Gesamtes Protokol
Liebe Kolleginnen und Kollegen, guten Tag! Ich heißeSie herzlich willkommen .Die Sitzung ist eröffnet .Zunächst habe ich noch eine amtliche Mitteilung zuverlesen . Interfraktionell ist vereinbart worden, den An-trag auf Drucksache 18/7651 mit dem Titel „Integrationist gelebte Demokratie und stärkt den sozialen Zusam-menhalt“ nunmehr dem Ausschuss für Arbeit und So-ziales zur Federführung und dem Innenausschuss zurMitberatung zu überweisen . Des Weiteren soll der An-trag auf der Drucksache 18/8396 mit dem Titel „Braun-kohlesanierung durch die Lausitzer und MitteldeutscheBergbau-Verwaltungsgesellschaft mbH fortsetzen“ demAusschuss für Wirtschaft und Energie zur Mitberatungüberwiesen werden . Sind Sie damit einverstanden? – Ichhöre keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:Befragung der BundesregierungDie Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-binettssitzung mitgeteilt: Entwurf eines Berichts derBundesregierung zur weltweiten Lage der Religions-und Weltanschauungsfreiheit.Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Berichthat der Bundesminister des Auswärtigen, Herr Dr . Frank-Walter Steinmeier .Bevor ich Herrn Steinmeier das Wort erteile, habeich noch einen Hinweis: Ich bitte die ParlamentarischenGeschäftsführer der Fraktionen, uns die Rednerlisten, so-weit sie vorhanden sind, mitzuteilen . Das erleichtert an-schließend das Verfahren . Es wäre sehr schön, wenn Siedas machen könnten .Dann hat der Außenminister Frank-Walter Steinmeierdas Wort .Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Das Bundeskabinett hat heute den Bericht zurweltweiten Lage der Religions- und Weltanschauungs-freiheit verabschiedet . Der Deutsche Bundestag hat die-sen Bericht angefordert . Deshalb ergreife ich gerne dieGelegenheit, einige der Ergebnisse zu präsentieren .Der Bericht, meine Damen und Herren, gibt einenbreiten Überblick über weltweit vorkommende Verlet-zungen der Religionsfreiheit . Er fächert auf, welch viel-fältige Formen die Einschränkung von Religionsfreiheitannehmen kann: von administrativen Hindernissen beider Eheschließung oder beim Bau eines Gebetshausesbis hin zu drakonischen Strafen beim Glaubenswechselwie der Todesstrafe . Der Bericht stellt aber ebenso auchpositive Bemühungen dar, die Religionsfreiheit zu schüt-zen . Er liefert auch Beispiele, die andernorts vielleichtals Vorbild dienen könnten .Dem Bericht voraus gingen intensive Beratungen mitverschiedenen Experten, allen voran mit dem Sonderbe-richterstatter der Vereinten Nationen für die Religions-freiheit, Herrn Professor Bielefeldt, dem ich an dieserStelle für seine Tätigkeit und Beratung noch einmal herz-lich danken möchte .
Darüber hinaus haben wir auch eigene Datenerhebungenan über 90 Auslandsvertretungen durchgeführt, deren Er-gebnisse den Kern des Berichts bilden . Schließlich habenwir die umfassenden Länderanalysen, die etwa die EU,das EU-Parlament und die USA regelmäßig vorlegen,ausgewertet und in diesen Bericht mit einbezogen .Auf dieser Grundlage setzt sich der Bericht systema-tisch mit grundlegenden Fragen der Religionsfreiheitauseinander: Worin besteht eigentlich genau das Men-schenrecht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit?Wie sehen typische Verletzungen aus? Wie wird Religionzur Rechtfertigung von Gewalt und Unterdrückung miss-braucht? Mit diesem Fokus ist der Bericht ein Novum .Ich glaube, er leistet einen echten Mehrwert zu einer in-formierten und differenzierten Debatte über ein Thema,das sich für ganz schnelle Thesen und holzschnittartige
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Verkürzungen wenig eignet . Zur Illustrierung einige we-nige Beispiele aus dem Bericht:Erstens zeigen unsere Ergebnisse: Rechtsverletzungenmehr oder minder schwerer Natur finden keineswegs nurin bestimmten Regionen und Rechtssystemen, sondernweltweit und durch alle Rechtssysteme hindurch statt,auch wenn einzelne Religionsgemeinschaften in einigenStaaten ganz besonders und erheblich unter Druck ste-hen .Zweitens zeigt der Bericht: Die Einschränkungen derReligionsfreiheit können Ergebnis gezielter Politik sein,etwa wenn die Mehrheitsreligion ihren Wahrheitsan-spruch staatlich verankert hat und durchsetzt . Das mussaber nicht der Grund sein . Zunehmend sehen wir auch –vor allen Dingen ist die Tendenz steigend –, dass geradeschwache Staatlichkeit, Korruption und wirtschaftlicheFaktoren für mangelnden Schutz von Religionsgemein-schaften verantwortlich sind . Insbesondere gilt das imNahen und Mittleren Osten und in Teilen Nordafrikas .Es begünstigt eben dort auch die Ausbreitung extremis-tischer und terroristischer Organisationen . Religiös be-gründete Gewalt, Zerstörung und Vertreibung sind dieFolge . Die IS-Gräueltaten sind dafür ein erschreckendesBeispiel . Betroffen davon sind sowohl religiöse Minder-heiten – Jesiden, Christen und andere –, aber auch An-gehörige der Mehrheitsgesellschaft oder der Mehrheits-religion . Man denke etwa an die Muslime im NordenNigerias oder die Sunniten in Syrien .Drittens beschreibt der Bericht gegenläufige Ent-wicklungen, was die Durchsetzung des Menschenrechtsauf Religions- und Weltanschauungsfreiheit betrifft .Während einerseits die Verrechtlichung voranschreitet,das Recht auf Religionsfreiheit in immer mehr Staatenprinzipiell gewährt wird, sehen wir gleichzeitig die ent-gegengesetzte Tendenz, die Universalität des Menschen-rechts infrage zu stellen, Religion etwa über alle Kritikzu erheben und Religionskritik pauschal als Rassismusabzustempeln .Schon diese drei Beispiele mögen ausreichen, um zubelegen: Schwarz-weiß ist das Bild nicht, wenn man dieBeachtung der Religionsfreiheit auf der Welt betrachtet,sondern es ist gerechtfertigt, zu versuchen – wie in demBericht getan –, durch Typologisierungen und Kategori-sierungen unsere Erkenntnisse zu gewinnen . Da zeichnetsich eben ein umfangreiches, zum Teil widersprüchli-ches, aber vielleicht auch gerade deshalb vollständigeresBild der Lage der Religionsfreiheit in den Staaten derWelt ab .Zum vollständigen Bild gehört allerdings auch: UmReligionsfreiheit wirkungsvoll voranzubringen, reicht esnicht, mit dem Finger auf andere zu zeigen; wir müssenden Blick auch nach innen richten . Antisemitismus, po-pulistische Gleichsetzung von Muslimen und Terroristen,Angriffe auf Christen in Flüchtlingslagern – das findetnicht nur jenseits unserer Grenzen statt, sondern leiderauch in unserem eigenen Land . Das sollten wir bei derganzen Diskussion um Religionsfreiheit am Ende auchnicht vergessen .Bei aller Notwendigkeit der Differenzierung, die ichjetzt betont habe: Der Bericht liefert natürlich auch ein-deutige Befunde, darunter vor allem die Beobachtung,dass religiöser Fanatismus und das Schüren konfessio-neller Gegensätze weltweit Brandbeschleuniger in denKonflikten sind. Da muss Außenpolitik aktiv werden.Unser Einsatz für Religionsfreiheit ist ein wichtiger Bau-stein im Rahmen von Frühwarnung, Krisenpräventionund Stabilisierung . Gerade in diesen Bereichen habenwir im Auswärtigen Amt, meistens in Zusammenarbeitmit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung, unsere Anstrengungendeutlich verstärkt . In Ländern wie Pakistan, Libanon, Ni-geria oder den Philippinen unterstützen die beiden ebengenannten Ministerien gemeinsam gezielt solche Projek-te, die Dialog und Kooperation zwischen den religiösenGruppen fördern .Zum Schluss: Auch in politischen Gesprächen – obin Syrien, Irak, Mali –, also nicht nur durch Projektför-derung, geht es immer wieder darum, religiös bedingteKonflikte zu entschärfen und die Gruppen in einen ech-ten Dialog miteinander zu bringen . Der Religionsberichtzeigt, dass dies der richtige und möglicherweise einzigeWeg ist, um Gesellschaften dauerhaft zu befrieden . Aberder Bericht zeigt eben auch, wie weit wir von diesem Zielnoch entfernt sind .Vielen Dank .
Vielen Dank, Herr Außenminister .
Ich bitte, zunächst Fragen zu dem Themenbereich zu
stellen, über den soeben berichtet wurde . Es liegen mir
jetzt schon mehrere Wortmeldungen vor . Zunächst hat
der Kollege Dr . Franz Josef Jung das Wort .
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister, zunächst möchte ich Ihnen herzlich fürdiesen Bericht danken, der uns durch seine umfangrei-che Darstellung ermöglicht, die Situation zu erfassen . Ichhabe dazu zwei Nachfragen .Erstens . Im Bericht haben Sie nicht nach entsprechen-den Verletzungen der Religionsfreiheit in den einzelnenLändern aufgegliedert . Dadurch kommen natürlich un-terschiedliche Gewichtungen – als Beispiel nenne ichLänder wie China oder Nordkorea – nicht zum Ausdruck .Gibt es Gründe, weshalb eine derartige Aufgliederungnicht erfolgt ist?Der zweite Punkt . Es wird ja berichtet, dass über100 Millionen Christen wegen ihrer Religion verfolgtwerden. Auch das findet im Bericht nicht die entspre-chende Erwähnung . Gibt es dafür Gründe, bzw . könntenSie noch konkretisieren, ob eine derartige Verfolgung zu-treffend ist?Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:Erstens haben wir uns sehr genau überlegt, worin derMehrwert eines solchen Berichtes an den DeutschenBundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
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Bundestag liegen könnte . Wir wollten nicht einfach nurBerichte aus der Vergangenheit wiederholen, die schonexistieren und immer wieder fortgeschrieben werden . Wodas der Fall ist, habe ich eben gesagt . Es ging uns also indiesem Bericht nicht darum, sozusagen ein Länderran-king anzustellen, sondern darum, durch Typologisierun-gen und Kategorisierungen der Rechtsverletzungen deut-lich zu machen: Was heißt eigentlich Rechtsverletzung?Wo haben wir Tendenzen, die möglicherweise nur Aus-druck administrativer Schwierigkeiten sind, und wo gehtes hin bis zu drastischen Strafmaßnahmen? Da gibt eseine ganze Reihe von möglichen Verletzungen der Re-ligionsfreiheit, von Beeinträchtigungen der Religions-freiheit, die man nicht völlig über einen Kamm scherenkann und bei denen man am Ende, was die Lage der Re-ligionsfreiheit in einem Land angeht, auch nicht zu demErgebnis kommen kann: gut oder schlecht .Ansonsten werden Sie aber bei der Lektüre diesesBerichtes feststellen, dass wir bei jeder Kategorie unter-schiedlicher Rechtsverletzungen mit Länderbeispielenarbeiten . Sie, Herr Kollege, erwarten, glaube ich, dassdarin auch deutlich wird, welche Staaten zu denjenigengehören, die Religionsfreiheit in geringerem Maße res-pektieren . Das kann man daran feststellen, dass mancheStaaten eben sehr häufig auftauchen; dazu gehören etwaChina, Nordkorea, Saudi-Arabien und der Iran . Insofernmacht dieser Bericht schon deutlich, wo wir Religions-freiheit am stärksten beeinträchtigt sehen .Die Lage der Christen wird in diesem Bericht auchumfangreich gewürdigt, und zwar nicht nur in den Passa-gen über den Irak oder insbesondere in der Passage überSyrien . Auch Ägypten, ein Land, das Ihr Fraktionsvorsit-zender aus seinen Besuchen sehr gut kennt, wird dort be-handelt, was die Behandlung der Christen angeht, sogarpositiv erwähnt .
Vielen Dank . – Als nächster Fragesteller hat der Kol-
lege Gehrcke das Wort .
Herzlichen Dank, Herr Außenminister, für Ihre Vor-
stellung des Berichtes . Die Vorstellung hat neugierig ge-
macht. Ich bin gespannt auf den Bericht. Vielleicht fin-
den wir eine Form, über dieses Thema auch im Plenum
miteinander zu debattieren, ohne dass man meint, sich
gegenseitig von seiner oder seiner vermeintlichen Reli-
gion überzeugen zu müssen . Ich möchte gerne eine sehr
offene Debatte darüber führen .
Ich bin auch dankbar, dass Sie den Bericht über-
schrieben haben mit: weltweite Lage der Religions- und
Weltanschauungsfreiheit . Diese Begriffe sind ja nicht
identisch . Dass Sie die Frage der Freiheit der Weltan-
schauung in diesem Rang hier erwähnt haben, ermöglicht
viele weitere Debatten .
Sehen Sie eine Chance, dass man sich überall, unab-
hängig davon, was man politisch will, dagegen wehrt und
zur Wehr setzt, dass Religion zur Begründung von Krie-
gen und Gewalt missbraucht wird? Wir brauchen da nicht
nur in den Nahen Osten zu schauen; es gibt viele Länder,
wo das der Fall ist . Wenn das das Ergebnis sein könnte,
dann hätten wir etwas geleistet .
Vielen Dank . – Herr Minister .
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:
Ich kann Ihnen nicht – und das erwarten Sie auch
nicht – eine Art Garantie dafür geben, dass wir mit ei-
ner solchen Politik Erfolg haben werden . Aber vielleicht
lässt sich doch an einem Beispiel illustrieren, dass genau
das unser Ansatz ist . Schauen Sie sich an, dass wir den
Einstieg in Verhandlungen über politische Lösungen für
Syrien über die Aussagen gefunden haben, dass wir ers-
tens die Einheit des Landes erhalten wollen und zwei-
tens die Säkularität des Landes erhalten und nicht einer
religiösen Gruppe die Gestaltung der Zukunft Syriens
überlassen wollen . Genau dieser unser Ansatz steht also
dahinter .
Ich meine, Syrien war im Nahen und Mittleren Osten
ja das Land, in dem religiöse Gruppierungen bis vor ei-
niger Zeit in größter Vielfalt nebeneinander lebten, nicht
unbedingt miteinander, aber doch nebeneinander . Das ist
verloren gegangen . Das hat auch zur Folge gehabt, dass
etwa zwei Drittel der Christen, die in diesem Land leb-
ten, das Land mittlerweile verlassen haben . Wir haben
kein Interesse daran, dass das verbliebene Drittel Syrien
auch noch verlässt . Deshalb versuchen wir, bei der Wie-
dergewinnung von Staatlichkeit eben auch dafür zu sor-
gen, dass eine neue syrische Verfassung das Miteinander,
mindestens die Koexistenz von Religionsgemeinschaften
sicherstellt .
Ansonsten stellen wir in einigen Staaten fest – nehmen
wir einmal Zentralasien –, dass die Befürchtungen vor
religiös motivierten Radikalisierungen dazu führen, dass
man die Säkularität dort eher noch genauer betont .
Ein Drittes will ich noch sagen: Dieser Bericht ist ein
Bericht über die Lage der Religionsfreiheit, aber auch
über die Lage der Freiheit von Weltanschauungen . Des-
halb gehörte aus unserer Sicht in diesen Bericht nicht nur
die Beschreibung der Lage derjenigen, denen in einigen
Staaten möglicherweise eine Bestrafung droht, weil sie
einem anderen Glauben zuneigen, sondern natürlich
auch die Beschreibung der Lage derjenigen, die keinem
Glauben angehören wollen . Damit meine ich nicht die
Lage der Konvertiten, sondern die Lage derjenigen, die
ihren Glauben verloren haben und zukünftig weder einer
monotheistischen Religion anhängen noch eine andere
religiöse Orientierung haben . Religionsfreiheit und Welt-
anschauungsfreiheit gehören also zusammen . So ist es
in diesem Bericht auch angelegt . Wenn ich mich recht
erinnere, war das auch der Wunsch des Deutschen Bun-
destages .
Als nächste Fragestellerin hat Kerstin Griese das Wort .Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
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Herr Außenminister, ich will mich auch im Namen
meiner Fraktion sehr herzlich dafür bedanken, dass Sie
auf diesen fast interfraktionellen Antrag – der Kollege
Jung, der Kollege Beck und ich haben ihn als Kirchen-
und Religionsbeauftragte im Namen unserer drei Frakti-
onen gestellt – so schnell reagiert haben . Sie hatten bis
zum 30 . Juni 2016 Zeit . Sie sind nun schon früher fertig
geworden und haben den Bericht, der in der Tat sehr inte-
ressant zu lesen sein wird, jetzt schon vorgelegt .
Wir haben in unserem Antrag darauf hingewiesen,
dass die Religions- und Glaubensfreiheit ein elementares
Menschenrecht ist . Die Glaubens- und Gewissensfreiheit
ist ja auch in Artikel 4 unseres Grundgesetzes eindeutig
festgeschrieben . Deshalb war es uns so wichtig, einmal
einen allgemeinen Bericht zu erhalten . Nach der kurzen
Vorstellung des Berichts will ich mich schon jetzt aus-
drücklich für die Differenziertheit des Berichts bedan-
ken; denn wir alle wissen, dass dieses Thema manchmal
undifferenzierter erforscht und präsentiert wird . Deshalb
herzlichen Dank dafür .
Sie haben angesprochen, dass sich die Bundesregie-
rung in vielen Projekten für die Religionsfreiheit, für die
Glaubens- und Gewissensfreiheit einsetzt . Sie haben ge-
sagt, dass das Auswärtige Amt gemeinsam mit dem BMZ
konkrete Projekte durchführt . Dazu habe ich eine ganz
konkrete Nachfrage: Gerade angesichts der schwierigen
und konfliktbeladenen Situation in den Ländern, die Sie
angesprochen haben, in denen, wie Sie gesagt haben,
der religiöse Fanatismus oft die Ursache für Krieg und
Gewalt ist, wäre es interessant, zu wissen, an welchen
konkreten Projekten das Auswärtige Amt diesbezüglich
aktiv beteiligt ist .
Herr Minister .
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:
Ich hatte eben schon gesagt, dass das zum Teil Projek-
te des Auswärtigen Amts sind . Überwiegend führen wir
sie gemeinsam oder in Absprache mit dem BMZ durch .
Sie widmen sich allesamt gezielt dem religiösen Dialog
und der Verständigung . Die Projekte reichen, wenn ich
einige herausgreifen darf, von der Verbreitung moderater
islamischer Literatur, etwa in Pakistan, über die Beratung
im Zusammenhang mit Landkonflikten, insbesondere im
Norden Nigerias – Ähnliches gibt es auch auf den Phi-
lippinen –, bis hin zu Hochschulprojekten mit Studenten
unterschiedlicher Konfessionen, beispielsweise in Indo-
nesien, einem Land, dem, was die Förderung des Dialogs
zwischen den Religionen angeht, ganz besondere Auf-
merksamkeit zukommt .
Man darf aber nicht nur auf die Projekte schauen, bei
denen Religion sozusagen ausdrücklich in der Über-
schrift steht. Bei religiös aufgeladenen Konflikten geht
es manchmal gerade darum, Dialog etwas subtiler zu för-
dern und nicht sozusagen sofort auf das Kernhindernis
zuzusteuern, was möglicherweise zwei Gruppierungen
trennt oder jedenfalls nicht ins Gespräch bringt . Insofern
ist manchmal erst der vorbereitende Dialog notwendig,
um anschließend vielleicht auch Gespräche über die je-
weilige Religionszugehörigkeit zu führen .
Auch ein Projekt wie die Beratung der malischen
Regierung ist wichtig; wir beraten sie im Augenblick in
Fragen der Verfassungsreform . Dort wird von uns auf-
grund unserer Erfahrungen in Deutschland – ich war jetzt
gerade dort und habe das deshalb noch gut im Ohr – vor
allen Dingen erwartet, dass wir zeigen, wie unsere Erfah-
rungen der Dezentralisierung – das meint nicht in erster
Linie Föderalismus, sondern, wie wir es nennen würden,
die Selbstverwaltung der Gemeinden – in intelligenter
Form auch auf malische Verhältnisse übertragen werden
können . Auch das könnte geeignet sein, um religiöse
Spannungen in einem Land wie Mali zu reduzieren .
Vielen Dank . – Volker Beck hat als Nächster das Wort .
Zunächst vielen Dank, Herr Bundesaußenminister, fürdiesen Bericht, den wir allerdings noch nicht kennen . Eswäre noch schöner gewesen, wenn er allen Fraktionenvor dieser Befragung der Bundesregierung zur Verfü-gung gestanden hätte; denn ich muss jetzt ein bisschenins Blaue hineinfragen, anders als Herr Jung, der auf denBericht ausdrücklich Bezug nehmen konnte . Dabei wa-ren wir eine der antragstellenden Fraktionen – aus vollemHerzen .Ich frage Sie – wir werden das in diesem Hohen Hausein dieser Wahlperiode ja vermutlich auch noch debattie-ren –, ob es nicht eine kluge Idee wäre, eine solche Grund-lage für Debatten über die Religions- und Glaubensfrei-heit in jeder Wahlperiode oder in anderer regelmäßigerForm zu haben . Ich glaube, dass dann ein Follow-up derEntwicklungen in den einzelnen Ländern leichter mög-lich ist und auch Signale des Bundestages an diese Län-der möglich werden, wenn wir eine Verschlechterung derReligionsfreiheit feststellen . Das wäre eine Frage .Zu dem Dialog mit Herrn Gehrcke möchte ich ger-ne bemerken: Ich glaube, man könnte auf die Frage derReligions-, Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit ei-nen stärkeren Fokus bei unserer diplomatischen Arbeitin Genf im Umfeld des Menschenrechtsrates und andererUN-Agenturen, die dort ihren Sitz haben, legen . Dennalle Weltreligionen sind irgendwo in der Mehrheit undwoanders in der Minderheit . Deshalb sind eigentlich alleGläubigen darauf angewiesen, dass die Religions- undGlaubensfreiheit ihrer Schwestern und Brüder in anderenLändern respektiert wird . Das könnte doch eine Dialog-grundlage zwischen Staaten und auch zwischen Religio-nen sein .Lassen Sie mich noch kurz nachfragen, weil ich denBericht eben nicht kenne: Was enthält der Bericht zurEntwicklung der Situation der Bahai im Iran und inÄgypten, der Sikhs in Indien und zur Entwicklung derSituation für die Christen in der Türkei, in Syrien, im Iranund in Saudi-Arabien?
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Herr Außenminister, Sie haben das Wort .
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:
Herr Beck, darf ich nachfragen: Was war das Letzte?
Die letzte Passage war zu Iran und Ägypten, oder?
Das Letzte im Sinne von last, but not least war die
Situation der Christen in der Türkei, in Syrien, im Iran
und in Saudi-Arabien .
Herr Außenminister .Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:Herr Kollege, erst einmal bin ich dankbar, dass Siedie Frage aufgeworfen haben, wie wir mit dem Berichtin Zukunft weiter umgehen . Bevor wir eine Antwortdarauf geben, ob wir das jetzt alle zwei Jahre oder allevier Jahre bzw . einmal in der Legislaturperiode machen,stellt sich noch eine andere Frage, über die Sie unterei-nander diskutieren werden – da will ich mich jetzt auchgar nicht einmischen –: Ist es auf Dauer eigentlich derrichtige Weg, diesen Bericht über Religionsfreiheit iso-liert zu halten? Oder ist die Religionsfreiheit nicht stär-ker im Zusammenhang mit der Wahrung und Beachtungder Menschenrechte insgesamt zu sehen? Manchmalbzw . meistens korreliert das miteinander . Aber oft gibtes eben auch unterschiedliche Aspekte, sodass die Miss-achtung der Religionsfreiheit Ausdruck einer besondersdrastischen Einschränkung von Menschenrechten ist, diewir in demselben Staat in anderen Bereichen gar nicht sosehr sehen . Ich will mich da jetzt gar nicht einmischen,aber es ist zumindest eine diskussionswürdige Frage, obman diesen Bericht in Zukunft weiterhin isoliert hält oderob man ihn als Bestandteil eines Berichtes über die Men-schenrechtslage hält .Das Zweite ist – ich komme zum Kern Ihrer Frage –:Wenn Sie sich dafür entscheiden, dass weiterhin von derBundesregierung erwartet wird, einen solchen Bericht zuerstellen, dann halte ich es in der Tat für richtig, es ineinem Vierjahresrhythmus zu machen . Ihrem Vorschlag,dass wir den Menschenrechtsrat und unsere Aktivitätenin Genf stärker dafür nutzen sollten, muss ich Ihnen ent-gegnen – da können Sie auch jemanden wie den Sonder-berichterstatter der Vereinten Nationen befragen –: Wirhaben unseren jüngst erst zu Ende gegangenen Vorsitzim Menschenrechtsrat durch Botschafter Rücker genutzt,um auch die Religionsfreiheit immer wieder zu einemThema zu machen . Das ist von den Beteiligten auch inhohem Maße anerkannt worden .Haben Sie, was die Gruppierungen betrifft, bitte Ver-ständnis, dass ich jetzt nicht alle genannten Gruppierun-gen durchgehe . Ich glaube aber, die Lage der Bahai, ins-besondere im Iran, ist eine Frage, die zum Beispiel vonbesonderem Interesse ist .
Es ist bekannt, dass Religionsfreiheit für die Bahai dortnur in sehr, sehr eingeschränktem Maße gewährleistet ist .Im Iran beruft man sich rechtlich auf Artikel 13 der dorti-gen Verfassung, in dem von religiösen Minderheiten dieRede ist, aber als religiöse Minderheiten nur Christen,Juden und Zoroastrier genannt sind . Weil die Bahai nichtin dieser Formulierung auftauchen, können sie – aus deriranischen Perspektive wohlgemerkt – auch anders be-handelt werden . Aber man fragt sich mit Blick auf dieSituation im Iran natürlich, ob es nur dieser verfassungs-rechtliche Anker ist oder ob nicht möglicherweise auchdie Tatsache, dass das religiöse Zentrum der Bahai inHaifa, also in Israel, liegt, mindestens ein weiterer eben-so gewichtiger Grund dafür ist, dass die Bahai nicht das-selbe Maß an Freiheiten genießen wie andere religiöseMinderheiten im Iran .Wie sind die Auswirkungen für die Bahai? Wir er-leben wirtschaftliche, politische und gesellschaftlicheSchlechterstellungen . Uns wird berichtet, dass Gewerbe-scheine zum Teil verweigert oder Geschäfte geschlossenworden sind . Insbesondere aber kommt es – das ist et-was, worüber wir mit den Iranern möglicherweise nochmehr sprechen müssen; wir führen ja wieder politischeGespräche – zu einer Schlechterstellung im Bereich desSchulsystems . Nachdem vor einigen Jahren entschiedenwurde, dass Bahai nicht in den Genuss höherer akademi-scher Ausbildung kommen sollen, hat man sich der neu-en technischen Möglichkeiten bedient und eine, wie wirsagen würden, Fernhochschule gestartet . Ihre Arbeit istim Verlaufe der letzten Jahre zunächst erschwert worden;im Augenblick hat sie ihre Tätigkeit eingestellt . Insofern:Da zeigt sich ganz drastisch, dass es hier eine Schlechter-behandlung der Bahai gibt .Was die Christen in der Türkei angeht, zeigt sich eingemischtes Bild . Es gibt auf der einen Seite durchaus Be-wegungen, auch seitens der AKP, Christen stärker zu be-rücksichtigen . Das hat sich insbesondere nach dem Mordan drei Christen gezeigt, über den auch hierzulande, auchim Deutschen Bundestag, diskutiert worden ist . Seitdembesteht nicht nur seitens der formellen Regierung, son-dern auch seitens der Autoritäten der AKP die Bereit-schaft, mit Christen zu sprechen . Wir haben gesehen, dasses nicht nur zu einer entsprechenden Diskussion, sondernin Teilen auch zu einer Rückerstattung christlichen Ei-gentums gekommen ist . Andererseits erfahren wir immerwieder, dass insbesondere der Bau christlicher Stätten inder Türkei nach wie vor schwer bis unmöglich ist .Zu den Christen in Syrien habe ich mich bereits ge-äußert .Im Irak haben wir leider die Entwicklung, dass nach2003 der größte Teil der Christen das Land verlassen hat .Diejenigen, die geblieben sind, haben in den letzten zweiJahren ein ähnliches Schicksal erlitten wie – vielleichtnoch drastischer – die Jesiden im Norden des Landes .Sie sind insbesondere auch vom „Islamischen Staat“ instärkerem Maße verfolgt worden . Viele haben ihr Leben
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verloren, was zu einer verstärkten Ausreise von Christenaus dem Irak geführt hat . Ich habe vorhin für Syrien ge-sagt, dass zwei Drittel der Christen das Land verlassenhaben . Obwohl wir keine genauen Zahlenangaben haben,können wir sagen, dass das für den Irak cum grano salissicher auch stimmt .Bezogen auf Saudi Arabien war Ihr Interesse auf wel-che Religionsgemeinschaft gerichtet?
