfahren sollten wir
        daher insbesondere die Abstimmung und das Verhältnis
        zwischen dem nationalen und dem europäischen Recht
        noch einmal genau unter die Lupe nehmen .
        Damit die europäische Patentreform und die beiden
        erwähnten EU-Verordnungen zur Anwendung gelangen,
        muss das Übereinkommen über ein Einheitliches Patent-
        gericht in Kraft treten . Von dreizehn notwendigen Ver-
        tragsstaaten haben zehn Staaten das Übereinkommen be-
        reits ratifiziert. Ferner ist die Ratifikation durch die drei 
        Mitgliedstaaten, in denen es im Jahr vor dem Jahr der
        Unterzeichnung des Übereinkommens die meisten gel-
        tenden europäischen Patente gab, zwingend notwendig .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17757
        (A) (C)
        (B) (D)
        Dies sind Deutschland, Frankreich und das Vereinigte
        Königreich . Frankreich hat das Übereinkommen bereits
        ratifiziert  und  ist  mit  gutem  Beispiel  vorangegangen. 
        Dem sollten wir zügig folgen .
        Nicht nur in Hinblick auf das Einheitspatent bleibt
        schließlich zu hoffen, dass das Vereinigte Königreich
        sich für einen Verbleib in der EU bei dem heute stattfin-
        denden Referendum entscheidet . Ein Austritt des Verei-
        nigten Königreichs wäre nicht nur ein schwarzer Tag für
        Europa und die EU, sondern würde auch das Inkrafttreten
        der europäischen Patentreform um einige Zeit verzögern
        oder schlimmstenfalls diese sogar durch den Verlust des
        so wichtigen Marktes Großbritannien gänzlich infrage
        stellen .
        Christian Flisek (SPD): Mit dem Gesetz zum Über-
        einkommen über ein Einheitliches Patentgericht, welches
        wir heute beschließen, stellen wir unseren europäischen
        Patentbau fertig, mit dessen Errichtung wir 1977 begon-
        nen haben, als das Europäische Patent- und Markenamt
        gegründet wurde . Mit diesem letzten Stein runden wir
        unser gemeinsames, europäisches Patentschutzsystem
        ab .
        Ein Einheitliches Patentgericht ist vor allem für die-
        jenigen wichtig, die auf effektiven Patentschutz ange-
        wiesen sind . Das sind die klugen Köpfe aus Forschung
        und Wissenschaft, aber auch forschungs- und damit ri-
        sikofreudige Unternehmen . Für ein wirtschaftlich und
        sozial attraktives Europa ist es essenziell, ein innovati-
        onsfreundliches Rechtsumfeld für diese Personen und
        Unternehmen zu schaffen . Das Einheitliche Patentgericht
        ist dafür ein wichtiger Baustein .
        Besonders positiv hervorzuheben ist, dass die Reform,
        die wir heute beschließen, mit immensen Kosteneinspa-
        rungen vor allem für Forschungseinrichtungen sowie
        kleine und mittlere Unternehmen verbunden ist, die auf-
        grund ihrer begrenzten Ressourcen auf einen effektiven
        Schutz  ihrer  Erfindungen  am  dringendsten  angewiesen 
        sind . Von jetzt an ist ein sogenannter Doppelschutz gege-
        ben, das heißt, neben einem europäischen Schutztitel er-
        hält der Patentinhaber in Zukunft Schutz durch nationale
        Patente in jedem Mitgliedstaat . Kommt es zu rechtlichen
        Konflikten,  muss  der  Patentinhaber  seine  Patente  aber 
        nicht mehr in jedem Mitgliedstaat separat durchsetzen,
        sondern kann dies zentral bei dem neuen Einheitlichen
        Patentgericht tun . Zugleich steht dem Patentinhaber die
        Einrede doppelter Inanspruchnahme zu, wonach ein-
        gewendet werden kann, nicht aus zwei Schutztiteln für
        dieselbe  Erfindung  in Anspruch  genommen werden  zu 
        können .
        Für die Patentinhaber sind diese Neuerungen mit deut-
        lichen Kosteneinsparungen verbunden, weil sich sowohl
        die laufenden Ausgaben, etwa für Übersetzungen oder
        bei den jährlichen Gebühren, als auch die Kosten für die
        Rechtedurchsetzung  signifikant  verringern.  Vergleicht 
        man etwa die Gebühren für die Erteilung und Aufrecht-
        erhaltung nationaler Patente in allen 26 teilnehmenden
        EU-Ländern mit denen für ein genauso wirksames neues
        Einheitspatent, können die Einsparungen bis zu 80 Pro-
        zent betragen .
        Das neue Patentsystem bringt aber nicht nur Kos-
        teneinsparungen für die Betroffenen mit sich, es stärkt
        auch die Stellung Europas im globalen Wettstreit um die
        attraktivsten Innovationsbedingungen . Wir beenden die
        Fragmentierung der europäischen Patentrechtsdurchset-
        zung und verringern damit bisher bestehende Rechtsun-
        sicherheit . Das wird in Zukunft dazu führen, dass die EU
        als Innovationsstandort gegenüber den USA und asiati-
        schen Ländern attraktiver wird . Ich bitte daher um Ihre
        Zustimmung .
        Klaus Ernst (DIE LINKE): Wir behandeln heute zwei
        Gesetzentwürfe der Bundesregierung in erster Lesung .
        Der  erste  dient  dazu,  die  Voraussetzung  zur  Ratifizie-
        rung des Übereinkommens vom 19 . Februar 2013 über
        ein Einheitliches Patentgericht zu schaffen, der zweite
        der Anpassung patentrechtlicher Vorschriften an dieses
        Übereinkommen sowie an mehrere EU-Verordnungen .
        Die Bundesregierung erhofft sich, mit dieser Reform
        die Rahmenbedingungen für die innovative Industrie im
        europäischen Binnenmarkt durch einen besseren Schutz
        von  Erfindungen  nachhaltig  zu  stärken.  Die  besondere 
        wirtschaftliche  Bedeutung  eines  flächendeckenden  ein-
        heitlichen Patentschutzes in Europa liege in der Kosten-
        günstigkeit und darin, dass er „in einem Verfahren vor
        dem Einheitlichen Patentgericht mit Wirkung für alle
        teilnehmenden EU-Mitgliedstaaten durchgesetzt werden
        kann“ . Insbesondere die deutsche Industrie, auf die rund
        40 Prozent der an Anmelder aus Europa erteilten euro-
        päischen Patente entfallen, soll von dem verbesserten
        Schutz ihrer Erfindungen profitieren.
        Wie es auf der Seite des Bundesministeriums der Jus-
        tiz und für Verbraucherschutz heißt, bringt die europäi-
        sche Patentreform „mehr als fünf Jahrzehnte währende
        Bemühungen erfolgreich zum Abschluss“ . Angesichts
        dieser beachtlichen Zeitspanne davon zu sprechen, dass
        „die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten damit
        ihre Handlungsfähigkeit bei der Schaffung gemeinsamer
        verbesserter Rahmenbedingungen für ein innovatives
        Europa eindrucksvoll unter Beweis“ stellen, wie es Bun-
        desjustizminister Heiko Maas in einer Pressemitteilung
        tut, ist etwas fehl am Platz . Wermutstropfen bleibt auch,
        dass diese Einigung nur über den Umweg einer „ver-
        stärkten Zusammenarbeit“ gelang, das heißt unter Aus-
        schluss Italiens und Spaniens als Gegner des EU-Patents
        in Zusammenhang mit der Sprachenregelung des Euro-
        päischen Patentübereinkommens, nach der die Amtsspra-
        chen des Europäischen Patentamts Englisch, Französisch
        und Deutsch sind . – Aber das nur nebenbei bemerkt .
        Um was geht es?
        Das Einheitliche Patentgericht soll bei Streitigkeiten
        über Patente, die vom Europäischen Patentamt erteilt
        wurden, mit europaweiter Wirkung entscheiden . Die ers-
        te Instanz soll ihren Sitz in Paris nehmen, mit Außenstel-
        len in London und München . Die Berufungsinstanz soll
        in Luxemburg angesiedelt werden . Von dieser Zentrali-
        sierung erhofft man sich Konsistenz und Kostenersparnis
        für die streitenden Parteien . Bisher muss bei Nichtig-
        keitsklagen und Verletzung vor den jeweiligen nationa-
        len Gerichten geklagt werden, die Wirkung der gerichtli-
        chen Entscheidung bleibt auf das jeweilige Staatsgebiet
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617758
        (A) (C)
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        beschränkt . Insofern ist die vorgesehene Errichtung eines
        Einheitlichen Patentgerichts zu begrüßen .
        Große Frage bleibt die Kostentragfähigkeit für kleine
        und mittlere Unternehmen – war es doch eines der Kern-
        anliegen der politischen Bemühungen um die Schaffung
        eines Einheitspatents und eines Einheitlichen Patentge-
        richts, kleinen und mittleren Unternehmen die Anmel-
        dung und Durchsetzung von Patenten zu erleichtern . –
        Dazu später .
        Neben der europäischen Patentgerichtsbarkeit soll ein
        „Einheitliches Europäisches Patent“, auch EU-Patent ge-
        nannt, eingeführt werden . Bisher gab es zwei Arten von
        Schutzrechten: nationale Patente und europäische (Bün-
        del-)Patente . Bei europäischen Patenten erfolgen die An-
        meldung und das Verfahren zur Erteilung zentral beim
        Europäischen Patentamt . Doch nach der Erteilung hat es
        dieselbe Wirkung wie ein nationales Patent in jenen Staa-
        ten, die in der Anmeldung benannt wurden und für wel-
        che die jeweiligen nationalen Phasen durch Zahlung der
        entsprechenden Gebühren und Übersetzung der Patent-
        schrift in die jeweilige Amtssprache eingeleitet wurden .
        Bei Rechtsstreitigkeiten sind die jeweiligen nationalen
        Gerichte zuständig .
        Das ändert sich mit dem EU-Einheitspatent: Es soll in
        der gesamten Europäischen Union bzw . durch den Spe-
        zialfall der Verstärkten Zusammenarbeit in 25 EU-Mit-
        gliedstaaten einheitliche Gültigkeit haben . Die Überset-
        zungsanforderungen sind geringer . Davon verspricht man
        sich Vereinfachung und erhebliche Kosteneinsparungen .
