Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Neh-men Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet .Vor Eintritt in die Tagesordnung gratuliere ich nach-träglich dem Kollegen Dr. Egon Jüttner zu seinem74 . Geburtstag, dem Kollegen Karl Schiewerling zuseinem 65 . Geburtstag sowie dem Kollegen BernhardDaldrup, der gestern seinen 60 . Geburtstag gefeiert hat .
Ihnen gelten alle guten Wünsche des gesamten Hauses .Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesord-nung um die in der Zusatzpunkteliste aufgeführten Punk-te zu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Haltung der Bundesregierung zur Zukunftder erneuerbaren Energien in Deutschlandund Europa
ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-fahren
Beratung des Antrags der Abgeordneten LisaPaus, Christian Kühn , KerstinAndreae, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENSpekulation mit Immobilien und Land been-den – Keine Steuerbegünstigung für Übernah-men durch Share DealsDrucksache 18/8617Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss
Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-heitZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-sprache
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zu dem Abkommen vom 29. Juni 2015zwischen der Regierung der BundesrepublikDeutschland und der Regierung der RepublikKosovo über die justizielle Zusammenarbeitin StrafsachenDrucksache 18/8211Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
Drucksache 18/8642b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz,Dr . Frithjof Schmidt, Claudia Roth ,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENzu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-tes über die Unterzeichnung und die vorläufi-ge Anwendung des Wirtschaftspartnerschafts-abkommens zwischen der EuropäischenUnion und ihren Mitgliedstaaten einerseitsund den SADC-WPA-Staaten andererseits KOM(2016) 8 endg.; Ratsdok. 5608/16undzu dem Vorschlag für einen Beschluss desRates über die Unterzeichnung und dievorläufige Anwendung des Wirtschafts-partnerschaftsabkommens zwischen denPartnerstaaten der Ostafrikanischen Ge-meinschaft einerseits und der EuropäischenUnion und ihren Mitgliedstaaten andererseits KOM(2016) 63 endg.; Ratsdok. 6126/16hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 desGrundgesetzes
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Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit derEntwicklungsgemeinschaft des südlichen Afri-ka und der ostafrikanischen Gemeinschaft ab-lehnenDrucksachen 18/8243, 18/8643ZP 4 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines In-tegrationsgesetzesDrucksache 18/8615Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales
Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GOVon der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden .Die Tagesordnungspunkte 9 und 13 tauschen ihre Plät-ze und die vorgesehenen Redezeiten .Der Tagesordnungspunkt 26 – Berufsbildungsbericht2016 – soll abgesetzt und stattdessen der Entwurf einesIntegrationsgesetzes auf der Drucksache 18/8615 aufge-rufen werden .Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlos-sen .Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regu-lierung des Prostitutionsgewerbes sowie zumSchutz von in der Prostitution tätigen Perso-nenDrucksache 18/8556Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfeb) Unterrichtung durch die BundesregierungBericht der Bundesregierung zu den Auswir-kungen des Gesetzes zur Regelung der Rechts-
Drucksache 16/4146Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für GesundheitNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 60 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat die Bundes-ministerin Manuela Schwesig .
Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,Senioren, Frauen und Jugend:Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren Abgeordnete! Der Bundesjustizminister undich legen Ihnen am heutigen Tage zwei Gesetzentwürfevor, mit denen wir dafür sorgen wollen, dass Schluss mitZwangsprostitution, Schluss mit Menschenhandel undGewalt in der Prostitution ist . Das sogenannte Prostitu-iertenschutzgesetz soll dazu beitragen, dass die Frauenund Männer, die in der Prostitution arbeiten, zukünftigbesser geschützt werden, und Sie werden den Parlamen-tarischen Staatssekretär in der Debatte zum nächsten Ta-gesordnungspunkt zum Thema Zwangsprostitution undMenschenhandel hören .Zugegebenermaßen haben wir es hier mit einem sehrkomplexen und schwierigen Thema zu tun . Warum? Vie-le Frauen und auch Männer in der Prostitution befindensich in ganz unterschiedlichen Lebenslagen . Ich selbsthabe zum Beispiel mit Prostituierten gesprochen, dieganz Verschiedenes erlebt haben .Da waren die zwei jungen Frauen, die mir ganz selbst-bewusst gesagt haben: Frau Schwesig, wir machen die-sen Beruf gerne, wir machen ihn freiwillig . Wir haben inunserem Bereich gute Arbeitsbedingungen . Wir möchtenauch, dass wir akzeptiert und respektiert werden . – Ichkonnte das diesen Frauen abnehmen . Das war glaubwür-dig, das war verbindlich .Aber im gleichen Gespräch hat mich eine junge Ost-europäerin angesprochen und gesagt: Ich habe andereserlebt . Ich habe keine Freiwilligkeit erlebt . Ich habe auchkeine guten Arbeitsbedingungen erlebt . Ich habe Aus-beutung und Gewalt erlebt . Ich war wie versteckt . Michhat niemand gesehen; ich musste ja nirgendwo hin, auchzu keiner Beratung . Ich war sozusagen versteckt, und derZuhälter konnte machen, was er wollte .Eine andere Prostituierte hat mir berichtet, dass siefrühzeitig – schon als junges Mädchen, schon als Min-derjährige – zur Prostitution getrieben wurde .Sie sehen an diesen drei Beispielen, dass wir es mitganz unterschiedlichen Lebenslagen zu tun haben . Des-halb möchte ich dafür werben, auch an dieses Gesetzentsprechend heranzugehen . Wir müssen versuchen, denverschiedenen Herausforderungen gerecht zu werden,und dafür sorgen, dass die Frauen und Männer, die in derProstitution sind, gute Bedingungen haben . Gleichzeitigmüssen wir aber dafür sorgen, dass niemand Frauen undMänner, Mädchen und Jungen in unserem Land benutzenund zur Prostitution zwingen kann .
Zur Wahrheit gehört, dass in Deutschland viele Prosti-tuierte unter menschenverachtenden Bedingungen arbei-ten . Damit muss Schluss sein . Es wird künftig einfacher,Menschenhändler zu verurteilen, und es kann besser ge-Vizepräsidentin Petra Pau
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gen Zwangsprostitution vorgegangen werden . Wir wol-len aber auch dafür sorgen, dass Bordelle zukünftig klareRegeln bekommen . Viele Frauen sind nicht in der Positi-on, selbst bessere Bedingungen durchsetzen zu können .Viele Frauen sind in der Macht von Bordellbesitzern undihnen schutzlos ausgeliefert, oft auch der Gewalt . Nie-mand kontrolliert, unter welchen Bedingungen Bordellearbeiten . Es ist in Deutschland schwieriger, eine Pom-mesbude zu eröffnen als ein Bordell . Damit muss Schlusssein . Wir brauchen für Bordelle klare Regeln .
Wir wollen Frauen und Männer davor schützen, zurProstitution gezwungen zu werden . Wir wollen die Frau-en und Männer, die freiwillig in der Prostitution arbeiten,besser schützen: vor Gefährdungen ihrer Gesundheit undihrer sexuellen Selbstbestimmung, vor Ausbeutung undvor Gewalt . Deshalb geben wir den Prostituierten klareRechte an die Hand und unterstützen sie bei der Wahrneh-mung ihrer Rechte . Nur wer seine Rechte kennt, nur werBeratungsangebote bekommt und sie auch in Anspruchnimmt, der ist wirklich geschützt . Deshalb ist es richtig,dass wir zukünftig eine Anmeldepflicht vorsehen unddiese mit einer Beratungspflicht verbinden, um genau derjungen Prostituierten, die bisher gar nicht rauskam, diegar nicht sichtbar war, die Chance zu geben, gute Hilfezu bekommen . Das ist keine Gängelung, sondern Schutzund Unterstützung für diese Prostituierten .
Ein Punkt, der mir sehr wichtig ist: Wir werden denProstitutionsstätten, also den Bordellen, zukünftig Aufla-gen erteilen . Bis jetzt ist es so, dass es kaum Regeln gibt .Jeder kann so einen Betrieb anmelden; überprüft wird sogut wie nichts . Damit muss Schluss sein . Zukünftig wirddas Gewerbe erlaubnispflichtig, und wir werden dafürsorgen, dass geschaut wird: Wie sehen die Verträge mitden Prostituierten aus? Wie gewährleistet der Betreiber,dass dort keine Minderjährigen beschäftigt werden? –Wenn die zuständige Behörde den Eindruck hat, dass et-was nicht mit rechten Dingen zugeht, dann muss sie auchhandeln können .Wir werden außerdem menschenunwürdige Betriebs-konzepte verbieten, zum Beispiel die Flatrate-Bordelle .
Es kann nicht sein, dass eine Frau eine ganze Nacht zuallem verkauft wird . Die Frau muss die Möglichkeit ha-ben, selbst zu sagen, was sie kann und was sie will . Esgeht nicht, dass im wahrsten Sinne des Wortes auf demRücken der Frauen Ausbeutung herrscht .
Zu der strengeren Regulierung dieses Gewerbes ge-hören zukünftig auch bessere Arbeitsbedingungen fürProstituierte . Das ist unser Ziel: Wir wollen Schutzstan-dards, insbesondere räumliche, hygienische und sicher-heitstechnische Mindestanforderungen . Ein konkretesBeispiel ist, dass das Arbeitszimmer mit einem Notrufs-ystem ausgestattet sein muss, damit die Frauen in Notsi-tuationen auch wirklich Hilfe rufen können . Wir sorgenauch dafür, dass Prostituierte besser beraten werden, undwir legen hohe Anforderungen an diejenigen, die Bordel-le betreiben, an .Es gibt zukünftig klare Rechte und viel mehr Hand-lungssicherheit für die Prostituierten . Deshalb bin ichzuversichtlich, dass es uns einerseits mit dem Prostitu-iertenschutzgesetz und andererseits mit dem Gesetz vonHerrn Maas zur Bekämpfung von Menschenhandel ge-lingt, dafür zu sorgen, dass die legale Prostitution unterfairen Bedingungen abläuft und dass wir zukünftig gegenZwangsprostitution, Ausbeutung und Gewalt besser vor-gehen können .Ich hätte mir gewünscht, dass diese Themen schonin den vergangenen Legislaturperioden intensiver ange-gangen worden wären . Wir haben hier seit vielen JahrenZustände, die unhaltbar sind . Ich habe selber erlebt, wieschwierig es angesichts der verschiedenen Gemengela-gen ist, die unterschiedlichen Positionen von „Lasst dochalles so, wie es ist“ über „Freiwilligkeit über alles“ bishin zu „Verbietet Prostitution am besten ganz“ in einemGesetz zusammenzubekommen, das den Frauen undMännern vor Ort wirklich gerecht wird .Ich bedanke mich herzlich bei der Regierungskoaliti-on . Wir haben intensiv beraten, auch gestritten . Ich binaber davon überzeugt, dass wir jetzt gute Regeln vorlie-gen haben .Ich freue mich auf die Beratung und wünsche mir,dass wir nach vielen Jahren Stillstand dieses Gesetz jetztdurchziehen, um endlich etwas gegen Ausbeutung in derProstitution und für einen besseren Schutz derjenigen,die ihr freiwillig nachgehen, zu tun .
Das Wort hat die Kollegin Cornelia Möhring für die
Fraktion Die Linke .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Ministerin Schwesig, heute ist der InternationaleHurentag, der Tag, an dem seit über 40 Jahren Sexarbei-terinnen weltweit für ihre Selbstbestimmungsrechte undfür bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen kämpfen .Dass Sie ausgerechnet an diesem Tag Ihr Gesetz auf denWeg bringen, mit dem Sie das Leben der meisten Sexar-beiterinnen erschweren werden,
ist ignorant, eine Provokation oder beides .
Ihr Gesetz nennen Sie zwar Prostituiertenschutzge-setz . Aber die Schutzmaßnahmen, die Frau SchwesigBundesministerin Manuela Schwesig
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hier eben beschrieben hat, finden sich zumindest in ih-rer Schutzwirkung darin überhaupt nicht . Sie werden mitdiesem Gesetz die Arbeit im Verborgenen fördern – ohneRechte und ohne Schutz .Sexarbeiterinnen sollen sich mit Inkrafttreten des Ge-setzes individuell und persönlich mit Familiennamen undAdresse registrieren lassen . Sie bekommen dann eineAnmeldebestätigung, so eine Art Hurenausweis . Diesenmüssen sie mit sich führen und bei Kontrollen vorlegen .Die Anmeldung ist nicht etwa einmalig, und man meldetsich wieder ab, wenn man mit dem Beruf aufhört – nein,sie muss alle zwei Jahre erfolgen . „Was soll das?“, frageich Sie . Sie schützen damit nicht, Sie verbessern damitnicht die Lebenssituation der Prostituierten, Sie stärkendamit nicht das sexuelle Selbstbestimmungsrecht, Sieverbessern damit nicht die Überwachung des Prostitu-tionsgewerbes, Sie bekämpfen damit nicht Kriminalitätoder Zuhälterei . Nichts davon tun Sie . Ihre angeblichenZiele sind alles Luftnummern .Warum also? Die Registrierung ist ein Mittel der Ver-drängung und Verhinderung statt des Schutzes, weil sicheben viele Frauen gar nicht anmelden werden, weil siesich nicht anmelden können – aus verständlichen Grün-den . Das gesellschaftliche Stigma ist noch viel zu groß .Was passiert denn, wenn eine Prostituierte sich bei derzuständigen Behörde in einer Kommune, in der mansich kennt, registrieren lassen muss? Soll sie dort sagen:„Schönen guten Tag! Ich will als Prostituierte arbeiten .Aber wenn Sie mich beim Elternabend oder beim Ein-kaufen treffen, dann schauen Sie mich bitte nicht ko-misch von der Seite an“? Dieser Berufsstand ist nuneinmal noch in der Schmuddelecke . Wenn Sie wirklichhelfen und schützen wollen, dann müssen Sie genau ge-gen dieses Stigma wirken . Das tun Sie aber nicht .
Es gibt viele Gründe, warum Frauen in der Prostitu-tion ein Zwangsouting befürchten oder die behördlicheRegistrierung nicht riskieren wollen . Ihre Familie, ihrsoziales Umfeld weiß vielleicht nichts und soll es auchnicht wissen . Der Beruf wird vielleicht nur gelegentlichausgeübt . Ein Outing gefährdet den Teilzeitjob oder dasSorgerecht im anstehenden Verfahren . Wie auch immer:Es gibt viele Gründe .Ein nicht unerheblicher Teil dieser Personen wirdweiterhin sexuelle Dienstleistungen anbieten . Sie tun esdann bei Nichterfüllung der Anmeldepflicht aber ebenillegal und unter Bußgeldandrohung . Ihr Gesetzentwurfbringt keinen Schutz . Dieses Gesetz fördert die Verdrän-gung ins Verborgene . Es ist ein Gesetz der Kontrolle .
Sie werden die Stigmatisierung verschärfen, anstatt siezu mindern .Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist doch völligabsurd, zu glauben, dass sich ein in die Illegalität getrie-benes Gewerbe besser überwachen ließe oder die Pros-tituierte, die dann illegal tätig ist, behördlichen oder po-lizeilichen Schutz in Anspruch nehmen würde . An wensoll sich die Prostituierte denn wenden, wenn sie tatsäch-lich Gewalt erfährt oder wenn sie wegen einer fehlendenAnmeldung oder der Tätigkeit und der Angst vor demOuting erpresst wird? Sie wird eben nicht zur Polizei ge-hen .Sie haben eben die Anmeldepflicht auch damit begrün-det, dass so eine Aufklärung über die Rechte von Prosti-tuierten erfolgen kann oder Prostituierte sagen könnten,sie bräuchten noch eine Beratung . Das ist eine schlech-te Begründung . Information und Beratung können dochviel besser freiwillig in Beratungsstellen erfolgen .
Wenn es Ihnen um Unterstützung und Beratung geht,Herr Weinberg, dann nehmen Sie doch als Bund endlicheinmal Geld in die Hand und bauen das Hilfesystem aus .
Der zweite Teil des Gesetzentwurfs, den FrauSchwesig hier vorgestellt hat – da geht es um die Regulie-rung von Prostitutionsstätten –, legt Mindestanforderun-gen für gute Arbeitsbedingungen fest . Das ist im Prinzipzu begrüßen . Aber auch hier schießt die Große Koalitiongnadenlos am Ziel vorbei . Die Mindestanforderungen,die Sie festlegen wollen, können von Großbordellen er-füllt werden, aber nicht von kleinen Wohnungsbordel-len . Getrennte Sanitärbereiche für Sexarbeiterinnen undSexarbeiter sowie Kunden und Kundinnen – auch Kun-dinnen gibt es manchmal –, technische Notrufsysteme,getrennte Schlaf- und Arbeitszimmer: Das ist für kleineWohnungsbordelle nicht drin . Aber das ist für sie auchnicht erforderlich .Worin besteht denn der Schutz, wenn die Sexarbei-terin in einem anderen Zimmer schläft, als sie arbeitet?Warum braucht es denn teure Technik, wenn sie bei Ge-fahr rüberrufen kann? Gerade Wohnungsbordelle ermög-lichen es den Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern, selbst-bestimmter zu arbeiten, etwa mit drei, vier oder fünfFrauen in einem kleinen Bordell, als in Laufhäusern odereben in Großbordellen . Aber kleinere Wohnungsbordelledieser Art, die das ermöglichen, werden verschwinden .Sie werden Ihr Gesetz nicht überleben . Im Ergebnis för-dern Sie Großbordelle, und das ist echter Mist .
Ich habe, ehrlich gestanden, den Eindruck, dass Siebei dem Thema vor allem intern gekreist sind und ebennicht mit den entsprechenden Expertinnen und Expertensowie Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern geredet haben .Wenn Sie nur einmal den Berufsverbänden und Exper-tinnen und Experten richtig zugehört hätten, wenn Siedie Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter ernst nehmen wür-den, wenn Sie einmal den Bericht des Runden Tisches inNRW gelesen und dann dessen Erkenntnisse berücksich-tigt hätten –
Cornelia Möhring
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– da war ich, Herr Weinberg –, dann wüssten Sie, dassdie Prostitutionsstätten sehr unterschiedlich sind und na-türlich auch unterschiedlich behandelt werden müssen .
– Sie können mir ja eine Zwischenfrage stellen . Die be-antworte ich gerne . – Ein Prostitutionsstättengesetz, indem auf unterschiedliche Modelle eingegangen wird, indem mit Betroffenen ausgehandelte Mindeststandardsfestgelegt und diese gemeinsam ausgehandelten Min-deststandards als Grundlage für die Konzessionierunggenommen werden, wäre sinnvoll und wird auch vonmeiner Fraktion gefordert .
Zum Abschluss habe ich noch eine Frage an Sie . Neh-men wir einmal an, Sie würden es mit Ihrem Verhin-derungs- und Kontrollgesetz tatsächlich schaffen, dassFrauen nicht mehr in der Prostitution arbeiten wollen,
auch nicht illegal: Was dann? Wo sind die guten Jobs fürsie? Wo sind die vielversprechenden Ausbildungschan-cen? Wo sind die bezahlbaren Wohnungen?
Bevor Sie in der Art, wie Sie es vorhaben, gegen einenlegalen Beruf vorgehen, sollten Sie sich erst einmal über-legen, wie Sie diese sozialen Fragen lösen, und zwarnicht nur für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter, sondernfür alle .
Ich muss ganz ehrlich sagen, Frau Schwesig: Ich ver-stehe an dieser Stelle Ihr Tempo nicht . Nächsten Montaggibt es im Bundestag eine Anhörung . Da haben Sie nocheinmal die Gelegenheit, tatsächlich mit Expertinnen undExperten sowie Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern zu re-den und richtig hinzuhören . Schon einen Monat spätersoll hier die zweite und dritte Lesung erfolgen, obwohldas Gesetz erst Mitte nächsten Jahres in Kraft treten soll .Was soll denn das? Hat Ihnen die Union dafür verspro-chen, dass dann das Entgeltgesetz kommt, was ja nach-her doch immer nur eine Nullrunde bringt? Oder warumdiese Eile?Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Linke ist dabei,wenn Menschenhändlern, wenn Zuhältern, wenn Aus-beutern der Kampf angesagt wird .
Wir sind dabei, wenn Armut bekämpft wird . Wir sinddabei, wenn es darum geht, Selbstständige besser abzu-sichern und sie an Sozial- und Rentenversicherung teil-haben zu lassen . Wir sind dabei, wenn sexuelle Selbst-bestimmung gestärkt werden soll und die Betreiber vonBordellen für bestmögliche und sichere Arbeitsbedin-gungen sorgen müssen . Wir sind dabei, wenn es um mehrSchutz und um mehr Rechte geht . Aber all das tun Sieeben nicht . Die Linke wird Ihren Gesetzentwurf ableh-nen .Vielen Dank .
Der Kollege Marcus Weinberg hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Liebe Frau Möhring, wenn es denn einenTag gibt, an dem man einen solchen Gesetzentwurf hierim Deutschen Bundestag diskutieren muss, dann ist esgenau der heutige Tag; denn dieses Gesetz ist endlichdie richtige Antwort auf das, was wir seit 2002 erleben,nämlich das Scheitern des Prostitutionsgesetzes von Rot-Grün .
Wenn Sie mir das nicht glauben, dann sprechen Siebitte mit denjenigen, die die Wirklichkeit bewerten . Ichwill zitieren, was ein Reporter von RISE Project in derSendung Die Story im Ersten: Ware Mädchen sagte: „AlsDeutschland und die Schweiz die Prostitution legalisierthaben, war das eine gute Nachricht für die Menschen-händler …“ – Das hat sich seit 2002 verändert . Ihr Bei-trag gerade hat bewiesen, dass Sie anscheinend unter ei-nem absoluten Realitätsverlust bei der Frage leiden: Wiesieht es in der Prostitution aus?
Schauen wir uns einmal die Ergebnisse des rot-grü-nen Prostitutionsgesetzes an: Sicherheit und Schutz?Fehlanzeige! – Bessere Arbeitsbedingungen? Fehlanzei-ge! – Selbstbestimmung der Prostituierten? Fehlanzeige!Nein, weniger als 100 Prostituierte sind in Deutschlandsozialversicherungspflichtig angestellt. Stattdessen ha-ben wir es mit Elend, Ausbeutung und Armut zu tun . Daswerden wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf endlichangehen .Ziel des Gesetzes – das hat die Ministerin dargestellt –ist es, den Prostitutionsmarkt, die legale Prostitution,endlich zu regeln mit dem Ziel, dass die organisierteKriminalität zurückgedrängt wird, dass wir Prostituiertevor Fremdbestimmung schützen und auch die Arbeits-bedingungen für die Prostituierten so gestalten, dasssie in diesem Bereich in Würde arbeiten können . JedeForm von Fremdbestimmung muss bekämpft werden,von Zwangsprostitution und Menschenhandel ganz zuschweigen . Denn – das ist unsere Überzeugung – jedeArt von Fremdbestimmung in der Prostitution ist mit derWürde des Menschen unvereinbar . Dieser Leitsatz trägtuns auch bei diesem Gesetzentwurf .Deswegen teile ich das, was die Ministerin zu der Fra-ge gesagt hat, welche Gruppe wir in den Fokus der Be-Cornelia Möhring
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trachtung nehmen sollten . Das sind, bei allem Respekt,nicht die gut situierten Hausfrauen oder Studierenden,die nebenbei als Prostituierte arbeiten, beispielsweiseein Dominastudio betreiben und selbstbestimmt sind .Vielmehr müssen die in unserem Fokus stehen, die nichtsichtbar sind . Das sind die Tausenden von Prostituierten,die in den letzten Jahren nach Deutschland gekommensind, die übrigens immer öfter an den Landstraßen stehenund die keiner im Fokus hat . Das heißt, der Gesetzent-wurf muss insbesondere diese Gruppe schützen; denn dasist die Aufgabe des Staates: die Schwachen der Gesell-schaft zu schützen .
Deswegen sei noch eine Bemerkung zu Ihrer Aussageerlaubt, wir müssten mit den Sexdienstleisterinnen spre-chen . Das tun wir . Ich spreche gerne mit einem Verband,der 36 oder 72 Mitglieder hat . Wir reden hier aber überTausende, die in der Prostitution sind oder tätig sein müs-sen .
Das ist auch ein Appell an die gut organisierten Sex-dienstleisterinnen, die sich jetzt auch durch den Verbandvertreten sehen . Es geht um die Solidarität der Betrof-fenen mit den Schwächeren und die Bereitschaft, auchfür die Schwächeren einzustehen . Deshalb ist die fremd-bestimmte Prostitution in dem Sinne zu verändern, dasswir Hilfsangebote machen, Kontrollen vornehmen undübrigens auch Möglichkeiten zum Ausstieg aus der Pros-titution schaffen . Das sollte auch im Interesse derer sein,die sich in Verbänden vertreten sehen . Der Staat hat je-denfalls – ich wiederhole – die Aufgabe, gerade die zuvertreten, die keine andere Möglichkeit haben .
Kollege Weinberg, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung der Kollegin Möhring?
Von Frau Möhring doch immer .
Vielen Dank, Herr Kollege Weinberg . – Herr Kollege
Weinberg, würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass in al-
len Stellungnahmen der Verbände, die bisher zu unserer
Anhörung am nächsten Montag eingegangen sind, und
auch bei den vergangenen Sexarbeiterinnen-Kongressen,
die nicht nur 35 Teilnehmerinnen hatten, sondern bei de-
nen ein breites Spektrum abgebildet war, von allen, wirk-
lich ausnahmslos allen darauf hingewiesen wurde, dass
die Registrierungs- und Anmeldepflicht mitnichten zu
mehr Schutz der Betroffenen führt, und dass auch die Be-
ratungsstellen, die sich mit Prostituierten auf dem Stra-
ßenstrich beschäftigen, darauf hingewiesen haben, dass
eine Registrierung mitnichten zu mehr Schutz führen,
sondern die Abdrängung in die Illegalität fördern wird?