In Saudi-Arabien ist der Islam Staatsreligion . Daherist die Anzahl der Christen dort entsprechend gering . Esgibt keine formelle Anerkennung von Minderheitsreli-gionen . Nur der sunnitische Islam wird anerkannt . Inso-fern ist die Lage für alle Minderheitsreligionen im Landschwierig . In letzter Zeit hat sich das Verhältnis zwischenden Sunniten und den Schiiten im Land, die überwiegendim Osten Saudi-Arabiens wohnen, jedoch leicht verbes-sert . Vor kurzem haben wir auch in Saudi-Arabien Ge-spräche mit den dort lebenden Schiiten geführt .Daneben sind wir immer wieder bemüht, die Lageder Christen zu einem Thema in den Gesprächen mit dersaudischen Regierung zu machen und Verbesserungenanzumahnen .
Vielen Dank . – Ich habe die Antwort nicht unterbro-
chen und auch nicht auf die abgelaufene Redezeit hin-
gewiesen, weil es im Interesse aller Beteiligten lag, dass
diese Antwort gegeben wird . Ich habe aber die Bitte an
die Kollegen, die Fragen so zu stellen, dass sie im Rah-
men der vereinbarten Zeit beantwortet werden können,
was bei der eben gestellten Frage sicherlich nicht mög-
lich gewesen ist .
Ich glaube also, es war im Interesse aller, dass diese Fra-
ge hier beantwortet wurde, aber ich bitte jetzt auch, ein
bisschen an die Zeit zu denken .
Frau Steinbach, Sie haben das Wort .
Herr Außenminister, Sie haben deutlich gemacht, wie
die Lage der Christen unter anderem im Nahen Osten ist .
Das bekommen wir ja auch hautnah mit . Gibt es in dem
jetzt vorliegenden Bericht Erkenntnisse darüber, wie sich
die Situation der größten verfolgten religiösen Gemein-
schaft in anderen Gegenden der Welt entwickelt hat?
Gibt es darüber hinaus auch Erkenntnisse, wie die jet-
zige indische Regierung mit den Gewaltaktionen gegen
Christen, aber auch gegen Muslime, die in Indien statt-
gefunden haben, umgeht und ob sich die Situation dort
etwas beruhigt hat? Das hat uns ja eine ganze Weile sehr
intensiv beschäftigt .
Was mich noch interessiert: Lässt sich aus dem Be-
richt erkennen, inwieweit die Religion Vorwand oder Ur-
sache für Gewalt ist? Das ist für uns auch eine wichtige
Information, wenn wir handeln wollen .
Herr Außenminister .
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:
Zunächst zu Indien: Sie werden in diesem Bericht
Hinweise darauf finden, dass sich die Lage dort aus un-
serer Sicht vielleicht nicht entspannt hat, dass sie aber
jedenfalls verbessert wird . Das hängt auch damit zusam-
men, dass der Ministerpräsident in den Gesprächen, die
wir mit ihm geführt haben, selbst seine Überzeugung
kundgetan hat, dass Indien ein multireligiöses Land ist,
in dem auch Christen die Berechtigung haben, zu leben,
und in dem die Rechte der Christen nicht eingeschränkt
werden dürfen .
Das ist die Lage auf der Bundesebene . In dem Bericht
steht aber eben auch, dass es einzelne Regionen und Bun-
desstaaten in Indien gibt, in denen das noch nicht in der
vollständigen Tragweite erkannt wurde und Praxis ge-
worden ist .
Was war noch einmal die zweite Frage?
Auch hier ist vielleicht Syrien ein Beispiel dafür, dass
wir eine religiöse Überformung eines Konfliktes haben,
der aber nicht ursprünglich, also im Kern, ein religiöser
Konflikt war. Eigentlich war nach meiner Interpretation
frühzeitig erkennbar, dass dieser Syrien-Konflikt vor-
nehmlich ein Konflikt über Fragen der Hegemonie und
der Vorherrschaft in der muslimischen Welt war und die-
ser Konflikt um Machtansprüche am Ende diese religiöse
Überformung gefunden hat, wie das im Augenblick der
Fall ist .
Wir können auch in Libyen erkennen, dass es ähnli-
che Überformungen dadurch gibt, dass solche Konflikte,
wenn sie denn entstehen, sehr schnell Unterstützung von
unterschiedlichen Lagern der Nachbarn finden, die diese
religiöse Überformung nur sehr schwer wieder rückgän-
gig machen lassen. Mit einem Satz: Häufig, glaube ich,
ist es nicht die Religion, die der Anlass des Konfliktes ist,
aber die Religion wird in vielen Konflikten genutzt, um
den Konflikt zu schüren.
Niels Annen hat als Nächster das Wort .
Vielen Dank . – Herr Minister, auch ich will mich fürden differenzierten Bericht bedanken und versuchen,mich an den Ratschlag der Präsidentin zu halten und einekurze Frage zu stellen .Wir haben in diesem Haus, glaube ich, übereinstim-mend die Bemühungen Ihres Ministeriums unterstützt,für die Stabilisierung von fragilen Staaten insgesamt ein-zutreten . Ich möchte Sie fragen, ob Sie einen Zusammen-Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
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hang zwischen diesen Bemühungen und der Gewährleis-tung von Religionsfreiheit sehen, vor allem in den unsumgebenden Konfliktregionen?Vielen Dank .
Herr Minister .
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:
Wir haben in der Tat versucht, in diesem Bericht ein
wenig herauszuarbeiten, dass sich entgegen der Erwar-
tung, mit der man an einen solchen Bericht herangeht,
bei einem Gang durch diese kompliziert gewordene Welt
doch zeigt, dass es in der Tat Staaten gibt, die zur Be-
wahrung ihres religiös untermauerten Machtanspruches
die Rechte von religiösen Minderheiten ganz gezielt ein-
schränken .
Mit Blick auf Nordafrika, mit Blick auf den Mittleren
Osten und mit Blick auf die Subsahara haben wir immer
häufiger den Eindruck, dass es gar nicht um die geziel-
te Verletzung der Religionsfreiheit geht, sondern dass es
bei schwindender Staatlichkeit, wenn also ein Staat nicht
mehr in der Lage ist, Sicherheit zu gewährleisten, häu-
fig so ist, dass religiöse Minderheiten anderen religiös
motivierten Gruppen ausgeliefert sind und der Staat den
entsprechenden Schutz eben nicht garantieren kann . Das
haben wir für Nichtmuslime im Norden Nigerias erlebt –
das scheint sich im Augenblick zu verändern –, aber ge-
nauso für Muslime, die sich nicht gefügig gezeigt haben .
Wir erleben es in großen Teilen der Sahelzone, und wir
erleben es ganz drastisch in Libyen, Syrien und dem Irak .
Volker Beck hat als Nächster das Wort .
Ich habe nur eine Nachfrage zum Thema „negative
Glaubensfreiheit“ . Ein Problem ist, dass Mehrheitsreligi-
onen insbesondere dort, wo sie Staatsreligionen sind, die
Grundlage des Familien-, des Zivil- und des Strafrechts
bilden . Die Frage ist, inwiefern das in Ihrem Bericht eine
Rolle spielt . Das betrifft zum Beispiel die Fragen von
Scheidungsrecht, Ehebruch, Homosexualität und Abtrei-
bung. Da werden häufig die gesetzgeberischen Program-
me mit der Religion begründet und stellen insofern einen
Eingriff in die negative Glaubensfreiheit der Bevölke-
rung dar .
Herr Minister .
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:
Herr Kollege Beck, das war einer der Gründe dafür,
weshalb wir uns im ersten Abschnitt dieses Berichtes
ausdrücklich mit der unterschiedlichen Interpretation der
Religionsfreiheit beschäftigt haben .
Wir haben die Rechtsdokumente, die auf der interna-
tionalen und auf der europäischen Ebene zur Verfügung
stehen, ausgeleuchtet und kommen in diesem Bericht zu
dem eindeutigen Ergebnis, dass die positive Religions-
freiheit in allen Rechtsdokumenten, die wir herangezo-
gen haben, natürlich geschützt ist, aber dass die negative
Religionsfreiheit, also die Freiheit, keinem Glauben an-
zugehören, ebenso unter dem Schutz des internationalen
und des europäischen Rechts steht . Das ist also in diesem
Bericht gleichwertig behandelt .
Vielen Dank . – Michael Brand hat jetzt das Wort .
Herr Minister, mich interessiert, was der Bericht über
die Religionsfreiheit in Tibet sagt . Mit Blick auf die di-
plomatischen Beziehungen zu China möchte ich noch
fragen, ob dieses Thema bei den am Montag beginnen-
den Regierungskonsultationen eine Rolle spielen wird .
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:
Tibet ist natürlich ein Thema; in einem Bericht über
die Lage der Religionsfreiheit kann Tibet nicht fehlen .
Am Sonntag geht es los nach China . Wir werden dort
wahrscheinlich weniger über Fragen der Religionsfrei-
heit als über Fragen des Südchinesischen Meeres und
über all das, was im Augenblick angesichts der Debatte,
die es während des Besuches der Amerikaner in China
gegeben hat, ansteht, reden müssen . Selbstverständlich
gehören dazu auch die bilateralen Beziehungen und im-
mer wieder auch die Lage der Menschenrechte .
Was Tibet und Religionsfreiheit angeht, so haben wir
ja eine nicht ganz widerspruchsfreie Entwicklung . China
kümmert sich intensiv um Religion in Tibet, unterstützt
zum Beispiel auch den Bau von Gebetshäusern finanzi-
ell . Aber wir wissen natürlich sehr genau, dass es diesen
Grundkonflikt gibt, was die Stellung des religiösen Ober-
hauptes der Tibeter angeht . Darüber wird mit China kein
Ausgleich und keine gemeinsame Auffassung zu erzielen
sein .
Vielen Dank . – Damit schließe ich diesen Komplex .Es gibt noch einen Fragesteller zu einem anderen The-ma der heutigen Kabinettssitzung . Frau Göring-Eckardt,Sie haben das Wort .
Es geht nicht um Fragen zur Kabinettssitzung, son-dern es geht um weitere Fragen an die Bundesregierung .Ich möchte den Außenminister, dessen Haus mir eineAntwort auf eine schriftliche Frage zum Thema „Selbst-schussanlagen an der türkisch-syrischen Grenze“ gege-ben hat, gern dazu fragen . Ihr Haus hat in der Antwortdarauf hingewiesen, dass mangels verlässlicher Infor-mationen bisher keine abschließende Bewertung diesesNiels Annen
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Konzepts vorgenommen werden konnte und dass manjetzt genau beobachten möchte, wie das weitergeht .Ich frage Sie deswegen konkret: Haben Sie Kontaktzu Nichtregierungsorganisationen aufgenommen, diedies berichtet haben? Haben Sie Befragungen von Ge-flüchteten vorgenommen, die in Deutschland angekom-men sind, und haben Sie versucht, eigene Erkenntnissedazu zu generieren? Im Kontext des EU-Türkei-Vertragsspielt es ja eine wichtige Rolle, inwiefern die Türkei einesolche Maßnahme an der Grenze umsetzt . Ich würde gerneine genaue Information darüber haben, wie das zu kon-trollieren und zu bewerten ist . Denn das ist ja eine Vo-raussetzung dafür, dass man mit der Türkei vertrauens-voll zusammenarbeiten kann .
Herr Minister .
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:
Frau Kollegin Göring-Eckardt, ich kann jetzt keine
über die schriftliche Antwort hinausgehende Antwort
geben . Aber selbstverständlich bin ich gern bereit, mich
über alle Einzelaktivitäten seitens der Botschaft, seitens
der Arbeitsebene meines Hauses zu informieren . Dies
auch zeitnah . Ich biete Ihnen an, dass wir dazu im Ge-
spräch bleiben .
Herr Beck, Sie haben das Wort .
Ich habe eine Frage zu den sonstigen Themen, und
zwar aus dem Bereich des Bundesministeriums des In-
nern . Wir haben letzten Freitag hier im Haus über das
Integrationsgesetz diskutiert . Darin wird § 29 Asylgesetz
geändert, indem die Bestimmung des § 29 Absatz 2 Asyl-
gesetz entfallen soll. Diese Bestimmung verpflichtet zur
Fortführung des Asylverfahrens eines Drittstaatlers, der
hier einen Antrag gestellt hat, wenn er nicht innerhalb
von drei Monaten in den sicheren Drittstaat, über den er
eingereist ist, zurückverbracht werden kann . Diese Re-
gelung ist ersatzlos entfallen . Gleichwohl wurde uns ge-
sagt, es sei keine Änderung im Regelungsgehalt des § 29
Asylgesetz vorgesehen . Das kann ohne eine Änderung
des vorgeschlagenen Gesetzestextes nicht richtig sein .
Deshalb frage ich das Bundesinnenministerium, ob
Sie § 29 Absatz 2 in den Regelungstext des Asylgesetzes
wieder aufnehmen wollen oder was Sie sonst vorschla-
gen, um zu gewährleisten, was Sie am Mittwoch den
NGOs zugesagt haben und was der Minister im Parla-
ment behauptet hat, nämlich dass eine Rechtsänderung in
der Substanz nicht beabsichtigt sei .
Wer antwortet? – Herr Staatssekretär, Sie haben das
Wort .
D
Vielen Dank für die Frage, Herr Beck, und für die
Möglichkeit, das klarzustellen .
Wir sehen eine Änderung des § 29 dahin gehend vor,
dass vor allen Dingen maßgeblich ist, ob der Drittstaat
bereit ist, den Asylbewerber aufzunehmen . Dann müs-
sen wir nicht mehr zweistufig vorgehen, indem wir zu-
nächst eine Unbeachtlichkeitsentscheidung gemäß § 29
Absatz 1 treffen müssen, um dann festzustellen, dass der
Drittstaat nicht bereit ist, ihn aufzunehmen . Deshalb ge-
hen wir davon aus, dass dies eine Verfahrensbeschleuni-
gung bewirkt .
Es ist eine rechtstechnische Frage . Denn schon nach
der bisherigen Regelung muss, wenn der Asylbewerber
aus einem Drittstaat kommt, festgestellt werden, ob der
Drittstaat bereit ist, diesen Asylbewerber aufzunehmen .
Das legen wir jetzt im Gesetzestext fest . Davon können
alle nur profitieren, weil das eine Klarstellung ist. Denn
es geht nicht nur darum, dass der Asylbewerber sich
schon einmal dort aufgehalten hat, sondern auch darum,
dass der Drittstaat natürlich bereit sein muss, ihn aufzu-
nehmen .
Als nächste Fragestellerin hat Frau Haßelmann das
Wort .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Herr Außenminis-
ter, ich habe eine Frage zu demselben Themenkomplex,
zu dem Sie meine Kollegin Katrin Göring-Eckardt be-
fragt hat . Die Antwort, die Frau Göring-Eckardt auf ihre
schriftliche Frage bekommen hat, wurde auch schon im
Rahmen einer Fragestunde gegeben .
Meine Frage an Sie ist: Wann ist denn der Prüfvorgang
abgeschlossen? Es stehen eklatante Vorwürfe im Raum,
und es zieht sich schon eine Weile hin, dass wir darüber
sprechen . Aber wir als Parlament haben bisher nur die
Rückmeldung bekommen: Wir sind in der Prüfung . – Ir-
gendwann muss sich doch abzeichnen, wann man sich
darüber ein Lagebild gemacht hat und eine entsprechen-
de Reaktion ableitet .
Herr Minister .Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:Selbstverständlich . Meine Antwort an Frau Göring-Eckardt war nicht so zu verstehen, dass es Monate odermöglicherweise noch länger dauert .Ich bin heute Nacht von einer Reise nach Mexikound Argentinien zurückgekommen . Ich werde mich soKatrin Göring-Eckardt
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schnell wie möglich informieren, was seit der schriftli-chen Antwort geschehen ist, und Sie zeitnah darüber in-formieren .
Vielen Dank . – Herr Özcan Mutlu hat das Wort .
Danke, Frau Präsidentin . – Ich möchte im Anschluss
an die Frage meiner Kollegin Frau Haßelmann in eine
andere Richtung gehen . Wenn Ihre Prüfung abgeschlos-
sen ist und sich die Berichterstattung bestätigt: Was heißt
das für Sie? Wenn es doch zutrifft, was all die NGOs
berichtet haben – hoffentlich kommt es nicht so weit –:
Welche Konsequenz hat das aus deutscher Sicht für den
EU-Türkei-Deal?
Herr Minister .
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:
Ich finde, dass der Vorgang ernst ist; das will ich gar
nicht bestreiten . Erstens . Man darf ihn nicht liegen las-
sen; man muss ihm nachgehen . Zweitens halte ich ihn für
so ernst, dass wir uns nicht in Antworten auf hypotheti-
sche Fragen ergehen sollten . Vielmehr sollten wir dann
entscheiden, wenn wir mehr und Genaueres wissen . Ich
glaube, das ist für den Vorgang angemessen .
Vielen Dank . – Damit beende ich die Befragung der
Bundesregierung .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
Drucksachen 18/8658, 18/8699
Ich rufe zunächst gemäß Nummer 10 der Richtlinien
für die Fragestunde die dringliche Frage auf Drucksa-
che 18/8699 auf . Wir kommen damit zum Geschäfts-
bereich des Auswärtigen Amts . Frau Staatsministerin
Böhmer wird die Fragen beantworten .
Ich rufe die dringliche Frage 1 des Abgeordneten
Ströbele auf:
Inwieweit trifft die Äußerung des türkischen Präsiden-
ten Recep Tayyip Erdogan zu, Bundeskanzlerin Dr . Angela
Merkel habe ihm in einem Gespräch „drei, vier Tage“ vor der
Abstimmung des Deutschen Bundestages über die Armeni-
en-Resolution „persönlich versichert, alles in ihrer Macht Ste-
hende zu tun“, um diese Abstimmung zu verhindern, sowie ihr
Bestes zu geben, „um die Annahme der Armenien-Resolution
gibt die Bundeskanzlerin auf die Frage des Präsidenten: „Wie
will sie mir und unserem Ministerpräsidenten nach dieser Ent-
weiteren Unterredungen mit ihm über die Vollziehung des
EU-Türkei-Abkommens?
Frau Staatsministerin, Sie haben das Wort .
D
Herr Kollege Ströbele, ich darf Ihnen wie folgt ant-
worten: Die Entschließung ist eine politische Initiative
aus der Mitte des Deutschen Bundestags, der ein demo-
kratisch gewähltes eigenständiges Organ unserer Verfas-
sung ist . Der Bundestag hat eine souveräne Entscheidung
getroffen . Das ist zu respektieren . In diesem Sinn und in
Respekt vor der Rolle, die der Deutsche Bundestag als
Verfassungsorgan im Rahmen der Gewaltenteilung in
Deutschland innehat, hat die Bundeskanzlerin ihre Ge-
spräche mit dem türkischen Staatspräsidenten geführt .
Die bilateralen Gespräche werden in diesem Geiste fort-
geführt . Einzelheiten solcher Gespräche sind im Übrigen
grundsätzlich vertraulich .
Herr Ströbele .
Frau Staatsministerin, zuallererst verstehe ich nicht,
warum das Kanzleramt, wenn man nach Äußerungen der
Kanzlerin fragt, das Außenministerium zur Beantwor-
tung der Fragen einschaltet . Aber das haben nicht Sie zu
vertreten .
Nehmen Sie zur Kenntnis, dass Herr Erdogan selber
die Vertraulichkeit dieser Gespräche aufgegeben hat,
und stimmt es denn nun – das ist eine entscheidende und
wichtige Frage, die nicht nur das Parlament, sondern
auch die deutsche Bevölkerung erheblich interessiert –,
die Bundeskanzlerin habe Herrn Erdogan „drei, vier
Tage“ vor der Entschließung, die Sie erwähnt haben, et-
was versprochen – ich zitiere aus der deutschen Überset-
zung der Worte des türkischen Ministerpräsidenten – und
ihm „persönlich versichert, alles in ihrer Macht Stehende
zu tun“, um diese Entschließung zu verhindern? Wollen
Sie nicht sagen, ob das stimmt oder ob das nicht stimmt?
Wenn das stimmen würde, dann wäre das ein dicker
Hund .
Frau Staatsministerin .
D
Herr Kollege Ströbele, für uns gilt Vertraulichkeit .
– Trotzdem, Frau Kollegin und Herr Kollege, ist das dieAuffassung der Bundesregierung . Das ist unsere Sicht .So handhaben wir das .Das, was in der Zeitung stand, haben Sie, ich und diePresse gelesen . Es war auch Gegenstand der Bundespres-sekonferenz . Sie konnten am Dienstag die Antwort unse-res Regierungssprechers, Herrn Seibert, lesen . Ich darfBundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeierhttp://www.swp.de
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sie noch einmal zitieren – das ist identisch mit dem, wasich Ihnen mitgeteilt habe –:Die Entschließung ist eine politische Initiative ausder Mitte des Deutschen Bundestags, der ein demo-kratisch gewähltes eigenständiges Organ unsererVerfassung ist . Der Bundestag hat eine souveräneEntscheidung getroffen . Das ist zu respektieren .Der Regierungssprecher fährt fort:Genau in diesem Sinne hat die Bundeskanzlerinauch ihre Gespräche mit dem türkischen Staatsprä-sidenten geführt .Das ist die Position, und das ist die klare Aussage .
Frau Staatsministerin, immer das Gleiche zu sagen,ist keine Beantwortung von Fragen, sondern das ist einDrumherum-Mogeln um eine Antwort .Nun werde ich Ihnen noch eine klare Frage stellen .Sehen die Bundeskanzlerin und die gesamte Bundesre-gierung keinen Grund, zu dieser doch erheblichen Äu-ßerung über ein Gespräch von Herrn Erdogan mit derBundeskanzlerin öffentlich Stellung zu nehmen, ob dasstimmt, und wenn nicht, Herrn Erdogan aufzufordern,solche Äußerungen zurückzunehmen? Was wollen wiruns noch alles von Erdogan gefallen lassen? Was willsich die Kanzlerin noch gefallen lassen? Was wollen sichdie Bundesregierung und dieses Parlament noch gefallenlassen, wenn Herr Erdogan so etwas aus einem persönli-chen Gespräch mit der Kanzlerin berichten kann?
Frau Staatsministerin .
D
Lieber Kollege Ströbele, ich freue mich über Ihr en-
gagiertes Vorgehen an dieser Stelle . Ich darf Ihnen noch
einmal ganz klar sagen: Dieses ist kein Drumherum-Re-
den, dies war eine klare Aussage sowohl des Regierungs-
sprechers als auch von mir für die Bundesregierung .
Herr Mutlu, auch Sie haben sich noch gemeldet .
Frau Präsidentin! Frau Staatsministerin, ich wünschte
mir, dass die Bundesregierung genauso engagiert wäre,
weil die Aussage von Frau Bundeskanzlerin, dass sie
nicht nachvollziehen kann, dass der Staatspräsident ei-
nes befreundeten Landes oder eines Partnerlandes Abge-
ordnete dieses Hauses der Nähe zu Terroristen bezich-
tigt, um nicht zu sagen als Handlanger von Terroristen
bezeichnet, unzureichend ist . Statt eine klare Sprache zu
finden, gibt sie lediglich die Erklärung ab, sie könne das
nicht nachvollziehen . Da hätte sie lieber geschwiegen;
denn das Zeichen der Schwäche Richtung Ankara hätte
sie sich sparen können .
Heute ist in den türkischen Zeitungen zu lesen, dass
bereits drei Strafanträge gegen elf Mitglieder dieses
Hauses in der Türkei gestellt worden seien, und zwar im
Zusammenhang mit dem berühmt-berüchtigten § 301,
Beleidigung des Türkentums . Diese elf Abgeordneten
werden sich sicherlich ausmalen können, welche Kon-
sequenzen es hat, wenn eine oder einer von ihnen in die
Türkei reist .
Nun meine Frage: Wie bewerten Sie diese Eskalation,
die anscheinend auch mit Billigung Ankaras fortschrei-
tet? Was bedeutet das für die Partnerschaft zwischen un-
seren beiden Ländern?
Frau Staatsministerin .
D
Herr Kollege Mutlu, ich habe auch Äußerungen von
Ihnen und von anderen Kolleginnen und Kollegen darü-
ber verfolgt, die zeigen, was Sie derzeit erfahren . Ich darf
Ihnen ganz persönlich – das haben Sie aber auch schon
von der Bundesregierung gehört – sagen, wie betroffen
und erschüttert wir über das sind, was Ihnen widerfährt .
Es sind nicht nur Äußerungen aus der Türkei, sondern
auch aus Deutschland über die sozialen Medien . Das
macht mehr als betroffen .
Ich halte es für eine klare Zurückweisung dieser Äuße-
rungen, was die Bundeskanzlerin betrifft, die sich gestern
geäußert hat, und was den Regierungssprecher betrifft,
der sich im gleichen Sinne bei der Bundespressekonfe-
renz am Montag geäußert hat . Dass wir es nicht nur bei
Worten belassen, sondern dass die Bundesregierung auch
tätig wird, mögen Sie daran sehen, dass gestern der türki-
sche Geschäftsträger ins Auswärtige Amt gebeten wurde
und ihm dort noch einmal vor Augen geführt und deut-
lich gemacht worden ist, dass die jüngsten Äußerungen
zu deutschen Abgeordneten nicht im Einklang mit dem
deutsch-türkischen Verhältnis stehen und hier auf großes
Unverständnis treffen .
Das andere, was Sie mir gesagt haben, habe ich jetzt
zum ersten Mal gehört . Ich muss sagen: Das schockiert
mich .
Frau Haßelmann .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Meine Frage richtetsich an das Bundeskanzleramt .Wann ist damit zu rechnen, Herr Braun, dass die Kanz-lerin sich dazu öffentlich einlässt, und zwar in aller Deut-lichkeit? Ich glaube, dass die Schärfe der Bedrohungssi-tuation, die die elf Abgeordneten des Parlaments erleben,enorm zugenommen hat . Ich erinnere an die Dinge, diegerade hier vorgetragen worden sind . Einlassungen wieStaatsministerin Dr. Maria Böhmer
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„stoßen bei uns auf Unverständnis“ – Frau Böhmer, ichzitiere jetzt Sie – oder „nicht nachzuvollziehen“ vonsei-ten der Kanzlerin gestern sind in keiner Weise angemes-sen, um dieser Situation, vor der wir als Parlament undinsbesondere die elf Abgeordneten stehen, Rechnung zutragen .
Herr Staatsminister, antworten Sie, oder wer antwor-
tet?
– Nein, eigentlich geht es nicht .
– Ich darf das klären: Die Bundesregierung entscheidet,
wer antwortet . Deshalb frage ich jetzt die Bundesregie-
rung: Wer antwortet?