        In einer Pressemitteilung des Europäischen Parla-
        ments vom 11 . Dezember 2012 heißt es: „Nach über
        30 Jahre währenden Bemühungen werden die Kosten für
        ein EU-Patent um bis zu 80 Prozent sinken, was auch
        die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den USA oder Ja-
        pan stärkt . Das Parlament hat die Kosten besonders für
        KMU gesenkt und die neuen Vorschriften deren Bedürf-
        nissen angepasst .“ Damals allerdings fehlten jegliche
        konkreten Kostenregelungen . Es gibt Stimmen, die die
        Kosten ersparnis für kleine und mittlere Unternehmen
        stark in Zweifel ziehen . Eine Untersuchung des briti-
        schen Patent amts prognostizierte bereits 2014, dass die
        Kosten des neuen Systems wahrscheinlich die KMU am
        stärksten treffen werden . Auch die EU-Kommission sah
        in einem Arbeitspapier die Notwendigkeit einer Prozess-
        kostenversicherung für KMU . Eine solche gibt es jedoch
        nicht .
        Wie kommt es zu den unterschiedlichen Einschätzun-
        gen?
        Offenbar beruhten die positiven Prognosen für KMU
        auf recht unrealistischen Vergleichsberechnungen zwi-
        schen EU-Patent und Bündelpatent: So ist es etwa nicht
        üblich, Patente in sämtlichen EU-Länder anzumelden,
        sondern nur in den jeweils relevanten – in der Berech-
        nung ging man dennoch davon aus . Außerdem werden
        nicht mal 10 Prozent aller Patentverletzungsstreitigkeiten
        in mehr als einem Mitgliedstaat ausgetragen . Während
        sich die Gerichtskosten im Rahmen bewegen, sind die
        Vertretungskosten sehr hoch und aufgrund von Ausnah-
        me- und Ermessensregelungen unkalkulierbar und gehen
        damit mit einem hohen Risiko einher .
        Wirksame Maßnahmen zur Förderung von KMU wä-
        ren auf der Erteilungsseite eine Rabattierung der Amtsge-
        bühren und auf der Durchsetzungsseite die Ausweitung
        der Prozesskostenhilfe auf juristische Personen und die
        Schaffung einer geeigneten Prozesskostenversicherung .
        Doch davon ist bisher nichts im europäischen Patent-
        paket zu finden. „Profiteure des  ‚Einheitspatent-Pakets‘ 
        sind diejenigen, die einen geografisch möglichst breiten 
        Patentschutz benötigen und über die erforderliche Fi-
        nanzausstattung verfügen, um die hierfür und für die ge-
        richtliche Durchsetzung ausgerufenen Kosten zu tragen .
        Das ausdrückliche Kernziel des Gesetzgebers aber war
        die Förderung von KMU .“ Das schlussfolgert deshalb
        der Autor des Buches „Die parlamentarische Historie des
        ‚europäischen Einheitspatents‘ .“
        Es sollte sich daher von selbst verstehen, vor einer
        endgültigen Verabschiedung der beiden Gesetze sicher-
        zustellen,  dass  auch  KMU  von  der  Reform  profitieren 
        können .
        Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es
        ist Donnerstag, der 23 . Juni 2016 . Während hier im Deut-
        schen Bundestag über ein Einheitliches Europäisches
        Patentgericht beraten wird, wird im Vereinigten König-
        reich über den Brexit abgestimmt . Die F.A.Z. schrieb
        am 21 . Juni: „Kommt der Brexit, steht das gesamte neue
        europäische Patentsystem wieder auf der Kippe – noch
        bevor es überhaupt gestartet ist .“ Damit wird anschaulich
        deutlich, welch massive Auswirkungen die Entscheidung
        der Britinnen und Briten bis in Detailregelungen hinein
        haben kann .
        Umgekehrt wird deutlich: Das neue europäische Pa-
        tentsystem ist keine europäische Fußnote . Jahrzehnte-
        lang verhandelten die Mitgliedstaaten der EU über die
        Schaffung eines einheitlichen Patents und eines einheitli-
        chen europäischen Patentgerichts . Im Jahr 2012 erfolgte
        der Durchbruch: Bald bringt das geplante europäische
        Einheitspatent Erfindern echten supranationalen Schutz.
        Derzeit entscheiden nationale Gerichte und andere
        Behörden über die Verletzung und die Rechtsgültigkeit
        europäischer Patente . In der Praxis führt dies zu einer
        Reihe von Problemen, wenn ein Patentinhaber in mehre-
        ren Ländern ein europäisches Patent durchsetzen möchte
        oder ein Dritter in mehreren Ländern den Widerruf ei-
        nes europäischen Patents erwirken will: Hohe Kosten,
        die Gefahr voneinander abweichender Entscheidungen
        und mangelnde Rechtssicherheit sind die Folgen . „Fo-
        rum-Shopping“ ist ebenfalls unvermeidlich, denn Betei-
        ligte versuchen, die Unterschiede in der Auslegung des
        harmonisierten europäischen Patentrechts durch nationa-
        le Gerichte und im jeweiligen Verfahrensrecht sowie in
        der Geschwindigkeit der Verfahren und der Zuerkennung
        von Schadenersatzzahlungen auszunutzen .
        Das Übereinkommen über ein Einheitliches Patent-
        gericht löst die vorgenannten Probleme durch die Ein-
        richtung eines eigenständigen Patentgerichts mit der
        ausschließlichen gerichtlichen Zuständigkeit für Strei-
        tigkeiten in Bezug auf europäische Patente . Die Quali-
        tät der Rechtsprechung des Einheitlichen Patentgerichts
        wird eng verknüpft sein mit seiner Besetzung durch
        https://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ische_Union
        https://de.wikipedia.org/wiki/Verst%C3%A4rkte_Zusammenarbeit
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17759
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        fachkundige Richterinnen und Richter . Denn letztlich
        werden das neue EU-Patentsystem und seine Akzeptanz
        von der Qualität und Verlässlichkeit der Rechtsprechung
        des Einheitlichen Patentgerichts abhängen . Danach wird
        sich zeigen, wie schnell sich das neue System etabliert .
        Wegen der Mitwirkung von Richterinnen und Richtern
        aus unterschiedlichen europäischen Jurisdiktionen wird
        es einige Zeit dauern, bis sich eine gefestigte und einheit-
        liche Rechtsprechung herausbildet .
        Denn die wesentliche Frage ist, wie sich das neue Pa-
        tentsystem und sein Gericht inhaltlich bewähren . Gerade
        in Technologieländern wie Deutschland gelten Patente in
        vielen Branchen als „Marker“ für die Innovationskraft
        von Branchen oder sogar von Staaten . Speziell in deut-
        schen Kernsektoren wie dem Fahrzeug- oder Maschinen-
        bau werden jährlich Tausende von Patenten angemeldet
        und erteilt, um damit geistiges Eigentum zu schützen .
        Der Deutsche Bundestag hatte die Bundesregierung
        zu Recht in der vergangenen Wahlperiode in einem An-
        trag – 17/8344 – dazu aufgefordert, keine Patente auf
        konventionelle Züchtungsverfahren für landwirtschaftli-
        che Nutztiere und Nutzpflanzen zuzulassen. Denn es ist 
        ein Unterschied, ob ich ein Patent auf ein Radio anmelde
        oder auf Radieschen . Die Große Beschwerdekammer des
        Europäischen Patentamts hat im Brokkoliurteil biologi-
        sche Verfahren wie Kreuzung und Selektion von einer
        Patentierung ausgenommen . Konventionelle Züchtungs-
        verfahren werden damit in Deutschland und in Europa
        auch in Zukunft unpatentierbar bleiben .
        Es gibt aber bei den Biopatenten auch noch offene
        Baustellen . Das gilt gerade auch für die Patentierung der
        Produkte aus konventionellen Züchtungsverfahren . Die
        Vielfalt der Nutzpflanzen und Nutztiere  ist das Produkt 
        der Arbeit vieler vorhergehender Generationen . Unseren
        Landwirtinnen und Landwirten, den Züchterinnen und
        Züchtern muss diese Vielfalt auch weiterhin in vollem
        Umfang zur Verfügung stehen . Deshalb spreche ich mich
        ganz klar gegen die Patentierung der Produkte aus klas-
        sischen Züchtungsverfahren aus . Der Zugang zu den ge-
        netischen Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft
        muss weiterhin für alle offen stehen .
        Im Bereich der Biopatente liegt seit Februar 2012 ein
        klarer Auftrag des Bundestages an die Bundesregierung
        vor: Um die wiederholte Erteilung umstrittener Biopa-
        tente zu stoppen, soll die Bundesregierung die dafür
        verantwortlichen Grauzonen im nationalen und europä-
        ischen Biopatentrecht bereinigen . Wir dürfen in diesem
        Parlament stolz auf diesen einstimmigen Beschluss sein .
        Deswegen habe ich nun im Statut für das Einheitliche
        Patentgericht und in den geänderten patentrechtlichen
        Vorschriften nachgeschaut, ob die Chance genutzt wurde,
        diesen Beschluss des Bundestages umzusetzen. Ich finde 
        ihn darin jedoch nicht wieder . Ja; das im deutschen Recht
        bekannte  Pflanzenzüchterprivileg, wonach  die Nutzung 
        biologischen Materials zum Zwecke der Züchtung, Ent-
        deckung  und  Entwicklung  einer  neuen  Pflanzensorte 
        erlaubt ist, ist auf deutsche Anregung hin im Überein-
        kommen verankert worden (Artikel 27 Buchstabe c des
        Übereinkommens) . Aber das ist auch schon alles .
        Es ist beschämend, dass die Bundesregierung mit ih-
        rem Gesetzentwurf dem gemeinsamen Beschluss von
        2012 nicht nachkommt . Grade der Ausschluss von Paten-
        ten auf die Produkte ist jetzt nicht aufgenommen, ebenso
        fehlt eine Ergänzung zu technisch ergänzten Züchtungs-
        verfahren .
        Für uns Grüne steht fest: Pflanzen und Tiere sind kein 
        „geistiges Eigentum“, das irgendjemand für sich rekla-
        mieren darf . Und eine Tomate, die aus einem nicht-pa-
        tentierbaren Züchtungsverfahren hervorgeht, darf ebenso
        wenig patentierbar sein wie ein Ketchup, das ohne wei-
        tere  „Erfindungsleistung“  aus  dieser Tomate  gewonnen 
        wird .
        Wir haben schon viel zu viel an biologischer Vielfalt
        verloren, da dürfen wir die sowieso schon rasante Mo-
        nopolisierung im Saatgut- und Lebensmittelbereich nicht
        auch noch durch Biopatente verstärken .