Ich kann Ihnen natürlich nicht vorwerfen, wenn Sie
sich nicht vor Ort im Bordell kundig machen; das ist kei-
ne Frage. Aber heute findet um 11 Uhr vor dem Bundes-
tag eine Aktion zum Internationalen Hurentag statt . Da
haben alle Kolleginnen und Kollegen Gelegenheit, direkt
mit Betroffenen darüber zu reden und von ihnen zu hö-
ren, was sie von diesem Gesetzentwurf halten .
Liebe Frau Kollegin Möhring, das nehme ich schondeshalb zur Kenntnis, weil der Sexdienstleisterin-nen-Kongress in Hamburg stattgefunden hat, eröffnetvon der Senatorin für Gleichstellung, Frau Fegebank vonden Grünen .
Sprechen Sie einmal mit denjenigen, die sich um dieProstituierten kümmern, die gerade nicht vertreten wer-den!
Sprechen Sie mit Polizeibeamten vom LKA! Ich willgerne zitieren, was eine verdeckte Ermittlerin im Zusam-menhang mit der Fragestellung von Anmeldung und Be-ratung gesagt hat:Die Mädchen müssen halt das Gefühl haben, dasssie eng betreut werden und dass wir ihre Sorgenernst nehmen . Haben sie das Gefühl, dass manernsthafte Hilfsangebote macht, wie zum Beispiel,dass man NGOs einbindet, die eng an den Mädchendran sind, und das aufrechterhält, sagen sie aus .Das heißt, das, was die Polizistinnen und Polizisten überdie, die sie täglich aufgreifen, über die, die an der Straßestehen und sich für 20 Euro anbieten müssen, sagen, demvertraue ich . Das sind auch meine Adressaten in der Dis-kussion über diesen Gesetzentwurf .Sie werden bei den Stellungnahmen zur Anhörungeiniges erleben . Wir werden am Montag darüber debat-tieren und darüber sprechen, wie die Realität aussieht .Sie wird nicht bestimmt von den wenigen, die in großenEdelbordellen arbeiten, sondern von der großen Masse,die wir an der Landstraße finden. Deshalb, glaube ich,muss bei allem Respekt vor der Arbeit der jeweiligenVerbände – auch die nehmen wir gern zur Kenntnis;auch mit denen führen wir Gespräche – angesichts von300 000 Prostituierten unser Ansinnen sein, dass wir unsGedanken um diejenigen machen, die nicht durch die je-weiligen Verbände vertreten werden .
Genau die Beschreibung der Auswirkungen des Pro-stituiertengesetzes in Form von Elend, Armut und Aus-beutung war es ja auch, was die Große Koalition in derjetzigen Situation bewegt hat, zu handeln . Wir habendann ja auch sehr intensiv miteinander gerungen – dasist auch gut so –, weil wir am Thema interessiert waren,weil wir nicht weiter Ideologien aufbauen wollten . DieMinisterin hat zu Recht gesagt, vielleicht kommt manMarcus Weinberg
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mit diesem Gesetz zu spät . Richtig . Aber das Gute ist –und das ist unser Ziel –, dass wir dieses Gesetz in dieserLegislaturperiode auf den Weg bringen . Ich bin der SPDsehr dankbar, dass wir bei den wesentlichen politischenThemen auch Einigung erzielt haben . Es war ein langer,streitbarer Weg, aber uns hat immer das Interesse gelei-tet, dass wir die Frauen schützen, dass wir die Betrof-fenen schützen . Ich glaube, das ist mit den Regelungenauch gelungen .Wir brauchen ein Anmeldeverfahren, wir brauchenAngebote, und wir brauchen insbesondere den Schutzder Prostituierten, die unter 21 sind . Auch wenn die Pro-stitution weiter mit 18 zulässig ist, haben wir es zumin-dest erreicht, dass besondere Schutzfunktionen, besonde-re Beratungsfunktionen jetzt bei der Gruppe der 18- bis21-Jährigen implementiert werden . Das ist gut – geradefür die Gruppe, die wir auch mit Blick auf den Ausstiegansprechen wollen .Im Übrigen, Frau Möhring, Ihre letzte Bemerkunghabe ich überhaupt nicht verstanden . Was ist denn dasbitte für ein Ansatz: „Ja, und wenn die Prostituierten dannmit ihrer Arbeit aufhören, was ist denn dann mit ihnen?Dann müssen wir sie ja qualifizieren und Ausbildungsan-gebote schaffen“? Ja, ist denn der Umkehrschluss, dasssie in der Prostitution bleiben sollen, weil sie möglicher-weise keine Alternative haben? Das kann in dieser Frageja wohl nicht der richtige Weg der Politik sein .
Wir werden uns jetzt tatsächlich nach der Anhörungam Montag Zeit nehmen, ebendiese auszuwerten . Wirals Union haben noch einige Punkte, die wir diskutierenwollen . Ich will ein paar davon ansprechen .Das Erste ist das Thema der Einsichtsfähigkeit . Wirhalten es für falsch, dass sozusagen die Prüfung der Ein-sichtsfähigkeit jetzt im Rahmen des Anmeldeverfahrenswieder herausgenommen wurde . Denn gerade die Men-schen mit kognitiven Schwierigkeiten, die Menschen mitBehinderung müssen davor geschützt werden, dass sieeine Anmeldebescheinigung ausgestellt bekommen, ohnedass überprüft wird, ob sie über ausreichende Einsichts-fähigkeit verfügen, um ihr sexuelles Selbstbestimmungs-recht selbst schützen zu können . Gerade diese Menschenbrauchen ein Anmelderegime, das dazu geeignet ist, ihrSelbstbestimmungsrecht sicherzustellen .Das Zweite ist die Frage des Schutzes von schwange-ren Prostituierten und hochschwangeren Prostituierten .In diesem Bereich gibt es ja die Entwicklung – das ist jaerbärmlich –, dass man mit Schwangeren und mit Hoch-schwangeren mittlerweile gute Geschäfte macht . Da sa-gen wir als Union ganz deutlich: Wir müssen schauen,wie wir es rechtlich hinbekommen, dass wir diese Men-schen schützen, weil das ungeborene Leben geschütztwerden muss . Das ist auch in der Frage der Prostitutionfür uns ein Grundsatz .
Drittens werden wir auf das Thema Krankenversiche-rung schauen . Wir wollen die Prostituierten beraten, wirwollen aber auch, dass alle krankenversichert sind .Der vierte Punkt betrifft die Auswüchse der Prostitu-tion gerade in ländlichen Bereichen . Wenn Sie heute mitKolleginnen und Kollegen aus Wahlkreisen sprechen, dieaus einem ländlichen Bereich kommen, dann hören Sie,dass sich dort mehr und mehr junge Mädchen aus Rumä-nien, aus Bulgarien finden, die sich für billiges Geld an-bieten müssen, die elf Stunden im Regen stehen müssen .Und das Geld, das sie verdienen, wird ihnen auch nochabgenommen . Das heißt, wir werden überprüfen müssen,wie wir diese besondere Situation der Straßenprostitutionmit dem jetzigen Gesetzesvorhaben verändern können .
Ich bin guter Dinge . Ich bedanke mich noch einmal fürdiesen Gesetzentwurf . Wir haben hier und da noch Nach-besserungsbedarf und müssen an Stellschrauben drehen .Das werden wir gemeinschaftlich tun . Ich freue michsehr, dass SPD, CDU und CSU es gemeinsam in dieserLegislaturperiode schaffen, ein solches Gesetz auf denWeg zu bringen . Es ist ein gutes Zeichen für die GroßeKoalition, dass wir, so weit auseinander wir auch waren,jetzt eng zusammengekommen sind – im Sinne der Be-troffenen . Und das ist unser Auftrag, nichts anderes .Vielen Dank .
Das Wort hat die Kollegin Katja Dörner für die Frakti-
on Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Man sagt ja: Was lange währt, wird end-lich gut . – Auf diesen Gesetzentwurf trifft dieser schöneSpruch leider nicht zu .
Wir sind uns ja alle einig, dass wir Regulierung im Be-reich der Prostitution brauchen und dass wir die Situationvon Prostituierten verbessern wollen . Herr Weinberg hatdas Gesetz von 2002 angesprochen; es kommt ja auchin der gesamten Debatte immer wieder zur Sprache . Ichwill einmal sagen: Durch dieses Gesetz wurde wirklicheine zentrale Weichenstellung vorgenommen, insbeson-dere deshalb, weil es die sogenannte Sittenwidrigkeitzivilrechtlicher Verträge über sexuelle Dienstleistungenbeseitigt hat . Hinter diesen Schritt will niemand mehrzurück. Ich finde das gut, und ich möchte das hier nocheinmal ausdrücklich festhalten .
Aber es ist auch richtig, dass sich viele der mit diesemGesetz verbundenen Erwartungen und Hoffnungen nichterfüllt haben, beispielsweise im Bereich der sozialversi-cherungspflichtigen Beschäftigung und im Hinblick aufMarcus Weinberg
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den Schutz vor Zwangsprostitution . Deshalb sagen wirals Grüne, dass wir neue Regelungen brauchen .
Was wir brauchen, ist eine Regulierung der Prostitu-tionsstätten als Gewerbebetrieb . Den Betreibern müssenPflichten auferlegt werden.
Ihnen müssen klare Grenzen aufgezeigt werden . Dies-bezüglich enthält der Gesetzentwurf einige Regelungen .An dieser Stelle können wir durchaus mitgehen . DerWebfehler des Gesetzentwurfs ist aber, dass Sie darüberhinaus den in der Prostitution Tätigen sehr weitreichen-de Pflichten auferlegen. Dieser Ansatz ist falsch. Das istGängelung und fördert die Stigmatisierung . Das trägtnicht dazu bei, Prostituierte besser zu schützen .
Wir bemerken immer wieder, dass Prostitution einsehr emotional besetztes Thema ist . Persönliche Wertvor-stellungen spielen hier immer eine große Rolle . Geradewenn aber die Gesellschaft mit heißem Herzen über eineThematik diskutiert, müssen wir als Gesetzgeber umsomehr mit kühlem Kopf die Sache angehen und uns fra-gen, ob die Maßnahmen, die wir vorschlagen, tatsächlichgeeignet sind, unsere Ziele zu erreichen, gerade wenn esum den Schutz der Prostituierten geht .
Ich will zwei Maßnahmen nennen, bei denen das nichtder Fall ist bzw . mit denen das Gesetz das Gegenteil be-wirken wird . Wie gesagt, Prostitution wird noch immerstigmatisiert . Deshalb sind viele Prostituierte dringendauf Anonymität angewiesen . Sie werden sich daher nichtanmelden . Die vielleicht seitens der Koalitionsfraktio-nen gut gemeinte Anmeldefrist wird in der Praxis dazuführen, dass eine große Anzahl der Prostituierten in in-transparente, illegale Bereiche ausweichen muss . Damitsteigt die Gefahr von Übergriffen . Die Möglichkeiten,Maßnahmen des Rechtsstaats in Anspruch zu nehmen,werden geschwächt . Auch der Zugang zu Beratungs- undUnterstützungsmöglichkeiten wird erschwert . Deshalbist diese Anmeldefrist kontraproduktiv .
Zudem – das entnehmen wir auch einigen Stellung-nahmen zur Anhörung –: Die Annahme, Opfer vonMenschenhandel könnten im Rahmen der Anmeldungerkannt und unterstützt werden, ist völlig lebensfremd .Vielmehr werden sich gerade Frauen in Abhängigkeits-verhältnissen anmelden müssen, damit die Hintermännersie ungestört und ungefährdet weiterhin ausbeuten kön-nen . Gerade das wollen wir nicht .
Ein weiterer Punkt, den ich ansprechen möchte undder eng mit der Anmeldepflicht verknüpft ist, ist die ge-sundheitliche Pflichtberatung. Selbstverständlich ist ge-sundheitliche Beratung immens wichtig . Deshalb ist esunsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es ausreichendBeratungsangebote gibt . Aber alle Erfahrungen zeigen,dass den Beratungsangeboten Freiwilligkeit, Niedrig-schwelligkeit und die Möglichkeit der Anonymität zu-grunde liegen müssen . Ich rate an, einen Blick in dieStellungnahme der Bundesvereinigung der kommunalenSpitzenverbände zu werfen . Diese sagt ausdrücklich,dass die Beratungspflicht stigmatisierend und kontrapro-duktiv wirkt und dass sich gerade marginalisierte Prosti-tuierte dieser Pflicht entziehen und damit kriminalisiertund noch vulnerabler werden . Deshalb meine ich: DieKoalition sollte von dieser Regelung dringend Abstandnehmen .
Der Gesetzentwurf trägt den Schutz der Prostituiertenim Titel. Aber man findet diesen Schutz leider nicht inden Paragrafen . Deshalb sehen wir diesen Gesetzentwurfsehr kritisch . Wir hoffen auf die Anhörung und den Bun-desrat, der in dieser Frage offensichtlich sachorientierteraufgestellt ist als die Koalitionsfraktionen .Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Die Kollegin Dr . Carola Reimann hat für die
SPD-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Mit dem Prostitutionsschutzgesetz schaffen wirdas erste Mal klare Regeln für den Betrieb und die Er-laubnis von Prostitutionsstätten . Das ist gut; denn damitsorgen wir für bessere Arbeitsbedingungen für die in derProstitution tätigen Frauen und Männer . Für die SPD istdas ein ganz entscheidender Punkt . Wir wollen nämlich,dass dieses Gesetz hält, was sein Name verspricht: einhöheres Schutzniveau und eine nachhaltige Verbesserungder Situation von Prostituierten .Es ist schon angesprochen worden: Die Erfahrungenaus der Praxis haben gezeigt, dass auch nach dem imJahr 2002 unter Rot-Grün eingeführten Prostitutionsge-setz Handlungsbedarf besteht . Leider, Kollege Weinberg,hat aber ein schwarz-gelb dominierter Bundesrat in derVergangenheit immer notwendige Regulierungen verhin-dert .
Das Prostitutionsgesetz setzt jetzt an dieser Stelle an . DieErlaubnispflicht für Prostitutionsstätten ist hierbei derzentrale Punkt . Mit ihr setzen wir wichtige Mindeststan-dards bei den Arbeitsbedingungen durch .
Erstens . Die Betreiber eines Prostitutionsgewerbesmüssen sich einer Zuverlässigkeitsprüfung unterziehen .Zweitens. Diese Erlaubnispflicht wird an die ErfüllungKatja Dörner
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gesetzlicher Mindestanforderungen für die Betriebe ge-knüpft. Bei Verstößen drohen empfindliche Strafen undder Entzug der Erlaubnis . Drittens . Es stehen uns mitdem Gesetz jetzt endlich neue Kontrollinstrumente zurVerfügung,
um auch die Einhaltung der gesetzlichen Pflichten sicher-zustellen .Wir brauchen diese Maßnahmen; denn es geht hier umnicht weniger als die Einhaltung von Grundrechten wieder sexuellen Selbstbestimmung, der persönlichen Frei-heit und auch der Gesundheit . Deshalb ist es richtig, dasswir mit Geschäftsmodellen Schluss machen, die mit demRecht auf sexuelle Selbstbestimmung unvereinbar sind .
Wir regeln hier einen Bereich, der, wo immer man hin-schaut, ganz unterschiedlich ist, ja sogar widersprüchlichausgeprägt ist . Zweifelsohne ist die Situation für viele inder Prostitution Tätige nach wie vor schwierig . Sie wer-den ausgegrenzt und stigmatisiert, nur wenige wagen es,offen über ihre Tätigkeit zu sprechen . Viele fürchten Be-nachteiligungen im eigenen sozialen Umfeld . Gleichzei-tig gibt es aber auch Sexarbeiterinnen, die selbstbewusstfür ihre Rechte kämpfen können, die Freiwilligkeit undSelbstbestimmtheit für sich reklamieren .Die Ministerin hat in ihrer Rede auf diese ganz unter-schiedlichen Lebenslagen hingewiesen . Unsere Aufgabeals Gesetzgeber ist es, ein Gesetz auf den Weg zu brin-gen, das dieses Spektrum berücksichtigt und dem gerechtwird . Das ist eine besondere Herausforderung . Das istaber nicht die einzige Herausforderung und nicht der ein-zige Widerspruch, mit denen man sich in diesem Gewer-be konfrontiert sieht; denn wir sprechen hier über einenWirtschaftszweig, in dem Milliarden umgesetzt werden,mit dem aber, wenn man sich umhört, niemand etwas zutun hat . Es ist die Tabuisierung, das Verschweigen undzum Teil auch die Verlogenheit, die die Lage dieser Frau-en und Männer so schwierig machen . Dieses Problem istwesentlich tief greifender, als dass wir es mit einem ein-zigen Gesetz von heute auf morgen ändern könnten .
Es ist aber wichtig, dass wir uns dessen bewusst sindund verstehen, in welch unterschiedlichen Lagen sichProstituierte befinden. Das müssen wir auch als Gesetz-geber vor Augen haben . Deshalb brauchen wir Regelnmit Augenmaß, Regeln, die den Frauen ein sicheres Le-ben ohne gesellschaftliche Ächtung möglich machen,aber auch Regeln, die der Lebens- und Berufspraxis ge-recht werden . Das ist das, was viele renommierte Ver-bände, angefangen vom Deutschen Juristinnenbund unddem Deutschen Frauenrat über die Diakonie bis hin zurDeutschen AIDS-Hilfe, im vorparlamentarischen Bera-tungsprozess immer wieder angemahnt haben .Deshalb bin ich froh, dass es in langen Verhandlun-gen gelungen ist, Forderungen abzuwehren, die dieBalance dieses Gesetzes gefährdet hätten . Dazu zählenForderungen nach Pflichtuntersuchungen oder nach demMindestalter. Richtig war auch, die Anmeldepflicht pra-xistauglicher zu machen . Unsere Marschrichtung ist klar:Wir wollen mehr Schutz, und wir wollen mehr Rechte fürdie Prostituierten . Wir wollen klare Standards für ordent-liche Arbeitsbedingungen .Was wir aber nicht wollen, ist Tabuisierung, Stigmati-sierung und Regelungen, die diese für die Frauen schäd-liche Entwicklung ohnehin verstärken; denn am Endeschieben wir damit Probleme und auch Missstände in diedunkle Ecke der Illegalität, obwohl wir eigentlich mehrLicht und mehr Transparenz an dieser Stelle brauchen .
Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wir sind mitdem Gesetz auf einem guten Weg, wenn wir diese Leit-linien auch im parlamentarischen Verfahren beherzigen .Das heißt: keine weiteren Verschärfungen, stattdessenmehr Rechte, mehr Beratung und mehr Unterstützung .Vielen Dank .
Das Wort hat die Kollegin Ulle Schauws für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wir reden hier im Bundestag in den letz-ten Wochen viel und oft über das Thema der sexuellenSelbstbestimmung . Gerade im Rahmen der Reform desSexualstrafrechts ist das ein sehr zentraler und wichtigerPunkt . Da sind wir uns hier in diesem Parlament – vorallem die Frauen – ziemlich einig . Umso mehr ist es fürmich unverständlich, dass im Falle der Prostituierten beider sexuellen Selbstbestimmung andere Maßstäbe ange-legt werden . Warum stellen Sie die Selbstbestimmungvon Prostituierten infrage? Denn das machen Sie mit die-sem Gesetzentwurf, Frau Ministerin .Diesem Entwurf liegt eine bevormundende Haltungzugrunde, die allen Frauen und Männern in der Prosti-tution die Selbstbestimmung abspricht . Ich sage Ihnen:Dieser Gesetzentwurf ist Ausdruck von Bevormundungund Kontrolle . Sie verändern damit genau nicht, was Sievorgeben ändern zu wollen . Sie setzen die Stigmatisie-rung der Stigmatisierten fort, Frau Schwesig . Sie ver-säumen es, das wirklich Notwendige zu tun, nämlich dieMenschen, die in der Prostitution arbeiten, zu bestärkenund zu unterstützen .
Frauen, die sexuelle Dienstleistungen anbieten und dieso zum Beispiel ihre Kinder ernähren oder die Pflege ei-nes Familienmitglieds mit diesem Job vereinbaren, sindnach Ihrem Gesetzentwurf gezwungen, sich zu outen,oder sie können diese Tätigkeit nicht mehr legal ausüben .Aber das ist doch, bitte schön, kein Schutzgesetz . Das istdie Bevormundung einer ganzen Berufsgruppe . GenauDr. Carola Reimann
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aus diesem Grund, liebe Kolleginnen und Kollegen, be-stehen schwerwiegende Bedenken gegen die Punkte desGesetzentwurfs, mit denen Druck auf die Prostituiertenausgeübt wird: die Anmeldepflicht – sie ist schon ge-nannt worden –, die verpflichtende Gesundheitsberatungund auch die behördlichen Anordnungen, die in diesemGesetzentwurf stehen .Bei den Anhörungen im Bundesministerium haben et-liche Fachleute – unter anderem der Diakonie, des Deut-schen Frauenrates, des Deutschen Juristinnenbundes undder Deutschen AIDS-Hilfe sowie Medizinerinnen undMediziner – früh davor gewarnt, den Zwang zum Ou-ting in diesen Gesetzentwurf hineinzuschreiben, weil daskontraproduktiv ist . Die Caritas hat den Gesetzentwurf –ich zitiere – mit folgenden Worten konterkariert:Das geht an der Lebensrealität von Prostituiertenvorbei . Expertenmeinungen und Erfahrungen ausder praktischen Arbeit haben kaum bemerkbar Ein-gang in den Gesetzentwurf gefunden .Dem, was die Caritas sagt, schließe ich mich an . Ihr Ge-setzentwurf ignoriert Fachwissen, und das ist unprofes-sionell .
Frau Schwesig, bei der Anmeldepflicht ignorieren Sie,dass sich die Prostituierten gerade aufgrund von Diskri-minierungserfahrungen erstens häufig nicht als „Prosti-tuierte“, sondern mit anderen Berufsbezeichnungen an-melden und zweitens Misstrauen wegen des fehlendenDatenschutzes haben . Und was machen Sie? Sie schaffeneine eigene Datei für Prostituierte . Die Folge – das wurdeheute schon sehr oft gesagt – ist klar: Viele werden sichnicht anmelden, und dann haben Sie nichts erreicht . Dasschützt Prostituierte nicht . Nein, es sind viele erst rechtgefährdet, wenn sie nicht legal arbeiten können .
– Ja, so ist es, Herr Weinberg .
Die irrige Vorstellung, mit der verpflichtenden Gesund-heitsberatung Opfer von Menschenhandel entdecken zukönnen, kommt genau daher, dass Sie den vielen Exper-tinnen nicht zugehört haben .
Armutsprostituierte, die in schwierigen Lebenslagenstecken und besonders gefährdet sind, werden sich wäh-rend eines Gesprächs in einer Behörde doch nicht einervöllig fremden Person anvertrauen .
Das braucht Zeit, und es funktioniert nur freiwillig . Esgeht nur freiwillig, Herr Kollege .
Wie Ihnen bekannt sein sollte, äußert auch der Bun-desrat in seiner Mehrheit deutlich Kritik . Er stellt dieForderung auf, die §§ 3 bis 11 zu streichen . Und, ehrlichgesagt, ich finde, das können Sie nicht so einfach ignorie-ren. Auch bei der Erlaubnispflicht, die wir Grünen schonim Januar gefordert hatten – wir halten sie grundsätzlichfür sinnvoll –, gibt es eine Einschränkung, die ich Ihnennennen will . Sie legen für kleine Wohnungsprostituiertedie gleichen Voraussetzungen an wie für große Laufhäu-ser . Gerade dort, wo sich zwei bis drei Frauen zusammen-tun, wo sie oft unter guten Arbeitsbedingungen arbeiten,erschweren Sie die Existenz für diese Prostituierten . Ausmeiner Sicht macht das überhaupt keinen Sinn .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Gesetz sollteMenschen in der Prostitution in ihrer Selbstbestimmungstärken . Wir Grüne fordern deutlich mehr Beratungs-stellen . Wir fordern Unterstützung für die Prostituierten,und zwar auf freiwilliger Basis . Runde Tische nach demVorbild von NRW sind sinnvoll . Vor allem bringen sieErfahrungen und Kompetenzen von allen Beteiligten aneinem Tisch zusammen . Ich appelliere an Sie: Nutzen Siedie Anhörung nächste Woche zum Gesetzentwurf . Nut-zen Sie die Expertise, die vorhanden ist . Und: BessernSie nach . Legen Sie einen Gesetzentwurf vor, der echteUnterstützung und Schutz für Prostituierte beinhaltet .Vielen Dank .