– Ich habe die Bundesregierung gefragt, wer antwortet .
Staatsminister Braun, bitte .
D
Frau Präsidentin, wenn Sie mir das gestatten, dann
übernehme ich die Antwort gerne .
Selbstverständlich .
D
Ich habe Ihnen heute über weiter gehende Bewertun-
gen durch die Bundesregierung nichts anzukündigen .
Herr Beck, Sie haben das Wort .
Ich finde, dass da mehr Klarheit verlangt werden sollte
und dass wir mit allen Kontakten, die wir sowohl in die
Türkei als auch zu Vertretern der türkischen Minderheit
in Deutschland haben, eine Verurteilung und Distanzie-
rung von diesen Drohungen erreichen müssen . Da spre-
che ich auch das Innenministerium an . Die DITIB ist
Mitglied der Deutschen Islam Konferenz . Sie hat die Ar-
menien-Resolution kritisiert . Sie hat zu Demonstrationen
aufgerufen . Von ihr gab es bis heute kein Wort der Verur-
teilung dieser Gewaltandrohung an unsere Kollegen .
Ich bin gegen die Semantik, dass wir zwischen tür-
kischstämmigen, deutschstämmigen und sonstwie-
stämmigen Abgeordneten unterscheiden . Wir sind alle
deutsche Abgeordnete, Abgeordnete des Deutschen Bun-
destages . Da gibt es keinen Unterschied, und deshalb ist
der Anspruch, diese Trennung vorzunehmen, illegitim .
Ich wollte jetzt noch einmal die Bundesregierung fra-
gen – vielleicht will das Kanzleramt antworten, vielleicht
Frau Böhmer –: Können Sie ausschließen, dass die Bun-
deskanzlerin dem türkischen Staatspräsidenten verspro-
chen hat, hier eine Abstimmung über eine Resolution
zum Völkermord an den Armeniern zu verhindern? Das
möchte ich gern von meiner Bundesregierung wissen .
Wir kontrollieren Sie als Bundesregierung, und Sie sind
uns deshalb hier bei solchen Fragen auskunftspflichtig.
Frau Staatsministerin .
D
Herr Kollege Beck, ich gehe davon aus, dass Sie eben
zugehört haben .
– Es ist eindeutig gewesen, und an dieser Eindeutigkeit
ist nicht zu zweifeln .
Es ist ganz klar,
dass ich gesagt habe, dass die Bundeskanzlerin im Res-
pekt vor den Entscheidungen und der Unabhängigkeit
und der Souveränität dieses Parlaments – das ist der
Deutsche Bundestag; auch ich bin Abgeordnete; wir sind
Vertreterinnen und Vertreter des deutschen Volkes; ich
danke Ihnen, dass Sie das noch einmal so deutlich gesagt
haben; das scheint mir gerade in dieser Zeit besonders
wichtig – ihre Gespräche führt . Klarer geht es nicht .
Herr Wunderlich .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Eigentlich dachteich, es habe sich erledigt, es komme ja doch keine ge-scheite Antwort .Doch, Frau Staatsministerin, es geht klarer, nämlichmit einem eindeutigen Ja oder Nein . Aus Ihrer Antwortkann man nur schließen: Entweder die BundeskanzlerinBritta Haßelmann
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hat diese von Erdogan zitierte Äußerung wirklich verbalabgelassen, oder Erdogan hat gegenüber der Presse gelo-gen . Jetzt stehen Sie vor der Entscheidung: Für welcheVariante entscheiden Sie sich?
Frau Staatsministerin .
D
Herr Kollege, das sind Spekulationen, die Sie vorneh-
men und die Sie zu vertreten haben . Ich habe in eindeuti-
ger Art und Weise geantwortet .
Ich möchte noch eines aus der Bundespressekonferenz
hinzufügen . Ich darf jetzt den Regierungssprecher zitie-
ren – ich könnte es Ihnen auch aus eigener Erfahrung be-
stätigen –, der in der Bundespressekonferenz gesagt hat:
Im Übrigen ist Ihnen
– damit hat er die Bundespressekonferenz gemeint –
ja sicher wie anderen bekannt, wie die Bundeskanz-
lerin in der Unionsfraktion zu diesem Thema abge-
stimmt hat .
– Lieber Herr Ströbele, es gibt Personen, die haben eine
klare Haltung, und die halten sie auch durch .
Frau Göring-Eckardt hat als nächste Kollegin das
Wort .
Ich will die Bundesregierung gern etwas fragen . Frau
Böhmer, Sie haben uns davon berichtet, dass der Mit-
arbeiter der türkischen Botschaft einbestellt worden ist .
Man konnte den türkischen Botschafter nicht mehr ein-
bestellen, weil der nach der Armenien-Resolution schon
abgezogen worden war . Sie haben uns mitgeteilt, dass
ihm klargemacht worden sei, dass das Einfluss auf die
Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei hat .
Für mich schließt sich daran die Frage an: Welche
Konsequenzen hat das für diese Beziehungen? Was be-
deutet das ganz konkret? Ist dem Mitarbeiter der türki-
schen Botschaft in irgendeiner konkreten Form gesagt
worden, was das bedeutet? Gibt es eine Bezugnahme auf
die mutmaßlichen Äußerungen der Bundeskanzlerin?
Hat der Mitarbeiter der türkischen Botschaft Sie womög-
lich danach gefragt, warum auf der einen Seite das Parla-
ment so entschieden hat, auf der anderen Seite, nach den
Aussagen von Herrn Erdogan, die Frau Bundeskanzle-
rin die Äußerungen getan hat, nach denen mein Kollege
Ströbele jetzt hier gefragt hat? In diesem Kontext könnte
noch etwas sein – deswegen frage ich Sie das auch –: Hat
das irgendwelche Auswirkungen auf die Vereinbarungen
mit der Türkei im Zusammenhang mit den Flüchtlingen,
auf den EU-Türkei-Vertrag oder -Deal?
Frau Staatsministerin .
D
Frau Kollegin Göring-Eckardt, ich beginne mit dem
letzten Punkt . Was die EU-Türkei-Vereinbarung betrifft,
wird von türkischer Seite klargestellt, dass das nichts mit
den bilateralen Beziehungen zu tun hat, dass man an der
Umsetzung festhält . Wir gehen genauso davon aus, dass
an der Umsetzung festgehalten wird, und arbeiten wech-
selseitig daran .
Was die Einladung des türkischen Geschäftsträgers
anbelangt, war das etwas, was in diesem Zusammenhang
wichtig war, um unsere Haltung zu dem, was an Äuße-
rungen, an Vorwürfen gekommen ist, deutlich zu machen .
Das ging bis hin zu dem, was wir an Bedrohungen tür-
kischstämmiger Abgeordneter wahrnehmen mussten . Ich
sage jetzt bewusst „türkischstämmiger Abgeordneter“,
weil das diese Kollegen betrifft . Es sind Abgeordnete des
Deutschen Bundestages, und wir alle sind Abgeordnete
des Deutschen Bundestages . Das war Thema .
Unser Botschafter in der Türkei hat sich in dieser Fra-
ge beim türkischen Außenministerium ebenfalls um ein
Gespräch gemüht, um das dort genauso klarzustellen .
Von türkischer Seite wurde ihm bedeutet, dass das durch
das Gespräch in Berlin insoweit geklärt sei .
– Frau Kollegin Göring-Eckardt, ich weiß nicht, was Ih-
nen da vorschwebt. Ich finde, das ist etwas, was im Zuge
von diplomatischen Beziehungen einen großen Schritt
nach vorn bedeutet . Das ist es auch, weil es uns darum
geht, das klarzustellen, was deutsche Abgeordnete anbe-
trifft .
Vielen Dank .Nachdem die dringliche Frage aufgerufen und beant-wortet worden ist, kommen wir jetzt zu den mündlichenFragen auf der Drucksache 18/8658 in der üblichen Rei-henfolge .Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich desBundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen undJugend . Die Beantwortung der Fragen wird die Parla-mentarische Staatssekretärin Frau Marks übernehmen .Die Abgeordnete Erika Steinbach hat die Frage 1 ge-stellt:Jörn Wunderlich
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(D)
Welche Unterstützung erhält die unter dem „Portal antifa-schistischer Initiativen“ aufgeführte Gruppe Willkommens-netzwerk „Pankow Hilft!“ von der Bundesregierung, undwelche Unterstützung erhalten andere auf dem Portal genann-
Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort .C
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Sehr geehrte Frau
Kollegin Steinbach, Ihre Frage beantworte ich wie
folgt: Hinsichtlich des Willkommensnetzwerks „Pan-
kow Hilft!“ kann ich Ihnen mitteilen, dass das Bundes-
ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!
Aktiv gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Menschen-
feindlichkeit“ die lokalen Partnerschaften für Demokra-
tie Pankow Nord und Pankow Süd fördert . Diese zwei
Partnerschaften für Demokratie haben auf Grundlage der
Leitlinie des Programmbereichs „Partnerschaften für De-
mokratie“ das Willkommensnetzwerk „Pankow Hilft!“
im Jahr 2015 mit Mitteln für folgende Maßnahmen unter-
stützt: die Öffentlichkeitsarbeit, die Neugestaltung und
Entwicklung der Homepage, die Weiterbildung, die Wei-
terbildungsworkshops für Ehrenamtliche zur Qualifizie-
rung für die ehrenamtliche Arbeit und das Empowerment,
zwei Vernetzungstreffen, bei denen sich Engagierte und
Geflüchtete austauschen sollen, und Begegnungstreffen,
Begegnungscafé zwischen Geflüchteten und lokaler Bür-
gerschaft, um gegenseitiges Kennenlernen zu ermögli-
chen und Verständnis füreinander zu schaffen .
Darüber hinaus fragen Sie, Frau Kollegin Steinbach,
welche auf dem „Portal antifaschistischer Initiativen“
genannte Gruppen eine Förderung erhalten . Frau Kol-
legin, Sie wissen, dass Websites von Betreibern ständig
aktualisiert werden und damit auch Veränderungen unter-
liegen . Darum würde ich Sie bitten, konkrete Initiativen
zu benennen, damit Ihnen mein Haus die gewünschten
Informationen zur Verfügung stellen kann, nachdem wir
das entsprechend geprüft haben .
Vielen Dank .
Frau Steinbach .
Danke für die Antwort . – Aber Sie müssen sich doch
selber die Frage stellen, ob diese Initiative überhaupt
noch weiter mit öffentlichen Mitteln, mit Staatsmitteln,
gefördert werden kann . Sie haben sicherlich auch gese-
hen, dass es in der B.Z. einen Artikel gab: „Linke jagen
Berliner Zahnarzt und bekommen Geld vom Staat“ . Wel-
che aggressiven und gewalttätigen linken Gruppen er-
halten denn noch aus Ihrem Hause staatliche Zuschüsse?
Ich kann das überhaupt nicht begreifen, muss ich Ihnen
sagen .
Frau Staatssekretärin .
C
Frau Kollegin Steinbach, aus meinen Ausführungen
sollte doch sehr deutlich geworden sein, dass keine Initia-
tive, die nicht auf der Grundlage unseres Grundgesetzes
agiert, Mittel aus dem Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend erhält . Ich möchte an dieser
Stelle – das ist mir und uns insgesamt im Bundesministe-
rium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ein wich-
tiges Anliegen – darauf hinweisen: Alle Projektträger er-
halten im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie
leben!“ ein rechtlich verbindliches Begleitschreiben zum
Zuwendungsbescheid, in dem sie ausführlich darauf hin-
gewiesen werden, dass Organisationen oder eben auch
Personen, die sich gegen die freiheitlich-demokratische
Grundordnung betätigen, keine direkte oder indirekte
Förderung zuteilwerden darf . Ebenfalls ist in den Leit-
linien des Bundesprogramms festgeschrieben, dass die
Mittel nicht für agitatorische Zwecke verwendet werden
dürfen .
Das Bundesministerium des Innern und mein Haus,
das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend, tauschen sich über die zu fördernden Maß-
nahmen im Übrigen in regelmäßigen Abständen aus .
Frau Steinbach .
Ist denn Ihr Haus gegen die Zeitung vorgegangen,
weil dann offensichtlich eine falsche Berichterstattung
erfolgt ist? Denn aus dieser geht schon hervor, dass eine
Gruppe, die gewalttätig gegen andere vorgegangen ist,
gegen einen Zahnarzt in diesem Falle, öffentliche Mittel
erhält . Entweder hat die Zeitung falsch berichtet, oder
Sie fördern falsch; nur eines kann richtig sein .
Frau Staatsministerin .
C
Staatssekretärin .
Entschuldigung . Die Staatsministerin hat so viele Fra-
gen erhalten, dass ich mich schon fast automatisch an sie
wende . – Frau Staatssekretärin Marks, natürlich .
C
Frau Kollegin Steinbach, ich denke, da kann ich nichtnur für mein Haus, sondern auch für alle anderen Mi-nisterien sprechen: Wenn jedes Haus alle Zeitungsmittei-lungen auf ihren Wahrheitsgehalt hin untersuchen würde,dann könnten wir, glaube ich, unser RegierungsgeschäftVizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 175 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 8 . Juni 201617260
(C)
(D)
mehr oder weniger einstellen . Es wäre gar nicht möglich,das alles zu prüfen und für Richtigstellung zu sorgen . Wirhaben hier die Pressefreiheit und das Recht auf freie Mei-nungsäußerung, und das ist gut und richtig . Nicht allenBerichten kann und wird in dem Sinne nachgegangen,dass um Richtigstellung gebeten wird .Ich will Ihnen aber auch ganz deutlich sagen: Sie ha-ben eine Überschrift zitiert . Ich habe auch den Artikel inder Welt bezüglich dieser Thematik gelesen . Wenn mandiesen Artikel bis zum Ende liest, dann wird sehr deut-lich, dass das eine mit dem anderen nichts zu tun hat unddass die Förderung von „Pankow Hilft!“ mit dem Treibenvon antifaschistischen Gruppen in keinem Zusammen-hang steht . Darauf möchte ich Sie noch einmal in dieserKlarheit hinweisen .Insofern darf man nicht von einer Überschrift ausge-hen, was auch wir in unserer Bewertung nicht tun . Manmuss auch sehen, wie der Artikel über diesen Sachver-halt berichtet; darin ist definitiv nicht zu finden, dass dasBundesministerium direkt oder indirekt antifaschistischeGruppen fördert, die gewalttätig oder agitatorisch unter-wegs sind .
Herr Beck hatte sich gemeldet .
Ich bin erst einmal beruhigt, dass die Bundesregierung
die Pressefreiheit in diesem Fall respektiert .
C
Nicht nur in diesem Fall; generell .
Selbst in diesem Fall respektiert . – Ich konnte in die-
sem Artikel wenig konkrete Tatsachen finden. Selbst-
verständlich – das müssen wir klarstellen – gilt auch bei
politischen Parteien, denen wir absprechen, dass sie auf
dem Boden unseres Grundgesetzes stehen, dass ihre Mit-
glieder vor Gewalt und Mobbing geschützt werden müs-
sen . Wir suchen eine politische Auseinandersetzung in
der Sache und nicht mit solchen Instrumenten . Darüber
sind wir uns, glaube ich, im Hohen Hause fraktionsüber-
greifend einig .
Aber von Frau Steinbach wurden Dinge behauptet, wo
ich dankbar wäre, wenn Sie die Informationen bei der
Kollegin einholen könnten, die sie dazu hat . Ich konnte
in diesem Artikel nicht genau nachvollziehen, wer Täter
oder Agierender ist . Es wird von Unterstützern, von Leu-
ten in linken Gruppen, die nicht näher benannt werden,
gesprochen, und dann bezieht man sich auf „Pankow
Hilft!“ . Ich kann das alles nicht nachvollziehen . Wenn
es aber im Hohen Haus mehr Informationen und mehr
Anhaltspunkte gibt als diesen Artikel, der ein ziemliches
Raunen und Gerüchteverbreiten ist, wäre es gut, wenn
Sie diese einholen und noch einmal neu bewerten wür-
den .
Gleichwohl muss ich sagen: Ich finde Demonstratio-
nen vor den Wohnungen oder Dienst- und Arbeitsorten
von normalen Menschen, die sich politisch engagieren,
grundsätzlich nicht akzeptabel – ich weiß, dass die Kol-
legin Petra Pau unter solchen Phänomenen immer wieder
leidet –, gleichwohl sie vom Demonstrationsrecht grund-
sätzlich gedeckt und daher zulässig sind . Sie sind aber
lästig . Wir sollten dazu auffordern, dass man diese Art
des Bedrängens von Menschen, egal welcher politischen
Couleur, unterlässt .
Frau Staatssekretärin .
C
Herr Kollege Beck, vielen Dank für Ihre Ausführun-
gen . – Ich möchte noch einmal ganz deutlich machen,
dass es mir und meinem Haus sehr wichtig ist, Eventu-
alitäten nachzugehen . Darum möchte ich noch einmal
unterstreichen, Frau Kollegin Steinbach: Wenn Sie kon-
krete Hinweise haben oder konkrete Initiativen benennen
können, dann lassen Sie das mir und meinem Haus zu-
teilwerden . Diesen Hinweisen werden wir dann in aller
Ernsthaftigkeit und Sorgfalt nachgehen . Wie gesagt, bis-
her liegen keine konkreten Hinweise zu diesbezüglichen
Initiativen vor .
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal
sehr deutlich sagen, dass das Bundesministerium für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend keine Demonstratio-
nen von linksradikalen oder Antifa-Gruppen fördert . Alle
Partner im Rahmen unseres Bundesprogramms, Frau
Kollegin Steinbach, werden darauf hingewiesen, dass
die Mittel nicht für agitatorische Zwecke verwendet wer-
den dürfen. Das ist unumstößlich und ganz klar definiert,
auch in unseren Leitlinien .
Frau Steinbach .
Frau Staatssekretärin, ich kann das gut verstehen . Ein
Ministerium käme in Teufels Küche, wenn es auf jede
Pressemitteilung irgendwie reagieren würde . Aber dass
eine solche Tatsachenbehauptung deutlich in der Über-
schrift steht, muss doch in Ihrem Haus dazu führen, dass
Sie dort aufklären . Ich bitte, dass Sie mir noch einmal
intern Aufklärung zukommen lassen – schriftlich .
Frau Staatssekretärin .
C
Frau Kollegin Steinbach, nach dem Pressehinweis unddurch die von Ihnen gestellte Frage sind wir natürlich mitdem Netzwerk in Kontakt getreten . Es liegen keine Hin-weise vor, dass das Netzwerk „Pankow Hilft!“, so wie esvage angedeutet wird, dort entsprechend verwickelt istund damit irgendetwas zu tun hat . Insofern ist nach wieParl. Staatssekretärin Caren Marks
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vor ganz klar, dass mit Bundesmitteln keine agitatori-schen Zwecke und keine antifaschistischen Gruppen, ichmeine Antifa-Gruppen, gefördert werden . Ich kann Ihnendiesbezüglich Auskunft geben, wenn Sie mir konkreteDinge nennen . Wir sind den Dingen nachgegangen . DerZeitungsartikel war unkonkret, Ihre Frage war diesbe-züglich auch unkonkret . Wir können nur konkreten Hin-weisen entsprechend nachgehen . Sollten wir sie von Ih-nen bekommen – ich habe Sie gerne dazu aufgefordert –,dann bekommen Sie auch konkrete Antworten .Herzlichen Dank .
Vielen Dank .
– Nein, Frau Steinbach, Sie hatten bereits noch eine
Nachfrage . Jetzt ist die Beantwortung dieser Frage ab-
geschlossen .
Frage 2 der Abgeordneten Corinna Rüffer wird
schriftlich beantwortet . Damit sind wir am Ende dieses
Geschäftsbereichs .
Ich rufe jetzt den Geschäftsbereich des Bundesmi-
nisteriums für Gesundheit auf . Die Fragen 3 und 4 der
Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg werden schriftlich
beantwortet .
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums für Verkehr und digitale Infrastruktur . Die Fra-
gen 5 und 6 des Abgeordneten Stephan Kühn sowie die
Fragen 7 und 8 der Abgeordneten Bärbel Höhn werden
schriftlich beantwortet .
Dann rufe ich jetzt den Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reak-
torsicherheit auf . Hier werden die Fragen 9 und 10 der
Kollegin Kunert und die Frage 11 der Kollegin Kotting-
Uhl schriftlich beantwortet .
Dann rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesmi-
nisteriums für Bildung und Forschung auf . Hier wird die
Frage 12 des Kollegen Swen Schulz schriftlich beant-
wortet .
Damit sind wir beim Geschäftsbereich des Bundesmi-
nisteriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung . Die Beantwortung der Frage übernimmt der
Parlamentarische Staatssekretär Fuchtel .
Ich rufe die Frage 13 des Kollegen Kekeritz auf:
Wie stellt sich die Bundesregierung konkret die Zusam-
menarbeit mit Unternehmen vor, um Fluchtursachen zu be-
kämpfen , und
welchen finanziellen Umfang vonseiten des Bundes soll diese
Zusammenarbeit haben?
Herr Fuchtel, Sie haben das Wort .
Ha
Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung begrüßt ausdrücklich das
Signal aus der Wirtschaft für eine noch stärkere Zusam-
menarbeit und ergreift auch von sich aus Initiativen, um
dies zu fördern . Wir haben in der Zwischenzeit den Etat
für diesen Bereich erheblich erhöht, auf jetzt 124 Milli-
onen Euro .
Uns geht es darum, in dieser schwierigen Zeit auch die
Möglichkeiten und Potenziale der Wirtschaft vor allem
im Ausbildungssektor zu nutzen, um jungen Menschen
in den Krisengebieten, zum Beispiel durch die Schaffung
von Ausbildungsprojekten, bessere Chancen zu geben
bzw . bei ihnen Hoffnung zu wecken, dass sie vor Ort
bleiben können . In allen Bereichen der Entwicklungs-
zusammenarbeit muss noch deutlicher werden, dass die
Wirtschaft mit ihrem Potenzial einen wesentlichen Bei-
trag dazu leisten kann, die Aussichten der Menschen vor
Ort zu verbessern .
Herr Kekeritz .
Herzlichen Dank für die Antwort . Selbstverständlich
hat kein Mensch etwas dagegen, wenn sich die Privat-
wirtschaft engagiert . Nichtsdestotrotz ist es doch schon
sehr verwunderlich, dass jetzt plötzlich eine Forderung
des BDI im Raum steht, der da sagt: Wir brauchen ge-
nauso viel finanzielle Unterstützung wie die ganze
NGO-Szene in der Bundesrepublik Deutschland .
Man konnte im Handelsblatt auch nachlesen, welche
Vorstellung Sie haben . Der BDI wird wohl zusammen
mit der GIZ im Lager Dadaab in Kenia, dem größten
Flüchtlingslager der Welt, Projekte umsetzen . Ich frage
mich schon, welche Qualität denn solche Projekte haben .
Wir wissen alle, dass das Lager Dadaab aufgelöst wird .
Welche langfristigen strukturellen Initiativen will das
BMZ mit dem BDI umsetzen? Welche Kosten fallen an,
und wer trägt diese?
Ha
Bei der Umsetzung der ganzen Vorhaben ist es unswichtig, dass wir die Kammern mit an Bord haben, dasses uns gelingt, in den entsprechenden Ländern Firmenanzusiedeln sowie Beratungsleistungen zu erbringen .Wir alle wissen: Die duale Ausbildung ist ein Mar-kenartikel als solcher . Sie ist die Grundlage aller Über-legungen, entsprechende Konzepte in verschiedensterForm – nicht unbedingt immer nach dem Idealkonzeptder dualen Ausbildung – zu unterstützen und ihre Umset-zung möglich zu machen . Wer sich hier genau auskennt,weiß, dass die Kompetenz der Wirtschaft in diesem Be-reich unbedingt gefragt ist . Auf dem Konzept der dualenAusbildung fußt alles, was in Deutschland im Sektor derberuflichen Ausbildung gemacht wird. Wir halten es fürdringend erforderlich und gut, dass es hier die Bereit-schaft gibt, uns zu unterstützen, und wir darauf zurück-greifen können .Parl. Staatssekretärin Caren Marks
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Herr Kekeritz .
Ich habe Sie aber nach dem Lager Dadaab gefragt . Ich
kann mir jetzt kaum vorstellen, dass sich deutsche Indus-
triebetriebe in Dadaab niederlassen, wenn doch klar ist,
dass das Flüchtlingslager in Dadaab aufgelöst wird . Aber
gut, das ist Ihre Antwort gewesen .
Ich möchte gern von Ihnen wissen, ob denn die neue
Initiative des BDI nicht auch als Kritik an der bisheri-
gen Einbindung von Wirtschaftsbetrieben in die Ent-
wicklungszusammenarbeit gesehen wird . Wir haben die
Außenhandelskammern vor Ort, wir haben Wirtschafts-
referenten an den Botschaften, Sie haben neulich eine
Agentur für Wirtschaft & Entwicklung eingerichtet, wir
haben die KfW, wir haben die DEG . Die Privatwirtschaft
hat also zig Möglichkeiten, in Entwicklungsländern zu
investieren . Es gibt Unterstützung, Beratung und auch
sonstige Hilfsleistungen . Warum soll jetzt noch ein wei-
teres Instrumentarium geschaffen werden?
Sie sagen: Wir brauchen die Qualifikation der Wirt-
schaft . Der DIHT hat gesagt, er schmunzelt etwas über
die Initiative; denn Wirtschaftsführer sind nicht unbe-
dingt die besten Entwicklungspolitiker .
Ha
Meine Gespräche mit den Vertretern der Wirtschaft
zeigen ganz klar, dass die Wirtschaft die Herausforderun-
gen sieht, die in dieser besonderen Zeit bestehen, und be-
reit ist, mehr zu tun, als das bisher der Fall war . Wenn die
Verbände ihre Mitgliedsfirmen auffordern, daran ganz
konkret mitzuwirken, dann ist das eine positive Initiative,
die dazu führen kann, dass sich mehr Firmen im interna-
tionalen Bereich engagieren . Wir sehen, dass es noch viel
Luft nach oben gibt . Man muss den noch vorhandenen
Raum jetzt ausfüllen . Unterstützungsaufrufe sind in die-
sem Zusammenhang sicher nicht das schlechteste .
Vielen Dank . – Damit kommen wir zum Geschäftsbe-
reich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Ener-
gie . Hier werden alle Fragen – die Frage 14 der Abge-
ordneten Sylvia Kotting-Uhl, die Fragen 15 und 16 des
Abgeordneten Oliver Krischer sowie die Frage 17 der
Abgeordneten Dr . Julia Verlinden – schriftlich beantwor-
tet .
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen
Amtes .
Die Frage 18 des Abgeordneten Andrej Hunko wird
ebenfalls schriftlich beantwortet .
Ich rufe Frage 19 des Abgeordneten Uwe Kekeritz auf:
Welche Maßnahmen plant die Bundesregierung im Rah-
men des Nationalen Aktionsplans „Wirtschaft und
Menschenrechte“ vor dem Hintergrund ihrer Ankündigung, ei-
nen ambitionierteren NAP als Großbritannien vorzulegen, und
der Tatsache, dass die britische Regierung in ihrem aktualisier-
EU unterstützen möchte, die möglichen menschenrechtlichen
Auswirkungen von Handelsabkommen zu untersuchen, um zu
gewährleisten, dass die Handels- und Investitionsabkommen
die staatlichen Spielräume zur Umsetzung von Menschenrech-
ten nicht einschränken, und wie rechtfertigt die Bundesregie-
rung vor dem Hintergrund von allseits bekannten Defiziten frei-
im Rahmen des NAP keine verbindliche Regelung zur Einhal-
tung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht zu etablieren?
Frau Staatsministerin, Sie haben das Wort .
D
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Ich darf wie folgt
antworten: Das Auswärtige Amt hat der Gesamtheit der
Bundesressorts den Entwurf des Nationalen Aktions-
plans „Wirtschaft und Menschenrechte“ zur Mitzeich-
nung zugeleitet . Vor der Bekanntgabe von Einzelheiten
des Aktionsplans muss das Ergebnis der Ressortabstim-
mung abgewartet werden .