        Christian Lange, Parl. Staatssekretär beim Bun-
        desminister der Justiz und für Verbraucherschutz: Mit
        den beiden vorliegenden Gesetzentwürfen sendet die
        Bundesregierung ein positives Signal nach Europa: Wir
        möchten die europäische Patentreform, auf die wir uns
        nach jahrzehntelangen Verhandlungen erfolgreich geei-
        nigt haben, endlich in die Tat umsetzen: Mit dem Über-
        einkommen über ein Einheitliches Patentgericht vom
        19 . Februar 2013 soll ein für alle teilnehmenden EU-Mit-
        gliedstaaten zuständiges Gericht geschaffen werden, das
        über erstinstanzliche Kammern in den Mitgliedstaaten
        und ein Berufungsgericht in Luxemburg verfügt . Das
        Gericht soll über bestehende europäische Patente so-
        wie das neue EU-Einheitspatent urteilen, das im Wege
        zweier EU-Verordnungen im Dezember 2012 geschaffen
        worden ist . In Deutschland als bedeutendem Patentland
        sind vier Lokalkammern – Düsseldorf, Hamburg, Mann-
        heim, München – und eine Zentralkammerabteilung –
        München – vorgesehen . Das vorliegende Vertragsgesetz
        schafft  die  Voraussetzungen  für  die  Ratifikation  des 
        Übereinkommens .
        Mit dieser Reform sollen die Rahmenbedingungen für
        die innovative Industrie im europäischen Binnenmarkt
        durch einen besseren Schutz von Erfindungen nachhaltig 
        gestärkt werden . Das ist von besonderer wirtschaftlicher
        Bedeutung. Künftig wird es in Europa einen flächende-
        ckenden einheitlichen Patentschutz geben . Er wird kos-
        tengünstig zu erlangen sein. Und er wird auch effizient 
        in einem Verfahren vor dem Einheitlichen Patentgericht,
        dem ersten grenzüberschreitend zuständigen Zivilgericht
        Europas, mit Wirkung für alle teilnehmenden EU-Mit-
        gliedstaaten durchgesetzt werden können . Die deutsche
        Industrie wird von dem verbesserten Schutz ihrer Erfin-
        dungen besonders profitieren. Rund 40 Prozent der vom 
        Europäischen Patentamt an europäische Anmelder erteil-
        ten europäischen Patente entfallen auf die deutsche In-
        dustrie .
        An den Arbeiten zur Schaffung eines Einheitlichen
        Patentgerichts hat sich die Bundesregierung von Anfang
        an mit großem Engagement beteiligt . Wir haben dabei
        insbesondere auch die Interessen der kleinen und mitt-
        leren Unternehmen im Blick . Gerade auch den kleinen
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617760
        (A) (C)
        (B) (D)
        und mittleren Unternehmen kommt es zugute, dass in
        einem europäischen Verfahren Rechtssicherheit für den
        gemeinsamen Markt geschaffen werden kann . Besonders
        wichtig ist: Wir konnten uns mit unserer Forderung nach
        einer attraktiven Höhe der Verlängerungsgebühren für
        das künftige EU-Einheitspatent durchsetzen, das kommt
        diesen Unternehmen zugute .
        Das Begleitgesetz soll im deutschen Recht die Vo-
        raussetzungen für die Umsetzung der europäischen Pa-
        tentreform schaffen . Es enthält überwiegend technische
        Anpassungen, die erforderlich sind, um das EU-Einheits-
        patent und das Europäische Patentgericht mit der nati-
        onalen Rechtsordnung zu verzahnen . Lassen Sie mich
        aber ein Element hervorheben: Wir wollen in Deutsch-
        land künftig neben einem europäischen Patentschutz für
        dieselbe Erfindung auch den Schutz durch ein nationales 
        Patent zulassen, was bislang nicht möglich ist . Damit ein
        Beklagter wegen derselben Patentverletzung aber nicht
        mehrfach verklagt werden kann, soll diesem im nationa-
        len Verfahren eine Einrede zustehen, wenn er bereits vor
        dem Europäischen Patentgericht in Anspruch genommen
        wird. Mit dieser Neuerung wollen wir unseren Erfindern 
        Optionen für den Schutz ihrer Innovationen bieten . Er-
        finder können sich dann für den für sie im Einzelfall am 
        besten geeigneten Schutz entscheiden .
        Für die Bundesregierung ist die europäische Patentre-
        form ein bedeutsames Projekt . Wir beteiligen uns weiter
        mit großem Engagement an den bereits sehr weit ge-
        diehenen Arbeiten in den vorbereitenden Gremien . An-
        gestrebt wird, dass das Einheitliche Patentgericht nach
        einer noch für 2016 vorgesehenen Phase der vorläufigen 
        Anwendung des Übereinkommens, in der die Arbeitsfä-
        higkeit des Gerichts endgültig hergestellt wird, dann im
        Frühjahr 2017 den Echtbetrieb aufnimmt .
        Sehr geehrter Herr Präsident, werte Kolleginnen und
        Kollegen, ich bitte um Ihre Unterstützung dieses Vor-
        habens . Es liegt in unserem Interesse, beide Gesetzge-
        bungsverfahren möglichst zügig durchzuführen .
        Anlage 9
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von den Fraktionen der CDU/
        CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge
        setzes zur Änderung berg, umweltschadens und
        wasserrechtlicher Vorschriften zur Umsetzung
        der Richtlinie 2013/30/EU über die Sicherheit von
        OffshoreErdöl und Erdgasaktivitäten (Tages
        ordnungspunkt 23)
        Dr. Herlind Gundelach (CDU/CSU): 19 Millionen
        Barrel ausgelaufenes Öl, 2000 Kilometer verschmutzte
        Küste, elf Menschenleben – der Untergang der Ölplatt-
        form „Deepwater Horizon“ brachte Opfer und katastro-
        phale Folgen mit sich, Folgen in einem Ausmaß, welches
        es in dieser Art bisher nur selten gab .
        Die Havarie sollte zu einem Wendepunkt in der Um-
        weltgeschichte werden . Die internationale Politik hat
        sich der Katastrophe angenommen, sie hat darauf re-
        agiert . Glücklicherweise blieben europäische Gewässer
        zwar von auch nur annähernd verheerenden Katastro-
        phen bisher verschont, das war aber kein Grund für die
        Europäische Gemeinschaft, ihre Augen zu verschließen .
        Eine solche Katastrophe darf es – egal wo – nicht noch
        einmal geben .
        Daher ist uns sehr daran gelegen, die im Zusammen-
        hang mit „Deepwater Horizon“ überarbeiteten europä-
        ischen Richtlinien national bestmöglich umzusetzen .
        Seit Jahrzehnten gehören wir zu den Vorkämpfern einer
        fortschrittlichen und nachhaltigen Umweltpolitik . Im Be-
        reich der Erdöl- und Erdgasförderung haben wir daher
        bereits  sehr  strenge Auflagen,  die  sich  in  vielen Teilen 
        schon mit den europäischen Richtlinien decken .
        Zwar  nutzen  wir  in  unseren  flachen  deutschen  Ge-
        wässern lediglich die als risikoarm eingeschätzte
        Flachwassertechnik . Außerdem beherbergen unsere
        Hoheitsgebiete nur zwei der insgesamt 600 Erdöl- und
        Erdgasplattformen in europäischen Gewässern . Für den
        Erlass der EU-Offshore-Richtlinie nach dem Unfall im
        Golf von Mexiko haben wir uns trotzdem intensiv ein-
        gesetzt. Die Definition  einheitlicher  Standards  für Off-
        shore-Erdöl- und -Erdgasaktivitäten muss ein internatio-
        nales Interesse sein .
        Die Europäische Union nahm die Katastrophe in Me-
        xiko zum Anlass, einheitliche Standards für die Erdöl-
        und Erdgasförderung auf EU-Ebene festzusetzen . Die
        Richtlinie 2004/35/EG wurde geändert . Gleichwohl wur-
        de mit der RL 2013/30/EU des Europäischen Parlaments
        und des Rates vom 12 . Juni 2013 eine neue Richtlinie
        über die Sicherheit von Offshore-Erdöl- und -Erdgasak-
        tivitäten beschlossen . Ihr zum Dank können Unfälle im
        Zusammenhang mit Offshore-Erdöl- und -Erdgasaktivi-
        täten in Zukunft verhindert werden . Der Umweltschutz
        kann erhöht und die Notfallmechanismen im Falle eines
        Unfalls können verbessert werden .
        Die nationale Umsetzung dieser europäischen Richt-
        linie über die Sicherheit von Offshore-Erdöl- und
        -Erdgasaktivitäten in Deutschland wird in einer neuen
        Offshore-Bergverordnung umgesetzt . Risikomanage-
        ment, Sicherheits- und Umwelterwägungen in Bezug
        auf die Genehmigungsverfahren sowie die Aufgaben der
        zuständigen Behörden und das Berichtswesen sind die
        Hauptpunkte des Regelwerks . Bisherige Bestimmungen
        zu Offshore-Erdöl- und -Erdgasaktivitäten, welche in der
        Festlandsockel-Bergverordnung und im Anhang 3 der
        Allgemeinen Bundesbergverordnung festgelegt waren,
        werden in der Novelle zusammengenommen .
        Die Bereiche Risikomanagement, Arbeits- und Ge-
        sundheits- sowie Umweltschutz werden so in einer
        Verordnung gebündelt . Dies ist sowohl hilfreich in der
        betrieblichen Praxis als auch in der Rechtsanwendung .
        Gleichzeitig wird das Risiko für schwere Unfälle mini-
        miert, da auf diesem Weg alle Aspekte gemeinsam be-
        trachtet werden .
        Die europäische Richtlinie sieht vor, dass Unterneh-
        men eine Vorsorge zur Deckung von Haftungsverbind-
        lichkeiten zu  treffen und die  technische und finanzielle 
        Leistungsfähigkeit nachzuweisen haben .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17761
        (A) (C)
        (B) (D)
        Im Rahmen der Arbeiten an unserer nationalen Off-
        shore-Verordnung hat sich ergeben, dass es für die Um-
        setzung einer Vorgabe dieser europäischen Richtlinie an
        einer eindeutigen Ermächtigungsgrundlage im Bundes-
        berggesetz fehlt .
        Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf schaffen wir
        nun in § 66 des Bundesberggesetzes mit einer Ergänzung
        diese Ermächtigungsgrundlage .
        Aufgrund der Rechtssystematik erfolgen außerdem
        Anpassungen im Wasserhaushaltsgesetz, im Umwelt-
        schadensgesetz sowie in der Verordnung über die Um-
        weltverträglichkeitsprüfung bergbaulicher Vorhaben .
        Die europäische Richtlinie über die Sicherheit von
        Offshore-Erdöl- und -Erdgasaktivitäten erhöht den
        Schutz der Meeresumwelt und verbessert entscheidend
        die Notfallmechanismen im Falle eines Unfalls oder ei-
        ner Havarie . Unser heute zu beratender Gesetzentwurf
        schafft Rechtssicherheit bei der nationalen Umsetzung .
        Ich hoffe dabei auf ihre Unterstützung .
        Johann Saathoff (SPD): Am 20 . April ereignete sich
        im Golf von Mexiko ein schrecklicher Unfall . Bei der
        Explosion der Bohrinsel „Deepwater Horizon“ kamen
        insgesamt elf Menschen zu Tode, und es kam zu einer der
        schwersten Umweltkatastrophen der Vereinigten Staaten .