Die Kollegin Sylvia Pantel hat für die CDU/CSU-Frak-
tion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Einejunge Frau – ich nenne sie einmal Nadia – ist erst 19 Jah-re alt und kommt aus einem kleinen Ort in Rumänien .Vor einem Jahr kam sie ins Ruhrgebiet, um eine Stelle alsKellnerin anzutreten . Schnell landete sie in einem Lauf-haus . Sie wird von Haus zu Haus gereicht und weiß kaumnoch, in welcher Stadt sie gerade ist . Nadias ganze Sorgeist, dass sie nicht genug Geld für ihre Familie zu Hause inihrem Dorf zusammenbekommt . Geschichten wie diesehabe ich viel zu oft gehört, seit ich Berichterstatterin fürdie Themen „Prostitution“ und „Gewalt gegen Frauen“bin .Das 2002 von der rot-grünen Bundesregierung ge-schaffene Prostitutionsgesetz hat sein Ziel verfehlt; dasUlle Schauws
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haben wir auch hier mehrfach gehört . Deutschland wirdheute das Bordell Europas genannt . Tausende Frauenwerden jeden Tag zu Opfern . Es wurde ein Markt ohneklare Regeln geschaffen . Die Situation für die meistenProstituierten ist alles andere als wirklich selbst gewählt .Diesen Zustand müssen und werden wir ändern .Seit zwei Jahren haben wir innerhalb der Großen Ko-alition um die richtigen Wege gestritten . Das Prostituti-onsgewerbe muss reguliert werden . Die Gegner klarerRegeln, allen voran die Bordellbetreiber, haben immerversucht, das Bild einer selbstbestimmten Studentin auf-zuzeigen, die sich als Escortdame oder Edelprostituierteetwas zu ihrem Studium hinzuverdient . Dieses Bild istfür die Mehrheit der Prostituierten falsch .Die überwältigende Mehrheit der Prostituierten inDeutschland sind EU-Ausländerinnen, meist aus Südost-europa . Sie arbeiten für einen Hungerlohn in schäbigenZimmern, in Wohnwagen und müssen auf der Straße an-schaffen gehen . Diese Frauen sind meist nach Deutsch-land gekommen, weil man ihnen zum Beispiel einen Jobals Haushälterin, Kellnerin oder Model in Aussicht ge-stellt hat . Hier angekommen werden sie dann von ver-meintlichen Liebhabern, den sogenannten Loverboys,auf perfide Art und Weise an das Milieu herangeführt.Danach bleiben viele bei der Prostitution, weil sie Geldverdienen müssen und keinen Weg aus ihrer misslichenLage heraus kennen . Das alles ist keine Zwangsprosti-tution im Sinne des Strafrechts; aber es ist alles andereals das Bild einer selbstbestimmten Frau, das wir sehensollen oder sehen wollen .
Wenn wir von Expertinnen und Experten oder Hilfs-organisationen das Gewerbe geschildert bekommen, sindwir schnell in der Realität angekommen . Wir bekommeneine andere Realität aufgezeigt, als Sie uns hier weisma-chen wollen . Auch eine Handvoll Edelbordelle mit viel-leicht guten Arbeitsbedingungen kann nicht darüber hin-wegtäuschen, dass die Mehrheit der Prostituierten täglichausgebeutet und benutzt wird .
Beim Prostituiertenschutzgesetz ist der Name Pro-gramm . Wir schützen Prostituierte, indem wir einenvöllig enthemmten Markt regulieren . Gerade die Damenund Herren der Opposition sind doch sonst immer dafür,Märkte zu regulieren . Warum nicht hier?
Was sagen Sie denn zu Ausbeutung, Abhängigkeit vonLoverboys und einem Milieu, das Kriminalität im Be-reich von Drogen und Waffen bis hin zum Menschenhan-del befördert? Sollten wir hier nicht durchgreifen? Wirsagen Ja . Wir müssen durchgreifen, um den Damen zuhelfen . Es besteht Handlungsbedarf .Die Aufhebung der Sittenwidrigkeit der Prostitutionwar ein Paradigmenwechsel; das ist klar . Ob man die-sen Paradigmenwechsel nun gut findet oder nicht: Po-litik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit, unddas haben wir bei diesem Gesetz getan . Die Wirklichkeitist derzeit leider die, dass es juristisch einfacher ist, einBordell zu betreiben als einen Kiosk an der Ecke oder dievon Frau Schwesig angesprochene Pommesbude .Prostituierte genießen in den Bordellen heute kaumSchutz . Die Bordellbetreiberlobby versucht, den Begriff„Sexarbeit“ zu etablieren und damit so zu tun, als seieine Arbeit in der Prostitution gleich jeder anderen Ar-beit . Prostitution ist aber keine Tätigkeit wie jede andere .Der direkte Körpereinsatz und das Milieu weisen vieleGefahren auf .Das Prostituiertenschutzgesetz setzt in zwei wesentli-chen Bereichen an .Prostituierte müssen in Zukunft, wie jeder andere ar-beitende Mensch auch, angemeldet sein . Dazu gehört,dass sie nicht nur Tätigkeitsort und Identität angeben,sondern auch eine regelmäßige Gesundheitsberatungnachweisen müssen . In diesen Beratungsgesprächenwerden die Prostituierten über die Möglichkeiten dergesundheitlichen Versorgung sowie über Wege aus demMilieu informiert . Woher sollten sie es denn wissen? Siekennen unsere gesetzlichen Rahmenbedingungen unddie Arbeitsbedingungen in Deutschland nicht . Außerdemkönnen sie sich einer Fachberaterin anvertrauen, ohnedass ihr Zuhälter dabei sein darf, um auf sie aufzupas-sen . Prostituierte müssen jährlich ein solches Gesprächnachweisen, unter 21-Jährige sogar alle sechs Monate .So schaffen wir ein wirkliches Beratungsnetz .Der zweite Schwerpunkt ist die Lizensierung vonBordellen . Betreiber von Prostitutionsstätten und derenausführende Organe dürfen nicht einschlägig vorbestraftsein . Die Prostitutionsstätten müssen baulichen Stan-dards entsprechen . Der Bordellbetreiber hat umfangrei-che Sorgfaltspflichten gegenüber seinen Angestelltenund den freischaffenden Prostituierten zu erfüllen undmuss den Arbeitsschutz beachten – und dies erstmalig .Aus den Reihen einiger Bundesländer kam schon derEinwand, wegen unseres Gesetzes müssten sich mehrPolizisten um das Rotlichtmilieu kümmern . Ich kann nursagen: Das hoffe ich; es wird höchste Zeit .
Wir alle hier im Saal wissen, dass der Zustand derzeitunerträglich ist und großer Handlungsbedarf besteht .Wir beschließen nun ein gutes Gesetz . Daher können wirauch von den Ländern erwarten, dass die notwenige Zahlan Polizisten zur Durchsetzung des Gesetzes und damitzur Kriminalitätsbekämpfung bereitgestellt wird .Stellen Sie sich vor, wir würden Sicherheitsvorschrif-ten bei der Lebensmittelproduktion oder im Straßenver-kehr nicht mehr anwenden, weil wir nicht genug kon-trollieren können . Stellen Sie sich vor, wir würden denArbeitsschutz außer Kraft setzen, weil Länder und Kom-munen lautstark jammern, ihnen wäre der Aufwand zugroß . Zu Recht würde ein Aufschrei durchs Land gehen .Es ist besonders bitter, dass ich gerade in meinem Hei-matbundesland NRW nicht davon ausgehen kann, dassSylvia Pantel
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das Innenministerium die Zahl der Polizisten so erhöht,wie es sein müsste .
NRW setzt lieber auf einen Blitzmarathon, anstatt dieKriminalität zu bekämpfen . Im vergangenen Frühjahrwar ich zu einem Termin in der Landespolizeischule . DiePolizisten dort erzählten mir, wie schwierig die Situati-on für sie wäre . Sie sollen nicht mehr in gewisse Eckenschauen, weil für die sich daraus ergebenden Ermittlun-gen das Personal fehle . Es ist ja nett, wenn man an run-den Tischen darüber redet, aber man braucht klare Re-geln und auch Polizisten, die hinschauen .
– Das ist die Aussage der Polizisten .
Kollegin Pantel .
Wenn es unser aller Ziel ist, die von Ausbeutung und
Gewalterfahrung betroffenen Frauen zu schützen, dann
erwarte ich von den Ländern, dass sie nicht wegschauen,
sondern handeln . Ich erwarte, dass die Bundesländer mit
uns an einem Strang ziehen und das Gesetz vollumfäng-
lich unterstützen .
Herzlichen Dank .
Der Kollege Sönke Rix hat für die SPD-Fraktion das
Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer Veranstaltung –eine Familienfeier, ein größeres Fest, wie auch immer –und lernen eine Frau kennen . Im Laufe des Gesprächsstellt sich heraus, dass sie als Prostituierte arbeitet . Ma-chen wir uns nichts vor, dass das für uns alle irgendwieeine sehr merkwürdige Situation wäre . Stellen Sie sichweiterhin vor, Sie sind auf einer Familienfeier und eineFrau erklärt, dass sie als Krankenschwester arbeitet . KeinMensch würde dann schlucken und sagen: Oh, was istdas denn? – Aber bei dem anderen Beruf würden wir esmachen .Warum sage ich das? Weil es in diesem Bereich – un-abhängig davon, ob Frauen, die der Prostitution nachge-hen, dies selbstbestimmt oder aus Nöten und Zwängenheraus tun – immer eine Stigmatisierung gibt . Das trifftauch für die Frauen zu, bei denen wir sagen: Das ist docheine ganz selbstbewusste, toughe Frau; das ist doch garnicht schlimm . – Wir, die wir uns jetzt zwei Jahre langintensiv mit diesem Thema beschäftigt haben, würdenwahrscheinlich sogar erst recht sagen: Alles nicht sowild . – Aber es ist und bleibt eine Stigmatisierung .Die Situation ist immer noch so – auch am Internatio-nalen Hurentag muss man darauf aufmerksam machen –,dass wir dieses Thema – Frau Reimann hat es vorhin ge-sagt – ein Stück weit verlogen, verdeckt und mit schrä-gen moralischen Vorstellungen angehen . Das macht dieganze Debatte um diesen Bereich ja auch so schwierig .Wenn wir wirklich darüber diskutieren würden, wie wirden Menschenhandel bekämpfen können, dann würdenwir nicht nur über Prostituierte reden; denn der Men-schenhandel betrifft nicht nur den Bereich der Prostituti-on, in dem die Situation zugegebenermaßen sehr gravie-rend ist . Auch Menschen in anderen Bereichen werdenausgebeutet und müssen beispielsweise auf Baustellen,im Reinigungsgewerbe und wo auch immer arbeiten .Menschenhandel und Ausbeutung betreffen also nichtnur den Bereich der Prostitution, auch wenn die Situationin diesem Bereich am gravierendsten und schlimmstenist, sondern Menschenhandel umfasst noch mehr .Genau aus diesem Grund haben wir die beiden Berei-che getrennt . Wir haben gesagt: Das eine ist die Regu-lierung der Prostitution und der Schutz von Prostituier-ten insgesamt, und das andere ist die Bekämpfung desMenschenhandels . Das sollten wir in dieser Debatte un-terscheiden; den zweiten Teil dieses Komplexes beratenwir getrennt, gleich im Anschluss an diese Debatte . Daswollte ich vorweg einmal sagen .Nachdem wir zwei Jahre verhandelt haben, kann ichfeststellen, dass wir in dieser Koalition von sehr unter-schiedlichen Seiten gekommen sind . Es ist mitnichten so,dass das rot-grüne Prostitutionsgesetz dazu beigetragenhat, dass wir angeblich der Puff Europas sind .
– Frau Kollegin, die massive Ausbeutung von Arbeits-kräften findet auch in anderen Bereichen statt. Das habeich Ihnen gerade gesagt . Damit hat das Prostitutionsge-setz nichts zu tun; es hat etwas mit anderen internationa-len Rahmenbedingungen zu tun . Das muss man an dieserStelle einmal unterstreichen .
Wir haben zwei Jahre lang intensiv verhandelt, wobeiwir aus sehr unterschiedlichen Richtungen gekommensind . Natürlich haben auch unterschiedliche Wertevor-stellungen eine Rolle gespielt . Ich weiß, dass auch in-nerhalb der Fraktionen und der Parteien die Wertevor-stellungen auseinandergehen . Es ist ja nicht so, dassnur in einer Fraktion gesagt wird, dass man Prostitutionverbieten muss, und in einer anderen Fraktion niemandSylvia Pantel
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das sagt . Die Wertevorstellung, dass man Prostitution ambesten verbieten müsste, gibt es – wie ich es zumindestden Äußerungen der Kolleginnen und Kollegen entneh-me, mit denen ich gesprochen habe – in allen Fraktio-nen . Aber wir dürfen nicht zulassen, dass wir im Zusam-menhang mit der Regulierung von Prostitution aufgrundder Tatsache, dass wir uns unter Druck gesetzt fühlen,Schaufenstergeschichten machen . Deshalb ist es gut undrichtig, dass wir sinnlose Sachen wie die Einführung derAltersgrenze von 21 abgewendet haben; sie hätte dazugeführt, dass die Frauen unter 21 Jahren in die Illegalitätgegangen wären . Bei der Einführung dieser Altersgrenzehaben wir nicht mitgemacht .
Ein weiterer Punkt ist, dass wir den sogenanntenBockschein nicht wieder eingeführt haben . Denn sämt-liche Untersuchungen und Aussagen aus der Fachwelthaben gezeigt, dass er nichts gebracht hat . Auch wennder Bockschein in dieser Debatte gefordert wurde – beisinnlosen Schaufenstergeschichten macht die SPD-Frak-tion nicht mit .
Ich möchte den zweiten großen Bestandteil diesesGesetzes erwähnen . Wir haben eine große Einigkeit da-rüber – das haben auch die Kolleginnen der Grünen ge-sagt –, dass der größte Bestandteil dieses Gesetzes garnicht das Anmeldewesen für die Prostituierten ist . Wirmüssen das Anmeldewesen so ausgestalten, dass es einAndockpunkt für Hilfe und Beratung ist und nicht zurStigmatisierung beiträgt . Wir müssen also sagen: Das istder Punkt, an dem ihr euch in der Behörde anmeldet, undwir zeigen euch Wege zur Hilfe, Beratung und Unterstüt-zung auf . – Das ist der Sinn der Anmeldung; es geht nichtum eine Registrierung zum Zwecke der Demütigung undStigmatisierung .
Der viel größere Teil dieses Gesetzes – über 70 Pro-zent – befasst sich mit der Regulierung der Bordelle undder Prostitutionsstätten . Wir legen endlich einmal fest,dass nicht jeder – auf gut Deutsch – einen Puff aufma-chen kann, sondern dass er vorstrafenfrei sein muss, alsokeine relevanten Strafen begangen haben darf . Wir setzenfest, dass das Bordell entsprechende Standards vorwei-sen muss und dass auch die freiberuflich Beschäftigtengewisse Regeln einzuhalten haben . Sie müssen allerdingsauch entsprechend geschützt werden .
Herr Kollege Rix, ich bitte Sie, zum Schluss zu kom-
men .
Deswegen verdient das Gesetz auch den Namen, den
es bekommt .
Schönen Dank .
Der Kollege Paul Lehrieder hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich
weiß nicht, was es zu bedeuten hat, dass sich die Medien-
wand rechts, auf der die Redner angezeigt werden, gera-
de während dieser Debatte mit einem roten Aufflackern,
mit einem Rotlicht, verabschiedet hat .
Laut Schätzungen der EU-Kommission arbeiten in
Europa circa 200 000 Zwangsprostituierte . Die OSZE
spricht von jährlich 120 000 bis 500 000 Frauen, die als
Prostituierte aus Mittel- und Osteuropa in westeuropäi-
sche Länder kommen, ungefähr 27 Prozent davon sind
Kinder und Jugendliche . Menschenhändler verdienen
pro Jahr circa 150 Milliarden Dollar, so die Internatio-
nale Arbeitsorganisation, ILO . Daher liegt es in der Ver-
antwortung der Politik, den in der Prostitution tätigen
Menschen einen besseren Schutz zu gewähren, deren
Selbstbestimmungsrecht zu stärken und dieses Gewerbe
stärker zu kontrollieren .
Das derzeit noch geltende Prostitutionsgesetz, das
die damalige rot-grüne Regierung 2002 auf den Weg
gebracht hat, konnte die Erwartungen nicht erfüllen .
Frau Dörner, Sie haben völlig zu Recht darauf hingewie-
sen: Gut gemeint bedeutet nicht immer automatisch gut
gemacht . Deshalb hätte ich es begrüßt, wenn die Grü-
nen – Sie haben eine gewisse Verantwortung vor dem
Hintergrund dessen, was Sie vor 14 Jahren auf den Weg
gebracht haben – konstruktiv an der Verbesserung des
vorliegenden Gesetzentwurfs mitarbeiten würden .
– Frau Pau, Frau Dörner hätte eine Zwischenfrage . – Frau
Pau? Frau Dörner möchte mich etwas fragen .
Ich lasse die Frage zu .
Gut, dann lassen Sie also eine Frage oder Bemerkung
zu . Wir waren gerade mit der Lösung technischer Pro-
bleme beschäftigt . Entschuldigung . – Bitte, Frau Dörner .
Vielen Dank, dass Sie so überschwänglich meine Fra-
ge zugelassen haben .
Ich habe darauf gewartet . – Halt! Meine Zeit läuftnoch .
Sönke Rix
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Kollege Lehrieder, Sie kennen sich aus, aber die Zeit
ist längst angehalten .
Die Antwortzeit wurde offenbar schon in Ihre Rede-
zeit einkalkuliert .
Ich möchte Sie fragen, ob Sie zur Kenntnis genommen
haben, dass wir uns schon vor einem halben Jahr sehr
konstruktiv in diese Debatte eingebracht haben, indem
wir einen eigenen Vorschlag zu einem Gesetz zur Re-
gulierung von Prostitutionsstätten vorgelegt haben . Ich
habe in meinem Beitrag deutlich gemacht, dass wir über
Regulierungsmöglichkeiten für das Gewerbe sehr wohl
auch eigene Vorstellungen haben, die sich in Teilen mit
dem decken, was im vorliegenden Gesetzentwurf enthal-
ten ist, auch wenn wir in Bezug auf einige Details Kritik
üben .
Meine Frage lautet: Nehmen Sie zur Kenntnis, dass
wir uns, gerade was die Regulierung von Betriebsstät-
ten angeht, sehr konstruktiv eingebracht haben, dass sich
unsere Kritik darauf bezieht, dass Sie in der Prostitution
Tätige mit zusätzlichen Pflichten belegen wollen? Das ist
der Punkt, an dem wir Kritik üben, die übrigens, wenn
man die Stellungnahmen, die für die Anhörung am kom-
menden Montag eingegangen sind, liest, von der Breite
der Expertinnen und Experten aus unterschiedlichsten
Bereichen geteilt wird .
Frau Kollegin Dörner, Sie dürfen versichert sein, dassich als Ausschussvorsitzender Ihre Anträge und Vorlagensehr wohl kenne und zur Kenntnis nehme . Ich begrüßeausdrücklich, dass Sie schon zu diesem frühen Zeitpunktmitgewirkt haben . Umso mehr hat es mich enttäuscht,dass Sie vorhin in Ihrer Rede ausdrücklich gesagt ha-ben – dabei ist die Anhörung erst am Montag –: Wir leh-nen diesen Gesetzentwurf ab .
Hören wir uns doch erst einmal an, was die Sachverstän-digen am Montag sagen . Sie lehnen das Gesetz bereitsjetzt ab; das können wir im Protokoll nachlesen . – Blei-ben Sie stehen, ich bin noch nicht fertig .Wir werden am Montag in der Anhörung über dieStellungnahmen der Sachverständigen diskutieren . Dar-aus können wir dann Konsequenzen ziehen, Frau Dörner .Es kann doch nicht darum gehen, reflexartig abzulehnen,was die Große Koalition sinnvollerweise auf den Wegbringt . Arbeiten Sie konstruktiv mit . Ich hoffe, dass Ih-nen der Schutz gerade der jungen Frauen in diesem Ge-werbe genauso am Herzen liegt wie uns von der SPD undvon der CDU/CSU .
– Ich muss Ihnen das unterstellen .Das 2002 verabschiedete Gesetz und die damit ver-bundene Liberalisierung des Prostitutionsgewerbes hatnicht nur zu einer massiven Ausweitung der Prostituti-on, sondern auch zu einer zunehmenden Ausbeutung derin der Prostitution Beschäftigten und zu einer massivenVerschlechterung ihrer sozialen Lage geführt . Men-schenunwürdige und ausbeuterische Geschäftsmodellesind entstanden, und Zwangsprostitution, Menschenhan-del sowie die damit verbundene Begleitkriminalität ha-ben massiv zugenommen und stellen mittlerweile einenKriminalitätsschwerpunkt in unserem Land dar .Deutschland wurde zeitweise sogar als Bordell Euro-pas bezeichnet; darauf wurde bereits hingewiesen . Diederzeit noch geltenden Regelungen schützen schon seitgeraumer Zeit nicht mehr die in der Prostitution Täti-gen . Kriminelle und zahlreiche Bordellbetreiber habendie geltende Rechtslage ausgenutzt und hieraus Profitgeschlagen . Durch die fehlenden Kontrollmöglichkeitenist der Raum für Missbrauch und Ausbeutung geöffnetworden .Frau Dörner, genau deshalb müssen wir die Bordelleüberprüfen bzw . die Möglichkeit haben, dass die Polizeiin den Bordellen nach dem Rechten schauen kann . Nichtmehr und nicht weniger wollen wir tun, und das völlig zuRecht . Frau Ministerin Schwesig hat auf die Pommesbu-de hingewiesen . Jedes andere Gewerbe in Deutschlandist mehr Regulierungen unterworfen als der Betrieb einesBordells, und das kann es nicht sein .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der CDU/CSU-Fraktion ist es ein wichtiges Anliegen, ein Prosti-tuiertenschutzgesetz auf den Weg zu bringen . Ich mussganz bewusst auf den Namen eingehen . Es heißt nichtProstitutionsschutzgesetz, sondern es ist ein Prostituier-tenschutzgesetz, weil die Prostitution keines Schutzesbedarf . Sie wird nicht zu Unrecht oft als ältestes Gewer-be der Welt bezeichnet . Wir müssen die Frauen und auchdie Männer, die in der Prostitution tätig sind, schützenvor ausbeuterischen Geschäftsmodellen, vor einer Aus-nutzung ihrer persönlichen Lage . Genau dies bringt die-ser Gesetzentwurf erstmalig richtig auf den Weg, meineDamen und Herren .
Ich denke, dies ist uns mit dem jetzt vorliegenden Ge-setzentwurf, den wir von Juli 2017 an sukzessive umset-zen werden, gelungen .Es wurde von meinen Vorrednerinnen und Vorrednernbereits darauf hingewiesen: Wir haben uns die Beratun-gen nicht leicht gemacht . Wir sind von unterschiedlichenAusgangspunkten aus an dieses Gesetz herangegangen .Es gibt in der Prostitution nicht die Prostituierte, es gibtvielmehr ganz unterschiedliche Beweggründe, warumMenschen der Prostitution nachgehen . Es gibt die selbst-bewusste 22- bis 24-jährige Studentin, die sich etwas hin-zuverdienen will, die mit diesem Gesetz sehr wohl wirdleben können . Es gibt aber auch sehr viele – man schätzt75 bis 80 Prozent – junge, heranwachsende Mädchen,die zum Teil der deutschen Sprache nicht mächtig sind
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und aus dem osteuropäischen Ausland kommen . Diessind vulnerable Heranwachsende, die mit Loverboy-Me-thoden nach Deutschland gelockt wurden . Sie wurdenzunächst für Putzjobs angeheuert und dann tatsächlichin die Prostitution geschickt . Auch diese müssen wir imFokus haben, auch die müssen wir schützen .Auch hier ist es natürlich wichtig, zu sagen: Ja, dubekommst ein Beratungsangebot außerhalb des Milieus .Deshalb die Gesundheitsberatung . Wir haben über denBegriff „Gesundheitsuntersuchung“ diskutiert, aber wirhaben gesagt: Nein, wir machen eine Gesundheitsbera-tung . Die Betroffenen müssen die Möglichkeit haben,jedes halbe Jahr einen Kontakt außerhalb des Milieuszu haben, um im Falle eines Übergriffs oder einer Ver-letzung ihrer eigenen Rechte tatsächlich jemanden zuhaben, an den sie sich vertrauensvoll wenden können .Deshalb erfolgt die Gesundheitsberatung natürlich ohneden Zuhälter; denn es macht keinen Sinn, wenn die Be-troffenen mit ihrer Begleitperson erscheinen, die entspre-chend Druck ausübt . Sie wären dann nicht in der Lage,ehrlich und offen zu sagen, was sie bedrückt bzw . wo dieProbleme liegen .
Wir hätten uns auch vorstellen können, das Mindestal-ter für die Prostitution auf 21 Jahre heraufzusetzen, aberdas war hier im Gesetzgebungsverfahren nicht durch-setzbar . Deshalb gibt es zumindest die Verdoppelung derAnzahl der medizinischen Beratung; denn in vielen Be-reichen unseres Rechtssystems sind die Heranwachsen-den, die 18- bis 21-Jährigen, besonders geschützt, zumBeispiel beim Betreten einer Spielhalle oder im straf-rechtlichen Bereich . Es gilt, besonders diese Heranwach-senden davor zu schützen, einen Fehler zu machen .Es gibt eine Schweizer Expertise, die besagt: 97 bis98 Prozent der in der Prostitution Tätigen leiden auchnach Beendigung dieser Tätigkeit . Diese Tätigkeit ziehtman nicht mit der Kleidung aus . Man verletzt sich selbst:psychisch und ein Stück weit auch physisch . Deshalbmüssen wir aufpassen, dass wir gerade die vulnerablen,die verletzlichen jungen Frauen, aber auch die Männerin dem Alter von 18 bis 21 Jahren besonders schützen .Hoffentlich gelingt dies mit diesem Gesetz . Wir werdendarüber diskutieren . Wir hätten hier noch etwas weiterge-hen wollen, das war aber nicht machbar .Meine Damen und Herren, die umfassende Verände-rung der Regulierung der Prostitution und der Prostitu-tionsstätten in unserem Land durch ein neues Gesetz istlängst überfällig . Durch ein neues Prostituiertenschutz-gesetz wollen wir – in Abstimmung mit den strafrechtli-chen Erfordernissen bei der Verfolgung von Zwangspro-stitution und Menschenhandel – die Fremdbestimmungin der Prostitution wirksam bekämpfen . Bereits im ge-meinsamen Koalitionsvertrag hatten wir vereinbart,Frauen besser vor Menschenhandel und Zwangsprosti-tution zu schützen, Täter konsequenter zu bestrafen unddas Prostitutionsgesetz im Hinblick auf die Regulierungder Prostitution sowie die gesetzliche Verbesserung derordnungsbehördlichen Kontrollmöglichkeiten umfas-send zu überarbeiten .Weil vorhin darauf hingewiesen wurde, möchte ichnoch zwei Sätze zur Anmeldung sagen . Die Anmeldungist erforderlich, weil uns die Kriminalpolizei sagt: Wirkönnen nur die schützen, die wir kennen . Die Person kannauch mit einem Alibinamen registriert sein . Im Ausweiskann auch „Domina 2000“ stehen, um die Identität dieserPerson auf der Straße zu verschleiern; aber sie muss beider Meldebehörde registriert sein, damit man weiß, wieviele Prostituierte in welchem Alter wo tätig sind . Nurdann kann man als Polizei nach dem Rechten schauen .Dies wollen wir, wie schon gesagt, erstmalig ermögli-chen . Es geht nicht um Gängelung, es geht nicht um Stig-matisierung, es geht nicht um Bevormundung, sondernes geht um den Schutz der Frauen . Allen Fraktionen indiesem Hohen Haus würde es gut anstehen, konstruktivdaran mitzuarbeiten .Herzlichen Dank .
