Gesamtes Protokol
Grüß Gott! Die Sitzung ist eröffnet .Vor Eintritt in die Tagesordnung dieser 178 . Sitzungdes Deutschen Bundestages darf ich folgende amtlicheMitteilung verlesen: Interfraktionell ist vereinbart wor-den, die Unterrichtung der Bundesregierung zur Stel-lungnahme des Bundesrates auf der Drucksache 18/8840zu dem bereits überwiesenen Entwurf eines Gesetzes zurUmsetzung der EU-Richtlinien 2015/566 und 2015/565zur Einfuhr und zur Kodierung menschlicher Gewebeund Gewebezubereitungen an den federführenden Aus-schuss für Gesundheit sowie zur Mitberatung an denAusschuss für Recht und Verbraucherschutz und denAusschuss für Bildung, Forschung und Technologiefol-genabschätzung zu überweisen .Des Weiteren sollen die Mitberatungen des Ausschus-ses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheitund des Ausschusses für Verkehr und digitale Infra-struktur zu dem bereits überwiesenen Antrag auf Einset-zung eines Untersuchungsausschusses auf der Drucksa-che 18/8273 aufgehoben werden .Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? – Wi-derspruch sehe ich keinen . Dann ist das so beschlossen .Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum besse-ren Informationsaustausch bei der Bekämp-fung des internationalen TerrorismusDrucksache 18/8824, 18/8881Überweisungsvorschlag: Innenausschuss
Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucher-schutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für die Angelegenheiten derEuropäischen Union Ausschuss Digitale AgendaEine Aussprache ist für heute nicht vorgesehen . Wirkommen daher gleich zur Überweisung . Interfraktionellwird Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksa-chen 18/8824 und 18/8881 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es dazuandere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall . Dann ist dieÜberweisung so beschlossen .Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:Befragung der BundesregierungBevor wir zur Befragung der Bundesregierung kom-men, habe ich eine Bitte an die Parlamentarischen Ge-schäftsführer: Wenn Sie uns die Namen der Fragestellervorab geben könnten, dann können wir unverzüglich mitden Fragen beginnen .Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-binettssitzung mitgeteilt: Bericht der Bundesregierungfür die Siebte Überprüfungstagung zum Übereinkom-men über nukleare Sicherheit im März/April 2017.Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Berichthat die Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bauund Reaktorsicherheit, Frau Dr . Barbara Hendricks . –Frau Ministerin, Sie haben das Wort .Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Bundeskabinett hat heute den Bericht für die SiebteÜberprüfungstagung zum Übereinkommen über nukleareSicherheit beschlossen, die im März/April 2017 in Wienstattfinden wird. Die nukleare Sicherheit ist eine zentraleAufgabe, die auch nicht dadurch geschmälert wird, dassDeutschland bis 2022 aus der Nutzung der Kernener-gie aussteigt . Die Sicherheit der Atomkraftwerke mussbis zum letzten Betriebstag und auch anschließend beider Stilllegung und beim Rückbau vollständig gewähr-leistet bleiben . Die Sicherheit der Nuklearanlagen stehtauch im Zentrum des Übereinkommens . Es handelt sichum einen wichtigen Vertrag, der in den 1990er-Jahrenunter maßgeblicher Beteiligung der damaligen Bundes-regierung zustande gekommen ist . Die Vertragsstaatenverpflichten sich darin zur Erfüllung eines internationalhohen Standards der nuklearen Sicherheit von Kernanla-gen sowohl durch innerstaatliche Maßnahmen wie auch
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durch internationale Zusammenarbeit, zur Schaffung undBeibehaltung wirksamer Abwehrvorkehrungen in Kern-anlagen gegen mögliche radiologische Gefahren und zurVerhütung von Unfällen mit radiologischen Folgen bzw .zur Milderung dieser Folgen .Dem Übereinkommen gehören gegenwärtig 78 Ver-tragsparteien an, die alle drei Jahre einen nationalenBericht für die Überprüfungskonferenz vorlegen sollen .Eine Reihe von Vertragsstaaten hat das im Jahr 2014nicht getan und auch nicht an der Konferenz teilgenom-men . Wir sind überzeugt, dass die Vertragsziele viel zurinternationalen Sicherheit beitragen können . Deshalbunterstützt Deutschland die kanadische Präsidentschaftdabei, diese Vertragsstaaten von der Notwendigkeit eineraktiven Mitarbeit zu überzeugen . Darüber hinaus ist esaus deutscher Sicht notwendig, weitere Staaten, die bis-lang keine Vertragsstaaten sind, in den Überprüfungspro-zess einzubinden . Deutschland wird alle Bemühungen indiese Richtung unterstützen .Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der WienerDeklaration zum Übereinkommen hat die internatio-nale Staatengemeinschaft ein weiteres Signal zur Ver-besserung der Sicherheit in Atomkraftwerken nach denReaktorunfällen in Fukushima gesetzt . Danach sollenin zahlreichen anderen Staaten Kernanlagen sicherheits-technisch nachgerüstet werden . Ob dies tatsächlichgeschieht, liegt in der souveränen Entscheidung desBetreiberstaates bzw . der jeweiligen atomrechtlichenAufsichtsbehörden . Hier hätte sich Deutschland ganzklar rechtsverbindlichere Regelungen gewünscht . Dasist aber leider am Widerstand einiger Betreiberstaatengescheitert . Immerhin wird ein gewisser Druck durchdie so erweiterten Berichtspflichten ausgeübt, und manwird aus den nationalen Berichten ersehen, ob Verbesse-rungen vorgenommen werden . Wir werden die Berichteder anderen Vertragsstaaten, insbesondere die unsererNachbarn mit Atomkraftwerken, auswerten . Die Über-prüfungstagung vom 27 . März bis zum 7 . April 2017 inWien gibt dann den Rahmen, um alle kritischen Fragenzur nuklearen Sicherheit zu stellen .Mit dem nationalen Bericht stellen wir fest, dass dieBundesrepublik Deutschland alle Verpflichtungen ausdem Übereinkommen über nukleare Sicherheit erfüllt .Deutschland bleibt darüber hinaus Ansprechpartner in al-len Sicherheitsfragen und wird sich auch zukünftig aktivfür Sicherheitsverbesserungen in den Staaten einsetzen,die weiter an der Atomenergie festhalten . Wir werdeninsbesondere die Sicherheit der Kernanlagen in unserenNachbarstaaten weiter kritisch hinterfragen .Liebe Kolleginnen und Kollegen, der nationale Be-richt wird jetzt in englischer Sprache bei der IAEOhinterlegt . Alle Vertragsstaaten haben die Möglichkeit,Fragen zum Bericht zu stellen, die wir dann beantwortenwerden . Umgekehrt können wir auch Fragen zu den üb-rigen nationalen Berichten stellen . Das Ziel dieses Ver-fahrens sind eine transparente Bewertung der nationalenBerichte durch andere sowie das gemeinsame Lernen ausden Erfahrungen der anderen . Außerdem werden wir denBericht noch heute an die Ausschüsse für Umwelt undBau des Deutschen Bundestages sowie des Bundesratesversenden .Abschließend möchte ich allen danken, die an derErstellung des Berichtes beteiligt waren . Das sind dasBundesamt für Strahlenschutz, die Bundesländer mitKernanlagen, die Genehmigungsinhaber, die beteiligtenBundesressorts und das Bundeskanzleramt .Herzlichen Dank .
Vielen Dank, Frau Bundesministerin . – Mir liegen
jetzt bereits einige Fragen vor, die sich mit dem Themen-
bereich beschäftigen, über den Frau Bundesministerin
soeben berichtet hat .
Als Erstes erteile ich dem Kollegen Hubertus Zdebel
von den Linken das Wort für eine Frage .
Danke schön, Herr Präsident . – Frau Ministerin, meine
Frage bezieht sich auf den Themenkomplex AVR Jülich .
Ich beziehe mich auf den Bericht für die Überprüfungs-
tagung 2014, in dem der Standort AVR Jülich im An-
hang 1-2 als Kernkraftwerk in Stilllegung klassifiziert ist.
Meine Frage lautet, ob das im neuen Bericht immer noch
so ist; denn da stellen sich natürlich Fragen bezüglich des
Exports der Brennelemente in die USA . Darüber wird ja
immer noch verhandelt, obwohl das nach dem Atomgesetz
gar nicht zulässig wäre, wenn es sich um ein Kernkraft-
werk handelte und nicht um einen Forschungsreaktor .
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Ich stimme Ihnen zu: Wenn es sich um Brennelemente
aus einem Kernkraftwerk handelte, dann können wir diese
gemäß Atomgesetz nicht exportieren; das ist vollkommen
richtig . Die Position meines Hauses ist, dass wir Expor-
te vermeiden wollen . Dies ist noch nicht die Position der
Bundesregierung . Ich bin aber zuversichtlich, dass wir
eine gute, alternative Lösung im Inland finden werden.
Die nächste Frage stellt Kollegin Sylvia Kotting-Uhl
vom Bündnis 90/Die Grünen .
Vielen Dank, Herr Präsident . – Frau Ministerin, ichmöchte anschließen an Ihre Aussage – Zitat –: „Die Si-cherheit … muss bis zum letzten Betriebstag … gewähr-leistet bleiben .“ Sie stimmen wahrscheinlich mit mirüberein – zumindest was die belgischen Atomkraftwerkebetrifft –, dass es an unseren Grenzen Atomkraftwerkegibt, auf die sich die Frage nach der Sicherheit stärkerbezieht als auf Atomkraftwerke bei uns in Deutschland .Wir haben das Paradoxon: Auf der einen Seite steht diesouveräne Entscheidung des Betreiberstaates über allem –Sie haben es eben angesprochen –, auf der anderen Seitewissen wir alle, dass Strahlung und Risiko an Landesgren-zen nicht haltmachen . Meine Frage lautet: Wann wird sichdie Bundesregierung aus dieser Erkenntnis heraus endlichdafür einsetzen, zum Beispiel bei der nächsten Tagung imJahr 2017, dass zumindest die von einem GAU direkt be-Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks
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troffenen Nachbarländer ein Mitspracherecht in Bezug aufdie Sicherheitsanforderungen von grenznahen Atomkraft-werken bekommen? Man könnte das zum Beispiel überEuratom installieren . Wird sich die Bundesregierung füreine solche Regelung starkmachen?Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:Frau Kollegin, ich hatte eben gesagt, dass wir zu-nächst die Berichte der Länder mit Atomenergieanla-gen, insbesondere die Berichte unserer Nachbarländer,besonders sorgfältig prüfen werden . Wenn das Ergebnisder Prüfung einen Anhaltspunkt ergibt, genau in dieserRichtung auf der Konferenz in Wien voranzuschreiten,dann werden wir dies tun .Im Übrigen haben wir mittlerweile Wege der Zusam-menarbeit mit Belgien gefunden, die es bisher so nichtgab . Im Ergebnis ist das alles aber noch nicht befriedi-gend; da sind wir uns sicherlich einig .
Die nächste Frage stellt die Kollegin Inge Höger von
der Fraktion Die Linke .
Vielen Dank . – Unsicherheit geht nicht nur von Atom-
kraftwerken aus, sondern auch von den nach wie vor in
Deutschland gelagerten Atomwaffen in Büchel . Diese
sollen jetzt sogar modernisiert werden . Wie steht die
Bundesregierung dazu?
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Frau Kollegin, dazu kann ich keine Aussage treffen,
weil das nicht in meinem Verantwortungsbereich liegt . –
Der Kollege Brauksiepe aus dem Bundesverteidigungs-
ministerium wäre vielleicht in der Lage, darauf eine Ant-
wort zu geben .
Möchte Herr Staatssekretär Brauksiepe für die Bun-
desregierung spontan eine Antwort auf diese Frage ge-
ben?
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Er muss nicht; das ist klar .
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort .
D
Herr Präsident, es ist wohlgeübte Praxis der Bundesre-
gierung, darüber nicht öffentlich Auskunft zu geben, und
diese bewährte Praxis wird auch fortgeführt werden .
Damit ist eine Antwort auf die Frage gegeben wor-
den . – Die nächste Frage stellt der Kollege Oliver
Krischer für Bündnis 90/Die Grünen .
Herzlichen Dank, Herr Präsident . – Frau Ministerin,
die Kollegin Kotting-Uhl hat die grenznahen AKWs
schon angesprochen . Das Problem betrifft mehrere Staa-
ten, nicht nur Belgien, aber ich möchte konkret nach Bel-
gien fragen . Sie haben ein Atomabkommen mit Belgien
in Aussicht gestellt . Sie haben eben davon gesprochen,
es gebe eine Zusammenarbeit, die aber noch unbefrie-
digend sei; so habe ich Sie jedenfalls verstanden . Meine
Frage lautet: Sind Sie in konkreten Verhandlungen mit
Belgien über ein Sicherheitsabkommen mit Deutschland,
und wenn ja, wann können wir mit einem solchen Ab-
kommen rechnen, und welche Inhalte wird ein solches
Abkommen haben?
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Herr Kollege Krischer, auf Basis der Beratungen der
Reaktor-Sicherheitskommission und der Bewertungen
der Experten des Bundesumweltministeriums hatte ich
die belgische Regierung gebeten, bis zur abschließenden
Klärung von noch notwendigen weiter gehenden Unter-
suchungen die Reaktorblöcke Tihange 2 und Doel 3 vo-
rübergehend stillzulegen . Bei einem bilateralen Gespräch,
das auf meine Initiative hin zwischen dem BMUB und
der Atombehörde FANC am 5 . und 6 . April 2016 statt-
fand, haben sowohl die deutschen als auch die belgischen
Experten weiteren Untersuchungsbedarf festgestellt .
Erste Vorschläge für ein weiteres Untersuchungspro-
gramm wurden von belgischer Seite bereits erarbeitet .
Das Bundesumweltministerium begrüßt die Initiative
und ist bereit, das Untersuchungsprogramm gemeinsam
mit den belgischen Experten auf internationaler Ebene zu
begleiten . Dies haben meine Experten gegenüber der zu-
ständigen Atombehörde in Belgien kommuniziert .
Ich halte es weiterhin für richtig, die Anlagen vorü-
bergehend vom Netz zu nehmen, jedenfalls so lange, bis
die weiteren Untersuchungen abgeschlossen sind . Ich
habe mich mit dem belgischen Innenminister Jambon auf
den baldigen Abschluss eines bilateralen Nuklearabkom-
mens, welches Sie ansprechen, Herr Kollege Krischer,
geeinigt . Dieses Abkommen wird eine bilaterale Nukle-
arkommission vorsehen, keine gemeinsame Sicherheits-
politik, sondern eine bilaterale Nuklearkommission, wie
wir sie mit allen anderen Nachbarländern, in denen es
AKWs gibt, schon gebildet haben . In diesem Rahmen
sollen regelmäßig Gespräche über Themen der Reaktor-
sicherheit stattfinden. Die Arbeiten an diesem Abkom-
men schreiten voran . Ich bin allerdings heute nicht in der
Lage, zu sagen, wann wir damit fertig sein werden . Wir
bemühen uns um einen raschen Abschluss .
Der Kollege Hubertus Zdebel von der Fraktion DieLinke stellt die nächste Frage .Sylvia Kotting-Uhl
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Danke schön, Herr Präsident . – Frau Ministerin, ich
habe eine Nachfrage zum Einsatz von sogenannten
MOX-Brennelementen, also von Plutonium-Uran-Misch-
brennelementen . Ich beziehe mich auf den Bericht von
März/April 2014, in dem in groben Eckdaten die Geneh-
migungssituation für den Einsatz dieser MOX-Brennele-
mente beschrieben wird . Danach wurde der Einsatz von
MOX-Brennelementen in sieben der noch in Betrieb be-
findlichen Reaktoren genehmigt. Angaben zum tatsäch-
lichen Einsatz und der Anzahl der MOX-Brennelemen-
te fehlten allerdings völlig . Meine Frage an Sie lautet:
Werden in dem neuen Bericht bessere Angaben dazu
gemacht, und können Sie, Frau Ministerin, sagen, wie
sich der Einsatz von MOX-Brennelementen in den ver-
bliebenen Reaktoren seitdem entwickelt hat und ob dem
Bericht zu entnehmen sein wird, wann der Einsatz von
MOX-Brennelementen in den Reaktoren abgeschlossen
sein wird?
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Herr Kollege, das kann ich im Moment nicht beant-
worten . Ich werde Ihnen die Antwort aber gerne schrift-
lich nachreichen .
Die nächste Frage stellt die Kollegin Katja Keul für
Bündnis 90/Die Grünen .
Auch wenn Staatssekretär Brauksiepe jetzt nichts zu
Atomwaffen sagen will, stellt sich natürlich die Frage,
ob auf der Überprüfungskonferenz im nächsten Jahr
auch die Gefährdungen durch militärische Nutzungen
der Nuklearenergie auf der Tagesordnung stehen . Es geht
ja nicht nur um moderne Waffen wie in Büchel, sondern
auch um die ganz erhebliche Gefahr durch Proliferation
von Altlasten . Deswegen frage ich mich, ob das auf die-
ser Überprüfungskonferenz zumindest Thema sein wird .
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Nein, dies wird nicht Thema auf der Überprüfungs-
konferenz sein, weil auf dieser Überprüfungskonferenz
die kommerzielle Nutzung von Kernenergie im Vorder-
grund stehen wird .
Der Kollege OIiver Krischer stellt die nächste Frage
für Bündnis 90/Die Grünen .
Herzlichen Dank, Herr Präsident . – Frau Ministerin,
vor einigen Tagen waren 60 Landräte, Bürgermeister
und Oberbürgermeister in Brüssel, um einen Fragen- und
Forderungskatalog bezüglich des Betriebs von Tihange 2
und Doel 3 an den Präsidenten des Europäischen Par-
laments und eine Reihe von Europaabgeordneten zu
übergeben . Es wurden Fragen und Forderungen an die
Europäische Kommission formuliert, auch mit Blick
auf Klagen nach dem Informationsfreiheitsgesetz . Mei-
ne Frage an Sie lautet: Ist die Bundesregierung bereit,
die Kommunen, die sich gegen den Weiterbetrieb dieser
Reaktoren aussprechen und dabei viel Know-how und fi-
nanzielles Engagement aufbringen, zu unterstützen und
insbesondere die Befriedigung ihres Informationsbedürf-
nisses mit Mitteln der Bundesregierung gegenüber der
Europäischen Kommission durchzusetzen?
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Die Bundesregierung hat selbstverständlich großes
Verständnis dafür, dass die Menschen in der Region Aa-
chen – sei es auf deutscher, belgischer, niederländischer
oder luxemburgischer Seite – ein Informationsbedürfnis
haben . Dieses wird bisher nicht befriedigt . Das liegt auf
der Hand . Wir sind gerne bereit, mit unseren Möglich-
keiten bilateral – im Verhältnis zu Belgien –, aber auch
gegenüber der Europäischen Union darauf hinzuwirken,
dass der Befriedigung dieses Informationsbedürfnisses
möglichst nachgekommen wird . Wir sehen das auch so .
Sofern Fragen von uns zu beantworten sind, werden wir
das natürlich gern tun .
Frau Kollegin Höger, Sie möchten eine weitere Frage
stellen .
Frau Bundesministerin, ich habe eine Frage zum The-
ma Nuklearterrorismus . Dazu stand im Bericht von 2014
geschrieben, dass Sie Vorkehrungen gegen Sicherheits-
störungen in einem separaten Sicherheitsbericht zusam-
menstellen, der vertraulich ist . Unabhängig davon lautet
die Frage: Wird das Thema bei der nuklearen Überprü-
fungskonferenz sein, und welche Vorkehrungen hat die
Bundesregierung da getroffen?
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Ja, das wird Thema sein, weil es sich auf die kommer-
zielle Nutzung von Atomenergie bezieht . Aber es wird
vertraulich behandelt werden . Ich bitte Sie um Verständ-
nis, dass ich in der Öffentlichkeit nicht über die Vorkeh-
rungen sprechen kann, die die Bundesregierung getroffen
hat .
Frau Kollegin Kotting-Uhl, Sie wollten noch eine Fra-
ge stellen .
Frau Ministerin, ich muss noch einmal auf die grenz-nahen Atomkraftwerke zurückkommen . Wir haben esnicht nur mit Auffälligkeiten oder Löchern im Herzendes Reaktors, wie ich es gern nenne, in Belgien, sondernauch mit dem Problem der Überalterung der Atomkraft-werke in Europa und vor allem an unseren Grenzen zutun . Ich nenne nur das AKW in Beznau, das dienstäl-
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teste der Welt, oder das AKW Fessenheim direkt an derGrenze zu Baden-Württemberg, das älteste Frankreichs,als Beispiele . Hat die Bundesregierung denn vor, auf dernächsten Konferenz 2017 wenigstens die Notwendigkeitfür ein strengeres Regelwerk für überalterte Atomkraft-werke deutlich zu machen, oder hat die Bundesregierungbzw . haben Sie vielleicht sogar vor – das würde mir nochbesser gefallen –, mit einem konkreten Vorschlag imCNS-Bericht auf der nächsten Tagung aufzutreten?Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:Frau Kollegin, wir sehen die Verlängerung der Lauf-zeiten älterer Atomkraftwerke auch mit Sorge . Als Ers-tes versuchen wir, mindestens eine grenzüberschreitendeUmweltverträglichkeitsprüfung durchzusetzen, sofernVerlängerungen vorgenommen werden . Dies ist bisherfakultativ; das Recht ist nicht eindeutig . Es ist nicht zwin-gend . Wir haben diesen Wunsch durchaus als Forderungformuliert – auch gegenüber unseren Nachbarn –, sofernes um Laufzeitverlängerungen bei bestehenden AKWsgeht . Bisher sind unsere Nachbarn uns dabei nicht entge-gengekommen, aber das ist einer der Punkte, den wir aufder Konferenz in Wien voranbringen wollen .
Herr Kollege Zdebel, Sie hatten noch eine Frage .
Danke, Herr Präsident . – Frau Ministerin, ich habe
eine Nachfrage zum Thema Zwischenlagerung . In dem
Bericht von 2014, den ich schon mehrere Male erwähnt
habe, war nur eine kurze Notiz auf Seite 179 über die Ge-
nehmigungssituation der Zwischenlager zu lesen, ohne
dass Details genannt worden sind . Wird das in dem neuen
Bericht anders sein? Ich frage insbesondere vor dem Hin-
tergrund der Situation im AVR-Lager in Jülich und der
aufgehobenen Genehmigung für das Zwischenlager in
Brunsbüttel . Beide Zwischenlager verfügen derzeit nicht
mehr über die erforderlichen atomrechtlichen Genehmi-
gungen, sondern werden nur noch geduldet . Werden Sie
darauf in Ihrem neuen Bericht ausführlicher eingehen?
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Ja, wir gehen darauf ausführlicher ein . Wir haben na-
türlich genauso wie Sie auch zur Kenntnis genommen,
dass insbesondere Brunsbüttel nur noch eine vorüber-
gehende Genehmigung hat, die tatsächlich im Wege der
Ersatzvornahme – so will ich es bezeichnen – durch den
zuständigen Landesminister erteilt worden ist . Selbstver-
ständlich sind wir uns dieser Tatsache bewusst .
– Was Jülich anbelangt, so sind wir mit dem Land
Nordrhein-Westfalen im Gespräch . Da geht es um die
Frage: Wohin werden die Kernbrennstäbe verbracht? Das
ist noch nicht endgültig geklärt, aber auf gutem Weg . Es
geht insbesondere auch um die Frage: Auf welche Art
und Weise wird der dafür notwendige Transport am bes-
ten durchgeführt? Das ist ja eine Frage, die von großem
Interesse ist . Nach meinem Kenntnisstand ist aus Sicht
der Landesregierung nicht vorgesehen, ein eigenes Zwi-
schenlager am Standort in Jülich zu errichten . Ich weiß,
dass es dazu unterschiedliche politische Auffassungen
im Land Nordrhein-Westfalen gibt . Ich weise allerdings
darauf hin, dass Jülich durchaus in einem erdbebenge-
fährdeten Gebiet liegt, sodass man genau genommen den
Forschungsreaktor dort schon gar nicht hätte errichten
dürfen . Infolgedessen muss man dafür sorgen, dass die
Kernbrennstäbe so zügig, aber natürlich auch so sicher
wie möglich an einen anderen Ort verbracht werden .
Frau Kollegin Kotting-Uhl, Sie werden die nächste
Frage stellen .
Vielen Dank . – Frau Ministerin, da sich die Umwelt-
ministerkonferenz gerade wieder mit Gronau und Lin-
gen befasst hat, möchte ich Ihnen dazu gerne eine Frage
stellen . Im CNS-Bericht von 2014 – als er erstellt wur-
de, waren Sie noch nicht Ministerin – wird lediglich die
Existenz dieser beiden Atomfabriken, also der Uranan-
reicherungsanlage und der Brennelementefabrik, festge-
stellt . Ich fand das schon damals etwas verwunderlich,
weil es einen Bundesratsbeschluss gab, aus dem hervor-
ging, dass man ein Konzept für ein rechtssicheres Ende
dieser beiden Anlagen vorlegen sollte . Inzwischen ist
dies von verschiedenen Seiten immer wieder gefordert
worden . Wie wollen Sie in dem neuen CNS-Bericht mit
der Existenz dieser Anlage und den vielen Forderungen,
sie zu einem rechtssicheren Ende zu führen, umgehen?
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Selbstverständlich sind die beiden Anlagen Teil unse-
rer Berichterstattung . Es ist klar, dass wir zu allem, was
relevant ist, Bericht erstatten werden . Es gibt allerdings
auf der Ebene des Bundes nicht die Absicht, dort zu ei-
nem Ende zu kommen .
Der Kollege Volker Beck wird die nächste Frage stel-
len .
– Okay . – Dann ist der Kollege Krischer mit der nächsten
Frage dran .
Herzlichen Dank, Herr Präsident . – Frau Ministerin,ich möchte noch einmal auf das Thema grenznahe AKWszurückkommen und insbesondere auf einen Bericht, dervor einigen Wochen Aufmerksamkeit erregt hat . Dortstand, dass es in der EU-Kommission Überlegungenbetreffend Neubau und Förderung von Atomkraftwer-ken gibt. Dort war auch ein Passus zu finden, dass dienächste grundsätzliche Sicherheitsüberprüfung in Formeines Stresstests erst im Jahr 2025 stattfinden soll. DieserSylvia Kotting-Uhl
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Zeitpunkt liegt in deutlicher Ferne und ist sicherlich nichtmit der Problematik der Reaktoren in Einklang zu brin-gen . Deshalb lautet meine Frage an Sie: Sind Sie bereit,sich dafür einzusetzen, dass Stresstests und Sicherheits-überprüfungen – auch im Hinblick auf die Reaktoren inBelgien, die Risse aufweisen – grundsätzlich deutlichfrüher stattfinden, und zwar generell, also nicht nur fürdiese Reaktoren, sondern für alle in Europa laufendenAtomkraftwerke, und wenn ja, welche konkreten Schritteunternehmen Sie?Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:Herr Kollege, zunächst einmal: Die Unterlage, aufdie Sie sich beziehen, war eine nicht abgestimmte Vor-lage aus dem Bereich der Kommission . Es war keineabgestimmte Vorlage, die sozusagen schon über denKommissar, über den Rat oder ähnliche Wege gelaufenwäre . Anschließend wurde durch die Kommission das,was als besonders kritisch angesehen wurde, nämlich derVorschlag dieser unautorisierten Stelle, zukünftig euro-päisches Geld in neue Kernkraftwerke zu stecken, deut-lich zurückgewiesen . Es ist einvernehmlich, dass auchForschung von der Europäischen Union nur insofernmitfinanziert wird, als es sich um Sicherheitsforschunghandelt . Atomforschung in engerem Sinn wird nicht mit-finanziert, sondern ausschließlich Sicherheitsforschung.Was die grenznahen AKWs anbelangt, so sind wir, wieich meine, auf einem guten Weg, da es bald, nachdem wirdas auch mit Belgien vereinbart haben, mit allen Nach-barn bilaterale Überprüfungsmechanismen geben wird,also gemeinsame Kommissionen, die sich auf Grundlagevon wissenschaftlich basierten Auskünften auf der Ebenevon Fachleuten regelmäßig austauschen . Ich glaube, dassdies der richtige Weg ist .Allerdings haben Sie recht: Stresstests nur alle zehnJahre sind wahrscheinlich nicht zielführend . Bezogen aufBelgien müssen wir bis jetzt davon ausgehen – jedenfallsgibt es keine anderslautende Aussage –, dass das Landbis zum Jahr 2025 aus der Atomenergie aussteigen will .Dann wäre Belgien beim nächsten Stresstest also nichtmehr dabei .
Der Kollege Zdebel hat für die nächste Frage das Wort .
Danke, Herr Präsident . – Frau Ministerin, auch ich
möchte noch einmal kurz auf die Urananreicherungsan-
lage Gronau zu sprechen kommen, allerdings unter ei-
nem anderen Aspekt, nämlich vor dem Hintergrund der
möglicherweise anstehenden Verkaufsverhandlungen .
Sie wissen ja, dass es da Gespräche gibt, und zwar zwi-
schen Großbritannien, den Niederlanden und den deut-
schen Firmen, an denen wegen des Vertrages von Almelo
natürlich auch die Bundesrepublik Deutschland beteiligt
ist . Wie bewerten Sie das?
Wie wir wissen, gibt es Hinweise, dass möglicher-
weise ein komplett privatisiertes Unternehmen, nämlich
Urenco, mit der Urananreicherungsanlage in Gronau,
aber auch in Almelo an die Börse gebracht werden soll .
Wie schätzen Sie es vor dem Hintergrund der Nonproli-
feration ein, wenn eine solch hochsensible Technologie –
sie ist ja nicht nur dazu fähig, Uran für Atomkraftwerke
anzureichern, sondern mit ein paar Umdrehungen mehr
wäre man durchaus auch in der Lage, Uran zumindest
für eine schmutzige Atombombe zu produzieren – an ein
börsennotiertes Unternehmen gehen würde?