        Infolge der Explosion traten Tonnen an Erdöl ungehin-
        dert ins Meer .
        Die Explosion der „Deepwater Horizon“ war aber
        nicht nur für die Umwelt im Golf von Mexiko eine Ka-
        tastrophe unvorstellbaren Ausmaßes . Die Folgen waren
        sogar noch weit verheerender . Ein Großteil der Bevöl-
        kerung in der Region lebt von der Fischerei . Der Fische-
        reibetrieb musste im Sommer 2010 aber in weiten Teilen
        eingestellt werden . Die Umweltkatastrophe hatte damit
        auch eine schwere wirtschaftliche und soziale Krise zur
        Folge .
        Mit diesem Gesetz wollen wir nun dazu beitragen,
        dass sich genau solche schrecklichen Ereignisse nicht
        wiederholen . Konkret geht es heute um die Schaffung
        eindeutiger und europaweit einheitlicher Sicherheitsstan-
        dards im Bereich der Offshore-Erdöl- und -Erdgasakti-
        vitäten . Damit wollen wir einen Teil einer Richtlinie des
        Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates
        vom 12 . Juni 2013 umsetzen .
        Die Schaffung einheitlicher Standards und Rahmen-
        bedingungen auf europäischer Ebene ist der folgerichti-
        ge Schritt nach der Explosion der „Deepwater Horizon“ .
        Sie ist auch sinnvoll vor dem Hintergrund, dass mehr als
        90 Prozent des in Europa geförderten Erdöls und mehr
        als 60 Prozent des geförderten Erdgases aus der Off-
        shore-Produktion kommen . Das sind beachtliche Zahlen,
        insbesondere im Zusammenhang mit der Tatsache, dass
        im Jahre 2015 noch immer mehr als 50 Prozent des Pri-
        märenergieverbrauchs durch Erdöl und Erdgas gedeckt
        wurden . Die Offshore-Förderung von Erdöl und Erdgas
        spielt eine wichtige Rolle im Zusammenhang der Ener-
        gieversorgungssicherheit .
        In Deutschland selbst gibt es derzeit zwei Off-
        shore-Anlagen . Die Bohr- und Förderinsel Mittelplate
        und die Gasförderplattform A6-A . Das heißt, auch für
        unsere Küstenregionen besteht ein gewisses, wenn auch
        eher ein marginales Risiko einer vergleichbaren Umwelt-
        katastrophe .
        Es soll an dieser Stelle nun nicht darum gehen, grund-
        sätzliche Kritik an der Offshore-Förderung von Erdöl
        und Erdgas zu üben . Unfälle wie im Golf von Mexiko
        sind glücklicherweise die sehr seltene Ausnahme . Die
        Frage der Sicherheit der Meeresumwelt und der Küs-
        tenregionen ist meiner Ansicht nach aber immer mit be-
        sonderer Sorgfalt zu behandeln . Man „mutt d’n Alltied
        n’Oog an hemm“ würde man in Ostfriesland sagen, stets
        wachsam bleiben .
        Gerade im Bereich der Offshore-Erdöl- und -Erdgas-
        aktivitäten besteht ein Interesse daran, besonders hohe
        Sicherheitsstandards zu setzen . Die Verabschiedung die-
        ses Gesetzes soll dazu beitragen, dass der Schutz und die
        Erhaltung der Umwelt auch weiter gewährleistet werden
        kann und dass ein vernünftiger Umgang mit den natürli-
        chen Ressourcen sichergestellt ist .
        Denn stellen Sie sich einmal die Auswirkungen einer
        mit der Explosion im Golf von Mexiko vergleichbaren
        Katastrophe an der deutschen Küste vor . Ich komme aus
        Ostfriesland, einer Region, die insbesondere auch für das
        Wattenmeer bekannt ist . Der Nationalpark Niedersächsi-
        sches Wattenmeer gehört seit dem 26 . Juni 2009 mit zum
        UNESCO-Welterbe .
        Damit  profitieren  ostfriesische  Gemeinden  unglaub-
        lich stark vom Tourismus . Die Bedeutung des Tourismus
        und die enorme touristische Wertschöpfung in den Küs-
        tenregionen lassen sich exemplarisch anhand von weni-
        gen Zahlen verdeutlichen .
        Insbesondere für die ostfriesischen Inseln ist der
        Anteil des Tourismus an der Wertschöpfung natürlich
        enorm . Allein die Insel Norderney verzeichnete im
        Jahr 2014 über 500 000 Besucher . Es wurden damit mehr
        als 3,4 Millionen Übernachtungen generiert .
        Doch auch das Festland gehört zu den Profiteuren des 
        Tourismus . Auch in der Gemeinde Krummhörn ist die
        Wertschöpfung durch die Tourismusbranche beachtlich .
        Aktuelle Zahlen kommen zu dem Schluss, dass sich für
        die Krummhörn eine touristische Wertschöpfung von
        insgesamt 56,4 Millionen Euro ergibt .
        Die langfristigen Folgen einer vergleichbaren Ölkata-
        strophe wären also auch hier fatal . Einerseits die Folgen
        für den Umweltschutz und andererseits die wirtschaftli-
        chen und sozialen Folgen für unsere Küstenregionen .
        Es ist demnach aus vielerlei Hinsicht zu begrüßen,
        dass mit dem Gesetz nun einheitliche europäische Rah-
        menbedingungen und höchste Umwelt- und Sicherheits-
        standards sichergestellt werden .
        Hubertus Zdebel (DIE LINKE): Heute diskutieren
        wir erneut über die Umsetzung der Richtlinie 2013/30/
        EU vom 12 . Juni 2013 über die Sicherheit von Off shore-
        Erdöl- und -Erdgasaktivitäten . Ziel der Richtlinie ist, „die
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617762
        (A) (C)
        (B) (D)
        Häufigkeit  von  schweren  Unfällen  im  Zusammenhang 
        mit Offshore-Erdöl- und -Erdgasaktivitäten so weit wie
        möglich zu verringern und ihre Folgen zu begrenzen …“ .
        Die Umsetzung der Richtlinie erfolgt dabei nicht nur
        über gesetzliche Vorschriften, sondern auch über eine
        Verordnung . Am 25 . Mai dieses Jahres hat die Bundes-
        regierung die Änderungsverordnung zu bergrechtlichen
        Vorschriften beschlossen . Sie liegt jetzt dem Bundesrat
        zur Beschlussfassung vor . Über die gesetzlichen Ände-
        rungen kann nicht gesprochen werden, ohne sich mit der
        Änderungsverordnung auseinanderzusetzen .
        Ich hätte erwartet, dass wir eine intensive Debatte da-
        rüber führen, wie wir einen hohen Standard der Anlagen-
        sicherheit für Offshore-Aktivitäten erreichen . Stattdes-
        sen haben sich SPD und CDU/CSU in der ersten Lesung
        lediglich selbst gelobt und nichts zu einer Fachdebatte
        beigetragen . Die Kollegin von den Grünen hat es vor-
        gezogen, auf das Thema „internationaler Meeresschutz“
        auszuweichen .
        Dies hätten Sie in der Sitzung des Wirtschaftsaus-
        schusses am letzten Mittwoch korrigieren können . Doch
        stattdessen gab es von Ihnen keine einzige Wortmeldung
        zu diesem Thema . Diese Sprachlosigkeit wird der großen
        Bedeutung des Themas Störfallvorsorge nicht gerecht .
        Demonstratives Desinteresse am Thema Offshore-
        Öl- und -Gasförderung haben wir Ende letzten Jahres
        schon bei der Bundesregierung festgestellt . So hatte die
        Firma Maersk Oil beantragt, in der dänischen Nordsee
        im Grenzgebiet zum deutschen Entenschnabel mit neu-
        en Bohrungen Öl und Gas zu fördern . Im Rahmen des
        GORM-Projekts will die Firma dabei die umweltzer-
        störende Fördermethode Fracking anwenden . Während
        Fracking bereits an Land unverantwortbar ist, wären
        die Folgen eines Offshore-Frackings noch weniger be-
        herrschbar . Die notwendigen Aktivitäten der Bundesre-
        gierung, um dieses Projekt zu verhindern, hat es jedoch
        nie gegeben .
        Bereits am 9 . Juni habe ich darauf hingewiesen:
        Offshore-Fracking kombiniert die Gefahren des Fra-
        ckings an Land mit den klassischen Gefahren der Öl- und
        Gasgewinnung im Meer . Durch die eingesetzten Frack-
        flüssigkeiten,  deren  Zusammensetzungen  nicht  veröf-
        fentlicht werden, kann es zu Wasserkontaminationen
        kommen . Das Aufbrechen des Untergrundgesteins und
        das Wiederverpressen des Flowbacks kann Erdbeben
        hervorrufen . Und durch Leckagen kann in erheblichem
        Maß das klimaschädliche Treibhausgas Methan entwei-
        chen .
        Während der Sondierungs-, Förder- und Außerbe-
        triebnahmeaktivitäten kann es außerdem zu schweren
        Unfällen kommen . Dazu gehören Öl- und Chemikalien-
        freisetzungen im Falle einer Schiffskollision oder von
        Pipelineleckagen . Größere Gasfreisetzungen können auf-
        grund eines Blowouts erfolgen . Eine mögliche größere
        Ölpest hätte erhebliche negative Auswirkungen auf das
        empfindliche marine Ökosystem. 
        Angesichts dieser möglichen Folgen ist Offshore-Fra-
        cking nicht verantwortbar . Fracking auf hoher See muss
        auf jeden Fall verboten werden . Das sieht die Bundes-
        regierung im vorliegenden Offshore-Regelungspaket je-
        doch nicht vor .
        Dies ist nicht der einzige Kritikpunkt . Die Linke for-
        dert, Offshore-Aktivitäten unter den Geltungsbereich der
        Störfall-Verordnung fallen zu lassen, um einen einheit-
        lichen und hohen Sicherheitsstandard zu erreichen . Die
        nun vorgesehenen Sicherheitsanforderungen sind jedoch
        bedeutend geringer als im üblichen Recht der Anlagen-
        sicherheit .
        Die betrifft nicht nur die Einführung des undefinier-
        ten Begriffs des „vertretbaren Risikos“, mit dem der in
        Deutschland übliche auswirkungsorientierte Ansatz ver-
        lassen wird . Die Öl- und Gaskonzerne können so selbst
        bestimmen, was sie für vertretbar halten und welchen
        Gefahren sie Mensch und Umwelt aussetzen .