Das Wort hat die Kollegin Karin Maag für die CDU/
CSU-Fraktion .
Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wir haben es gehört: Das Prostitutions-gesetz von 2002 war gut gemeint – das gestehe ich zu –;im Zuge der Osterweiterung der Europäischen Union hatsich aber so viel verändert, da sind so viele Themen neuhinzugekommen, dass es längst überfällig ist, ein neuesProstitutionsschutzgesetz auf den Weg zu bringen .
Viel Zeit wurde vertan, in der nur darüber diskutiertwurde, wer vermeintlich schutzbedürftig ist und wer tat-sächlich schutzbedürftig ist . Liebe SPD, ja, es gibt sie,die freien Sexarbeiterinnen, die zufriedenen, die sich inVerbänden – zum Teil auch sehr kleinen Verbänden mitnur etwa 34 Mitgliedern – organisieren . Man sieht sie imFernsehen in den Talkrunden . Sie waren auch in der An-hörung vertreten .
Es gibt die selbstständigen Sexarbeiterinnen – auch ichhabe mit einer gesprochen –, die in Voll- oder Teilzeitarbeiten . Das sind unter anderem Studentinnen, die sichdurch den Escortservice etwas hinzuverdienen wollen .Das ist aber nicht das Berufsleitbild, wie man uns weis-machen will .
Wir in der Union haben auch die vielen Zwangsprosti-tuierten bei ihrer täglichen Arbeit im Blick .Die Würde des Menschen ist unantastbar .Paul Lehrieder
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So steht es im Grundgesetz . Das umfasst auch und vor al-lem das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung . Trotzdemwird in Deutschland jeden Tag diese Würde, insbesonde-re die von Frauen, mit Füßen getreten .
Realität ist doch: Prostitution in Deutschland ist im We-sentlichen Armutsprostitution . Wir reden von Frauen undMädchen in totaler Abhängigkeit .
Der Anteil der ausländischen Frauen steigt zum Beispielin Stuttgart seit Jahren kontinuierlich an . Er liegt derzeitbei 90 Prozent . Diese Frauen kommen aus Osteuropa,aus Rumänien, aus Bulgarien, aus Ungarn . Der größteTeil entstammt der Volksgruppe der Roma und den türki-schen Minderheiten in Bulgarien und Rumänien . Ein Teilkommt aus Afrika . Die Frauen sprechen kaum Deutsch,können weder lesen noch schreiben . Viele sind sogar garnicht alleine hier . Sie bringen ihre Brüder, Ehemännerund Väter mit . Es ist fürchterlich, aber manchmal sindes auch die Mütter, die ihre Töchter zur Prostitutionnach Deutschland bringen . Die Prostituierte erwirtschaf-tet dann nicht nur das Geld für die Familie zu Hause,sondern auch den Unterhalt für die sie begleitenden Per-sonen . Fürchterlich ist: Je besser diese Frauen „funktio-nieren“, so will ich es bezeichnen, je versorgter die Fa-milien zu Hause sind, umso größer ist der Anreiz für alleanderen, ebenfalls ihre Töchter, Schwestern, Frauen zurProstitution nach Deutschland zu schicken .Meine Damen und Herren, Realität sind auch soge-nannte Gang-Bang-Partys, der Flatratesex: Prostituierte,die morgens um 2 Uhr für 8 Euro Geschlechtsverkehranbieten müssen, der sie schmerzt, weil sie noch nichtgenügend verdient haben, um die 130 Euro pro Nacht fürihr Zimmer zahlen zu können .Realität sind die Großbordelle . 2012 wurde in derRegion Stuttgart, aus der ich komme, Flatratesex für100 Euro angeboten . Dafür durfte man eine Frau belie-big oft in Anspruch nehmen . Die Prostituierte erhielt proKundenkontakt 5 Euro . Arbeitszeit: 14 Stunden täglichan sechs Tagen in der Woche .Um diese sich unfreiwillig prostituierenden Frauengeht es uns in der Union . Die wollen wir schützen .
Wenn Deutschland als Bordell Europas bezeichnet wird –dieser Begriff ist heute mehrfach gefallen –,
dann ist das ein erbärmliches Etikett . Das werden wir mitdiesem Gesetz beenden .Frau Möhring, Sie haben vorhin den InternationalenHurentag erwähnt . Er erinnert an die Diskriminierungvon Prostituierten und deren oftmals ausbeuterische Ar-beitsbedingungen .
Ich glaube, wir sind auf gutem Wege, diese ausbeuteri-schen Arbeitsbedingungen und diese Diskriminierung zubeenden .
Die Maßnahmen dazu wurden dargestellt . Richtig ist:Freiwillige Ausübung der Prostitution in Deutschlanddurch Erwachsene und die entsprechende Nachfragebleiben in Deutschland zulässig, auch wenn ich persön-lich sehr viel Verständnis für das schwedische Modellhabe, je länger ich mich mit Prostitution beschäftige .Aber es wird künftig wenigstens eine persönliche An-meldepflicht geben, die die bisher weitgehend unsichtba-ren Frauen aus Osteuropa, die sogenannten importiertenFrauen, überhaupt erst sichtbar macht . Uns geht es vorallem um die Gelegenheit zur persönlichen Kontaktauf-nahme, um die Gelegenheit zur Beratung . Mit dieser per-sönlichen Anmeldepflicht können die Frauen zum erstenMal über elementare Rechte in Deutschland aufgeklärtund informiert werden .Liebe Frau Schauws, ohne diese Anmeldung dürfendie Frauen zum Beispiel im Bordell gar nicht arbeiten .Das heißt, der Zuhälter hat sogar ein großes Interesse da-ran, dass sie sich anmelden . Ich glaube nicht, dass siedadurch in irgendeiner Form in der Illegalität verschwin-den .Nächstes Thema . Prostituierte sind oft sehr jungeMenschen, die zwar auf dem Papier volljährig sind, abermit 18 bis 21 Jahren – ich will es einmal vorsichtig aus-drücken – noch sehr beeinflussbar sind und vielleicht so-gar – das sage ich in Anführungszeichen – formbar imSinne ihrer Zuhälter und der sogenannten Loverboys . DiePolizei berichtet, dass diese Gruppe sehr junger Frauenseit der EU-Osterweiterung deutlich zugenommen hat .Sie brauchen unseren Schutz am allermeisten . Deswegenist es gut, dass wir für die unter 21-Jährigen mit der jähr-lichen Anmeldung und einer Gesundheitsberatung allesechs Monate ein erhöhtes Schutzniveau eingeführt ha-ben . Ich persönlich ärgere mich, dass wir das Verbot derProstitution mit Ihnen nicht erreichen konnten . Vielleichtschaffen wir es noch in der Anhörung .
Prostitution ist kein Beruf wie jeder andere . DieFrauen und Männer sind erheblichen psychischen undphysischen Gefahren ausgesetzt . Lebensumstände undGesundheitsrisiken können sich schnell verändern . Ichnenne den Suchtmittelmissbrauch . Ich nenne das Schutz-verhalten bei sexuell übertragbaren Krankheiten . Durchden wiederholten Kontakt mit der Anmeldebehörde, mitder Beratungsstelle kann sich durchaus eine Vertrauens-beziehung entwickeln .
Sie ist Voraussetzung dafür, dass Gewalt, Drogenkonsumund Zwang überhaupt angesprochen werden können .Karin Maag
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Kollegin Maag, die anderen Punkte müssen Sie bitte
in die Anhörung verschieben; denn Sie müssen jetzt zum
Schluss kommen .
Ich komme zum Schluss . – Ich bin der Überzeugung,
dass wir mit dem Prostituiertenschutzgesetz, mit der Um-
setzung der Richtlinie zur Verhütung und Bekämpfung
des Menschenhandels, über die wir im Anschluss disku-
tieren, und mit den geplanten Änderungen im Strafrecht
zum Schutz des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung
nochmals sehr viel für die Frauen in Deutschland errei-
chen . Darauf bin ich als Unionsmitglied stolz . Wir blei-
ben dran .
Danke schön .
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/8556 und 16/4146 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall . Dann
sind die Überweisungen so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Richtlinie 2011/36/EU des Europäi-
schen Parlaments und des Rates vom 5. April
2011 zur Verhütung und Bekämpfung des
Menschenhandels und zum Schutz seiner Op-
fer sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlus-
ses 2002/629/JI des Rates
Drucksache 18/4613
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Christian Lange .
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die erste Lesung des Gesetzentwurfes der Bun-desregierung hat sich geraume Zeit verzögert . Sowohlder Regierung als auch den Koalitionsfraktionen war esnämlich ein Anliegen, im Rahmen dieses Gesetzgebungs-verfahrens dem gesetzgeberischen Handlungsbedarf zurBekämpfung des Menschenhandels besser Rechnung zutragen . Denn schon der Koalitionsvertrag enthält Vorga-ben für eine umfassende Neuregelung der Strafvorschrif-ten zum Menschenhandel . Insbesondere soll die überra-gende Bedeutung der Opferaussage darüber, ob es zurAusbeutung gebracht worden ist, abgemildert werden,und die Ausbeutung der Arbeitskraft soll stärker in denMittelpunkt gerückt werden .
Es liegt nunmehr ein Änderungsantrag der Koalitions-fraktionen vor, mit dem diesem weiter gehenden gesetz-geberischen Handlungsbedarf entsprochen werden soll .Ich möchte mich bei den Koalitionsfraktionen für dieintensiven Fachgespräche ausdrücklich bedanken . Ichhabe es mittlerweile aufgegeben, zu zählen, wie viele eswaren; aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wirhaben es geschafft . Das ist die gute Botschaft des heuti-gen Tages .
Dieser Änderungsantrag enthält einen Vorschlag zurNeufassung der strafrechtlichen Vorschriften zum Men-schenhandel . Ergänzend schlägt er neue Straftatbestän-de der Ausbeutung der Arbeitskraft und der Ausbeutungunter Ausnutzung einer Freiheitsberaubung sowie eineRegelung zur Strafbarkeit von Kunden sexueller Dienst-leistungen von Menschenhandelsopfern oder Zwangs-prostituierten vor . Die bisherigen Vorschriften der §§ 232und 233 Strafgesetzbuch bleiben als Zwangsprostitutionund Zwangsarbeit zur Vermeidung von Strafbarkeitslü-cken im Wesentlichen unverändert . Diese Vorschlägeentsprechen auch einer Formulierungshilfe unseres Hau-ses, die das Kabinett im April dieses Jahres beschlossenhat .Der Aufbau der neu gefassten §§ 232 ff . Strafgesetz-buch folgt der zeitlichen Reihenfolge strafbarer Handlun-gen in diesem Deliktsbereich, nämlich: Menschenhandelals der Prozess von der Anwerbung des Opfers bis zudessen Ankunft am Bestimmungsort der Ausbeutung, dasVeranlassen des Opfers zur Aufnahme ausbeuterischerTätigkeiten – seien es Prostitution, Arbeitsausbeutungoder sonstige Formen der Ausbeutung – und schließlichdie Ausbeutung des Opfers selbst .Meine Damen und Herren, wie sehen nun die prakti-schen Folgen dieser neuen Tatbestände aus? Stellen wiruns einen Menschen vor, der aus dem Ausland gekom-men ist, nur unzureichende Sprachkenntnisse und nurvage Kenntnisse der hiesigen Lebens- und Arbeitsbe-dingungen hat, wegen fehlender Aufenthaltspapiere aberAngst hat – Angst vor der Polizei und Angst vor Behör-den – und nun auf einen Landsmann trifft . Dieser betreibteine Gaststätte, und er bittet ihn, ihn bei sich arbeiten zulassen . Dieser lässt ihn in der Küche unentgeltlich ansieben Tagen in der Woche je zwölf Stunden arbeiten .Veranlasst, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat er diesenEntschluss nicht . Ausgebeutet hat er das Opfer aber sehrwohl und dabei dessen Zwangslage und Hilflosigkeit ineinem ihm fremden Land ausgenutzt . In Zukunft wird
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dies nach dem neuen § 233 Strafgesetzbuch – Ausbeu-tung der Arbeitskraft – strafbar sein . Das ist überfällig .
Stellen wir uns weiter vor, das Opfer aus dem vor-herigen Beispiel erkennt, dass ihm dieses Leben keinePerspektive bietet, und er möchte in sein Heimatland zu-rückkehren . Sein Arbeitgeber möchte aber auf diese billi-ge und auch praktische Arbeitskraft jetzt nicht mehr ver-zichten . Er sperrt sein Opfer deshalb ein und überwachtes während der Arbeitszeit . Dann macht sich dieser nachdem neuen § 233a Strafgesetzbuch der Ausbeutung unterAusnutzung einer Freiheitsberaubung strafbar . Auch dasist überfällig .Stellen wir uns schließlich ein entsprechendes Aus-beutungsverhältnis in der Prostitution vor, in dem eineProstituierte an sieben Tagen die Woche vom frühenAbend bis in die späte Nacht in einem Bordell der Pro-stitution nachgehen und den überwiegenden Teil ihrerEinkünfte abgeben muss . Damit sie sich dieser Situationnicht entzieht, darf sie den täglichen Weg von der Unter-kunft bis zum Bordell nur begleitet zurücklegen; in derübrigen Zeit wird sie eingeschlossen . Wir haben uns inunseren Gesprächen und Anhörungen viele solcher Fäl-le schildern lassen . Auch in diesen Fällen ist der neue§ 233a Strafgesetzbuch anwendbar . Das ist gut und rich-tig so . Hier schließt sich der Kreis zum Prostituierten-schutzgesetz bzw . zu der Debatte von soeben über denGesetzentwurf von Bundesministerin Schwesig .Es ist richtig, dass wir endlich der Zwangsprostitutionzu Leibe rücken . Das tun wir mit dieser neuen Regelung,meine Damen und Herren .
Wir haben nämlich im Koalitionsvertrag vereinbart – ichwill das hier ausdrücklich noch einmal zitieren –:Wir werden nicht nur gegen die Menschenhändler,sondern auch gegen diejenigen, die wissentlich undwillentlich die Zwangslage der Opfer von Men-schenhandel und Zwangsprostitution ausnutzen unddiese zu sexuellen Handlungen missbrauchen, vor-gehen .Dies haben wir nun umgesetzt . Das ist gut für den Kampfgegen Menschenhandel und den Kampf gegen Zwangs-prostitution .
Meine Damen und Herren, ich hoffe, dass wir diesesGesetzgebungsverfahren nunmehr zeitnah abschließenkönnen . Das sage ich nicht nur im Hinblick auf die Fristzur Umsetzung der EU-Richtlinie und das Vertragsver-letzungsverfahren der EU-Kommission . Ich meine, dasswir eine umfassende, durchdachte Gesamtlösung für ei-nen Regelungsbereich gefunden haben, den der Gesetz-geber – auch das gehört zur Wahrheit – in der Vergangen-heit etwas vernachlässigt hat .Deshalb bitte ich um konstruktive Beratungen undschließlich um Ihre Zustimmung .Herzlichen Dank .
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion
Die Linke .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für dieLinke ist völlig klar: Menschenhandel ist ein schweresVerbrechen . Er gehört bekämpft . Alle Maßnahmen, diedazu führen, dass er bekämpft werden kann, wird dieLinke unterstützen .
Aber ich sage auch: Bedauerlicherweise geht der Ge-setzentwurf bei weitem nicht weit genug; denn die Opferwerden so gut wie gar nicht berücksichtigt . Uns ist min-destens genauso wichtig, dass in diesem Land die Opfergeschützt werden .
Meine Damen und Herren, vor wenigen Tagen hateine australische Stiftung den sogenannten Sklaverei-In-dex veröffentlicht . Demzufolge gibt es in Deutschland14 500 Menschen, die als Opfer von Menschenhandel insklavereiähnlichen Verhältnissen leben . Die Dunkelzifferdürfte weit höher liegen .Die meisten von ihnen sind in der Tat junge Frauen .Ihnen werden Versprechungen gemacht . Sie werden hier-hergelockt, indem sie glauben gemacht werden, dass siegutbezahlte Arbeit bekommen . Aber kaum sind sie hier,nehmen ihre Peiniger ihnen ihre Pässe ab, damit sie siefinanziell ausbeuten können. Das sind häufig Schleuser,aber auch Zuhälter .Tatorte können Großbordelle, aber auch Privathaus-halte, Baustellen oder sonstige Betriebe sein . Menschenwerden regelrecht eingekauft und danach ausgebeutet,etwa als Zwangsprostituierte, Haushaltshilfen, Pflege-kräfte oder Handwerker .Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregie-rung hat vor Kurzem darauf hingewiesen, dass an derdeutsch-tschechischen Grenze Babys von Prostituiertenzum Zweck ihrer späteren sexuellen Ausbeutung ver-kauft werden . Rund 4 000 Euro ist ein Menschenlebendort wert . Es ist doch ein unglaublicher Skandal, dass soetwas mitten in Europa stattfinden kann.
Meine Damen und Herren, gegenwärtig besteht dieGefahr, dass zunehmend Flüchtlinge in die Fänge vonMenschenhändlern geraten . Vor allem unbegleitete Kin-der und Jugendliche laufen Gefahr, von Verbrechern zumParl. Staatssekretär Christian Lange
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Drogenhandel oder zur Prostitution gezwungen zu wer-den .Diese Menschen befinden sich in einer schier auswe-glosen Lage, aus der sie sich oft alleine nicht befreienkönnen . Selbst wenn sie eine Fluchtmöglichkeit hätten,müssten sie damit rechnen, dass ihre Familien zu Hausebedroht werden . Sie können auch nicht einfach zur Poli-zei gehen, weil sie oftmals keinen Aufenthaltstitel habenund fürchten müssen, selbst bestraft oder abgeschobenzu werden .Wir dürfen nicht hinnehmen, dass es so etwas wieSklaverei und Menschenhandel in unserem Land gibt .Deshalb sind wir moralisch und politisch verpflichtet,diesem Unrecht entgegenzutreten .Die Bundesregierung zeigt dazu leider nur wenigBereitschaft . Die Europäische Union hat schon vor Jah-ren eine Richtlinie zur Bekämpfung des Menschenhan-dels erlassen . Die Frist zur Umsetzung ist bereits imApril 2013 abgelaufen .Das, was die Regierung jetzt vorlegt, ist wirklich einepeinliche Schmalspurlösung . Der Gesetzentwurf be-schränkt sich auf strafrechtliche Aspekte und lässt denSchutz von Opfern völlig außen vor . Menschenhändlernwerden darin höhere Strafen – zwischen sechs Monatenund zehn Jahren – angedroht . Neue Straftatbestände wieerzwungene Bettelei und die zwangsweise Organentnah-me werden im Gesetzentwurf benannt . Außerdem sollder Kreis von Zwangsprostituierten erweitert werden:Minderjährige zwischen 14 und 18 Jahren sollen dazu-gehören . All diese Verschärfungen tragen wir mit, weiles richtig ist, hier mit harten Strafen zu drohen . Der Ge-setzentwurf greift aber zu kurz . Als Beispiel nenne ichdie Vorschläge des Koordinierungskreises gegen Men-schenhandel . Danach sollen der Missbrauch von Machtoder auch List und Täuschung in den Straftatbestandaufgenommen werden. Nichts davon finden wir im Ge-setzentwurf .Meine Damen und Herren, überhaupt kein Verständ-nis haben wir dafür, dass der Gesetzentwurf den wich-tigsten Punkt der EU-Richtlinie völlig ignoriert, nämlichden Schutz und die Unterstützung der Opfer von Men-schenhandel . Die meisten Betroffenen arbeiten weit überzehn Stunden am Tag und verdienen dabei so gut wie garnichts . Sie arbeiten faktisch ohne Rechte . Sie haben kei-ne Perspektive . Vor allen Dingen kommen sie aus diesemElend nicht heraus, weil sie ständig unter dem Druckvon irgendwelchen Zuhältern oder Schleusern stehen .Deswegen verdienen sie unsere Solidarität, nicht nur mitWorten, sondern vor allen Dingen auch mit Taten . Dasmuss sich im Gesetzentwurf niederschlagen, meine Da-men und Herren .
In der EU-Richtlinie wird eindeutig gefordert, denMenschen, denen Gewalt angetan wird, die verschleppt,ausgebeutet und ausgenutzt werden, weitreichende Un-terstützung zukommen zu lassen . Es geht um den Aufbauvon Beratungsstrukturen, um kostenlose Rechtshilfe, umUnterstützung bei medizinischer und psychologischerBetreuung, bei der Unterbringung und bei der Sicher-stellung ihres Lebensunterhalts . Insbesondere wird inder Richtlinie der Schutz von Kindern gefordert, die demMenschenhandel unterworfen sind. Aber auch davon fin-det sich nichts in Ihrem Gesetzentwurf . Der Schutz derOpfer wird von der Bundesregierung einfach hintange-stellt und auf den Sankt-Nimmerleins-Tag mit der Be-gründung verschoben: Irgendwann werden wir dazu et-was machen . – Das ist wirklich nicht hinnehmbar, meineDamen und Herren .
Für uns ist das ein ganz klares Versagen; hier werdenwir unserer politischen und humanitären Verantwortungnicht gerecht .Die Linke hat in den letzten Jahren in zahlreichen An-trägen und interfraktionellen Gesprächen immer wiedereingebracht, dass zu den überfälligen Verbesserungenbeim Opferschutz die Gewährung eines Bleiberechts ge-hört, und zwar unabhängig von der Aussagebereitschaftin einem Strafverfahren . Erst dann haben die betroffenenMenschen überhaupt die Möglichkeit, sich aus der Ab-hängigkeit zu befreien und sich ihren Peinigern öffent-lich und juristisch entgegenzustellen .Bislang hängt das Bleiberecht jedoch in aller Regeldavon ab, ob die Betroffenen bei der Polizei oder vor Ge-richt eine Aussage machen . Viele Opfer schweigen aber,weil sie Angst haben, dass sie selber oder ihre Famili-en bedroht werden oder sogar Gewalt erleiden . Es kannalso nicht sein, dass wir diese Menschen einfach in ihreHerkunftsländer zurückschicken, wo sie erneut ins Visierdieser Menschenhändler geraten . Es gibt diverse Beispie-le, dass Frauen, die abgeschoben wurden, immer wiederin Deutschland aufgetaucht sind . Die Linke fordert des-wegen: Opfer von Menschenhandel und moderner Skla-verei müssen in Deutschland bleiben dürfen, ohne Wennund Aber .
Der Schutz der Menschenrechte muss gewährleistet wer-den .Meine Damen und Herren, ich kann nur hoffen, dassdieser Gesetzentwurf in den Beratungen in den Aus-schüssen verbessert wird; denn ohne Opferschutz könnenwir ihm wirklich nicht zustimmen .Ich danke Ihnen .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Elisabeth
Winkelmeier-Becker .
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Es geht in der heutigen Debatte um Menschenhan-del und Ausbeutung . Es geht um Menschen, die als WareUlla Jelpke
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gehandelt und aufgrund einer Notlage oder von Hilfslo-sigkeit skrupellos ausgebeutet werden . Damit wird nichtnur ihre Menschenwürde verletzt; sie werden auch umihre Lebenschancen – die Chance auf ein selbstbestimm-tes Leben und ein gerechtes Einkommen – gebracht . Dassind ganz schlimme Verbrechen .Wer einen Beweis für die Aktualität unserer heutigenDebatte braucht, der braucht nur einen Blick in die aktu-elle Presse zu werfen . Bild berichtete am Dienstag überbettelnde Kinder in Berlin, die mit ihren Müttern oder an-deren Erwachsenen beim Betteln ausharren müssen, umMitleid zu erregen und dabei auch ganz gezielt Touristenanzusprechen .Das Bundeskriminalamt schreibt in seinem Lagebe-richt, dass aufgrund von Erfahrungen in anderen Länderndavon auszugehen ist, dass auch in unseren GroßstädtenStrukturen organisierter Bettelei bestehen . Um das zuwissen, muss man aber nicht den BKA-Bericht lesen:Das zeigt sich auch auf unseren Straßen .Der Express berichtet am 25 . Mai über den Arbeiter-strich in Köln, auf dem sich Arbeiter als Tagelöhner ver-dingen, zu einem Stundenlohn, der deutlich unter demMindestlohn liegt . Sie haben keine andere Wahl . Dasnutzen ihre Arbeitgeber aus .Die Welt schrieb über die Razzia im größten BordellBerlins, in dem laut Polizeibericht die Prostituierten ohneeigene Entscheidungsgewalt arbeiten . Die Südwest Pres-se schrieb am 25 . Mai aus dem Blick einer Aussteigerinaus der Prostitution Folgendes:Zehn Freier am Tag, fünf Jahre lang – danach warVivian … fertig . Als sie mit dem Entschluss zumAusstieg in der Stuttgarter Beratungsstelle Café LaStrada stand, hatte sie ein paar Klamotten und eineHandtasche dabei, aber keinen einzigen Euro . IhrTraum vom großen Geld, mit dem Bekannte sie imAlter von 19 Jahren von Rumänien nach Deutsch-land gelockt hatten, wurde im Stuttgarter Leon-hardsviertel zum Alptraum .Meine Damen und Herren, das sind keine Einzelfäl-le, sondern Beispiele für viele Schicksale in Europa, woMenschen als Ware gehandelt und durch organisierteBettelei, Arbeitsausbeutung und Zwangsprostitution aus-gebeutet werden . Etwas viel Schlimmeres kann es nichtgeben .Es gibt naturgemäß keine exakten Zahlen . Die imRaum stehende Zahl von 400 000 Prostituierten ist viel-leicht etwas zu hoch, aber sechsstellig ist sie mit Sicher-heit . Wir haben Zigtausende ausgebeutete Arbeiter . Wirsind Durchgangs- und vor allem Zielland von Menschen-handel, bei uns vor allem mit dem Schwerpunkt Prosti-tution . Wir haben auch im Ausland einen sehr schlechtenRuf . Das hat seinen Grund . Wir sind für Menschenhänd-ler besonders lukrativ, bei geschätzt 1 Million Freiern proTag und einem Umsatz von 14 Milliarden Euro im Jahrmit dem liberalsten Gesetz, das man sich vorstellen kann,mit der geringsten Kontrolldichte und umgeben von Län-dern, in denen das alles viel restriktiver ist . Das merkenvor allem die Regionen an den Grenzen zu Frankreichoder zu den nordischen Ländern . Überall dort zeigt sich,dass wir für Menschenhändler besonders lukrativ sind .Diese Zahlen sind schon schlimm genug . Aber vergli-chen mit den tatsächlichen Opferzahlen zeigt sich vor al-lem eins: Die Verfolgung und Verurteilung der Täter sindvöllig unzureichend . Man kann auch sagen: Der Staatversagt in seiner Aufgabe, die Opfer zu schützen und dieTäter zu verurteilen . Er lässt die Opfer im Stich . Dabeidürfen wir es nicht bewenden lassen .