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Sie haben vollkommen recht: Es handelt sich nicht um
ein ganz normales und übliches Unternehmen . Deswegen
wird die Bundesregierung ihre Rechte nicht aufgeben,
und deswegen wird die Bundesregierung Sicherheitsas-
pekte immer beachten .
Frau Kollegin Höger, Sie haben als nächste Kollegin
das Fragerecht .
Frau Ministerin Hendricks, ich möchte auf die Pan-nenreaktoren in Belgien zurückkommen . Sie sagten, Sieführen Sicherheitsüberprüfungen durch und Sie seien aufeinem guten Weg . Es gibt ja nun die Forderung der Lan-desregierung Nordrhein-Westfalens und der anliegendenGemeinden nach sofortiger Stilllegung bzw . Nicht-wie-der-Inbetriebnahme, weil die Reaktoren nach einer neu-erlichen Inbetriebnahme immer wieder stillgelegt wer-den müssten . Wie wollen Sie das umsetzen? Bis 2025 istes ja, auch wenn es eine entsprechende Zusage gibt, nochein langer Zeitraum .Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:Sehen Sie, Frau Kollegin: Es handelt sich um zweiAKWs mit insgesamt sieben Kraftwerksblöcken . Zweivon ihnen sind – sagen wir es einmal so – besonders auf-fällig: Doel 3 und Tihange 2 . Wie Sie wissen, habe ichdie belgische Regierung im Namen der Bundesregierunggebeten – unter diplomatischen Gesichtspunkten gebe-ten, also keine Forderung gestellt –, man möge diese bei-den Blöcke mindestens so lange nicht wieder in Betriebnehmen, bis alle Fragen restlos geklärt sind .Die zwei Reaktorblöcke, die ich genannt habe, habeneine andere Bauart als die übrigen fünf; sie sind zu unter-schiedlichen Zeiten errichtet worden . Diese beiden habendie gleiche Bauart, aber eine andere als die übrigen fünf .Es gibt in der Tat eine große Zahl von Rissen im Reaktor-druckbehälter . Dabei handelt es sich um feine Haarrisse .Man darf sich das nicht so vorstellen, als seien da dickeLöcher zu sehen . Vielmehr geht es um feine Haarrisse,die im Reaktordruckbehälter allerdings in großer Zahlfestgestellt worden sind .Hier brauchen wir in der Tat noch weiter gehende Un-tersuchungen, weil unsere Fachleute in der Reaktor-Si-cherheitskommission, die uns in diesem Zusammenhangwissenschaftlich zur Seite steht, gesagt haben, dass sienicht ganz sicher seien, ob diese ReaktordruckbehälterOliver Krischer
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unter Nichtnormalbetrieb, also dann, wenn tatsächlichetwas passiert, noch standhalten würden . Für den Nor-malbetrieb hat auch unsere Reaktor-Sicherheitskommis-sion keine Bedenken . Da man aber natürlich doch damitrechnen muss, dass es irgendwann einmal so etwas wieeinen Nichtnormalbetrieb geben könnte, haben wir unse-re Bedenken selbstverständlich deutlich gemacht .Meine Einschätzung ist, dass es ganz sinnvoll wäre,die sieben Reaktoren, über die man verfügt, nach undnach stillzulegen; denn wenn man eine Energiepolitikverändern will, dann geht das nicht von heute auf mor-gen, und es kann eben nicht sinnvoll sein, alle Reaktoren2025 stillzulegen, während bis dahin keine andere Ener-giepolitik auf den Weg gebracht wurde . Das kann nichtfunktionieren .So ähnlich habe ich das auch in meinem Gespräch inBrüssel Anfang Februar dieses Jahres zum Ausdruck ge-bracht . Meine belgische Kollegin Umweltministerin hatmir geantwortet, dass wir ja auch nicht gefragt würden,ob wir unsere Kohlekraftwerke länger weiterbetreibenoder nicht . Man hätte hier noch mit der allgemeinenWindrichtung argumentieren können, aber so sehen dieEinflussmöglichkeiten manchmal eben aus.
Frau Kollegin Kotting-Uhl .
Frau Ministerin, ich möchte Sie gerne noch zur Atom-
haftung fragen . In den bisherigen CNS-Berichten ist im-
mer nur die Rede davon, wie das bei uns in Deutschland
geregelt ist . Man kann sich sicher darüber streiten, ob das
bei uns angemessen geregelt ist, aber es ist hier jedenfalls
definitiv weit besser geregelt als im Rest der Welt.
Deshalb lautet meine Frage: Sind Sie bereit, mit einem
konkreten Vorschlag dafür, wie die Atomhaftung besser
geregelt werden könnte, auf die nächste CNS-Tagung zu
gehen? Wir sind uns spätestens seit Fukushima sicher
einig, dass die entsprechenden Regelungen in den ver-
schiedenen Ländern lächerlich bis katastrophal sind .
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Frau Kotting-Uhl, Sie haben vollkommen recht, dass
das im konkreten Fall sicherlich nicht ausreichen kann,
und wenn das nicht ausreicht, ist die logische Folge, dass
der Staat eintritt . Das heißt, wenn ein Land seine Atom-
haftung unzureichend per Gesetz geregelt hat, dann wird
der Staat, wenn tatsächlich etwas Schlimmes passiert, im
Zweifelsfall haften müssen .
Das geschieht zum Beispiel auch in Fukushima . Tep-
co arbeitet dort zwar weiterhin und versucht, die Folgen
dieses GAU zu beseitigen, aber das Unternehmen gehört
mittlerweile zu 100 Prozent dem japanischen Staat . Auf
diese Weise tritt dort also die Staatshaftung ein . Das ist
die logische Folge bei einer unzureichenden Haftung der
Betreiber .
Herr Kollege Krischer, Sie haben das Wort für die
nächste Frage .
Herzlichen Dank, Herr Präsident . – Frau Ministerin,
ich habe Sie eben so verstanden, dass Sie sich nicht für
deutlich vor 2025 generell stattfindende Stresstests in
Europa einsetzen, sondern versuchen, das über bilaterale
Vereinbarungen zu erreichen . Das ist sicherlich eine inte-
ressante Auskunft .
Ich habe noch einmal eine konkrete Frage zu den bel-
gischen AKWs . Anders als Nordrhein-Westfalen und
Rheinland-Pfalz unterstützt die Bundesregierung die
Klagen der Kommunen gegen den Weiterbetrieb dieser
AKWs zu meinem großen Bedauern nicht . Dort sind üb-
rigens nicht nur zwei Blöcke problematisch, nämlich die
beiden mit den Rissen, sondern auch die anderen fünf
dort sind nicht ganz unproblematisch .
Jetzt gibt es einen umfänglichen Fragenkatalog, den
die Kommunen erarbeitet haben . Sie haben eben gesagt,
dass Sie das alles gut finden und auch unterstützen wer-
den . Weil sich diese Fragen nicht an die belgische Regie-
rung, sondern an die EU-Kommission richten, ist mei-
ne ganz konkrete Frage: Ist die Bundesregierung bereit,
diese Fragen stellvertretend für die Kommunen auch der
EU-Kommission zu stellen, um dann auch substanzielle
Antworten zu bekommen?
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Diesen Sachverhalt haben wir noch nicht geprüft . Ich
gehe allerdings davon aus, dass die EU-Kommission die
Fragen auf Wunsch der Kommunen bzw . auf das geäu-
ßerte Petitum der Kommunen hin auch beantworten wird .
Sollte dies nicht der Fall sein, so bin ich gerne bereit, mit
den Möglichkeiten, die wir haben, auf die EU-Kommis-
sion zuzugehen .
Vielen Dank, Frau Bundesministerin . – Zu diesem
Themenbereich, über den die Bundesregierung berichtet
hat, liegen mir keine weiteren Wortmeldungen vor . Die
Zeit ist auch schon ziemlich weit fortgeschritten .
Es gibt aber noch vier Kolleginnen und Kollegen, die
zu weiteren Themen der Kabinettssitzung eine Nachfrage
haben . Diese vier Wortmeldungen, die bei mir eingegan-
gen sind, möchte ich gerne auch noch zulassen . – Wir
beginnen mit dem Kollegen Harald Ebner .
Danke schön, Herr Präsident . – Frau MinisterinHendricks, am Freitag findet in Brüssel die vorläufigendgültige Abstimmung über die Zulassungsverlänge-rung von Glyphosat statt; ein Stichwort, von dem alleschon gehört haben . Die Bundesregierung ist in ihrer Po-sition bekanntlich gespalten: die Union dafür, die SPDdagegen . Ich habe großen Respekt vor Ihrer Haltung,Frau Bundesministerin, wenn ich das an dieser Stelle sa-Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 178 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 22 . Juni 201617520
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gen darf, dass Sie dem Vorsorgeprinzip die Treue halten .So muss sich die Bundesregierung am Freitag enthalten .Jetzt hat das Magazin Politico letzte Woche berichtet,dass die Bundesregierung den EU-Gesundheitskommis-sar Andriukaitis am 6 . Juni vertraulich kontaktiert unddazu gedrängt habe, die Neuzulassung für Glyphosatauch ohne ihre Unterstützung voranzutreiben . Das ist einsehr unglaublicher Vorgang: Ein Mitgliedstaat versagtder Kommission die Zustimmung zu ihrem Vorschlagund bittet gleichzeitig darum, diesen dennoch umzuset-zen . Mich interessiert, ob der beschriebene Sachverhaltzutrifft und ob es sich dabei um eine Initiative der ge-samten Bundesregierung handelt, also einschließlich derSPD-geführten Ressorts und damit auch des Umweltmi-nisteriums .Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:Herr Kollege, zunächst will ich vorwegschicken: Daswar nicht Gegenstand der heutigen Beratung im Kabi-nett . Ich könnte also auf eine Antwort verzichten; dennnur unter diesem Rubrum bin ich zur Beantwortung derFrage aufgerufen worden . Ich kann dazu allerdings sa-gen, Herr Kollege: Es kann keinesfalls eine Initiative derganzen Bundesregierung sein; denn dann müsste ich da-von wissen . Aber ich gehe davon aus, dass darüber hinausdieser Sachverhalt nicht zutrifft . Er ist mir nicht bekannt .
Nächste Fragestellerin ist die Kollegin Julia Verlinden .
Sehr geehrte Frau Umweltministerin, ich möchte gern
fragen, inwiefern es zu der Klimaschutzpolitik und zu
den Energiewendezielen der Bundesregierung passt, dass
diese Woche im Bundestag Fracking im Sandstein, also
das sogenannte Tight-Gas-Fracking, explizit erlaubt wer-
den soll . Diese Art des Frackings war bisher gar nicht
geregelt . Sie wurde praktiziert, aber es gab dazu keine
rechtlichen Regelungen . Jetzt soll dieses Fracking expli-
zit erlaubt werden, obwohl die Mehrheit der Bevölke-
rung in Deutschland ein Fracking-Verbot möchte .
Ihr Ministerium ist auch eine Schnittstelle für Umwelt
und Gesundheit . Als Ministerin haben Sie damals bei
der Einbringung des Gesetzentwurfs zum Fracking letz-
tes Jahr gesagt, Sie hielten Fracking für unnötig und Sie
bezweifelten, dass Fracking jemals umweltverträglich
hinzubekommen sei. Ich finde, dass Sie da sehr wichti-
ge Worte gesagt haben, und möchte Sie, wie gesagt, fra-
gen, wie die Bundesregierung diesen Vorschlag, der am
Freitag vermutlich beschlossen werden soll, in Einklang
mit der Klimaschutzpolitik und den Energiewendezielen
bringt .
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Zunächst, Frau Kollegin Verlinden, möchte ich vor-
wegschicken: Fracking soll jetzt nicht neuerdings erlaubt
werden, sondern Fracking in Sandstein, wie es das schon
seit etwas mehr als 50 Jahren in Niedersachsen gibt, ist
nach dem Bergrecht durchgeführt worden . Es gab dafür
also schon immer eine Rechtsgrundlage . Jetzt wird dieser
Regelung das Wasserhaushaltsrecht und das Umweltver-
träglichkeitsrecht an die Seite gestellt, sodass das, was
bisher schon gemacht und lediglich nach dem Bergrecht
durchgeführt worden ist, jetzt sehr strengen Regeln un-
terliegen soll . Es wird damit nicht neu erlaubt . Es hat
auch nicht einfach so stattgefunden, sondern es wurde
nach den Regelungen des Bergrechts durchgeführt . Da-
her ist das keine neue Erlaubnis, sondern die Anwendung
von sehr strengen Regeln .
Die Aussage von mir, die Sie zitieren, hat sich natür-
lich auf das sogenannte unkonventionelle Fracking be-
zogen .
– Nun, Sie müssen schon richtig zitieren . – Wir haben die
Debatte über das konventionelle Fracking geführt, also
über das, was schon seit langem durchgeführt wird . Das
unkonventionelle Fracking wird verboten, und zwar un-
befristet verboten; es sei denn, ein anderer Gesetzgeber
würde das demnächst ändern . Das kann ein Gesetzgeber
natürlich immer tun .
Das Einzige, was erlaubt wird, sind zum Zwecke der
wissenschaftlichen Erforschung bundesweit vier Probe-
bohrungen, die allerdings nur dann erlaubt sind, wenn
das jeweilige Bundesland zustimmt . Insofern kann ich
Ihre Frage, bezogen auf die Klimaschutzpolitik, eigent-
lich nicht beantworten . Es wird nämlich nicht mehr oder
weniger Fracking geben als früher . Deswegen hat es
auch keine neuen oder anderen Auswirkungen auf die
Klimapolitik, sondern es wird strengere Regeln für das
schon seit mehr als 50 Jahren stattfindende Fracking ge-
ben .
Der Kollege Volker Beck stellt die nächste Frage .
Ich habe eine Frage, die sich eher an das Kanzleramtoder an das Finanzministerium richtet . Aber Sie als ehe-malige Staatssekretärin des Finanzministeriums sind si-cher auch in der Lage, sie zu beantworten .Mir liegt der Entwurf einer Richtlinie für eine Aner-kennungsleistung an ehemalige deutsche Zwangsarbeitervor, die ADZ-Anerkennungsrichtlinie. Bei der Definitiondes Berechtigtenkreises fiel mir auf, dass Regelungen,die wir ansonsten für deutsche Opfer aus dieser Zeitvorgesehen haben, wie zum Beispiel im Bundesversor-gungsgesetz, hier nicht zur Anwendung kommen . In § 1ades Bundesversorgungsgesetzes haben wir geregelt, dassKriegsverbrecher bzw . Personen, die Verbrechen gegendie Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit begangenhaben, von Entschädigungsleistungen oder Versorgungs-leistungen nach diesem Gesetz ausgeschlossen sind . EinHinweis darauf, dass ein Ausschlussgrund vorliegenkönnte – das könnte bei der von der Richtlinie betrof-fenen Gruppe einschlägig sein –, ist insbesondere einefreiwillige Mitgliedschaft in der SS .Harald Ebner
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 178 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 22 . Juni 2016 17521
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Warum ist der Ausschlussgrund aus § 1a Bundesver-sorgungsgesetz in die Richtlinie nicht aufgenommen,bzw . erwägt die Bundesregierung, dies noch zu prüfen?
Vielen Dank, Herr Kollege Beck . – Bevor Sie, Frau
Ministerin, antworten, darf ich darauf hinweisen, dass
wir jetzt bei einem Punkt sind, bei dem es um andere
Themen geht .
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Ich kenne den Entwurf nicht, Herr Kollege Beck, aber
der Kollege Spahn wäre bereit, die Frage zu beantworten .
Herr Präsident, ich weiß nicht, ob man das so machen
kann .
Allerdings muss ich gleich ins Kanzleramt zu den
deutsch-polnischen Regierungskonsultationen . Könnten
wir vielleicht die Fragen, die sich an mich richten, vor-
ziehen, und der Kollege Spahn beantwortet anschließend
die Frage von Herrn Beck? Wäre das möglich?
Ich denke, dass wir das so machen können . – Es gibt
noch eine Frage der Kollegin Dağdelen. Wenn Sie jetzt
Ihre Frage stellen wollen, dann könnten wir, glaube ich,
so verfahren .
Vielen herzlichen Dank, Herr Präsident . – Verehrte
Frau Ministerin, seit letzter Woche gibt es die Aktion
„Flüchtlinge fressen – Not und Spiele“ der Künstler-
gruppe „Zentrum für Politische Schönheit“ . Sie hat einen
Flug für 100 Schutzsuchende aus Syrien, die Familien-
angehörige in Deutschland haben, von der Türkei nach
Deutschland organisiert .
Meine Frage ist, ob das Thema der Kabinettssitzung
war und inwieweit die Bundesregierung der Bitte und
Forderung nachkommen möchte, dass das Flugzeug
Joachim 1 der „Flugbereitschaft der deutschen Zivil-
gesellschaft“ ungehindert nach Deutschland kommen
kann – ich frage das auch mit Blick auf § 63 Absatz 3
Aufenthaltsgesetz, wonach es Sanktionen gegen Beför-
derungsunternehmen geben kann –, sodass die Menschen
sicher zu ihren Familienangehörigen in Deutschland ge-
langen können, statt die lebensgefährliche Route über
das Mittelmeer zu nutzen . War das Thema, und wie posi-
tioniert sich die Bundesregierung?
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Frau Kollegin, das war nicht Thema der Kabinetts-
sitzung . Die Bundesregierung ist aber prinzipiell der
Auffassung, dass eine Einreise in die Bundesrepublik
Deutschland mit den notwendigen Erlaubnissen über die
deutschen Konsulate erfolgen sollte .
Vielen Dank, Frau Bundesministerin . Ich danke auch
für die Beantwortung der Fragen und für den Bericht .
Für die Beantwortung der Frage des Kollegen Beck
hat jetzt Herr Staatssekretär Spahn das Wort .
J
Vielen Dank, Herr Präsident . – Herr Kollege Beck,
auch wenn es nicht Thema der Kabinettssitzung war, ist
es eigentlich in Richtlinien wie der, die Sie angespro-
chen haben, regelmäßig der Fall, dass wir eine ähnliche
Regelung haben wie im Bundesversorgungsgesetz, dass
insbesondere Kriegsverbrecher nicht von entsprechen-
den Entschädigungsleistungen profitieren können. Aber
ich nehme Ihre Frage gerne zum Anlass, das noch ein-
mal intensiv zu prüfen . Aber wir sehen das, wie gesagt,
regelmäßig vor, weil es sonst der eigentlichen Intention
widersprechen würde .
Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär . – Damit beendeich die Befragung der Bundesregierung .Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 3 auf:FragestundeDrucksachen 18/8816, 18/8852Zu Beginn der Fragestunde rufe ich gemäß Num-mer 10 Absatz 2 der Richtlinien für die Fragestunde diedringlichen Fragen auf Drucksache 18/8852 auf . Wirkommen damit zum Geschäftsbereich des AuswärtigenAmts .Ich rufe die dringliche Frage 1 der AbgeordnetenKatrin Göring-Eckardt auf:Was hat die Bundesregierung unternommen, um eigeneErkenntnisse über die übereinstimmenden Berichte mehrererBeobachter, darunter der Syrischen Beobachtungsstelle fürMenschenrechte, in der Nacht zum 19 . Juni 2016 seien an dersyrisch-türkischen Grenze wiederum mindestens acht Men-schen erschossen worden, darunter vier Kinder, und weitereacht Menschen seien teilweise schwer verletzt worden, zu
Für die Beantwortung steht Herr StaatsministerMichael Roth zur Verfügung, dem ich das Wort gebendarf . – Der Herr Staatsminister wird noch gesucht . Erwar jedenfalls – das habe ich gesehen – vor wenigen Au-genblicken noch anwesend .
Deshalb vermute ich, dass er auch gleich wieder hier imPlenum sein wird . – Vielleicht kann ein Kollege der Bun-desregierung den Herrn Staatsminister, der sich vermut-lich unweit hinter der Säulenwand aufhält, bitten, dass ernach vorne tritt .
Volker Beck
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 178 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 22 . Juni 201617522
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Herr Staatsminister, wir hatten vermutet, dass Sie nichtallzu weit weg sind .Ich darf Ihnen nun für die Beantwortung der dringli-chen Frage das Wort erteilen .
Herr Präsident! Liebe Frau Kollegin Göring-Eckardt,
ich bitte um Entschuldigung . Das ist für mich das erste
Mal, dass ich eine dringliche Frage zu beantworten habe .
Mir waren die Usancen nicht ganz vertraut; deshalb bin
ich einem ganz persönlichen Bedürfnis nachgegangen .
Frau Abgeordnete, jetzt auf Ihre sehr ernste Frage eine
sehr ernste Antwort . Selbstverständlich hat die Bundes-
regierung unmittelbar nach Bekanntwerden der Berich-
te über die jüngsten Schüsse an der türkisch-syrischen
Grenze, auf die Sie sich ja in Ihrer Frage beziehen, ver-
schiedenste Kontakte bemüht, um weitere Informatio-
nen zu erhalten . Wir haben uns dabei mit verschiedenen
Nichtregierungsorganisationen, mit dem Flüchtlings-
hilfswerk der Vereinten Nationen, dem UNHCR, sowie
mit verschiedenen Gewährspersonen im türkisch-syri-
schen Grenzgebiet in Verbindung gesetzt . Darüber hi-
naus haben wir verschiedene türkische Quellen – unter
anderem Stellungnahmen des türkischen Außenministe-
riums sowie des türkischen Militärs – ausgewertet .
Frau Kollegin Göring-Eckardt, haben Sie zu dieser
Ihrer ersten gestellten dringlichen Frage noch eine Nach-
frage?
Ja . Meine Frage lautet: Was ist das Ergebnis dieser
Nachfragen gewesen, und mit welchen Nichtregierungs-
organisationen haben Sie gesprochen? Sind insbesondere
Human Rights Watch und Amnesty International dabei
gewesen, die ja schon seit vielen Monaten auf entspre-
chende Aktivitäten an der türkisch-syrischen Grenze ver-
weisen?
Herr Präsident, Ihr Einverständnis vorausgesetzt, wür-
de ich versuchen, das zusammen mit der zweiten dring-
lichen Frage zu beantworten; denn die Beantwortung der
zweiten dringlichen Frage gibt Aufschluss über die Be-
reiche, die Sie in Ihrer Nachfrage angesprochen haben .
Herr Staatsminister, bei der Beantwortung der Fragen
haben Sie völlige Freiheit . Ich rufe deshalb nun auch die
dringliche Frage 2 auf:
Hat das Auswärtige Amt bzw . die deutsche Botschaft in der
Türkei das Gespräch mit der türkischen Regierung aufgrund
der erneuten Schüsse auf Flüchtende in der Nacht zum 19 . Juni
2016 gesucht, und was hat dieses ergeben?
Ich komme jetzt also zur Beantwortung Ihrer zweiten
dringlichen Frage . Es gibt ja dann die Möglichkeit, Zu-
satzfragen zu stellen .
Selbstverständlich nehmen wir die Berichte, die Sie
eben auch genannt haben, nämlich die von Human Rights
Watch und von Amnesty International, sehr ernst . Auch
ich selbst habe vor geraumer Zeit mit den Institutionen
persönliche Gespräche geführt . Wir haben verabredet,
dass wir uns eng austauschen . Für entsprechende Infor-
mationen sind wir natürlich dankbar . Wir versuchen, ih-
nen bestmöglich nachzugehen .
Anders als bei bisherigen vergleichbaren Vorfällen in
der Vergangenheit, über die ja die von Ihnen genannten
Institutionen bzw . NGOs schon berichtet haben, hat das
türkische Außenministerium diesmal unmittelbar nach
Bekanntwerden der Vorwürfe eine Stellungnahme ab-
gegeben, in der die Vorwürfe dementiert worden sind,
türkische Sicherheitskräfte hätten absichtlich das Feuer
auf syrische Zivilisten eröffnet, die versucht hätten, die
Grenze illegal zu überqueren . Zudem hat die türkische
Armee eine ausführliche Schilderung des gesamten
Vorgangs – ich darf das jetzt berichten – veröffentlicht .
Demnach habe eine Gruppe von circa 60 Personen ver-
sucht, die Grenze zu überqueren . Zunächst sei das Gelän-
de ausgeleuchtet worden, und dann habe es Warnrufe ge-
geben . Erst dann seien Warnschüsse abgegeben worden,
die jedoch nicht auf die Personen gerichtet worden seien .
Die Bundesregierung selbst ist nicht vor Ort präsent .
Wir haben trotz intensiver Recherchen, über die ich Sie
schon informiert habe, keine eigenen gesicherten Er-
kenntnisse, ob und, falls ja, wie es zu den Todesfällen
kam und wer hierfür letztendlich die Verantwortung trägt .
Sie wissen selbst: Die Lage im türkisch-syrischen
Grenzgebiet ist sehr volatil, und das ist eine sehr diplo-
matische Formulierung . Wir haben es in Syrien mit ei-
nem Bürgerkrieg zu tun, mit terroristischen Aktivitäten,
und selbstverständlich hat die Türkei ein berechtigtes
Interesse daran, ihre Grenze vor möglichen Sicherheits-
gefahren zu schützen . Sie kommt damit natürlich auch
dringlichen Forderungen der internationalen Staatenge-
meinschaft nach .
Die Bundesregierung – jetzt komme ich zu Ihrer Zu-
satzfrage – betont in all ihren Gesprächen mit Vertretern
der türkischen Regierung – zuletzt haben solche Gesprä-
che am 1 . Juni im Rahmen der sogenannten Staatssekre-
tärskonsultationen in Istanbul stattgefunden – immer ihre
Erwartung, dass die Türkei trotz der sehr volatilen, ge-
fährlichen Lage beim Schutz ihrer eigenen Grenze zu Sy-
rien umsichtig und verantwortungsvoll vorgehen muss .
Selbstverständlich wird die Bundesregierung dieses The-
ma gegenüber der Türkei weiter ansprechen, sooft uns
die Möglichkeit dazu gegeben ist .
Frau Kollegin Göring-Eckardt, weil wir die beidenFragen zusammengefasst haben, haben Sie jetzt dieMöglichkeit, drei weitere Nachfragen zu stellen, wennSie das wünschen .Vizepräsident Johannes Singhammer
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Ich fange noch einmal an und nehme Bezug auf das,was Sie quasi zwischen der Beantwortung der beidenFragen gesagt haben, nämlich dass Sie schon verschiede-ne Gespräche mit Nichtregierungsorganisationen geführthaben . Als ich in der letzten Sitzungswoche nach denSelbstschussanlagen fragte, gab es den konkreten Fall,von dem hier berichtet worden ist, noch nicht . Da hat dieBundesregierung geantwortet, sie hätte Informationenbei den türkischen Behörden, der türkischen Regierungeingeholt . Offensichtlich haben parallel Ihrerseits, dieSie auch Teil der Bundesregierung sind, Gespräche mitNichtregierungsorganisationen stattgefunden .Deswegen will ich gern meine Frage wiederholen:Haben Sie in dem Fall von diesem Wochenende mit denNichtregierungsorganisationen Human Rights Watchund Amnesty International, die ja offensichtlich sehr gutinformiert sind, über das, was konkret an der Grenze pas-siert, gesprochen, und welche Auskünfte haben Sie darü-ber, was geschehen ist, bekommen, über das hinaus, wasdie türkische Seite veröffentlicht hat?
Ich darf Ihnen noch einmal versichern, Frau Abgeord-
nete, dass es im Interesse der Bundesregierung, auch im
Interesse unseres Landes, liegt, diese schwerwiegenden
Vorwürfe aufzuklären . Wir gehen allen Informationen
verantwortungsbewusst nach . Ich kann Ihnen, weil ich
solche Gespräche nicht persönlich geführt habe, nicht
sagen, ob es in den vergangenen Tagen, also nach diesen
möglichen Ereignissen, zu direkten Gesprächen oder zu
einem direkten Austausch zwischen meinem Haus, der
Bundesregierung und den von Ihnen genannten Nichtre-
gierungsorganisationen gekommen ist .
Herr Staatsminister, vielen Dank . Ich gehe dann davon
aus, dass Sie sicherlich nachfragen können und mir das
nachreichen können, ob und mit welchem Ergebnis mit
diesen Nichtregierungsorganisationen gesprochen wor-
den ist .
Ich schließe deswegen meine dritte – und vielleicht
brauche ich dann keine vierte – Nachfrage an . Sie lau-
tet: Hat das, was Sie dort über diese schwierige Situa-
tion an der Grenze erfahren und schon erfahren haben,
irgendwelche Auswirkungen auf den EU-Türkei-Deal
in der Frage der Unterbringung und des Austauschs von
Geflüchteten?
Wir sind über die Erklärung zwischen der Europäi-
schen Union und der Türkei selbstverständlich in einem
regelmäßigen Austausch, auch mit türkischen Regie-
rungsvertretern . Wir alle wissen, dass die Türkei in den
vergangenen Jahren circa 2,75 Millionen Flüchtlinge,
insbesondere aus Syrien, aufgenommen hat . Wir wissen
auch, dass diese Flüchtlinge in der Regel gut und an-
ständig behandelt werden . Das wird uns auch in unseren
Gesprächen mit dem UNHCR und anderen Nichtregie-
rungsorganisationen bestätigt .
Wir sind dafür sehr dankbar, und es ist unser Bestre-
ben, dass sich die Lage der Flüchtlinge in der Türkei
weiter verbessert . Deshalb stellen wir auch seitens der
Europäischen Union insgesamt mehrere Milliarden Euro
zur Verfügung, die wir insbesondere in Bildung, Quali-
fizierung und bessere Unterbringung der Flüchtlinge in-
vestieren wollen, insbesondere der Flüchtlinge – das ist
der übergroße Teil –, die sich eben nicht in den Flücht-
lingscamps aufhalten, sondern die in Dörfern und in
Städten leben .