        Dies gilt auch für die in der Störfall-Verordnung klar
        festgelegte Hierarchie, dass Störfälle zu verhindern sind,
        und nur dann, wenn dies nicht möglich sein sollte, ihre
        Auswirkungen so gering wie möglich zu halten . In § 3
        der oben genannten Änderungsverordnung zu bergrecht-
        lichen Vorschriften verwischt diese Hierarchie, die An-
        forderungen werden auf eine Ebene gestellt .
        Zudem kritisieren wir, dass Leitfäden zu bewährten
        Verfahren für die Beherrschung ernster Gefahren bei Ak-
        tivitäten für die gesamte Auslegungs- und Betriebspha-
        se der Offshore-Erdöl- und -Erdgasaktivitäten nicht von
        unabhängigen Stellen erstellt werden sollen . Stattdessen
        formuliert der jeweilige Unternehmer oder sein Unter-
        nehmensverband diese selbst . Damit wird dem Miss-
        brauch Tür und Tor geöffnet .
        Aus diesen Gründen fordert die Linke, dieses Paket
        zurückzuziehen und grundlegend zu überarbeiten .
        Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Wir reden heute wieder über die Sicherheit an Öl- und
        Gas-Förderplattformen in den Meeren . Dazu muss die
        Bundesregierung eine europäische Regelung in nationa-
        les Recht umsetzen . Mit der Umsetzung hat sie sich mal
        wieder sehr viel Zeit gelassen . Sie wartet ja immer so
        lange, bis sie sich die europäische Watschen mit einem
        Vertragsverletzungsverfahren abholt . Darum muss das
        Gesetz nun kurz vor der Sommerpause im Hauruckver-
        fahren durch das Parlament geprügelt werden .
        Liebe Kollegen von der Linken, Ihre Verbindung zu
        Fracking, die Sie in der letzten Debatte eingebracht ha-
        ben, ist doch wirklich sehr konstruiert . In Deutschland
        gibt es nach meinem Wissensstand nur zwei Öl- und Gas-
        förderanlagen im Meer . Das sind die Ölbohrinsel Mittel-
        plate vor Dithmarschen und die Gasbohrinsel A6/B4 in
        der Außenwirtschaftszone . Weitere Förderanlagen sind
        nicht absehbar, geschweige denn Offshore-Fracking-An-
        lagen zur Förderung von Erdöl oder Erdgas . Auch in den
        Nachbarstaaten sind solche Vorhaben nicht geplant . Ihr
        Einwurf ist also unqualifiziert. 
        Richtig aber ist: Fracking ist die denkbar schlechteste
        Fördermethode und mit großem Risiko verbunden . Aber
        das Thema hat mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
        nichts zu tun . Das behandeln wir erst am Freitagmorgen .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17763
        (A) (C)
        (B) (D)
        Wir sollten uns vielmehr Gedanken darüber machen,
        wie wir unsere Meere auch in Zukunft sauber halten, lie-
        be Kollegen von der Linksfraktion . Sehr viel wichtiger
        sind in diesem Zusammenhang internationale Standards
        zu Rohstoffförderungen in arktischen Regionen oder in
        der extremen Tiefsee . So was ist Realität, zum Beispiel
        vor Brasilien oder vor Westafrika . Gerade die Schlampe-
        rei von BP bei „Deepwater Horizon“ im Jahre 2010 hat
        gezeigt, dass diese Risiken real sind und nicht nur graue
        Theorie . Aber das scheint Sie von der Linkspartei nicht
        zu interessieren .
        Wir sollten also darauf bedacht sein, dass in Europa
        die Standards für Rohstoffförderungen hoch sind . Damit
        setzen wir auch Maßstäbe für andere Regionen weltweit .
        Es kann nicht sein, dass in arktischen Regionen Erdöl ge-
        fördert wird, aber völlig unklar ist, wie die Rettung im
        Fall einer Havarie aussieht .
        Die Rettungseinrichtungen und Versorgungshäfen
        sind in arktischen Regionen meist sehr weit weg . Mee-
        resströmungen können das kalte zähe Erdöl in abgele-
        gene Regionen bringen . Mit Eis verbunden wird eine
        Entsorgung nahezu unmöglich . Solch ein Unfall muss
        konsequent verhindert werden . Das ist die Zukunftsauf-
        gabe in der Meeres- und Energiepolitik . Das sind wir un-
        seren nachfolgenden Generationen schuldig .
        Wir werden heute dem Gesetzentwurf zustimmen .
        Die europäische Richtlinie zur Sicherheit von Erdöl- und
        Erdgas-Förderplattformen muss endlich auch in Deutsch-
        land umgesetzt werden . So erhöhen wir die Sicherheit an
        solchen Anlagen .
        Auf diesem Vorhaben darf sich die Bundesregierung
        aber nicht ausruhen . Viele weitere Regelungen stehen
        noch an, um den Meeresschutz regional in Deutschland,
        aber auch auf europäischer und internationaler Ebene um-
        zusetzen . Denn Meeresschutz ist jetzt mit dem SDG 14
        ein internationales Nachhaltigkeitsziel . Da sollten wir in
        der Umsetzung konsequent sein .
        Meeresschutz wäre doch eine wunderbare Aufgabe für
        den Maritimen Koordinator der Bundesregierung . Dann
        hätte er richtig was zu tun .
        Heute gehen wir nur einen kleinen, aber notwendi-
        gen Schritt in Richtung Meeresschutz . Dafür hat sich die
        Regierung sehr lange Zeit gelassen . Zeigen Sie endlich
        mehr Engagement beim Schutz der Meere!
        Anlage 10
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zur steuerlichen
        Förderung von Elektromobilität im Straßenver
        kehr (Tagesordnungspunkt 27)
        Florian Oßner (CDU/CSU): Als CDU/CSU-Frak-
        tion haben wir der Elektromobilität schon immer einen
        besonders hohen Stellenwert zugemessen . Auch haben
        wir stets die enorm hohe Bedeutung der Elektromobili-
        tät sowohl für den Umwelt- und Klimaschutz als auch
        für den Automobilstandort Deutschland und dessen Zu-
        kunftsfähigkeit herausgestellt . Ich würde sogar so weit
        gehen, die Förderung der Elektromobilität, inklusive der
        Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie, als das
        bedeutendste Verkehrsthema der absehbaren Zukunft zu
        bezeichnen .
        Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf sind wir
        unserem Ziel, bis 2020 unseren CO2-Ausstoß gegenüber
        1990 um mindestens 40 Prozent zu senken, einen großen
        Schritt näher gekommen . Denn jeder Schritt, der Elektro-
        mobilität für die Nutzer attraktiver macht, ist ein Schritt
        für eine nachhaltigere automobile Zukunft .
        Wir wollen, dass der Straßenverkehr seinen adäquaten
        Beitrag zur Reduktion der CO2-Emissionen und somit
        zur angestrebten Dekarbonisierung leistet . Hierfür ist
        jedoch zwingend erforderlich, dass sich die Anzahl von
        Elektrofahrzeugen im Straßenverkehr deutlich erhöht .
        Besonders freut es uns natürlich, wenn es sich hierbei
        vornehmlich um Fahrzeuge aus heimischer Produktion
        und nicht solcher aus Übersee handelt .
        Erstens . BMW-Werk Landshut als Beispiel/Aufgabe
        der Politik:
        In meinem Wahlkreis in Landshut hat die Firma
        BMW ein Kompetenzzentrum für Leichtbau und Elekt-
        romobilität errichtet . Rund 160 Ingenieure forschen hier
        technologieübergreifend an innovativen Werkstoffen,
        Mischbaukonzepten und Fertigungsverfahren . Daneben
        werden im dazugehörigen Werk verschiedene Bauteile
        für die Elektromotoren und CFK-Karosserieteile für die
        Elektro- und Hybridfahrzeuge i3 und i8 gefertigt .
        Schon frühzeitig hat man hier die enormen Chancen
        erkannt, die das Zusammenwirken von Leichtbau und
        Elektromobilität für Umweltschutz und Nachhaltigkeit
        sowie für die Zukunft der Automobilindustrie und ihrer
        Zulieferer in Deutschland bietet . Als weiteren wichtigen
        Schritt in meiner Heimatregion sehe ich die Schaffung
        einer Wasserstofftankstelle, an deren Umsetzung wir ge-
        rade arbeiten .
        Unsere primäre Aufgabe als Politik sollte es daher
        sein, Sorge dafür zu tragen, dass derartige Innovationen
        in Deutschland auch weiterhin möglich bleiben, denn nur
        so werden wir im internationalen Markt weiter gegen die
        Konkurrenz aus Japan, Südkorea und den USA bestehen
        können .
        Wir dürfen uns als Politik aber nicht nur darauf be-
        schränken, die Rahmenbedingungen für eine innova-
        tive Forschung und Fertigung im Automobilbereich zu
        schaffen, sondern sollten diese auch aktiv unterstützen,
        damit Deutschland weiterhin die „Poleposition“ als füh-
        render Innovationstreiber im Automobilbau behaupten
        kann . Arbeitsplätze sollen weiter bei BMW, Mercedes
        und Volkswagen entstehen und nicht nur bei Tesla und
        Toyota .
        Deswegen appelliere ich an Sie, liebe Kollegen von
        den Grünen und den Linken, lassen Sie endlich dieses
        ständige Störfeuer gegen die Automobilbranche . Sie sä-
        gen sich damit auch Ihren eigenen Ast ab, auf dem Sie
        sitzen . Wir dürfen nicht mit der einen Hand das umrei-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617764
        (A) (C)
        (B) (D)
        ßen, was wir mit der anderen in mühsamer Arbeit jahr-
        zehntelang aufgebaut haben .
        Zweitens . Maßnahmen im Gesetz:
        Mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurf nehmen wir
        einige Änderungen im Bereich der Kraftfahrzeugsteuer
        und der Einkommensteuer vor, um die Elektromobilität
        auf Deutschlands Straßen ein ganzes Stück voranzutrei-
        ben:
        Bei erstmaliger Zulassung reiner Elektrofahrzeuge
        gilt seit dem 1 . Januar 2016 bis zum 31 . Dezember 2020
        eine fünfjährige Kraftfahrzeugsteuerbefreiung . Diese
        wird rückwirkend zum 1 . Januar 2016 nun auf zehn Jah-
        re verlängert . Die zehnjährige Steuerbefreiung für reine
        Elektrofahrzeuge wird zudem auf technisch angemesse-
        ne, verkehrsrechtlich genehmigte Umrüstungen zu rei-
        nen Elektrofahrzeugen ausgeweitet .
        Im Einkommensteuergesetz werden vom Arbeitge-
        ber  gewährte  Vorteile  für  das  elektrische Aufladen  ei-
        nes privaten Elektro- oder Hybridelektrofahrzeugs des
        Arbeitnehmers im Betrieb des Arbeitgebers und für die
        zur privaten Nutzung zeitweise überlassene betriebliche
        Ladevorrichtung steuerbefreit . Der Arbeitgeber erhält
        die Möglichkeit, geldwerte Vorteile aus der unentgeltli-
        chen oder verbilligten Übereignung der Ladevorrichtung
        und Zuschüsse pauschal mit 25 Prozent Lohnsteuer zu
        besteuern . Die Regelungen werden befristet für den Zeit-
        raum vom 1 . Januar 2017 bis 31 . Dezember 2020 .