Mit dem Aktionsplan formulieren wir eine klare Er-
wartungshaltung an die Unternehmen zu ihren men-
schenrechtlichen Sorgfaltspflichten. Zudem ist ein struk-
turiertes Monitoring geplant . Der Aktionsplan bildet
lediglich den Anfang eines Prozesses . Das Dokument ist
eine Absichtserklärung der Bundesregierung . Verbindli-
che gesetzliche Regelungen können in der Folge geprüft
und dann in regulären Gesetzgebungsverfahren umge-
setzt werden .
Herr Kekeritz .
Danke schön, Frau Staatsministerin . Der Nationale
Aktionsplan ist sicherlich eine sinnvolle und notwendige
Aufgabe . Letztendlich wurde auf UN-Ebene beschlos-
sen, dass jede Nation einen solchen Aktionsplan umset-
zen muss .
Wir haben in Deutschland sehr viele parallellaufende
Prozesse, die im Prinzip alle den gleichen Inhalt haben .
Wir haben den Nationalen Aktionsplan, wir haben das
Textilbündnis, wir haben die CSR-Richtlinie, und wir
haben die Thematik der Konfliktmineralien. Wie bringen
Sie die alle verbindlich zusammen? Wollen Sie mit die-
sem Nationalen Aktionsplan einen Überbau schaffen, der
tatsächlich als Leitlinie gilt, von der sich alle anderen Re-
gelungen ableiten? Das halte ich nicht für sinnvoll; denn
wir können nicht für jeden einzelnen Sektor einzelne
Richtlinien erlassen . Wie trägt der Nationale Aktionsplan
dazu bei, die zurzeit parallellaufenden Prozesse zusam-
menzufassen?
D
Herr Kollege Kekeritz, wie Sie habe ich mich gefragt,wie beispielsweise das Verhältnis des Nationalen Akti-http://www.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/522805/Good_Business_Implementing_the_UN_Guiding_Principles_on_Business_and_Human_Rights_updated_May_2016.pdfhttp://www.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/522805/Good_Business_Implementing_the_UN_Guiding_Principles_on_Business_and_Human_Rights_updated_May_2016.pdfhttp://www.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/522805/Good_Business_Implementing_the_UN_Guiding_Principles_on_Business_and_Human_Rights_updated_May_2016.pdfhttp://www.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/522805/Good_Business_Implementing_the_UN_Guiding_Principles_on_Business_and_Human_Rights_updated_May_2016.pdfhttp://info.brot-fuer-die-welt.de/blog/maerchen-freiwilligen-unternehmensverantwortunghttp://info.brot-fuer-die-welt.de/blog/maerchen-freiwilligen-unternehmensverantwortung
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(D)
onsplans „Wirtschaft und Menschenrechte“ zum Textil-bündnis ist; das ist ein spezieller Bereich, leider ist derKollege Fuchtel nicht mehr da .Es gibt – das ist Ihnen geläufig – sehr viele bran-chenspezifische Unterschiede. Insofern glaube ich, dasswir mit dem Nationalen Aktionsplan eine Chance wahr-nehmen können, nämlich sehr klar die grundsätzlicheErwartungshaltung an die Unternehmen zu formulieren,was ihre Verpflichtungen in puncto Einhaltung der Men-schenrechte betrifft .Ich schätze es sehr, dass das strukturierte Monitoring,von dem ich eben sprach, vorgesehen ist . Durch diesesstrukturierte Monitoring, das ab 2018 beginnen soll, er-halten wir weitere Erkenntnisse, auf deren Grundlageman die nächsten Schritte besser planen kann . Damit ha-ben wir eine Basis . Die einzelnen Initiativen müssen alsonicht aufgehoben werden . Vielmehr geht es darum, sehrstrukturiert und konzertiert vorzugehen .
Herr Kollege Kekeritz .
Herzlichen Dank . – Wir sind uns alle darüber einig,
dass die ganzen Prozesse, die vorhin hier aufgezählt wur-
den, einen Hintergrund haben: Die international operie-
renden Konzerne kümmern sich im Prinzip nicht um die
ökologischen und menschenrechtlichen Aspekte in den
Ländern, in denen sie produzieren lassen, in denen sie
Mineralien aus dem Boden holen oder in denen sie im
Agrarbereich tätig sind . – Die Menschenrechte sind also
das zentrale Thema . Inwieweit wird denn der Nationale
Aktionsplan tatsächlich dazu beitragen, dass die inter-
national agierenden Unternehmen die Menschenrechte
stärker berücksichtigen, und inwieweit wird der NAP
tatsächlich dazu beitragen, dass die Menschenrechtssitu-
ation in den einzelnen Ländern nicht weiter dadurch ver-
schlechtert wird, dass mit einzelnen Ländern bestimmte
Verträge abgeschlossen werden, die die Menschenrechte
einschränken?
Frau Staatsministerin .
D
Danke schön . – Herr Kollege Kekeritz, ich würde die-
sen Vorwurf nicht in dieser Pauschalität aufrechterhalten .
Wir wissen, es gibt Unternehmen, die für diese Frage
wirklich hochsensibel sind . Ich darf an das Thema Kin-
derarbeit erinnern, auch an die Diskussionen über das
Textilsiegel oder das Siegel „Fairtrade“, die wir erlebt
haben . Es gibt also Ansätze, die wirklich vorbildhaft und
richtungsweisend sind .
Aber auch ich sehe Beispiele – da stimme ich Ihnen
zu –, bei denen Handeln dringend geboten ist . Deshalb
habe ich eben das Instrument Monitoring herausgeho-
ben . Wenn man jetzt in dem Nationalen Aktionsplan den
Rahmen absteckt, die Einhaltung der Menschenrechte als
ganz klare Zielrichtung ausweist und konkrete Schritte
nennt, ist das das eine . Auf der anderen Seite wissen wir
aber auch um die großen außenwirtschaftlichen Verflech-
tungen, und wir wollen ja, dass unsere Unternehmen au-
ßenwirtschaftlich aktiv sind . Beides muss zusammenge-
bracht werden .
Wenn die Unternehmen wissen, dass sie sich einem
Monitoring stellen müssen, ist das, glaube ich, ein He-
bel, um Bewegung in die Sache zu bekommen; denn in
dem Monitoringbericht wird ja ausgewiesen, wer sich
wie verhält und was geschieht . Deshalb setze ich sehr auf
das Monitoring. Wenn sich dabei Defizite herausstellen
sollten, dann ist es an uns und dem Deutschen Bundes-
tag, zu sagen: Wegen dieser Defizite müssen wir jetzt zu
konkreten rechtlichen Schritten kommen .
Ich glaube, diese Abfolge ist wichtig: Jetzt bringen
wir den Nationalen Aktionsplan auf den Weg und führen
dann das Monitoring durch . Auf Basis der Ergebnisse des
Monitorings können wir dann gemeinsam Schlussfolge-
rungen ziehen .
Vielen Dank . – Die Fragen 20 und 21 des Kollegen
Movassat werden schriftlich beantwortet .
Die Beantwortung der Frage 22 der Kollegin Ulla
Jelpke entfällt, da die Kollegin nicht anwesend ist . Es
wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen .
Die Frage 23 der Kollegin Dağdelen wird schriftlich
beantwortet .
Ich rufe die Frage 24 des Kollegen Volker Beck auf:
Inwiefern haben die Bundesregierung und die deutsche
Botschaft Dhaka öffentlich bzw . gegenüber der Regierung
von Bangladesch auf die Ermordung der bangladeschischen
Menschenrechtsaktivisten Xulhaz Mannan und Mahbub
sie seitdem ergriffen, um zu einer Verbesserung des Schutzes
von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen, Trans-
gendern und Intersexuellen in und aus Bangladesch beizutra-
gen?
Frau Staatsministerin, Sie haben das Wort .
D
Danke schön . – Herr Kollege Beck, ich darf Ihre Fra-ge beantworten: Die Beauftragte der Bundesregierungfür Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe, BärbelKofler, hat die Ermordung der beiden genannten Perso-nen am Tag darauf in einer öffentlichen Erklärung scharfverurteilt . Sie forderte die bangladeschische Regierungmit Nachdruck auf, zügig und zielgerichtet zu ermittelnund die Mörder in einem rechtsstaatlichen Verfahren ei-ner gerechten Strafe zuzuführen . Sie appellierte an dasganze Land, dem sich Deutschland seit seiner Staats-gründung 1971 besonders verbunden fühlt, gewalttäti-gem Extremismus keinen Platz einzuräumen und sichStaatsministerin Dr. Maria Böhmerhttp://www.telegraph.co.uk/news/2016/04/25/leading-gay-rights-activist-hacked-to-death-in-bangladesh/http://www.telegraph.co.uk/news/2016/04/25/leading-gay-rights-activist-hacked-to-death-in-bangladesh/http://www.telegraph.co.uk/news/2016/04/25/leading-gay-rights-activist-hacked-to-death-in-bangladesh/
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für die Durchsetzung der Menschen- und Bürgerrechte,insbesondere der Meinungsfreiheit, einzusetzen .Zuvor hatte sich der deutsche Botschafter in Dhaka zudem Thema öffentlich geäußert . Bei einer Begegnung derBotschafterinnen und Botschafter der EU-Mitgliedstaa-ten und des Leiters der EU-Delegation mit dem bangla-deschischen Außenminister am 22 . Mai 2015 wurdendiese Forderungen wiederholt .Die Bundesregierung und die deutsche Botschaft inBangladesch treten für LGBTI-Aktivisten und auch fürandere Menschenrechtsaktivisten in Bangladesch öffent-lich ein . Daneben koordinieren wir in Zusammenarbeitmit anderen Botschaften vor Ort effektive und konkreteSchutzmaßnahmen für diesen Personenkreis .
Herr Kollege Beck .
Was unternimmt denn die deutsche Botschaft in Dha-
ka konkret, um die noch lebenden Kollegen dieses Maga-
zins bzw . Webangebots zu schützen? Überlegen Sie auch,
zum Beispiel durch Anzeigen des Goethe-Instituts oder
des Auswärtigen Amts hier eine konkrete Unterstützung
zu organisieren, damit dieses Projekt durch die Ermor-
dung der zwei Redakteure nicht mundtot gemacht wird?
Frau Staatsministerin .
D
Ich darf noch einmal nachfragen: Zielt Ihre Frage auf
das Projekt, auf die Weiterführung des Projekts –
Genau .
D
– oder auf den Schutz von weiteren Personen?
Beides . Da besteht ja ein Zusammenhang . Das Ziel ist
einerseits, Leute, die sich für Demokratie und Menschen-
rechte einsetzen, zu schützen, und andererseits, solche
Initiativen natürlich auch im Rahmen der Möglichkeiten,
die die Botschaft oder das Auswärtige Amt auch über die
Goethe-Institute hat, konkret zu unterstützen .
D
Zu dem letzteren Punkt kann ich Ihnen jetzt nichts
konkret sagen . Ich liefere das gerne nach, weil ich das für
eine wichtige Frage halte . Ich glaube, die Einschätzung
wird uns beiden wichtig sein .
Zur Frage zu konkreter Hilfe und Schutz für die be-
treffenden Personen: Ich habe Ihnen eben gesagt, dass
wir uns sehr kümmern . Aber ich bin auch im Haus gebe-
ten worden, hier aus Schutzgründen keine Einzelheiten
zu nennen .
Wie beurteilen Sie die Situation der Sufis in Bangla-
desch?
D
Ich weiß, dass nicht nur dieser Personenkreis, der jetzt
durch Ihre Frage angesprochen worden ist, in einer sehr
bedrängten Situation ist . Wir haben auch erhebliche reli-
giöse Konflikte mit sehr vielen anderen Gruppen. Ich bin
in großer Sorge – dabei ziehe ich diesen Personenkreis
mit ein –, was die Menschenrechtslage dort insgesamt
und auch die stark zunehmenden extremistischen Hand-
lungen anbetrifft .
Vielen Dank .
Ich rufe die Frage 25 ebenfalls des Kollegen Beck auf:
Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die
Bundesregierung aus den Entscheidungen des griechischen
Asylkomitees, wonach die Türkei kein sicherer Drittstaat sei
Das ist der Geschäftsbereich des Innern; das hätte ich
vorab sagen sollen .
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das
Wort .
D
Vielen Dank, Frau Präsidentin . Ich hätte sonst Ihren
Hinweis von eben aufgegriffen, dass die Bundesregie-
rung immer spontan entscheiden kann, wer antwortet .
Bei der Fragestunde ist das ein bisschen anders . Da
gibt es eine klare Zuständigkeit der Geschäftsbereiche .
Aber bei der Befragung der Bundesregierung – da haben
Sie Recht – ist jeder zuständig .
D
Alles gut . Ich wollte, dass Herr Beck die Antwort vomzuständigen Ministerium bekommt, und die gebe ich ihmgerne . – Die Bundesregierung hat die Entscheidung grie-chischer Widerspruchsbehörden zur Kenntnis genom-men . Sie ist vor dem Hintergrund der rechtlichen Ge-währleistung des türkischen Ausländergesetzes und desGesetzes zum internationalen Schutz, der türkischen Zu-sagen sowie der jüngsten Rechtsänderungen der Auffas-sung, dass die Türkei die Anforderungen an einen siche-ren Drittstaat gemäß Artikel 38 der Richtlinie 2013/32/EU, also der Asylverfahrensrichtlinie, erfüllt .Staatsministerin Dr. Maria Böhmerhttp://www.proasyl.de/news/eu-tuerkei-deal-berufungsinstanz-stoppt-abschiebungen-in-die-tuerkei/http://www.proasyl.de/news/eu-tuerkei-deal-berufungsinstanz-stoppt-abschiebungen-in-die-tuerkei/
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(C)
(D)
Herr Kollege Beck .
Wenn ein Mitgliedstaat, dem wir in der Vergangenheit
vorgeworfen haben, dass er das Asylrecht zu lasch im
Sinne des Rechtsschutzes anwendet, nämlich Griechen-
land, zu dem Ergebnis kommt, dass die Türkei nicht als
sicherer Drittstaat behandelt werden kann, sollten wir das
meines Erachtens sehr ernst nehmen . Inwiefern hat das
Konsequenzen für den neuen § 29 Absatz 1 Nummer 4
des Asylgesetzes, den Sie im Entwurf des Integrationsge-
setzes vorgeschlagen haben? Soll die Türkei von dieser
Regelung umfasst sein, oder wollen Sie hier Erklärungen
abgeben, womöglich im Beratungsverfahren, dass diese
Regelung zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht einschlä-
gig für die Türkei sein wird?
Herr Staatssekretär .
D
Danke schön . – Ich kann und will hier keine Erklärun-
gen abgeben . Der Paragraf spricht für sich selbst . Er be-
inhaltet sozusagen ein Prüfprogramm, das wir ernst neh-
men . Ich darf noch einmal in Bezug auf Ihre Bemerkung
darauf hinweisen, dass das einzelne Entscheidungen ei-
nes Gremiums sind, in dem übrigens auch gar nicht grie-
chische Beamte die Mehrheit stellen, sondern eine NGO
und eine internationale Kommission . Insofern ist das an
der Stelle keine Verlautbarung des griechischen Staates .
– Es ist kein Gericht gewesen, sondern ein Komitee .
Inwiefern stellt Ihres Erachtens dieser Vorgang den
Türkei-Deal infrage, und wie reagieren Sie auf die Situa-
tion, dass sich jetzt durch den Türkei-Deal die Fluchtrou-
ten im Mittelmeer – die Bewegung konzentriert sich jetzt
auf längere Wege – verschoben haben und allein in der
letzten Maiwoche 700 Menschen ertrunken sind?
D
Der Türkei-Deal, wie Sie das nennen, Herr Kollege,
beinhaltet verschiedene Elemente, unter anderem auch,
dass wir mit Unterstützung der Europäischen Union
dafür sorgen, dass Kinder aus Syrien in der Türkei zur
Schule gehen können. Ich finde, das ist ein Ziel, das wir
alle gemeinsam an dieser Stelle haben . Aber Inhalt sind,
wie Sie ja wissen, auch Regelungen zur Rückführung
von Asylbewerbern in die Türkei . All das beinhaltet na-
türlich immer die Prüfung im konkreten Fall; das habe
ich Ihnen gerade dargelegt .
Ich kann Ihre sehr pauschale Ansicht nicht teilen, wenn
Sie sagen, dass das, was wir jetzt auf anderen Fluchtwe-
gen erleben, eine Eins-zu-eins-Verlagerung dessen ist,
was vorher über die Türkei gekommen ist . Es gab offen-
bar einzelne Hinweise, dass manche Personen aus Syrien
jetzt andere Routen nutzen . Aber man kann nicht sagen,
dass es hier zu einer echten Eins-zu-eins-Verlagerung der
Fluchtrouten gekommen ist .
Vielen Dank . – Die Frage 26 des Abgeordneten
Ströbele wurde zurückgezogen .
Dann komme ich zur Frage 27 des Abgeordneten
Hans-Christian Ströbele:
Welche Angaben macht die Bundesregierung zu den Um-
ständen des verspäteten Auffindens eines weiteren Mobiltele-
fons und später auch noch mehrerer SIM-Karten des ehema-
ligen V-Mannes des Bundesamts für Verfassungsschutz, R .,
Deckname „Corelli“, in den Räumen des Amts und zu ihrer
Bewertung dieses Vorgangs, und wer trägt nach Auffassung
der Bundesregierung die politische Verantwortung für diese
Missstände?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort .
D
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Herr Kollege
Ströbele, die Umstände des Auffindens eines Mobiltele-
fons und mehrerer SIM-Karten im Bundesamt für Ver-
fassungsschutz werden zurzeit, wie Ihnen wohl bekannt
ist, untersucht . Das Bundesministerium des Innern hat
am 3 . Juni 2016 einen externen Experten, Herrn Mi-
nisterialdirektor a . D . Reinhard Rupprecht, beauftragt,
zu untersuchen, ob und gegebenenfalls welche Defizite
hinsichtlich der Ablauf- und Aufsichtsmechanismen im
Bundesamt für Verfassungsschutz bestehen . Er wird bei
seiner Arbeit natürlich auch von Mitarbeitern aus dem
Bundesministerium des Innern unterstützt . Die Ergebnis-
se der eingeleiteten Aufklärungsinitiative sind zunächst
abzuwarten . Erst dann kann eine Bewertung des Sach-
verhaltes erfolgen .
Herr Kollege Ströbele .
Herr Staatssekretär, in der Tat war das, was Sie ge-sagt haben, schon bekannt; mit Ausnahme des Namens,den Sie genannt haben, war das alles bekannt . Wir ha-ben in der letzten Fragestunde vor einer Woche schonden Minister selber nach diesem Sachverhalt befragt . Erhat gesagt, eine ganze Kommission des Bundesinnen-ministeriums, die sich der Sache annehmen solle, werdenach Köln geschickt . Nun ist eine Woche vorbei . Manmuss doch irgendwann einmal die Verantwortlichkeitenfeststellen . Wie lange braucht so eine Arbeitsgruppe, dienach Köln fährt, dafür? Was macht sie da eigentlich, umfestzustellen, dass ein Handy und fünf, sechs oder sie-ben SIM-Karten für dieses Handy offenbar jahrelang ineinem Tresor verschlossen blieben, obwohl der Tresormehrfach durchsucht worden ist? Wie kann man das er-klären, und warum gibt es immer noch keine Angaben zuden dafür Verantwortlichen?
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(D)
D
Herr Kollege, Sie bezogen sich nicht auf die Frage-
stunde, sondern auf die Regierungsbefragung in der letz-
ten Sitzungswoche; aber das ist in der Tat zeitlich eng
beieinander . Dort hat der Minister entsprechende Anga-
ben gemacht . Nach einer Woche kann ich Ihnen noch
nichts anderes sagen . Allerdings wirken wir darauf hin –
das wird sicherlich auch so eintreten –, dass bereits Ende
des Monats ein entsprechender Bericht vorliegt . Wir ha-
ben auch keine Kommission dorthin entsandt, vielmehr
habe ich den Namen eines Beauftragten genannt . Er wird
von Mitarbeitern unseres Hauses unterstützt, um festzu-
stellen, ob Fehler passiert sind und, wenn ja, wo Fehler
passiert sind . Ich glaube, dass das Vorgehen in der Ver-
gangenheit, dass man immer, wenn man einen Gegen-
stand entdeckt hat, dies der Öffentlichkeit mitgeteilt hat,
zu Recht kritisiert worden ist .
Es ist von der Opposition auch kritisiert worden, dass
man Stück für Stück vorgegangen ist . Das soll uns nicht
noch einmal passieren . Es sollte jetzt möglichst klar sein,
ob es da Gegenstände gibt, die bisher nicht berücksichtigt
worden sind, und warum das nicht der Fall gewesen ist .
Ich will auch darauf hinweisen: Unser Haus ist nicht
die einzige Stelle, die sich hier in erster Linie in der Ver-
antwortung sieht . Vielmehr hat das PKGr, dem Sie mei-
nes Wissens angehören, den Ermittlungsbeauftragten
Jerzy Montag, der diese Arbeit schon einmal gemacht
hat, noch einmal beauftragt, diese Untersuchung von sich
aus durchzuführen und der Frage nachzugehen: Was ist
auch mir damals vielleicht nicht vorgelegt worden, bzw .
was habe ich nicht erkannt? – Insofern sind wir hier an
mehreren Stellen mit der Aufklärung beschäftigt . Wir
sind auch sehr interessiert, das zu tun .
Kollege Ströbele .
Danke . – Trotzdem vermisse ich eine Reaktion, dass
man zum Beispiel sagt: Die Verantwortlichen sind da
oder dort zu suchen .
Aber ich habe dazu eine Zusatzfrage . Inzwischen wis-
sen wir über den mysteriösen Fall des jahrzehntelang
tätigen V-Manns im rechten Bereich ein zusätzliches
Faktum . Es geht um das, was der Sachverständige im
Untersuchungsausschuss in Nordrhein-Westfalen gesagt
hat . Bisher wurde der Tod von „Corelli“, der in den bes-
ten Jahren war – ich glaube, er war 35 Jahre oder so –, als
natürlicher Tod bewertet; es wurde erklärt, er habe Dia-
betes gehabt und einen Diabetesschock erlitten . Nun sagt
derselbe Sachverständige, er müsse das korrigieren; für
den Tod könne auch Rattengift verantwortlich gewesen
sein. Irgendwie befinden wir uns in einem sehr unwahr-
scheinlichen Kriminalroman, wenn man das zusammen-
fassend wertet .
Was tun Sie, um hier eine neutrale Aufklärung zu ge-
währleisten? Bei dieser Aussage brechen doch rechts und
links alle bisher genannten Argumente weg .
Herr Staatssekretär .
D
Vielen Dank . – Ich teile Ihre Schlussfolgerung nicht,
weil es nicht nur einen Sachverständigen gab, der an die-
sem Fall beteiligt war und entsprechende Aussagen ge-
macht hat .
Natürlich nehmen wir all das aber ernst, und wir zie-
hen das in Betracht, was in den Untersuchungsausschüs-
sen der Landtage dazu – inzwischen gibt es ja mehre-
re – gesagt wird, wie zum Beispiel natürlich auch diese
Aussage . Das führte bei uns bislang aber nicht zu einer
anderen Schlussfolgerung, zumal er, wie gesagt, nicht
der einzige Experte war, der sich gerade auch mit der To-
desursache befasst hat .
Frau Haßelmann .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Herr Staatssekretär,
ich habe noch eine Frage im Nachgang zu der Ausgangs-
frage von Herrn Ströbele . Mittlerweile ist eine Woche
vergangen, und Ihre Taskforce ist nach Köln ausgerückt .
Der Minister hat uns erklärt, das werde jetzt zeitnah und
gründlich aufgeklärt; Sie haben darüber berichtet . Jerzy
Montag, der Sonderermittler, musste wieder eingesetzt
werden, weil klar ist, dass ihm wahrscheinlich Dinge
vorenthalten worden sind, die demnach nicht Teil des
Untersuchungsberichtes „Corelli“ sein konnten .
Schließt der Chef des Bundesamtes für Verfassungs-
schutz, Herr Maaßen, inzwischen aus, dass wir weiterhin
Woche für Woche in einer Art Salamitaktik mit neuen
Funden von Handys, SIM-Karten oder anderen Dingen
im Fall „Corelli“ konfrontiert werden? Der Hintergrund
meiner Frage ist ja klar: Innerhalb von Wochen sind wir
immer wieder mit neuen Details und Funden aus dem be-
sagten Tresor konfrontiert worden .
Ich stelle mir jetzt vor, man fährt nach Köln und setzt
alle daran, das aufzuklären . Ist inzwischen ausgeschlos-
sen, dass noch neue SIM-Karten und Handys gefunden
werden, die „Corelli“, diesem V-Mann, gehörten, oder
hat Herr Maaßen sich dazu noch immer nicht eingelas-
sen?
Herr Staatssekretär .
D
Vielen Dank . – Sie haben eben einerseits eine zeitnaheund andererseits auch eine gründliche Aufklärung gefor-dert . Wie so oft im Leben kann beides in einem gewis-sen Zielwiderspruch stehen . Von daher haben wir gesagt,dass wir – richtig – zeitnah aufklären, aber auch nichtsübers Knie brechen wollen . Es wäre geradezu unverant-wortlich, jetzt, während die Untersuchung noch läuft,
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jegliche Bewertungen abzugeben, die Sie angemahntoder insinuiert haben .Eine Untersuchung macht keinen Sinn, wenn man dasErgebnis schon vorher kennt . Aus diesem Grunde habeich gesagt: Bis Ende Juni soll die Untersuchung unterder Federführung von Herrn Ministerialdirektor a . D .Rupprecht abgeschlossen werden . Danach werden dieErgebnisse vorliegen .
– Das hängt wahrscheinlich auch von der Natur der Er-gebnisse ab . Ich kann das heute nicht beantworten . Ichglaube, auch hier gilt wieder: So viel Transparenz wierechtlich irgendwie möglich . In diesem Zusammenhangmuss aber auch der zweite Teil des Satzes gelten, dasswir immer auch so viel Vertraulichkeit wie nötig gewähr-leisten müssen . Insofern werden wir schauen: Alles, wastransparent und dem Parlament vorzustellen ist, wird na-türlich auch gerne vorgestellt .
Vielen Dank . – Wir sind damit am Ende des Ge-
schäftsbereichs des Bundesministeriums des Innern und
kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums
der Finanzen . Die Frage 28 der Abgeordneten Dr . Julia
Verlinden wird schriftlich beantwortet .
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Arbeit und Soziales . Die Beantwor-
tung übernimmt die Parlamentarische Staatssekretärin
Anette Kramme .
Wir kommen zur Frage 29 . Da die Abgeordnete Ulla
Jelpke immer noch nicht anwesend ist, wird verfahren,
wie in der Geschäftsordnung vorgesehen .
Die Fragen 30 und 31 des Abgeordneten Dr . Wolfgang
Strengmann-Kuhn werden schriftlich beantwortet .
Damit rufe ich die Frage 32 der Abgeordneten Katrin
Werner auf:
Welcher finanzielle und personelle Verwaltungsaufwand ist
nach Kenntnis der Bundesregierung mit der Anrechnung des
Einkommens und Vermögens auf Teilhabeleistungen für Men-
schen mit Behinderungen derzeit notwendig?
Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort .
A
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin . – Frau Werner, Sie
wissen, dass die Durchführung der Eingliederungshilfe
und damit auch die Anrechnung von Einkommen und
Vermögen den Länderbehörden bzw . den Kommunal-
behörden obliegt . Demgemäß liegen uns keine Erkennt-
nisse über den finanziellen und den personellen Verwal-
tungsaufwand vor .
Frau Werner .