Herr Staatsminister, dann muss ich doch noch die vier-
te Nachfrage stellen . Ich gehe davon aus, dass Ihre Dank-
barkeit steigt, wenn Sie von solchen Vorkommnissen an
der türkisch-syrischen Grenze erfahren . So muss ich Sie
verstehen, wenn Sie sagen, Sie seien der Türkei sehr
dankbar, und wenn Sie auf meine Frage, ob das irgend-
welche Auswirkungen auf den EU-Türkei-Deal habe,
Ihre Dankbarkeit zum Ausdruck bringen . Deswegen fra-
ge ich Sie noch einmal: Ihre Dankbarkeit steigt, wenn Sie
von solchen Vorkommnissen an der türkisch-syrischen
Grenze erfahren?
Meine Dankbarkeit gegenüber der Türkei ist deshalb
vorhanden, weil die Türkei 2,7 Millionen Flüchtlinge
aufgenommen hat und diese anständig behandelt . Das
sind nicht nur meine persönlichen Wahrnehmungen . Ich
darf das so sagen, weil ich mit vielen Menschen spre-
che – möglicherweise genauso wie Sie –, die selbst in
diese Arbeit aufs Engste eingebunden sind . Aus Verant-
wortung gegenüber den Flüchtlingen nehmen wir selbst-
verständlich jeden Bericht sehr ernst und gehen diesen
Vorwürfen nach; denn es liegt in unserem gemeinsamen
Interesse, dass die Flüchtlinge in der Türkei bestmöglich
behandelt werden .
Vielen Dank, Herr Roth . – Einen herzlichen schönen
Nachmittag von meiner Seite .
Die Fragen von Frau Göring-Eckardt sind damit ge-
stellt, und jetzt kommen die anderen . Zu den dringlichen
Fragen haben sich einige Kolleginnen und Kollegen ge-
meldet. Die erste Kollegin ist Sevim Dağdelen. Da die
zwei Fragen zusammen beantwortet wurden, sind jetzt
zwei Nachfragen möglich .
Das heißt, ich kann zwei Fragen sofort nacheinander
stellen oder eine Frage jeweils?
Eine jeweils . Das macht Sinn .
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Ich melde mich also jetzt und gleich noch einmal .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Herr Staatsminister
Roth, mich erstaunt schon, dass Sie sagen, die Grenze
sei volatil und die Türkei müsse die Grenze schützen .
Eine 100 Kilometer lange Grenze zu Syrien, auf deren
anderer Seite der IS ist, wird nicht geschützt, sondern sie
wird offen gelassen . Sie sagen, es herrsche Terrorismus
im Nachbarland . Auch die Bundesregierung weiß aus
Geheimdienstinformationen, die letztes Jahr öffentlich
geworden sind, dass die Türkei selbst Terrorbanden in
Syrien bewaffnet und dadurch Menschen in Syrien in die
Flucht treibt .
Ich würde aber gerne etwas anderes wissen . Es ist jetzt
nicht das erste Mal, dass berichtet wurde, dass die tür-
kischen Sicherheitskräfte auf schutzsuchende Menschen
an der Grenze schießen . Eine Meldung ist im Mai ge-
wesen . Wir hatten im Innenausschuss mit Staatssekretär
Schröder darüber beraten . Es kam auch im Vorfeld der
Reise von Bundeskanzlerin Merkel zu solchen Vorfällen .
Deshalb würde ich gerne wissen, ob die Bundesregierung
bereit ist, eine unabhängige Untersuchungskommission
auf den Weg zu bringen, damit diese Vorkommnisse un-
abhängig geprüft werden und die Bundesregierung nicht
auf Informationen seitens der türkischen Regierung an-
gewiesen ist, die natürlich kein Interesse an Aufklärung
hat .
Die Bundesregierung hat allergrößtes Interesse an der
Aufklärung dieser Vorwürfe, auch im Interesse der Tür-
kei und im Interesse der Zusammenarbeit, vor allem aber
im Interesse der Menschen und der Flüchtlinge, die Sie
eben genannt haben . Welche konkreten Mittel dies um-
fasst, dazu gibt es noch keine abschließende Auffassung
der Bundesregierung . Aber wir sind hier nicht nur im en-
gen Dialog und im kritischen Austausch mit der Türkei,
sondern wir stimmen so etwas natürlich auch mit unseren
Partnern in der Europäischen Union und mit der interna-
tionalen Gemeinschaft ab .
Frau Dağdelen, wenn Sie wollen: zweite Frage.
Offensichtlich dauert es ganz schön lange, bis die
Bundesregierung zu einer Entscheidung kommt, mit
welchen Mitteln sie diese Vorkommnisse untersuchen
will . Deshalb möchte ich gerne fragen: Wie viele Men-
schen müssen noch an der türkisch-syrischen Grenze
durch türkische Sicherheitskräfte, die auf Schutzsuchen-
de schießen, sterben, damit die Bundesregierung zu der
Entscheidung kommt, eine unabhängige Untersuchungs-
kommission einsetzen zu lassen, vielleicht sogar unter
der Leitung der Vereinten Nationen, um diesem Töten
von Schutzsuchenden an der türkisch-syrischen Grenze
ein Ende zu bereiten?
Frau Kollegin Dağdelen, Sie haben selber auf die Ver-
einten Nationen hingewiesen . Es sollte hier nicht der Ein-
druck erweckt werden, als läge es ausschließlich in den
Händen der deutschen Bundesregierung, eine unabhängi-
ge Institution ins Leben zu rufen und sie zu beauftragen,
diese Vorwürfe aufzuklären .
Ich will aber wiederholen: Die Bundesregierung hat
trotz intensiver Recherche – ich habe hier schon einige
Recherchebemühungen aufgezählt – keine eigenen gesi-
cherten Erkenntnisse zu den behaupteten Vorfällen . Des-
wegen kann ich hier auch nicht die Behauptung bestä-
tigen, dass Menschen an der türkisch-syrischen Grenze
durch Schüsse des türkischen Militärs oder türkischer In-
stitutionen zu Tode gekommen sind . Ich wiederhole: Ich
kann dies nach den mir vorliegenden Erkenntnissen nicht
bestätigen; denn solche Erkenntnisse habe ich gar nicht .
Vielen Dank, Herr Staatsminister . – Die nächste Fra-
gestellerin: Katja Keul .
Vielen Dank . – Herr Staatsminister, Sie haben jetzt
mehrfach gesagt, dass die Bundesregierung selbst kei-
nerlei Erkenntnisse über Vorfälle im syrisch-türkischen
Grenzgebiet hat . Es gibt einiges, was ich nicht so ganz
verstehe, wenn ich mir anschaue, was wir vor Ort zur
Verfügung haben: in der Türkei die AWACS-Flugzeuge,
in Syrien die Tornados und zusätzlich die Aufklärungs-
flugzeuge unserer Bündnispartner. Angesichts so einer
Aufklärungsdichte frage ich mich schon, wie es eigent-
lich sein kann, dass es keine Erkenntnisse über das Ge-
schehen im türkisch-syrischen Grenzgebiet gibt .
Wie kann das sein? Was machen wir da eigentlich? Wer-
den die Informationen, die da zusammengetragen wer-
den, auch im Hinblick auf die Aufklärung solcher Vorfäl-
le verwendet und ausgewertet?
Ich kann nur wiederholen, dass die Bundesregierung
allergrößtes Interesse daran hat, dass diese Vorwürfe, die
sehr schwerwiegend sind, aufgeklärt werden . Wir versu-
chen im Rahmen unserer Möglichkeiten, einen Beitrag
zu leisten . Ich kann Ihnen versichern, dass wir alle Mög-
lichkeiten nutzen – einige habe ich beschrieben –; bis-
lang konnten diese Vorwürfe aber nicht bestätigt werden .
Frau Keul, zweite Frage .
Wenn die Bundesregierung also alles tut, um die vor-handenen Möglichkeiten auszuschöpfen, dann bleibt im-mer noch die Frage: Was ist denn mit den Informationen,die all unsere, salopp gesagt, Aufklärungsgeräte dortsammeln? Wo und von wem werden sie ausgewertet?
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 178 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 22 . Juni 2016 17525
(C)
(D)
Warum stehen diese Informationen der Bundesregierungoffensichtlich nicht zur Verfügung?
Derzeit liegen mir keine nachrichtendienstlichen Er-
kenntnisse vor; womöglich beziehen Sie sich darauf . Wir
nutzen selbstverständlich den gesamten Instrumenten-
kasten, der der Bundesregierung zur Verfügung steht .
Vielen Dank, Herr Staatsminister . – Die nächste Fra-
gestellerin: Inge Höger .
Herr Staatsminister, die Hinweise auf Zwischenfälle
an der türkisch-syrischen Grenze, etwa Hinweise auf
Schüsse auf Flüchtlinge, sind nicht neu . Sie kommen von
NGOs; sie kommen über die Medien . Wenn die türkische
Regierung das nicht bestätigt, muss das ja nicht heißen,
dass das nicht stimmt; vielmehr kann man – ganz im Ge-
genteil – von dieser türkischen Regierung kaum erwar-
ten, dass sie dazu richtig Auskunft gibt .
Wir haben in der letzten Sitzung des Ausschusses für
Menschenrechte und humanitäre Hilfe über die Vorwür-
fe von Pro Asyl gesprochen – da waren Sie anwesend –,
durch die türkische Regierung werde im Grunde die
Genfer Flüchtlingskonvention ausgesetzt . Die Rede war
von Schüssen auf Flüchtlinge, von Rückführungen von
Kriegsflüchtlingen und von der Nichtöffnung der Gren-
ze für Flüchtlinge . Wie sind Sie diesen Vorwürfen bisher
nachgegangen?
Ich weise die Unterstellung noch einmal zurück, Frau
Abgeordnete Höger, wir bezögen uns ausschließlich auf
die uns durch die türkische Regierung zur Verfügung ge-
stellten Informationen . Wir haben uns gerade eben inten-
siv über die Informationen ausgetauscht, die Ihnen, die
der Öffentlichkeit, die uns von Nichtregierungsorganisa-
tionen zur Verfügung gestellt worden sind . Ich habe auf
weitere Informationsquellen hingewiesen .
Ich habe eben noch einmal dargestellt, dass es bei den
jüngsten Vorfällen so war, dass sich die türkische Regie-
rung unmittelbar nach Erhebung dieser schwerwiegen-
den Vorwürfe mit einer eigenen Stellungnahme an die
Öffentlichkeit gewandt hat . Darin hat sie dementiert, sie
hat den Vorgang beschrieben und noch einmal dezidiert
bestritten, dass es zu gezielten Schüssen auf Menschen
gekommen ist . Ich habe dies nur zitiert, und ich habe da-
rauf hingewiesen, dass es sich hier um eine, aber nicht
um die ausschließliche, die einzige Informationsquelle
handelt .
Frau Höger, Ihre zweite Nachfrage .
Dann haben Sie also hoffentlich weitere Informati-
onen, die vielleicht doch belegen, dass auf Flüchtlinge
geschossen wurde und dass Flüchtlingen der Zugang in
die Türkei verwehrt wurde . Wie stehen Sie dann zu den
Forderungen der Nichtregierungsorganisationen, den
Flüchtlingsdeal mit der Türkei endlich auszusetzen?
Das Abkommen mit der Türkei dient vor allem dem
Ziel, die Lage der Flüchtlinge in der Türkei zu verbes-
sern .
Ich habe bislang keinen Anlass, daran zu zweifeln . Wir
leisten unser Möglichstes – in einem engen Austausch, in
dem wir immer wieder auch unsere Erwartungshaltung
formulieren und in dem wir auch Finanzmittel und Ex-
pertise zur Verfügung stellen sowie die Nichtregierungs-
organisationen bei ihrer schwierigen, aber so unendlich
wichtigen Arbeit unterstützen .
Noch einmal: Es liegen mir keinerlei Erkenntnisse
vor, dass es in den vergangenen Wochen und Monaten
wirklich zu gezielten Schüssen auf Flüchtlinge gekom-
men ist . Ich habe diese Erkenntnisse nicht .
Danke, Frau Höger . – Nächster Fragesteller: Hans-
Christian Ströbele .
Danke, Frau Präsidentin . – Herr Staatsminister, mir
hat sich auch die Frage der Kollegin Keul aufgedrängt,
und ich erweitere sie etwas . Vor einigen Wochen gab es
Berichte und Bilder – das ist unstreitig – zu Angriffen
aus der Luft oder möglicherweise auch durch Beschuss
mit Kanonen auf ein Flüchtlingslager an der syrisch-tür-
kischen Grenze . Die Bundesregierung hat mir auf meine
Frage dazu geantwortet, ihr lägen bisher keine Erkennt-
nisse darüber vor, wer da aus der Luft bombardiert oder
wer da am Boden geschossen hat .
Angeblich soll gerade dieser Raum – Syrien/Irak/
Grenze zur Türkei – der militärisch am besten überwach-
te Raum auf der ganzen Erde sein . Ich frage mich allen
Ernstes: Was machen eigentlich die deutschen Flugzeu-
ge, die nur zur Aufklärung da sind? Was machen eigent-
lich die ganzen Aufklärer der USA, wenn sie nicht einmal
feststellen können, wer da ein Flüchtlingslager bombar-
diert oder eine Schießerei veranstaltet, sodass Flüchtlin-
ge zu Tode kommen? Haben Sie mal ganz gezielt bei der
Bundeswehr und bei den US-Verbündeten nachgefragt?
Herr Abgeordneter, ich bin Ihnen erst einmal dankbar,dass Sie auf die dramatische Lage im türkisch-syrischenGrenzgebiet hingewiesen und noch einmal klargestellthaben: Wir haben es in Syrien mit einem furchtbarenBürgerkrieg zu tun . Die Lage ist ausgesprochen volatil,unsicher und gefährlich – das will ich hier einfach nocheinmal unterstreichen –; darin stimmen wir überein .Katja Keul
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Selbstverständlich informieren wir uns bestmöglich .Wenn ich hier spreche, dann tue ich das nicht nur für meinHaus und nicht nur auf der Grundlage der Informationen,die mir über mein Haus zur Verfügung gestellt werden,sondern dann tue ich das natürlich stellvertretend auchfür andere Ressorts . Ein Ressort haben Sie schon ge-nannt, das Bundesverteidigungsministerium; ich könnteauch andere Häuser nennen, die mich in der Beantwor-tung der Fragen hier selbstverständlich unterstützen .Über die Informationsquellen der Bundesregierunghinaus nutzen wir natürlich noch die Quellen, die uns imDialog mit unseren Partnern in der Europäischen Unionund mit der internationalen Gemeinschaft zur Verfügungstehen, und selbstverständlich auch die Informationender Nichtregierungsorganisationen . Ich kann aber hiernichts bestätigen, wovon wir derzeit nichts wissen undwas uns auch noch keine sichere Quelle selbstverant-wortlich bestätigen konnte .
Herr Ströbele, die zweite Frage .
Herr Staatsminister, Sie haben meine Fragen leider
nicht beantwortet . Wenn Sie sagen: „Das Verteidigungs-
ministerium beispielsweise hat nichts herausbekom-
men“, stellt sich immer noch die Frage: Was klären die
dort auf? Klären die in ganz anderen Gegenden auf?
Klären die nur Ziele auf, die anschließend bombardiert
werden sollen? Nach meinen bisherigen Kenntnissen und
nach meinem bisherigen Verständnis sind die allgemein
für die Aufklärung des Gebiets in Syrien zuständig . Oder
lassen die diesen Teil an der Grenze aus? Können Sie nä-
here Auskünfte darüber geben, oder können Sie vielleicht
noch einmal beim Kollegen nachfragen?
Herr Abgeordneter, Sie wissen, dass wir das allergröß-
te Interesse haben, Ihre Fragen bestmöglich zu beantwor-
ten . Wenn Sie ein Interesse daran haben, zu erfahren, wie
genau die Arbeit bei den Aufklärungsflügen ausschaut
und wie die Ergebnisse sich bislang darstellen, dann wäre
mein Angebot, dass wir noch einmal intensiv recherchie-
ren und Ihnen eine entsprechende Antwort schriftlich zu-
kommen lassen – sofern Sie damit einverstanden sind .
Vielen Dank, Christian Ströbele . – Nächster Fragestel-
ler: Omid Nouripour .
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin . – Herr Staatsmi-
nister, ich bin ein bisschen verwirrt . Ich dachte, Sie re-
cherchieren, bevor Sie die Fragen beantworten . Aber wir
freuen uns immer über gute Antworten .
Ja, habe ich das – – Entschuldigung .
Sie haben gesagt, Sie würden ja noch einmal recher-
chieren .
Ja .
Was die Dankbarkeit der Türkei gegenüber betrifft, ist
es ja richtig: Die Türkei hat sehr viele Leute aufgenom-
men und sehr gut behandelt. Das entpflichtet aber weder
uns als Parlamentarier noch Sie als Bundesregierung,
auch Dinge anzusprechen, bei denen die Türkei gegen
das Völkerrecht verstößt . Dazu gehört natürlich, wenn
auf Flüchtlinge geschossen wird, dazu gehört aber auch
die Rückführung in ein Kriegsgebiet . Nun gibt es Human
Rights Watch, Amnesty International, die Syrische Beob-
achtungsstelle für Menschenrechte und viele andere, die
Studien vorlegen mit klarer, transparenter Methodik, in
denen sie das nachweisen .
Sie sagen, das ist nur eine Quelle . Das ist mir neu, dass
die Bundesregierung mit solchen Organisationen so um-
geht . Denn im Falle von Nordkorea beispielsweise haben
wir nur sie, um festzustellen, dass es dort Arbeitslager
und Folter gibt . Deshalb ist es ein bisschen skurril, dass
diese auf einmal nur noch „Quellen“ sind, deren Glaub-
würdigkeit damit unmittelbar infrage gestellt wird .
Eine weitere solche Quelle ist der Norwegische
Flüchtlingsrat – weltweit renommiert . Er weist jetzt da-
rauf hin, dass es an der Grenze zwischen Syrien und der
Türkei über 140 000 Menschen gibt – an der Südgrenze
zu Jordanien sind es über 63 000 Menschen –, die von der
Türkei nicht ins Land gelassen werden . Aber die Türkei
verweigert ihnen genauso den Zugang zu humanitärer
Hilfe . Es gibt NGOs, die würden diesen Menschen hel-
fen, aber die Türkei lässt die NGOs nicht .
Meine Frage ist: In welchem Rahmen und wie hat die
Bundesregierung dieses Thema der Türkei gegenüber an-
gesprochen, damit, wenn die Leute schon nicht hineinge-
lassen werden, wenigstens Hilfsgüter zu ihnen gelangen
können?
Herr Roth .
In den regelmäßigen Konsultationen mit der türki-schen Regierung, auch in der Umsetzung des Abkom-mens zwischen der Europäischen Union und der Türkei,werden all die von Ihnen genannten Punkte sehr deutlichangesprochen, vor allem auch im Interesse der Flücht-linge . Wir gehen – ich kann das nur wiederholen – allenVorwürfen nach, besprechen dies mit den verantwortli-chen Stellen . Sollte dies geschehen sein – Sie haben ebendas Non-Refoulement-Prinzip angesprochen –, solltenalso Menschen aus Syrien, die sich in der Türkei aufge-Staatsminister Michael Roth
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halten haben, wieder in ihre syrische Heimat zurückge-schickt worden sein, wäre dies nicht nur ein Verstoß ge-gen die Europäische Menschenrechtskonvention, die dieTürkei selbstverständlich ratifiziert hat, es wäre auch einVerstoß gegen die nationale Gesetzgebung der Türkei .Gemäß dem türkischen Ausländergesetz ist die Türkeiverpflichtet, Flüchtlinge nicht dorthin zu schicken, woihnen Gefahr für Leib und Leben droht .
Herr Nouripour, zweite Frage .
Herr Staatsminister, habe ich Sie richtig verstanden,
dass die Bundesregierung tatsächlich das Thema derjeni-
gen, die an der türkisch-syrischen Grenze festsitzen und
nicht ins Land dürfen, der Türkei gegenüber angespro-
chen hat und auch weiterhin ansprechen wird? Und habe
ich jetzt Ihre Aufmerksamkeit, wenn ich Sie frage, was
denn eigentlich mit den Leuten passiert, die zurzeit aus
Falludscha fliehen? Es sind bisher 80 000, Tendenz stei-
gend . Viele versuchen natürlich, nach Norden zu kom-
men, aus dem Irak herauszukommen . Die Iraki sind –
wenn ich es richtig verstanden habe – nicht unbedingt
Teil des Deals mit der Türkei . Was passiert eigentlich mit
diesen Leuten?
Wir haben allergrößtes Interesse daran, dass die
Flüchtlinge ordentlich behandelt werden, und wir unter-
stützen die Türkei dabei . Sie haben jetzt einen konkreten
Fall angesprochen . Ich würde auch dazu, Ihr Einverständ-
nis vorausgesetzt, noch einmal Rücksprache nehmen und
Ihnen dann eine schriftliche Antwort zukommen lassen .
Vielen Dank . – Nächste Fragestellerin: Heike Hänsel
für die Linke .
Danke schön . – Herr Staatsminister, ich möchte ein-
fach noch einmal nachhaken, weil Sie sagten, Sie hätten
keine eigenen Erkenntnisse darüber, dass auf Flüchtlinge
geschossen wird . Der aktuelle Fall liegt erst sehr kur-
ze Zeit zurück, aber die Meldungen häufen sich ja seit
Monaten . Dazu würde ich von Ihnen gern noch einmal
hören – das habe ich noch nicht so richtig gehört –: Was
haben Sie in den letzten Monaten alles unternommen,
um zu Erkenntnissen zu gelangen, was sich an der tür-
kisch-syrischen Grenze abspielt? Welche Stellen haben
Sie konkret gefragt und wen alles kontaktiert? Waren Sie
auch selber vor Ort?
Ich habe in meiner Antwort auf die zweite Nachfrage
der Kollegin Göring-Eckardt schon detailliert geschil-
dert, mit wem alles wir uns in Verbindung gesetzt haben .
Ich habe dabei auf unsere Staatssekretärskonsultationen
hingewiesen . Unser Staatssekretär, der für den Bereich
zuständig ist, war am 1 . Juni in Istanbul und hat diese
Punkte selbstverständlich angesprochen .
Darüber hinaus sind immer wieder die Berichte von
Menschenrechtsorganisationen und anderen Nichtregie-
rungsorganisationen angesprochen worden . Wir haben
mit den Verantwortlichen gesprochen, die selbst in der
Region präsent sind . Weil die Vorwürfe – nicht nur die
jüngsten –, Frau Abgeordnete Hänsel, so schwerwiegend
sind, haben wir ein allergrößtes Interesse, mit all den-
jenigen in Kontakt zu treten, die möglicherweise mehr
wissen als wir . Ich kann nur wiederholen: Diese vielfäl-
tigen Kontakte, Gespräche und der Versuch, weitere In-
formationen zu erhalten, haben nicht zu dem Ergebnis
geführt, dass ich diese sehr schwerwiegenden Vorwürfe
bestätigen kann .
Zweite Frage, Frau Hänsel?
Ja, danke . – Sollten sich die Vorwürfe, also die Rück-
führungen, der Verstoß gegen das Refoulement-Verbot,
Schüsse auf Flüchtlinge – all das bricht internationales
Recht – bewahrheiten: Welche Konsequenzen zieht die
Bundesregierung daraus? Stellt die Bundesregierung
dann auch das Abkommen mit Erdogan infrage? Oder
wäre es kein Hindernis, das Abkommen mit Erdogan auf-
rechtzuerhalten, wenn auf Flüchtlinge geschossen wird?
Dieses Abkommen mit der Türkei beruht auf einer
festen Verankerung im Völkerrecht und auf rechtsstaat-
lichen Prinzipien . Ich kann Ihnen nur noch einmal versi-
chern, dass wir davon ausgehen und dies in unseren Ge-
sprächen selbstverständlich immer wieder formulieren,
dass diesen rechtsstaatlichen Prinzipien vollumfänglich
Geltung verschafft wird . Das ist die Grundlage dieser
Vereinbarung .
Vielen Dank . – Nächster Fragesteller: Uwe Kekeritz .
Frau Präsidentin, herzlichen Dank . – Im Prinzip istdie Frage, die ich stellen wollte, schon drei- oder vier-mal gestellt worden . Sie ist immer in der gleichen Weisebeantwortet worden . Ich weiß nicht, ob das Sinn macht .Ich habe noch eine Frage, die hier bisher nur einmalgestellt worden ist . Sie selbst sagten, dass Sie keine nach-richtendienstlichen Erkenntnisse haben . Haben Sie beiIhrem Nachrichtendienst diesbezüglich nachgefragt? In-wieweit arbeiten die Nachrichtendienste zusammen? Esist wohl wirklich so, wie der Kollege Christian Ströbelesagte: Es ist die bestüberwachte Grenze, die wir auf derWelt haben . Hier ist es völlig unglaubwürdig, zu sagen,dass wir nichts wissen, obwohl Sie zugeben, dass Siesehr wohl Quellen haben, die Sie über die Vorfälle infor-mieren, nur würden Sie sie so nicht akzeptieren .Staatsminister Michael Roth
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Herr Abgeordneter Kekeritz, es steht Ihnen völlig frei,
mich hart und scharf zu kritisieren . Wo mich Ihre Kritik,
die Sie insinuieren, etwas verwundert, ist, dass ich auf
gleiche Fragen gleich antworte . Es würde mich hingegen
sehr verwundern, wenn ich auf gleiche Fragen verschie-
denartig antworten würde . Insofern ist es nur konsequent .
Ich habe darauf hingewiesen, dass zu unseren Quel-
len selbstverständlich auch nachrichtendienstliche Quel-
len gehören, sollten sie vorhanden sein . Wir werden die
Informationen natürlich entsprechend auswerten . Wenn
mir diese Informationen vorlägen oder wenn ich nach-
richtendienstliche Erkenntnisse hätte, ich hier aber eine
Aussage treffen würde, die nicht der Wahrheit entspricht,
dann hätte das für mich letztendlich Folgen und Konse-
quenzen, die ich mir nicht wünsche .
Herr Kekeritz, zweite Frage .
Da die Fragen schon alle beantwortet worden sind,
verzichte ich darauf . Ich möchte nur noch darauf einge-
hen, dass Sie natürlich auf die gleiche Frage gleich ant-
worten . Das Problem bestand nicht in der gleichen Ant-
wort, das Problem liegt darin, dass die gleiche Antwort
immer nicht glaubwürdig ist . Das wollte ich nur sagen .
Herr Abgeordneter, es ist Ihr gutes Recht, meine Ant-
worten als nicht glaubwürdig einzustufen . Aber ich darf
allen Abgeordneten noch einmal versichern, dass ich hier
nach bestem Wissen und Gewissen versuche, Ihre ehren-
werten Fragen zu beantworten . – Danke schön .
Vielen Dank, Herr Staatsminister . – Wir haben jetzt
noch einen Fragesteller . Das ist der Kollege Mutlu .
Danke, Frau Präsidentin . – Herr Staatsminister, ich
möchte Ihnen hier nicht unterstellen, dass Sie Amnesty
International und Human Rights Watch der Lüge bezich-
tigen . Aber Sie zweifeln in Ihren Antworten durchaus die
Aussagen und Berichte dieser weltweit anerkannten Or-
ganisationen mehrfach an . Diese Informationen und die
Studien sind nicht von gestern, sondern liegen schon seit
Wochen vor .
Wenn Sie schon nicht auf diese Quellen vertrauen,
frage ich Sie angesichts all der Aufklärungsmaßnahmen
des Militärs in der Zuständigkeit unseres Verteidigungs-
ministeriums – AWACS, Tornados sind vor Ort – und der
Tatsache, dass Sie bisher keinerlei Aussagen zu deren
konkreten Auftrag treffen konnten: Wer von der Bundes-
regierung kann uns denn dazu Auskunft geben, wenn Sie
nicht Auskunft geben können? Wie wäre es mit Informa-
tionen aus dem Verteidigungsministerium?
Herr Abgeordneter Mutlu, ich gehe fest davon aus,
dass andere Vertreterinnen und Vertreter unserer Bun-
desregierung gleiche Antworten geben würden – es ist
unabhängig von meiner Person –, weil ihnen allen nur
die Informationen zur Verfügung stehen, die auch mir zur
Verfügung stehen .
Ansonsten kann ich Ihnen nur zustimmen, dass es sich
bei den von Ihnen genannten Nichtregierungsorganisa-
tionen um weltweit anerkannte Organisationen handelt,
mit denen wir eng zusammenarbeiten . Aber es ist selbst-
verständlich auch unsere Pflicht, dass wir den schwer-
wiegenden Vorwürfen entsprechend nachgehen . Ich habe
Ihnen heute hier mehrfach zum Ausdruck zu bringen
versucht, dass uns keine eigenen Erkenntnisse dazu vor-
liegen, dass diese schwerwiegenden Vorwürfe zutreffend
sind .
Haben Sie eine Rückfrage?
Ich brauche keine weitere Frage zu stellen, weil wir
immer dieselbe Antwort kriegen .
Frau Kollegin Keul .
Vor dem Hintergrund, dass wir jetzt mehrfach ge-
fragt haben, was mit den Informationen ist, die dem mi-
litärischen Bereich zur Verfügung stehen, und sich der
Staatsminister jetzt hier nicht in der Lage sah, aus eigener
Kenntnis die Frage zu beantworten, welche Erkenntnisse
es dort gibt, würde ich jetzt mit Verweis auf unsere Ge-
schäftsordnung die Verteidigungsministerin herbeirufen,
damit wir sie fragen können, welche Informationen denn
tatsächlich dort vorliegen .