        Diese steuerlichen Maßnahmen stellen ein eindeutiges
        Bekenntnis zu einer klimagerechten Zukunftspolitik dar
        und ergänzen das Maßnahmenbündel der Bundesregie-
        rung zur Förderung der Elektromobilität im Straßenver-
        kehr, das zeitlich begrenzte Anreize, weitere Mittel für
        den Ausbau der Ladeinfrastruktur sowie zusätzliche An-
        strengungen bei der öffentlichen Beschaffung von Elek-
        tro- und Brennstoffzellenfahrzeugen beinhaltet .
        Drittens . Schluss:
        Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zum bedeu-
        tendsten Verkehrsthema der absehbaren Zukunft zeigt die
        CDU/CSU-Fraktion wieder einmal, dass wir Antworten
        auf die drängenden Fragen geben – und nicht nur me-
        ckern und uns beklagen, wie die linken Parteien .
        Aus den genannten Gründen bitte ich um Zustimmung
        für den Antrag .
        Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD): Die meis-
        ten von Ihnen werden mir zustimmen: Die Elektromobi-
        lität ist von besonderer klimapolitischer und verkehrspo-
        litischer Relevanz .
        In der Debatte wird hingegen oft übersehen: Es ist
        eine industriepolitische Schicksalsfrage, ob Deutsch-
        land sich als Industriestandort und Synonym für hoch-
        qualitative Spitzenfahrzeuge behaupten kann . Das ist die
        Entscheidungsfrage für die rund 800 000 Menschen, die
        heute in der deutschen Automobilindustrie in Lohn und
        Brot stehen . Ob diese Arbeitsplätze erhalten bleiben, das
        hängt davon ab, ob die Industrie es schafft, sich auf die-
        sem Leitmarkt der Zukunft zu positionieren .
        Hersteller aus China und den USA befinden sich  im 
        Bereich der massentauglichen E-Fahrzeuge wie auch im
        Luxussegment schon lange auf der Überholspur . Damit
        diese Überholmanöver sich nicht auf Dauer nachhaltig
        negativ auf die deutsche Automobilindustrie auswirken,
        müssen Politik und Wirtschaft jetzt gemeinsam Lösun-
        gen entwickeln und sie mit Vollgas dann auch umsetzen .
        Die Politik hat mit den hier vorgebrachten Initiativen ei-
        nen wichtigen Beitrag dazu geleistet .
        Das Laden beim Arbeitgeber wird einfacher, die
        Kfz-Steuerbefreiung wird verlängert, es gibt eine Kauf-
        prämie, die von der EU grünes Licht bekommen hat . Und
        über die öffentliche Beschaffungspolitik werden mehr
        Elektroautos auf die Straßen kommen . Zudem wird in
        den Ausbau der Ladeinfrastruktur investiert, deren Stan-
        dards klar definiert wurden.
        Viele Kritiker missverstehen die Kaufförderung als
        eine Art Bevorzugung reicherer Käuferschichten . Dem
        kann man zuerst entgegenhalten, dass die Kaufprämie
        zu gleichen Teilen von Staat und Herstellern getragen
        wird . Und nicht zuletzt ist das Setzen von Kaufanreizen
        zugleich eine industriepolitische Flankierung, um den
        Markthochlauf zu stimulieren . Denn ohne Absatz kein
        Leitmarkt . Die Erfahrungen anderer Länder zeigen, dass
        eine Kaufförderung die Marktdurchdringung von Elekt-
        roautos beschleunigt .
        Die SPD-Bundestagsfraktion hat weitergehende Maß-
        nahmen gefordert, so zum Beispiel eine bessere degressi-
        ve Abschreibung für gewerbliche Nutzer . Und das bereits
        vor zwei Jahren .
        Ich möchte hier niemandem den schwarzen Peter zu-
        schieben, aber es ist den teils diffusen ordnungspoliti-
        schen Bedenken unseres Koalitionspartners geschuldet,
        dass wir so lange auf konkrete Maßnahmen warten muss-
        ten . Doch natürlich gilt auch hier: Es ist jetzt besser, eine
        Kerze anzuzünden, als über die Dunkelheit zu jammern .
        Die Politik hat klare Impulse gegeben, nun sind die
        Hersteller gefragt . Die Politik kann die Automobilindus-
        trie schließlich nicht ständig zum Jagen treiben .
        Hatte es noch vor kurzem den Anschein, als habe man
        bei VW, BMW, Audi und Daimler den Startschuss über-
        hört, mehren sich inzwischen die Anzeichen für einen
        Spätstart .
        Vielleicht liegt es an Dieselgate, vielleicht auch an
        der allgemeinen Einsicht, dass Wettbewerber der Zielge-
        raden schon deutlich näher sind . Die deutsche Automo-
        bilindustrie stellt sich jetzt jedenfalls mit deutlich mehr
        Elan der Herausforderung Elektromobilität und alternati-
        ver Antriebe . Die Zahl der alternativ angetriebenen Autos
        in den Flotten steigt . Man widmet sich endlich wieder
        der erforderlichen Batteriezellproduktion, was zentral für
        den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit ist .
        Bei dieser neuen Dynamik ist es zumindest möglich,
        das Ziel der 1 Million Elektrofahrzeuge auf Deutschlands
        Straßen bis 2020 nicht gänzlich aus dem Auge zu verlie-
        ren .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17765
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        Andreas Schwarz (SPD): Die Bundesrepublik
        Deutschland tut viel für den Klimaschutz . Aber wir müs-
        sen uns noch mehr anstrengen, wenn wir die Klimaziele
        von Paris erreichen wollen . Wenn wir diese Ziele errei-
        chen wollen, müssen wir endlich mehr Elektroautos auf
        die Straße bringen . Es ist ja vollkommen richtig, dass
        auf unseren Straßen viel zu wenige Elektrofahrzeuge
        unterwegs sind . Im letzten Jahr waren es gerade mal
        25 500 Fahrzeuge . Wenn wir hier nichts unternehmen,
        sind die Klimaziele von Paris in Gefahr . Und deshalb
        begrüßen wir ausdrücklich, dass hier das Bundeswirt-
        schaftsministerium mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
        aktiv geworden ist, um uns auf diesem Gebiet endlich
        entscheidend voranzubringen .
        Die Bundesregierung verfolgt dabei den absolut rich-
        tigen Ansatz, mit einer Kaufprämie die nötigen Anreize
        für höhere Verkaufszahlen zu schaffen . Die 4 000 Euro
        Kaufprämie – bei Hybrid 3 000 Euro – sind ein überzeu-
        gendes Signal an die vielen Interessentinnen und Interes-
        senten in unserem Land . Und wir fördern hier ausdrück-
        lich keine Luxusklassenfahrzeuge für die Gutsituierten .
        Wir haben bewusst eine Obergrenze von 60 000 Euro
        eingezogen, damit vor allem die breite Masse profitiert.
        Unser Ziel ist es, dass in den nächsten Jahren 300 000
        zusätzliche Elektroautos zugelassen werden .
        Und es wirkt ja jetzt schon, obwohl das Gesetz noch
        gar nicht verabschiedet ist . Autohersteller melden uns,
        dass sowohl Interesse als auch Nachfrage der Kundinnen
        und Kunden seit dem Beschluss der Bundesregierung,
        hier ein milliardenschweres Förderprogramm für Elek-
        tromobilität aufzulegen, deutlich angestiegen ist . Das
        freut uns . Und das alles, wie gesagt, bevor die Kaufprä-
        mie abgerufen werden konnte .
        In diesem Zusammenhang begrüßen wir, dass das
        Prüfverfahren der EU-Kommission nun endlich abge-
        schlossen ist und die Menschen die Kaufprämie endlich
        in Anspruch nehmen können .
        Aber allein der Anreiz über die Kaufprämie wird nicht
        den erhofften und gewünschten Erfolg bringen . Da be-
        darf es schon eines Maßnahmenbündels, und zwar von
        Maßnahmen, die nur gemeinsam wirken können .
        Das von der Bundesregierung beschlossene Maßnah-
        menpaket gibt genau die richtigen Antworten auf die
        Frage vieler Interessenten, die gerne ein Elektrofahrzeug
        kaufen würden, aber vor Ort zu wenige Ladestationen
        vorfinden. Wir  brauchen  also  die  Kaufprämie  und  zu-
        sätzliche Investitionen in den Ausbau der Infrastruktur,
        um erfolgreich zu sein . Die SPD-Bundestagsfraktion un-
        terstützt daher die Investitionen in den Ausbau der In-
        frastruktur für Elektrofahrzeuge . Uns war auch wichtig,
        dass sich auch die Autoindustrie an den Gesamtkosten
        dieses Maßnahmenpakets von gut 1 Milliarde Euro hälf-
        tig beteiligt . Ich bin überzeugt, diese Summe ist für beide
        Seiten gut investiertes Geld!
        Zusätzlich schaffen wir einen steuerlichen Anreiz . Es
        sollen diejenigen steuerlich belohnt werden, die sich ein
        Elektrofahrzeug zulegen . Eine zehnjährige Steuerbefrei-
        ung ist genau das richtige Signal an all diejenigen, die
        jetzt einsteigen wollen .
        Ich komme zum Schluss: Wenn wir jetzt den Markt
        mithelfen anzuschieben, wird das überdies dazu führen,
        dass die deutsche Automobilindustrie noch intensiver an
        Innovationen, beispielsweise an noch besseren Batterie-
        zellen, arbeiten wird .
        Wir stimmen diesem Gesetzentwurf zu, weil wir über-
        zeugt sind, dass wir damit auf einem erfolgreichen Weg
        sind .
        Richard Pitterle (DIE LINKE): Kürzlich erklärte der
        christlich-soziale Bundesminister für Landwirtschaft und
        Ernährung Christian Schmidt den Bauern, die der Preis-
        verfall bei Milch in den Ruin treibt, es sei in einer sozi-
        alen Marktwirtschaft nicht Aufgabe des Staates, sich in
        die Preispolitik einzumischen .
        Und kaltschnäuzig hieb die sozialdemokratische Mi-
        nisterpräsidentin Hannelore Kraft in die gleiche Kerbe,
        als sie Flutopfern die Hilfe des Landes verweigerte, weil
        schließlich nicht alle mit Steuermitteln begünstigt wer-
        den könnten, die keine Versicherung abschlössen .