Danke schön, Frau Kramme . – Ich gehe hoffentlich
richtig in der Annahme, dass wir immer noch über den
gleichen Referentenentwurf diskutieren, auch wenn am
1 . Juni 2016 der Koalitionsausschuss tagte und die eine
oder andere Pressemitteilung des einen oder anderen
Mitglieds hier im Hause vielleicht eine andere Wahrneh-
mung hat möglich werden lassen . Das wollte ich nur vor-
ab einmal sagen, damit wir nicht von unterschiedlichen
Papieren reden und es nicht schon die eine oder andere
Änderung gibt, die uns nur noch nicht erreicht hat . Mich
verwundert es, dass Sie dazu keine Angaben machen
können .
Völlig richtig ist natürlich, dass die Eingliederungs-
hilfe Ländersache ist . Aber gerade beim Thema Ein-
gliederungshilfe müssten schon irgendwelche Angaben
vorliegen . Ich erinnere an die Fiskalpaktverhandlungen
von 2012, bei denen es darum ging, die Kommunen im
Bereich der Eingliederungshilfe zu entlasten . Dabei wur-
den erstmalig 5 Milliarden Euro zur Entlastung zugesagt,
eine Zusage, die dann wieder zurückgenommen wurde
und die jetzt anscheinend wieder gemacht wird . Also
müssen Sie doch schon seit 2012 von belastbaren Zahlen
ausgehen .
Ansonsten sage ich Ihnen: Vielleicht brauchen wir
10 Milliarden Euro, vielleicht brauchen wir 7 Milliarden
Euro, wie auch immer . Wenn die Bundesregierung Gel-
der zur Verfügung stellt, muss sie doch von den Belastun-
gen Kenntnis haben . Davon gehe ich zumindest aus, weil
in diesem Zusammenhang die 5 Milliarden Euro, glaube
ich, wieder im Raum stehen .
Frau Staatssekretärin .
A
Frau Werner, ich kann bei meiner Aussage nur blei-
ben . Wir haben keine Erkenntnisse darüber, was den per-
sonellen und finanziellen Verwaltungsaufwand betrifft.
Etwas anderes ist der Sachverhalt, wie viele Betroffene
es gibt und wie hoch die Einnahmen sind . Das ist Ihre
zweite Fragestellung .
Frau Werner .
Gut, dann aber noch einmal zur ersten Fragestellung:In der jetzigen Vorlage ist eine Erhöhung der bestehen-den Einkommens- und Vermögengrenzen vorgesehen .Insofern ist uns allen bekannt, dass es einen Verwaltungs-aufwand gibt . Schließlich müssen die Menschen Nach-weise erbringen, die überprüft werden müssen, und diePersonen, die sie überprüfen, bekommen ein Gehalt . EsParl. Staatssekretär Dr. Günter Krings
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gibt also einen finanziellen Aufwand und einen Verwal-tungsaufwand .Nun werden diese Grenzen angehoben . Ich glaubeschon, dass zumindest wir beide uns einig sind, dassder Verwaltungsaufwand dann, wenn die Grenzen ganzaufgehoben würden, geringer würde . Da wir von einemBundesteilhabegesetz, sprich: einem Bundesgesetz, re-den, interessiert mich, ob das Ministerium, das diesenEntwurf vorbereitet hat, irgendwelche belastbaren Zah-len dazu hat, welche Auswirkungen diese Maßnahme aufLänder und Kommunen hat, gerade im Hinblick darauf,dass die eine oder andere Kommune eine sehr ange-spannte Haushaltslage hat .
Frau Staatssekretärin .
A
Frau Werner, wir kommen an dieser Stelle auch mit
den Nachfragen nicht weiter . Das würde voraussetzen,
dass in den Ländern und Kommunen danach unter-
schieden wird, ob regulär Verwaltungsmitarbeiter zur
Bearbeitung von Anträgen auf Eingliederungshilfe nach
SGB XII eingesetzt werden . Das würde weiter voraus-
setzen, dass innerhalb der Eingliederungshilfe danach
unterschieden wird, ob es um die Anrechnung von Ein-
kommen und Vermögen geht . Wir haben diesbezüglich
schlichtweg keine Zahlen . Von daher gesehen kann ich
Ihnen keine weitere Auskunft geben .
Damit komme ich zur Frage 33 der Abgeordneten
Katrin Werner:
Wie viele Menschen mit Behinderungen sind nach Infor-
mationen der Bundesregierung derzeit von der Anrechnung
des Einkommens und Vermögens auf Leistungen für behinder-
te Menschen betroffen?
Frau Staatssekretärin, Sie haben wieder das Wort .
A
Ganz herzlichen Dank, Frau Präsidentin . – Auf diese
Frage muss ich antworten, dass keine statistischen Da-
ten zur Größe dieser Personengruppe vorliegen . Es wird
geschätzt – das ist reine Schätzung –, dass derzeit jeder
Zehnte der aktuell rund 700 000 Bezieher von Einglie-
derungshilfe für behinderte Menschen von der Einkom-
mens- und Vermögensanrechnung betroffen ist .
Vielen Dank . – Frau Werner .
Vielen Dank . – Nun wissen wir aber auch, dass viele
Menschen aufgrund dieser Einkommens- und Vermö-
gensanrechnung momentan überhaupt keine Eingliede-
rungshilfe beantragen bzw . dass ihr Bedarf teilweise über
Familienmitglieder oder über andere Wege abgedeckt
wird . Ist Ihnen da eine Gesamtzahl bekannt?
Frau Staatssekretärin .
A
Da begebe ich mich in den Bereich der Dunkelziffern .
Wir alle wissen, dass der Umgang mit Dunkelziffern ex-
trem schwierig ist . Nach meinem Kenntnisstand liegen
auch diesbezüglich keine Daten vor .
Frau Werner .
Nun lasse ich mich doch noch hinreißen . Gibt es jetzt
eine Anregung aus dem Ministerium oder einen Refe-
rentenentwurf, in dem 16 verschiedene Regelungen vor-
geschlagen werden, da wir auf Bundesebene überhaupt
keine belegbaren Zahlen haben? Für mich zumindest be-
stätigt sich da immer mehr die Wahrnehmung, dass wir
gerade in diesem Gesetzentwurf viel von „sollte“, „könn-
te“ und „Landesverordnung“ reden . Ehrlich gesagt, Ihre
Antworten – ich vermute, von Kollegen werden sicher-
lich noch Fragen kommen; in Zukunft wird das dann
auch der Fall sein – gehen so ein bisschen ins Blaue . Wir
wissen nicht genau, was wir regeln, und am Ende werden
wir wie 16 Bildungssysteme wahrscheinlich auch einmal
16 Auslegungen eines Bundesteilhabegesetzes haben .
Frau Staatssekretärin .
A
Es fällt mir schwer, diesbezüglich eine Frage zu er-
kennen .
Die Frage 34 der Abgeordneten Corinna Rüffer wird
schriftlich beantwortet .
Ich rufe die Frage 35 des Abgeordneten Birkwald auf:
Wie hat sich die Zahl der Menschen mit Behinderungen
nach Kenntnis der Bundesregierung in den letzten zehn Jahren
entwickelt, die in stationären Einrichtungen der Behinderten-
hilfe leben?
Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort .
A
Vielen Dank . – Die Zahl der Menschen mit Behin-derung, die Eingliederungshilfe für das Leben in einerWohneinrichtung erhalten, wurde letztmalig zum 31 . De-zember 2014 ermittelt . Damals waren es 193 770 Perso-Katrin Werner
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nen . Wir haben aber die Zahlen ab dem Zeitraum 2006 .Für 2005 liegen keine zuverlässigen Zahlen vor . Ich kannIhnen das jetzt referieren, aber Sie können natürlich auchdie Unterlage abwarten . – Also ich kann jetzt eine Zah-lenstaffel vortragen: 2006 154 425, 2007 157 596, 2008 167 161, 2009 177 259, 2010 182 398, 2011 181 564,2012 190 621, 2013 191 595 und 2014 193 770 .
Herr Birkwald .
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin, auch für die kon-
krete Beantwortung . Ich freue mich, dass sich die Zahlen
dann auch im Protokoll wiederfinden werden.
Meine Nachfrage an Sie: Welche Effekte erwartet die
Bundesregierung von der Einführung des Bundesteil-
habegesetzes in diesem Bereich im Sinne einer Priori-
tät eines Lebens daheim anstatt im Heim? Oder anders
formuliert: Welche Erwartungen haben Sie hinsichtlich
der Zahl von Menschen mit Behinderung, die künftig
in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe leben
werden? Werden es wohl mehr, oder werden es wohl we-
niger werden?
Frau Staatssekretärin .
A
Sie wissen, dass wir uns insoweit im Bereich des in-
ternen Regierungshandelns befinden. Sie wissen, dass es
noch keinen Kabinettsbeschluss zum Bundesteilhabege-
setz gibt . Man muss natürlich insoweit darauf hinweisen,
dass alles davon abhängig ist, wie letztlich diesbezügli-
che Regelungen ausgestaltet sein werden .
Wir werten in diesem Zusammenhang im Moment
auch noch alle Kritikpunkte und Anregungen, die von
Verbänden, von Ländern, aber auch darüber hinaus ein-
gegangen sind, aus und lassen sie gegebenenfalls mit
einfließen.
Darf ich dann zusammenfassen, dass sich die Bundes-
regierung bisher nichts erwartet an dieser Stelle?
Herr Birkwald, das war dann Ihre zweite Frage .
Ja .
Frau Staatssekretärin .
A
Ihre Frage ist wohl mehr oder minder nur rhetorisch
gemeint . Wie gesagt: Wir erstellen ein Bundesteilhabe-
gesetz in der Intention, etwas zu verändern .
Ich rufe die Frage 36 des Abgeordneten Birkwald auf:
Mit Einsparungen in welcher Höhe rechnet die Bundes-
regierung im Zuge der Einführung der gemeinsamen In-
anspruchnahme von Teilhabeleistungen, dem sogenannten
Zwangs-Pooling, auch in Hinblick auf die damit verbundene
Zumutbarkeitsprüfung?
Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort .
A
Ich muss an dieser Stelle natürlich wieder darauf ver-
weisen, dass wir uns im Bereich des regierungsinternen
Handelns befinden. Dennoch zum ursprünglichen Ent-
wurf: Das gemeinsame Erbringen von Leistungen an
mehrere Leistungsberechtigte, also das sogenannte Poo-
ling von Leistungen, ist nur möglich, soweit dies für den
Leistungsberechtigten zumutbar ist . Dabei sind selbst-
verständlich die persönlichen, die familiären und auch
die örtlichen Umstände zu berücksichtigen . Da aber auch
heute schon Leistungen an mehrere Leistungsberechtig-
te gemeinsam erbracht werden können, wird davon aus-
gegangen, dass mit dieser Regelung die heutige Praxis
grundsätzlich fortgeführt wird . Dementsprechend sind
im Entwurf des Bundesteilhabegesetzes keine finanziel-
len Auswirkungen ausgewiesen .
Zusatzfrage, Herr Kollege?
Ja . Vielen Dank, Herr Präsident . – Stehen denn die
Kostenvorbehalte in Bezug auf das Wunsch- und Wahl-
recht für Menschen mit Behinderung aus Sicht der Bun-
desregierung im Einklang mit der Behindertenrechtskon-
vention der Vereinten Nationen?
A
Selbstverständlich stehen Wunsch- und Wahlrecht mit
der UN-Behindertenrechtskonvention im Einklang .
– Das Mikro fällt ständig aus .
Es ist aber wieder „eingefallen“ .
A
Ich weiß, auf was Sie hinauswollen . Aber Sie müs-sen wissen, dass auch beim sogenannten Pooling, wie ichParl. Staatssekretärin Anette Kramme
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vorhin bereits erwähnt habe, die persönlichen Umständedes Leistungsberechtigten zu berücksichtigen sind . Vondaher sind wir der Auffassung, dass das alles im Einklangmit der UN-Behindertenrechtskonvention steht .
Noch eine Zusatzfrage .
Ja, dafür mache ich es sehr kurz, Herr Präsident . –
Nach welchen Kriterien soll denn die Zumutbarkeitsprü-
fung erfolgen?
A
Ich habe dies bereits erwähnt, will mich aber an dieser
Stelle gerne wiederholen: Es sind die persönlichen, fami-
liären und örtlichen Umstände zu berücksichtigen .
Gibt es noch eine Nachfrage aus den Reihen der Lin-
ken? – Bitte schön .
Es ist bestimmt nicht verwunderlich, dass ich jetzt
noch einmal genauer nachhake . – Es ist nicht nur nach
der Prüfung des familiären Umfelds nachgefragt worden,
und es ging auch nicht um den Zusammenhang zwischen
UN-Behindertenrechtskonvention und Wunsch- und
Wahlrecht . Denn ich traue der Bundesregierung zu, das
zu erkennen . Denn ansonsten wäre das Vorwort in dem
Gesetzentwurf völlig falsch .
Es ging vielmehr um den Kostenvorbehalt und die
Frage, inwieweit das weiterverfolgt wird . Das passt auch
zu der Frage, ob die Unterbringung zu Hause oder im
Heim erfolgen sollte . Auch da geht es einfach nur darum,
ob man konsequent prüft oder ob die Hauptpriorität der-
zeit auf dem Wunsch- und Wahlrecht liegt, ohne Kosten-
vorbehalt, und ob die Priorität der Bundesregierung, des
Ministeriums oder des Referentenentwurfs beibehalten
wird, dass man sagt: „Der Mensch kann entscheiden, ob
er daheimbleiben möchte“, oder ob Sie erst prüfen wol-
len, ob die Familie, ob dieser, ob jener, ob Personen aus
dem Umfeld herangezogen werden können und ob die
Kostenfrage geklärt ist . Es geht um Ihre Prioritätenset-
zung und Ihre Vorstellungen, wie Sie die UN-Behinder-
tenrechtskonvention umsetzen wollen . Was nachher hier
im Hause abgestimmt wird – den Ablauf kennen wir
alle –, ist eine ganz andere Frage .
Frau Staatssekretärin .
A
Vielen Dank . – Es ergibt sich bereits daraus, dass wir
mit der Neuregelung keinerlei Einsparung planen, dass
wir dem Wunsch- und Wahlrecht hohe und höchste Prio-
rität einräumen .
Dann kommen wir zur Frage 37 der Abgeordneten
Jutta Krellmann, Fraktion Die Linke:
Wie viele Menschen mit Behinderungen sind nach Kennt-
nis der Bundesregierung derzeit in einer Werkstatt beschäftigt,
und wie hat sich die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
in Werkstätten für behinderte Menschen in den letzten zehn
Jahren entwickelt?
Frau Staatssekretärin .
A
Vielen Dank . – Im Jahr 2014 waren 311 869 Men-
schen mit Behinderung in einer Werkstatt beschäftigt .
Neuere Zahlen liegen noch nicht vor . Ich kann Ihnen,
wie gewünscht, aber die Zahlen der letzten zehn Jahre
nennen . Das waren im Jahr 2005 256 556 Menschen,
2006 268 046, 2007 275 492, 2008 278 689, 2009
290 285, 2010 291 187, 2011 297 214, 2012 302 629
und schlussendlich 2013 305 466 .
Danke schön . – Das alles wird im Protokoll gründlich
nachzulesen sein . Haben Sie noch eine Zusatzfrage, Frau
Kollegin Krellmann?
– Unbedingt . – Bitte .
Unbedingt . – Zum Glück kann jemand schnell mit-
schreiben . Wir werden das im Protokoll nachlesen . Nach
dem, was ich mitbekommen habe, geht die Entwicklung
nach oben . Die Zahlen gehen tendenziell nach oben . So
habe ich das jedenfalls auf die Schnelle verstanden .
Meine Zusatzfrage lautet: Wie bewertet die Bundes-
regierung den Entwurf des Bundesteilhabegesetzes im
Hinblick auf die Empfehlung des Fachausschusses der
Vereinten Nationen, Sonderwelten für Menschen mit Be-
hinderung abzubauen?
Frau Staatssekretärin .
A
Sie wissen, dass wir an dieser Stelle ausweislich desEntwurfs – über die letztendliche Fassung diskutierenwir hier bekanntermaßen nicht – verschiedene Alterna-tivmöglichkeiten geschaffen haben . Wir wollen, dassMenschen mit Behinderung, die in Werkstätten tätigsind, leichter ermöglicht wird, dort auszuscheiden, indemsie ein Rückkehrrecht bekommen, wenn sie es beispiels-weise nicht schaffen, ein Angebot auf dem ersten oderzweiten Arbeitsmarkt zu erhalten . Sie wissen auch, dasswir das sogenannte Budget für Arbeit einführen . Das sindin diesem Zusammenhang positive Entwicklungen .Zum Zahlenmaterial . Sie haben recht: Die Zahlen ge-hen nach oben . Das hat allerdings zwei Ursachen . DasParl. Staatssekretärin Anette Kramme
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eine Element, das hier zu berücksichtigen ist, ist, dassdie Menschen länger in den Werkstätten für Behinderteverbleiben, was insbesondere mit einer verbesserten kör-perlichen und psychischen Konstitution zusammenhängt .Die Medizin ist an dieser Stelle schlichtweg besser ge-worden . Das andere Element, das in diesem Zusammen-hang zu berücksichtigen ist, ist: Die Zahlen nehmen nichtmehr beachtlich zu . Es gibt zwar durchaus die beschrie-bene Entwicklung . Aber diese muss im Kontext gesehenwerden .
Wollen Sie noch eine Zusatzfrage stellen? – Nein .
Dann die Kollegin . Bitte .
Natürlich frage ich hierzu noch einmal nach . Schließ-
lich ging es in der Frage darum, wie es um den Abbau
und den Umgang mit der im Staatenbericht geäußer-
ten Kritik daran, dass in Deutschland Sonderwelten für
Menschen mit Behinderung zu finden sind – Stichwort
„Förderschule“ –, bestellt ist . Es geht darum, wie man
es abbaut . Es ist sicherlich eine Errungenschaft, dass es
keinen großen Zuwachs mehr gibt . Aber um einen Abbau
zu erreichen, muss man effektiv etwas dafür tun und darf
nicht Vorschläge verfolgen, die das Werkstattleben im
Alltag weiter verfestigen . Es gibt keine deutlichen Kon-
zepte, aus denen erkennbar hervorgeht, dass die Bundes-
regierung überhaupt gewillt ist, auf lange Sicht die Zahl
der in Werkstätten Tätigen abzubauen . Sie wissen ganz
genau, dass jeder, der in einer solchen Werkstatt tätig ist,
eine bestimmte Vorgeschichte hat . Man müsste also zu-
erst den vorgelagerten Bereich angehen, also den Förder-
schulbereich bzw . den Übergang von der Schule in die
berufliche Ausbildung, um Wege in Richtung Werkstät-
ten zu verhindern . Als wir heute im Familienausschuss
über den Jugendbericht diskutiert haben, wurde klar, dass
es gar keine belegbaren Zahlen oder Befragungen für den
Förderschulbereich gibt . Der Weg in die Ausbildung bzw .
in die Arbeitswelt ist doch entscheidend . Insofern ist die
Frage, was die Bundesregierung für den Abbau tut, ehr-
lich gesagt, zu beantworten mit: Im Moment nicht viel!
Sie tut nur alles, um nicht für einen Aufbau zu sorgen .
Frau Staatssekretärin .
A
Ich erkenne an dieser Stelle wieder keine Frage . Ich
will dennoch versuchen, auf diese Nichtfrage zu antwor-
ten . Der entscheidende Punkt ist folgender: Zunächst
einmal finde ich, dass Wunsch- und Wahlrechte ernst zu
nehmen sind . Die Wahl eines Menschen mit Behinderung
kann natürlich dahin gehen, weiterhin in einer Werkstatt
tätig zu sein . Man muss sehen, dass eine solche Tätig-
keit für viele relativ attraktiv ist, weil unter anderem eine
rentenrechtliche Absicherung diesbezüglich erfolgt . Man
muss aber auch sehen, dass wir an diesem Punkt durch-
aus arbeiten . Wie Sie wissen, hat das Ministerium ein
80-Millionen-Euro-Programm aufgelegt, das unter ande-
rem Beratung, aber auch die Schaffung von Ausbildungs-
plätzen beinhaltet. Ich finde, dass das durchaus eine be-
achtliche Summe ist, die hier eingesetzt wird .
Danke schön . – Wir kommen zur Frage 38 der Abge-
ordneten Jutta Krellmann:
Mit wie vielen Übergängen von Menschen mit Behinde-
rungen aus einer Werkstatt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt
rechnet die Bundesregierung im Hinblick auf die Einführung
eines Budgets für Arbeit?
Frau Staatssekretärin, bitte .
A
Übergangszahlen im Rahmen des Budgets für Arbeit
können derzeit noch nicht beziffert werden . Das neue
Instrument muss sich nach dessen Einführung logischer-
weise erst noch etablieren . Die Bundesregierung rechnet
aber nach den positiven Erfahrungen vergleichbarer Mo-
dellprojekte in einigen Bundesländern damit, dass sich
mit dem Budget für Arbeit die Zahlen der Übergänge von
Menschen mit Behinderung von Werkstätten auf den all-
gemeinen Arbeitsmarkt spürbar erhöhen werden .
Eine Nachfrage, Frau Kollegin? – Bitte .
Vielen Dank, Herr Präsident . – Wie stellt die Bundes-
regierung die Aufklärung von Arbeitgeberinnen und Ar-
beitgebern sicher, die im Hinblick auf die abweichenden
Regelungen, die die Bundesländer bezüglich des Budgets
für Arbeit treffen können, notwendig ist?
Frau Staatssekretärin, bitte .
A
Die Frage kann ich Ihnen aus dem Stegreif nicht mit
Sicherheit beantworten . Ich würde vermuten, dass dies-
bezüglich einerseits die Integrationsämter zuständig sind,
andererseits die Agenturen für Arbeit bzw . die Jobcenter .
Ich lasse Ihnen zusätzlich eine schriftliche Antwort zu-
kommen .
Eine Zusatzfrage? – Das ist nicht der Fall .Die Fragen 39 und 40 der Abgeordneten SabineZimmermann sowie die Frage 41 des Ab-geordneten Andrej Hunko und die Frage 42 der Abge-ordneten Sevim Dağdelen – Geschäftsbereich des Bun-desministeriums der Verteidigung – werden schriftlichbeantwortet .Wir sind damit am Ende der Fragestunde .Parl. Staatssekretärin Anette Kramme
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Ich unterbreche die Sitzung des Deutschen Bundesta-ges bis zum Beginn der Aktuellen Stunde um 15 .35 Uhr .
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet .Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktionen CDU/CSU, SPDund BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENUnwetter in DeutschlandAls erster Rednerin erteile ich der BundesministerinDr . Barbara Hendricks das Wort .
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir sind in den vergangenen Tagen Zeugen verheeren-der Unwetter geworden . Gestern Abend erst erreichtenuns Nachrichten von einem Tornado in Hamburg undvon schweren Unwettern in Nordrhein-Westfalen . Insge-samt am härtesten wurden Süddeutschland und Südwest-deutschland getroffen . Dort sind insgesamt elf Tote zubeklagen, ebenso erheblicher Sachschaden . Wir denkenan die Toten, deren Leben mit den Fluten fortgerissenwurde, darunter ein Feuerwehrmann aus SchwäbischGmünd, der starb, als er Leben retten wollte . UnserMitgefühl – ich denke, das sage ich im Namen allerKolleginnen und Kollegen – gilt den Angehörigen derTodesopfer . Wir denken auch an die vielen Menschen,deren Hab und Gut vernichtet wurde, die in diesen Tagenmühsam versuchen, zu retten, was zu retten ist, und dieerst langsam wieder in den Alltag zurückfinden werden.Wir wünschen Ihnen dabei viel Kraft!Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt aber auchDinge, die Mut machen: Die Menschen in unseremLand stehen zusammen, sie helfen, wenn andere Men-schen Hilfe brauchen . Unser Dank gilt ganz besondersden Rettungskräften, der Feuerwehr, den Angehörigender Hilfsorganisationen und des Technischen Hilfswerks,von denen ja sehr viele ehrenamtlich im Einsatz sind . Wirdanken der Polizei, der Bundeswehr und den Menschen,die sich einfach eine Schaufel genommen haben, um mit-zuhelfen .
Ich selbst bin auch gerne bereit, die betroffenen Ge-meinden im Rahmen von Stadtentwicklungsprogram-men beim Wiederaufbau zu unterstützen und auch dabei,Maßnahmen zu ergreifen, durch die solche erneuten ver-heerenden Schäden vermieden oder eingegrenzt werdenkönnen .Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach den großenFlusshochwassern 2013 stand der Hochwasserschutz anden großen Flüssen im Vordergrund unserer Arbeit . Ge-meinsam mit den Ländern hat der Bund ein NationalesHochwasserschutzprogramm beschlossen . Wir werdenin den kommenden Jahren – wir haben damit im ver-gangenen Jahr begonnen – Auen renaturieren, Deichezurückverlegen und zusätzliche Flutpolder schaffen . Wirwerden den Flüssen im Rahmen des Nationalen Hoch-wasserschutzprogramms mehr als 20 000 Hektar zusätz-lichen Raum geben .Das Hochwasserschutzgesetz II befindet sich geradein der Ressortabstimmung . Wir wollen in Zukunft ge-zielt dort ansetzen, wo das Hochwasser entsteht, zumBeispiel in den Mittelgebirgen und Hügellandschaften,wo bei Starkregen schnell viel Wasser in tiefer gelegeneGebiete fließt. Wir wollen die Wasserversickerungs- unddie Wasserrückhaltefähigkeit dieser Gebiete erhalten undverbessern, damit weniger Wasser in die Flüsse kommt .Die Katastrophen der vergangenen Woche machenaber einmal mehr deutlich, dass auch fernab der großenFlüsse die Gefahr von Überflutungen besteht. Die Ursa-che waren räumlich eng begrenzte, äußerst starke Regen-fälle, die sich plötzlich entluden, während einige Kilo-meter weiter die Sonne schien . In Simbach rollte einefast 5 Meter hohe Flutwelle durch den Ort . Das kleineFlüsschen Issel, das in Hamminkeln sonst rund 70 Zen-timeter tief ist, war zwischenzeitlich zu einem Fluss vonüber 2 Metern Tiefe geworden .Starkregenereignisse, die lokal zu massiven Zerstö-rungen führen, sind schon lange keine Einzelfälle mehr .In den vergangenen Tagen haben sie fast gleichzeitig anverschiedenen Orten in weiten Teilen des Landes stattge-funden . Welche Schlussfolgerungen ziehen wir daraus?Nicht jedes Wetterereignis ist ein Anzeichen für den Kli-mawandel . Fest steht aber: Durch den Klimawandel häu-fen sich diese Ereignisse . Acht der zehn wärmsten Jahreseit Beginn der Wetteraufzeichnungen liegen in diesemJahrtausend . Mit immer neuen Temperaturrekorden er-höht sich auch die Wahrscheinlichkeit für Wetterlagen,die Extremereignisse begünstigen .Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben uns in derStaatengemeinschaft darauf verständigt, den Klimawan-del auf unter 2 Grad oder möglichst 1,5 Grad zu begren-zen . Aber auch damit wird sich unser Klima verändern;es hat sich ja schon verändert . Neben dem Klimaschutzmuss die Anpassung an den Klimawandel einen höherenStellenwert bekommen . Dazu gehört zuallererst der bes-sere Schutz der Bevölkerung und wichtiger Infrastruk-turen . Mein Parlamentarischer Staatssekretär FlorianPronold hat den Umweltausschuss in der vergangenenWoche über den Fortschrittsbericht zur Deutschen An-passungsstrategie informiert; wir haben ja eine Anpas-sungsstrategie .Wir werden die Kommunen stärker unterstützen,Wissen für Entscheidungsträger aufbereiten und Pilot-projekte starten . Das bedeutet zuallererst: Wir müssennach Möglichkeiten suchen, solche Ereignisse besservorhersagen zu können, zum Beispiel, indem wir Nie-derschlagsmessungen mit den Daten zum Abwassernetzoder zu besonders verwundbaren Gebieten abgleichen .Daran arbeiten wir gemeinsam mit dem Deutschen Wet-terdienst . Wir brauchen außerdem bessere WarnsystemeVizepräsident Peter Hintze
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und Notfallpläne . Oft entscheiden wenige Minuten darü-ber, ob Menschen sich rechtzeitig in Sicherheit bringenkönnen .Die Bundesländer haben in den vergangenen Jahrenentlang der großen Flüsse ein Hochwassermanagementmit Risiko- und Gefahrenkarten erstellt . Die gemeinsa-men Bemühungen von Bund und Ländern haben dort inden vergangenen Jahren zu großen Fortschritten geführt .Die aktuellen Ereignisse zeigen aber: Wir brauchen auchein aktives Starkregenmanagement . Wir müssen Orte mitbesonderem Risiko identifizieren, Vorsorge treffen undNotfallmaßnahmen ausarbeiten . Wir müssen außerdemgerade in gefährdeten Gebieten eine vorsorgende Raum-und Flächennutzung etablieren . Ich sage ganz klar: Ge-rade in verwundbaren Gebieten dürfen wir nicht immerweitere Flächen versiegeln . Je mehr wir asphaltieren,bebauen und bepflastern, desto größer werden die Was-sermassen, die anschließend durch Flussbette und Ab-wasserrohre abtransportiert werden müssen . Wir müssenverstärkt Flüsse und Bäche renaturieren und immer dort,wo es möglich ist, die Versiegelung der Landschaft rück-gängig machen .Eine intensive Landwirtschaft, insbesondere derMais anbau, ist bei Dauerregen im Frühsommer ein zu-sätzlicher Risikofaktor für Überflutungen. Um diese Jah-reszeit haben zum Beispiel die Maisfelder noch viel un-bedeckte Fläche; die jungen Pflanzen nehmen das Wasserkaum auf . Das führt zu einer verstärkten Erosion . Außer-dem kann das weggeschwemmte Erdreich Bäche undAbflussrohre verstopfen. Dass der intensive Maisanbauinsbesondere in hügeligen Lagen die Hochwassergefahrerhöhen kann, war dieser Tage noch von den Experten inden bayerischen Behörden bestätigt worden . Niederbay-ern ist übrigens das Zentrum des Maisanbaus in Bayern .Er umfasst stellenweise über ein Drittel des gesamtenAgrarlandes in der Region . Gleichzeitig zählt das nieder-bayerische Rottal zu den vier Regionen Deutschlands,die am stärksten unter Erosion leiden . Ich bin sehr dafür,dass wir dringend zur guten fachlichen Praxis zurück-kommen: Wiesen dort, wo sie hingehören, und Äckerdort, wo sie hingehören .