Gehe ich recht in der Annahme, dass das jetzt der An-trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist? – Dannmuss ich darüber abstimmen lassen .Wer stimmt dem Antrag auf Herbeirufung der Vertei-digungsministerin zu? – Wer stimmt dagegen? – Nachunserer Einschätzung ist die Mehrheit dafür .
– Ja, dann zählen wir es jetzt aus . Gut .
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– Oh .
– Ich sage ja nichts . Ich habe nur „Oh“ gesagt . – Wirkommen hier auf 19 Stimmen für den Antrag und auf18 Stimmen dagegen .
Damit gibt es eine knappe Mehrheit für den Antrag .
– Möchten Sie infrage stellen, dass wir hier richtig ge-zählt haben?
– Ich gehe nicht davon aus . Wir haben gemeinsam aus-gezählt . Es ist so abgestimmt worden, und so ist es jetzt .
Dann unterbreche ich die Sitzung, bis die Frau Vertei-digungsministerin hier anwesend ist .
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet .
Herzlich willkommen, Frau Ministerin . Wir sind in
der Fragestunde und behandeln gerade die dringlichen
Fragen auf Drucksache 18/8852 . Es geht um die Reakti-
onen der Bundesregierung auf Berichte über Todesopfer
an der türkisch-syrischen Grenze .
Dazu gibt es Wortmeldungen von einigen Kolleginnen
und Kollegen, die Ihnen jetzt Fragen stellen wollen . –
Die erste Frage hat Katrin Göring-Eckardt .
Frau Ministerin, vielen Dank, dass Sie es einrichten
konnten, hierherzukommen, was aus Ihrer Sicht ja si-
cherlich selbstverständlich ist, wenn Fragen offen blei-
ben . Hier geht es speziell um Fragen, die offensichtlich
nur Sie als Verteidigungsministerin beantworten können;
denn das Auswärtige Amt hat uns hier nur gesagt, man
würde alle Erkenntnisse aufnehmen .
Für uns war die konkrete Frage, inwieweit die Auf-
klärungsflugzeuge, die an der syrisch-türkischen Grenze
sind und von denen wir ja Informationen darüber be-
kommen, was dort gerade stattfindet, ausgewertete Infor-
mationen über die Selbstschussanlagen haben, die dort
stationiert sein sollen . Darüber hatten Nichtregierungs-
organisationen berichtet . Die deutsche Bundesregierung
hat seitens des Auswärtigen Amtes in der letzten Woche
schon einmal darauf hingewiesen, dass sie versucht hat,
von der türkischen Regierung dazu Informationen zu be-
kommen . Darüber hinaus ist die Frage, inwieweit diese
Aufklärungsflugzeuge Informationen, die Sie auswerten
können, zu einem Fall von diesem Wochenende haben,
wonach offensichtlich eine Familie mit vier Kindern er-
schossen worden ist .
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:
Frau Göring-Eckardt, zunächst einmal danke ich
für die Geduld des Parlamentes . Ich war gerade in den
deutsch-polnischen Regierungskonsultationen . Ich bin
sehr dankbar, dass ich die gemeinsamen Ergebnisse mit
dem polnischen Kollegen noch vorstellen konnte . Ich bin
dann aber selbstverständlich so schnell wie möglich hier-
hergekommen .
Zu dem Sachverhalt, den Sie soeben geschildert ha-
ben: Aus dem gesamten militärischen Nachrichtenwe-
sen – das ist das, was ich überblicken kann – liegen uns
keinerlei Erkenntnisse vor, die diesen Sachverhalt bestä-
tigen können . Wir haben nach Bekanntwerden unverzüg-
lich mit dem Militärattachéstab in der Türkei Kontakt
aufgenommen . Auch dort liegen keine Erkenntnisse vor,
die diesen Sachverhalt bestätigen könnten .
Vielen Dank, Frau Ministerin . – Nächste Fragestelle-
rin: Katja Dörner .
Vielen Dank . – Frau Ministerin, ich möchte Sie ganz
konkret fragen, wenn Sie sagen, Ihnen liegen keine Er-
kenntnisse zu dem von Frau Göring-Eckardt thematisier-
ten Sachverhalt vor: Welche Erkenntnisse liegen Ihnen
denn seitens AWACS und der Tornados, die in diesem
Grenzgebiet im Einsatz sind oder sein sollen, zur Situati-
on von Flüchtlingen in diesem Gebiet generell vor?
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:
Es ist nicht Aufgabe der Tornados und auch nicht
Aufgabe von AWACS, solche Erkenntnisse zu sammeln .
Insofern liegen mir keine spezifischen Erkenntnisse vor,
die die Thematik, die Sie zurzeit in der Fragestunde be-
sprechen, betreffen . Noch einmal: Wir haben bewusst das
gesamte militärische Nachrichtenwesen auf diesen spezi-
fischen Sachverhalt hin befragt, und es liegen keinerlei
Erkenntnisse vor .
Eine zweite Frage, Frau Dörner .
Vor dem Hintergrund Ihrer Antwort möchte ich gernefragen, welche Erkenntnisse Ihnen denn seitens der Auf-klärungsflugzeuge in diesem Gebiet vorliegen. Und zwarnicht allgemein, sondern konkret: Was machen die da?
Vizepräsidentin Claudia Roth
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Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin derVerteidigung:Es gibt einen klar beschriebenen Auftrag von AWACS,den Luftraum – den Luftraum! – über der Türkei aufzu-klären . Genau das tun die AWACS-Flugzeuge . Die Tor-nados haben innerhalb der Koalition gegen den Terrorspezifische Aufträge, bestimmte Regionen aufzuklären.Diese Aufgaben kommen in unterschiedlicher Weise täg-lich, um dann von den Tornados umgesetzt zu werden .
Vielen Dank . – Nächste Fragestellerin: Renate Künast .
Frau Ministerin, ich zucke – sehen Sie mir das nach –
immer zusammen, wenn ich höre, dass militärische Auf-
klärungsdienste keinerlei Erkenntnisse haben . Wenn ich
in den Kategorien von Herrn Maaßen denken würde,
wäre ich jetzt hundertprozentig sicher, dass doch etwas
im Busch ist . Er sagte auch immer: Wir wissen nichts . –
Und dann sind die Tresore voll . Deshalb versuche ich
einmal, hinter Ihren Begriff „keinerlei Erkenntnisse“ zu
kommen .
Was haben diese militärischen Dienste angestellt, um
zu dem Stand „keine Erkenntnisse“ zu kommen? Haben
sie und die Militärattachés sich einfach gefragt: „Wissen
wir schon etwas?“? Haben sie, weil sie logischerweise
auch wissen wollen, ob der EU-Türkei-Vertrag seitens
der Türkei eingehalten wird, nachgefragt oder selber
Befragungen von Geflüchteten vorgenommen, ob die-
se Hinweise stimmen? Haben die militärischen Dienste
bei Human Rights Watch oder bei Amnesty Internatio-
nal, einer Organisation mit hohem internationalem An-
sehen – ich kenne keinen Vorwurf, sie würden lügen –,
die eine ganze Menge Wissen sammelt, recherchiert, um
auf dieser Basis zu dem Ergebnis zu kommen, sie wüss-
ten nichts, oder um, umgekehrt, auf dieser Basis genauer
nachzusehen, um zum Beispiel in Zukunft in der Region
Idlib, um die es geht, Obacht auf das zu geben, was da
passiert?
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:
Ich habe Ihnen über die Thematik berichtet, die meine
Zuständigkeit betrifft, und das ist das militärische Nach-
richtenwesen . Sie haben breitere Facetten und Themen,
zum Beispiel Human Rights Watch, angesprochen, die
nicht innerhalb der Zuständigkeit des militärischen Nach-
richtenwesens liegen . Das, wozu ich gebeten worden bin
vorzutragen, ist der Bereich, den ich – innerhalb des mi-
litärischen Nachrichtenwesens – überblicken kann . Dort
liegen zu dem spezifischen Sachverhalt keine weiteren
Erkenntnisse vor .
Frau Künast, Nachfrage?
Ich habe mich nicht deshalb auf Human Rights Watch
oder Amnesty bezogen, weil ich nach dem gesamten
Menschenrechtsgeschehen in dieser Region fragen woll-
te; die Frage ist vielmehr, inwiefern die militärischen
Dienste vor Ort Wissen darüber haben, dass Menschen
erschossen oder verletzt wurden . Dann kann man die Au-
gen zumachen und sagen: „Ich habe keine Erkenntnisse“,
oder man kann sagen: Ich recherchiere erst einmal eine
gewisse Basis, um diese Frage zu beantworten .
Wir bräuchten die Dienste übrigens nicht, wenn sie
nur weggucken und dann sagen, was sie nicht wissen .
Das könnte ich auch hinkriegen; weggucken könnte ich
auch .
Seit Dezember wissen diese Dienste von den Vor-
würfen und Hinweisen, zum Beispiel von Amnesty und
anderen, dass dort geschossen wird und dass es dort ent-
sprechende Vorrichtungen gibt . Da muss es doch ein Auf-
klärungsinteresse oder einen Aufklärungswillen geben .
Dazu sind doch Dienste da . Deshalb frage ich: Was haben
die militärischen Dienste ganz konkret seit Dezember
letzten Jahres unternommen, um zu recherchieren?
Wenn Sie es nicht mündlich beantworten können,
nehme ich auch gerne eine schriftliche Antwort ent-
gegen . Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass solche
Ungeheuerlichkeiten seitens der Türkei auf die Agenda
gesetzt werden und bekannt sind, ohne dass das jemand
recherchiert .
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:
Zunächst einmal möchte ich auf das Schärfste Ihre
Unterstellung zurückweisen, das militärische Nachrich-
tenwesen würde die Augen schließen und weggucken .
All das, was Sie eben geschildert haben, ist ja schon ein
erheblicher Vorwurf, den Sie da aussprechen . Den weise
ich auf das Schärfste zurück .
Ich möchte noch einmal klar aufzeigen, dass die Auf-
gabe des militärischen Nachrichtenwesens begrenzt ist
und einen bestimmten Fokus hat . Wenn Sie in einer brei-
teren Form das gesamte Nachrichtenwesen der Bundes-
regierung abfragen möchten, dann müsste ich sicherlich
mit den zuständigen Ressorts Kontakt aufnehmen und
könnte Ihnen das dann gerne schriftlich zukommen las-
sen .
Vielen Dank, Frau Ministerin . – Nächster Fragesteller:
Dr . Alexander Neu .
Frau Ministerin, Human Rights Watch ist eine Men-schenrechtsorganisation mit einer hohen Reputation . Seitvielen Monaten wird immer wieder über Vorfälle mit töd-lichem Ausgang berichtet, dass also angeblich Menschenbzw . Flüchtlinge aufgrund des Waffeneinsatzes der türki-schen Sicherheitskräfte ums Leben kommen . Sie sagen,es gebe seitens des Nachrichtenwesens der Bundeswehrkeine gesicherten Erkenntnisse .Wenn Sie Human Rights Watch nicht glauben, frageich Sie: Welche Quelle ist erforderlich, damit Sie es glau-ben? Ist es das Erdogan-Regime, der türkische Verteidi-
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 178 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 22 . Juni 2016 17531
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gungsminister oder der türkische Geheimdienst, damitSie es irgendwann einräumen? Wenn Sie sich nicht ein-mal auf eine Quelle wie Human Rights Watch verlassen,stelle ich mir die Frage: Auf welche Quelle verlassen Siesich?Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin derVerteidigung:Es geht nicht darum, was ich glaube, sondern darum,welche Erkenntnisse das Nachrichtenwesen, für das ichzuständig bin, hat .
Herr Neu .
Bewegt sich das Nachrichtenwesen der Bundeswehr
denn genau an der Grenze zwischen Syrien und der Tür-
kei und überwacht diese Grenze lückenlos?
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:
Das militärische Nachrichtenwesen bezieht sich auf
den Schutz der militärischen Einrichtungen, die wir
dort betreiben, und das ist die Aufgabe des militärischen
Nachrichtenwesens . Für weitere Fragen, die Nachrich-
tenwesen im Allgemeinen betreffen, würde ich das Kanz-
leramt bitten, zu übernehmen .
Danke, Herr Neu . – Dann hat jetzt Frau Klein-
Schmeink die nächste Frage .
Frau Ministerin, Sie haben vorhin darauf abgehoben,
dass Sie Ihre militärischen Nachrichtendienste befragt
hätten . Wann war das ganz konkret? Soweit ich das sehe,
gibt es hier über AWACS eine Zuständigkeit für den Be-
reich der Türkei und über die Tornados für den syrischen
Raum . Haben Sie da auch ganz konkret – und wann zu-
letzt – nach Informationen gefragt? Haben Sie auch ganz
konkret nach den Vorfällen gefragt, die hier in Rede ste-
hen?
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:
Direkt nach Bekanntwerden der Vorfälle sind in den
üblichen Kanälen und Gremien diese Erkenntnisse breit
abgefragt worden . Es sind potenzielle Erkenntnisse ge-
sammelt worden, aber es stellte sich heraus, dass zu dem
spezifischen Sachverhalt keine Erkenntnisse vorliegen. –
Das ist ein standardisiertes Verfahren; das sind Proze-
duren, die fixiert angelegt sind. Das ist auch richtig so;
denn es muss mit einer gewissen Regelmäßigkeit und
im Rahmen einer gewissen Qualitätssicherung erfolgen .
In diesen standardisierten Verfahren verdichten sich die
abgefragten Elemente . Dann wird zum Schluss auf den
hochspezifischen Fall gesehen; der ist ja erst kürzlich als
Nachricht präsentiert worden; dabei war also kein langer
Zeitraum zu überblicken . Dann hat man ein gesichertes
Lagebild . Und das habe ich Ihnen eben im Rahmen der
ersten Beantwortung der Frage erläutert .
Rückfrage?
Ich darf nachfragen . Sie haben mir nicht beantwortet,
ob anlässlich dieses konkreten Falles tatsächlich in den
letzten Tagen bzw . in der letzten Woche eine solche Kon-
sultation erfolgt ist .
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:
Ich darf Sie darauf hinweisen, dass ich bei einer der
früheren Beantwortungen der Fragen bereits gesagt habe,
dass das gesamte Nachrichtenwesen befragt worden ist,
ob Erkenntnisse vorliegen . Sie liegen nicht vor . Und ich
habe gesagt, dass Kontakt mit unserem Militärattachéstab
in der Türkei aufgenommen worden ist . Das ist ein akti-
ves Vorgehen . Auch dort gab es keinerlei Bestätigung des
von Ihnen eben spezifisch abgefragten Sachverhaltes.
Vielen Dank, Frau Ministerin . – Nächste Fragestelle-
rin: Tabea Rößner .
Frau Ministerin, Sie haben gesagt, Sie hätten jetzt
keine Informationen bekommen; aber die türkisch-syri-
sche Grenze – das muss man ja einmal feststellen – ist
die best überwachte Grenze auf der ganzen Welt . Deshalb
ist es schon sehr erstaunlich, dass es da keine Informa-
tionen gibt . Deshalb frage ich Sie, was Ihr Ministerium
bzw . die Bundesregierung in Gänze zu tun gedenkt, um
tatsächlich an weitere Informationen – gerade auch über
den militärischen Nachrichtendienst – zu kommen .
Wer antwortet? – Das Kanzleramt .
D
Ich glaube, der Kollege Roth hat eingangs sehr aus-
führlich geschildert, dass die Bundesregierung hier über
keine spezifischen Kenntnisse verfügt und dass die Mit-
tel, die wir als Bundesregierung haben, auch an der Stel-
le keinerlei Erkenntnisse gebracht haben . Und darüber
hinaus können wir als Bundesregierung dazu jetzt auch
keine Stellung mehr nehmen .
Frau Rößner .
Also, das erstaunt mich schon sehr; denn es ist ja dieFrage, was für Konsequenzen es gibt, wenn alle diese Er-Dr. Alexander S. Neu
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eignisse bestätigt werden . Von daher müsste die Bundes-regierung doch ein großes Interesse haben, Erkenntnisseüber den Sachverhalt zu bekommen . Deshalb auch nochdiese Frage an Sie, Frau Ministerin: Welche Konsequen-zen hätte es denn im militärischen Bereich, wenn dieseEreignisse alle bestätigt werden?Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin derVerteidigung:Wir müssten bestätigte Erkenntnisse haben . Ich kannnicht allgemein auf hypothetische Situationen antworten .Im Übrigen sind „militärische Folgen“ bzw . – habe iches richtig verstanden, dass Sie das so genannt haben? –„militärische Konsequenzen“ sehr schwierige Begriffe,die ich hier niemals so benutzen würde . Vielmehr sageich noch einmal: Man muss sehr genau wissen, was vor-liegt, und man muss genau wissen, auf welchem Grundund Boden man sich bewegt und was die Tatsachen sind .Anhand der Tatsachen kann man dann analysieren undentscheiden, aber nicht anhand von hypothetischen Vor-stellungen .
Es gab eine Rückfrage, und ich will das für alle noch
einmal deutlich machen . Herr Brauksiepe, glaube ich, hat
sich dafür interessiert, warum jeweils zwei Nachfragen
möglich sind . Das liegt daran, dass es zwei dringliche
Fragen sind .
Jetzt haben wir Kordula Schulz-Asche .
Frau Ministerin, ich glaube, wir sind uns einig, dass
die Zivilgesellschaft und die Nichtregierungsorganisati-
onen gerade in Gebieten, in denen Krieg herrscht oder in
denen die Situation von großer Unsicherheit geprägt ist,
bei der Beobachtung von Menschenrechtsverletzungen
oder der Menschenrechtssituation insgesamt eine sehr
große Rolle spielen . Wir haben mit drei Organisationen,
die ich hier beispielhaft nennen möchte, nämlich Amnes-
ty International, Human Rights Watch und der Syrischen
Beobachtungsstelle für Menschenrechte, sehr renom-
mierte Nichtregierungsorganisationen, die in der Region,
in der die Vorfälle stattgefunden haben sollen, arbeiten
und von daher nicht nur renommiert sind, sondern, wie
ich finde, auch eine hohe Glaubwürdigkeit haben, was
ihre Berichte angeht .
Jetzt ist meine Frage: Wenn Sie als Bundesregierung
keine militärischen Erkenntnisse oder keine Sicherheits-
erkenntnisse haben, warum akzeptieren Sie dann nicht
die Zivilgesellschaft als glaubwürdige Quelle?
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:
Ich kann Sie auf die im Laufe dieser Fragerunde ge-
gebenen Antworten verweisen . Insofern entbehrt die Fra-
ge, die Sie mir gestellt haben, einer Grundlage; denn sie
unterstellt mir eine bestimmte Annahme bezüglich der
von Ihnen genannten Organisationen, und das ist nicht
der Fall .
Die zweite Frage .
Vielleicht muss ich dann einmal das Kanzleramt fra-
gen . Ich frage, warum, wenn es keine militärischen oder
nachrichtendienstlichen Erkenntnisse gibt, die Bundes-
regierung nicht die Aussagen renommierter Nichtre-
gierungsorganisationen bzw . der Zivilgesellschaft als
glaubwürdige Quellen anerkennt, sondern diese in Er-
mangelung anderer Quellen infrage stellt und keine wei-
teren Maßnahmen ergreift .
D
Frau Kollegin, im Hinblick auf die Einschätzung der
Lage und der gewonnenen Erkenntnisse durch die Bun-
desregierung verweise ich auf die ausführlichen Antwor-
ten zu den gestellten Fragen durch den Kollegen Roth
und auch Frau Bundesminister von der Leyen .
Vielen Dank, Herr Braun . – Wir haben jetzt noch zwei
Fragestellerinnen, und zwar zunächst die „Fragestelle-
rin“ Jörn Wunderlich .
Ja, ich wollte gerade sagen: kodiert . – Vielen Dank . –Human Rights Watch und die Syrische Beobachtungs-stelle für Menschenrechte stellen so etwas fest . Wenn Sie,Frau von der Leyen, angesichts der Meldung derartigerVorfälle sagen, das liegt nicht in Ihrer Zuständigkeit, weildie von Ihnen befehligten Truppenteile dafür zuständigsind, militärische Objekte zu schützen und den Luftraumklar zu halten, zeigt das, dass von Ihrer Seite mangelsZuständigkeit ja offensichtlich doch nichts unternommenwird, obwohl Sie das strikt zurückweisen . Andererseitssagen Sie – das haben Sie gerade eben gesagt; ich zitie-re –: „Man muss sehr genau wissen, was vorliegt .“Deswegen meine Frage an das Kanzleramt: Wennüber solche Dinge berichtet wird, diese Vorfälle durchdie Zivilorganisationen bekannt werden und Frau vonder Leyen als Verteidigungsministerin sagt: „Im Rahmender Zuständigkeit innerhalb der Bundesregierung bin ichnicht zuständig“, was unternimmt dann das Kanzleramtals in der Bundesregierung zuständige Stelle, auch für dieübrigen Dienste, um eben die von Frau von der Leyengeforderte Zuverlässigkeit des Wissens – „man muss sehrgenau wissen, was vorliegt“ – zu erlangen? Was hat dieBundesregierung bisher unternommen? In welcher Formhat sie nachgeforscht: „Gab es da die Toten? Gab es dadie Schüsse? Oder lügen die Organisationen alle?“? Istmit der türkischen Regierung Kontakt aufgenommenworden? Was ist konkret unternommen worden, um die-sen Sachverhalt aufzuklären?Tabea Rößner
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D
Lieber Herr Kollege, schon daran, dass wir diese
dringliche Frage heute durch das Auswärtige Amt haben
beantworten lassen, wird deutlich, dass diese Angelegen-
heit aus dem Bereich des Auswärtigen, was die Zustän-
digkeit innerhalb der Bundesregierung angeht, zunächst
einmal beim Auswärtigen Amt liegt .
Deshalb haben Sie die Auskünfte von da bekommen .
Wir haben darüber hinaus jetzt auf Ihren Wunsch hin
von der Bundesverteidigungsministerin zusätzliche In-
formationen über die Rolle der Bundeswehr in der Regi-
on bekommen . Bezüglich der Einschätzung, die die Bun-
desregierung im Hinblick auf das Handeln der von Ihnen
genannten Organisationen hat, verweise ich Sie auf die
bereits gegebenen Antworten des Auswärtigen Amts .
Vielen Dank, Herr Braun . – Herr Wunderlich, eine
zweite Frage, wenn Sie mögen .
Immerhin freut es mich, dass Sie heute wissen, was
die eigentliche Aufgabe dieses im Dezember beschlosse-
nen Einsatzes ist .
Gleichwohl sind Sie mir die Antwort schuldig geblie-
ben, was konkret unternommen worden ist . Dazu haben
Sie keine Aussage getroffen . Daraus kann ich nur schlie-
ßen: Sie haben nichts unternommen . Deshalb kann ich
den Vorwurf, den Frau von der Leyen hier der Fraktion
der Grünen gemacht hat – sie hat es ja zurückgewiesen,
weggeguckt zu haben –, nur ebenfalls aufs Schärfste
zurückweisen; denn es scheint doch den Tatsachen zu
entsprechen . Hier werden Zuständigkeiten hin- und her-
geschoben, aber die Antwort auf die Frage, was konkret
unternommen wird, um zu verhindern, dass es mögli-
cherweise weitere Tote an der Grenze gibt, bleibt diese
Regierung schuldig, nicht nur diesem Parlament, sondern
auch der Öffentlichkeit .
Herr Staatsminister Roth, bitte .
Bei allem Respekt, Herr Abgeordneter, vor einer le-
bendigen Debattenkultur möchte ich Sie aber auch um
ein Mindestmaß an Fairness bitten .
Wir diskutieren diesen Sachverhalt aufgrund einer dring-
lichen Frage der Abgeordneten Göring-Eckardt seit un-
gefähr anderthalb Stunden, mit einer Unterbrechung . Ich
habe den Abgeordneten detailliert Auskunft erteilt . Ich
kann auch gerne, damit Sie einen anderen Eindruck be-
kommen, diese Antworten noch einmal vortragen; denn
inzwischen hat sich das Publikum hier deutlich verän-
dert . Es nehmen inzwischen Abgeordnete an der Diskus-
sion teil,
die den ersten, ausführlichen Teil der Beantwortung nicht
mitbekommen haben . Daraus können Sie doch nicht den
Vorwurf konstruieren, dass die Bundesregierung nicht
bestmöglich informiert habe . Ich habe dies für die Bun-
desregierung getan .
– Da waren auch Sie, Frau Abgeordnete, nicht dabei .
Können wir jetzt bitte wieder in Ruhe diskutieren?
Die letzte Fragestellerin zu den dringlichen Fragen ist
Frau Lemke .
Ob es die Aufgabe der Regierung ist, von der Regie-rungsbank aus die Arbeit der Abgeordneten zu bewerten,lasse ich für den Moment einmal dahingestellt;
denn ich glaube, dass wir gerade andere Dinge zu tunhaben . Herr Roth, wir diskutieren diesen Sachverhaltaufgrund der Tatsache, dass seit Dezember, das heißt seitsechs Monaten, der Vorwurf von Nichtregierungsorga-nisationen im Raum steht, dass via Selbstschussanlagenoder auf andere Art und Weise dort Menschen zu Todekommen, und die Bundesregierung – ich zitiere Frau vonder Leyen – keinerlei Erkenntnisse darüber hat, ob dieseAussagen richtig oder falsch sind . Dieses Spiel haben Siehier in der Tat anderthalb Stunden aufgeführt und gesagt,dass Sie keinerlei Erkenntnisse darüber haben .In diesen sechs Monaten sind entscheidende Ab-kommen mit der Türkei, die auch die Sicherheitslage inDeutschland durchaus tangieren, getroffen worden . Ichlasse jetzt einmal das Schwarze-Peter-Spiel, das Sie in-
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nerhalb der Bundesregierung gerade aufgeführt haben,beiseite und möchte das Kanzleramt fragen: Was passiertdenn in den nächsten sechs Monaten? Wann können Sieuns Erkenntnisse mitteilen, ob die Vorwürfe von Amnes-ty und Human Rights Watch richtig oder falsch sind?
Herr Braun, bitte .
D
Frau Kollegin, ich möchte zunächst darauf hinweisen,
dass Sie in Ihrer Frage eine Reihe von Unterstellungen
machen . Die Bundesministerin hat eben deutlich gesagt,
dass aus dem Nachrichtenbereich des Militärs keine Er-
kenntnisse vorliegen . Das ist etwas anderes als das, was
Sie in Ihrer Aussage zusammengefasst haben .
Über die Frage, welche zukünftigen Erkenntnisse die
Bundesregierung noch gewinnen wird, kann ich nicht
spekulieren .
Sie haben durch die Aussagen, die wir getroffen ha-
ben, erfahren, was wir in der Vergangenheit unternom-
men haben . Wir haben auch deutlich gemacht, dass uns
die Situation der Flüchtlinge in der Türkei insgesamt sehr
wichtig ist und wir deshalb sehr genau da hinschauen .
Aber welche zukünftigen Erkenntnisse wir gewinnen
können, darüber kann ich hier nicht spekulieren .
Frau Lemke, zweite Frage .
Den Sachverhalt, den Sie eben angedeutet haben –
dass nur der militärische Nachrichtendienst keine Er-
kenntnisse hat, und darin ist intendiert, dass andere
Nachrichtendienste Erkenntnisse haben –, lasse ich jetzt
aus Zeitgründen beiseite . Dazu werden wir schriftlich an
anderer Stelle nachfragen .
– Da brauchen Sie gar nicht zu lachen .
Wenn Sie für die Zukunft keine Aussage treffen kön-
nen, möchte ich bezüglich Erkenntnissen wissen, auf
welche Art und Weise Sie diesem Sachverhalt politisch
nachgehen werden, um der deutschen Öffentlichkeit
und dem deutschen Parlament sagen zu können, ob die
Aussagen von Amnesty und Human Rights Watch rich-
tig oder falsch sind . Wann werden Sie diesbezüglich zu
Erkenntnissen gelangt sein? Das ist eine politische Be-
wertung und keine nachrichtendienstliche .
Wenn Sie sagen: „Diese Aussagen stimmen nicht“
oder: „Wir haben keinerlei Erkenntnisse darüber“, dann
wäre der Umkehrschluss, dass sie falsch sind . Ich möch-
te dazu von Ihnen eine klare Aussage haben . Wenn Sie
diese heute nicht treffen können, dann möchte ich gerne
wissen, bis wann Sie politisch gedenken diese Aussagen
bewerten zu können: Braucht das noch sechs Monate,
drei Monate oder zwölf Monate? Denn ansonsten kann
ich Ihnen Ihre behauptete Sorge um die Flüchtlinge in
diesem Grenzgebiet leider nicht abnehmen .
Herr Braun .
D
Frau Kollegin, in der Frage waren zweimal Dinge ent-
halten, mit denen Sie eine implizierte Unterstellung vor-
nehmen, die so nicht Gegenstand meiner Antwort war .
Das Erste war, dass ich die Antwort der Bundesmi-
nisterin klargestellt habe . Das, was Sie eben daraus ge-
schlossen haben – was das implizit für andere Dienste
heißt –, ist ausdrücklich nicht Gegenstand meiner Ant-
wort gewesen .
Das Zweite ist, dass Sie eben gesagt haben, dass die
Tatsache, dass die Bundesregierung keine Erkenntnisse
hat, implizit bedeutet, dass die Aussagen falsch wären .
Genau diese Bewertung hat die Bundesregierung an der
Stelle nicht vorgenommen .
Insofern kann ich über die zukünftigen Erkenntnisse
nichts sagen, möchte aber die beiden Unterstellungen,
die in Ihrer Frage enthalten sind, zurückweisen .
Vielen Dank, Herr Braun . – Jetzt wirklich die aller-
letzte Fragestellerin: Frau Werner .