        Heute aber stehen wir hier und beraten auf Initiative
        der schwarz-roten Koalition die milliardenschwere Ein-
        mischung des Staates in die Preispolitik durch Begünsti-
        gungen aus Steuermitteln . Wieder einmal!
        Nur kurz zur Erinnerung:
        Gegen unseren Widerstand wurden superreichen Ree-
        dern Milliarden in der naiven, längst widerlegten Hoff-
        nung geschenkt, sie würden dann wohlgefällig vielleicht
        den einen oder anderen Arbeitsplatz in der maritimen
        Wirtschaft erhalten .
        Gegen unseren Widerstand versuchen Sie, mit Steuer-
        geschenken kopf- und planlos den Bau von Wohnungen
        zu fördern, nachdem Sie jahrzehntelang dem Todeskampf
        des sozialen Wohnungsbaus von der Seitenlinie zugese-
        hen haben, obwohl Ihnen Experten nur Mitnahmeeffekte
        für Luxuswohnungen prophezeien .
        Und gegen unseren Widerstand und sogar trotz klarer
        Ansagen des Bundesverfassungsgerichts gegen die Ver-
        schonung superreicher Erbinnen und Erben wird die Bi-
        lanz Ihrer schon peinlichen Auseinandersetzung um die
        Reform darauf hinauslaufen, die Reichsten der Reichen
        weiterhin zu verschonen .
        Nun bin ich wie auch meine Partei Die Linke sicher
        nicht verdächtig, neoliberaler Wirtschaftspolitik das Wort
        zu reden . Denn genau das machen Kraft und Schmidt,
        wenn sie den Staat aus der Verantwortung entlassen und
        auf Markt und Eigenverantwortung verweisen . Und ge-
        nau das macht, wer Steuervorteile prinzipiell geißelt .
        Das Steuerrecht wird in vielen Politikbereichen nicht
        nur zur Einnahmenerzielung, sondern auch oder sogar
        fast ausschließlich zur Verhaltenslenkung genutzt . In
        einer komplexen Gesellschaft wie der unsrigen ist dies
        unbestreitbar  ein  effizientes  und  auch  unverzichtbares 
        Mittel, um Politikziele zu erreichen .
        Bei von Justi heißt es im Jahre 1766: „Die Steuer ist
        ein sehr glückliches Mittel, den Staat zu bilden und ein-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617766
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        zurichten, wie es den Absichten einer ‚weisen‘ Regie-
        rung gemäß sei“ .
        Das heißt aber nicht, dass wir die wenig weise Steu-
        erpolitik nach schwarz-rotem Rezept gutheißen . Dieses
        schlichte Rezept passt sogar auf einen Bierdeckel: Mäch-
        tige  Wirtschaftslobbyisten  flüstern  den  Untergang  des 
        Mittelstandes, wenn nicht gleich der Welt ein, der nur mit
        Steuergeschenken vorzugsweise an sich und an Besser-
        verdienende aufgehalten werden kann .
        In  dieser  langjährigen  Tradition  findet  sich  die  nun 
        breit angelegte Förderung der Elektromobilität im Stra-
        ßenverkehr wieder, für die vorliegender Gesetzentwurf
        ein Baustein ist . Als Resultat von Kamingesprächen
        im Kanzlerinnenamt mit den Lobbyisten der deutschen
        Autoindustrie wird nun ein gewaltiges Subventions-
        programm auch für einen halbstaatlichen Autokonzern
        aufgelegt, der wegen illegaler Abgasmanipulationen mit
        dem Rücken zur Wand steht und die internationale tech-
        nische Entwicklung einfach verschlafen hat .
        Die Querfinanzierung  Ihrer Förderung durch Steuer-
        geschenke an Besserverdienende zahlen diejenigen Bür-
        gerinnen und Bürger, für die Elektromobilität im Alltag
        so realistisch ist wie der Jahresurlaub in der Karibik .
        Wie falsch Ihr Ansatz ist, lässt sich aber am deutlichs-
        ten in Zahlen ausdrücken:
        So ziemlich alle größeren Volkswirtschaften fördern
        die Elektromobilität seit vielen Jahren . In den meisten
        Staaten gibt es vergleichbare Programme seit gut acht
        Jahren . In Japan sogar seit 1996! Neben klassischen
        Förderungen mit Kaufanreizen wie Kaufprämien, Steu-
        ererstattungen gibt es viele weitere, wie kostenlose Park-
        plätze, Mautfreiheit, die Nutzung von Sonderspuren im
        Straßenverkehr . Die Höhe der Kaufanreize ist ebenfalls
        ähnlich: in der Regel mehrere tausend Euro für ein Fahr-
        zeug .
        Was hat es gebracht?
        Derzeit gibt es weltweit circa 1,5 Milliarden Fahrzeu-
        ge . Davon sind circa 1 Million Fahrzeuge Elektroautos .
        Also weniger als 0,001 Prozent . Weltweit führend sind
        derzeit noch die USA, obwohl China mit massiver und
        bekannt wenig marktwirtschaftlicher staatlicher Inter-
        vention die Führungsposition angreift . Der milliarden-
        schwere Wettkampf hat aber bisher nur zu 400 000 Elek-
        troautos, also 0,3 Prozent der Fahrzeuge, in den USA
        gereicht . Die Zahl der Neuzulassungen in den USA stag-
        niert, obwohl neben Bundesprogrammen auch die Bun-
        desstaaten eigene Förderprogramme haben .
        Deutschland ist ohne Förderung weltweit auf Platz 7
        mit einem Elektrofahrzeuganteil von 0,07 Prozent . Vor-
        zeigeland Norwegen hat gerade mal eine 1,6-prozentige
        Quote trotz massiver Förderung .
        Eine Umfrage des Instituts für Verkehrsforschung be-
        stätigt die Nutzlosigkeit von steuerlichen und sonstigen
        Kaufanreizen: Kaufentscheidend sind eine öffentliche
        Ladeinfrastruktur, die Zuverlässigkeit der Technik und
        günstige Strompreise .
        Investieren Sie in die Forschung und Entwicklung,
        in die allgemeine Infrastruktur und in alternative Ver-
        kehrskonzepte, statt mit Steuergeschenken Strohfeuer
        anzufachen .
        Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Steuerliche Anreize zur Förderung der Elektro-
        mobilität sind als begleitende Maßnahme grundsätzlich
        richtig . Die Verlängerung der Kfz-Steuerbefreiung für
        reine Elektrofahrzeuge auf zehn Jahre ist allerdings eine
        rein symbolische Maßnahme . Ein Fahrzeughalter eines
        leichten Nissan Leaf würde gerade mal 45 Euro pro Jahr
        sparen . Über zehn Jahre macht das also eine Steuerer-
        sparnis von mageren 450 Euro . Das ist kein wirksamer
        Anreiz, sich ein Elektroauto zu kaufen .
        Der Gesetzentwurf sieht zudem vor, das Einkommen-
        steuergesetz zu ändern . Ermöglicht der Arbeitgeber dem
        Arbeitnehmer die Möglichkeit, sein privates Elektroauto
        während der Arbeitszeit am Arbeitsort aufzuladen, so soll
        dies steuerbefreit werden – also kein geldwerter Vorteil .
        Gleiches gilt, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer
        die betriebliche Ladevorrichtung zeitweise zur privaten
        Nutzung überlässt . Diese Maßnahme begrüßen wir . So
        können Arbeitgeber mit nur geringen Kosten die Elekt-
        romobilität ihrer Mitarbeiter fördern, ohne dass sich da-
        durch neue bürokratische Hürden auftun .
        Ich will die Gelegenheit mit der Beratung des Gesetz-
        entwurfes nutzen, um auf die fehlende Gesamtstrategie
        der Bundesregierung zur Förderung der Elektromobilität
        zu sprechen zu kommen:
        Vor ziemlich genau einem Jahr wurde das Elektromo-
        bilitätsgesetz beschlossen . Es hat bisher keine Impulse
        für die Förderung der Elektromobilität gesetzt . So gut
        wie keine Kommune hat Busspuren für Elektroautos
        freigegeben, Zufahrtsbeschränkungen gelockert oder
        kostenlose Parkplätze eingerichtet . Die neuen E-Kenn-
        zeichen sind ein Ladenhüter . Ein Scheitern mit Ansage:
        Es ist naiv, zu glauben, Kunden würden sich in Scharen
        für Elektroautos entscheiden, weil sie kostenfrei parken
        oder die Busspur nutzen können, während die Fahrzeuge
        deutlich teurer sind und Ladeinfrastruktur fehlt .
        Das Elektromobilitätsgesetz muss daher überarbeitet
        werden . Jetzt müssen die Rechtsgrundlagen für die Aus-
        rüstung von Wohnhäusern und öffentlichen Gebäuden
        mit Ladeinfrastruktur geschaffen werden . Frankreich
        macht es uns vor: Bei öffentlichen Einrichtungen gehört
        Ladeinfrastruktur zum Standard .
        Die ein Jahr diskutierte Kaufprämie für Elektroautos
        ist mittlerweile beschlossen . Doch anstatt die Prämie
        über ein Bonus-Malus-System bei der Kfz-Steuer zu fi-
        nanzieren und damit eine ökologische Lenkungswirkung
        zu schaffen, werden die Mittel aus dem Energie- und Kli-
        mafonds genommen . Diese Gelder werden nun für ande-
        re wichtige Klimaschutzprojekte fehlen . Um wesentlich
        stärkere Klimaschutzwirkungen zu erzielen, müsste stär-
        ker in andere Bereiche investiert werden .
        Elektromobilität bedeutet für die Bundesregierung le-
        diglich, dass Autos elektrisch fahren sollen . Das ist mehr
        als kurzsichtig . Die Förderung der Elektromobilität darf
        nicht zu reiner Industriepolitik verkommen . Sie ist eine
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 2016 17767
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        zentrale verkehrspolitische Herausforderung . Was wir
        brauchen, ist ein verkehrsträgerübergreifender Ansatz:
        Mit den 600 Millionen Euro Steuergeldern sollten
        wir besser Elektrobusse, E-Taxis und elektrische Nutz-
        fahrzeuge für die städtische Logistik fördern . Denn bei
        Elektromobilität geht es bei weitem nicht nur um den
        Austausch des Antriebs, sondern um die Veränderung bis-
        heriger Verkehrsstrukturen und um neue Mobilitätskon-
        zepte . Gerade in Ballungsräumen rückt die Vernetzung
        unterschiedlicher Verkehrsträger in den Vordergrund .
        Der Schienenverkehr fährt bereits heute weitgehend
        elektrisch . Viele Bahnstrecken, insbesondere im länd-
        lichen Raum, warten  jedoch noch  auf  ihre Elektrifizie-
        rung. Hier wäre ein Elektrifizierungsprogramm notwen-
        dig, was auch den Güterverkehr auf der Schiene fördern
        würde . Allein die Umstellung des gesamten Bahnstroms
        auf Ökostrom würde achtmal mehr CO2 einsparen als
        400 000 Elektroautos, die über die Kaufprämie gefördert
        werden sollen .