Das ist eigentlich ziemlich einfach . MinisterpräsidentSeehofer, den ich persönlich sehr mag,
muss das den bayerischen Bauern auch sagen, wenn ersich für einen noch stärkeren Ausbau der Biomasse ein-setzt .Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe es schongesagt: Die Wetterereignisse häufen sich . Wir müssenfeststellen, dass die Zeitspanne zwischen den sogenann-ten Jahrhundertunwettern immer kürzer wird . Wir sinddie erste Generation, die den menschengemachten Kli-mawandel erlebt, und wir sind die letzte, die ihn auf einbeherrschbares Maß begrenzen kann . Wir sollten unsdeshalb nicht die Frage stellen: „Was kostet uns der Kli-maschutz?“, sondern müssen uns die Frage stellen: Waskostet es, wenn wir nicht handeln?
Das gilt übrigens nicht nur für uns, sondern in verstärk-tem Maße für die Länder, die eine schlechte Infrastruk-tur, weniger stabile Häuser und praktisch keinen Kata-strophenschutz haben . Wir haben also keine Alternativedazu, unsere Lebensweise an den schon stattfindendenKlimawandel anzupassen – auch in Deutschland; das giltnicht nur für die Länder des Südens . Unsere Phantasiesollte sich nicht darin erschöpfen, Deiche zu erhöhen undgrößere Abwasserrohre zu verbauen . Die beste Katastro-phenvorsorge sind angepasste Schutzmaßnahmen .Herzlichen Dank .
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Eva Bulling-Schröter, Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Alle reden übers Wetter, wir Linke nicht. Ich finde esviel wichtiger, darüber zu reden, wie wir schnell undunbürokratisch helfen können . Das sage ich nicht nurals Abgeordnete aus Bayern, wo die Unwetter ja in be-sonders drastischer Art und Weise zugeschlagen haben .Mein Beileid und meine Anteilnahme möchte ich an die-ser Stelle auch im Namen meiner Fraktion den Familienund Hinterbliebenen der Todesopfer in Deutschland be-kunden sowie den Flutopfern, die Hab und Gut verlorenhaben .
Unser Dank gilt natürlich den vielen ehrenamtlichen Hel-ferinnen und Helfern vor Ort .
Wir sollten den Menschen endlich einmal reinen Weineinschenken. Jedes Jahr eine Jahrhundertflut, jedes Jahrein Jahrhundertsturm – dazu sagen wir: Da stimmt etwasnicht . Ich erkläre Ihnen auch, warum . Meine Vorredne-rin, Frau Ministerin Hendricks, hat die Gründe bereitsangesprochen. Was sind die Gründe für die Sturzflutenund Stürme in Bayern, Baden-Württemberg, am Nie-derrhein, in Rheinland-Pfalz und der Eifel sowie für denTornado gestern in Hamburg? Was heute und vor einerWoche passiert ist, das nennt man allgemein Wetter .Bei Wetter und Unwetter geht es um einen kurzen Zu-stand – mal regnet es, mal scheint die Sonne –; wir habenes heute aber mit den Folgen des Klimawandels zu tun .Messungen über Jahrzehnte hinweg zeigen, dass die ZahlBundesministerin Dr. Barbara Hendricks
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der Extremwetterereignisse weltweit, auch in Deutsch-land, stark zunimmt. Immer mehr Stürme, Regenflutenund Hitzewellen sind also nicht Ausdruck einer vorüber-gehenden Erscheinung, kein Wetter, sondern Folgen desKlimawandels . Reden Sie mit Versicherungsexperten,treffen Sie sich mit Wissenschaftlern; sie erklären Ih-nen den Unterschied zwischen Wetter und Klima . „Kli-mawandel und seine Folgen in Deutschland“, das wäreeigentlich der ehrlichere Titel für diese Aktuelle Stundegewesen .
Ein bisschen mehr Ehrlichkeit täte der Regierungsko-alition auch ganz gut, wenn wir über Nothilfen für dieGeschädigten reden . Wir von der Linken haben schonletzte Woche die Bundesregierung davon in Kenntnis ge-setzt, dass viele Milliarden Euro Nothilfe notwendig sindund diese sofort abrufbar wären . Unbürokratische Hilfevom Bund kann über den Aufbaufonds kommen, der hierim Juni 2013 beschlossen wurde . 7,4 Milliarden EuroSondervermögen wurden in diesen Fonds aufgenommen .Von diesem Geld ist sehr viel übrig . Das reicht, um denGeschädigten schnell zu helfen .
Während die Linke Hilfsgelder im Haushalt fand, lasich in einer Presseerklärung des Kanzleramts vom Don-nerstag die Reaktion der Bundeskanzlerin auf die Flu-ten – ich zitiere –:Sie beobachte die Situation weiter sehr genau .„Beobachten“, liebe Regierung, ist etwas für Fußballfansam Spielfeldrand oder für Vogelfans im Wald . Was zählt,ist das Grundgesetz, und darin steht, dass die Regierungdem Wohl der Bevölkerung verpflichtet ist. Handeln,nicht abwarten, das ist hier gefragt .
Wann gibt es aus dem Sondervermögen Entschädi-gungen für die Hinterbliebenen der Umweltopfer? Wanngehen diese Mittel an die Familien, deren Häuser in denWassermassen versunken sind? Sie warten auf diese Mit-tel; das wissen Sie . Der Bund hat Möglichkeiten . Stattsie zu nutzen, wird über neue Versicherungen diskutiertund Sparpolitik betrieben . Eine schwarze Null auf Kos-ten von Klimawandelopfern – das geht für uns gar nicht .
Geben Sie die Gelder frei, und hören Sie auf, vom Wetterzu reden .Die Ausrede, dass die Regierungsfraktionen keinemAntrag der Opposition zustimmen, lassen wir der Gro-ßen Koalition nicht durchgehen . Wir haben nämlich imHaushaltsausschuss gar keinen Antrag gestellt, sonderneine Unterrichtungsbitte eingereicht, übrigens als ersteund bis jetzt einzige Fraktion, was mich sehr wundert .Besonders wundere ich mich über die CSU, weil sie inBayern ununterbrochen Hilfe vom Bund anfordert, alswäre sie nicht in der Regierung . Sie haben ja mit dieseAktuelle Stunde beantragt .Ich sage: Nehmen Sie unseren Vorschlag auf . PrüfenSie den Wirtschaftsplan des Sondervermögens „Aufbau-hilfe“, und ändern Sie, wenn nötig, die Zweckbindungs-bestimmungen . Helfen Sie den Betroffenen schnell undunbürokratisch .Danke .
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Max Straubinger, CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!Dramatische Ereignisse haben sich in meinem Wahlkreis,aber natürlich auch im ganzen Bundesgebiet abgespielt .Wir sind innerhalb kürzester Zeit von schrecklichen Un-wettern heimgesucht worden, einmal in Baden-Württem-berg, dann in Bayern, dann in Rheinland-Pfalz, gestern inHamburg und in Nordrhein-Westfalen . Das zeigt, dass essich um eine breite Gewitterfront handelt, die über vieleBundesländer hinwegzieht . Daraus müssen entsprechen-de Schlüsse gezogen werden .Als Wahlkreisabgeordneter des mit am stärksten be-troffenen Landkreises Rottal-Inn darf ich aber durchauseinen Schwerpunkt legen . Bei uns gab es innerhalb kür-zester Zeit 200 Liter Regen pro Quadratmeter . Das hatgewaltige Spuren hinterlassen . Wir trauern um insgesamtelf Tote; die Frau Bundesministerin hat es bereits ausge-führt . Sieben Tote gab es in unserer niederbayerischenHeimat . Sie sind zum Teil leider unter sehr dramatischenUmständen ums Leben gekommen . Das Mitgefühl giltnatürlich den Angehörigen und allen Verwandten undBekannten .Wir danken gleichzeitig für den großartigen Einsatz,den die Rettungskräfte geleistet haben: 390 Personenwurden aus akuter Not gerettet, 150 Personen aus le-bensbedrohlichen Situationen befreit . Das zeigt – ich bindavon überzeugt, dass der Kollege Stephan Mayer be-sonders darauf eingehen wird –, dass die Leistungsfähig-keit unserer Rettungsdienste hervorragend ist . Der Dankgilt deshalb von meiner Seite aus den Rettungskräften inallen Einsätzen . Es wurden 1 500 bis 2 000 Ersteinsätzedurchgeführt . Das zeigt sehr deutlich, dass wir hier gutaufgestellt sind . Ein herzliches Dankeschön an diese Ein-satzkräfte und an die Helfer vor Ort .
Was haben wir an Schäden zu verzeichnen? 430 Qua-dratkilometer verwüstetes Land, 5 000 betroffene Haus-halte, 20 Prozent davon vollkommen in ihrer Existenzgefährdet, 500 Häuser, die abbruchreif sind – die Schä-den an den Häusern kann man bis heute noch nicht quan-tifizieren –, erhebliche Schäden in der Landwirtschaftund in den Gewerbebetrieben . Deshalb ist es wichtig,sehr schnell Hilfe zu leisten. Ich finde es bedauerlich,Eva Bulling-Schröter
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dass die Frau Bundesministerin überhaupt nichts zu Hil-feleistungen gesagt hat .
Ich danke ganz besonders der Bayerischen Staatsre-gierung, die mit dem gestrigen Beschluss hervorragendgehandelt hat . Sie gibt den betroffenen Menschen Mutund Zuversicht, dass sie nicht auf ihren Schäden sitzenbleiben und dass sie vor allen Dingen dieselbe Unterstüt-zung bekommen wie damals die Opfer der Überflutungenin Deggendorf und Umgebung . Hier handelt die Bayeri-sche Staatsregierung vorbildlich .
Daran können sich auch andere Landesregierungen unterUmständen ein Beispiel nehmen .
Ein herzliches Dankeschön an den bayerischen Minister-präsidenten Horst Seehofer und sein Kabinett .
Ich danke aber auch für den Einsatz unseres Bundes-verkehrsministers, der am Freitag mit mir vor Ort dieumfangreichen Infrastrukturschäden an den Bundesstra-ßen 20 und 12 und an vielen Brückenteilen besichtigt hatund sich dafür einsetzt, dass diese Infrastruktureinrich-tungen sehr schnell und zügig wiederhergestellt werden .Mein Dank gilt auch dem Parlamentarischen Staatssekre-tär Pronold, der ebenfalls am Freitag vor Ort war . Ich binüberzeugt, dass er als Staatssekretär darauf achten wird,dass Städtebauförderungsmittel so weit wie möglich auchüber den Bundeshaushalt zum Einsatz gebracht werden,sodass den Menschen Mut und Zuversicht gegeben wer-den können . Für das Aufräumen der Schäden, die es gibt,auch ein herzliches Dankeschön an die Bundeswehr, dieseit Montag im Einsatz ist und hier Unterstützung leistet!
Werte Damen und Herren, natürlich wird jetzt Bilanzgezogen und gefragt: Wie hätten wir das verhindern kön-nen? Sicherlich ist hier Prävention, also der Hochwas-serschutz und Sonstiges, von elementarer Bedeutung; dieFrau Bundesministerin hat darauf hingewiesen . Aber ichfinde es bedauerlich, wenn jetzt sofort wieder über dieLandwirtschaft hergezogen wird . Ich frage mich: Wiekonnten denn die vielen Golfplätze abgeschwemmt wer-den, etwa im Landkreis Passau, die ja wohlweislich nichtmit Maisanbau, sondern mit Rasen bestückt sind .
Viele Gräben sind abgerissen worden; auch dort findetkein Maisanbau statt, dort sind Wiesen . Dass Wiesen ab-geschwemmt worden sind, muss man meines Erachtensauch deutlich machen . Man sollte aber nicht sofort dieLandwirtschaft in die Ecke stellen und so tun, als sei siedie Verursacherin dieser Situation .
Ein Letztes . Bei der Finanzierung der Beseitigung derSchäden handelt Bayern vorbildlich . Aber ich sage auch:Wenn es über mehrere Bundesländer hinweg solcheSchadensereignisse gibt, ist meines Erachtens auch derBund in die Pflicht zu nehmen, um hier entsprechendeHilfestellungen zu geben .
Herr Kollege?
Mich macht es schon nachdenklich, wenn ich feststel-
len muss: In Baden-Württemberg gibt es für 80 Prozent
der Gebäude eine Elementarschadenversicherung, in
Bayern nur für 24 Prozent der Gebäude . Das resultiert
daraus, dass es in Baden-Württemberg früher eine ent-
sprechende Pflichtversicherung gab –
Herr Kollege .
– und viele dieses Versicherungsverhältnis beibehal-
ten haben, dass dies in Bayern in der Vergangenheit aber
nicht der Fall war .
Lieber Kollege!
Deshalb gilt auch in diesem Fall, präventiv entgegen-
zuwirken und dafür zu sorgen, dass die Elementarscha-
denversicherung eine stärkere Verbreitung findet, sodass
in Zukunft die bestmögliche Regulierung der Schäden im
Sinne der Menschen erfolgen kann .
Herzlichen Dank für die Geduld, Herr Präsident .
Ich hatte keine Geduld, aber ich bin nicht dazwischen-
gekommen . Den nächsten Rednern gebe ich jeweils eine
Minute drauf, weil das sonst unfair wäre .
Kollege Ebner vom Bündnis 90/Die Grünen spricht
jetzt, und er bekommt sechs Minuten .
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! Die Unwetter der vergangenen Tage – es wur-de schon angesprochen – haben elf Todesopfer gefordert .Jedes ist eines zu viel . Unsere Gedanken, unser Mitge-fühl sind bei den Opfern und ihren Hinterbliebenen . Ichglaube, wir alle sind von der Wucht der Ereignisse undihren Folgen überrascht . Wir sind mit den Gedankenaber auch bei all jenen, die in der Nacht vom 29 . auf den30 . Mai dieses Jahres in Baden-Württemberg, vor allemMax Straubinger
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in den Landkreisen Hohenlohe, Schwäbisch Hall undOstalb, und bei dem unfassbaren Unwetter der folgendenTage in Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen zwarmit dem Schrecken, aber mit enormen materiellen Schä-den davongekommen sind .Zu bundesweit trauriger Berühmtheit ist dieser Tagedie Gemeinde Braunsbach gelangt, die im LandkreisSchwäbisch Hall-Hohenlohe liegt, den ich zusammenmit der Kollegin Sawade und dem Kollegen von Stettenhier vertreten darf . In der Nacht von Sonntag auf Montaghat ein Unwetter mit ungeheurer Wucht 180 Liter Regenin kaum mehr als einer Stunde über der Region abgela-den, wo sonst 70 Liter Regen im ganzen Monat fallen .Kleine Klingen sind zu Gesteinslawinen angeschwollen,Bäume sind wie Zahnstocher geknickt, und Autos hates wie Streichholzschachteln fortgetrieben . In wenigenMinuten wurde das schmucke Kleinstädtchen Brauns-bach am Kocher mitsamt seinen Teilorten verwüstet undin eine Trümmerlandschaft verwandelt . Existenzen sindzerstört . Die Menschen dort stehen buchstäblich vor demNichts . Wer das vor Ort gesehen hat, der kann es nurfür ein Wunder halten, dass gerade in Braunsbach keineMenschen zu Schaden kamen, niemand verletzt wurdeoder zu Tode gekommen ist .Lassen Sie uns bei allem Blick auf Braunsbach all dieweiteren Orte im Kochertal und im Jagsttal – Kirchbergmit seinen Teilorten, Langenburg, Künzelsau und Forch-tenberg –, aber auch Schwäbisch Gmünd, Wuppertal,Simbach am Inn und all die anderen Orte, die es ebenfallshart getroffen hat, nicht vergessen .Die materiellen Schäden sind wirklich enorm und bisheute nur grob abschätzbar . Allein in den beiden Land-kreisen Hohenlohekreis und Schwäbisch Hall in Ba-den-Württemberg gehen wir bisher von über 200 Milli-onen Euro aus, 104 Millionen Euro davon allein in dembetroffenen Ort Braunsbach .Das Verkehrsministerium, Herr Staatssekretär Barthle,geht von Schäden an der Straßen- und Schieneninfra-struktur in Höhe von 20 bis 50 Millionen Euro aus . Auchhier steht eine endgültige Schadensbilanz noch aus, undauch landwirtschaftliche Flächen hat es hart getroffen,auch und besonders – das wurde ja schon mehrfach an-gesprochen – zahlreiche Weinbaubetriebe mit Steillagenim Kochertal .Ich bin den vielen Menschen aus den umliegendenGemeinden dankbar, die spontan angepackt und mitge-holfen haben – das tun sie bis heute –, die Schäden zubeseitigen . Die gigantische Helferwelle hat die Koordi-natoren vor Ort an Grenzen gebracht; denn zeitweiligmussten Hilfsbereite wirklich gebeten werden, späterwiederzukommen, weil so viele auf einmal kamen . Daswar auch in Simbach so . Sie kamen mit Wasserpumpen,Schaufeln und Generatoren und haben gesagt: Hier binich . Wo kann ich helfen?Ich glaube, wir müssen schon auch schauen, wie wiruns hier künftig besser rüsten können, um diese Hilfenicht ins Leere laufen zu lassen, zum Beispiel müssenwir die neuen Medien zur Koordination nutzen . In Nord-rhein-Westfalen haben Studenten rucki, zucki eine On-lineplattform gestaltet . Das sollten wir künftig auch tun .Ein großes Lob gilt auch dem Krisenmanagement undder gigantischen Einsatzbereitschaft des THW, des Ro-ten Kreuzes, der Polizei, der Feuerwehr und aller anderenHelferinnen und Helfer .
Beeindruckt hat mich ebenfalls die spontane Hilfevon Asylsuchenden aus Afghanistan und Syrien, die inden Flüchtlingsheimen bei uns im Landkreis leben undmit Schaufeln, Gummistiefel und Eimern vor Ort aufge-taucht sind, um zu helfen . Das war ein wirklich nahezurührender Akt .Ich meine, deshalb ist jetzt auch nicht die Stundeder Schuldzuweisungen, sondern es ist die Stunde derschnellen Hilfe und der Unterstützung .
Es ist aber auch die Stunde der Analyse der Lage und derAnalyse, wo und wie wir kurz-, mittel- und langfristighandeln und helfen müssen .Viele Soforthilfen in Bayern und in Baden-Württem-berg sind angelaufen . Das hilft den Menschen zunächsteinmal über die ärgste Not hinweg . Das hilft ihnen abernicht in ihrer existenziellen Not .Die kleine verschuldete Gemeinde Braunsbach bei-spielsweise – das gilt aber auch für viele andere betrof-fenen Gemeinden – wird die Beseitigung der Schädenund den Wiederaufbau nicht alleine stemmen können .Das müssen wir wissen . Ich meine, neben den LändernBaden-Württemberg und Bayern ist jetzt auch der Bundgefordert, Mittel aus dem Hochwasserfonds für die be-troffenen Gemeinden und Kreise freizugeben . Die völligzerstörte Gemeinde Braunsbach braucht ein Wiederauf-bauprogramm, sonst kommt das gesamte Gemeinwesendort nicht wieder auf die Füße .Deshalb meine ich, die Bundesregierung muss hierden Ausgleich von monetären Schäden erleichtern undauch einen angemessenen Versicherungsschutz der Bür-gerinnen und Bürger vor Elementarschäden herstellen .Sie muss sich zumindest dafür einsetzen, dass hier nichtimmer die öffentliche Hand einspringen muss . Ich glau-be, wir brauchen eine Pflicht zur Versicherung gegenElementarschäden, sonst sind wir hier immer wieder ge-fordert .
Auch die Nachsorgebetreuung ist notwendig . Die Fluthinterlässt Biografiebrüche. Das dürfen wir nicht verges-sen .Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass sich sol-che extremen Wetterlagen häufen werden . Sie haben sichaufgrund der bestehenden Erderwärmung in den letztenJahren um 30 Prozent erhöht . Das ist ein entsprechen-des Signal . Absoluten Schutz dagegen gibt es nicht . Wirmüssen handeln und das Ausmaß solcher Schäden ver-ringern . Nichtstun ist keine Option, und wir dürfen dieSchadenssumme nicht ins Uferlose wachsen lassen .Harald Ebner
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Oberstes Gebot ist der Klimaschutz . Wir müssen das1,5-Grad-Ziel halten und dürfen es nicht durch – ich sagees einmal so – Veränderungen am EEG – mehr Kohleund weniger Zuwachs erneuerbarer Energien – konter-karieren .Wir müssen jetzt – das ist mein letzter Satz – eineAnalyse vornehmen: Was ist eigentlich auf den land-wirtschaftlichen Flächen geschehen? Wir haben jetzt dieDaten vor Ort, erheben wir sie, nutzen wir sie, wertenwir sie aus! Dann brauchen wir uns nicht zu streiten undbrauchen niemandem die Schuld zuzuweisen . Wir kön-nen jetzt die Daten vor Ort erheben und sehen: Was ist inden unterschiedlichen Strukturen der unterschiedlichenKulturen passiert?
Letzter Satz .
Wie viel Boden ist wo abgeschwemmt worden? Wir
können es nicht dulden, wertvollen Ackerboden zu ver-
lieren . Das nimmt uns die Lebensgrundlage auf diesem
Planeten .
Danke schön .
Vielen Dank, Herr Kollege Ebner . – Der nächste Red-
ner für die CSU/CDU-Fraktion: Stephan Mayer .
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Apokalyptische Vorgän-ge haben sich im Rahmen der Hochwasserkatastrophe inDeutschland in den letzten Tagen abgespielt . Ich glaube,der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer über-treibt nicht, wenn er von einem „Inferno“ spricht .Auch wenn dieses Starkregenereignis, das sich in vie-len Bundesländern zugetragen hat, regional begrenzt war,so kann man doch, glaube ich, deutlich darauf hinwei-sen, dass diese Katastrophe – ich möchte wirklich voneiner „Katastrophe“ sprechen – der Hochwasserkatastro-phe von vor drei Jahren in keiner Weise nachsteht . Auchwenn das Gesamtausmaß geringer ist, weil das Hochwas-ser dieses Mal regional und örtlich begrenzt war, so mussman doch deutlich sagen: Die betroffenen Personen, dieOpfer dieser Hochwasserkatastrophe, sind genauso dra-matisch geschädigt wie die Opfer von vor drei Jahren .Deshalb bin auch ich der Meinung, dass es dem Bundgut ansteht, mitzuhelfen . Es ist nicht nur die Aufgabeder betroffenen Bundesländer, sich jetzt zu engagieren .Das Engagement des Freistaats Bayern ist schon genanntworden, aber auch andere Bundesländer sind jetzt sehrschnell dabei, den unmittelbar Betroffenen zur Seite zustehen . Ich glaube, gerade in dieser Stunde steht es auchuns gut an, unsere Gedanken den Opfern zuzuwenden .Es ist schon erwähnt worden: elf Tote insgesamt, alleinim Landkreis Rottal-Inn 45 Verletzte . Wir sollten Anteil-nahme zeigen, unsere Gedanken denen zuwenden, diebetroffen und demoralisiert, teilweise auch traumatisiertsind . Aber es geht auch darum, die richtigen Konsequen-zen zu ziehen . Ich bin der festen Überzeugung, dass derBund seinen Obolus dazu beitragen muss, sei es aus demFluthilfefonds, sei es aus anderen Mitteln . Wir dürfen dieKommunen und die Länder hier nicht alleine lassen .
Es geht aus meiner Sicht auch darum, dass schnell ge-holfen wird. Es gibt ja das geflügelte Wort: Wer schnellhilft, hilft doppelt . Es ist schön und auch vorbildlich, dassdie Bayerische Staatsregierung allen Betroffenen – dasist teilweise schon erfolgt – 1 500 Euro pro Haushalt hatzukommen lassen . Aber auch der Bund sollte sich hierengagieren . Ich möchte deutlich sagen, dass es für dieBetroffenen allenfalls ein schwacher Trost ist, wenn derEinsatz mit Blick auf die Schadensbeseitigung, das Auf-räumen und auch auf die Wiederherstellung der Infra-struktur sehr gut gelaufen ist .Ich glaube, wir können wirklich mit Stolz auf dieHilfs- und Katastrophenschutzorganisationen des Bun-des und der Länder verweisen . Ihr Einsatz lief – das sageich in aller Offenheit – in der Vergangenheit nicht im-mer ganz so gut . Auch wenn Deutschland nicht nur dafürberühmt ist, unbürokratisch vorzugehen: Diese dramati-sche Katastrophe hat gezeigt, dass dann, wenn Not amMann ist, wenn die Not am größten ist, unbürokratischzusammengearbeitet wird . Ich möchte deshalb wirklichallen Hilfs- und Rettungsorganisationen des Bundes undder Länder von ganzem Herzen danken . Ob das die Po-lizei, das Technische Hilfswerk, die Feuerwehren oderdas Rote Kreuz ist: Hier ist in engagierter Weise wirklichhochprofessionell und herausragend gearbeitet worden .