Danke schön . – Ich möchte nachhaken; ich bin in die-ser Debatte von Anfang an dabei . Ich gehe hier eigentlichmit noch mehr Fragen heraus, wobei wir das ja anschei-nend nicht klären können . Insofern vielleicht ganz ein-fach:Für mich war jetzt so ein bisschen das Problem, dassmir nicht ganz klar ist, wer jetzt wem die Zuständigkeitenzuschieben möchte . Könnten wir uns vielleicht daraufverständigen, dass in dieser öffentlichen Debatte vieleFragen gestellt wurden, viele Hinweise gegeben wurden,dass es Organisationen gibt, die einfach Berichte veröf-fentlicht haben, die von Toten an Grenzen gesprochenhaben, und dass diese Berichte oder diese Debatte, wel-ches Ministerium auch immer zuständig wäre, von denzuständigen Ministerien zum Anlass genommen werden,um schnellstmöglich die offenen Fragen aufzuklären?Wenn dem so ist – es ist ja jetzt bekannt, dass es jetzt imRaum steht, zumindest nach der Debatte –, dann würdeich die Frage anschließen, wie lange Sie denn bräuchten,um zu überprüfen, ob diese Berichte stimmen, und, wennSteffi Lemke
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Sie sie dann überprüft haben, zu welchen Konsequenzenoder Initiativen Sie dann kommen würden .
Herr Braun .
D
Frau Kollegin, das hat man schon am Konjunktiv Ihrer
Frage gemerkt, dass Sie auch hier wieder wollen, dass
wir spekulieren . Das tun wir nicht . Wir haben Sie über
die Erkenntnislage der Bundesregierung informiert . Über
die Frage, welche zukünftigen Erkenntnisse wir noch ge-
winnen, kann ich hier nicht spekulieren .
Frau Werner .
Ich mache das dann, auch wenn Sie mir die gleiche
Antwort dann noch einmal geben .
Für mich ist eigentlich das, was ich hier mitnehme,
dass wir nicht die richtigen Antworten bekommen – es
sind ja Ihre Antworten –, dass andere Erkenntnisse vor-
handen sind .
Also: Es gab Antworten, denen ich entnehme, dass
es keine Erkenntnisse gibt, und es gibt die Berichte . Ich
möchte Ihnen oder den anderen Organisationen nicht un-
terstellen, dass die Berichte nicht stimmen, sondern ich
möchte wissen, ob Sie aufgrund der Debatte heute Initi-
ativen ergreifen, ob Sie den Raum hier verlassen und ob
diese Debatte für Sie erledigt ist oder ob Sie eventuell ir-
gendwelche Initiativen starten, Gespräche haben werden
und ob Sie in der Lage sind, uns vielleicht in der nächsten
Sitzungswoche detaillierter Antworten zu geben .
Herr Staatsminister Braun, bitte .
D
Frau Kollegin, ich bewundere Ihre hellseherischen
Fähigkeiten . Ich kann heute keine Aussage darüber ma-
chen, welche Erkenntnisse es zukünftig noch geben wird,
und deshalb kann ich Ihnen auch nicht sagen, ob wir in
der nächsten Woche zusätzliche Informationen liefern
können .
Nachdem die dringlichen Fragen aufgerufen und von-
seiten der Regierung beantwortet worden sind – vielen
Dank, Frau Ministerin, vielen Dank, liebe Kolleginnen
und Kollegen –, rufe ich jetzt die mündlichen Fragen auf
Drucksache 18/8816 in der üblichen Reihenfolge auf .
Wir kommen zuerst zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend . Die Frage 1 von Frau Kollegin Beate Walter-
Rosenheimer wird schriftlich beantwortet .
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums für Gesundheit . Beantworten wird Staatssekretä-
rin Ingrid Fischbach .
Die Fragen 2 und 3 von Frau Kollegin Sabine
Zimmermann werden schriftlich beantwortet .
Die Frage 4 von Frau Kollegin Kordula Schulz-Asche
kann leibhaftig beantwortet werden:
Welche konkreten Regelungen zur gruppennützigen For-
schung an nichteinwilligungsfähigen Erwachsenen plant die
Bundesregierung, nachdem in den letzten Wochen einerseits
von verschiedenen Akteuren wie den Kirchen und Patienten-
organisationen eine Ausweitung des Schutzniveaus bei nicht-
einwilligungsfähigen Erwachsenen bei Arzneimittelstudien
abgelehnt wurde und andererseits von Dr . Karl Lauterbach,
stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion im Deutschen
Bundestag, weitere mögliche Änderungen zur geplanten Aus-
I
Frau Kollegin Schulz-Asche, gern beantworte ich IhreFrage: Maßgebliche Bestimmung für die gruppennützi-ge Teilnahme an einer klinischen Prüfung ist Artikel 31Absatz 1 Buchstabe g Ziffer ii der EU-Verordnung Num-mer 536/2014 . Die Bundesregierung hat in dem von ihrbeschlossenen Vierten Gesetz zur Änderung arzneimit-telrechtlicher und anderer Vorschriften in Artikel 2 Num-mer 11 für die Einbeziehung nichteinwilligungsfähigerErwachsener zu gruppennützigen Forschungszweckennoch strengere Voraussetzungen vorgesehen . MöglicheÄnderungen des Gesetzentwurfs der Bundesregierungwerden derzeit im parlamentarischen Verfahren beraten .Katrin Werner
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Frau Kollegin Kordula Schulz-Asche .
Zunächst einmal herzlichen Dank für die Beantwor-
tung . – Sie sagten gerade, dass Änderungen derzeit bera-
ten werden . Dazu möchte ich Sie gleich als Erstes fragen,
wie Sie mir erklären können, dass die Änderungsanträge,
die im Parlament offensichtlich beraten werden, zurzeit
nur einigen Verbänden und einigen Pressepersonen vor-
liegen, nicht aber der Opposition dieses Hauses, die sie
bräuchte, um tatsächlich darüber beraten zu können .
I
Wie es im parlamentarischen Verfahren üblich ist,
beraten zunächst die Regierungsfraktionen diese Ände-
rungsanträge, um dann ein gemeinsames Paket an die
Opposition weitergeben zu können .
Frau Schulz-Asche .
Können Sie mir dann beantworten, über welche der
Varianten, die in der letzten Zeit von den Koalitions-
fraktionen diskutiert wurden, gerade diskutiert wird? Ist
es die Version von dem SPD-Kollegen Lauterbach, die
vorsieht, dass eine Vorabeinwilligung der Patientin oder
des Patienten mit einer Vorsorgevollmacht oder auch mit
einer Betreuungsverfügung möglich ist, oder wird derzeit
der Vorschlag von Herrn Minister Gröhe diskutiert, der
vorsieht, dass man die klinischen Prüfungen nach einer
ärztlichen Aufklärung machen kann?
Dann gleich meine fachliche Frage, die sich daran
anschließt: Wenn Sie dem Vorschlag von Herrn Minister
Gröhe folgen, ist die Frage, wie es möglich sein soll, dass
ein Arzt einen Patienten, der noch einwilligungsfähig ist,
über eine Studie aufklärt, die noch gar nicht konzipiert
wurde . Wie kann ein Arzt überhaupt über eine solche
Studie aufklären?
Ist das die Konstruktion, die Sie jetzt vorsehen, oder
über welche konkrete Vorlage wird gerade diskutiert? Es
gab gestern Fraktionssitzungen . Deswegen frage ich Sie:
Über welchen konkreten Vorschlag diskutieren Sie ge-
rade?
I
Frau Kollegin, welche Vorlage das Parlament und die
einzelnen Fraktionen diskutieren, liegt in der Hand der
Fraktionen; es ist ihnen überlassen . Ich kann Ihnen nicht
sagen, worüber die SPD-Fraktion diskutiert hat .
Danke schön, Frau Schulz-Asche . – Dann hat die
nächste Frage dazu Frau Dörner .
Vielen Dank . – Frau Staatssekretärin, ich würde gern
wissen, auf welche Initiative diese umstrittene Regelung
Eingang in den Regierungsentwurf gefunden hat .
I
Frau Kollegin, vielleicht können Sie noch einmal ge-
nau sagen, welche umstrittene Regelung Sie meinen .
Ich meine die umstrittene Regelung bezogen auf die
gruppennützige Forschung an nichteinwilligungsfähigen
Erwachsenen . Ich dachte, das wäre deutlich .
I
Ich habe mich nicht zur Wand umgedreht; aber ich
habe einige Fragen zu beantworten und weiß, wie sie lau-
ten, Frau Kollegin Künast . Aber wenn Sie jetzt mit mir
diskutieren wollen, ist das auch in Ordnung .
Ich antworte Frau Kollegin Dörner gerne auf ihre Fra-
ge . – Frau Kollegin Dörner, es gibt eine EU-Verordnung,
die wir umsetzen . Im Rahmen dieser Vorlage ist die klini-
sche Prüfung mit Nichteinwilligungsfähigen ein Thema .
Deswegen ist das in unserem Gesetzentwurf enthalten .
Nächste Frage, Maria Klein-Schmeink .
Ich habe eine Nachfrage zur letzten Antwort . Inwie-
fern haben Sie den Gestaltungsspielraum, den die EU in
dieser Frage durchaus lässt, genutzt, und warum haben
Sie die Variante gewählt, eine Ausweitung in Richtung
gruppennütziger Forschung vorzuschlagen?
I
Frau Kollegin, ich möchte noch einmal sehr deutlichfeststellen, dass auf Druck Deutschlands in der damali-gen Verhandlungsrunde der Ratsarbeitsgruppe überhaupteine nationale Abweichungsregel in die EU-Verordnungaufgenommen wurde . Das war unser persönliches Anlie-gen, weil wir wissen, dass wir Vorgaben des Bundestageshaben und diese nicht aufweichen wollen . Danach blei-ben strengere nationale Regelungen in den Mitgliedstaa-ten davon unberührt . Diese können wir durchsetzen, unddas werden wir auch tun .
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Wir haben in den Beratungen festgestellt, dass wirvolle Unterstützung lediglich von Österreich bekommenhaben und dass alle anderen Mitgliedstaaten die Ermög-lichung gruppennütziger klinischer Prüfungen mit nicht-einwilligungsfähigen Erwachsenen wollten . Uns warwichtig, an der Stelle noch einmal deutlich zu machen,dass wir an dem Prinzip festhalten, dass mit nichtein-willigungsfähigen Erwachsenen nicht geforscht werdenkann . Uns geht es darum, die Möglichkeit zu schaffen,dass im Vollbesitz der geistigen Fähigkeiten Entschei-dungen für die Zukunft getroffen werden können, vondenen andere Menschen und vor allen Dingen die grup-pennützige Forschung profitieren.
Corinna Rüffer .
War die Beauftragte der Bundesregierung für die Be-
lange behinderter Menschen bei Ihren Konsultationen
und Beratungen einbezogen? Gab es von ihrer Seite oder
vonseiten ihres Beraterstabes eine Stellungnahme?
I
Wie im normalen parlamentarischen Verfahren üblich,
bekommen alle beteiligten Ressorts die Vorlagen . Ent-
sprechende Rückmeldungen fließen in die Beratungen
ein .
Hubert Hüppe .
Frau Staatssekretärin, ich hätte die Frage doch gern
genauer beantwortet bekommen . Es gab ja einen Refe-
rentenentwurf, der die fremdnützige Forschung an Nicht-
einwilligungsfähigen entsprechend dem Beschluss des
Bundestags aus dem Jahr 2013 nicht vorsah . Auf welche
Veranlassung hin ist diese umstrittene Passage dann doch
in den Referentenentwurf hineingekommen, um dem Ka-
binett vorgelegt zu werden?
I
Herr Kollege Hüppe, es gab natürlich die ersten Be-
ratungen, wie es in einem parlamentarischen Verfahren
üblich ist . Uns ist gerade vonseiten der Wissenschaft und
anderer Vereinigungen und Verbände deutlich gemacht
worden, dass wir diese Forschung brauchen . Ich möchte
daran erinnern, dass gerade im Bereich der demenziell
erkrankten Menschen deutlich wurde, dass sich alle For-
schungsergebnisse, die wir haben, auf das Frühstadium
der Erkrankung beziehen und nicht auf das Ende . Hier
besteht Forschungsbedarf; das ist sehr deutlich signali-
siert worden . Deswegen haben wir diese Vorgaben auf-
genommen .
Frau Fischbach, wir kommen jetzt zur Frage 5 der
Kollegin Kordula Schulz-Asche:
Welche klinischen Studien konnten aufgrund der derzei-
tigen Rechtslage, die gruppennützige Forschung an nichtein-
willigungsfähigen Erwachsenen verbietet, nicht durchgeführt
werden?
I
Frau Kollegin, gern antworte ich Ihnen auf Ihre Frage:
Die Verordnung findet noch keine Anwendung. Konkrete
Forschungsvorhaben in Europa konnten daher noch nicht
durchgeführt und deshalb auch noch nicht benannt wer-
den .
Frau Schulz-Asche .
Frau Staatssekretärin Fischbach, der Kollege Hüppe
hat eben zu Recht darauf hingewiesen, dass der Deutsche
Bundestag im Jahr 2013 fast einstimmig einem Antrag
zugestimmt hat, der die heute geltende Regelung enthält,
dass nur bei eigennützigen Studien nichteinwilligungsfä-
hige Personen einbezogen werden dürfen, dass hier also
ganz strenge Vorgaben gemacht werden . Deswegen fra-
ge ich Sie: Welche Studien konnten nicht durchgeführt
werden, weil nichteinwilligungsfähige Personen ohne
Eigennutz nicht teilnehmen durften? Gibt es konkrete
Beispiele, welche Forschungseinrichtungen im Bereich
der Demenz bestimmte Studien nicht durchführen konn-
ten, die es nun notwendig machen, dass sich die Bun-
desregierung bzw . die sie tragenden Fraktionen von dem
gemeinsamen Beschluss aus dem Jahre 2013 verabschie-
den, noch dazu in einem sehr kurzen und fragwürdigen
Verfahren?
I
Frau Kollegin, ich hatte gerade deutlich gemacht, dass
die EU-Verordnung noch keine Anwendung findet. Inso-
fern sind auch keine Anträge auf Studien eingegangen .
Wie Sie sich vorstellen können, werden, wenn der recht-
liche Rahmen noch gar nicht gegeben ist, auch keine ent-
sprechenden Anträge gestellt .
Frau Schulz-Asche .
Wir können gerne auf dem Niveau weiterdiskutieren .Aber wir wissen, dass es Anfragen vonseiten der For-schung gegeben hat, sich nicht mehr an die Regelungenzu halten, die vom Bundestag im Jahr 2013 beschlossenwurden . Dafür muss es ja Anlässe geben . Deswegen fra-ge ich Sie noch einmal konkret: Welche Studien sind vonder Wissenschaft benannt worden, die aufgrund der jetzi-Parl. Staatssekretärin Ingrid Fischbach
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gen Rechtslage nicht durchgeführt werden konnten, wasdie Bundesregierung jetzt veranlasst, sehr kurzfristig undin einer die parlamentarischen Rechte sehr einschränken-den Art und Weise Änderungen vorzunehmen?I
Frau Kollegin, ich denke, uns geht es um den Schutz
Nichteinwilligungsfähiger . Da sind wir auf einer Linie .
Deswegen bitte ich Sie, die Fragen vernünftig miteinan-
der zu diskutieren .
Ich gebe Ihnen gerne Antwort . Uns wurde im Rahmen
des Gesetzgebungsvorhabens in vielen Gesprächen gera-
de vonseiten des KKS-Netzwerks und des Arbeitskreises
Medizinischer Ethik-Kommissionen, in dem 50 der 52
landesrechtlich gebildeten öffentlich-rechtlichen Ethik-
kommissionen in Deutschland Mitglied sind, deutlich ge-
macht: Wir brauchen Forschung im Bereich demenziell
Erkrankter gerade im Spätstadium . Hier reichen uns die
Studien, die wir haben, nicht; denn sie beziehen sich alle
auf den Anfang des Verlaufs . Wir haben festgestellt, dass
wir zum Beispiel aufgrund der Veränderung der Verstoff-
wechselung im Körper der Menschen neue Studien brau-
chen . Deswegen haben wir den Wunsch des KKS und des
Arbeitskreises aufgenommen .
Danke schön . – Frau Kollegin Dörner .
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin . – Sie haben sel-
ber ausgeführt, dass es die Bundesregierung war, die sich
auf EU-Ebene dafür eingesetzt hat, dass es überhaupt
Ausnahmeregelungen geben soll, und den Auftrag des
Bundestages an die Bundesregierung in der Frage selbst
genannt . Ich schließe daraus, dass Sie den Beschluss des
Bundestages aus dem Jahr 2013 zu dem Sachverhalt mei-
nen . Deshalb meine Frage: Warum setzen Sie jetzt den
Beschluss des Bundestages von 2013 nicht vollständig
um und nutzen damit die Spielräume auf EU-Ebene, die
Sie angeblich als Bundesregierung erst ermöglicht ha-
ben?
I
Frau Kollegin, ich möchte deutlich machen: Das ha-
ben wir nicht angeblich getan, sondern mit vollem Nach-
druck getan, weil bei uns wie bei Ihnen – hier lasse ich
keine andere Deutung zu – der Schutz Nichteinwilli-
gungsfähiger oberste Priorität hat . Deswegen wird sich
an der Gesetzeslage und an der bisherigen Position nichts
ändern, dass die gruppennützige Forschung mit nichtein-
willigungsfähigen Erwachsenen grundsätzlich verboten
ist . Daran ändert sich nichts .
Wir wollen eine Ausnahme unter ganz engen Voraus-
setzungen möglich machen; das sollte auch in Ihrem Sin-
ne sein . Ich glaube, wir sollten nicht nur an uns selber
denken, sondern haben auch der Allgemeinheit gegen-
über eine Verantwortung . Altruismus steht nicht nur auf
dem Papier . Deswegen haben wir gesagt: Unter ganz en-
gen Voraussetzungen dürfen Menschen, die im Vollbesitz
ihrer geistigen Fähigkeiten sind – wir reden nicht über
Nichteinwilligungsfähige, sondern über Menschen, die
im Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten sind –, für sich
eine Entscheidung treffen, was passieren könnte, wenn
sie im Alter an Demenz erkranken . Ich denke, das ist eine
Möglichkeit, die im Rahmen unseres Grundgesetzes ver-
tretbar ist .
Hubert Hüppe .
Frau Staatssekretärin, Sie haben gerade gesagt, dass
das KKS offensichtlich die einzige Institution ist, die
eine solche Möglichkeit fordert . Das KKS konnte auf
meine Anfrage hin keine einzige Studie aus dem Ausland
vorlegen – dort, wo es schon seit vielen Jahren erlaubt
ist, eine solche Forschung zu betreiben –, bei der die
Möglichkeit genutzt wurde, fremdnützige Forschung an
Nichteinwilligungsfähigen zu betreiben, und die irgend-
einen Nutzen für irgendeinen Patienten gehabt hat . Wie
können Sie sich das erklären?
I
Herr Kollege, da liegen Ihnen andere Unterlagen vor
als uns . Das KKS-Netzwerk hat noch einmal recherchiert
und zum Beispiel auf eine Prüfung hingewiesen, die im
Juni 2007 in den USA durchgeführt wurde . Das war eine
Prüfung, bei der gemeinnützige klinische Forschung an
nichteinwilligungsfähigen Erwachsenen durchgeführt
wurde . Parallel wurde an Erwachsenen geforscht, die
einwilligungsfähig waren . Das ist eine Studie, die in den
USA durchgeführt wurde, und sie ist uns auch vom KKS
genannt worden .
Frau Kollegin Klein-Schmeink .
Ich möchte einen ergänzenden Sachverhalt anspre-
chen . Die Bundesregierung plant, dass für die Genehmi-
gung klinischer Studien eine positive Stellungnahme der
zuständigen unabhängigen Ethikkommission zukünftig
nicht mehr zwingend erforderlich sein soll . Da stellt sich
die Frage, ob damit nicht die Unabhängigkeit der Ethik-
kommission ausgehebelt wird und Sie gleichzeitig in die
Steuerungsmöglichkeiten im Rahmen des Bewertungs-
verfahrens eingreifen .
I
Ich muss feststellen, Frau Kollegin, dass wir formu-liert haben, dass die Stellungnahme der Ethikkommissi-on eine maßgebliche Berücksichtigung finden muss. Wirhaben aufgrund der EU-Verordnung das Problem, dasswir eine Stellungnahme abgeben müssen . Wir haben dieKordula Schulz-Asche
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 178 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 22 . Juni 2016 17539
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Voraussetzungen dafür geschaffen . Ich sage noch ein-mal: Die Stellungnahmen der Ethikkommission müssen„maßgeblich berücksichtigt“ werden – das ist ein Fach-begriff, den alle Experten entsprechend anwenden .
Herr Kollege Rudolf Henke, bitte .
Frau Staatssekretärin, es ist jetzt mehrfach auf den Be-
schluss verwiesen worden, den der Deutsche Bundestag
in der 17 . Legislaturperiode auf Antrag der Fraktionen
von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen,
Drucksache 17/12183, gefasst hat . Ist es auch nach Ihrer
Auffassung so, dass sich dieser Text auf den damals in
den EU-Verhandlungen befindlichen Vorschlag für eine
Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates
bezog und auf die Frage, wie die Bundesregierung Ein-
fluss auf diese Beratungen nehmen sollte, nicht dagegen
auf ein vom Deutschen Bundestag zu beschließendes Ge-
setz?
I
Herr Kollege, ich danke Ihnen sehr für die Frage . Ich
kann Ihre Ausführungen nur bestätigen . Ich war seiner-
zeit selber im Parlament und habe den Auftrag an der
Stelle genau so verstanden . Ich schließe mich also der
von Ihnen ausgeführten Bewertung an .
Frau Kollegin Fischbach, jetzt kommen wir zur Fra-
ge 6 der Kollegin Dörner:
Wie viele bedeutsame klinische Studien zur Demenz wur-
den nach Kenntnis der Bundesregierung im außereuropäischen
Ausland ausschließlich an Nichteinwilligungsfähigen bisher
durchgeführt?
I
Frau Kollegin Dörner, der Bundesregierung liegen
hierzu keine Erkenntnisse vor . Auch eine Auswertung
der amerikanischen Datenbank zu klinischen Studien, bei
der es sich um eine Sammlung freiwilliger Dateneinträge
handelt, ermöglicht nur eine Suche nach Studien mit Er-
wachsenen . Eine Einschränkung auf Nichteinwilligungs-
fähige ist in dieser Datenbank nicht möglich .
Frau Dörner, bitte .
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin . – Ich würde mei-
ne Frage gerne ausweiten, und zwar mit Blick auf die
Fremdnützigkeit: Wie viele bedeutsame klinische Studi-
en zur Demenz an Nichteinwilligungsfähigen, die aus-
schließlich fremdnützig sind, wurden bisher im außereu-
ropäischen Ausland durchgeführt?
I
Auch dazu habe ich gerade schon etwas gesagt: Wir
können dazu keine Aussagen machen, weil es in dem Be-
reich keine Statistik gibt .
Ich möchte noch einmal deutlich machen, Frau Kol-
legin Dörner, dass es nicht um fremdnützige Forschung
geht . Es geht um gruppennützige Forschung . Es ist schon
etwas anderes, ob man die Zustimmung gibt, der For-
schung in irgendeinem Bereich zur Verfügung zu stehen,
oder ob man selber einer Gruppe von Betroffenen zuge-
hört, deren Krankheit erforscht werden soll, und dann
im altruistischen Sinne sagt: Ich habe zwar im Moment
vielleicht keinen Eigennutzen, aber die nachfolgende Ge-
neration kann daraus einen Nutzen ziehen . – Deswegen
unterscheiden wir schon zwischen fremd- und gruppen-
nütziger Forschung .
Frau Kollegin Dörner? – Gut, dann Herr Hüppe .
Fr
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ist Ihnen bekannt, dass an
dieser Studie sowohl einwilligungsfähige wie nichtein-
willigungsfähige Patienten teilgenommen haben, die in
randomisierte Gruppen aufgeteilt wurden, was nach Ar-
tikel 31 EU-Verordnung auch zukünftig in Europa nicht
zulässig wäre, und dass damit dem Subsidiaritätsgedan-
ken widersprochen wird, dass, wo Forschung mit Einwil-
ligungsfähigen stattfinden kann, dies nicht mit Nichtein-
willigungsfähigen stattfinden darf?
I
Herr Kollege, Sie haben bei meiner Antwort nicht
deutlich genug zugehört .
Ich habe sehr wohl gesagt, dass die Studie mit Nichtein-
willigungsfähigen, aber auch mit Einwilligungsfähigen
durchgeführt wurde; das können Sie nachlesen . Sie ha-
ben nach Studien gefragt, und ich habe Ihnen das Studi-
enmodell sowie beide beteiligten Gruppen genannt .
Frau Kordula Schulz-Asche .
Frau Staatssekretärin, wir erleben, dass die Bundes-regierung seit Wochen über dieses Thema diskutiert undimmer wieder neue Vorschläge auf den Tisch kommen .Wir reden hier über Studien, die mit Menschen durch-geführt werden sollen, die selber nicht mehr einwilli-gungsfähig sind und wahrscheinlich auch keinen Eigen-nutzen aus dieser Studie ziehen können . Ich gehe davonaus, dass die verschiedenen Vorschläge, die sowohl ausSPD-Fraktion und CDU/CSU-Fraktion als auch vonParl. Staatssekretärin Ingrid Fischbach
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der Regierung gekommen sind, von der JustizabteilungIhres Ministeriums geprüft und entsprechend bewertetwurden . Deswegen würde ich Sie bitten, uns die ver-schiedenen Varianten kurz vorzustellen und zu erläutern,welche Empfehlungen Ihr Ministerium in Bezug auf dieverschiedenen Vorschläge ausspricht .I
Frau Kollegin, da die Beratungen in beiden Fraktio-
nen noch andauern und unterschiedliche Vorlagen auf
dem Tisch liegen, ist es mir im Moment nicht möglich,
zu bewerten, was zum Beispiel in der SPD-Fraktion be-
raten wurde .
Ich kann Ihnen nur für unser Haus sagen, dass wir
sehr strenge Vorgaben haben und all die Vorschläge, die
aus den Fraktionen kommen – jetzt ist das Parlament am
Zuge –, aufnehmen werden . Wir warten auf die Rück-
meldung und werden dementsprechend reagieren .
Die Fragestellerin hat die Möglichkeit, zwei Fragen zu
stellen . – Frau Dörner .
Ich möchte anschließen an die Antwort, die Sie auf die
Frage von Herrn Henke gegeben haben . Ich muss sagen:
Ich wundere mich ein bisschen . Herr Henke hat ausge-
führt, dass sich der Beschluss des Bundestages aus dem
Jahr 2013 auf die auf EU-Ebene getroffene Beschluss-
fassung bezogen hat . Würden Sie mir darin zustimmen,
dass es ziemlich unsinnig ist, eine Regelung auf EU-Ebe-
ne festzuschreiben, die einen sehr umfassenden Schutz
ermöglicht, das aber dann im nationalen Parlament nicht
umzusetzen?
I
Die Beschlüsse des Parlaments kann ich nicht bewer-
ten, und ich will es auch nicht tun . Das Parlament hat
damals stark mehrheitlich über die Beschlussvorlage
entschieden . Ich möchte diesen Beschluss nicht bewer-
ten .
Vielen Dank . – Herr Henke .
Frau
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Um andere Staaten davon zu überzeugen, dass sie
Deutschland den Freiraum strengerer Regelungen ein-
räumen sollten, musste es gelingen, ihnen klarzumachen,
dass sie auch Regelungen, die sie selbst nicht so streng
treffen wollten, möglich machen müssten . Glauben Sie
nicht, dass das eine vernünftige Haltung gegenüber der
Europäischen Kommission ist, um sie für unterschiedli-
che nationale Regelungen zu gewinnen, ohne dass eine
Zustimmung zu einer solchen Freiheit in den einzelnen
Staaten automatisch dazu führt, dass man eine nationale
Regelung determiniert?
I
Als Parlamentarierin, die damals zugestimmt hat,
kann ich Ihnen nur voll zustimmen . Ansonsten beziehe
ich mich auf meine gerade gegebene Antwort: Das Mi-
nisterium wird parlamentarische Entscheidungen nicht
bewerten .
Vielen Dank . – Wir kommen jetzt zum Geschäftsbe-
reich des Bundesministeriums für Verkehr und digitale
Infrastruktur .
Die Frage 7 der Abgeordneten Bärbel Höhn wird
schriftlich beantwortet .
Die Fragen 8 und 9 des Abgeordneten Stephan Kühn
muss Herr Barthle nicht beantworten, weil der Fragestel-
ler nicht anwesend ist . Es wird verfahren, wie in der Ge-
schäftsordnung vorgesehen .
Die Fragen 10 und 11 des Abgeordneten Herbert
Behrens werden schriftlich beantwortet .
Die Fragen 12 und 13 der Abgeordneten Tabea Rößner
werden schriftlich beantwortet, da die Kollegin nicht an-
wesend ist . Es wird verfahren, wie in der Geschäftsord-
nung vorgesehen .
Ich rufe die Frage 14 des Kollegen Matthias Gastel
auf:
Unterstützt die Bundesregierung die Inbetriebnahme der
Neubaustrecke Wendlingen–Ulm unmittelbar nach deren Fer-
tigstellung über die eingleisige Güterzugkurve vom und ins
Neckartal unabhängig vom möglicherweise verschobenen
Fertigstellungstermin von Stuttgart 21, um den Fahrgästen
eine deutliche Fahrzeitreduzierung zu ermöglichen?
Herr Barthle, Sie sind dran .