Über einen Punkt haben wir heute Morgen schon ge-sprochen: das ungeregelte Prostitutionswesen, dem wirjetzt ein Prostituiertenschutzgesetz entgegensetzen . DerBKA-Bericht nennt dafür eine weitere Ursache . Darinheißt es:Vielmehr ist zu vermuten, dass Probleme im Be-reich der Verfahrensführung in Verbindung mit demin der Praxis schwierig anzuwendenden Straftatbe-stand für diese niedrigen Zahlen ursächlich sind unddaher auf einfacher anzuwendende Straftatbeständeausgewichen wird .Das heißt, dass wir dringend eine konsequente Be-kämpfung des Menschenhandels und dafür auch Än-derungen im Strafgesetz brauchen . Deshalb setzen wirnicht nur die Richtlinie zur Verhütung und Bekämpfungdes Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer um .Schon dazu müssen wir die Tatbestände des Menschen-handels zum Zwecke der Ausnutzung durch Bettelei,durch strafbare Handlungen und zum Zweck der Organ-entnahme neu unter Strafe stellen .Wir gehen darüber hinaus weiter und überarbeitenaußerdem die einschlägigen Strafvorschriften zum Men-schenhandel, um die Täter besser belangen zu können .Es wird in Zukunft klarer definiert, was Ausbeutungbedeutet . Dieses Merkmal ist von der Rechtsprechungsehr eng ausgelegt worden . Hier regeln wir ausdrücklich,dass der Prostituierten wenigstens der überwiegende Teilder Einnahmen verbleibt . Es darf nicht alles auf angebli-che Kosten für Reise, für Kleidung, für Essen, für über-teuertes Wohnen in Rechnung gestellt werden, sodass amEnde kaum etwas übrig bleibt . Außerdem gehen wir andie subjektiven Voraussetzungen . Bisher war nachzuwei-sen, dass das Opfer zur Prostitution durch den Täter be-stimmt wurde . Das ist im Sinne einer Conditio sine quanon zu verstehen . Oft wird dem Opfer aber erfolgreicheingeredet: Wenn du mit der Polizei sprichst, dann sagstdu, dass du das hier alles freiwillig machst . – Das istnicht immer glaubwürdig, aber zumeist ist es jedenfallsnicht möglich, das Gericht vom Gegenteil zu überzeu-gen . Deshalb heißt es in Zukunft: wer veranlasst . Dasbedeutet dann nur eine Mitursächlichkeit, die leichter zubeweisen ist .Ganz wichtig: Wir werden in Zukunft die Freier aus-drücklich in die Verantwortung nehmen . Denn solcheErfahrungsberichte, wie eingangs geschildert, gibt eszuhauf . Fangen Sie bei SOLWODI an, gucken Sie Do-kumentationen im Fernsehen – davon war vorhin auchschon die Rede –, fragen Sie die Sachverständige SabineConstabel, die in der nächsten Woche auch in der Sach-Elisabeth Winkelmeier-Becker
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verständigenanhörung dabei sein wird . Das, was dortgeschildert wird, ist Realität und nicht nur Kulisse fürgelegentliche Tatort-Zweiteiler . Und es wäre eigentlichauch Grund genug, die Prostitution gänzlich zu verbie-ten – für die Freier, nicht für die Prostituierten –, sie unterStrafe zu stellen, wie es Schweden und neuerdings auchFrankreich tun .Es gibt durchaus auch Gegenargumente; das will ichnicht in Abrede stellen . Vor allem gibt es, nachdem Rot-Grün in 2002 das Prostitutionsgesetz verabschiedet hat,keine Mehrheit in der Koalition für ein Verbot . Deshalbhalten wir am Konzept der legalen Prostitution fest,auch wenn mir die Begründung, die in Schweden und inFrankreich für ein komplettes Verbot genannt wird, sehrgut gefällt . Dort wird nämlich die Sache beim Namengenannt . Es wird gesagt, dass Prostitution Gewalt gegenFrauen ist und dass sie mit dem Grundsatz der Gleichheitvon Mann und Frau und mit der Menschenwürde unver-einbar ist .Wir werden hier, wie im Koalitionsvertrag vereinbart,ein anderes Konzept weiterverfolgen, das gerade auch inden Niederlanden eingeführt worden ist . Wir wollen, dassdie Freier nicht generell, sondern nur dann unter Strafegestellt werden, wenn sie erkennen, dass die Prostituier-te nicht selbstständig tätig ist, sondern dass es sich umZwangsprostitution handelt . Dafür gibt es klar erkenn-bare Anzeichen: wenn zum Beispiel keine Sprachkom-petenz da ist, wenn Spuren von Gewalt da sind, wennsich die ganze Abwicklung nicht mit der Frau vollzieht,sondern über ihren Zuhälter abläuft . Da müssen wir dieFreier in die Verantwortung nehmen . Der Freier muss eineigenes Risiko tragen . Der Gedanke: „Ich bezahle doch,alles andere geht mich nichts an“, darf da nicht mehr wei-terhelfen .
Für den Freier, der sich dann eines Besseren besinntund dazu beiträgt, dass Dinge aufgeklärt werden, wollenwir eine goldene Brücke bauen . Er hat die Möglichkeit,zur Straffreiheit zu kommen . Das ist, denke ich, wichtig .Dann ist uns der Strafanspruch nicht so wichtig wie dieVerhinderung weiterer Straftaten .Wir müssen außerdem bei den Gewinnen ansetzen .Denn es geht letztlich ums Geld . Wenn wir dieses Geldbesser abschöpfen können, ist das Geschäftsmodell ge-stört, dann ist der Anreiz weg . Das trifft die Hintermän-ner am besten .Ich muss sagen: Der Entwurf ist gut, aber noch nichtperfekt . Wir hätten uns dringend gewünscht, dass auchdie §§ 180a und 181a des Strafgesetzbuches miteinbe-zogen worden wären . Wir haben hier aus meiner Sichteine Unwucht im Vergleich zu der sicherlich wichtigenund richtigen Verschärfung der Strafbarkeit bei der Ar-beitsausbeutung. Hier haben wir weitere Qualifikati-onen . Wenn die Tat mit einer schweren Misshandlungoder Todesgefahr verbunden ist oder wenn das Opfer inmaterielle Not gerät, dann haben wir hier ganz andereStrafrahmen, als es bei der Zwangsprostitution, bei derAusnutzung durch Prostitution der Fall ist . Ich muss sa-gen: Das ist eine Unwucht .Beide Formen der Ausbeutung bedeuten sicherlichschwere Schicksale, sowohl die Ausbeutung der Arbeits-kraft als auch die Ausbeutung durch Zwangsprostitution .Aber aus meiner Sicht macht es noch immer einen Un-terschied, ob man zur Arbeit am Bau oder zur saisonalenErntearbeit auf einem Bauernhof eingesetzt wird oder obman jeden Tag zehn Freier zufriedenstellen muss . Letzte-res ist deutlich übergriffiger und verletzt die Menschen-würde . Das Verhältnis in der Strafbarkeit dieser Ausbeu-tungsformen ist nach meiner Meinung noch nicht richtigausgewogen .
Frau Kollegin .
Noch ein Wort . – Ich vermisse bei den Redebeiträgen
der Oppositionsfraktionen
vor allem die Frage, wer eigentlich von dem Ganzen pro-
fitiert. Angeblich prostituieren sich die meisten Frauen
freiwillig . Seltsamerweise sind viele Frauen später thera-
piebedürftig, und so gut wie keine der Frauen hat in ma-
terieller Hinsicht etwas auf die Seite legen können . Für
alle Frauen verschlechtert sich die ohnehin prekäre Aus-
gangssituation durch jahrelange Arbeit in der Zwangs-
prostitution erheblich. Wer hier verdient und profitiert,
sind die Freier, die sich für wenig Geld tabulosen Sex
einkaufen, den sie in einer anstrengenden Beziehung mit
einer ernstzunehmenden Partnerin nicht bekommen . Die
finanziellen Einnahmen ziehen die Hintermänner ab. Da-
für müssten uns allen doch Frauen zu schade sein . Des-
halb lassen Sie uns gemeinsam den Opfern helfen .
Vielen Dank .
Das Wort erhält nun die Kollegin Katja Keul für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich will mit dem Positiven anfangen . DieÜberarbeitung der §§ 232 ff . Strafgesetzbuch ist in derTat überfällig, da die einschlägige EU-Richtlinie zur Ver-hütung und Bekämpfung von Menschenhandel bereits imApril 2013 hätte umgesetzt werden müssen . Deutschlandist das einzige Land von 27 Ländern, das die Richtliniebislang nicht umgesetzt hat . Es besteht also Handlungs-bedarf . Soweit sind wir uns einig . Einig sind wir unsauch, dass der Gesetzentwurf vom 15 . April 2015 diesenZweck nicht erfüllt . Damit sollte lediglich § 233 – dersogenannte Menschenhandel zum Zweck der Ausbeu-tung der Arbeitskraft – ergänzt werden um die Bettelei,die Begehung von Straftaten und die Organentnahme .Diese Ergänzung geht die eigentlichen Defizite der be-stehenden Tatbestände allerdings überhaupt nicht an . AnElisabeth Winkelmeier-Becker
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dieser Stelle möchte ich die Bemerkung machen, HerrLange, dass dieser Gesetzentwurf, an dem wir alle nichtmehr festhalten wollen, das Einzige ist, was heute formalGegenstand dieser Debatte sein kann, weil nur er einge-bracht ist .
Der angekündigte Änderungsantrag der Koalitionsfrak-tionen, auf dessen Basis wir nun diskutieren, ist formalnoch nicht in den Bundestag eingebracht .
Zurück zum Inhalt . Menschenhandel im Sinne derEU-Richtlinie ist nicht nur die Ausbeutung, sondern essind auch die Nachschub- und die Logistikebene . Hierbesteht im deutschen Recht eine Lücke, die wir schließenwollen . In den §§ 232 und 233 StGB wird Menschen-handel bislang fälschlicherweise gleichgesetzt mit sexu-eller Ausbeutung bzw . mit Ausbeutung der Arbeitskraft .Erst in § 232a geht es dann am Rande um Anwerben,Befördern, Weitergeben und Beherbergen . Es ist insofernkonsequent, dass Sie nun in Ihrem angekündigten Ände-rungsantrag die Nachschubebene mit dem neuen § 232zum Grundtatbestand machen und darin auch alle Artender Ausbeutung erfassen, sowohl die Prostitution alsauch sonstige Beschäftigung . Absatz 1 enthält außerdemeine Legaldefinition von Ausbeutung. Danach kommt eskünftig auf das auffällige Missverhältnis der Arbeitsbe-dingungen und das Gewinnstreben des Täters an . Dasist sicherlich hilfreich . Unklar bleibt aber, warum diesesGewinnstreben zusätzlich rücksichtslos sein muss, wennschon das objektive Missverhältnis der Arbeitsbedingun-gen feststeht . Diese zusätzliche Einengung scheint mirüberflüssig zu sein. Insgesamt ist der neue Grundtatbe-stand des § 232 trotz einigem Änderungsbedarf zumin-dest eine geeignete Diskussionsgrundlage . Aber danachwird es chaotisch .Nachdem § 232 den eigentlichen Menschenhandel un-ter Strafe stellt, regelt § 232a das Veranlassen zur Pros-titution und § 232b das Veranlassen zur ausbeuterischenBeschäftigung . Sie nennen die Tatbestände in diesenVorschriften Zwangsprostitution und Zwangsarbeit . Da-bei soll es aber laut Begründung vielmehr um die Beein-flussung des Willens gehen. Sogar eine einfache Auffor-derung zu ausbeuterischer Tätigkeit soll schon genügen .Damit erfassen Sie auch Jugendliche, Nachbarn oderFreunde . Das geht zu weit und muss in geeigneter Formbegrenzt werden .Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, ob derBegriff „veranlassen“ jetzt irgendetwas anderes bedeu-tet als „jemanden dazu bringen“, wie es bisher im Ge-setz stand . Die Ermittlungsbehörden hatten immer dieBeweisbarkeit dieses Tatbestandsmerkmals als schwerüberwindbare Hürde kritisiert . Ich sehe aber nicht, woder Unterschied zwischen „jemanden veranlassen“ und„jemanden dazu bringen“ liegen soll . Im Übrigen wie-derholen §§ 232a und b sämtliche Voraussetzungen undVarianten, die schon in § 232 genannt sind . Das ist nichtnur unübersichtlich, sondern widerspricht auch demGrundsatz der Rechtsklarheit .Mit dem Tatbestand der Zwangsprostitution vermen-gen Sie außerdem zwei unterschiedliche Schutzgüter .Schutzgut des Menschenhandels ist vor allem die berufli-che und wirtschaftliche Betätigungsfreiheit und nicht diesexuelle Selbstbestimmung . Soweit es um die Verletzungder sexuellen Selbstbestimmung geht, gehört der Tatbe-stand in den Dreizehnten Abschnitt des Strafgesetzbu-ches und sollte von der dort angestrebten Reform erfasstwerden .Daneben gibt es weiterhin die §§ 180a und 181a, indenen die Zuhälterei bzw . die Ausbeutung der Prostitu-tion unter Strafe gestellt werden . Dort ist von persönli-cher und wirtschaftlicher Abhängigkeit die Rede, in Ih-rem neuen § 232a von persönlicher und wirtschaftlicherZwangslage . Dieses Wirrwarr an Überschneidungen undunterschiedlichen Begrifflichkeiten ist weder geeignet,den Strafverfolgungsbehörden ihre Arbeit zu erleichtern,noch entspricht es rechtsstaatlichen Anforderungen anein Strafgesetz .
Mir scheint es deutlich sinnvoller, die Veranlassungzu einer ausbeuterischen Tätigkeit in einem einzigen Tat-bestand zu erfassen und damit die ausbeuterische Pros-titution als einen besonderen Fall der ausbeuterischenBeschäftigung zu behandeln . Dann müssten Sie nämlichauch folgerichtig einheitlich entscheiden, ob und wie derKunde, der eine ausbeuterische Dienst- oder Arbeitsleis-tung in Anspruch nimmt, bestraft werden soll .Mit Ihrem neuen § 232a Absatz 6 wollen Sie die Frei-erstrafbarkeit bei der Ausnutzung der Zwangslage unterStrafe stellen, während das bei der Inanspruchnahme vonanderen Dienstleistungen nach § 232b nicht gelten soll .Dieser Widerspruch entsteht dadurch, dass es Ihnen inWirklichkeit um etwas anderes geht, nämlich die sexuel-le Selbstbestimmung zu schützen . Das erreichen Sie abernur auf anderem Wege . Schaffen Sie im Sexualstrafrechteinen Grundtatbestand, bei dem es auf den erkennba-ren entgegenstehenden Willen ankommt, und Sie habenmehrere Probleme auf einmal gelöst .
Die Beweisbarkeit wird in einer solchen Konstellationimmer schwierig bleiben . Aber die von Ihnen hier vor-geschlagenen umfangreichen objektiven und subjektivenTatbestandsmerkmale machen es nun wirklich auch nichteinfacher . So reicht es danach nicht aus, dass der Freierdie Zwangslage bzw. die Hilflosigkeit erkennt und fürden Sexualkontakt ein Entgelt bezahlt; darüber hinausmuss er die Zwangslage auch noch bewusst ausgenutzthaben . Das ist dann doch wohl eher Symbolgesetzge-bung als praxistauglich .Es geht noch weiter . Mit dem ebenfalls neuen § 233stellen Sie unter Strafe, wenn jemand eine Person durcheine ausbeuterische Beschäftigung ausbeutet . Auch hierholen Sie Ihre systematischen Mängel wieder ein . DieAbsicht, die Ausbeutung unter Strafe zu stellen, auchwenn die Beeinflussung, also das Veranlassen, von dritterSeite erfolgt, ist grundsätzlich lobenswert .Als Niedersächsin sind mir die Konstellationen geradein der Fleischindustrie nur zu gut bekannt, wo sogenann-Katja Keul
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te Werkvertragsunternehmen und ihre Unterhändler dieMenschen aus Rumänien und Bulgarien unter Vorspiege-lung falscher Tatsachen in die hiesigen Schlachthöfe vonWiesenhof, Tönnies, VION und Westfleisch verbringen,wo sie ausgebeutet werden . Die Ausbeutung soll abernach wie vor nicht reichen, sondern erst bei bewussterAusnutzung der Zwangslage strafbar sein . Wie soll dennda jemals beim Hauptunternehmen ein Vorsatz nachweis-bar sein? Den Auftraggeber eines ausbeuterischen Werk-vertragsunternehmens werden Sie nur erfassen, wennSie ihn als Dienstleistungsnehmer, der die Ausbeutungmindestens billigend in Kauf genommen hat, unter Strafestellen, also im Prinzip genau so, wie Sie es bei der sexu-ellen Ausbeutung vorhaben .Fazit: Ihre Strafrechtsänderungen sind insgesamt un-systematisch, voller Überschneidungen, und Sie schaf-fen damit weder Rechtsklarheit noch eine Hilfe für dieErmittler . Das Wichtigste für die Opfer haben Sie dabeiganz vergessen: den Schutz vor der eigenen Kriminali-sierung und vor aufenthaltsbeendenden Maßnahmen .Zeigt ein Opfer von Menschenhandel eine Tat an, so kannnun von der Verfolgung wegen der eigenen Tat abgese-hen werden . Die Einstellung steht aber nach wie vor imErmessen der Staatsanwaltschaft . Bei Ihrem Vorschlagzur Freierstrafbarkeit hingegen tritt die Straflosigkeit fürden Freier quasi automatisch mit der Anzeige ein . Wasfür den Freier recht und billig ist, sollte doch mindestensauch für die Opfer gelten .
Meine Fraktion hat außerdem einen eigenen Gesetz-entwurf vorgelegt, mit dem die Opfer von Menschenhan-del einen eigenen Anspruch auf einen Aufenthaltstitelnach § 25 Absatz 4 Aufenthaltsgesetz erhalten sollen . Wirschlagen weiter die Einrichtung eines Ausgleichsfondsfür Opfer von Menschenhandel sowie einer „Berichter-statterstelle Menschenhandel“ beim Bundesministeriumfür Arbeit und Soziales vor .Verengen Sie Ihren Blick also nicht wieder nur auf diestrafrechtlichen Aspekte, sondern lassen Sie uns für einenumfassenden Schutz der Menschenhandelsopfer sorgen .Vielen Dank .
Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Eva
Högl .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Sowohl die Debatte heute Morgen überden Entwurf eines Gesetzes zur Regulierung des Pros-titutionsgewerbes als auch die jetzige Debatte über denEntwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Menschen-handel und Zwangsprostitution sind eine ganz wichtigeEtappe bei der Bekämpfung von Zwangsprostitutionund Menschenhandel . Ich bin sehr froh, dass wir heuteMorgen hier zusammengekommen sind, um diese beidenwichtigen Gesetzesvorhaben zu beraten .Staatssekretär Christian Lange hat vorhin den Koali-tionsfraktionen für die konstruktive Arbeit an den ver-änderten Formulierungen gedankt . Ich möchte diesesDankeschön ganz herzlich zurückgeben; denn die Ver-handlungen waren nicht ganz einfach . Das Bundesmi-nisterium der Justiz und für Verbraucherschutz hat unshervorragend unterstützt . Vor allen Dingen hat es jetztetwas ganz Hervorragendes vorgelegt . Dafür ein ganzherzliches Dankeschön!
Liebe Frau Keul, Ihren Äußerungen habe ich entnom-men, dass Sie sehr wohl die Änderungsanträge, die imÜbrigen Anfang April im Kabinett beschlossen wordensind, sehr gut studiert haben; denn Sie haben sich ja sehrsachkundig und sehr detailliert damit auseinandergesetzt,sodass ich auch auf diese geänderten Vorschläge hier Be-zug nehme .Zunächst einmal möchte ich aber das deutlich ma-chen, was uns hier alle eint und woran wir gemeinsamarbeiten . Der Menschenhandel ist eines der schlimmstenVerbrechen, die es überhaupt gibt . Menschenhandel trau-matisiert Opfer lebenslang, und es wird viel Geld damitverdient. Denn die Täter profitieren hiervon – ganz an-ders als bei anderen Verbrechen – ganz außerordentlich .Deswegen lohnt sich unser gesamtes Engagement, Men-schenhandel zu bekämpfen .Die Europäische Kommission hat in diesen Tagen ei-nen Bericht vorgelegt und noch einmal deutlich gemacht,dass wir gegen Menschenhandel viel mehr tun müssen,als das bisher der Fall war . Auch mich hat die Nachrichtsehr schockiert, die Frau Jelpke schon erwähnte, dassnämlich 46 Millionen Menschen weltweit in der Skla-verei leben – allein 14 500 davon in Deutschland . Dasist eine schockierende Zahl und Anlass genug, dagegenetwas mit großem Engagement zu tun .Ich möchte auch kurz hervorheben, dass es einen Zu-sammenhang zwischen Migration und Menschenhandelgibt . Denn Menschen, die in großer Not sind, verfolgtwerden und sich aus ihren Heimatländern auf den Wegmachen, sind natürlich ganz anders davon bedroht, Opfervon Schleppern und Menschenhändlern zu werden . Siesind leicht empfänglich für Versprechungen . Auch daransollten wir anlässlich der Situation, vor der wir im Mo-ment stehen – die enormen Fluchtbewegungen aus unter-schiedlichen Teilen der Welt –, immer denken .
Menschenhandel ist ein Phänomen bzw . Verbrechen,das hauptsächlich Frauen betrifft . Die Zahlen schwan-ken; aber zwischen zwei Drittel und drei Viertel der Op-fer sind Frauen. Es ist häufig – manchmal ist das auchausschließlich der Fall – mit sexueller Ausbeutung ge-paart . Mich erschreckt auch besonders, dass die Zahlenbeim Kinderhandel zunehmen und dass es uns immernoch nicht gelungen ist, Kinderhandel wirksam zu un-tersagen und zu bekämpfen . Deswegen müssen wir auchinternational tätig werden . Von daher ist es gut, dass esschon seit 2005 eine Konvention des Europarates undKatja Keul
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seit 2011 eine europäische Richtlinie dazu gibt . Ich willauch noch einmal ganz deutlich sagen, dass es durchauspeinlich ist, dass wir hier in Deutschland erst jetzt dieentsprechenden Maßnahmen ergreifen . Es ist allerhöchs-te Zeit, dass wir unsere Gesetze verbessern .
Wir wollen das Strafrecht auf diesem Gebiet deutlichverschärfen; denn wir haben festgestellt, dass es in derPraxis nicht ausreichend angewendet werden kann . Wirhaben uns mit Praktikerinnen und Praktikern unterhal-ten . Sie haben uns erläutert, woran die Anwendung derStrafvorschriften scheitert . Das haben wir uns genauangesehen . Jetzt haben wir einen guten Vorschlag dafürgemacht, wie wir die Strafrechtsvorschriften verschärfenkönnen, damit Täter wirksamer bestraft werden können .Denn es ist auch wichtig, Täter wirksamer zu bestrafen .Damit verbessern wir gleichzeitig die Sicherheit derOpfer, und wir schützen sie . Das sind unsere beiden Ge-sichtspunkte .Ich will noch kurz einen weiteren Gesichtspunkthervorheben, der der SPD-Bundestagsfraktion und mirebenfalls sehr am Herzen liegt – es ist für uns ein wich-tiger Baustein –: das Thema Arbeitsausbeutung . Wir ha-ben im Koalitionsvertrag vereinbart, den Fokus stärkerauf Arbeitsausbeutung zu richten . Liebe Frau KolleginWinkelmeier-Becker, ich glaube, es hilft nicht weiter,wenn wir sexuelle Ausbeutung gegen Arbeitsausbeutungstellen . Vielmehr wissen wir, dass Arbeitsausbeutung einverbreitetes Phänomen ist, bei dem es sich lohnt, dass wiruns dagegen engagieren .Die Arbeitsausbeutung ist mitten unter uns: in denGaststätten, bei den Reinigungsbetrieben, bei haushalts-nahen Dienstleistungen, hier in Berlin, in den Botschaf-ten und auf den Baustellen . Zum Beispiel Mall of Berlinoder auch Bundesbauten: Dort werden häufig Arbeits-leistungen von Menschen erbracht, die sich in der Ar-beitsausbeutung befinden. Das ist ein Grund dafür, dasswir in diesem Gesetzentwurf ganz stark die Bekämpfungvon Arbeitsausbeutung thematisiert haben .