Mein Heimatort Neuötting liegt nur 20 KilometerLuftlinie von Simbach, dem am stärksten betroffenenOrt, entfernt . Ich habe aufgrund der Erfahrungen derletzten Tage sehr intensiv mitbekommen, was dort ge-leistet wurde . Es waren alleine im Landkreis Rottal-Innüber 5 000 freiwillige Feuerwehrfrauen und -männer imEinsatz, über 1 000 Polizisten der bayerischen Landes-polizei, 70 Bundespolizeibeamte, die vor allem auch mitHubschraubern insgesamt 800 Personen evakuiert haben .Auch hier sind sehr viele Leben gerettet worden . DerKollege Straubinger hat schon darauf hingewiesen, dassinsgesamt 150 Menschen aus höchster Not, aus lebensbe-drohlicher Situation gerettet wurden .Aber es kamen auch Helfer aus Österreich: über200 Feuerwehrleute, 75 Einsatzkräfte des Roten Kreuzesaus dem benachbarten Österreich und – das möchte ichan der Stelle auch noch einmal deutlich betonen – Hun-derte von freiwilligen Helfern . Es war teilweise sogar so,dass zu viele freiwillige Helfer vor Ort waren, sodass dieZufahrtsstraßen verstopft waren . So viele freiwillige Hel-fer wollten sich engagieren, haben alles stehen und liegenlassen, um hier in höchster Not zu helfen .
Harald Ebner
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchtein aller Kürze auch noch auf die Hilfsorganisationen desBundes eingehen, allen voran das Technische Hilfswerk .Es war ja nicht immer so, dass die Zusammenarbeit zwi-schen der Feuerwehr und dem THW so reibungslos funk-tionierte wie jetzt in dieser Hochwassersituation . Abergerade jetzt hat sich wieder gezeigt, dass wir mit demTechnischen Hilfswerk – ich glaube, darauf können wiralle, unabhängig davon, welcher Fraktion wir angehören,stolz sein – über eine hoch engagierte, bestens ausgestat-tete Hilfsorganisation verfügen,
was die Trinkwasserversorgung anbelangt . Beispielswei-se in Simbach wird jetzt die gesamte Trinkwasserversor-gung durch das Technische Hilfswerk sichergestellt . Werhätte gedacht, dass so etwas in Deutschland überhauptnoch nötig wäre, dass über einen langen Zeitraum hin-weg die Trinkwasserversorgung durch das TechnischeHilfswerk gestemmt wird oder zum Beispiel auch Brü-ckenbauwerke durch das Technische Hilfswerk erneuertwerden?Ich sage hier ganz bewusst abschließend auch, dassich weiß, dass man gerade als Präsident einer Organi-sation wie der THW-Bundesvereinigung in der Gefahrist, immer darauf hinzuweisen, dass das THW finanziellunterausgestattet ist . Das ist aber nicht so . Das THW istgut ausgestattet . Aber wenn ich mir vor Augen halte, dassbeispielsweise 40 Prozent aller Fahrzeuge beim THW25 Jahre und älter sind, dass wir als Bund insgesamt fürdas THW weniger Geld ausgeben als das Land Berlin fürdie Feuerwehr in Berlin, dann zeigt dies schon, meinelieben Kolleginnen und Kollegen – ich möchte die Kata-strophe jetzt in keiner Weise instrumentalisieren –
Herr Mayer, bitte .
– dass wir in Zukunft an der einen oder anderen Stel-
le das THW nicht nur in Sonntagsreden loben, sondern
dann auch finanziell entsprechend ausstatten sollen und
die 80 000 ehrenamtliche Helfer so unterstützen, dass sie
in schwierigen Einsätzen wie gerade in diesen Tagen ihre
Arbeit in adäquater Weise leisten können .
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank, Kollege Mayer . – Nächster Redner in
der Debatte: Ralph Lenkert für die Linke .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wer selbst noch nicht betroffen war, kannnicht nachempfinden, wie man sich fühlt, wenn in Minu-ten Hab und Gut zerstört wird, welche Ohnmacht manempfindet, wenn man liebe Menschen durch Unwetterverliert . Unser Mitgefühl gilt allen Opfern, allen Betrof-fenen der Unwetter der letzten Tage .Ich wundere mich, wie viele von uns nach Terrorak-ten sofort und entschlossen handeln, aber wie viele vonuns gleichzeitig Naturgewalten als nicht beherrschbarwahrnehmen . Wir sind zunehmend wieder Naturgewal-ten ausgeliefert als Folge des Klimawandels und unseresUmgangs mit der Natur . Doch ich bin überzeugt, dasswir die Ausmaße der Schäden verringern und Menschenvor allem rechtzeitig vor Gefahren warnen und aus Ge-fahrenzonen bringen können . Ich wünsche mir, dass nachder 14-tägigen Unwetterlage, dass nach der heutigen Ak-tuellen Stunde im Bundestag der Bundestag beginnt, dasMachbare umzusetzen .
Die Linke bittet alle Kolleginnen und Kollegen, diefolgenden Vorschläge zu prüfen .Erstens . Insbesondere bei Starkregenereignissen isteine sofortige und flächendeckende Warnung, die mög-lichst alle Menschen erreicht, erforderlich . Unwetter-warnungen in Nachrichtensendungen um 20 Uhr undim Internet reichen nicht aus . Das Einblenden von War-nungen auf Bildschirmen, in Textbändern im laufendenProgramm mit genauen Hinweisen zu Regionen undHinweisen zu Handlungsempfehlungen – so wie bei So-fortmeldungen im Radio bei Falschfahrern – sollte einePflichtaufgabe für alle Rundfunk- und Fernsehanbieterwerden .
2013 wurde in Deutschland das modulare Warnsys-tem in Betrieb genommen . Dieses System ermöglicht diegleichzeitige Aktivierung aller Alarm- und Warnsystemein betroffenen Gebieten. Aber es fehlt ein flächendecken-des Netz mit Warntechnik . Lassen Sie uns alle Möglich-keiten einbeziehen, beispielsweise UMTS, Mobilfunk,Sirenen und private Rauchmelder, die durch Funk akti-viert werden können! Schaffen wir entsprechende Geset-zesgrundlagen für ein besseres Frühwarnsystem!
Zweitens . Nach Katastrophen brauchen die Betroffe-nen schnelle Hilfe. 2013, nach Überflutungen in meinerHeimat Thüringen, in Brandenburg, Sachsen, Bayernund Sachsen-Anhalt, beschlossen wir im Bundestag trotzWahlkampf einen Fonds „Aufbauhilfe“ mit 7,4 Milliar-den Euro . Die Schäden von 2013 waren niedriger als be-fürchtet . 4,4 Milliarden Euro Hilfsgelder hat der Fondsbisher ausgezahlt . Der Fonds ist zwar geschlossen, aberdie Gelder liegen noch bereit . Wie meine Kollegin EvaBulling-Schröter schon ausführte, bringt die Linke denVorschlag ein, diesen Fonds wieder zu aktivieren . Er hatsich bewährt .
Jedes der Unwetter der letzten 14 Tage wirkte lokal .Aber es war eine konstante, fast ganz Deutschland um-fassende Großwetterlage, die zu Gewittern, Starkregen,Hagel und Tornados führte: in Schleswig-Holstein, Ham-Stephan Mayer
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burg, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württem-berg, Bayern und Thüringen . Öffnen wir als Bundestagden Fonds „Aufbauhilfe“ nach dieser nationalen Kata-strophe erneut,
um betroffenen Bürgerinnen und Bürgern, Kommunenund Unternehmen so wie nach der Flut 2013 schnell undeffektiv zu helfen!Drittens . Die Hilfsbereitschaft in unserer Gesellschaftdirekt nach Katastrophen ist sehr hoch . Es ist unsereVerantwortung, dass die freiwillig angebotene Hilfebestmöglich eingesetzt wird . Wirken wir im Bundes-tag also auf eine Stärkung der Hilfsorganisationen hin!Technisches Hilfswerk, Rotes Kreuz, freiwillige und Be-rufsfeuerwehren, DLRG und Seenotrettung, Johanniter,Malteser und Bergwachten leisteten und leisten Hervor-ragendes im Katastrophenfall .
Wir sollten ihnen jetzt auch die notwendigen Mittelgeben, damit diese Organisationen zusätzlich zu ihrenStammaufgaben auch die Koordinierung der glücklicher-weise vielen zusätzlichen Helfer stemmen können .Viertens . Wir sollten überlegen, ob bei der zukünftigzu erwartenden Häufung solcher Wetterlagen nicht einezentrale, bundesweite Koordinierung des Katastrophen-schutzes über Ländergrenzen hinaus angebracht wäre .Liebe Kolleginnen und Kollegen, 2013 haben wiralle – von der Linken, der Union, der SPD, der FDP biszu den Grünen – in konzentrierter, schneller Zusammen-arbeit eine Lösung für die Geschädigten des Hochwas-sers gefunden . Bringen wir den Aufbaufonds wieder aufden Weg! Verbessern wir die Frühwarnsysteme, und un-terstützen wir die Organisation freiwilliger Helfer! Damitgedenken wir der Opfer, und damit danken wir den Hel-fern mehr als mit Worten allein .
Vielen Dank, Kollege Lenkert . – Nächster Redner:
Florian Pronold für die SPD .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Als ich am Freitag in Simbach am Inn einge-troffen bin, habe ich mich an ein Ereignis zurückerinnertgefühlt, das exakt drei Jahre vorher an der Donau, inDeggendorf und Passau, und an der Elbe stattgefundenhat . Es war eine katastrophale Situation für alle Betrof-fenen vor Ort . Die Menschen waren verzweifelt . KollegeStraubinger hat darauf hingewiesen, wie viele Menschendort auf relativ kleinem Raum betroffen waren und wiedramatisch sich die Situation für alle darstellte .Umso wichtiger war es, dass es eine unglaublicheWelle der Hilfsbereitschaft gab: der Kommunalverwal-tung, die ich an dieser Stelle ausdrücklich erwähnen will,des Technischen Hilfswerks, der Feuerwehr und der Po-lizei . Alle haben mitgeholfen und viele, viele ehrenamtli-che Helfer waren im Einsatz, um nach diesen furchtbarenEreignissen den Menschen wieder ein Stück Hoffnungzurückzugeben .Deswegen, glaube ich, gebietet es die Situation, dasswir im Deutschen Bundestag, egal welche Seite, oderauch Leute und politische Kräfte außerhalb des Deut-schen Bundestages nicht versuchen, aus so einer schlim-men Katastrophe irgendein parteipolitisches Kapital zuziehen. Das finde ich der Situation nicht angemessen.
Es kommt nun darauf an, dass wir alles tun, um zuhelfen . Ich bin sehr froh, dass es Soforthilfe gab und dassdas bayerische Kabinett, das in diesem Fall zuständig ist,nun beschlossen hat, dass das, was wir im Zusammen-hang mit dem Donauhochwasser gemacht haben, nuneins zu eins zum Beispiel für die Menschen im Land-kreis Rottal-Inn gemacht wird . Nun geht es um die Fra-ge, ob sich der Bund beteiligt . Ich bitte, zuzuhören, umzu verstehen, was gesagt wurde . Zum Beispiel hat meineMinisterin Barbara Hendricks gerade erklärt, dass dasUmwelt- und Bauministerium alles, was im Rahmen derStädtebauförderung möglich ist, machen wird, um in denbetroffenen Regionen zu helfen . Der Bundesverkehrsmi-nister hat erklärt, dass er schnellstmöglich für die Besei-tigung der Infrastrukturschäden Sorge tragen wird . Dasalles wird im Haushaltsausschuss aufschlagen . Ich bittediejenigen, die hier Forderungen erheben, dann mit dafürSorge zu tragen, dass die entsprechenden Beschlüsse ge-fasst werden .Es ist wichtig, dass heute Vizekanzler Sigmar Gabrieldeutlich gemacht hat, dass bei solchen Ereignissen, diesich nicht auf einen Landkreis beschränken, sondernländerübergreifend stattfinden, die Hilfe des Bundes not-wendig ist, wenn die Länder allein das nicht stemmenkönnen . Ich glaube, auf diese Linie können wir uns alleverständigen . Bitte nicht die Betroffenen vor Ort verun-sichern! Es wird geholfen . Es geht nicht um ein Schwar-zer-Peter-Spiel zwischen Bund und Ländern, sonderndarum, dass die Menschen vor Ort tatsächlich die not-wendige Hilfe bekommen, damit sie eine Zukunftsper-spektive für sich und ihre Familien sehen .
Bundesministerin Barbara Hendricks hat bereits da-rauf hingewiesen: Was tun wir denn nun, um in Zukunftsolche Ereignisse besser in den Griff zu bekommen?Ausschließen können wir solche Ereignisse nicht . Wirmüssen versuchen, die Frühwarnsysteme und den Hoch-wasserschutz zu verbessern . Aber Starkregenereignissekönnen jeden treffen . Diesmal sind auch Gebiete betrof-fen, von denen bislang nie ein Mensch geglaubt hat, dasses dort jemals Hochwasser gibt . Deswegen ist es wich-tig, darauf hinzuweisen, dass nicht allein die öffentlicheHand die Verantwortung hat .Dort, wo Elementarschadenversicherungen abge-schlossen werden können, müssen HauseigentümerRalph Lenkert
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selber vorsorgen . Die Situation in Deutschland ist aberungleich . In manchen Ländern war die Elementarscha-denversicherung einmal eine Pflichtversicherung. Dortist der Anteil der Menschen, die versichert sind, bis heu-te hoch . Wenn man als Hauseigentümer aber versucht,in einem Gebiet, das einmal betroffen war, eine solcheVersicherung abzuschließen, dann stellt man fest, dassder Beitrag nicht bei 100 Euro im Jahr, sondern bei 600bis 700 Euro im Monat liegt . Das kann doch nicht sein .Deswegen lautet meine Forderung – ich habe dafür ge-sorgt, dass sie als Prüfauftrag im Koalitionsvertrag auf-genommen wurde –, endlich eine Elementarschadenver-sicherung für alle zu machen . Dann sind die Beiträge zufinanzieren. Schließlich kann jeder von Elementarschä-den betroffen sein, nicht nur diejenigen, die an den Flüs-sen leben . Deswegen müssen wir die Solidarität mit ei-ner Elementarschadenversicherung für alle stärken . Wirmüssen das hier gemeinsam entscheiden .
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Situation vorOrt ist nach wie vor dramatisch . Neben dem Dank unddem Gedenken an die Opfer müssen wir ein deutlichesSignal aussenden, dass der gesamte Deutsche Bundes-tag – unabhängig von Zuständigkeitsfragen – gewilltist, die Menschen nicht alleine zu lassen . Wir brauchenHilfe auf allen Ebenen; viele Punkte wurden bereits an-gesprochen . Es geht in der Vorsorge darum, Hilfe für dieZukunft zu leisten . Es gilt auch, das THW und andereOrganisationen besser auszustatten, um zukünftig in sol-chen Situationen besser reagieren zu können . In diesemSinne bitte ich angesichts der Töne, die vorhin angeklun-gen sind, nun kein parteipolitisches Spiel zu spielen . Ichhabe auch erlebt, wie Rechtsradikale versucht haben, da-raus ein öffentliches Spiel zu machen . Wir müssen dasgemeinsam in diesem Haus zurückweisen . Aus dem Leidder Opfer und Geschädigten darf nicht parteipolitischesKlein-Klein gemacht werden .Herzlichen Dank .
Vielen Dank Florian Pronold . – Die nächste Rednerinist Annalena Baerbock für Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Unwetter verwüsten Deutschland, Katastrophenfall aus-gerufen, Tote bei Hochwasser in Niederbayern, Hang-rutsch in Baden, Tornado über Hamburg . Seit elf Tagenverfolgen wir, wie viele schon gesagt haben, fassungslos,wie die Kräfte von Naturgewalten Wohnungen, Straßen,Häuser und ganze Ortschaften zerstören . Wieder bekla-gen wir Todesopfer in den betroffenen Gebieten . UnserMitgefühl gilt, wie auch die anderen Rednerinnen undRedner gesagt haben, denjenigen Menschen, die einenLiebsten verloren haben oder deren Existenz jetzt kom-plett zerstört ist . Unser Dank gilt den vielen Helferinnenund Helfern, sei es in den ehrenamtlichen Organisatio-nen, sei es in staatlichen Organisationen, oder auch ganzprivaten Menschen . Es ist richtig und gut, dass wir heutediese Tragödie hier im Bundestag würdigen, dass wir denMenschen Hoffnung spenden, aber auch fraktionsüber-greifend, wie Sie alle schon gesagt haben, unsere Unter-stützung zusagen .
Aber – das hat auch die Bundesumweltministerin an-gesprochen – diese Katastrophe kommt nicht aus heite-rem Himmel, so wie auch die vorangegangenen nicht ausheiterem Himmel kamen . Klar ist: Durch den globalenTemperaturanstieg werden solche Wetterextreme immerhäufiger und stärker. Die CO2-Konzentration in der At-mosphäre hat im vergangenen Jahr bereits den kritischenWert von über 400 parts per million erreicht . Wir dürfenmaximal 430 bis 480 CO2-Teilchen in der Atmosphärehaben, damit wir überhaupt unter dem 2-Grad-Limit fürdie Erderwärmung bleiben können .Deswegen bin ich froh, dass die Bundesumweltmi-nisterin heute hier auch die Ursachen für diese extre-men Wetterereignisse so explizit angesprochen hat: denKlimawandel . Aber es reicht aus meiner Sicht nicht, nurüber die Ursachen zu reden, sondern wir müssen auchdarüber reden, was daraus jetzt folgt . Herr Pronold, beiallem Respekt, ich glaube nicht, dass das dann ein partei-politisches Hin und Her ist oder dass man solche Katas-trophen ausnutzt .
Vielmehr ist das dann Präventionspolitik . Die müssenwir gemeinsam aus meiner Sicht leisten .
Wir unterstützen viele der Punkte, die Frau Hendricksschon angesprochen hat, sei es, dass sie die Landwirt-schaft, sei es, dass sie den Bodenschutz und den Hoch-wasserschutz betreffen . Aber, wie gesagt, es reicht nicht,dass wir Maßnahmen ankündigen . Vor allen Dingen kannes nicht sein, dass zeitgleich – das ist fast schon tragisch –am heutigen Tage, an dem wir der Opfer gedenken, imKabinett eine EEG-Novelle beschlossen wird, die einemder größten Klimaschädiger, nämlich der Kohleverstro-mung
– ja, jetzt wird es auch politisch –,
Bestandsschutz verschafft, weil erneuerbare Energienausgebremst werden .
Ich muss auch ganz klar sagen: Wenn uns alle diesesThema so bewegt, dann reicht es nicht, dass wir nur ausUmweltsicht darüber diskutieren, sondern es sind alleRessorts betroffen . Es ist nicht nur das Landwirtschafts-Parl. Staatssekretär Florian Pronold
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ressort, sondern auch das Wirtschaftsressort betroffen .Alle diejenigen, die in dieser Runde immer wieder be-klagen, dass der Klimaschutzplan wirtschaftlich zu hartsei – meistens sind dann andere anwesend –, müssenan einem Tag wie diesem, an dem wir über Ursachen,Wirkung und Folgen reden, auf die Frage eine Antwortgeben, wie sie Extremwetterereignisse in Zukunft be-kämpfen wollen, wenn sie nicht zu einem stärkeren Kli-maschutz bereit sind .
Frau Präsidentin, wenn Sie erlauben, würde ich dasgerne mit den Worten von Professor Dr . Hans JoachimSchellnhuber verdeutlichen . Er sagte: Politische Zielesollten nicht unrealistisch sein . Aber wenn Sie versu-chen, Politik gegen die physikalische Realität zu machen,dann wünsche ich Ihnen viel Glück .Ich glaube, wir sind es wirklich all denjenigen, die zuSchaden gekommen sind, schuldig, dass wir uns nichtauf das Glück verlassen, sondern dass wir die politischeVerantwortung wahrnehmen und uns auch mit wirt-schaftlichen Maßnahmen beschäftigen, die zu mehr Kli-maschutz beitragen . Es wurde hier schon von verschiede-nen Rednern gesagt: Auch wenn wir nicht handeln, wirdes enorm teuer . Es wird vielleicht noch teurer, als wennwir klimapolitisch aktiv werden .Es gibt Berechnungen von der Münchener Rück, diedavon ausgehen, dass bis 2050 in Deutschland Klima-schäden in Höhe von 800 Milliarden Euro auf uns zukom-men werden . Das sind, wenn man es pro Kopf berechnet,10 000 Euro pro Bürger der Bundesrepublik Deutsch-land . Das sind Kosten, die heute noch nicht sichtbar sind,die aber nicht verschwinden werden, wenn wir plötzlichkeine Politik mehr im Klimabereich machen .Darüber hinaus sagen Finanzexperten, dass dasBruttoinlandsprodukt nach so großen Naturkatastrophenimmer weiter sinkt . Standard & Poor’s senkt global dasRating von manchen Ländern, weil sie so häufig von Na-turkatastrophen betroffen sind . Deswegen ist diese Fra-ge eben nicht nur eine umweltpolitische Frage, sondernganz stark auch eine wirtschaftspolitische Frage .
Und es ist eine sozialpolitische Frage; denn es trifftam Ende immer die Schwächsten . Wir haben das von denVersicherungen gehört . Manche wollen sich nicht versi-chern, manche haben keine Kenntnis darüber, manchekönnen sich nicht versichern . Herr Pronold hat es ange-sprochen: 700 Euro im Monat für eine Versicherung kannsich eben nicht jeder leisten .Deswegen ist es unabdingbar, dass der Bund sich hierbeteiligt . Was Elementarversicherungen angeht, schei-nen wir uns hier fast alle einig zu sein . Wir Grüne sagenaber auch: Wir brauchen einen Anpassungsfonds, so wiewir es global beim Pariser Klimaabkommen vereinbarthaben . Neben Mitigation und Adaptation brauchen wirauch in Deutschland einen Anpassungsfonds, für den ausunserer Sicht in den nächsten HaushaltsverhandlungenMittel in Höhe von 2 Milliarden Euro veranschlagt wer-den müssten .Außerdem müssen wir dafür sorgen, dass die Mittel,die zugesagt wurden, besser abfließen. Im letzten Jahrsind von den angesetzten 4 Millionen Euro für Hoch-wasserschäden nur 400 000 Euro abgerufen worden . Da-runter leiden am meisten die am härtesten Betroffenen .Ihnen wurde versprochen, Unterstützung zu bekommen;aber leider sind die dafür notwendigen Mittel nicht abge-flossen. Ich glaube, da stehen wir alle zusammen in derVerantwortung, nach dieser Aktuellen Stunde hier diesenMenschen wirklich unter die Arme zu greifen .Letztendlich müssen wir feststellen: Wir stehen ohnegroße Antworten auf diese Zerstörungskraft von Natur-gewalten da . Wir müssen den Respekt, den wir den Na-turgewalten zollen müssen, weil wir ihrer einfach nichtHerr werden können, auch gegenüber der Natur insge-samt zum Wohle unserer Kinder und Kindeskinder zumAusdruck bringen; denn solche Gefahren werden in Zu-kunft noch größer und härter werden . Da sollten wir allean einem Strang ziehen .Herzlichen Dank .
Vielen Dank, Frau Kollegin Baerbock . – Nächste Red-
nerin: Nina Warken für die CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Vor nicht einmal drei Wochen war ich bei strahlendemSonnenschein bei einer länderübergreifenden Großübungvon Technischem Hilfswerk, Feuerwehr, Rotem Kreuzund weiteren Hilfsorganisationen bei mir zu Hause imNeckar-Odenwald-Kreis . Nur kurze Zeit später ist jetztbittere Realität geworden, worauf sich die vielen Helferregelmäßig und sehr intensiv vorbereiten: Sintflutarti-ge Regenfälle haben innerhalb weniger Stunden wahreWasser- und Schlammlawinen ausgelöst, die alles mitsich rissen, was sich ihnen in den Weg gestellt hat . Diedramatischen Bilder waren überall in den Nachrichten zusehen, und die Kollegen haben die Lage bereits treffendbeschrieben .Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch inmeinem Wahlkreis hat das Unwetter die Menschen hartgetroffen, wie in Schollbrunn, Neckargerach, Obrig-heim, Limbach oder Mosbach . Enorme Wassermassen,Schlamm und Geröll richteten beträchtliche Schäden an .Die vielen Helfer, die vor wenigen Tagen noch geübthatten, waren pausenlos im Einsatz, um Menschen vorden Wassermassen in Sicherheit zu bringen, um vollge-laufene Keller leerzupumpen oder um Straßen wiederpassierbar zu machen . In Baden-Württemberg warenmehr als 7 000 Rettungskräfte im Einsatz . Sie haben über500 Menschen evakuiert und 42 Menschen aus einer le-bensbedrohlichen Zwangslage gerettet . Ein Ende der Un-wettergefahr ist leider noch nicht in Sicht .Annalena Baerbock
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Ich möchte an dieser Stelle auch allen Frauen undMännern vom THW, der Feuerwehr, der DLRG, desDeutschen Roten Kreuzes und allen anderen Organisati-onen von ganzem Herzen dafür danken, wie sie währenddes Unwetters Einsatz gezeigt haben und das teilweisebis zum heutigen Tag auch noch tun .
Wieder einmal haben wir sie gebraucht . Wieder ein-mal waren sie da und haben gezeigt: Der ehrenamtli-che Katstrophenschutz in Deutschland funktioniert . DieMenschen können sich im Ernstfall jederzeit auf sieverlassen . Dafür gebührt ihnen nicht nur Dank, sondernauch größter Respekt und Anerkennung .Nun geht es darum, liebe Kolleginnen und Kollegen,dass wir gemeinsam mit den Ländern nach diesen schwe-ren Unwettern Bilanz ziehen . Fest steht – das haben wirbereits gehört –: Die Schäden sind vielerorts beträchtlichund gehen in die Milliarden . Hier darf der Staat die Men-schen nicht alleinlassen; da sind wir uns alle einig . Esist deshalb gut und richtig, dass nun Baden-Württembergund Bayern den Betroffenen schnell mit Soforthilfepro-grammen helfen und unbürokratisch unter die Arme grei-fen . In Baden-Württemberg wurden innerhalb von dreiTagen bereits 700 000 Euro für Soforthilfen ausgezahlt .Das Land hat angekündigt, alle Möglichkeiten auszu-schöpfen, um den Geschädigten zu helfen .Auch wir auf Bundesebene müssen alle Möglichkei-ten in Betracht ziehen, wie wir die betroffenen Länderund die geschädigten Bürgerinnen und Bürger unterstüt-zen können, und das tun wir auch . Das Bundesverkehrs-ministerium etwa hat zur Ermittlung und Regulierung derSchäden an der Verkehrsinfrastruktur des Bundes und derLänder bereits einen Koordinierungsstab eingerichtet .Das ist nur ein Beispiel .Darüber hinaus müssen wir gemeinsam in alle Rich-tungen denken. Wir müssen über finanzielle Hilfen, übereine Pflicht zur Versicherung gegen Elementarschäden –auch das ist hier schon mehrfach angesprochen worden –oder über die Einrichtung eines dauerhaften Hilfsfondsnachdenken . Denn wir müssen leider davon ausgehen,dass derartige Unwetterereignisse künftig häufiger auf-treten werden .Das Wichtigste, meine Damen und Herren, ist in mei-nen Augen aber, dass wir gemeinsam mit den Ländernweiter daran arbeiten, den Bevölkerungsschutz auf dieveränderte Bedrohungslage auszurichten . Neben derGefahr von Terroranschlägen ist eben auch an Extrem-wetterlagen zu denken, wie wir sie in den letzten Tagenerlebt haben . Auch wenn man das eine nicht mit dem an-deren vergleichen kann, geht es doch in beiden Fällen umstaatliche Krisenreaktion und vor allem um die Verunsi-cherung bei den Menschen, der wir etwas entgegensetzenmüssen .Das Bundesinnenministerium hat deshalb den Auf-trag bekommen, ein neues Rahmenkonzept für denZivilschutz zu erarbeiten, das sich an der verändertenBedrohungslage orientiert und durch das die Aufgabenund Fähigkeiten von Bund und Ländern noch effektivermiteinander verzahnt werden sollen . Dieses Rahmen-konzept muss nun zügig mit den Ländern abgestimmtund umgesetzt werden, sodass die Hilfsorganisationenbestmögliche Bedingungen erhalten . Den Anfang habenwir bereits gemacht: mit der Stärkung des THW im Bun-deshaushalt 2016 und den zusätzlichen Mitteln für denergänzenden Katastrophenschutz . Das waren 43 Millio-nen Euro und 208 zusätzliche Stellen für das THW und5 Millionen Euro für Zivilschutzfahrzeuge, die der Bundbeschafft .Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte jetztschon dafür werben, dass wir auch in den kommendenHaushaltsverhandlungen und beim Thema „Wertschät-zung des Ehrenamts“ die bestmöglichen Rahmenbedin-gungen für die vielen Helfer schaffen . Denn wenn es umeine angemessene Ausstattung und um spürbare Anreizefür das Ehrenamt geht, sind die, die helfen, auf unsereHilfe angewiesen . Das sind wir ihnen nach einem so for-dernden Einsatz wie bei den jüngsten Unwettern auchschuldig, finde ich.Vielen Dank .