N
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Herr Kollege Gastel,
es ist nach Aussage des Vorhabenträgers DB AG davon
auszugehen, dass das Projekt Stuttgart 21 gemeinsam mit
der Neubaustrecke Wendlingen–Ulm 2021 in Betrieb ge-
hen kann . Das hat im Übrigen der Vorstandsvorsitzende
der DB AG, Dr . Grube, heute früh im Verkehrsausschuss
nochmals bestätigt .
Danke schön, Herr Staatssekretär . – Herr Gastel .
Herr Barthle, ich gehe davon aus, dass auch im Bun-desverkehrsministerium Zeitung gelesen wird und Nach-Kordula Schulz-Asche
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richten geschaut werden und deswegen wahrgenommenwurde, dass die Deutsche Bahn gesagt hat, dass es gutsein kann, dass das Projekt Stuttgart 21, also der Tief-bahnhof, erst im Jahr 2023 fertig wird . Gleichzeitig istzu lesen, dass der Bau der Neubaustrecke Wendlingen–Ulm zügig voranschreitet . Insoweit ist es nicht allzuwahrscheinlich, dass sich die formulierte Hoffnung er-füllt . Es stellt sich die Frage, ob Sie es riskieren wollen,dass Fahrzeitverkürzungen, die auf der Strecke zwischenStuttgart und Ulm oder zwischen Mannheim und Mün-chen möglich sind und von denen die Fahrgäste profi-tieren würden, nicht realisiert werden, weil man beidesgleichzeitig in Betrieb nehmen möchte . Deswegen nocheinmal die Frage: Wenn es so kommt, wie es sich ab-zeichnet, dass also beide Projekte nicht gleichzeitig fertigwerden, sondern die Neubaustrecke ein, zwei oder mehrJahre vorher fertig wird, werden Sie dann dafür sorgen,dass die Neubaustrecke in Betrieb geht und die Fahrgästevon kürzeren Fahrzeiten auf den genannten Relationenprofitieren?N
Herr Kollege Gastel, die Bundesregierung geht nach
wie vor davon aus, dass die Aussagen des Vorhabenträ-
gers DB AG ernst zu nehmen sind . Die DB AG sagt, dass
sie sich unter eventueller Nutzung von Beschleunigungs-
maßnahmen in der Lage sieht, die Strecke Wendlingen–
Ulm gemeinsam mit dem Bahnhof Stuttgart 21 in Be-
trieb zu nehmen . Sollte sich das anders erweisen, müsste
das bei der nächsten Aufsichtsratssitzung im September
beschlossen werden . Diese Aufsichtsratssitzung müssen
wir abwarten .
Herr Gastel, bitte .
Wenn Sie trotz aller anderen Aussagen der Deutschen
Bahn zum Baufortschritt bezüglich Stuttgart 21 immer
noch davon ausgehen, dass beide Projekte gleichzeitig
fertig werden, drängt sich die Vermutung auf, dass die
Baugeschwindigkeit für die Neubaustrecke Wendlingen–
Ulm so weit verlangsamt wird, dass sich deren Fertig-
stellung der Fertigstellung von Stuttgart 21 angleicht .
Können Sie ausschließen, dass das Bautempo für die
Neubaustrecke künstlich verlangsamt wird, damit die
Neubaustrecke gleichzeitig fertig wird?
Andernfalls, also wenn die Neubaustrecke zügig wei-
tergebaut, aber nicht in Betrieb genommen wird, müsste
die Strecke belüftet werden . Das würde bedeuten, dass
leere Züge täglich mehrmals durch diese Tunnelanlage
fahren müssten, damit nichts rostet und nichts schimmelt .
Das genau ist die Situation an der Zufahrt zum BER, also
an der Zufahrt zum Bahnhof unter dem geplanten Flug-
hafen . Es müssen Züge durch diesen Tunnel fahren, nur
um ihn zu belüften; Fahrgäste profitieren davon nicht.
Können Sie eine Verlangsamung des Bautempos oder
eine Belüftung der Tunnelanlage durch das Fahren leerer
Züge ausschließen?
N
Herr Kollege Gastel, die Bundesregierung nimmt zu-
nächst einmal erfreut zur Kenntnis, dass die Bauvorha-
ben an der Bahnstrecke Wendlingen–Ulm im Zeitplan
liegen . Da geht es sehr gut voran . Ein großer Teil der
Tunnelbauwerke ist bereits vollendet . Insofern ist es eine
sehr erfreuliche Erkenntnis, dass auch so große Projekte
innerhalb des Zeitrahmens realisiert werden können .
Darüber hinaus macht sich die Bundesregierung eher
die Auffassung des Vorstandsvorsitzenden der Bahn zu
eigen, der sagt, es sei falsch, von einer Verlangsamung
zu reden, im Gegenteil sei es wichtig, dass man auch bei
Stuttgart 21 den Druck auf die Projektträger aufrecht-
erhalte und dafür sorge, dass dort eine Beschleunigung
stattfindet.
Vielen Dank, Herr Barthle . – Dann kommen wir zu
Frage 15 des Kollegen Matthias Gastel:
Wie stellt die Bundesregierung sicher, dass der bundesei-
gene Konzern Deutsche Bahn AG durch etwaige zusätzliche
Baukosten beim Projekt Stuttgart 21 und hierdurch erforder-
liche investive Eigenmittel keinen höheren Schuldenstand
erreicht und keine Einsparungen bei notwendigen Investi-
tionen für die Instandhaltung der Schienenwege des Bundes
vornimmt?
N
Die Antwort lautet: Der Bund nimmt seine Kontroll-
aufgaben über den Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG
wahr .
Herr Gastel .
Es überrascht mich jetzt, dass sich das auch so kurzausdrücken lässt .
Aber das ist trotzdem noch immer keine wirkliche Ant-wort . Denn der Deutschen Bahn steht das Wasser bis zumHals – unter anderem wegen des Projekts Stuttgart 21,das Sie als Bund der Deutschen Bahn aufs Auge gedrückthaben, obwohl es die Bahn gar nicht wollte . Jetzt wird esimmer teurer . Die Projektpartner beharren darauf, dasssie ihren gedeckelten Beitrag zugesagt haben und dasssie sich nicht an den steigenden Kosten beteiligen .Es ist das Unternehmen des Bundes, der auf den Baudieses Projektes gedrängt hat, der aber auch für andereschwierige wirtschaftliche Einflüsse beim BahnkonzernMitverantwortung trägt . Deswegen ist die Frage: Wie ge-hen Sie damit um? Werden Sie beispielsweise als Bundakzeptieren, dass die Deutsche Bahn die Dividende nichtin der Höhe in den nächsten Jahren wird bezahlen kön-nen, wie Sie sie im Haushaltsplan eingestellt haben, weildas die wirtschaftliche Lage der DB unter anderem we-gen Stuttgart 21 kaum mehr zulässt?Matthias Gastel
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N
Herr Kollege Gastel, Sie wissen so gut wie ich, dass
der Bund nicht Projektbeteiligter bei Stuttgart 21 ist .
Deshalb halten wir uns an das, was wir bezüglich der
Kostenübernahmen vereinbart haben . Wie die Kosten-
steigerungen aufgeteilt werden, müssen die Projektträger
verabreden .
Die Bundesregierung hat einen Festbetrag zugesagt,
an dem wir auch festhalten wollen . Alles Weitere ent-
scheidet der Vorstand der DB AG . Deshalb gehen wir
davon aus, dass auch die übrigen von der DB AG zu er-
bringenden Leistungen, die durch die LuFV bzw . durch
die LuFV II festgelegt sind, entsprechend eingehalten
werden . Deshalb halte ich Ihre Vermutungen zunächst
einmal für Vermutungen, zu denen ich keine Stellung-
nahme abgebe .
Herr Kollege Gastel .
Also noch einmal: Die wirtschaftliche Lage des
DB Konzerns ist extrem schwierig . Es handelt sich um
ein Bundesunternehmen . Da können Sie nicht einfach sa-
gen, die sollten sich selbst mal darum kümmern . Wenn
ein Unternehmen seine Dividende mangels Gewinnen
nicht mehr zahlen kann, muss sich natürlich auch der
Bund als Eigentümer, der auch für den Haushalt des
Bundes und damit für die Einnahmen verantwortlich ist,
damit auseinandersetzen: Wie verhält er sich? Erwartet er
die Dividende oder nicht?
Ich versuche es jetzt anders . Die Deutsche Bahn steht
auch wegen des schwierigen Marktes in den Bereichen
Schienengüterverkehr, Regionalverkehr, Fernverkehr
usw . massiv unter Druck . Die Gewinne schmelzen auch
deswegen, aber auch wegen Stuttgart 21 . Das habe ich
schon ausgeführt . Inwieweit wird die Bundesregierung
dafür sorgen, dass sich die wirtschaftliche Situation des
Systems Schiene insgesamt, aber auch der Deutschen
Bahn ganz konkret verbessert, sodass wieder mehr Gü-
ter und Personen auf der Schiene unterwegs sind, damit
sich die wirtschaftliche Lage insgesamt wieder verbes-
sert?
N
Herr Kollege Gastel, Sie waren heute früh dabei,
als der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn AG,
Dr . Grube, ausführlich dargelegt hat, wie sich die Finanz-
situation der Deutschen Bahn darstellt . Er hat auch die
verschiedenen Faktoren genannt, auf die Ertragsminde-
rungen zurückzuführen sind .
Meiner Erinnerung nach ist dabei Stuttgart 21 nicht
thematisiert und nicht als einer der Faktoren genannt
worden, die für weniger Erträge bei der Bahn verantwort-
lich sind . Die Bahn ist dabei, ein Konzept zu entwickeln,
wie die Ertragslage wieder verbessert werden kann . Ich
gehe aber nicht davon aus, dass das im direkten Zusam-
menhang mit Stuttgart 21 steht .
Vielen Dank, Herr Staatssekretär Barthle . – Die Fra-
gen 16 und 17 der Abgeordneten Sabine Leidig und die
Frage 18 des Kollegen Dr . André Hahn werden schrift-
lich beantwortet .
Dann kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reak-
torsicherheit .
Die Frage 19 des Abgeordneten Dr . André Hahn und
die Frage 20 der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl wer-
den schriftlich beantwortet . Die Fragen 21 und 22 des
Abgeordneten Christian Kühn , die Fragen 23
und 24 der Abgeordneten Dr . Julia Verlinden sowie die
Frage 25 des Abgeordneten Oliver Krischer werden alle-
samt schriftlich beantwortet .
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi-
nisteriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung . Zur Beantwortung begrüße ich Hans-Joachim
Fuchtel .
Die Frage 26 des Abgeordneten Niema Movassat wird
schriftlich beantwortet .
Ich rufe die Frage 27 des Abgeordneten Uwe Kekeritz
auf:
Welche Maßnahmen wurden von deutscher Seite im Pro-
jektvorschlag der Deutschen Gesellschaft für Internationa-
le Zusammenarbeit GmbH, der im Rahmen des „EU
Trust Fund for Migration“ zur Unterstützung von libyschen
Kommunen auf der Migrationsroute eingebracht wurde, vor-
heimischen Partnerorganisationen und -institutionen sollen die
Projekte umgesetzt werden?
Ha
Herr Kollege, der Vorschlag befindet sich derzeit noch
in der Ausarbeitung und soll voraussichtlich im Okto-
ber 2016 beim EU Trust Fund for Migration eingereicht
werden . Soweit man schon jetzt Konturen andeuten
kann, kann ich sagen: Es geht darum, dass die Träger vor
allem die libyschen Kommunen sein werden, die auf der
Migrationsroute von Flüchtlingen aus Subsahara-Afrika
liegen und bei der Aufnahme von Migranten unterstützt
werden sollen .
Herr Kekeritz .
Danke schön . – Herr Staatssekretär, wir haben jaschon eine lange Beziehung zu Libyen . Insbesondere er-innere ich mich an die Beziehungen zu Libyen noch zuGaddafis Zeiten. Damals hat die EU in Zusammenarbeitmit Gaddafi dafür gesorgt, dass Auffanglager errichtetworden sind . Meine Frage ist: Ist geplant, zusammen mitden libyschen Kommunen entlang der FlüchtlingsrouteGefängnisse, Lager und dergleichen zu errichten, undwenn ja, wie stellen Sie sicher, dass dort die menschen-
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rechtlichen Aspekte berücksichtigt werden? Inwieweit istdas überhaupt mit Entwicklungspolitik vereinbar?Ha
Ich habe vermutet, worauf Sie hinauswollen, und kann
Ihnen dazu folgende Antwort geben: Eine Zusammenar-
beit mit den Sicherheitsbehörden bzw . eine Lieferung
von Ausrüstungsgegenständen für Grenzüberwachung
oder Fortbildungsmaßnahmen für Sicherheitskräfte sind
nicht vorgesehen . Damit verdünnt sich schon sehr stark
Ihre Vermutung .
Herr Kekeritz .
Wir können dann zur nächsten Frage kommen . Das
reicht mir .
Einen Moment .
Ich verzichte auf die Nachfrage .
Ja, aber Kollege Ströbele hat noch eine Nachfrage .
Entschuldigung .
Danke . – Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung
bekannt, dass auf diesen Migrationsrouten, wenn man
das einmal beschönigend so benennen will, sowohl in
Libyen selber als auch vor Libyen von Kommunen und
von verschiedenen libyschen Gruppierungen schon heute
von den Flüchtlingen Gelder in Höhe von vielen Hundert
Dollar pro Flüchtling erpresst werden, dass sie überhaupt
durchgelassen werden? Was macht dann die Unterstüt-
zung dieser Kommunen mit Entwicklungshilfegeldern
sinnvoll?
Ha
Wir wollen erreichen, Herr Kollege Ströbele, dass
Libyen in Zukunft nicht Durchgangsland wird, sondern
ein Land, wo die Migranten Arbeit finden und sie eine
Destination haben .
Dann kommen wir jetzt zur Frage 28 des Kollegen
Kekeritz:
Wie erklärt die Bundesregierung ihre widersprüchlichen
Antworten zum Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zwi-
schen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
und den westafrikanischen Staaten, der Westafrikanischen
Wirtschaftsgemeinschaft – ECOWAS – und der Westafrikani-
schriftliche Frage 106 auf Bundestagsdrucksache 18/8127
vom 11 . April 2016 die verfassungsrechtliche Prüfung des
ECOWAS-WPA durch das Bundesministerium der Justiz und
für Verbraucherschutz mit dem Ergebnis bestätigte, dass kein
1 . Juni 2016 in ihrer Antwort auf meine mündliche Frage 19
mitteilte, dass noch keine verfas-
sungsrechtliche Prüfung erfolgt sei, da der offizielle Ratifika-
tionsprozess noch nicht eingeleitet sei und somit noch keine
gierung im Rahmen der Verhandlungen und Unterzeichnung
der WPAs die Kooperationsbereitschaft der afrikanischen
zifisch erläutern)?
Herr Fuchtel .
Ha
Ich könnte es jetzt für den Kollegen Kekeritz spannend
machen, der dieser Frage schon sehr lange Aufmerksam-
keit zuwendet, oder ich kann gleich zum Ergebnis kom-
men . Es geht darum, ob der Vertragstext Gegenstand
eines Vertragsgesetzes werden soll und dieses Vertrags-
gesetz dann auch dem Deutschen Bundestag zur Bera-
tung vorgelegt wird . Der Kollege Kekeritz hat ja darauf
hingewiesen, dass die Prüfungen hier schon etwas länger
andauern und dass sie nicht abgeschlossen worden sind .
Ich darf Ihnen aber jetzt sagen: Unabhängig von der ver-
fassungsrechtlichen Notwendigkeit wird die Bundesre-
gierung den Entwurf für ein Vertragsgesetz vorbereiten .
Herr Kekeritz .
Die Bot-
schaft hör ich wohl . Aber Sie haben richtig darauf hin-
gewiesen, dass ich mit Ihrem Kollegen, dem Staatssekre-
tär Silberhorn, diese Frage dreimal bearbeitet habe, und
dreimal habe ich unterschiedliche Antworten bekommen .
Es wäre mir sehr recht, wenn dies die finale Antwort ist.
Aber ich bin jetzt etwas irritiert; das ist nämlich die vierte
Antwort . Ist die jetzt rechtsverbindlich, und was kann ich
tun, um die Rechtsverbindlichkeit tatsächlich endgültig
zu überprüfen?
Ha
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zunächst einmal habe ich auf die Vorläufigkeit jederbisherigen Beurteilung hingewiesen . Ein kluger Gesetz-Uwe Kekeritz
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geber prüft auf jeden Fall zunächst einmal gründlich . Dashaben Sie auch akzeptiert; deswegen haben Sie ja drei-mal nachgefragt . Ich darf Sie an die Aussage von KonradAdenauer erinnern, der einmal gesagt hat: Mich kann nie-mand daran hindern, jeden Tag klüger zu werden . – WieSie dieser Aussage von mir entnehmen können, ist dieserFall bei diesem Vorgang hier offensichtlich eingetreten .
Ihre Frage noch .
Ja . – Nur noch einmal zum endgültigen Verständnis –
das können Sie mit Ja oder Nein beantworten –: Es wird
im Deutschen Bundestag ein Ratifizierungsgesetz be-
züglich des Wirtschaftspartnerschaftsabkommens ECO-
WAS/EU geben?
Ha
Es hat eine Abstimmung zwischen dem Bundesjustiz-
minister und dem Bundeminister für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung gegeben, und da ist dies
vereinbart worden .
Vielen Dank, Herr Fuchtel .
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums für Wirtschaft und Energie .
Die Frage 29 des Kollegen Beck , die Frage 30
der Kollegin Kotting-Uhl, die Frage 31 der Kollegin
Höhn, die Fragen 32 und 33 des Kollegen Ernst, die Fra-
ge 34 des Kollegen Krischer und die Fragen 35 und 36
der Kollegin Baerbock werden schriftlich beantwortet .
Jetzt kommen wir zum Geschäftsbereich des Auswär-
tigen Amts . Kollege Roth ist immer noch da, was uns
freut .
Die Frage 37 des Kollegen Hunko, die Frage 38 der
Kollegin Dağdelen, die Frage 39 des Kollegen Movassat,
die Fragen 40 und 41 der Kollegin Brantner, die Frage 42
der Kollegin Höger und die Fragen 43 und 44 des Kolle-
gen Nouripour werden schriftlich beantwortet .
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums des Innern . Ich begrüße den Parlamentarischen
Staatssekretär Dr . Krings .
Ich rufe die Frage 45 des Kollegen Ströbele auf:
Welche Auskunft gibt die Bundesregierung über Befra-
gungen Inhaftierter im Ausland durch Mitarbeiter deutscher
Nachrichtendienste, nachdem die Gefangenen Murat Kurnaz
in Guantánamo und Mohammed Haydar Zammar in Bagdad
vernommen worden waren, nach dem diesbezüglichen Erlass
die Bundesregierung über die Zahl von Abbrüchen solcher Be-
fragungen wegen Folterindizien und der Unterrichtungen des
Parlamentarischen Kontrollgremiums über die Befragungen,
die nach dem Erlass im Anschluss des Abschlusses der Befra-
gungen bzw . vierteljährlich erfolgen sollen?
Herr Krings, bitte .
D
Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Mehr sehr verehrten
Damen und Herren! Herr Ströbele, das, was jetzt kommt,
haben Sie sich wahrscheinlich fast schon gedacht: Aus
Gründen der öffentlichen Sicherheit der Bundesrepublik
Deutschland kann die Beantwortung dieser Frage nicht
offen, sondern nur eingestuft erfolgen . Sie bekommen
die Antwort also, aber nicht in hiesiger offener Sitzung .
Richtig ist natürlich: Der parlamentarische Informa-
tionsanspruch ist grundsätzlich auf die Beantwortung
gestellter Fragen in der Öffentlichkeit angelegt . Demge-
genüber sind indes nach § 4 Absatz 1 des Sicherheits-
überprüfungsgesetzes, SÜG, im öffentlichen Interesse
geheimhaltungsbedürftige Tatsachen, Gegenstände oder
Erkenntnisse entsprechend ihrer Schutzbedürftigkeit ein-
zustufen .
Die Ausführungen zu Ihrer mündlichen Frage sind da-
her als Verschlusssache gemäß § 4 Absatz 2 Nummer 2
SÜG bzw . § 3 Nummer 2 der Allgemeinen Verwaltungs-
vorschrift des Bundesministeriums des Innern zum ma-
teriellen und organisatorischen Schutz von Verschluss-
sachen sogar mit dem Geheimhaltungsgrad Geheim
eingestuft . Die Angaben sind daher in der Geheimschutz-
stelle des Bundestages einsehbar .
Sie weisen ja in Ihrer Frage schon darauf hin – wenn
ich das noch ergänzen darf, lieber Herr Ströbele –, dass
es hier um Themen geht, die auch das Parlamentarische
Kontrollgremium beschäftigen . Die Beratungen dieses
Gremiums finden ja bekanntermaßen auch in nichtöf-
fentlicher oder geheimer Sitzung statt . Insofern haben
Sie wahrscheinlich schon damit gerechnet, dass wir diese
Frage in dieser Sitzung nicht beantworten können .
Herr Ströbele .
Herr Staatssekretär, ich rechne bei der Bundesregie-rung immer mit dem Schlimmsten; aber ganz so habe ichmir Ihre Antwort doch nicht gedacht . Ich habe ja nachder Anzahl gefragt . Es geht also um Informationen darü-ber, wie häufig das geschehen ist. Dann kann man in dieEinzelheiten gehen . Aber erst einmal geht es darum, wiehäufig das Bundesamt für Verfassungsschutz, also derInlandsgeheimdienst, und der Bundesnachrichtendienst,also der Auslandsgeheimdienst, in Foltergefängnissenwie Guantánamo oder in Damaskus – das sind bekann-te Fälle, über die in der Öffentlichkeit diskutiert wordenist – Befragungen deutscher Staatsbürger oder von Leu-ten mit Deutschlandbezug durchgeführt haben . Ich sageParl. Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel
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es einmal ganz vorsichtig: Es wäre eine knifflige Sache,wenn man in Foltergefängnissen befragt und damit rech-nen muss, dass vor der Befragung gefoltert worden ist .Ich habe natürlich Anlass zu dieser Frage . Sie könnendoch wenigstens sagen, ob das fünfmal oder hundertmalgeschehen ist – was weiß ich . Das weiß ich tatsächlichnicht .
Herr Krings, bitte .
D
Frau Präsidentin! Lieber Herr Ströbele, dass Sie das
nicht wissen, ist bei dem, was Sie sonst immer von Din-
gen wissen, die an sich geheimschutzbedürftig sind,
kaum zu glauben .
Ich habe schon verstanden, was Sie in öffentlicher
Sitzung gerne erfahren und hören wollen . Es geht hier
um Zahlen, um Größenordnungen und um die Frage, ob
es überhaupt dazu gekommen ist, wobei ich den Begriff
„Foltergefängnis“ hier zwar stehen lasse, aber normaler-
weise gibt es Befragungen in Gefängnissen im Ausland,
die man auch bei böswilliger Art sicherlich nicht mit die-
sem Begriff belegen kann .
All das, was Sie hier ansprechen und in Erfahrung
bringen wollen, berührt natürlich die Zusammenarbeit
deutscher Nachrichtendienste mit ausländischen Nach-
richtendiensten . Es dürfte nun wirklich nicht neu sein,
dass das hochsicherheitsrelevante Fragen sind . Es steht
gar nicht in unserer Macht . Selbst wenn wir etwas trans-
parenter sein wollten als die Dienste, Parlamente und
Regierungen anderer Länder, würde das die Möglichkeit
der Zusammenarbeit natürlich erheblich beeinträchtigen .
Gerade deshalb gibt es andere Instrumente dafür, zum
Beispiel das Parlamentarische Kontrollgremium, in dem
Sie – das habe ich mir erzählen lassen – einer der eifrigs-
ten Mitstreiter sind . Daneben gibt es die Möglichkeit –
das haben wir jetzt hier auch angeboten –, Informationen
in der Geheimschutzstelle auszulegen, um das Informa-
tionsbedürfnis des Parlaments, das existiert und das wir
sehr ernst nehmen, zu befriedigen . Dieses Informations-
bedürfnis war mit den Sicherheitsinteressen der Bundes-
republik Deutschland abzuwägen, und diese Abwägung
hat zu dem eben vorgetragenen Ergebnis geführt .
Eine letzte Nachfrage, Herr Ströbele .
Herr Staatssekretär, das überzeugt mich auch deshalb
nicht, weil solche Fragen in öffentlicher Sitzung des
NSA-Untersuchungsausschusses durchaus erörtert wer-
den – auch in Einzelfällen . Sie werden zwar nicht im De-
tail behandelt – dann geht es in eine geheime Sitzung –,
aber ich frage mich, warum Sie nicht einmal die Zahl
sagen können, damit man sich unter anderem auch im
NSA-Untersuchungsausschuss darauf stützen und damit
argumentieren kann . Das sehe ich nicht ein .
Sind Sie bereit, diese Auffassung der Bundesregie-
rung noch einmal zu überprüfen? Vielleicht machen Sie
sich einmal darüber kundig – ich nehme an, Sie wissen
das nicht –, dass das im NSA-Untersuchungsausschuss
Thema gewesen ist .
D
Frau Präsidentin, Herr Kollege, ich nehme diesen
Hinweis auf den Untersuchungsausschuss, an dessen Sit-
zungen ich nicht teilnehme, natürlich ernst, und zwar in
mehrfacher Hinsicht . Zum Ersten zeigt das, dass Sie dort
offenbar auch eine öffentliche Informationsquelle haben,
durch die Sie mehr zu erfahren meinen . Insofern ist die
Dringlichkeit, das hier auch noch zu erörtern, vielleicht
nicht ganz so groß, selbst wenn Sie das nachher öffent-
lich verwerten wollen . Zum Zweiten werde ich sowohl
prüfen, ob wir hier vielleicht zu streng oder im NSA-Un-
tersuchungsausschuss zu liberal sind, wenn es um öffent-
liche Informationen geht . In beide Richtungen müssen
wir unser Verhalten noch einmal überprüfen .
Vielen Dank . – Liebe Kolleginnen und Kollegen,
die Zeit für die Fragestunde ist um über zehn Minuten
überzogen . Das war heute eine sehr intensive Frage- und
Antwortrunde . Ich schließe hiermit die Fragestunde . Die
restlichen Fragen fallen nicht weg, sondern werden, wie
vorhin verabredet, schriftlich beantwortet .
Die Sitzung ist unterbrochen und wird um 16 .30 Uhr
wieder eröffnet .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrocheneSitzung ist wieder eröffnet .Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 4 auf:Vereinbarte Debatte75. Jahrestag des Überfalls Deutschlands aufdie SowjetunionIch begrüße auf der Ehrentribüne die BotschafterRusslands, Armeniens und Tadschikistans,
Vertreter der Botschaften von Belarus und der Ukrainesowie anderer Botschaften unserer Nachbar- und Part-nerländer . Wir freuen uns über Ihr Interesse an dieserDebatte .Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dieser Debatteerinnern wir an den deutschen Angriffskrieg gegen dieSowjetunion, einen beispiellosen Vernichtungsfeldzugim Osten Europas, der in der menschenverachtenden na-tionalsozialistischen Rassenideologie wurzelte, an dasunvorstellbare Leid so vieler Russen, Weißrussen undHans-Christian Ströbele
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Ukrainer sowie von Millionen von Soldaten und vonnoch mehr Zivilisten, die Opfer nationalsozialistischenUnrechts geworden sind . Vor allem aber sehen wir heuteunsere Verantwortung, mit all unseren Möglichkeiten da-rauf hinzuwirken, dass etwas Vergleichbares nie wiedergeschieht .
Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Teilung Europaswurde in der Konferenz über Sicherheit und Zusammen-arbeit in Europa gemeinsam nach Wegen gesucht, dieeine geregelte friedliche Entwicklung auf unserem Kon-tinent ermöglichen . Die KSZE-Schlussakte von 1975schwor einer Konfrontationspolitik ab . Sie war die Lehreaus einer furchtbaren historischen Gewalterfahrung vor1945 .Nach Überwindung der Teilung Europas fanden derenLeitprinzipien Eingang in die Charta von Paris, darun-ter Gleichberechtigung und Selbstbestimmungsrecht derVölker, Unverletzlichkeit der Grenzen, territoriale Integ-rität der Staaten und friedliche Regelung von Streitfällen .Mit dieser Charta haben im November 1990 34 Staats-und Regierungschefs innerhalb und außerhalb Euro-pas – darunter die der Bundesrepublik Deutschland undder Sowjetunion – ihr „unerschütterliches Bekenntniszu einer auf Menschenrechten und Grundfreiheiten be-ruhenden Demokratie, Wohlstand durch wirtschaftlicheFreiheit und soziale Gerechtigkeit und gleiche Sicherheitfür alle unsere Länder“ zum Ausdruck gebracht .Wenn wir heute an den deutschen Überfall auf die So-wjetunion erinnern, bekräftigen wir unseren Willen, die-sen Lehren einer Geschichte, für die unser Land mehrVerantwortung trägt als alle anderen, gerecht zu werdenund nie und nirgends zu dulden, dass diese unumstößli-chen Prinzipien von Freiheit und Frieden in Europa infra-ge gestellt werden .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach einer interfrak-tionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 60 Minu-ten vorgesehen . – Ich stelle fest, dass dazu Einvernehmenbesteht .Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Bundesminister des Auswärtigen, Frank-Walter Steinmeier .