Noch ein letztes Stichwort . Meine Damen und Her-ren, wir verschärfen das Strafrecht . Wir verbessern denOpferschutz . Aber das wird noch nicht ausreichen . Wirbrauchen mehr Beratungsstellen . Wir brauchen Sensibi-lisierungskampagnen . Wir müssen die Öffentlichkeit beider Bekämpfung von Menschenhandel und Arbeitsaus-beutung viel stärker an unsere Seite holen . Deswegenmüssen wir über das Strafrecht und über die Verbesse-rung im Prostitutionsgesetz hinaus viel mehr tun, um dieOpfer wirksam zu schützen . Daran werden wir weiterarbeiten .Herzlichen Dank .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Silke Launert für
die CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren!Es ist sowohl moralisch als auch rechtlich inakzep-tabel, dass . . . Menschen wie Waren gekauft, ver-kauft und ausgebeutet werden .Zitat Ende .Man möchte meinen, dieser Satz sei vor etwa 150 oder200 Jahren gefallen, auf jeden Fall nicht im 21 . Jahrhun-dert und erst recht nicht in Europa . Doch wer das glaubt,der liegt falsch .Der zuständige EU-Kommissar kommentierte mit die-ser Äußerung den genau heute vor zwei Wochen von derEuropäischen Kommission erstatteten Bericht über dieFortschritte bei der Bekämpfung des Menschenhandels .In diesem Bericht wird festgestellt, dass 2013 bis 2014insgesamt 15 846 Männer und Frauen, Jungen und Mäd-chen als Opfer von Menschenhandel in der EU registriertwurden . Allein 2 375, also etwa 16 Prozent davon, warenKinder, wobei – das wurde schon gesagt – die Zahl derbetroffenen Kinder erschreckend stark zugenommen hat .Nach dem Bericht ist zudem die tatsächliche Zahl derOpfer wahrscheinlich wesentlich höher . Das entsprichtdann auch den Erfahrungen der Praxis und den Schät-zungen, die hier in der Debatte schon genannt wurden .Angesichts der aktuellen Migrations- und Flücht-lingsbewegungen ist uns allen bewusst, dass die Händ-ler gerade in diesen Zeiten leichtes Spiel haben . Mehrund mehr Kriminelle finden hier neue Betätigungsfelderund nutzen das Chaos der Flucht, um Menschen in ihreGewalt zu bringen . Auch der Bericht der Kommissionweist auf diese Verbindung zwischen Menschenhandelund der Ausbeutung der Schutzbedürftigsten vor demHintergrund der aktuellen Migrationsbewegung hin . Ins-besondere Frauen und Kinder – auch das wurde schonmehrfach betont – sind leichte Beute . Wenn ich an dieunbegleiteten Minderjährigen denke und daran, wie vieleseit ihrer Ankunft in der EU 2015 – laut Europol sollenes 10 000 sein – verschwunden sind, dann wird mir angstund bange .Machen wir uns also keine falschen Illusionen: Diebei den Behörden zahlenmäßig erfassten Opfer sindnur die Spitze des Eisberges . Illusorisch wäre es auch,zu glauben, dass der Menschenhandel mit all seinenkriminellen Auswüchsen haltmacht vor Deutschland .Durch Entführung, Drohung oder Zwang in die Gewaltgebracht, werden die Opfer mithilfe von professionellenSchleuserbanden auf der berüchtigten Balkanroute überItalien oder direkt aus Russland, der Ukraine oder Weiß-russland nach Deutschland gebracht . In manchen Fällenkommt es aber auch zur Einreise, weil man den Opferneinen Job verspricht, ein besseres Leben, die große Lie-be . Das Elend und die Not oder auch die Träume und dieNaivität scheinen groß genug zu sein, sodass ausreichendDr. Eva Högl
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viele Menschen immer wieder darauf hereinfallen . Wennsie dann hier angekommen sind, hält man sie unter bruta-len, menschenunwürdigen Bedingungen gefangen, beu-tet sie aus: in der Prostitution – das betrifft, wie gesagt,zwei Drittel der registrierten Fälle, also mit Abstand dieMehrheit der Fälle –, als Arbeitssklaven, zur Begehungvon Straftaten wie Drogenschmuggel oder Diebstahl, zurBettelei oder zur Organentnahme . „Wie kann all das möglich sein, mitten in Europa?“,fragt man sich . Die Antwort liegt auf der Hand: weil dieGrundlage jedes Geschäfts, dass die Nachfrage das An-gebot bestimmt, auch hier greift, und zwar insbesonde-re deshalb, weil es keine ausreichenden und effektivenBekämpfungsmaßnahmen gibt . Die Nachfrage nach Sex-sklaven, nach Arbeitssklaven scheint ja sehr groß zu seinund steigt, und die Ware Mensch – Wahnsinn, dass dieserBegriff so gebraucht werden kann – scheint unerschöpf-lich zu sein . Es handelt sich offensichtlich um einen lu-krativen Markt . Dem können wir eine im Moment nochnicht einmal ansatzweise effektive Gesetzeslage entge-genhalten . Das aktuelle Recht ist unsystematisch, nurpunktuell regelt es Einzelfälle . Die Praktiker erzählenuns, dass es schwierig anzuwenden ist . Opfer sind nichtbereit, auszusagen, es kommt kaum zu Verurteilungen .Schwierig wird es insbesondere beim Auslandsbezug .Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein Versuch, hieranetwas zu verbessern, so wie man es im Koalitionsvertragauch vereinbart hat . Wir werden die Tatbestände refor-mieren und verschärfen . Wir haben – das ist etwas, wasich betonen möchte – nun sichergestellt, dass wirklichjeder, der sich an diesem schmutzigen Geschäft beteiligt,auch strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werdenkann, und zwar auch dann, wenn er nur einen kleinenBeitrag geleistet hat . Erfasst werden alle, angefangen vondem, der die Opfer anwirbt, transportiert oder auch nurbeherbergt, über den, der das Opfer dazu veranlasst, dieProstitution oder die Zwangsarbeit aufzunehmen, bis hinzu dem, der es dann letztlich ausbeutet . Das Geschäft desMenschenhandels, das typischerweise arbeitsteilig ist,wird also von diesem Gesetz ganz genau mit all seinenEinzelheiten erfasst .Neu ist, dass wir ab sofort auch die Fälle des Men-schenhandels zum Zwecke der Begehung von strafbarenHandlungen erfassen . Ich denke da an Diebesbanden,in denen überwiegend Kinder eingespannt sind . Erfasstwerden aber nun auch die Fälle des Menschenhandelszum Zwecke der Bettelei . Es wurde bereits angespro-chen, dass auch hierfür überwiegend Kinder missbrauchtwerden . Neu aufgenommen ins Strafgesetzbuch wirdauch der Straftatbestand des Menschenhandels zumZwecke der Organentnahme, was bisher lediglich alsBeihilfe zu Straftaten nach dem Transplantationsgesetzbestraft werden konnte .Wichtig für die Union war aber auch – ich habe esvorhin betont: Was macht diesen Markt so lukrativ? –,dass man bei der Ursache ansetzt . Und das ist die Nach-frage . Deshalb wollen wir die bestrafen, die im Wissen,dass die Menschen in Not sind, diese bewusst ausbeutenund davon profitieren. Das heißt in dem Fall auch: dieBestrafung der Freier, die das wissen .Ich freue mich sehr, dass es uns gelungen ist, die Frei-erstrafbarkeit ins Gesetz zu schreiben . Dazu möchte ichklarstellen: Natürlich bestrafen wir nicht jeden Freier .Die vielen „selbstbestimmten Prostituierten“, wie ich eshier von den Grünen und von den Linken immer höre,die im Escortservice so viel Geld verdienen und das lie-bend gerne machen, dürfen weiterhin ihre Freier haben .Diese Freier haben nichts zu befürchten . Aber die Freier,die sehen, dass es sich um ein Opfer des Menschenhan-dels handelt, um eine Frau, die kein Deutsch spricht, dievielleicht verwundet ist, zum Teil regungslos daliegt,die sehen, dass die Frau keine Wahl hat, sich im hoch-schwangeren Zustand prostituiert, die also damit rechnenmüssen und dies billigend in Kauf nehmen, dass es sichum ein Opfer des Menschenhandels handelt, die könnennun bestraft werden .Ich gebe zu: Die Fassung ist eng . Frau Keul hat davöllig recht . Mir wäre eine weitere Fassung auch liebergewesen . Die Frage ist: Wie viele Fälle wird man damitin der Praxis erreichen? Aber es ist auf jeden Fall einganz klares Signal an die Freier: Schaut hin! Wer ist euerGegenüber? Ist das vielleicht ein Opfer in Not? Nutzt ihrdiese Not anderer aus? – Dieses Signal geht davon aufjeden Fall aus . Ich denke, auch das ist schon ein Schrittin die richtige Richtung .Ich gebe zu, dass ich mir sowohl beim Prostituierten-schutzgesetz als auch bei diesem Gesetz noch viel mehrMaßnahmen zum Schutz der Opfer gewünscht hätte . DieDiskussion ging ja dahin: Verbieten wir es wieder? Denndas Prostitutionsgesetz hat ja genau das Gegenteil vondem bewirkt, was es erreichen sollte . Es hat die Prosti-tuierten nicht geschützt, sondern in vielen Fällen in eineviel prekärere Situation gebracht hat . Also: Verbieten wires, oder machen wir Einzelmaßnahmen?Der Kompromiss waren die Einzelmaßnahmen . Aberwas mich schon enttäuscht hat, ist, dass wir selbst beiden Einzelmaßnahmen so kämpfen mussten . Es ist fürmich nach wie vor unverständlich, wieso es mit der SPDnicht möglich war, eine Gesundheitsuntersuchung ein-zuführen . Wenn ich hier höre, mit welchen Argumentenman dabei arbeitet: Man spricht von „Bockschein“ undmeint, das wäre Symbolpolitik . Wissen Sie was? DieUntersuchung zeigt, ob die Frau Geschlechtskrankheitenhat, ob sie verwundet wird . Gerade eine solche Untersu-chung dient der Gesundheit der Prostituierten, aber auchder Freier und der Personen im familiären Umfeld . DennKrankheiten könnten über sexuellen Kontakt oder durchBluttransfusionen übertragen werden . Ich muss schonsagen: Es hat mich sehr enttäuscht, dass wir da so sehrkämpfen mussten .Frau Keul hat auch völlig zu Recht § 180a und § 181aStGB angesprochen . Diese Vorschriften hätten nach un-serer Meinung auch geändert werden sollen; wir hättenes gerne gemacht . Wir hätten gerne etwas Effektiveresgeschaffen, etwas, was für die Praxis noch besser ist . Lei-der hat die SPD das blockiert . Ich gebe zu: Das ist fürmich völlig unverständlich .
Frau Kollegin .Dr. Silke Launert
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Ich komme gleich zum letzten Satz . – Vielleicht
kommt ja bis zum Ende der Legislaturperiode noch et-
was zustande .
Zuletzt möchte ich zusammenfassend sagen: Das Ge-
setz ist kein Heilsbringer, aber ein Schritt in die richtige
Richtung . Hoffen wir, dass im weiteren Gesetzgebungs-
verfahren, vielleicht auch durch die Anwendung in der
Praxis, aus diesem Schritt doch noch ein richtiger Sprung
wird .
Vielen Dank .
Matthias Bartke ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor sechs
Wochen gingen Polizei, Staatsanwaltschaft und Zoll hier
in Berlin mit insgesamt 900 Beamten bei einer Razzia
gegen das Artemis vor . Das Artemis ist eines der größ-
ten Bordelle Deutschlands . Die Staatsanwaltschaft wirft
den Festgenommenen Menschenhandel vor . Die Razzia
war überregional in den Nachrichten und hat uns wieder
eines deutlich gemacht: Menschenhandel findet auch in
Deutschland statt .
Das Bundeslagebild des BKA berichtet für 2014 von
insgesamt 403 abgeschlossenen Verfahren beim Delikt
Menschenhandel . Das ist eine relativ geringe Zahl, aber
leider kein Grund zum Aufatmen: Beim Menschenhan-
del zum Zweck der sexuellen Ausbeutung und auch zum
Zweck der Arbeitsausbeutung müssen wir von einem
enormen Dunkelfeld ausgehen; es ist bereits gesagt wor-
den . Es ist vor allem die schwierige Verfahrensführung,
die zu so geringen Ermittlungs- und Verurteilungszahlen
führt . Bisher kann Menschenhandel fast nur nachgewie-
sen werden, wenn das Opfer eine Aussage macht . Das
liegt vor allem an der Gesetzesformulierung „dazu brin-
gen“ in § 232 StGB . Der Täter muss beim Opfer also den
Entschluss herbeiführen, ein ausbeuterisches Arbeits-
verhältnis einzugehen, es also „dazu bringen“ . Ein Ent-
schluss ist aber höchstpersönlich . Im Ergebnis sind wir
daher auf die Aussage des Opfers angewiesen . Das Opfer
muss bestätigen: Ja, der Täter hat mich dazu gebracht . –
Diese Aussage ist erfahrungsgemäß sehr, sehr schwer zu
bekommen . Durch unsere Änderungsvorschläge werden
daher nun auch Fälle erfasst, in denen das Opfer selbst
die ausbeuterische Tätigkeit aufnimmt . Die Bedingung
ist nur, dass der Täter die Zwangslage des Opfers erkennt
und diese Gelegenheit zur Ausbeutung nutzt .
Darüber hinaus sollen sich künftig auch Freier von
Zwangsprostituierten strafbar machen . Das ist dann
der Fall, wenn sie die persönliche oder wirtschaftliche
Zwangslage oder auch die auslandsspezifische Hilf-
losigkeit der Prostituierten ausnutzen . Grund für eine
Strafaufhebung kann allerdings die freiwillige Anzeige
des Freiers sein . Wir wollen damit für die Freier einen
Anreiz setzen, an der Aufklärung von Zwangsprostituti-
on und Menschenhandel mitzuwirken .
Meine Damen und Herren, ich bin sehr froh, dass wir
es endlich geschafft haben, mit unserem Änderungsan-
trag umfassende Regelungen zur Bekämpfung des Men-
schenhandels vorzulegen . Die Umsetzung der EU-Richt-
linie ist überaus wichtig und längst überfällig; meine
Vorredner haben es bereits ausgeführt . Der Gesetzent-
wurf unserer schwarz-gelben Vorgängerregierung hat uns
aber eines mehr als deutlich gezeigt: Die Umsetzung der
Richtlinie allein ist nicht ausreichend . Mit unseren Än-
derungsvorschlägen fokussieren wir den strafrechtlichen
Schutz auf die Ausbeutung als solche und damit auf die
objektiven Tatumstände . Wir haben damit die Chance,
die bisher geringe Anzahl der Verurteilungen an das tat-
sächliche Ausmaß der Kriminalitätsform des Menschen-
handels anzupassen .
Ich danke Ihnen .
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Hans-Peter Uhl für die CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen undKollegen! Es war 2002, also vor 14 Jahren, als Rot-Gründas Prostitutionsgesetz mit großem Brimborium verab-schiedet hat . Es ging damals darum – zu Recht, würdeich sagen –, dieses Milieu vom Verdikt der Sittenwid-rigkeit zu befreien; und das ist ja auch richtig . Man hatdabei nur eines übersehen: dass es sich um einen Lebens-sachverhalt handelt, bei dem schwache, häufiger aus demAusland kommende, nicht Deutsch sprechende, hilfloseFrauen starken, mit krimineller Energie ausgestatte-ten Männern gegenüberstehen, die alles tun, um dieseschwachen Frauen auszubeuten und damit Geld zu ma-chen . Das ist der Lebenssachverhalt: Es handelt sich hierum ein kriminogenes Milieu .Was muss der Staat tun, wenn sich ein extrem Schwa-cher und ein extrem Starker gegenüberstehen? Der Staatmuss kontrollieren, regeln und zum Schutz der Schwa-chen eingreifen . Das ist die Aufgabe des Staates, nichtnur in diesem, sondern auch in allen anderen Lebens-sachverhalten, wo sich Schwache und Starke gegenüber-stehen; eigentlich eine Banalität . Aber diesem Umstandwurde mit dem Gesetz, das vor 14 Jahren beschlossenwurde, nicht Rechnung getragen . Nein, man hat jede Re-gelung unterlassen . Das Ergebnis ist mehrfach beschrie-ben worden – ich will das nicht mehr wiederholen –: DieStarken haben sich auf Kosten der schwachen Frauenausgetobt . Damit haben wir einen Zustand in Deutsch-land erreicht, der eine Schande für unseren Rechtsstaatist, nämlich „Bordell Europas“ geworden zu sein .
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Die Frauen kommen hierher, naiv, zum Teil gelocktvon dem Versprechen, dass sie in kurzer Zeit viel Geldverdienen können . In Wahrheit werden ihnen sofort diePässe abgenommen, sie werden behandelt wie Ware, siewerden von einem Bordell ins nächste geschickt, sie wis-sen gar nicht, in welcher Stadt sie sind, und sie müssenirgendwelche Reisekosten oder sonstige Auslagen zu-rückbezahlen . Das heißt – ich will das nicht weiter be-schreiben; es ist zum Teil auch beschrieben worden –, esist alles sehr schlimm .Die Verbrecher – und Menschenhändler sind Verbre-cher – sind zu allem bereit . Der jetzige Paragraf zumMenschenhandel baut darauf auf – leider; auch das istschon zu Recht gesagt worden –, dass der Menschen-händler das Opfer dazu gebracht hat, sich der Prostitutionhinzugeben . Das heißt, es muss im Kopf des Opfers et-was passiert sein, was vor Gericht üblicherweise kaum zubeweisen ist; es sei denn, es kommt zu der Aussage desOpfers: Dieser Menschenhändler war es . – Wir erlebenaber fortlaufend, dass eine solche Aussage entweder niezustande kam oder, wenn sie einmal zustande kam, recht-zeitig vor der Gerichtsverhandlung vom Opfer widerru-fen wurde . Das ist typisch für dieses Milieu . Verbrecher,die mit Menschen handeln, die Frauen ausbeuten und zurProstitution zwingen, haben natürlich auch die kriminelleEnergie, ihr Opfer zum Schweigen zu bringen . Das istder Sachverhalt, um den es hier geht .Die EU-Richtlinie zeigt uns den richtigen Weg, wennsie uns, den Mitgliedstaaten, vorgibt, zu sagen: Wir müs-sen die Menschenhandelsparagrafen so formulieren, dasses auf die Opferaussage nicht ankommt . Selbst wenn dasOpfer seine Aussage zurückzieht, muss der Menschen-händler verurteilt werden können . Aber davon sind wirweit entfernt . Wir haben Hunderte tatverdächtige Men-schenhändler, aber von diesen Hunderten wurden imJahr 2013 in Deutschland ganze 79 verurteilt . Auch imJahr 2014 gab es Hunderte Verdächtige, aber es wurdennur 82 verurteilt; ich sage das, damit Sie ein Gespür fürden Umfang der kriminellen Energie und für die tatsäch-lich kleine Zahl von Verurteilten bekommen . Im Koaliti-onsvertrag haben wir deswegen, zu Recht, das Problembeschrieben und dazu aufgefordert, ein besseres Gesetzzu machen .Der Wahrheit zuliebe möchte ich noch auf eines hin-weisen: Wir waren schon einmal so weit wie heute, amEnde der letzten Koalition mit der FDP . Da haben wireinen Gesetzentwurf vorgelegt, der diese Probleme be-handelte . Es war eben nicht so, wie die stellvertretendeFraktionsvorsitzende der SPD, Frau Reimann, es vorhinin der Debatte gesagt hat, dass dieser im Bundesrat mitden Stimmen von CDU und CSU gestoppt worden ist .Nein, ich bitte darum, zum Beispiel bei Spiegel Onlinevom 20 . September 2013 nachzulesen . Es war der Bun-desrat mit der Mehrheit der Stimmen von SPD, Grünenund Linken, der diesen Gesetzentwurf der letzten Koa-lition gestoppt hat . Das muss man der Wahrheit zuliebehier doch noch sagen dürfen .
Wir wollen diese Verbrecher hinter Schloss und Rie-gel bringen, das ist unser Ziel . Da ist es schon etwas ir-ritierend, wenn jetzt der Bundesjustizminister Maas sagt,auf die Opferaussage werde es auch in Zukunft immernoch schwerpunktmäßig ankommen . Das ist bedauerlich .Das ist genau das, was wir nicht wollen, nämlich dass esauf die Opferaussage ankommt . Also bitte ich alle Betei-ligten an der Debatte, die jetzt in den Ausschüssen und inder Anhörung beginnt, darum, offen zu sein für Nachbes-serungen dieses Gesetzentwurfs . Wir brauchen den Ratder Praktiker, der Polizei, der Staatsanwälte, die in die-sem Milieu unterwegs sind; denn bei uns kann nicht dieSach- und Fachkunde in der Frage sein, wie man dieseVerbrecher hinter Schloss und Riegel bringt . Das müssenwir von den anzuhörenden Personen in Erfahrung brin-gen .Wir bringen diese Offenheit mit . Frau Högl, die SPDhat uns zugesagt, dass sie die Anhörung sehr ernst nimmtund bereit ist, noch nachzubessern; denn ein Ziel habenwir doch wohl hoffentlich alle gemeinsam, nämlich dasswir den jetzigen Zustand beenden, dass Deutschland das„Bordell Europas“ ist .Sie von der Opposition können sich nicht darauf be-schränken, dies zu beklagen, dann aber zu sagen, dassman Prostituierte mit den neuen Regelungen dazu zwingt,sich anzumelden und sich regelmäßig einer Gesundheits-untersuchung zu unterziehen, das heißt, dass man ihnenPflichten auferlegt. Das beklagen Sie ja. Dagegen sagenKenner: Genau diese Pflichten wünschen sich die Betrof-fenen, weil sie dadurch aus den Klauen des Zuhälters he-rauskommen. Sie unterwerfen sich diesen Pflichten gern,um von diesen Menschenhändlern freizukommen, diesie auf schändliche Weise malträtieren . Das ist die Logikdieser Verpflichtungen, die eigentlich keine Verpflichtun-gen zulasten der Betroffenen sind, sondern zugunsten derBetroffenen . Das muss man verstanden haben, wenn manüber dieses Milieu redet .
Ich schließe die Aussprache .Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-wurfes auf der Drucksache 18/4613 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibtes dazu andere Vorschläge? – Das ist offensichtlich nichtder Fall . Dann ist die Überweisung so beschlossen .Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENErinnerung und Gedenken an den Völker-mord an den Armeniern und anderen christ-lichen Minderheiten in den Jahren 1915 und1916Drucksache 18/8613b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Jelpke, Katrin Kunert, Wolfgang Gehrcke, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEDr. Hans-Peter Uhl
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100. Jahresgedenken des Völkermords an denArmenierinnen und Armeniern 1915/1916 –Deutschland muss zur Aufarbeitung und Ver-söhnung beitragenDrucksachen 18/4335, 18/7909Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 60 Minuten vorgesehen . Dazu höre undsehe ich keinen Widerspruch . Also können wir so ver-fahren .Meine Damen und Herren, zu dieser Debatte begrüßeich auf der Ehrentribüne besonders herzlich die Vertre-ter der Botschaften Armeniens und der Türkei.
Ich freue mich, dass Sie meiner Einladung gefolgt sindund sich ein persönliches Bild davon machen, wie ernst-haft und differenziert der Deutsche Bundestag mit die-sem Thema umgeht .Ein Parlament ist keine Historikerkommission undganz gewiss kein Gericht . Der Deutsche Bundestag kannund will jedoch unbequemen Fragen und Antwortennicht aus dem Weg gehen, zumal dann, wenn – wie beidem Völkermord an den Armeniern und anderen christ-lichen Minderheiten vor 100 Jahren im OsmanischenReich – das Deutsche Reich selbst Mitschuld auf sichgeladen hat .Wir Deutsche wissen aufgrund der dunklen Kapitelunserer eigenen Geschichte vielleicht noch mehr als an-dere, dass der Umgang mit historischen Geschehnissenaußerordentlich schmerzhaft sein kann . Wir haben aberauch erfahren dürfen, dass eine ehrliche und selbstkri-tische Aufarbeitung der Vergangenheit nicht die Bezie-hungen zu anderen Ländern gefährdet; sie ist vielmehrVoraussetzung für Verständigung, Versöhnung und Zu-sammenarbeit .
Ich habe bei gleicher Gelegenheit schon vor einemJahr darauf hingewiesen, dass wir die türkische Bereit-schaft, heute, in der Gegenwart, Verantwortung insbeson-dere für das Schicksal von Flüchtlingen zu übernehmen,ausdrücklich würdigen, wenn wir an das Bewusstseinund auch die Verantwortung für die eigene Vergangen-heit appellieren . Die heutige Regierung in der Türkei istnicht verantwortlich für das, was vor 100 Jahren geschah,aber sie ist mitverantwortlich für das, was daraus in Zu-kunft wird .
Meine Damen und Herren, im Vorfeld der heutigenDebatte kam es neben Protesten und Demonstrationenauch zu zahlreichen Drohungen, insbesondere gegenüberKolleginnen und Kollegen mit einem türkischen Famili-enhintergrund – bis hin zu Morddrohungen . So selbstver-ständlich wir jede Kritik akzeptieren, auch unsachliche,polemische und aggressiv vorgetragene Kritik, so klarmuss auf der anderen Seite sein: Drohungen mit demZiel, die freie Meinungsbildung des Deutschen Bundes-tages zu verhindern, sind inakzeptabel .