Vielen Dank, Nina Warken . – Nächster Redner:
Christian Flisek für die SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolle-ginnen und Kollegen! Es ist angesprochen worden: Wassich in der letzten Woche in meinem Nachbarwahlkreis,im Landkreis Rottal-Inn, zugetragen hat, kann einfachnur als eine Katastrophe bezeichnet werden . Die Zah-len: Es waren sieben Menschen allein in einem Land-kreis, die den Fluten zum Opfer gefallen sind . Es sindüber 500 Häuser, die schwer beschädigt wurden, irrepa-rabel, die vermutlich abgerissen werden müssen . Insge-samt sind über 5 000 Haushalte betroffen . Die Schädenallein in einem Landkreis werden auf 1 Milliarde Eurogeschätzt . Das sind katastrophale Zahlen .Als Passauer sage ich auch ganz offen: Als die Was-serpegel in diesen Tagen stiegen, haben wir angstvoll aufunsere Flüsse geschaut, weil das Ereignis von 2013, dasPassau und Deggendorf damals heimgesucht hat, allensprichwörtlich noch in den Knochen steckt . Seinerzeithaben wir allein in Passau und Deggendorf Schäden von12 Milliarden Euro zu verzeichnen gehabt . – Auch dasist noch nicht lange her: 2002 hatten wir über Pfingstenein katastrophales Hochwasser, bei dem allein in unsererRegion Schäden von 5 Milliarden Euro entstanden sind .Insofern, meine Damen und Herren, von Jahrhundert-hochwassern zu reden, ist eigentlich mittlerweile eineVerhöhnung der Menschen, die davon betroffen sind, derOpfer . Wir sollten diesen Begriff schlicht und ergreifendnicht mehr verwenden, in keinem Antrag, in keinem Ge-setz, in keinem Hilfspaket . Es gibt keine Jahrhundert-hochwasser mehr, es gibt keine Jahrhundertkatastrophenmehr . Wir müssen spätestens jetzt zur Kenntnis nehmenund lernen, dass in Deutschland zu jeder Zeit regelmäßigNina Warken
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so etwas passieren kann . Das ist etwas, glaube ich, wasauch Konsequenzen in der politischen Landschaft habenmuss .Wenn wir über Schäden reden, dürfen wir nicht nurüber die materiellen Schäden reden; wir müssen auchüber die psychischen Schäden von Menschen reden . Ichdenke an Menschen, die ihr Hab und Gut verloren ha-ben . Das Schlimmste ist natürlich, wenn man sein Lebenoder Angehörige verliert . So etwas ist durch gar nichtszu ersetzen . Aber es sind auch viele Existenzen vernich-tet . Wenn man lange warten muss und nicht weiß, wo-her eventuell eine Regulierung kommt – vielleicht findetauch gerade kein Landtags- oder Bundestagswahlkampfstatt; solche Dinge sind ja, wenn wir ehrlich sind, manch-mal entscheidend für den Umfang von Hilfspaketen –, istes schwer . Wir müssen für die Menschen Planbarkeit er-reichen . Wir müssen dafür sorgen, dass der solidarischeGedanke in einer solchen Situation gelebt wird .Meine Damen und Herren, ein wesentlicher Aspekt –darauf möchte ich mich als Rechtspolitiker in dieserDebatte jetzt konzentrieren; viele Kolleginnen und Kol-legen vor mir haben ein Bündel von Maßnahmen ange-sprochen, die alle richtig sind – ist eine verpflichtendeElementarschadenversicherung . Wir hatten Hoffnunggehabt, dass das Ganze eventuell durch einen Prüfauftragim Koalitionsvertrag der Großen Koalition in eine richti-ge Richtung kommen würde . Wir haben dann aber auchfestgestellt, dass die Justizminister der Länder das amEnde abschlägig beschieden haben mit dem Argument,es gebe dort enorme verfassungsrechtliche Bedenken;auch europarechtliche Bedenken sind angeführt worden .Ich sage hier an dieser Stelle heute sehr deutlich: Michüberzeugen diese Argumente nicht, und zwar aus einemeinfachen Grund: weil nämlich jeder – das haben wirspätestens jetzt zur Kenntnis zu nehmen – jederzeit indiesem Land Opfer eines solchen Schadensereignisseswerden kann . Und weil das eben so ist, weil wir ebennicht nur eine begrenzte, lokale Betroffenheit haben, wiedas vielleicht bei Flusshochwassern der Fall ist, weil voneinem solchen Elementarschaden jeder in der ganzen Re-publik jederzeit betroffen sein kann, brauchen wir einegroße Solidargemeinschaft, die gemeinsam, auch überentsprechende Versicherungslösungen, in der Lage wäre,solche Schäden zu tragen . Deswegen wird sich meineFraktion ganz massiv dafür aussprechen, dass wir eineverpflichtende Elementarschadenversicherung wiederauf die Agenda rücken . Ich glaube, die Argumente, diebisher dagegen vorgebracht worden sind, müssen nocheinmal kritisch überprüft werden . Uns ist klar, dass dieVersicherungswirtschaft da keine Purzelbäume schlägt;aber der Versicherungsgedanke ist in erster Linie nichtein Profitgedanke, sondern er ist vor allem ein zutiefstsolidarischer Gedanke,
der auch im Sozialstaatsprinzip unserer Verfassung ver-ankert ist . Deswegen sollten wir da wirklich am Ball blei-ben .Ich sage an dieser Stelle, auch aus den Erfahrungender vergangenen Schadensereignisse: Wir müssen unsauch die Regulierungspraxis von manchen Versicherernanschauen . Auch das kann manchmal kräfte- und nerven-zehrend sein . Angesichts dessen, wie mit Geschädigtenumgegangen wird – wenn man versucht, ihnen, ich sagemal, pauschale Abschlagszahlungen nach dem Prinzip„Pi mal Daumen“ anzubieten, und sie in einer Situationder Schwäche vielleicht sogar geneigt sind, das anzu-nehmen, auch, weil sie keine Rechtsschutzversicherunghaben, weil sie sich nicht auf langwierige Prozesse ein-lassen können, weil sie Angst haben vor Sachverständi-gengutachten –, ist das, denke ich, auch ein Thema fürdie Politik . Eine Versicherung als solches ist ein ersterSchritt . Aber wenn eine Versicherung besteht, dann musses dort auch eine ordentliche Regulierungspraxis für sol-che Schäden geben .Deswegen bin ich sehr dankbar, meine Damen undHerren, dass wir dieses Thema durch die heutige Aktu-elle Stunde wieder auf die Tagesordnung heben können .Auch ich spreche mich für eine solidarische Beteiligungdes Bundes in diesem konkreten Fall aus . – Im Übrigenwäre ich froh, wenn heute ein Vertreter des Finanzminis-teriums anwesend wäre,
denn dann könnten wir diese Themen eventuell gleichrichtig adressieren . – Und ich danke ausdrücklich inmeiner Heimat, dem Freistaat Bayern, der BayerischenStaatsregierung dafür, dass sie erste Sofortmaßnahmenunbürokratisch abgewickelt hat, dass es hier eben nichtum eine Sozialklausel ging, sondern dass den Menschenvor Ort schnell, unbürokratisch und ohne große Prüfungvon Einkommen und Ähnlichem geholfen wird .Das sind die richtigen Schritte . Ich glaube, die Men-schen werden uns als Politik nicht daran messen, wer ih-nen hilft, sondern daran, dass ihnen geholfen wird unddass ihnen schnell geholfen wird .Herzlichen Dank .
Vielen Dank, Herr Kollege Flisek . – Nächster Redner:
Artur Auernhammer für die CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sondernohe ist ein Dorf in Franken, ein idyllisches Dorf,in dem die Menschen zufrieden leben, ihrer Arbeit nach-gehen, in dem sie gerne gelebt haben – bis zum 29 . Maidieses Jahres . Am 29 . Mai kam über dieses Dorf eineFlutkatastrophe, wie sie noch nie in der Geschichte fest-gestellt worden ist .Christian Flisek
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Sondernohe ist ein Dorf in der Gemeinde Flachslan-den im Landkreis Ansbach . Als ich am Tag nach derFlutkatastrophe durch dieses Dorf gefahren bin, habe ichBilder gesehen, die wir vielleicht nur aus dem Fernsehenkennen, die wir nur von Katastrophengebieten kennen .Wenn man diese Bilder live vor Ort sieht, dann ist mansehr betroffen .An jedem Hof und an jedem Haus stand ein Container,gefüllt mit Sperrmüll . Das ist aber nicht nur Sperrmüll,das ist nicht nur ein finanzieller Schaden, sondern dasist auch ein sehr emotionaler Schaden . Familiäre Erbstü-cke – Möbel, Schriftstücke –, alles vernichtet, alles weg,der Flut zum Opfer gefallen .Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habenoch vor kurzem mit dem Bürgermeister darüber gespro-chen, wie die heutige Situation in diesem Dorf ist . Er hatmir geschildert: Man geht zurück zur Normalität undmacht sich jetzt einen Überblick über die großen finan-ziellen Schäden . Der Kindergarten ist genauso betroffenwie das Feuerwehrhaus . Es gibt verheerende Schäden inder gemeindlichen Infrastruktur . Sehr viele Wohnungensind nicht mehr bewohnbar .Dieser Bürgermeister war auch froh und dankbar fürdie große Hilfsbereitschaft, für die große Solidarität vonehrenamtlich Engagierten, von Hauptamtlichen in denVerwaltungen, in den Bauhöfen . Überall gab es eine gro-ße Solidarität, um diese Herausforderungen zu bewälti-gen . Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir allehaben diesen Ehrenamtlichen und den Hauptamtlichenhier gedankt, aber mich macht diese große Solidaritätstolz auf unser Land .
Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, essind nicht nur Häuser, es sind nicht nur Wohnungen, Kin-dergärten und Feuerwehrhäuser betroffen, es sind auchBauernhöfe betroffen . Wenn eine Bauernfamilie zusehenmuss, wie ihr Stall überflutet wird, wie ihre Futtervorrätevernichtet werden, wie ihre Tiere Schaden nehmen, dannist diese Familie umso mehr betroffen . Ich habe dannwenig Verständnis, wenn ich als erste Reaktion von derBundesumweltministerin höre: Die Bauern sind schuldaufgrund ihres Maisanbaus .
Dies ist nicht die Zeit von wilden Schuldzuweisungen,sondern es ist die Zeit einer konkreten Ursachenanalyse .
Wir haben auch in den landwirtschaftlichen GebietenÜberflutungsereignisse. Sehr viele landwirtschaftlicheFlächen sind durch die Überflutungsereignisse beschä-digt . Wir müssen jetzt überlegen: Wie können wir vor-beugen? Wir haben in der modernen Landwirtschaft, inder nachhaltigen Landwirtschaft, sehr viele Instrumente,zum Beispiel mit konservierender Bodenbearbeitung unddergleichen . Es ist nicht nur der Maisanbau, dem manhier einen Vorwurf machen sollte . Es ist die gesamteLandwirtschaft, die wir hier in den Fokus nehmen, umsie mit zukunftsfähigen Lösungen auszustatten . Hierbrauchen wir moderne Anbaumethoden, um dies derLandwirtschaft zu ermöglichen . Das ist auch nicht immerin diesem Hause opportun .Sehr viele landwirtschaftliche Nutzflächen sind be-troffen. Sehr viele landwirtschaftliche Nutzflächen sindauch verhagelt . Viele Bauern haben eine Hagelversiche-rung, aber nicht alle . Hier ist es genauso wie bei den Ele-mentarschäden . Wir sollten uns überlegen, dass wir dieSolidargemeinschaft auf breitere Füße stellen, dass wirzu verpflichtenden Elementarversicherungen kommen.Ich finde es einen guten Ansatz in dieser Debatte, dasswir parteiübergreifend über Elementarschäden reden unddiskutieren . Ich hoffe, dass es auch zu einer guten Lö-sung kommt . Für uns alle in den betroffenen Gebietenist es sicherlich gut, wenn diese Katastrophe zur Folgehat, dass wir eine einheitliche Elementarversicherungbekommen .Vielen Dank .
Danke, Herr Kollege Auernhammer . – Gerade wurde
nach der Anwesenheit bzw . Abwesenheit eines Vertreters
des Finanzministeriums gefragt . Die Bundesregierung
hat uns gerade mitgeteilt, dass der Haushaltsausschuss
im Moment tagt, und zwar zu den Fragen Unwetterka-
tastrophe und Folgen . Dort ist der Staatssekretär Jens
Spahn anwesend . Dies wollte ich Ihnen weitergeben; die
Bundesregierung hat gesagt, dass im Moment der Haus-
haltsausschuss genau zu diesem Thema tagt, selbstver-
ständlich in Anwesenheit eines Vertreters des Finanzmi-
nisteriums .
Nächster Redner in der Debatte: Martin Burkert für
die SPD .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Ausmaß derstarken Unwetter in der vergangenen Woche macht unsimmer noch betroffen . Das spürt man heute in dieserAktuellen Stunde . Mir persönlich sind die erschrecken-den Bilder, die wir aus Bayern und aus ganz Deutsch-land gesehen haben, massiv präsent . Ich möchte auchzunächst den Angehörigen der Opfer mein tiefstes Bei-leid und mein Mitgefühl aussprechen . Elf Menschen, dieihr Leben verloren haben, Hunderten Menschen – es istmehrfach angesprochen worden –, die ihr Zuhause, ihrHab und Gut, ihre persönlichen Erinnerungsstücke imSchlamm verloren haben, Menschen, die ihr Geschäft,ihr Lokal, ihren Lebensunterhalt verloren haben, geltenunsere Gedanken heute zuallererst .Ich möchte den vielen Helferinnen und Helfern, denRettungskräften, der Polizei und den Behörden meinenDank aussprechen . Hier wird wirklich über die Maße hi-Artur Auernhammer
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naus unbürokratisch und schnell Einsatz gezeigt und Be-sonderes geleistet . Das muss man an diesem Tag nocheinmal sagen .Die Ministerin hat allen dankgesagt, die eine Schau-fel in die Hand genommen haben . Es tut wirklich gut,zu sehen, dass sehr viele Freiwillige vor Ort mit anpa-cken, bei den Aufräumarbeiten helfen und unterstützen,wo sie können, bis hin – es wurde angesprochen – zuden Flüchtlingen, und das Hand in Hand . Liebe Kollegin-nen und Kollegen, das ist gelebte Solidarität in unseremLand . Dafür sage ich ein herzliches Dankeschön an alle,die daran beteiligt waren .
Auch meine Heimat Mittelfranken ist betroffen . Ne-ben Nürnberg ist der Landkreis Ansbach betroffen, woSchäden in Höhe von knapp 5 Millionen Euro entstandensind . Aktuell sind es 140 Häuser, die massiv beschädigtworden sind . Das ist nichts gegen Rottal-Inn, wo schon6 Millionen Euro an Soforthilfe ausgezahlt wurden . Aberallen, die von den Auswirkungen des Starkregens und derreißenden Flüsse, die entstanden sind, betroffen sind, giltunser Mitgefühl und unsere Anteilnahme . Da müssen wirhelfen .Ich will deutlich machen, Herr Kollege Auernhammer,dass die Bundesministerin nicht die Bauern gescholtenhat . Vielmehr hat sie davon gesprochen, dass die Art derVersiegelung von Flächen schon einmal im Zusammen-hang mit dem Klimawandel und den Unwettern disku-tiert werden muss . Das ist legitim .
Sie hat hier keinesfalls den Bauern in irgendeiner Formdie Schuld zugesprochen . Das will ich hier ausdrücklichsagen .Wir haben uns heute im Verkehrsausschuss diesemThema sehr lang gewidmet, aus aktuellem Anlass . Wirhaben uns mit der Situation befasst . Ich kann in diesemZusammenhang als Vorsitzender auch die tiefe Betrof-fenheit des Ausschusses übermitteln . Was ich heute imVerkehrsausschuss unter anderem vom Kollegen GustavHerzog aus Rheinland-Pfalz, aber auch von der KolleginAnnette Sawade aus Baden-Württemberg gehört habe,macht mich massiv betroffen . Wir haben heute viele Bei-spiele gehört; ich will auch Florian Oßner erwähnen, derberichtet hat . Allein im Landkreis von Annette Sawadesind 30 Kommunen betroffen . Sie hat uns die bisher vor-liegenden Schäden in Höhe von 110 Millionen Euro aus-führlich geschildert, etwa – um ein Beispiel zu nennen –,wie in Rathäusern Akten gesäubert, eingefroren und ab-gelichtet werden müssen, um Dokumente zu sichern .Wir müssen feststellen, dass es neben den fürchter-lichen persönlichen Schicksalen auch gravierende ver-kehrspolitische Auswirkungen gibt: kaputte Brücken,unterspülte und überschwemmte Straßen und Schienen-wege, Oberleitungsschäden . Wir haben Streckensperrun-gen erlebt, wie in Mittelfranken, auf der Hauptstreckenach Stuttgart, zwischen Nürnberg und Crailsheim, woüber Stunden und Tage hinweg nichts mehr ging; bis heu-te dauern die Arbeiten an .Erste Schätzungen gehen im Verkehrsbereich vonSchäden im zwei- bis dreistelligen Millionenbereich aus .Es ist noch völlig offen, wie hoch sie letztendlich sind .Dieser Probleme gilt es sich ebenso schnell wie der Hilfefür die betroffenen Menschen vor Ort anzunehmen . DieRegionen müssen wieder Fuß fassen können, mancher-orts von vorn anfangen, und dafür brauchen sie auch einefunktionierende Infrastruktur .Neben der Erfüllung dieser dringenden Aufgabenmüssen wir aber auch Lösungen finden, um die Aus-wirkungen solcher Unwetter besser in den Griff zu be-kommen . Ich spreche von vorbeugenden Maßnahmenim Hinblick auf die Beschaffenheit unserer Infrastrukturoder eine noch bessere Vorwarnung durch den DeutschenWetterdienst, für das ja auch das Haus des BMVI zustän-dig ist .Aber – das muss heute auch gesagt werden – dazugehören auch die Ursachenerforschung und die Ursa-chenbekämpfung . Was muss geschehen? Es ist elemen-tar, dass den betroffenen Menschen vor Ort schnell undunbürokratisch geholfen wird . Soforthilfen müssen aus-geweitet werden . Als bayerischer Abgeordneter richteich an die Adresse der Bayerischen Staatsregierung: Wirmüssen so weitermachen, wir müssen unbürokratischund schnell helfen . Es müssen weitere Taten folgen .Als Bundespolitiker gilt es, festzustellen, dass dieMenschen vor Ort über die Maßen und zudem auch überdie Grenzen von Bundesländern hinweg betroffen sind .Es ist also auch die Sache des Bundes, liebe Kolleginnenund Kollegen, hier zusätzlich Verantwortung zu überneh-men . Ich hoffe, das geschieht im Augenblick im Haus-haltsausschuss .Ich begrüße es ausdrücklich, dass heute im Verkehrs-ausschuss das Ministerium für Verkehr und digitale In-frastruktur die Bereitschaft zur schnellen Hilfe zugesagthat . Hierzu besteht bereits eine Koordinierungsstelle mitden Ländern . Das ist gut und richtig .
Herr Kollege, bitte .
Zum Abschluss möchte ich sagen, dass ein sehr wich-
tiger Schritt vor uns liegt; es ist in diesem Haus heute
oft angesprochen worden . Ein wichtiger Schritt für unser
Land wäre die Einführung einer verpflichtenden Elemen-
tarschadenversicherung, also einer solidarischen Pflicht-
versicherung . Denn fest steht: Von Starkregen kann je-
der betroffen sein; das haben wir jetzt erlebt . Wer hätte
gedacht, dass bei uns in Mittelfranken oder in Orten in
Niederbayern solche Unwetter vorkommen?
Kollege!Martin Burkert
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Handeln wir heute und nicht erst nach dem nächsten
Hochwasser .
Vielen Dank .
Ich begrüße Jens Spahn . – Wir haben gerade über Sie
geredet . Dass Sie sofort kommen, wenn Ihr Name von
mir genannt wird, das ist neu . Aber das können wir ja so
belassen .
Wir haben gehört, dass Sie im Haushaltsausschuss
über dieses Thema diskutiert und hoffentlich gute Per-
spektiven für unbürokratische, schnelle Unterstützung
und Prävention eröffnet haben .
Der letzte Redner in der Debatte ist Christian Freiherr
von Stetten für die CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Hochwasser ist in Deutschland nichts Ungewöhnliches .Wer in der unmittelbaren Nähe eines Flusses wohnt, derkennt das Problem, wenn nach starken Regenfällen derPegel der Flüsse langsam steigt . Wenn das passiert, ha-ben die Behörden in der Regel ausreichend Zeit, um Vor-sichtsmaßnahmen einzuleiten .Am Ende dieser Debatte ist festzustellen, dass dieStarkregenfälle und die Unwetter der letzten Wochen miteinem normalen Hochwasser überhaupt nichts zu tun ha-ben . Die Katastrophe war nicht vorhersehbar, nichts warplanbar, und es konnten auch keine Vorsichtsmaßnah-men vonseiten der Behörden eingeleitet werden . Wederdie Verwaltungen noch die privaten Haushalte konntenrechtzeitig Vorkehrungen zur Abminderung der Wasser-massen entwickeln . Innerhalb von wenigen Minuten ha-ben sich kleine Bäche zu reißenden Strömen entwickeltund alles mitgenommen, was sich ihnen in den Weg stell-te .In meinem Wahlkreis hat es am 29 . Mai erstmals auchein Todesopfer gegeben . Der Mann war in seiner Gara-ge, die sich so schnell mit Wasser füllte, dass kein Ent-kommen mehr möglich war . Wir haben es vorhin gehört:In der kleinen Gemeinde Braunsbach mit 2 500 Ein-wohnern und einem jährlichen Gewerbesteueraufkom-men von 300 000 Euro sind innerhalb von 15 MinutenSchäden an öffentlichen Einrichtungen und an der In-frastruktur von über 95 Millionen Euro entstanden . Diezusätzlichen Schäden an privaten Haushalten und für Ge-werbetreibende konnten noch gar nicht ermittelt werden .In Künzelsau, in der Gemeinde, in der ich stellvertreten-der Bürgermeister bin, sind Schäden von über 100 Milli-onen Euro zu beklagen . Die Menschen und die Behördensind von dieser Flutwelle völlig unvorbereitet getroffenworden . Wir wissen aus den Gesprächen mit den Bür-germeisterinnen und Bürgermeistern: Selbst wenn siegewusst hätten, dass eine solche Flutwelle die Gemeindeheimsuchen wird, wären Vorsichtsmaßnahmen bei derMenge an Wassermassen wahrscheinlich nicht möglichgewesen . Ich freue mich, dass in dieser Debatte deutlichgeworden ist und auch von keinem Redner bestrittenworden ist: Diese Gemeinden dürfen wir nicht alleinelassen . Wir müssen ausreichend Hilfe zur Selbsthilfeleisten . Diese Gemeinden können die Kosten für denSchaden nicht alleine tragen .
In Baden-Württemberg hat gestern das Landeskabi-nett erste Unterstützungsmaßnahmen beschlossen . DieInfrastruktur der kleinen Gemeinde Braunsbach wird mitHilfe des Landes zu 100 Prozent wiederhergestellt . Ichglaube, das ist eine gute Nachricht für den Bürgermeister,die Gemeinderäte und die Bürgerinnen und Bürger . Aberauch die übrigen Gemeinden dürfen wir nicht vergessen;es ist schon angesprochen worden . Die Gemeinden unddie Bürgerinnen und Bürger fragen natürlich auch: Wiekann der Bund trotz des Föderalismus hier direkt unter-stützen? Um eine Diskussion über diese Frage anzusto-ßen, haben wir diese Aktuelle Stunde beantragt .Positiv ist – das haben auch alle Redner erwähnt –,dass die Zusammenarbeit unserer Hilfsorganisationengut funktioniert hat . THW, Feuerwehr, Rotes Kreuz undDLRG haben mit der Polizei und den Behörden ausge-zeichnet zusammengearbeitet . Überall hören wir, dassHunderte von ehrenamtlichen Helfern, die sich bishernoch nie in ihrem Leben mit Katastrophenschutz oderHochwasser auseinandergesetzt haben, zu den Einsatzor-ten geströmt sind und ihre Hilfe angeboten haben . Ihnenist am Ende dieser Debatte noch einmal ausgiebig zudanken .
Eine große Solidaritätswelle hat es auch bei den Ar-beitgeberinnen und Arbeitgebern gegeben . Sie haben ih-ren Mitarbeitern freigegeben, wenn sie sich freiwillig fürden Hochwasserschutz oder für Aufbauarbeiten gemel-det haben, wenn sie Schlamm und Geröll aus der Stadt,den Häusern, den Kellern entfernt haben . Ja, selbst dieFlüchtlinge in ihren Unterkünften haben geholfen . Ichglaube, dass dies sicherlich ein ausgezeichneter Beitragzur Integration war . Wir danken allen, die mitgeholfenhaben, dies zu organisieren .Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben auchdeutlich gehört, dass diese Wetterphänomene zwar loka-le Phänomene sind, sie in Zukunft aber immer häufigerauch bundesweit zu beobachten sein werden . Deshalbsollten wir in den nächsten Wochen darüber diskutieren,wie wir auch auf Bundesebene hierauf angemessen re-agieren .Ich stelle fest: Diese Aktuelle Stunde hat sich für dieBetroffenen gelohnt . Die Ministerin hat angekündigt,die Städtebauförderung in bestimmten Bereichen um-zustellen, um den betroffenen Kommunen schnell, auch
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 175 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 8 . Juni 2016 17287
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finanziell, unter die Arme zu greifen. Eine Versiche-rungspflicht ist von Rednern aller Fraktionen heute hierangesprochen worden . Auch Zahlungen aus dem nationa-len Fonds „Aufbauhilfe“ wurden angemahnt .Nachdem wir fraktionsübergreifend mit derselbenZielrichtung über diese Punkte diskutiert haben, möchteich Sie bitten: Lassen Sie uns möglichst schnell Nägelmit Köpfen machen und den betroffenen Gemeinden,Kommunen sowie Bürgerinnen und Bürgern helfen .Dann hat sich diese Aktuelle Stunde gelohnt .Herzlichen Dank .
Vielen Dank, Freiherr von Stetten .
Auch ich bedanke mich bei den Kolleginnen und Kol-
legen; denn mit dieser Debatte haben wir fraktionsüber-
greifend gezeigt, was es heißt, Mitgefühl mit den Opfern
auszudrücken, Solidarität mit den Betroffenen zu zeigen,
den Helferinnen und Helfern Dank auszusprechen und
sich zu verpflichten, die Rahmenbedingungen zu verbes-
sern, um auf zukünftige Katastrophen besser vorbereitet
zu sein, sowie auch die Ursachen in den Blick zu neh-
men . Ich danke Ihnen sehr .
Ich schließe die Debatte .
Wir sind am Schluss der heutigen Tagesordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Donnerstag, den 9 . Juni 2016, 9 Uhr,
ein .
Die Sitzung ist geschlossen .