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inden frühen Morgenstunden des 22 . Juni 1941, heute vor75 Jahren, brach die Hölle los . Millionen deutsche Sol-daten, Hunderttausende Fahrzeuge und Pferde, Tausen-de Panzer, Flugzeuge und Geschütze wurden auf BefehlHitlers mit aller Kraft gen Osten geworfen . Über 25 Mil-lionen Menschen in der Sowjetunion, Weißrussen, Ukrai-ner, Russen und andere, sollten in diesem Angriffskriegihr Leben verlieren . Das Ausmaß des Leidens ist nicht inWorte zu fassen .Mir persönlich ist kaum ein Moment der letzten Jah-re so tief in Erinnerung, kaum ein Moment inmitten dervielen aktuellen Turbulenzen hat mich so bewegt wie derBesuch in der Kriegswüste von Stalingrad vor einem Jahr .Am 70 . Jahrestag des Kriegsendes stand ich mit meinemrussischen Kollegen Lawrow auf den öden Flächen vorden Toren der Stadt . Bis zum grauen Horizont reichen dieKreuze der Kriegsgräber, russische und deutsche darun-ter; stumm stehen die Kreuze dort, wo unter furchtbarenQualen Abertausende Menschen ihr Leben verloren .Und Stalingrad – das wissen wir – ist nur ein Ort desGrauens . Was Deutsche in der Sowjetunion angerichtethaben, dürfen wir niemals vergessen, und genau deshalbsind wir hier, meine Damen und Herren .
Wir sind hier, um zu erinnern, und wir sind hier, umuns im Erinnern der Verantwortung zu vergewissern, diewir Deutsche für den Frieden auf diesem Kontinent tra-gen . Denn unserem Land, von dem so viel Unheil aus-gegangen ist, ist es über die Jahrzehnte nach dem Kriegvergönnt gewesen, Schritt um Schritt wieder hineinzu-wachsen ins Herz der internationalen Gemeinschaft: zu-nächst als Bundesrepublik in das Bündnis der westlichenDemokratien, auch der NATO, dann in das großartigeFriedensprojekt der europäischen Einigung, in die Euro-päische Union, die morgen bei unseren britischen Freun-den vor einer historischen Bewährungsprobe steht, undschließlich als wiedervereintes Land in eine gemeinsa-me europäische Sicherheitsarchitektur, die Ost und Westumfasst und deren Prinzipien über die Schlussakte vonHelsinki in der OSZE verankert sind, deren Vorsitz wirDeutsche in diesem Jahr innehaben .Viel Gutes also ist uns in Deutschland und Europaseit jenen Schreckenszeiten widerfahren, vieles, was eszu bewahren gilt, vieles, für das wir Deutsche bis heutedankbar sind: für den Fall der Berliner Mauer, für diedeutsche Einheit als Ergebnis der friedlichen Revoluti-on in der DDR, ermöglicht von den ehemaligen Sieger-mächten, und für den friedlichen Abzug Hunderttausen-der russischer Soldaten aus Deutschland .Und dennoch: Von einem Zeitalter des Friedens sindwir heute weit entfernt, weiter, leider, als wir jemals seitdem Ende des Kalten Krieges waren. Blutige Konfliktetoben in Europas Nachbarschaft . Doch auch mitten durchEuropa geht ein tiefer Riss . Mit der Annexion der Krimund der Destabilisierung der Ostukraine hat sich erstmalsseit dem Ende des Kalten Krieges ein Unterzeichner-staat der Schlussakte von Helsinki offen gegen eines derleitenden Prinzipien der europäischen Friedensordnunggestellt, die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Sou-veränität eines anderen Staates .Gerade weil wir unsere historische Verantwortung fürdie europäische Friedensordnung ernst nehmen, war esdiese deutsche Bundesregierung, die auf diesen Prinzipi-enbruch klar und unmissverständlich reagiert hat und dieunsere Partner in diese Reaktion eingebunden hat .Das Gefühl der Bedrohung, das insbesondere im Bal-tikum, aber auch in anderen Teilen Ost- und Mitteleuro-pas entstanden ist, nehmen wir ernst . Ich bin vermutlichPräsident Dr. Norbert Lammert
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in keiner anderen Region in dieser Amtsperiode so häufiggewesen wie bei den östlichen Partnern in Europa unddort wiederum in den baltischen Staaten . Dort unterstüt-zen wir nicht nur den Aufbau eines russischsprachigenProgramms im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, vonAnfang an waren wir auch bei den Rückversicherungs-maßnahmen der NATO dabei . Wir haben die Wales-Be-schlüsse mit vorbereitet und getragen, wir haben Verant-wortung in der Umsetzung der Beschlüsse übernommenund tragen sie jetzt bei der Vorbereitung des Gipfels inWarschau .Worauf es ankommt, liebe Kolleginnen und Kollegen,ist, dass wir bei all dem nicht aus den Augen verlieren,dass wir uns im Bündnis spätestens seit dem Harmel-Be-richt von 1967 von zwei gleichrangigen Prinzipien habenleiten lassen: Deterrence and Détente . Oder in Deutsch:Abschreckung und Entspannung durch Dialog – Grund-sätze, die uns später zur NATO-Russland-Akte geführthaben und die wir gerade jetzt nicht zur Disposition stel-len sollten, wie manche es fordern .
Denn zur Verantwortung für den Frieden auf diesemKontinent gehört auch, die richtigen Lehren aus dem blu-tigen 20 . Jahrhundert zu ziehen . Zu diesen Lehren ge-hört, sich nicht in einer endlosen Spirale der Eskalationzu verlieren . Zu diesen Lehren gehört die Bereitschaft,und zwar auf allen Seiten, immer wieder Auswege ausder Konfrontation zu suchen, und zu diesen Lehren ge-hört: so viel Verteidigungsbereitschaft wie nötig, so vielDialog und Zusammenarbeit wie möglich . Beide Säulenmüssen stark sein .
Deshalb sage ich heute ebenso wie in den letzten Jah-ren: Wenn sich die Sicherheitslage verändert – und dashat sie –, dann müssen wir unsere militärischen Fähigkei-ten anpassen, aber wir dürfen nicht gleichzeitig der Illu-sion anheimfallen, dass militärische Stärke allein schonzur Sicherheit führt .
Es ist vielmehr zugleich unsere Pflicht, die Gesprächs-fäden nicht zu kappen, nicht etwa, weil alles fröhlich soweitergehen soll, als wäre nichts geschehen, sondernallein schon, um das Risiko von militärischen Missver-ständnissen zu minimieren, aber noch mehr, um den Pro-zess der Vertrauensbildung und hoffentlich langfristigauch Wiederannäherung möglich zu machen .
Ich gebe zu: All das sind keine neuen Einsichten, son-dern diese Prinzipien erwachsen tief aus unserer gemein-samen Geschichte . Dauerhafte Sicherheit in Europa kannes nur mit und nicht gegen Russland geben . Seien Sie ge-wiss, ich sage in Russland genauso: Es kann dauerhafteSicherheit für Russland nur mit und nicht gegen Europageben .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Geschichte un-serer Völker, Deutsche und Russen, war in den vergan-genen Jahrhunderten allzu oft eine Geschichte der Extre-me . Wo sich zwischen uns Entfremdung und Feindschaftbreitgemacht haben, da waren die Folgen verheerend –für uns selbst, aber auch für andere in Europa . Geradedeshalb müssen wir verhindern, dass aus den aktuellenpolitischen Differenzen und Konflikten, die wir mit derrussischen Regierung haben, eine Entfremdung zwischenunseren Völkern wird .Wir dürfen nicht zulassen, dass Vorurteile und Reflexeaus längst vergangenen Zeiten so auferstehen, als wä-ren sie nie weg gewesen . Auch dazu brauchen wir denDialog – nicht um Störendes zu übertünchen oder Wi-dersprüche unter den Teppich zu kehren . Ich glaube, nurwenn wir vielmehr die Gräben, die uns trennen, auch imDialog klar benennen, haben wir die Möglichkeit, sie inder Zukunft irgendwann zu überwinden . Wir brauchenden doppelten Dialog: Wir brauchen den Dialog überTrennendes, und hoffentlich haben wir auch die Mög-lichkeit des Dialogs über Gemeinsames .
Auf politischer Ebene nutzen wir gerade in diesemJahr die Foren, die Instrumente der OSZE . Aber auchganz jenseits von OSZE gilt: Wir brauchen Formen derZusammenarbeit mit Russland, um Lösungen für die vie-len anderen Konflikte jenseits von Europa zu finden, diein unserer Nachbarschaft toben, sei es in Syrien, sei esin Libyen, sei es im Irak . Dass die Zusammenarbeit mitRussland funktionieren kann, dass sie jedenfalls nichtaussichtslos ist, das hat uns das Abkommen mit dem Iranim vergangenen Jahr gezeigt .Aber neben der politischen Ebene kommt es in diesenspannungsgeladenen Zeiten, in denen wir sind, aus mei-ner Sicht umso mehr auf den Draht zwischen den Men-schen an, und den müssen wir verstärken . Deshalb habeich vor wenigen Tagen mit dem russischen Amtskolle-gen das Deutsch-Russische Jahr des Jugendaustauscheseingeläutet . Ja, gerade jetzt wollen wir junge Menschenzueinanderbringen, sozusagen kontrafaktisch zur dro-henden Sprachlosigkeit in der Politik .
Noch eins ist mir gerade am heutigen Tage wichtig:Gemeinsam mit der russischen Regierung haben wir eineneue Initiative beschlossen, in der wir die Archivmateria-lien über sowjetische und deutsche Kriegsgefangene desZweiten Weltkrieges lokalisieren, systematisch erfassenund digital zugänglich machen . Wir rufen die deutschenund russischen Fachbehörden, alle Archive, Forscher undExperten zur Mitarbeit auf . Wir wollen den NachfahrenBundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
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ein würdiges Andenken ermöglichen . Wir wollen, kurzgesagt, den vielen Gefangenen und Verstorbenen schlichtund einfach ihren Namen zurückgeben .
Vor einem Jahr, am Abend nach dem Besuch auf denSchlachtfeldern von Stalingrad, kamen der Kollege La-wrow und ich in die Stadt, die heute Wolgograd heißt .Auf dem Paradeplatz gaben russische und deutsche Mu-siker gemeinsam ein Friedenskonzert . Als wir eintrafen,begrüßten uns Tausende Bürgerinnen und Bürger vonWolgograd, viele von ihnen Veteranen, alte, stolze Men-schen in Uniform, die, die die Hölle von Stalingrad über-lebt haben .Was mich berührt hat: Sie begrüßten den deutschenAußenminister, den Vertreter des Volkes, das ihnen soviel Leid über die Stadt und über die Familien gebrachthat, nicht mit Ablehnung, sondern mit Herzlichkeit, mitBeifall und mit tränenreichen Umarmungen . Da war keinVorwurf, sondern das Signal der Menschen an uns beidewar: Gut, dass ihr zusammen hier seid . Nehmt eure Ver-antwortung ernst, gerade in dieser Zeit .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Verantwor-tung für den Frieden in Europa ist untrennbar verbun-den mit der Verantwortung für die deutsch-russischenBeziehungen . Wir müssen dafür Sorge tragen, dass einerGeschichte der Extreme nicht eine Zukunft der Extremefolgt .
Dies zu verhindern, das ist vor allem Verantwortung der-jenigen, die die europäische Friedensordnung durch Ver-letzung der Souveränität der Ukraine beschädigt haben,aber es ist auch unsere Verantwortung .Vielen Dank .
Nächster Redner ist der Kollege Gregor Gysi für die
Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ge-statten Sie mir zwei kritische Bemerkungen zum politi-schen Umgang mit dem 75 . Jahrestag des Überfalls vonNazideutschland auf die Sowjetunion:Die erste Anmerkung . Die deutsch-sowjetischen unddanach die deutsch-russischen Beziehungen durchliefengute, weniger gute und auch schlechte Phasen . Aber völ-lig unabhängig davon bleibt diese vertrags- und völker-rechtswidrige Aggression, die 27 Millionen sowjetischerOpfer zur Folge hatte . Diese Opfer – der größte Teil wa-ren Russinnen und Russen; das Ganze traf aber auch sehrviele Weißrussinnen und Weißrussen, Ukrainerinnen undUkrainer – verlangen einen würdigen Rahmen des Ge-denkens .
Ohne die Linksfraktion hätte es hier auch nicht die ver-einbarte Debatte gegeben .
Unter den 27 Millionen Opfern waren 8,4 Millionengefallene Soldaten, 3,3 Millionen in deutscher Kriegs-gefangenschaft umgekommene oder ermordete Solda-ten und über 15 Millionen sowjetische Zivilistinnen undZivilisten, darunter Millionen Jüdinnen und Juden, dieerschossen, ermordet wurden. Auf deutscher Seite fielen2,7 Millionen Soldaten, und 1,1 Millionen Soldaten ka-men in sowjetischer Kriegsgefangenschaft um; sie star-ben an Hunger, an Krankheiten . Eine Gedenkveranstal-tung des Bundestages wäre angemessen gewesen;
denn die Opfer eignen sich nun wahrlich nicht für eineInstrumentalisierung in Abhängigkeit von der Qualitätder deutsch-russischen Beziehungen .Die zweite Anmerkung . Zum 75 . Jahrestag des Über-falls reist Bundespräsident Gauck durch verschiedeneLänder, nur nicht nach Russland . Ich hoffe, dass bald einBesuch des Bundespräsidenten in Russland nachgeholtwird .Mit der Weisung Nummer 21 vom 18 . Dezember 1940befahl Hitler das sogenannte „Unternehmen Barbaros-sa“, den Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion .Am 22 . Juni 1941 begann der Krieg, nachdem die Nazismeinten, in Westeuropa ihre wesentlichen Kriegsziele er-reicht zu haben . Der Überfall auf die Sowjetunion undauf andere osteuropäische Staaten unterschied sich in derQualität erheblich von den Überfällen auf die westeuro-päischen Staaten . Der Krieg gegen die Sowjetunion warein Vernichtungskrieg . Die Vernichtungsziele richtetensich gegen die sowjetischen Jüdinnen und Juden, gegendie politischen Kommissare und gegen die, wie es dieNazis nannten, slawischen Untermenschen . Selbst derHungertod der Slawinnen und Slawen wurde geplant undwar beabsichtigt .Zu den ökonomischen Interessen kamen ein einzigar-tiger Antisemitismus und Rassismus hinzu . Die Jüdinnenund Juden mit insgesamt 6 Millionen Opfern und die so-wjetischen Völker mit über 27 Millionen Toten, darunterauch ein großer Teil der genannten Jüdinnen und Juden,waren die Hauptleidtragenden dieses verbrecherischen,historisch einzigartigen Krieges, der mit äußerster Bru-talität und Grausamkeit geführt wurde .Man ist heute übrigens immer noch sprachlos an-gesichts dessen, dass der Überfall der Nazis die Sow-jetunion so unvorbereitet traf . Nach dem sogenanntenHitler-Stalin-Pakt glaubte Stalin sich sicher zu sein, vonden Nazis nicht angegriffen zu werden . Über das „Un-ternehmen Barbarossa“ – das weiß man inzwischen ausder historischen Forschung – gab es 267 Meldungen nachMoskau, darunter auch die des damaligen sowjetischenSpions Richard Sorge . Aber Stalin glaubte ihm nicht, erBundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
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glaubte Hitler . Später war Stalin nicht bereit, RichardSorge auszutauschen – wohl nur, weil Sorge recht hatteund nicht er, und Sorge es auch noch wusste und hätteverbreiten können .Nach schweren Verlusten und unermesslichem Leid innahezu jeder Familie in Russland und in anderen Völkernder früheren Sowjetunion und auch nach großem Leid imdeutschen Volk konnte die Wehrmacht letztlich zurück-gedrängt und besiegt werden . Die Schlacht bei Stalingradmit Abertausenden Toten, auch Hungertoten, führte zurWende .Die Hauptlast des Krieges trugen – auch das ist un-umstritten – die Völker der Sowjetunion, wobei dieLeistungen des amerikanischen, des britischen und desfranzösischen Volkes und der anderen Völker, daruntergerade auch die des polnischen Volkes, nicht unterschätztwerden dürfen .Liebe Kolleginnen und Kollegen, die heutigen Bezie-hungen des Westens – der USA, der Europäischen Union,darunter auch Deutschland – zur Russischen Föderationkönnten wahrlich besser sein . Es gab die völkerrechts-widrige Annexion der Krim durch Russland, aber es gabvorher auch einen völkerrechtswidrigen Krieg der NATOgegen Jugoslawien, und es gab eine völkerrechtswidrigeLostrennung des Kosovo . Russland hat sich strikt dage-gen gewandt, hatte jedoch keine Chance . Aber Russlandreagierte nicht mit dem Rasseln von Säbeln, sondern hatim Kosovo bei der Befriedung noch mitgewirkt . Die USAund die EU reagieren dagegen auf die völkerrechtswid-rige Annexion der Krim mit Sanktionen gegen Russland,die NATO mit der Verlegung von Soldaten nach Osten andie russische Grenze, mit groß angelegten Militärmanö-vern gegen Russland .Was sollen diese Gebärden des Westens? Wenn sichdie Russen eingekreist fühlen, reagieren sie äußerstnervös . Den für sie überraschenden Überfall durch Hit-ler-Deutschland haben sie bis heute nicht vergessen .Bringt das militärische Gebaren der NATO uns dem Frie-den und der Sicherheit in Europa nur einen Schritt näher,hilft das der Ukraine? Nein, im Gegenteil .
Sie, Herr Außenminister, haben kürzlich gesagt:Was wir jetzt nicht tun sollten, ist, durch lautes Sä-belrasseln und Kriegsgeheul die Lage weiter anhei-zen .Das ist Ihr Zitat, und Sie haben völlig recht . Nur, wes-halb nimmt die Bundeswehr dann an dem Säbelrasselnteil? Weshalb haben auch Sie als Außenminister demTreiben der NATO zuvor zugestimmt? 250 Soldaten derBundeswehr werden an die russische Grenze verlegt,weil sich Nachbarstaaten durch Russland bedroht fühlen .Was heißt das? Bedeutet das erstens, dass ab jetzt Solda-ten entsandt werden wegen eines Gefühls?
Bedeutet das zweitens, wenn es eine wirkliche Gefahrgäbe, reichen 250 Soldaten? Die halten nicht einmal ei-nen Tag . Drittens . Meinen Sie, es ist die richtige Sym-bolik, 75 Jahre nach dem Überfall Hitler-Deutschlandsauf die Sowjetunion deutsche Soldaten an die russischeGrenze zu entsenden?
Ich finde das völlig falsch.Wir wissen doch, dass dieses Säbelrasseln nur zu ei-nem neuen Wettrüsten in Europa nach Überwindung desKalten Krieges führt, bei dem außer den Rüstungskon-zernen niemand gewinnen wird, aber alle in Europa ver-lieren werden .
Wir haben morgen die Entscheidung zum Brexit inGroßbritannien . Wenn das negativ ausgehen sollte, wasich nicht hoffe, dann könnten doch Länder wie Ungarnund Polen versuchen, zu folgen, dann hätte Ungarn Ver-luste . Ich könnte mir vorstellen, dass Russland dann be-reit ist, die Verluste auszugleichen . Und warum? Weil dieEU gegen Russland Sanktionen beschlossen hat, sehendie gar keinen Grund mehr, die EU zu stärken . Ganz imGegenteil . Es ist doch ganz deutlich zu spüren: Die USAhaben in Bezug auf Russland andere Interessen als dieEuropäische Union und Deutschland . Und dieses ande-re Interesse müssen Sie endlich auch durchsetzen, unddafür müssen Sie endlich einstehen . Und Sie müssenendlich begreifen, dass es nichts bringt, militärisch undwirtschaftlich – hinsichtlich der Sanktionen – den USAnur hörig zu folgen . Dieser Weg ist falsch .
75 Jahre nach dem Überfall sollten wir innehalten, derOpfer des Vernichtungskrieges Deutschlands gedenkenund mindestens folgende Lehre daraus ziehen: Wir ha-ben in Europa nur eine friedliche, sichere Zukunft mit,nicht ohne Russland und schon gar nicht gegen Russland .
Jürgen Hardt ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Werte Gäste auf der Ehrentribüne! Als vor 75 JahrenHitler-Deutschland über die Sowjetunion herfiel – derbis heute vielleicht brutalste Feldzug der Weltgeschich-te: weit über 3 Millionen Soldaten, 600 000 Fahrzeugevon der Ostsee bis zu den Karpaten – mit dem Ziel, dasLand vollständig zu unterwerfen, das Land freizuräu-men, damit die Hybris vom Volk ohne Raum neuen Platzbekommt, die Menschen in der Sowjetunion als Arbeitss-klaven zu unterwerfen, die politisch Andersdenkenden zuvernichten, haben wir die vielleicht tiefste und dunkelsteStunde der deutschen Geschichte erlebt . Deswegen ist esgut, dass der Deutsche Bundestag 75 Jahre nach diesemTag der vielen Opfer, der 27 Millionen Bürger der Sow-jetunion gedenkt, die Opfer dieses von Deutschland ent-fesselten, brutalen Krieges geworden sind . Jedes zweiteDr. Gregor Gysi
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Opfer des Zweiten Weltkrieges war ein Bürger der Sow-jetunion . Wir können uns 75 Jahre danach vor den Op-fern nur verneigen .
Es war als Überfall geplant, der nach wenigen Wochenzur Niederwerfung der Sowjetunion führen sollte . Dannsollte der Blick gewendet werden Richtung England . Ineinem dritten Schritt sollte der große Konflikt um dieWeltherrschaft mit Amerika gesucht werden . Welch eineschaurige Vorstellung, wenn das in irgendeiner Weise inErfüllung gegangen wäre! Es ist dem Volk der Sowjet-union zu verdanken, dass es trotz der unsäglichen Opferund Entbehrungen, die es auf sich nehmen musste, derÜbermacht der deutschen Wehrmacht und der SS stand-gehalten hat und dass es es geschafft hat, diesen Angriffzurückzuwerfen . Die Menschen in der Sowjetunion ha-ben wesentlich dazu beigetragen, dass Deutschland imJahre 1945 von der Nazidiktatur befreit wurde . Dafürdanken wir den Bürgerinnen und Bürgern der Sowjet-union, die daran mitgewirkt haben . Auch das darf hiergenannt werden .
Herr Gysi, Sie haben einige Dinge aus der Geschichteangesprochen und diese sicherlich richtig dargelegt . Al-lerdings möchte ich Ihnen an einem Punkt massiv wi-dersprechen . Dass Sie das Gedenken an den Überfall aufdie Sowjetunion in Zusammenhang mit NATO-Einsätzenim ehemaligen Jugoslawien bringen, die zum Ziel hat-ten, massenweises Ermorden von Menschen und ethni-sche Säuberungen zu verhindern, finde ich, offen gesagt,weder der Geschichte noch Ihrem Intellekt angemessen .Das möchte ich in aller Klarheit zurückweisen .
Lassen Sie mich den Blick auf die Gegenwart und dieZukunft lenken . Wir haben leider die Situation, dass dieVölker der ehemaligen Sowjetunion nicht in Frieden undEintracht miteinander leben, dass einige im Konflikt zu-einander stehen . Das ist anders als bei uns im vereinigtenEuropa, wo wir mit unseren Kriegsgegnern ausgesöhntsind, wo wir uns vierteljährlich auf der Ebene der Re-gierungschefs treffen und im Europäischen Parlament,im Rat und in der Kommission unsere politische Zukunftgemeinsam gestalten . Wir haben unter den Völkern derSowjetunion Konflikte wie zum Beispiel den KonfliktRusslands mit der Ukraine, den Konflikt Russlands mitGeorgien, den Konflikt Armeniens mit Aserbaidschan.Über andere Dinge möchte ich hier nicht weiter reden .Das ist eine Belastung nicht nur für die Menschen imOsten Europas, sondern auch für Europa insgesamt . DerBundesaußenminister hat das richtig ausgeführt: Dergroße gemeinsame Bogen aller Europäer ist, dass Kon-flikte friedlich entschieden werden müssen. GewaltsameGrenzverletzungen sind kein Mittel der Politik . Leider hatRussland – konkret im Fall Ukraine, Krimbesetzung undEinmischung in der Ostukraine – gegen diesen Grundsatzverstoßen . Darauf müssen wir angemessen reagieren .
Es hat am Wochenende missverständliche Äußerun-gen gegeben, durch die der Eindruck erweckt wurde,wir hätten in Deutschland oder bei der NATO ein Defi-zit im Hinblick auf die Bereitschaft, diese Konflikte aufdem Wege des Dialogs mit Russland zu überwinden . Ichfinde, der Außenminister sollte sein eigenes Licht nichtunter den Scheffel stellen; denn er ist einer derjenigen,die maßgeblich den Dialog mit Russland führen, auchim Namen der NATO und im Namen zahlreicher andererFormate, in denen wir uns um die Bewältigung der Kon-flikte in der Welt bemühen. Ich möchte an dieser Stelleausdrücklich sagen, dass die NATO auf Russland zugeht .
Ich erwähne die Wiederaufnahme der Gespräche im NA-TO-Russland-Rat und das konkrete Angebot, auch vordem Warschauer Gipfel mit Russland zu sprechen . DieRussen haben jetzt gesagt, sie würden das gerne nachdem Gipfel machen . Ich sehe es als positives Zeichen,dass die NATO gesprächsbereit ist und die NATO-Mit-gliedstaaten auch in vielen anderen Formaten mit denRussen im Dialog sind . Insofern sind wir zuversichtlich,dass der Konflikt letztendlich auf diesem Wege zu lösenist .Dass wir uns auf der anderen Seite rückversichernmüssen, dass wir unseren Partnern Rückendeckung ge-ben müssen, ist auch richtig – wenngleich das Bild desSäbelrasselns meines Erachtens im Zusammenhang mitder NATO völlig unangemessen ist .
Ich habe zuerst gedacht, ich sei vielleicht zu empfindlich.Aber wenn man im Internet einmal schaut, was Säbel-rasseln bedeutet, dann liest man: Es ist aggressives An-griffsgehabe .
Das ist im Zusammenhang mit der NATO völlig unan-gemessen . Das Bild des Igels wäre besser . Herr Außen-minister, wenn Sie das Bild verwendet hätten, dass sichdie NATO nicht einigeln, sondern gesprächsbereit blei-ben soll, dann hätten Sie für diese Äußerungen vielleichtauch den Beifall der Union bekommen . Aber Sie habenja heute einiges dazu gesagt, um die Sache klarzustellen .Ich glaube, dass wir auf dem Weg fortfahren sollten .Ich glaube, dass wir die Hand gegenüber Russland undden Völkern der ehemaligen Sowjetunion ausgestrecktlassen sollten . Ich glaube, dass uns die Zusammenarbeitmit Osteuropa in eine gute Zukunft führt und dass derDeutsche Bundestag mit der heutigen Debatte einen klei-nen Beitrag dazu leistet, dass wir die Folgen des Kriegesendgültig überwinden .Danke schön .
Jürgen Hardt
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erhält nundie Kollegin Marieluise Beck das Wort .Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Gäste! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute an demTag, an dem vor 75 Jahren der Krieg, der ein erklärterVernichtungskrieg war, gegen die Sowjetunion begann .Der Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion war je-doch kein Überfall allein auf Russland, sondern eben aufden Vielvölkerstaat Sowjetunion . Die 27 Millionen sow-jetischen Kriegsopfer stammten aus allen Teilen des sow-jetischen Vielvölkerstaates, von der Steppe Zentralasiensbis in den Fernen Osten . Sie alle schickten ihre Männerund Frauen zur Verteidigung der Sowjetunion gegen dendeutschen Vernichtungskrieg . Viele – die meisten von ih-nen – kehrten nicht zurück . Ihnen allen sind wir unserenRespekt schuldig .
Der Zweite Weltkrieg begann jedoch nicht mit demOstfeldzug . Dem hinterhältigen Überfall auf die Sowjet-union ging ein Nichtangriffspakt voraus, den Molotowund Ribbentrop mit Datum vom 23 . August 1939 in Mos-kau unterzeichneten . Diesem Abkommen war ein gehei-mes Zusatzprotokoll angeheftet, in dem die AufteilungMittel- und Osteuropas zwischen dem Deutschen Reichund der Sowjetunion vereinbart wurde . Das begründetauch die Empfindlichkeit der „Zwischenländer“, wieTimothy Snyder sie nennt .Am 1 . September folgte dann der deutsche Angriff aufPolen, der den Beginn des Zweiten Weltkriegs markiert .Am 17 . September marschierte die Rote Armee von Os-ten in Polen ein . Damit war Polen von zwei Seiten be-setzt, und in beiden Teilen des Landes errichteten dietotalitären Regime eine Schreckensherrschaft mit Hun-derttausenden Toten .Stalin hatte die Belastbarkeit seines Paktes mit Hitlerüberschätzt . Herr Gysi hat eben darauf hingewiesen, wieüberrascht Stalin war, als Hitler sich gegen ihn wand-te . Der Angriff vom Sommer 1941 traf ihn weitgehendunvorbereitet und kostete damit vielen sowjetischenSoldaten das Leben . Die Wehrmacht walzte durch densowjetisch gehaltenen Teil Polens, in die Ukraine, nachBelarus, in das Baltikum und durch Russland bis vor dieTore Moskaus mit unvorstellbaren Verwüstungen undOpfern vor allem unter der Zivilbevölkerung .Die Vernichtung des europäischen Judentums fandim Zuge dieses Feuersturms durch Osteuropa statt . Inder deutschen Erinnerungskultur steht Auschwitz alsSynonym für diese Vernichtung . Der Historiker Timo-thy Snyder lehrt uns jedoch, dass der weit größere Teilder Vernichtung durch Massenerschießungen währenddes deutschen Angriffs geschah . Das heißt, SS undWehrmacht waren stärker an der Vernichtung der jüdi-schen Bevölkerung des Ostens beteiligt, als lange wahr-genommen worden ist . Als diese Gräuel des Krieges inder Wehrmachtsausstellung 1995 gezeigt wurden, gabes wütende Reaktionen in Deutschland, was zeigte, wieschmerzhaft die Auseinandersetzung der deutschen Ge-sellschaft mit diesen Verbrechen der Wehrmacht war undimmer noch ist .Weit über 5 Millionen Soldaten der Roten Armeegerieten in Gefangenschaft . Wie die gesamte slawischeBevölkerung wurden auch sie als sogenannte Untermen-schen entwürdigt . Der Schutzstatus von Kriegsgefange-nen nach der Genfer Konvention wurde ihnen versagt .Die Lebens- und Arbeitsbedingungen in den sogenanntenRussenlagern ähnelten denen in Konzentrationslagern .Über die Hälfte der sowjetischen Kriegsgefangenen starbin der Gefangenschaft . Heute leben nur noch wenige vonihnen . Es ist an der Zeit, dass das schwere Unrecht, dasan diesen Kriegsgefangenen begangen wurde, von unse-rem Parlament als nationalsozialistisches Unrecht aner-kannt wird .