Wir werden sie nicht hinnehmen und uns ganz gewissvon ihnen nicht einschüchtern lassen . Wir nehmen unsereVerantwortung wahr .
Ich eröffne die Aussprache und erteile als Erstes dasWort dem Kollegen Rolf Mützenich für die SPD-Frak-tion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Weralles gelesen hat, weiß, dass der heutige Antrag auf Bun-destagsdebatten aus dem Jahr 2005, aus dem letzten Jahrund aus diesem Jahr basiert . Ich bin froh, dass wir einengemeinsamen Antrag formuliert haben . Persönlich sageich: Ich hätte mir einen Antrag aller Bundestagsfraktio-nen gewünscht . Aber anscheinend schwingt in dieser De-batte nicht nur ein Tabu mit, sondern noch ein weiteres .Deswegen sage ich: Ich hoffe nicht, dass dem erneut einHandschlag vorausgehen muss, aber irgendwann wird esso sein, dass wir zumindest bei diesen Themen einen ge-meinsamen Antrag formulieren .
Meine Damen und Herren, der Antrag ist keine Kla-geschrift . Ich sage sehr deutlich für meine Fraktion: De-monstrationen sind zulässig, aber genauso zulässig ist,dass der Deutsche Bundestag aus den Debatten über denVölkermord politische Schlussfolgerungen zieht . Dassteht einem selbstbewussten Parlament gut zu Gesicht,und deswegen sage ich sehr eindeutig: Wir als Abgeord-nete lassen uns nicht einschüchtern, und zwar – das sageich gleichzeitig – egal von welcher Seite .
Dieser Antrag ist in der Tat auch ein Appell zur Auf-arbeitung und zur Selbstverantwortung der Türkei . Letzt-lich gehört aber eben auch die armenische Seite mitdazu – ich finde, auch das wird in diesem Antrag sehrdeutlich –; denn wir wollen zukünftig in der Region desgrößeren Kaukasus keine weiteren Spannungen sehen .Deswegen bieten wir als Deutscher Bundestag gemein-sam mit der Bundesregierung Unterstützung an, damitdort, wo der Versuch unternommen wird, Schritte zurEntspannung zu gehen, dies auch geschehen kann . Dashalte ich für legitim . Ich glaube, dazu muss auch derDeutsche Bundestag etwas sagen dürfen und können,
insbesondere weil Deutschland zurzeit den Vorsitz beider Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit inEuropa hat . Im Grunde genommen ist der Kern der Ent-spannungspolitik, die auch den Kalten Krieg überwun-den hat, dass viele Länder versuchen, über ihre Streit-punkte hinaus internationale und regionale Institutionenzu nutzen, um Versöhnung zu schaffen .Präsident Dr. Norbert Lammert
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Zweiter Punkt . Wir wollen, dass gerade junge Wissen-schaftlerinnen und Wissenschaftler – ich sage ganz offen,dass ich große Hoffnung in die junge Generation habe,die oft viel bereiter ist, in diese Richtung zu gehen – zumBeispiel mit Stipendien unterstützt werden, um die ge-meinsame historische Aufarbeitung voranzubringen .Dritter Punkt . Dies möchte ich auch an die Repräsen-tanten der beiden Länder sagen: Im Jahre 2009 sind unterSchweizer Vermittlung die Zürcher Protokolle zustandegekommen, wo es eben diesen Aussöhnungsprozess ge-geben hat . Ich bitte darum, dass beide Parlamente dem-nächst versuchen, endlich eine Ratifikation dieser Proto-kolle vorzunehmen .
Letzter Punkt . Der Deutsche Bundestag stellt sichder Verantwortung und hat auch das Recht, die deutscheMitschuld zu betonen . Auch deswegen reden wir heutedarüber . Wir erinnern daran, dass es mutige Diplomatenwaren, Krankenschwestern, aber eben auch Politiker wieEduard Bernstein und Karl Liebknecht, die auf die Ver-folgungen hingewiesen haben. Deswegen, finde ich, istes das Recht und auch die Pflicht des Deutschen Bundes-tages, über dieses Thema zu reden .
Die Vertreibung der armenischen Volksgruppe wäh-rend des Ersten Weltkrieges wurde „in der Absicht began-gen . . ., eine nationale, ethnische, rassische oder religiöseGruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“ . Dasist ein Zitat aus der Völkermordkonvention, die – das istrichtig; dies wird uns oft vorgehalten – eben nicht gilt,weil sie erst 35 Jahre später in Kraft getreten ist und erst1954 durch den Deutschen Bundestag ratifiziert wordenist . Aber sie hat Relevanz, weil der maßgebliche AutorRaphael Lemkin gerade vor dem Hintergrund der Verfol-gung der Armenier zu der Schlussfolgerung gekommenist: Internationale Institutionen wie die Vereinten Nati-onen müssen gegen Völkermord aufstehen . Deswegen,glaube ich, ist es legitim, auf diese Relevanz hinzuwei-sen .
Ein weiterer Punkt. Die Konvention definiert Völ-kermord unabhängig davon, ob es „im Frieden oder imKrieg begangen“ wurde . Auch das greift eine Diskussionauf, die uns oft begegnet, wenn wir über den Völkermordsprechen und gesagt wird: Das ist im Krieg passiert . –Ich sage sehr eindeutig: Krieg relativiert nichts, wenndie Menschenrechte verletzt werden . Das hat auch einenaktuellen Bezug . Wie sollten wir in Zukunft gegen die-jenigen vorgehen, die schwerste Menschenrechtsverlet-zungen zum Beispiel in Syrien begehen, wenn der Kriegrelativieren würde?
Deswegen sage ich sehr eindeutig: Wenn wir heute Völ-kermord mit den Mitteln des internationalen Rechts be-strafen wollen, so spricht nichts dagegen, die Konventionaus ihrer Entstehung heraus zu würdigen .Ich würde gerne eine weitere grundsätzliche Bemer-kung machen . Gegenstand der Debatte ist der Völker-mord an den Armeniern und nicht die Beurteilung Prä-sident Erdogans .
Ich denke, in dieser Debatte sollte man das auseinan-derhalten . Ich weiß, Max Weber würde ihn vielleichtals Prototypen des autoritären Herrschers sehen, aberdas sei dahingestellt . Ich glaube, diese Debatte hilft sonicht weiter . Sie hilft nicht weiter, weil man Außenpo-litik nicht mit Schaum vor dem Mund machen darf . Ichgebe insbesondere zu bedenken, dass dies vielleicht dieAllmachtsfantasien von geglaubten Alleinherrschern be-fördert . Deswegen sage ich sehr deutlich: Wir müssenaufpassen, nicht nur eine Person verantwortlich zu ma-chen . Es gibt mehrere, die willfährig sind . Wir brauchendeshalb eine differenzierte Debatte, insbesondere wennwir versuchen, mit der türkischen Republik auf gleicherAugenhöhe manches aufzuarbeiten, was in dieser Zeitgeschehen ist . Nur die Widersprüche, die es in diesemLand gibt, machen einen Präsidenten Erdogan erst mög-lich . Deswegen sage ich als Demokrat sehr deutlich: Wirdürfen nicht vergessen – egal, wie wir das beurteilen –,dass er immerhin die Mehrheit der Wählerstimmen be-kommen hat . Dennoch gibt es manche Bedenken, die wiroffen genug formuliert haben .Ich will eine Sorge, die im Hinblick auf die Außenpo-litik nicht ganz uninteressant ist, hinzufügen: PräsidentErdogan und seine AKP repräsentieren den politischenIslam . Der politische Islam wird in der Türkei teilweiseals Vorbild gesehen . Deswegen appelliere ich sehr deut-lich an die AKP: Wenn sie irgendwann einmal nicht mehrdie Mehrheit in der Türkei hat, muss sie andere politi-sche Kräfte an die Regierung lassen. Ich finde, das ist derAuftrag, der von dieser Seite zumindest angesprochenwerden muss .
Dennoch, glaube ich, sind Veränderungen möglich .Sie kommen natürlich insbesondere aus der türkischenGesellschaft. Wir können von außen wenig beeinflussen,aber ich bin zuversichtlich; denn das, was ich vonseitender Zivilgesellschaft, in den Medien und in vielen Ge-sprächen erlebe, zeigt eine viel größere Differenzierung .Als Sozialdemokrat sage ich: Natürlich irritiert es mich,wenn auch die Partei, zu der wir in der Vergangenheitenge Kontakte gehalten haben, im Parlament der Aufhe-bung der Immunität zustimmt .
Auch deswegen müssen wir das eine oder andere hierdurchaus ehrlich benennen .
Dr. Rolf Mützenich
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Wenn wir nur wenige Möglichkeiten haben, dann müs-sen wir sie nutzen . Ich bin der Bundeskanzlerin dankbar,dass sie bei ihrem letzten Besuch endlich mit Vertreternder Zivilgesellschaft zusammengetroffen ist . Aber ichhätte mir viel mehr gewünscht, dass sie – genauso wiebereits der deutsche Außenminister – frühzeitig auch mitder Opposition und insbesondere mit Mitgliedern derHDP-Fraktion zusammengetroffen wäre . Das wäre mög-lich gewesen .
Ich glaube, sie sollte sich überlegen, ob sie das nichtnachholen kann .Ich finde, umso mehr müssen wir auf die Regeln derZusammenarbeit achten . Es ist unsere Aufgabe – das istgenauso wichtig –, uns frühzeitig gegen autoritäre An-sprüche in der Europäischen Union zu wehren . Nur dasist nach meinem Dafürhalten das richtige Signal an dieTürkei .Meine Damen und Herren, wir wissen aus Erfahrung,wie mühevoll und schmerzlich die Aufarbeitung der ei-genen Geschichte sein kann . Dennoch sollten auch diepolitisch Verantwortlichen in Ankara und Eriwan wissen:Ein solches gemeinsames Vorhaben ist kein Zeichen vonSchwäche . Im Gegenteil: Nur so können neues Vertrauenund menschliche Stärke wachsen . Die Türkei hat Judenvor dem von Deutschland entfachten Holocaust gerettet .Wir Sozialdemokraten erinnern uns mit Dankbarkeit andie Aufnahme politisch Verfolgter; ich denke etwa anErnst Reuter . Heute wünschen wir uns eine Türkei, die invergleichbarer Offenheit und Größe einem dunklen Ka-pitel ihrer Geschichte gerecht wird .Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .
Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Kauder, ich hatte so sehr gehofft, dass Sieeine Krankheit überwinden, wenn ich als Fraktionsvor-sitzender aufhöre; aber Sie leiden immer noch schwerdarunter . Ich muss es der Bevölkerung erklären: Es gibteine pathologische, also krankheitsbedingte Ausschließe-ritis . Diese Krankheit führt dazu, dass sie mit den Linkenzusammen keinen Antrag einbringen .
Glauben Sie mir: Sie müssen sich einen Ruck geben .Es ist ganz einfach, sich therapieren zu lassen: Sie müs-sen ein paar demokratische Grundsätze akzeptieren .
Sie müssen akzeptieren, dass ein Parlament Ausdruckunterschiedlicher Interessen ist . Sie müssen Toleranzentwickeln,
und Sie sollten nicht vergessen, dass im September die-ses Jahres in Berlin Wahlen sind . Vielleicht – ich weiß esja nicht – kommt meine Partei an die Regierung;
dann brauchen Sie uns . Das ist mit krankhaften Leutenimmer schwer hinzubekommen .
Nun zum Inhalt . Nach Frankreich, der Schweiz, Zy-pern, der Slowakei, Litauen, den Niederlanden, Schwe-den, Italien, Belgien, Russland, dem Vatikan, Kanada,Chile, Argentinien, Venezuela und Uruguay gedenkt nunauch der Bundestag der Opfer der Deportationen undMassaker im Osmanischen Reich, der fast vollständigenVernichtung der armenischen Bevölkerung in Anatolienvor genau 100 Jahren . Endlich müssen auch wir es alsdas benennen, was es war: ein Völkermord an 1,5 Millio-nen Armenierinnen und Armeniern . Auch aramäisch-as-syrische und chaldäische Christinnen und Christen sowiePontosgriechinnen und -griechen wurden gejagt und um-gebracht .Es gibt eine historische Mitverantwortung Deutsch-lands; darauf hat der Bundestagspräsident zu Recht hin-gewiesen . Das Deutsche Reich als Verbündeter des Os-manischen Reiches im Ersten Weltkrieg leistete Beihilfezum Völkermord . Wir müssen deshalb sehr aktiv an derAufklärung der Hintergründe und der Beteiligung mit-wirken .
Allerdings müssen wir, das heißt der Bundestag, unsauch noch klar und unmissverständlich zu den Ermor-dungen und Grausamkeiten gegenüber den Herero undNama zwischen 1904 und 1908 in der damaligen KolonieDeutsch-Südwestafrika erklären . Das steht noch aus .
Wir wissen aus eigener Geschichte über die Schwie-rigkeiten, sich den Verbrechen aus der eigenen Bevölke-rung zu stellen . Im Westen – nicht im Osten – dauerte esbis 1968, also 23 Jahre, bis sich die jüngere Generationgegen das Verschweigen der Naziverbrechen auflehn-te . Es dauerte sogar 40 Jahre, bis sich BundespräsidentRichard von Weizsäcker 1985 endlich klar zu den Ver-brechen der Nazidiktatur bekannte, für das gesamte deut-sche Volk die historische Verantwortung dafür übernahmDr. Rolf Mützenich
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und das Ende des Krieges als Tag der Befreiung auch fürdas deutsche Volk deklarierte .
Heute ist das kein Problem mehr, von der Union bis zurLinken . Wir können gemeinsam die Naziverbrechen ver-urteilen . Das geschieht ja auch .Ich weiß, dass Flüchtlinge damals auch über die Tür-kei gerettet wurden . Dafür gebührt der Türkei nach wievor unser Dank .
Ich möchte aber hinzufügen, dass die Verbrechen derNazidiktatur einzigartig sind und nicht mit anderen ge-schichtlichen Vorgängen verglichen werden sollten, auchnicht mit den Verbrechen des Osmanischen Reiches .Gerade deshalb frage ich mich, warum es der türkischenRegierung 100 Jahre nach dem Völkermord an den Ar-menierinnen und Armeniern immer noch nicht möglicherscheint, dies ehrlich einzuräumen und aufzuarbeiten,
und stattdessen Regierungen und Ländern, die das Ver-brechen des Völkermordes benennen, droht .Es ist auch nicht hinnehmbar, wenn unsere Abgeord-nete Sevim Dağdelen – ich nehme an, Cem Özdemir,dem Kollegen der Grünen, geht es genauso – in den so-zialen Netzwerken und im Internet mit Hassmeldungenbedroht wird und Morddrohungen erhält . Der Bundestagmuss diese Angriffe auf unsere Abgeordneten entschie-den zurückweisen . Ich danke dem Bundestagspräsiden-ten dafür, dass er das schon getan hat .
Wenn der Bundestag dies zurückweist und sich von denDrohungen durch Präsident Erdogan nicht einschüchternlässt, dann beweist er Souveränität und setzt ein spätes,aber wichtiges Signal .Auch aktuell ist dieses Signal wichtig . Die Problema-tik der hohen Zahl an Flüchtlingen über ein finanziell undwirtschaftlich schwaches Griechenland und die Türkeilösen zu wollen, scheint mehr als absurd . Natürlich mussman helfen, auch und gerade der Türkei . Man muss dannaber auch dafür sorgen, dass das Geld wirklich bei denFlüchtlingen ankommt .In der Türkei werden Menschenrechtsverletzungenbegangen . Eine Regierung ist nur dann souverän und auf-richtig, wenn sie diese klar benennt und verurteilt – nichtnur, wenn es ihr politisch passt, sondern immer –
und wenn sie sich von keiner anderen Regierung nötigenoder gar erpressen lässt .Was erleben wir jetzt in der Türkei? Wir erleben dasVerbot der größten Oppositionszeitung . Wir erleben, dass138 Abgeordneten der Opposition nach einer Verfas-sungsänderung Verfolgung droht; überwiegend sind esdie Mitglieder der kurdischen Demokratischen Partei derVölker, der HDP . Wir erleben darüber hinaus eine Ver-folgung von Kurdinnen und Kurden in der Türkei . Wirerleben die Bombardierung der Kurdinnen und Kurdendurch die Türkei in Syrien . Das sind aber jene Menschen,die den aktivsten Kampf gegen die schlimmste Terroror-ganisation, den „Islamischen Staat“, am Boden führen .Die Türkei hat alle Grenzübergänge zu Syrien dort ge-schlossen, wo die Kurdinnen und Kurden herrschen, lässtaber im Interesse des Nachschubs alle Übergänge offen,wo der „Islamische Staat“ herrscht .Es demütigt uns alle, dass die Bundeskanzlerin zu alldiesen Menschenrechtsverletzungen mehr schweigt alsspricht und sich bei Präsident Erdogan eher anbiedert . Sobewältigt sie die Flüchtlingsfrage nie .
Heute fehlt sie, ebenso Vizekanzler Gabriel . Der Außenmi-nister fehlt ebenfalls . Das ist auch nicht besonders mutig .Wir müssen aber auch der Menschen im OsmanischenReich gedenken, die Widerstand leisteten und sich gegenden Völkermord stellten . Darunter waren auch ranghoheosmanische Staatsbeamte und Gouverneure . Ich nen-ne Faik Ali Bey, Mechmet Celal Bey, Mustafa Aga Azizoglu und Hüseyin Nesimi Bey . Sie alle stehen fürden Widerstand . Sie haben sich den Deportationsbefeh-len widersetzt und mussten das zum Teil mit ihrem Lebenbezahlen . – Ich kann heute nicht über das Verhältnis vonArmenien und Aserbaidschan sprechen, bei dem wir dieRolle Armeniens kritisch sehen . Das ist nicht das Thema;das machen wir ein anderes Mal .Liebe Türkinnen und Türken, liebe deutsche Staatsan-gehörige türkischer Herkunft, bitte glauben Sie mir: Nurwenn man die historische Verantwortung für begangeneVerbrechen übernimmt,
wird der Weg der Aussöhnung mit den Armenierinnenund Armeniern und anderen frei . Ich kenne viele, diediesen Weg gehen . Aber es müssen noch mehr werden,bis hin zur türkischen Regierung, zum türkischen Präsi-denten und irgendwann vor allem auch zum türkischenParlament .
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege
Franz Josef Jung .
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mei-ne sehr verehrten Damen und Herren! Wir beenden heuteeine Debatte, die wir am 100 . Jahrestag der VertreibungDr. Gregor Gysi
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und des Massakers an den Armeniern sowie den assyri-schen, aramäischen und chaldäischen Christen und eben-so den Pontosgriechen und anderen christlichen Minder-heiten begonnen haben . Ich bin froh darüber, dass es unsgelungen ist, diesen gemeinsamen Antrag mit der Über-schrift „Erinnerung und Gedenken an den Völkermord anden Armeniern und anderen christlichen Minderheiten inden Jahren 1915 und 1916“ zu entwickeln . Ich will auchdaran erinnern, dass in der Debatte am 24 . April letztenJahres bereits der Bundestagspräsident sehr deutlich von„Völkermord“ gesprochen hat und ebenso unsere Rednerund einen Tag zuvor unser Staatsoberhaupt, der Bundes-präsident, diese Formulierung gewählt haben .Meine Damen und Herren, der historische Anlass ge-bietet das gemeinsame Gedenken . Es ist auch Ausdruckdes tiefen Respekts und des Mitgefühls gegenüber denOpfern und gegenüber den Armeniern als eine der äl-testen christlichen Nationen . Bis zu 1,5 Millionen Men-schen haben bei diesem Massaker ihr Leben verloren . Eswar die fast vollständige Vernichtung der Armenier imOsmanischen Reich .Wir bezeichnen das Massaker in Übereinstimmungmit der Definition der Vereinten Nationen nicht nur alsdas, was es war, nämlich Völkermord, sondern machenauch die Mitverantwortlichkeit des Deutschen Reichesdeutlich, des damaligen militärischen Hauptverbündetendes Osmanischen Reiches, das trotz entsprechender In-formationen nicht versucht hat, dieses Verbrechen gegendie Menschlichkeit zu stoppen .
Wir Deutsche wissen sehr genau, wie schwierig dieAussöhnung mit den Nachbarn bzw . den Völkern ist, de-nen man unzähliges Leid zugefügt hat . Wir verkennenhierbei nicht die Einzigartigkeit des Holocaust; diesernimmt in der Geschichte eine schreckliche Sonderstel-lung ein . Aber ich will insbesondere auch gegenüber dertürkischen Regierung und der Bevölkerung zum Aus-druck bringen: Man muss zwischen der Schuld der dama-ligen jungtürkischen Regierung und der Verantwortungfür die Gegenwart und die Zukunft deutlich unterschei-den . Uns geht es nicht darum, die Türkei an den Prangerzu stellen oder auf die Anklagebank zu setzen . Uns gehtes darum, deutlich zu machen, dass zur Aussöhnung dieVerantwortung für die gemeinsame Vergangenheit unab-dingbar ist .
Nur wer sich zur Vergangenheit bekennt, kann Versöh-nung und somit die Zukunft gestalten .Uns verbindet mit der heutigen Türkei sehr viel . Sieist für uns ein wichtiger Partner . Wir sind gemeinsam inder NATO, in der OSZE und im Europarat . Zwischen un-seren Ländern bestehen gute wirtschaftliche, kulturelleund zivilgesellschaftliche Beziehungen . 3 Millionen Mit-bürgerinnen und Mitbürger türkischer Herkunft sind einTeil unseres Landes . Gerade deshalb ist es uns besonderswichtig, den Weg der Aufarbeitung der Vergangenheit zubeschreiten, um Fortschritte für die Zukunft und damitfür die Aussöhnung zu erreichen .
Meine Damen und Herren, der Versöhnungsprozessist gestoppt worden . Wir wollen einen neuen Impuls zurVersöhnung setzen . Wir fordern deshalb in unserem An-trag die Bundesregierung auf, Projekte, die sich der Auf-arbeitung der Geschichte und der Annäherung der Men-schen in beiden Ländern widmen, zu fördern: Stipendienfür Wissenschaftler und die Unterstützung zivilgesell-schaftlicher Kräfte, die sich für Versöhnung einsetzen .Es hat übrigens 2014 von dem damaligen Minister-präsidenten und heutigen Staatspräsidenten Erdogan eineBeileidskundgebung gegenüber den Armeniern zu ihremGedenktag gegeben . 2009 – darauf wurde schon hinge-wiesen – ist in den Zürcher Protokollen zwischen dertürkischen und armenischen Regierung vereinbart wor-den, dass eine Kommission zur wissenschaftlichen Auf-arbeitung und Untersuchung der geschichtlichen Ereig-nisse eingesetzt wird . Vereinbart wurde, diplomatischeBeziehungen aufzunehmen und die Grenze zu öffnen .Aber diese Vereinbarungen sind nicht ratifiziert worden.Meine Damen und Herren, es ist unsere Auffassung, dassdie Ratifizierung dieser Protokolle für beide Seiten einGewinn wäre, und wir wollen einen Impuls setzen, dassdies in Zukunft möglich wird .
Wir wollen mit unserem gemeinsamen Antrag deut-lich machen, dass wir die Aufarbeitung der Vergangen-heit und die Aussöhnung und Annäherung zwischen derheutigen Türkei und Armenien unterstützen . In Erinne-rung an das Unrecht wächst die Aussicht, dass sich diesnicht wiederholt . Wir sind gemeinsam aufgefordert, alleszu tun, damit Menschen und Völker nicht Opfer von Hassund Vernichtung in der Gegenwart und in der Zukunftwerden . Deshalb bitte ich Sie herzlich um Unterstützungunseres gemeinsamen Antrags .Ich danke Ihnen .
Das Wort erhält nun der Kollege Cem Özdemir für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Exzellenzen und Eminenzen! Viele Vertreterinnen undVertreter der Aramäer, der Assyrer, der Armenier, derChaldäer, der Pontosgriechen und übrigens auch der tür-kischen Zivilgesellschaft sitzen heute auf der Besucher-tribüne . Seien Sie uns alle herzlich willkommen!
Dr. Franz Josef Jung
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Der Zeitpunkt, um über etwas so unvorstellbar Grau-sames wie einen Völkermord zu sprechen, ist nie günstig .Nach einem langen und mühsamen Hin und Her stim-men wir heute über einen Antrag ab, der von Völker-mord spricht, klar die deutsche Mitschuld benennt undfeststellt, dass daraus geradezu eine Verpflichtung fürDeutschland erwächst, sich dafür einzusetzen, dass dasVerhältnis zwischen der Türkei und Armenien normali-siert wird und es zu einer Wiederannäherung kommt .
Ich will zunächst die Gelegenheit nutzen, der GroßenKoalition dafür zu danken, dass sie mit dem gemeinsa-men Antrag Wort gehalten hat . Ich will aber auch einenDank an die Kirchen für ihre Unterstützung in der Sacheund an unseren Bundespräsidenten und an unseren Bun-destagspräsidenten für ihre klaren Worte richten . Ohnesie hätte es diesen gemeinsamen Antrag heute so nichtgegeben .Unseren türkischen Freunden möchte ich sagen: Esgeht nicht um Fingerzeigen, es geht nicht darum, dasswir moralische Hoheit für uns beanspruchen . Denn wirbringen diesen Antrag ja gerade nicht ein, weil wir unsmoralisch überlegen fühlen oder uns in fremde Angele-genheiten einmischen wollen, sondern weil es hier ebenauch um ein Stück deutscher Geschichte geht . Ich darfzitieren . Reichskanzler Bethmann Hollweg sagte:Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende desKrieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, obdarüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht .Das Ergebnis berichtete Graf von Lüttichau, Gesandt-schaftsprediger der Deutschen Botschaft in Konstantino-pel, dann 1918 nach Berlin:In den östlichen Provinzen, also mit Ausschluss vonKonstantinopel und Smyrna und anderen Plätzen inder westlichen Türkei, sind von der Gesamtbevöl-kerung 80–90 %, von der männlichen Bevölkerung98 % nicht mehr am Leben . . . .Was die Geistlichen anlangt, so sind sie fast völligausgerottet .Genau deswegen haben wir geradezu eine historischeVerpflichtung, Armenier und Türken aus Freundschaftzur Versöhnung zu ermuntern .