        Widersprüchlich ist die uneinheitliche Definition von 
        Elektroautos bei der Bundesregierung und die damit ein-
        hergehende Förderung: Nach dem Elektromobilitätsge-
        setz zählen auch Leichtfahrzeuge der Klassen L3e, L4e,
        L5e und L7e als Elektroautos und erhalten ein E-Kenn-
        zeichen . Von der Förderung durch die Kaufprämie sind
        die aber ausgeschlossen . Von der Kfz-Steuerbefreiung
        profitieren lediglich reine Elektrofahrzeuge sowie – und 
        neu im vorliegenden Gesetzentwurf – Fahrzeuge, die von
        Verbrennungs- auf reinen Elektromotor umgerüstet wur-
        den . Die einkommensteuerlichen Maßnahmen beziehen
        sich wiederum sowohl auf Elektrofahrzeuge als auch auf
        Plug-in-Hybride . Wie sollen die Verbraucherinnen und
        Verbraucher da noch durchsehen? Sie sind nicht stringent
        und schaffen einen Förderdschungel .
        Der Verkehr ist das Sorgenkind im Klimaschutz . Seine
        Treibhausgasemissionen liegen heute über denen im Ba-
        sisjahr 1990 . Wir müssen Elektromobilität daher endlich
        breit fördern und uns nicht nur auf das Auto fokussieren .
        Sonst sind die Klimaschutzziele nicht zu schaffen .
        Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär beim Bun-
        desminister der Finanzen: Im Mai dieses Jahres hat die
        Bundesregierung ein Maßnahmenpaket zur Förderung
        der Elektromobilität beschlossen . Teil des Paketes sind
        auch Steuervorteile für Elektrofahrzeuge .
        Eine richtige Entscheidung . Warum?
        Die im vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur steu-
        erlichen Förderung von Elektromobilität im Straßenver-
        kehr enthaltenen Maßnahmen machen die Nutzung von
        umweltschonenden, klimafreundlichen Elektrofahrzeu-
        gen attraktiver, für Privatpersonen und für Unternehmen .
        Die Steuervorteile ergeben sich zum einen bei der Kraft-
        fahrzeugsteuer und zum anderen bei der Einkommen-
        steuer .
        Drei praktische Beispiele darf ich Ihnen vorab an die
        Hand geben:
        Erstens . Wer im Zeitraum vom 1 . Januar 2016 bis zum
        31 . Dezember 2020 ein reines Elektroauto erstmals zu-
        lässt, ist zehn Jahre lang von der Kraftfahrzeugsteuer be-
        freit . Dies entspricht im Vergleich zum Status quo einer
        Verdoppelung des Befreiungszeitraumes .
        Zweitens . Wer sein privates Elektrofahrzeug im Be-
        trieb des Arbeitgebers aufladen darf, kann  sich darüber 
        freuen, dass dieser sogenannte „geldwerte Vorteil“ lohn-
        steuerfrei ist . Der Arbeitnehmer spart sich die Stromkos-
        ten sowie die darauf entfallende Einkommensteuer, und
        der Arbeitgeber braucht für das „Volltanken“ mit Strom
        keine Lohnsteuer einzubehalten und abzuführen . So pro-
        fitieren beide Seiten. 
        Drittens . Übereignet der Arbeitgeber dem Arbeitneh-
        mer die Ladevorrichtung verbilligt oder gibt er ihm einen
        Kaufzuschuss, so ist eine Pauschalierung der Lohnsteuer
        mit nur 25 Prozent möglich .
        Sie sehen: So einfach kann Steuerrecht sein .
        Die mit diesem Gesetzentwurf verfolgten steuerlichen
        Maßnahmen sollen in erster Linie eine entsprechende
        Lenkungswirkung haben und der Verwirklichung der
        Ziele der Bundesregierung dienen: der Verbesserung der
        Luftreinhaltung und einer klimagerechten Zukunftspoli-
        tik .
        Mit dem Ziel vor Augen, bis 2020 den CO2-Ausstoß
        gegenüber 1990 um mindestens 40 Prozent zu senken,
        sind auch im Verkehrssektor Emissionsminderungen not-
        wendig . Die Steigerung des Anteils von Elektrofahrzeu-
        gen ist eine zentrale Maßnahme, um den Straßenverkehr
        umweltverträglicher zu machen und einen adäquaten
        Beitrag zur Reduktion der CO2-Emissionen zu leisten .
        Um die Zahl der Neuzulassungen von Elektrofahrzeu-
        gen und den Umstieg auf klimafreundlichere Fahrzeuge
        deutlicher zu erhöhen, braucht es jedoch mehr Akzeptanz
        und Attraktivität für die Nutzer .
        Mit dem nunmehr vorliegenden Maßnahmenpaket
        zur Förderung der Elektromobilität stellt der Bund zu-
        sätzlich etwa 1 Milliarde Euro für die direkte Förderung
        des Erwerbs von E-Fahrzeugen – sogenannter Umwelt-
        bonus – sowie für die Verbesserung der Ladeinfrastruk-
        tur bereit . Und auch die öffentliche Hand selbst wird bei
        ihren eigenen Fuhrparks mit gutem Beispiel vorangehen .
        Der Anteil der durch die Bundesregierung in ihrem Ge-
        schäftsbereich zu beschaffenden Elektrofahrzeuge soll
        auf mindestens 20 Prozent erhöht werden . Ziel des Maß-
        nahmenpakets ist, neben der weiteren Förderung von
        Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten dem Markt-
        hochlauf für E-Fahrzeuge einen kräftigen Impuls zu ge-
        ben .
        Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren im
        Rahmen des Regierungsprogrammes Elektromobilität
        gut 1,5 Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung
        bereitgestellt . Durch Forschungs- und Entwicklungsakti-
        vitäten, aber auch durch steuerliche Anreize soll Elektro-
        mobilität kostengünstiger und alltagstauglicher werden .
        Im Einzelnen sieht der Ihnen vorliegende Gesetzent-
        wurf folgende Maßnahmen vor .
        Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes:
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 179 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . Juni 201617768
        (A) (C)
        (B) (D)
        Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
        Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de
        Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
        Momentan gilt bei erstmaliger Zulassung reiner Elek-
        trofahrzeuge im Zeitraum vom 1 . Januar 2016 bis zum
        31 . Dezember 2020 eine fünfjährige Steuerbefreiung ab
        der Erstzulassung . Diese Kraftfahrzeugsteuerbefreiung
        soll rückwirkend zum 1 . Januar 2016 in eine zehnjährige
        Befreiung verlängert werden .
        Die zehnjährige Steuerbefreiung für reine Elektro-
        fahrzeuge soll darüber hinaus auch für solche Fahrzeuge
        gelten, die technisch angemessen und verkehrsrechtlich
        genehmigt zu reinen Elektrofahrzeugen umgerüstet wor-
        den sind .
        Änderung des Einkommensteuergesetzes:
        Im Zeitraum vom 1 . Januar 2017 bis 31 . Dezember
        2020 sollen vom Arbeitgeber an Arbeitnehmer gewährte
        Vorteile für das elektrische Aufladen eines privaten Elek-
        trofahrzeugs oder Hybridelektrofahrzeugs im Betrieb des
        Arbeitgebers steuerfrei sein; Gleiches soll für die zur pri-
        vaten Nutzung zeitweise überlassenen betrieblichen La-
        devorrichtungen gelten .
        Der Arbeitgeber soll zudem die Möglichkeit erhalten,
        geldwerte Vorteile aus der unentgeltlichen oder verbil-
        ligten Übereignung der Ladevorrichtung und Zuschüsse
        pauschal mit 25 Prozent Lohnsteuer zu besteuern .
        Das Thema Elektromobilität liegt der Bundesregie-
        rung am Herzen . Maßnahmen zur Förderung der Elektro-
        mobilität sind Antwort auf die steigenden Anforderungen
        an Klimaschutz – CO2-Ausstoß – und Luftreinhaltung –
        Stickoxid, Rußpartikel etc . . Als Bindeglied zwischen der
        Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen und
        dem Verkehrssektor ist die Elektromobilität ein wichtiger
        Baustein der Energiewende .
        Mithilfe der Elektromobilität können wir verkehrsbe-
        dingte lokale Emissionen verringern und zum Ausbau
        klimafreundlicher Verkehrssysteme beitragen . Durch in-
        novative Ideen und Technologien tragen wir zur Nach-
        haltigkeit und zum Klimaschutz bei .
        Deutschland braucht die Elektromobilität, und die
        Elektromobilität bringt Deutschland eine Verbesserung
        der Luftreinhaltung und eine klimagerechte Zukunftspo-
        litik .
        Lassen Sie uns mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
        gemeinsam einen weiteren Schritt nach vorne in Rich-
        tung einer klimagerechten Zukunft machen .
        Ich freue mich auf die Beratungen in den entsprechen-
        den Fachausschüssen .
        179. Sitzung
        Inhaltsverzeichnis
        TOP 5 Forschung und Innovation 2016
        TOP 6, ZP 1 Klimaschutz
        ZP 2 u. 3 25 Jahre deutsch-polnischer Vertrag
        TOP 29, ZP 4 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
        TOP 30 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
        ZP 5 Aktuelle Stunde zu ärztlichen Attesten in Abschiebeverfahren
        TOP 7 Neuregelung des Kulturgutschutzrechts
        TOP 9 Aktionsplan gegen Sexismus
        TOP 10 Bundeswehreinsatz in Kosovo (KFOR)
        TOP 11 Unterstützung queerer Jugendlicher
        TOP 12 Bundeswehreinsatz im Libanon (UNIFIL)
        TOP 13, ZP 6 u. 7 Mietrecht
        TOP 8 Änderung des SGB II – Rechtsvereinfachung
        TOP 15 Mindestqualitätsvorgaben für Internetzugänge
        TOP 16 Digitalisierung der Energiewende
        TOP 17 Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft
        ZP 8 Weiterentwicklung des Strommarktes
        TOP 19 Netzneutralität
        TOP 18 Europäischer Binnenmarkt
        TOP 20 Änderung des Standortauswahlgesetzes
        TOP 21 Sozialer Basisschutz in Entwicklungsländern
        TOP 22 Anpassung patentrechtlicher Vorschriften
        TOP 23 Sicherheit von Offshore-Erdöl- und Erdgasaktivitäten
        TOP 27 Steuerliche Förderung von Elektromobilität
        Anlagen
        Anlage 1
        Anlage 2
        Anlage 3
        Anlage 4
        Anlage 5
        Anlage 6
        Anlage 7
        Anlage 8
        Anlage 9
        Anlage 10