Der Vernichtungskrieg wandte sich unbarmherziggegen die slawische Bevölkerung. In Belarus fiel jedervierte Zivilist dem Krieg zum Opfer . Fast 3 MillionenMenschen wurden zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reichverschleppt . Der weitaus größte Teil von ihnen stamm-te aus der Ukraine . Bei der Rückkehr in die Sowjetuni-on drohte sowohl den Kriegsgefangenen als auch denZwangsarbeitern ein dramatisches Schicksal . Viele vonihnen kamen als angebliche Kollaborateure in den Gulag .Das Aushungern war eine gezielte Strategie der deut-schen Kriegsführung gegen die Sowjetunion . Mehr als4 Millionen Sowjetbürgerinnen und -bürger starben denqualvollen Hungertod, davon mehr als 1 Million im be-lagerten Leningrad . Für die deutsche Kriegsführung wardie Ukraine, die sogenannte Kornkammer, von strategi-scher Bedeutung . Aus dem Land wurden rücksichtslosLebensmittel herausgepresst, ohne die der Angriffskriegnicht hätte geführt werden können . Unzählige Menschenmussten deshalb verhungern .Im Zuge des deutschen Angriffs wurden mehrere Völ-ker der Sowjetunion auf Befehl Stalins deportiert . Hun-derttausende kamen während der Transporte ums Lebenoder verhungerten und verdursteten, nachdem man siein der kasachischen Steppe oder in Sibirien sich selbstüberlassen hatte . Viele konnten erst nach dem Tod Stalinswieder zurückkehren, die Krimtataren erst 1989 .Die Sowjetunion existiert nicht mehr . Die historischeSchuld, die das Deutsche Reich auf sich geladen hat, unddie Verantwortung, die uns bis heute daraus erwächst,gelten also allen Menschen der Nachfolgestaaten, dasheißt, den Menschen in Armenien, Aserbaidschan, Bel-arus, Estland, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan, Lett-land, Litauen, Moldawien, Russland, Tadschikistan,Turkmenistan, in der Ukraine und Usbekistan . All die-sen Ländern müssen wir in dem Wissen gegenübertreten,dass wir ihnen gegenüber eine historische Verantwortungtragen, und für ihre Freundschaft dankbar sein .
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Ich wünsche mir, dass wir irgendwann einmal in denHauptstädten all dieser Länder diesen Tag mit unserenParlamentskollegen als Gedenktag gemeinsam gestalten .Schönen Dank .
Franz Thönnes ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Heute Morgen bin ich aus Sankt Petersburg nach einemzweitägigen Termin der Ostseeparlamentarierkonferenzin der Hauptstadt Kareliens, Petrosawodsk, nach Berlingekommen . In der letzten Woche war ich drei Tage langzu politischen Gesprächen in der Hauptstadt der Ukraine,in Kiew .Wenige Wochen nach dem 22 . Juni 1941 hat die Be-lagerung Leningrads, dem heutigen Sankt Petersburg,durch deutsche Truppen begonnen . Sie folgte der gehei-men Weisung des Oberkommandos der Wehrmacht, dielautete:Der Führer ist entschlossen, die Stadt Petersburgvom Erdboden verschwinden zu lassen . Es bestehtnach der Niederwerfung Sowjetrusslands keinerleiInteresse an dem Fortbestand dieser Großsiedlung .Hieran wurde die für den gesamten rassistischen Eli-minierungskrieg geltende Ideologie, mit der der langegeplante neue Lebensraum im Osten erobert werdensollte, deutlich . Am Morgen des 22 . Juni 1941 kreistenauch deutsche Flugzeuge über Kiew und brachten mitihren Bomben Tod, Leid und Zerstörung . Drei Monatenach Kriegsbeginn wurden in der Schlucht von Babi Jarbei Kiew 33 000 jüdische Männer, Frauen und Kindererschossen . Persönlich hat die heutige Generation derDeutschen keine Schuld an diesem schändlichen Verbre-chen gegen die Menschlichkeit; aber wir haben Verant-wortung, Verantwortung dafür, dass Derartiges nie wie-der geschieht . Wir haben Verantwortung für den Frieden .Das sind wir den Opfern schuldig .
Der 22 . Juni 1941, der Tag des Angriffs auf die Sow-jetunion, wird für die Menschen in Russland, in Weiß-russland und der Ukraine unauslöschbar in Erinnerungbleiben . Dennoch haben wir in den letzten Jahrzehntenvielfältigste gute Beziehungen in Politik, Wirtschaft undGesellschaft entwickelt . Wie selbstverständlich habenwir in den letzten beiden Tagen über eine Intensivie-rung der Ostseekooperation in Petrosawodsk diskutiert .Deutsche waren auf dem Wirtschaftsforum in Sankt Pe-tersburg gern gesehene Gäste, und in der Ukraine arbei-ten wir unterstützend an der Stabilisierung des Landesund für eine friedliche Lösung des russisch-ukrainischenKonfliktes.Wenn ich an die letzten Stunden in Kiew, in Petro-sawodsk und Sankt Petersburg zurückdenke, bin ich alsTeil der deutschen Nachfolgegenerationen von einer tie-fen Dankbarkeit erfüllt, einer Dankbarkeit für die Handder Vergebung und Versöhnung, die uns Deutschen ge-reicht wurde .
Doch gerade der russisch-ukrainische Konflikt hat unsdeutlich gemacht, dass nichts von Dauer ist . Der russi-sche Verstoß gegen die Prinzipien der Schlussakte vonHelsinki und damit gegen die europäische Sicherheits-ordnung hat zur schwersten außenpolitischen Krise inEuropa nach dem Fall des Eisernen Vorhangs geführt .Ja, wir haben im Bündnis Sicherheit zu leisten, auch ge-genüber unseren NATO-Partnern und den EU-Mitglie-dern im Osten Europas; aber wir haben auch darauf zuachten, dass die Balance und das Risiko, erneut in eineRüstungsspirale hineinzugeraten, bedacht werden, wennzu sehr in militärischen Konzeptionen und Kategoriengedacht wird . Wenn genau das BundesaußenministerFrank-Walter Steinmeier anmahnt, so sind mir mancheKritiken unverständlich .
Zuhören, den anderen verstehen, heißt noch lange nicht,dessen Ansichten oder Handlungen zu teilen; es ist füreine gute Außenpolitik aber unabdingbar .Es gibt nicht nur Artikel 5 des NATO-Vertrages, son-dern auch Artikel 1 . Dieser enthält das maßgebliche Ver-pflichtungscredo, jeden Streitfall, an dem Mitgliedstaatenbeteiligt sein mögen, durch friedliche Mittel in der Weisezu regeln, dass Frieden, Sicherheit und Gerechtigkeit un-ter den Völkern nicht gefährdet sind . Ich frage mich dannschon, ob „Saber Strike“, also Säbelangriff, der richtigeName für das bis gestern laufende NATO-Manöver war .
Deswegen will ich deutlich sagen: Lehren aus der Ge-schichte zu ziehen, heißt, dass Sicherheitspolitik im In-neren wie im Äußeren eine Abrüstung in der Rhetorikbraucht . Sie braucht den Willen zur Verteidigungsbereit-schaft und zur gemeinsamen Sicherheit genauso wie denWillen zum Dialog, zum Kompromiss und zur Herstel-lung neuen Vertrauens .Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, heißt, dasnun wirklich in Angriff zu nehmen und gemeinsam um-zusetzen, was die Bundeskanzlerin mit den PräsidentenFrankreichs, Russlands und der Ukraine in Minsk im Fe-bruar 2015 unterschrieben hat:Die Staats- und Regierungschefs bekennen sich un-verändert zur Vision eines gemeinsamen humanitä-ren und wirtschaftlichen Raums vom Atlantik bisMarieluise Beck
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zum Pazifik auf der Grundlage der uneingeschränk-ten Achtung des Völkerrechts und der Prinzipien derOSZE .Das gilt es, jetzt in Angriff zu nehmen, und zwar aufGrundlage dieser Prinzipien . Auch Putins Unterschriftsteht unter diesem Satz .
Lehren aus der Geschichte zu ziehen, heißt auch, überRüstungskontrolle, Abrüstung und Transparenz zu spre-chen . Auch das ist dringend notwendig .
Abschließend: Lehren aus der Geschichte zu ziehen,heißt ebenso mehr Jugendaustausch . Die Jugend unsererLänder soll nicht mit neuen Feindbildern, sondern in ei-nem friedlichen Miteinander aufwachsen .
Dazu gehören Begegnungen, wie sie von Frank-WalterSteinmeier vorhin mit Blick auf das Deutsch-RussischeJugendaustauschjahr genannt worden sind . Doch sie dür-fen nicht durch organisatorische Schengen-Schwierigkei-ten wie bei den biometrischen Pässen erschwert werden .
Am ehesten kann man einer Entwicklung von Scheinre-alitäten und Missverständnissen entgegenwirken, wennVisafreiheit für die Jugendlichen unserer Länder besteht .Das wäre ein guter Anfang für den schrittweisen Aufbauneuen Vertrauens, eines neuen Fundaments für ein fried-liches Miteinander, bei dem wir gemeinsam zeigen kön-nen, dass wir aus den dunklen Tagen unserer Geschichtegelernt haben .
Nächster Redner ist der Kollege Bernhard Kastner für
die CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Heute, am 22 . Juni, in diesen Tagen und indieser Debatte sprechen wir über die deutsch-russischenBeziehungen, über die Besonderheiten, aber auch überdie Tragik der gemeinsamen Geschichte, und wir spre-chen über Verantwortung, ja auch über besondere Ver-antwortung . Wer ein Gefühl dafür bekommen will undes förmlich physisch sowie mental spüren will, was mitdieser Verantwortung gemeint ist bzw . gemeint sein soll-te, dem empfehle ich den Besuch von zwei Orten .Erstens empfehle ich den Besuch des GedenkfriedhofsPiskarjowskoje in Sankt Petersburg, der auf erschüttern-de Weise daran erinnert, wie man in dieser Stadt, demdamaligen Leningrad, in einer über zweijährigen Blocka-de die Menschen, Alte und Junge, Frauen und Kinder,schlichtweg elendig hat verhungern lassen – über 1 Mil-lion Tote . Unmenschlich! Jeder, der da war oder die Bil-der gesehen hat, wird das mitempfinden können.Zweitens empfehle ich einen Besuch des Solda-tenfriedhofs Sologubowka, ebenfalls in der Nähe vonSankt Petersburg, wo die sterblichen Überreste Tausendergefallener deutscher Soldaten ruhen – ein Friedhof, der indieser Form erst Ende der 1990er-Jahre angelegt wurde .Das ist eine ganz besondere, nicht zu unterschätzendeGeste Russlands in dieser Stadt . An dieser Stelle richteich einen besonderen Dank auch an den Volksbund Deut-sche Kriegsgräberfürsorge und seine russischen Partner,dass sie dort die Gedenkstätte eingerichtet haben .
Wenn wir von Soldatenfriedhöfen und Soldaten spre-chen, muss uns immer bewusst sein: Wir sprechen vorallem von jungen Menschen, von Söhnen, jungen Ehe-männern, Familienvätern, Brüdern und Freunden, diegern noch eine Lebensperspektive gehabt hätten . Dasmuss uns immer ganz klar sein .
Die Kriegsgräberstätten und die Gedenkfriedhöfe inRussland und in Deutschland sind letztlich Narben un-serer Geschichte . Narben können verheilen, aber siebleiben für immer . Sie sind in diesem Fall Narben derMahnung .Einer der Hauptkriegsschauplätze – das ist schongesagt worden – war damals die Ukraine – da, wo heu-te Krieg ist . Ich sage nur: Vor drei Jahren war Donezkeine blühende Stadt . Schauen wir heute auf das Elend inDonezk . Ebenso waren das Baltikum und WeißrusslandHauptkriegsschauplätze . Herr Gysi, sprechen Sie einmalin Estland in der Grenzstadt Narwa mit den Menschenüber ihre Besorgnisse, und hören Sie zu, wie konkret siesich äußern . Das ist mehr als ein Gefühl .
Das, was wir heute, 2016, brauchen, sind vor allemVertrauen und Verstehen . Hier heißt Verstehen nichtimmer gleichsam Verständnis . Wir brauchen besondersVertrauen in der Spitze . Es muss gelten: Wenn zwischenMinistern Abkommen oder Vereinbarungen getroffenwerden, dürfen sie nicht wenige Tage später wieder zurDisposition gestellt werden . Wir brauchen vor allem eingegenseitiges Verstehen . Was meine ich damit? Russlandmuss Europa verstehen . Europa muss Russland verste-hen . Wir brauchen ein Verstehen in Russland, was füruns eigentlich die europäische Idee bedeutet: die strikteUnverletzlichkeit von Grenzen und die Werte der Char-ta von Paris . Umgekehrt gilt es, schlicht Interessen zuverstehen, sie zu kennen, sie letztendlich nicht immer zuteilen, aber bei Interessenskonflikten gefährliche Miss-verständnisse frühzeitig zu erkennen und zu vermeiden .Wenn man wie ich Russland bald 20 Jahre regelmä-ßig besucht, ob als Bürgermeister, privat oder als Ab-Franz Thönnes
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geordneter, trifft man auf ein sehr faszinierendes undvor allem gastfreundliches Land . Ich war auch mit derDeutsch-Russischen Parlamentariergruppe unseres Bun-destages dort . Man trifft dort auch Menschen außerhalbder Politik – das ist guter Brauch in den Parlamentari-ergruppen –, also aus der Wirtschaft, der Wissenschaft,der Kultur, den über 80 Städtepartnerschaften und denNGOs . Bei diesen Begegnungen spürt man viel Sympa-thie für Deutschland . Ich denke, es ist wichtig, an einemTag wie dem 22 . Juni zu sagen, dass einem dort Sym-pathie entgegenschlägt, wenngleich die Gräuel voll imBewusstsein der Bevölkerung verankert sind . Aber manspürt diese Sympathie . Und man spürt sehr emotionalbei seinen Gesprächspartnern in der russischen Gesell-schaft, dass ein Miteinander mit Europa und besondersmit Deutschland gewünscht und auch eingefordert wird .Ich kann mich beispielsweise an Gespräche mit Wissen-schaftlern erinnern, die uns, den Abgeordneten, gesagthaben: Wir brauchen dringend die Zusammenarbeit mitDeutschland, mit Europa, mit dem Max-Planck-Institutund mit den Universitäten . In großen Teilen war die rus-sische Gesellschaft in den vergangenen Jahren schon im-mer weiter als die politische Führung .
Lassen Sie mich zum Schluss betonen, wie wichtigdas Deutsch-Russische Jahr des Jugendaustausches ist .Ich habe über Verstehen gesprochen . Verstehen, ken-nenlernen, lernen – es ist ganz wichtig, der Jugend dieseMöglichkeiten zu bieten .Auf der letzten Sicherheitskonferenz in Münchensprach Ministerpräsident Dimitrij Medwedew wiedervom Kalten Krieg . Angesichts der weltweiten Herausfor-derungen in unserem 21 . Jahrhundert ist das sicherlich –da sind wir uns einig – das Letzte, was wir gebrauchenkönnen .
Aber wir brauchen auch mehr als einen kalten Frieden .Vielen Dank .
Nächster Redner ist der Kollege Alois Karl .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen desDeutschen Bundestages! Sehr geehrte Herren Botschaf-ter! Wir gedenken heute des 75 . Jahrestages des Über-falls der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion . Diesbringt unsere Gedanken zurück an die schlimmsten Nie-derungen der Aggressionspolitik des Zweiten Weltkrie-ges: an das Unternehmen Barbarossa . Sehr vieles ist überdiesen Überfall gesprochen worden . Die historischen Da-ten sind bekannt . Den Historikern kann nicht viel Neueshinzugefügt werden; aber die Schlussfolgerungen für dieAnkerpunkte unserer Politik – die doch .Die Furie des Krieges und der Wahnsinn des Vernich-tungskrieges haben Millionen, Abermillionen Menschenden Tod gebracht . Sie wurden in ihrer Gesundheit ge-schädigt, und sie wurden verwundet . Ich denke auch zu-rück an meinen eigenen Vater, der damals in Stalingradals einer der Letzten ausgeflogen worden ist, schwerst-verwundet und völlig erblindet . Ich denke auch an die-jenigen, die gesehen haben, wie ihre Heimat vernichtetworden ist, die obdachlos geworden sind und die vertrie-ben wurden .Mit ohnmächtigem Schmerz denken wir an die26,6 Millionen Toten, die die Sowjetunion am Ende desZweiten Weltkrieges beklagen musste – etwa 11,4 Milli-onen gefallene Soldaten, etwa 15,2 Millionen zivile Op-fer –, eine völlig unfassbare, unglaubliche Zahl . Dies hates in der Weltgeschichte, meine Damen und Herren, bisdahin nie gegeben .Wir denken voll Entsetzen auch an die 2,5 MillionenMenschen jüdischen Glaubens zurück, die während derdeutschen Besatzungszeit in der Sowjetunion ums Lebenkamen . In der gleichen Weise trauern wir auch um diedeutschen Soldaten: knapp 6 Millionen, die Hälfte davonan der Ostfront . Ich denke auch an die 2 Millionen To-ten, die während der Flüchtlingszüge nach dem ZweitenWeltkrieg ihr Leben gelassen haben .All dies waren Ereignisse des Überfalls Deutschlandsauf die Sowjetunion . Dieser hatte verbrecherische Ziele .Es war der ungeheuerlichste Eroberungs-, Versklavungs-und Vernichtungskrieg, den die moderne Geschichte jegesehen hat . Aber blieben wir beim Erinnern an diesehistorischen Fakten stehen, dann würden wir unsere Auf-gabe nicht erfüllen . Bei der bloßen Aufzählung kann esnicht bleiben .Die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges sind we-der beschreibbar noch fassbar . Gewiss haben wir keineindividuelle Schuld; das ist ja schon aufgrund unseresLebensalters nicht möglich . Aber ich greife ein Wortdes früheren Bundespräsidenten Professor Dr . TheodorHeuss auf, der für Deutschland eine kollektive Schuldverneint hat . Im gleichen Atemzug hat er aber von derkollektiven Scham der Deutschen gesprochen .Vielleicht ist der Mensch nie so sehr Mensch wie indem Augenblick, wo er sagt: Ich schäme mich . – DiesesWort von Bertolt Brecht ist in der Tat richtig, und er hatrecht . Niemand außer dem Menschen selbst kann Schamempfinden. Scham ist eine zutiefst menschliche Regung.Theodor Heuss hat dies für die Deutschen akzeptiert undes so ausgesprochen .Der Überfall auf die Sowjetunion durch die deutscheWehrmacht hatte eine Vorgeschichte . Ihm ging der Hit-ler-Stalin-Pakt voraus; Herr Gysi hat es angesprochen .Die Außenminister Joachim von Ribbentrop und Molo-tow haben den Nichtangriffspakt zwischen Deutschlandund der Sowjetunion geschlossen – mit geheimen Zu-satzabkommen –, später dann den Deutsch-SowjetischenGrenz- und Freundschaftsvertrag .Bernhard Kaster
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Die beiden totalitären Regime, das nationalsozialis-tische Regime in Deutschland und das kommunistischeSowjetsystem, waren sich einig: Große Teile Ost- undNordeuropas sollten in ihre Interessensphären aufgeteiltwerden . Fünf Länder Europas sollten ihrer Freiheitsrech-te, ihrer Souveränität, ihrer Selbstbestimmungsrechteberaubt werden . Litauen, Lettland, Estland und Finnlandsollten unter die sowjetische Interessenssphäre kommen;Polen sollte entlang der Linien der Flüsse Narew undWeichsel in deutsche und sowjetische Interessensphärengeteilt werden . Die Länder waren Spielball der Aggres-soren .Entsprechend diesem Abkommen besetzte die RoteArmee 1940 die baltischen Staaten, 1941 dann die Deut-schen, und 1944 wurden sie wieder von russischen Trup-pen besetzt . 45 Jahre lang blieben die baltischen Staatendann in Unfreiheit, und erst vor 25 Jahren konnten sieihre Freiheit nach blutigen Kämpfen wiedererlangen .Ich führe das deshalb etwas näher aus, weil ich erstvor einer Woche mit einer Delegationsreise im Baltikumwar . Auch die Balten haben in der letzten Woche eines75 . Jahrestages gedacht . Staatspräsident Vejonis und diehohen Vertreter des Landes, viele Diplomaten und Hun-derte von Bürgern haben an diesem Gedenktag Kränzeund Blumen niedergelegt und daran gedacht, dass exaktvor 75 Jahren Tausende Letten vom sowjetischen Ge-heimdienst in die Gulags und später von den Deutschenin die Vernichtungslager von Auschwitz und Birkenauabtransportiert worden sind .Eine alte Frau hielt ein Schild hoch und hat auf dieOpfer von beiden Regimen hingewiesen . Diese Frauwollte nicht aufrechnen – womit hätte sie auch aufrech-nen sollen? –, aber sie hat darauf verwiesen, dass es dieOpfer in ihrem Heimatland aufgrund der beiden aggres-siven Regime gegeben hat .Zum Schluss bleibt die Frage: Welche Konsequenzenziehen wir? Nachkriegsdeutschland hat von Anfang andie richtigen und guten Schlüsse gezogen . JeglichemKrieg und jeglicher Aggression haben wir abgeschworen,und um das Beispiel Baltikum noch einmal anzuspre-chen: Aus früheren Gegnern und Feinden sind Freundegeworden .Wir wissen: Die Millionen von Toten dürfen nicht dasletzte Wort sein . Die Aggression, die blindwütige Hybrisder Menschenverachtung, die Ideologie, wonach sich dieeine Rasse über eine andere Rasse erhöht, der Wahnsinn,wonach es der einen Rasse gestattet sein soll, sich alsHerrenrasse aufzuspielen: Aus all dem haben wir unserenachhaltigen Lektionen gelernt .Meine sehr geehrten Damen und Herren, dauerhafteAnkerpunkte unserer Politik sind die Freundschaften mitden früheren Gegnern und Feinden . In den letzten 70 Jah-ren ist dies in Deutschland in der Tat Gegenstand der Po-litik gewesen . Es war bzw . ist das Credo der Politik vonKonrad Adenauer, von Willy Brandt, von Helmut Kohlund von Angela Merkel, dass wir aus diesen schlimmenAuseinandersetzungen und Niederungen vor 75 Jahrenunsere Schlüsse gezogen haben .Ich bin sehr dankbar, dass wir auch in kleinen Schrit-ten die deutsch-russische Freundschaft miteinanderpflegen. Außenminister Steinmeier hat auf die StiftungDeutsch-Russischer Jugendaustausch hingewiesen, undder Kollege Kastner wies darauf hin, dass wir in diesemJahr das Jahr des Jugendaustausches zwischen uns undRussland begehen .Ich danke all denen, die in diesem Jahr Veranstaltun-gen durchführen – sei es beispielsweise das DeutscheHistorische Museum oder das Deutsch-Russische Mu-seum –, zum Beispiel am Sowjetischen Ehrenmal imTiergarten . Ich danke auch denen, die mit vielen kleinenSchritten dazu beitragen, dass die großen Linien der Po-litik fortgetragen werden .Ich danke Ihnen sehr herzlich .
Letzte Rednerin ist die Kollegin Elisabeth Motschmann
für die CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Mit insgesamt 60 bis 70 Millionen Toten stehtder Zweite Weltkrieg für die Tragödie des 20 . Jahrhun-derts schlechthin . 27 Millionen Tote – das ist wiederholtgenannt worden – musste allein die Sowjetunion bekla-gen, die wir vor 75 Jahren überfallen haben . Nicht ein-bezogen in diese Zahlen der Toten sind die Männer undFrauen, Kinder und Alte, die unter diesem Krieg massivzu leiden hatten . Hunger, Kälte, Krankheit, Flucht undVertreibung zählen zur traurigen Bilanz dieses Krieges .Ebenfalls zur Bilanz dieses Krieges zählt ein grausamerRassismus und Antisemitismus .Deutschland hat diesen Krieg 1941 – eigentlich aberschon 1939 – begonnen . Unser Volk hat damals großeSchuld auf sich geladen und großes Leid über ganz Eu-ropa gebracht . Das steht vor der Klammer jeder Diskus-sion und Erinnerung an diese Zeit . Diese Vergangenheitverjährt nicht .Die Grausamkeit dieses Krieges stand mir schon alsKind deutlich vor Augen . Mein Vater hat als ganz jun-ger Soldat – leider! – an diesem Krieg teilgenommen;vielleicht musste er teilnehmen . Er wurde mit 27 Jah-ren schwer verwundet: Ein Bein wurde amputiert . – DieKriegsschuldfrage stellt sich einem Kind noch nicht .Aber eines hat sich fest in meine Seele eingebrannt:Krieg darf es niemals wieder geben, schon gar nicht vondeutschem Boden aus .
Krieg kann kein Mittel zur Lösung von Konflikten zwi-schen Völkern sein . Hierin liegt die Mahnung für unsheute . Krieg ist kein Mittel der Politik .Wenn das richtig ist, darf der Gesprächsfaden, der Di-alog zwischen den Völkern niemals abreißen . Das giltunabhängig davon, ob uns ein Regime, ein Staatsober-Alois Karl
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haupt gefällt oder nicht . Politische Verhandlungen sindtatsächlich alternativlos, und das, Herr Außenminister,bestreitet, glaube ich, niemand hier im Raum . Diese Ba-lance zwischen Dialog und Abschreckung muss gehaltenwerden . Hierfür wird von unserer Seite viel getan . MitBlick auf die Zukunft kann die Vergangenheitsbewälti-gung – auch das will ich hier noch einmal deutlich sa-gen – durch den Austausch von Studenten und Schülerngut vorangebracht werden; denn das trägt zur Völkerver-ständigung bei . Unsere kommenden Generationen wer-den es dann im Dialog leichter haben .Krieg ist kein Mittel der Politik . Leider sehen das nichtalle so . Die vielen Krisen und Kriege in der Welt zei-gen, dass Präsidenten, Diktatoren und Despoten immerwieder Kriege zur Durchsetzung ihrer Interessen führen .Assad, der IS, aber auch Putin, wenn ich an die Krimund den Donbass denke, führen uns dies täglich vor Au-gen . Deshalb ist es wichtig, dass wir verteidigungsbereitbleiben . Deshalb brauchen wir unsere Bundeswehr unddie NATO . Deshalb müssen wir unseren Soldaten jedeUnterstützung zukommen lassen . Sie sind bereit, notfallsmit ihrem Leben unseren Frieden, unsere Freiheit, unserLand und unsere Partner zu verteidigen . Deshalb habeich das Wort „Säbelrasseln“ nicht verstanden . Das istkein Säbelrasseln .
Ich möchte mir nicht ausdenken, wie sich ein Soldatim Manöver fühlt, wenn das, was er tut, was er für unstut, als „Säbelrasseln“ bezeichnet wird . Ich möchte mirauch nicht vorstellen, wie die osteuropäischen LänderPolen, Lettland, Estland oder Litauen reagieren, wennsie den Eindruck bekommen, dass ihre Verteidigung als„Säbelrasseln“ bezeichnet wird . Diese schätzen Sie, HerrBundesaußenminister . Sie zählen, wie oft Sie da waren:Sie waren in dieser Legislatur sechsmal im Baltikum . Ichglaube, Ihre Bemerkung hat leider Irritationen ausgelöst .Diese Länder bauen auf uns, auf die NATO, auf die EU .Sie haben Angst, dass auch sie Opfer des Machtstrebensihres russischen Nachbarn werden können . Wir haben esin der letzten Woche hautnah in Narva erlebt, wo es nurdiese Brücke zwischen der einen oder der anderen Seitegibt .Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg fiel vielenMenschen die Aufarbeitung zunächst schwer . Sie warenvielleicht zu sehr selbst betroffen und verstrickt in dasNaziregime, als dass sie zu einer verantwortungsvollenAufarbeitung der NS-Vergangenheit hätten finden kön-nen . Inzwischen hat sich das grundlegend verändert .Deutschland hat sich dieser Verantwortung gestellt . Wirhaben diesen Teil unserer Geschichte sorgfältig aufgear-beitet . Deshalb ist sie uns sehr präsent und muss sie unsund nachfolgenden Generationen präsent bleiben .Das zeigen unter anderem die vielen Erinnerungsor-te, Veranstaltungen und Publikationen . Das zeigt sich inunserer wissenschaftlichen Aufarbeitung und Forschung .Das zeigt sich im Geschichtsunterricht in unseren Schu-len . Aber so wichtig es ist, die Vergangenheit als Mah-nung – jetzt mahnt mich der Präsident mit Blick auf mei-ne Redezeit – für die Zukunft wachzuhalten, so sehr giltdas Wort des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard,mit dem ich hier schließen möchte:Das Leben kann nur mit dem Blick zurück verstan-den werden, aber gelebt werden kann es nur mitdem Blick nach vorn .Vielen Dank .
Ich schließe die Aussprache .
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesord-
nung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Donnerstag, den 23 . Juni 2016, 9 Uhr,
ein .
Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen noch
einen hoffentlich angenehmen, vielleicht sogar gemütli-
chen Abend .