Mit Blick auf die in Deutschland lebenden Armenier sageich: Das gilt ausdrücklich auch für die in Deutschlandlebenden Armenier .Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir in der Ver-gangenheit Komplizen dieses furchtbaren Verbrechensgeworden sind, darf nicht heißen, dass wir heute zu Kom-plizen der Leugner werden . Die Aufarbeitung der Schoahist die Grundlage unseres demokratischen Deutschlands .Deshalb ist es Zeit, dass wir nun auch andere Verbre-chen von früheren Vorläuferstaaten der BundesrepublikDeutschland aufarbeiten . Darum will auch ich ausdrück-lich den Völkermord an den Herero und Nama erwähnen .Auch dieser Völkermord wartet darauf, aufgearbeitet zuwerden .
Als der Statthalter von Kütahya 1915 den Befehl zurVerschleppung der armenischen Bevölkerung in seinemBezirk empfing, gab er öffentlich bekannt, dass er die-sem Befehl nicht Folge leisten werde . Der Gouverneurvon Konya, die Anhänger des Mevlevi-Derwisch-Ordensin Konya haben genau dasselbe gemacht . Sie haben aufihr Herz gehört . Ihr menschlicher Kompass hat nicht ver-sagt . Bei vielen war es der muslimische Glaube oder ihrMenschenbild, das es nicht zuließ, dass sie diesem nie-derträchtigen Befehl aus Istanbul Folge leisteten . Vor ih-nen und all den mutigen Helden, die es auch in der Türkeigab, die den Befehl nicht umgesetzt haben, verneigen wiruns in Hochachtung .
Auf diese türkischen Schindlers, und nicht auf die Mör-der Talat Pascha und Enver Pascha, haben die Menschenin der Türkei, aber auch die Menschen aus der Türkei, diein der Bundesrepublik Deutschland leben, allen Grund,stolz zu sein .Indem wir den Völkermord anerkennen, die deutscheMitverantwortung daran bekennen und die Aufarbeitungvorantreiben, möchten wir aber auch den Bürgerinnenund Bürgern in Deutschland mit türkischem Hintergrunddie Möglichkeit geben, Antworten auf die Fragen zu fin-den, auf die sie in den türkischen Geschichtsbüchern kei-ne Antwort finden. Ich weiß, wovon ich spreche. Wie un-ser Bundespräsident letztes Jahr in seiner Rede deutlichgemacht hat: Die heute Lebenden tragen keine Schuld –das gilt im Übrigen für uns auch im Zusammenhang mitder Schoah –, aber eine Verantwortung . Diese Verant-wortung tragen wir Deutsche genauso wie die Menschenin der Türkei .
Wir wollen niemanden stigmatisieren . Im Gegenteil:Wir wollen die ermutigen, die Fragen stellen . Ich willdie Gelegenheit nutzen, auch an das Leid der aus demBalkan vertriebenen Muslime zu erinnern . Ich will andas Leid der Tscherkessen erinnern – darunter die Vor-fahren meines Vaters –, von denen manche Experten sa-gen, dass das, was ihnen widerfuhr, auch als Völkermordbeschrieben werden kann . Auch ihre Geschichten wartendarauf, erzählt zu werden, damit künftige Generationenein Bild der türkischen Geschichte vermittelt bekommen,das eben nicht schwarz und weiß ist, sondern bunt undkomplex .Wenn wir heute in die Region schauen, dann sehenwir, dass wieder Christen verfolgt werden – im Irak, inSyrien und auch in der Türkei . Die Orte, in denen die-jenigen Armenier angekommen sind, die die Trecks derVertreibung überlebt haben, liegen mitten im syrischenKriegsgebiet, beispielsweise Aleppo und Deir al-Sor .Nachdem wir uns alle hier im Haus jahrelang über dieSanierung von Kirchen in der Türkei freuen durften, wer-den nun wieder Kirchen verstaatlicht und geschlossen .Cem Özdemir
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Priester dürfen faktisch ihre Ausbildung in der Türkeinicht mehr machen . Was vielleicht am bittersten ist: „DuArmenier“ ist schon immer ein Schimpfwort in der Tür-kei gewesen . Aber es ist heute mehr denn je ein Schimpf-wort . Auch ich werde als „Du Armenier“ bezeichnet . Ichempfinde es nicht als Beleidigung, als Armenier bezeich-net zu werden .Als jemand, der aus einer sunnitisch-muslimischenFamilie stammt, bin ich in großer Sorge, wenn ich an dasOstchristentum denke . Christliche Gemeinschaften sindausgerechnet an der Geburtsstätte des Christentums vonder Ausrottung bedroht .„Wenn die Armenier heute noch leben würden, wäreVan das Paris des Ostens .“ Der dies gesagt hat, war meinermordeter türkisch-armenischer Freund Hrant Dink, einJournalist, der sich wie kein anderer für die Versöhnungvon Türken und Armeniern in der Türkei eingesetzt unddafür mit seinem Leben bezahlt hat .Ich bin dem Bundestagspräsidenten dankbar dafür,dass er angesprochen hat, dass Bundestagsabgeordnetefür ihre Meinung nicht bedroht werden dürfen . Aber ichtue mich ein bisschen schwer damit, liebe Kolleginnenund Kollegen, hier darüber zu reden, weil ich weiß, dassich, wenn ich nachher den Bundestag verlasse, nicht ver-haftet werde, dass meine Immunität, wenn ich heute nachHause gehe, vermutlich nicht aufgehoben wird, dass ichnicht zusammengeschlagen oder umgebracht werde . Dasgilt nicht für alle unsere Kollegen in der Türkei . Das giltnicht für diejenigen, die sich in der Türkei für die Aufar-beitung dieser Verbrechen einsetzen . Deshalb gilt unsereSolidarität diesen Menschen . Sie haben wirklich etwaszu befürchten . Sie zahlen einen hohen Preis .Herzlichen Dank .
Das Wort hat der Kollege Christoph Bergner für die
CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Hochverehrte Gäste! Als wir am 24 . April vergange-nen Jahres hier anlässlich des 100 . Jahrestages der Ver-nichtung der osmanischen Armenier zusammenkamen,standen Erinnern und Gedenken im Vordergrund unse-rer Debatte . Aber es ist in dieser Sitzung etwas deutlichgeworden, was zumindest in den Koalitionsfraktionenzuvor als umstritten galt, nämlich der Umstand, dasswir nur dann angemessen der Ereignisse von damals ge-denken können, wenn wir den Begriff „Völkermord“ zuihrer Kennzeichnung gebrauchen . Deshalb kann ich esnur begrüßen, dass wir heute einen gemeinsamen Antrageinbringen, der aus wohlerwogenen Gründen den Begriff„Völkermord“ bereits in der Überschrift verwendet . Ichweiß: Es wäre sachlich fragwürdig, das Anliegen diesesAntrags auf diesen Begriff zu reduzieren . Aber da sichdie Vorwürfe und die Kritik der letzten Wochen vor al-len Dingen auf diesen Begriff konzentrierten, möchte ichVerschiedenes klarstellen .Erstens . Wir verwenden diesen Begriff nicht im Sinneeiner juristischen Anklageerhebung; das wurde bereitsgesagt . Es ist auch mir wichtig, das zu betonen .Zweitens . Wir fühlen uns genötigt, von Völkermordzu sprechen, um die Dimension der Tragödie angemes-sen zu beschreiben, die sich vor 101 Jahren im Osmani-schen Reich ereignet hat . Um den Opfern das besondereGedenken zu widmen, das ihnen als Opfer einer syste-matischen und massenhaften Verfolgung und Tötung zu-kommt, und auch um unsere Mitverantwortung als Deut-sche nicht zu bagatellisieren, ist es wichtig, den Begriff„Völkermord“ unzweideutig zu verwenden .Meine Damen und Herren, wir verwenden den Be-griff „Völkermord“ aber auch, weil wir ihn für unver-zichtbar halten und weil nur dieser Begriff die exemp-larische Bedeutung der Ereignisse vor über 100 Jahrenverdeutlichen kann . Mir ist ein Satz in unserem Antragwichtig – den möchte ich kurz zitieren –, der besagt, dassdie Vernichtung von über 1 Million ethnischer Armenier„beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtun-gen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, jader Völkermorde, von denen das 20 . Jahrhundert auf ab-solut schreckliche Weise gezeichnet ist“, steht .Das kennzeichnet die exemplarische Bedeutung . HerrMützenich hat darauf hingewiesen, dass für RaphaelLemkin der Völkermord an den Armeniern gewisser-maßen das erste Lehrstück für die Formulierung derUN-Konvention gegen Völkermord wurde, die heuteGrundbestandteil des modernen Völkerrechts ist .Aber wenn ich von der exemplarischen Bedeutung derEreignisse von damals spreche, dann möchte ich auch andie Gedenkrede unseres Bundespräsidenten am 23 . April2015 erinnern, in der er herausgearbeitet hat, dass dasStreben der Jungtürken, die jungtürkische Ideologie, dieeinen ethnisch homogenen, religiös einheitlichen Natio-nalstaat suchte, das eigentliche Motiv für die Massakeran den Armeniern und anderen christlichen Gruppen war .Ich darf auch den Bundespräsidenten kurz zitieren:Trennung nach Volksgruppen, ethnische Säube-rungen und Vertreibungen bildeten Anfang des20 . Jahrhunderts oftmals die düstere Seite der Ent-stehung von Nationalstaaten .Es gehört auch aus meiner Sicht zu den bedrücken-den Erfahrungen der Moderne, dass die Entwicklung zurVolkssouveränität oft mit der Herausbildung ethnischerReinheitsideologien verbunden ist . Der britische Sozio-loge Michael Mann spricht von der „Dunklen Seite derDemokratie“ und davon, dass mit der VolkssouveränitätMinderheiten in der Sorge leben müssen, dass sie majo-risiert werden und ihre Identität unterdrückt wird . Auchdies macht die exemplarische Bedeutung des Völker-mords an den Armeniern aus und bezieht sich nicht nurauf die Genozide des vergangenen, des 20 . Jahrhunderts;ich denke in diesem Zusammenhang auch an die bitterenErfahrungen beim Scheitern des Arabischen Frühlings,als mit aufblühender Demokratisierung ethnische, religi-öse und konfessionelle Konflikte aufgebrochen sind, alsCem Özdemir
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Staatengebilde in Bürgerkriegen versanken und versin-ken, wie wir es heute noch in Syrien erleben .
Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Zeit .
Deshalb sollte – damit schließe ich, Herr Präsident –
der Völkermord an den Armeniern für uns nicht nur ein
Anlass zum fortwährenden Gedenken an die Opfer sein,
sondern er gibt auch Stoff, über die Entwicklung moder-
ner Staaten und Nationen und über die Bedingungen der
Entstehung souveräner Völker nachzudenken .
Herzlichen Dank .
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Dietmar Nietan
für die SPD-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Vor über 101 Jahren nahm eines der großenMenschheitsverbrechen des 20 . Jahrhunderts seinenLauf . Die Regierung des Landes, welches damals seinemVerbündeten hätte in den Arm fallen können, ja hätte inden Arm fallen müssen, ließ die Barbarei in zynischerMenschenverachtung einfach geschehen . Das Land, vondem ich hier spreche, heißt Deutschland .Im damaligen Osmanischen Großreich mussten inden Jahren 1915 und 1916 Hunderttausende unschuldigeMänner – insbesondere aber auch Frauen und Kinder –erleben, dass sie nachts aus ihren Häusern gerissen und,ohne genügend Essen und Wasser zu haben, auf Todes-märsche in die Wüste geschickt wurden, um sie jämmer-lich – man muss es so hart sagen – verrecken zu lassen .Als ob das nicht schon schlimm genug gewesen wäre,wurden sie auf diesem Weg Räuberbanden anheimge-geben, die massenhaft Frauen vergewaltigten und ihnennoch das Letzte nahmen, was sie vielleicht auf der Fluchthatten mitnehmen können .Aghet, die große Katastrophe, ist – das ist hier schonbetont worden – eben kein Kollateralschaden der Kriegs-wirren der damaligen Zeit . Die systematische Vertrei-bung und Vernichtung der anatolischen Armenier wieauch der Aramäer, Assyrer, Pontosgriechen und chaldä-ischen Christen war von staatlichen Stellen auf Befehldes damaligen jungtürkischen Regimes systematischgeplant, und sie wurde auch systematisch durchgeführt .Dieses Verbrechen hatte ein klares Ziel . Es hatte das Ziel,diese Volksgruppen im damaligen Osmanischen Reich zueliminieren . Sicherlich auch dank der Bemühungen vonRaphael Lemkin haben wir mittlerweile in der internati-onalen Staatengemeinschaft – auch das wurde hier ge-sagt – einen Begriff für ein so unbegreifliches Verbrechengefunden: Völkermord .Angesichts bestimmter Debatten, die jetzt gerade au-ßerhalb dieses Hohen Hauses stattfinden, möchte ich andieser Stelle noch einmal klarstellen: Wir sitzen hier nichtzu Gericht . Niemand sitzt auf der Anklagebank – wederMitglieder der Bundesregierung, die heute nicht auf derRegierungsbank sitzen, und schon gar nicht das türkischeVolk, dem wir, glaube ich, alle in großer Freundschaftverbunden sind .
Ich finde, dass nur derjenige, der unredliche Absich-ten im Sinn hat, den Text unseres gemeinsamen Antragesin eine Anklageschrift uminterpretieren kann . Denn dieÜberschrift und auch der erste Satz dieses Textes zeigen:Dies ist keine Anklageschrift, sondern das ist eine Ver-neigung vor den Opfern .
Nein, es wird heute keine Anklageschrift und auch kei-nen donnernden Urteilsspruch geben .Nun könnte man sich ja fragen: Warum das Ganze?Die Antwort ist vielleicht so banal wie wegweisend .Heute wollen wir als Parlament, als die demokratischgewählten Vertreterinnen und Vertreter des Souveräns –wir, die die Nachfahren derer sind, die damals wegge-schaut haben –, uns vor den Opfern verneigen . Wir wol-len das in aller Demut und ohne Selbstgerechtigkeit tun .Wir wollen den Opfern dieses Menschheitsverbrechensunseren aufrichtigen Respekt zollen . Wenn es darumgeht, aufrichtig zu sein, muss man auch sagen, was war .Und dann gilt: Ein Völkermord bleibt ein Völkermordbleibt ein Völkermord .
Auf diese Klarheit haben die Opfer und ihre Nachfah-ren schon viel zu lange gewartet . Deshalb kann ich dieDebatten um den Zeitpunkt der heutigen Behandlungdes Themas, die wir in der Öffentlichkeit erleben, nichtverstehen . Ich glaube, wir müssen nicht kritisieren, dasswir das heute hier machen, sondern wir müssten uns eherfragen, ob man nicht kritisieren muss, dass wir es erstheute, nach 101 Jahren machen .
Wenn ich sage, dass es gilt, den Respekt vor den Op-fern in den Vordergrund zu stellen, dann sollten wir auchnicht vergessen, dass sich die Opfer nicht mehr wehrenkönnen . Sie können nicht mehr mitdiskutieren . Sie konn-ten sich auch damals nicht wehren . Auch ihre Nachfah-ren konnten das nicht, wenn sie von denen, die ihnen dasLeid angetan hatten, im Nachhinein noch verunglimpftund verleugnet wurden, wenn die Verbrechen relativiertwurden .Dr. Christoph Bergner
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Sie können sich aber auch nicht wehren, wenn heuti-ge Politikerinnen und Politiker, egal auf welcher Seite,glauben, den Völkermord an den Armeniern zur Keule intagespolitischen Auseinandersetzungen machen zu müs-sen . Wenn man das tut, wird man dem Respekt vor denOpfern auch nicht gerecht .
Ich bin auch der festen Überzeugung – ich konnte Ent-sprechendes in einer Zeitung lesen –, dass das deutscheParlament heute hier nicht Rechthaberei betreibt, son-dern ich sehe die heutige Debatte auch als eine Selbst-behauptung des Parlaments, das – unabhängig davon,wie bestimmte Dinge, die wir heute beschließen, von derRegierung gesehen werden – das Heft des Handelns indie Hand genommen hat und sich selbst eine Meinunggebildet hat und sie zum Ausdruck bringt. Ich finde, dasist keine Schwäche, sondern eine Stärke unserer Demo-kratie .
Erlauben Sie mir zum Abschluss, darauf hinzuwei-sen – Staatsminister Michael Roth hat das vor ein paarTagen in der Presse geäußert –: Wir sollten unseren Be-schluss nicht überhöhen; denn – da hat der Staatsministerrecht – Versöhnung kann man nicht beschließen .Deshalb möchte ich zum Schluss meiner Ausführun-gen einen Appell an alle jungen Menschen, ob sie tür-kischer, armenischer, deutscher oder welcher Herkunftauch immer sind, richten: Bitte glauben Sie nicht alles,was man Ihnen sagt, was in Ihren Schulbüchern steht,möglicherweise auch das nicht, was wir Ihnen hier heu-te im Bundestag sagen . Ich bitte Sie darum: Machen Siesich selber ein Bild . Schauen Sie sich die Dokumente an,die im Auswärtigen Amt einsehbar sind, die zu einemgroßen Teil ja auf Deutsch sind, weil sie von deutschenDiplomaten stammen . Bilden Sie sich selber ein Urteil .Lassen Sie Ihr Herz sprechen, wenn Sie sich diese Do-kumente anschauen, und lassen Sie sich nicht, von wemauch immer, einreden, dass diejenigen, die das Wort„Völkermord“ in den Mund nehmen, das türkische Volkbeleidigen wollen . Nein, das türkische Volk ist ein gro-ßes und starkes Volk, und es hat es nicht nötig, sich vorseiner Vergangenheit zu verstecken, sondern es kann sichihr selbstbewusst und mit Demut stellen . Kämpfen Siedafür, dass das geschieht; denn das ist der richtige Weg,der Verantwortung gerecht zu werden, die uns allen ausunserer Geschichte auferlegt ist .
Herr Kollege .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Elie Wiesel hat am
27 . Januar 2000 an dieser Stelle gesagt:
Wer sich dazu herbeilässt, Erinnerungen an die Op-
fer zu verdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal .
Ich bin der festen Überzeugung, dass dieser Appell
von Elie Wiesel von immer mehr Menschen, auch von
immer mehr jungen Menschen in der Türkei, gehört
wird . Sie hören auf ihr Herz . Sie haben ein Herz für die
Opfer . Sie werden sich in Zukunft nicht mehr von staatli-
chen Stellen ein Geschichtsbild vorschreiben lassen . Das
gibt mir die Hoffnung, dass es Versöhnung geben wird .
In diesem Sinne danke ich Ihnen allen für Ihre Aufmerk-
samkeit .
Der Kollege Hans-Peter Uhl spricht nun für die CDU/
CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen undKollegen! „In jeder Geschichte“, sagt Goethe, „selbsteiner diplomatisch vorgetragenen, sieht man immer dieNation, die Partei durchscheinen, wozu der Schreibendegehörte .“ Wenn also ein Deutscher über den – ich zitiereeine 100 Jahre alte Formulierung des deutschen PfarrersJohannes Lepsius – „Todesgang des armenischen Vol-kes“ spricht, wird die persönliche Betroffenheit zu spü-ren sein .Wie sehr ein Völkermord, geschehen im Namen deseigenen Volkes, der eigenen Nation diese Nation belastet,wissen gerade wir nur zu gut . Der Verleger der Allge-meinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland, KarlMarx, beschrieb im November 1952, wie er alleine mitdem damaligen ersten Bundespräsidenten der Bundesre-publik Deutschland, Theodor Heuss, nach dessen Redezur Weihe des Gedächtnismales in Bergen-Belsen zu ei-nem Gedenkstein ging, der von den überlebenden Judenunmittelbar nach der Befreiung errichtet worden war . Erschrieb:Wir mußten einen schmalen Pfad zwischen denMassengräbern passieren . Plötzlich verfärbte sichHeuss und stützte sich auf mich . Er brachte nur dieWörter hervor: „Schrecklich, schrecklich“, und zit-terte am ganzen Körper .So der erste Bundespräsident der BundesrepublikDeutschland .In Kenntnis dieses Schrecklichen kam Charles deGaulle nach Deutschland und sprach bei seinem erstenStaatsbesuch 1962 von dem Vertrauen, das er „für Ihrgroßes Volk, jawohl! – für das große deutsche Volk,hege“ .Genauso sind auch wir bei der heutigen Erinnerungund dem heutigen Gedenken an den Völkermord an denArmeniern und anderen christlichen Minderheiten auf-gerufen, etwas, auch wenn selbstverständlich, nochmalsauszusprechen: unsere Achtung vor dem bedeutendenOsmanischen Reich und unseren Respekt vor dem gro-ßen türkischen Volk .Dietmar Nietan
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Wir sind zuversichtlich, dass auch die türkische Re-gierung zunehmend verstehen wird, dass es unser nachdem Zweiten Weltkrieg gewachsenes europäisches Be-wusstsein ist, dass man Opfer gedenkt, ohne damit an-dere in eine Schuldrolle drängen zu wollen . Wir kennenAlbert Schweitzers kulturethische Lehre „Ehrfurcht vordem Leben“ . In diesem Sinne und aus keinem anderenGrunde führen wir die heutige Aussprache .
Es wird vielfach gesagt: Ist es nicht ungerecht undin gewisser Weise auch willkürlich, sich in diesem Zu-sammenhang nur mit dem Osmanischen Reich und denArmeniern zu beschäftigen? Ich nehme diese Fragensehr ernst; denn das, worüber wir heute reden, liegt janun über 100 Jahre zurück . In Abwandlung eines Satzesvon Bundespräsident Gauck kann man darauf antworten,das Schicksal der Armenier stehe beispielhaft für die Ge-schichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säu-berungen, der Vertreibungen im 20 . Jahrhundert . Mit denPogromen an den Armeniern begann es im 20 . Jahrhun-dert, Massenmord als legitime Antwort auf staatliche undgesellschaftliche Probleme zu sehen . Natürlich hatte dasOsmanische Reich Probleme mit den Armeniern; das istunbestritten . Das Erschrecken darüber war so groß, dassselbst der als humanistisches Vorbild allseits anerkannteReichstagsabgeordnete Friedrich Naumann die Massakerdamals als eine Art Notwehr der Türken bezeichnete .Die Antwort des Osmanischen Reiches war aber die ers-te zahlreicher staatsterroristischer Aktionen, mit denenStaatenlenker auf Massenmord und Völkermord setzten .Mit Stalins Sowjetunion und ihrem Massenmord an denKulaken, dem Genozid an den Ukrainern, den innersow-jetischen Säuberungsaktionen und vor allem mit derdurch ihre bürokratisch-perfektionistische Durchführungunvergleichbaren Vernichtungsaktion der Deutschen anden Juden nahm das Fürchterliche seinen Verlauf .In engem Zusammenhang mit dem Heutigen habe ichim Juni 2000 auf die innere Einheit von Erinnerung undZukunft hingewiesen . Ich habe damals gesagt:… denn ohne Erinnerung und Übernahme der Ver-antwortung für das Geschehene kann es keine ge-deihliche Zukunft geben, kein friedliches Miteinan-der unter Nachbarn .Das gilt auch für das heutige Miteinander von Türkenund Armeniern . Das ist in diesem Hause unser heutigesAnliegen: mit dem Blick der Wahrheit zurückzuschauen,um mit dem Blick des Friedens nach vorne schauen zukönnen .
Albert Weiler erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Arme-nierinnen und Armenier! Liebe Türkinnen und Türken!Sireli Hayer! Sevgili Türkler! Danke vorab an den Bun-despräsidenten, danke an Norbert Lammert, den Bundes-tagspräsidenten, aber auch danke an die Kanzlerin unddie Fraktionen, die konstruktiv dazu beigetragen haben,dass diese Abstimmung heute stattfindet. Vielen Dank!
„Was hat der Mensch dem Menschen Größeres zu ge-ben als Wahrheit?“ Weise Worte Friedrich Schillers, wieich meine .Als Bundestagsabgeordneter und Präsident desDeutsch-Armenischen Forums sowie bekennender Christliegt mir das Thema Völkermord an den Armeniern undanderen christlichen Minderheiten, wie zum BeispielAramäern oder Pontosgriechen, im Osmanischen Reichsehr am Herzen .Deutschland als damaliger Hauptverbündeter des Os-manischen Reiches darf in Europa auf keinen Fall eineAusnahme machen. Wir haben die historische Verpflich-tung, die jungtürkischen Gräueltaten beim Namen zunennen und als Völkermord zu bezeichnen . Es ist beson-ders erfreulich, dass sich dabei unsere Koalition und dieGrünen auf einen gemeinsamen, fraktionsübergreifendenAntrag geeinigt haben .
Das heißt, an dieser historischen Tatsache gibt es für unskeinen Zweifel, und es gibt keinen Zweifel daran, werOpfer und wer Täter war . Die größte Herausforderungist und bleibt weiterhin die schonungslose, kritische undehrliche Aufarbeitung und Anerkennung dieser Tatsacheseitens der Türkei . Es fehlt bis heute ein eindeutiges Be-kenntnis der türkischen Regierung zu dem Unrecht, dasdamals geschehen ist, jenem schrecklichen Unrecht, dasden Armeniern widerfahren ist .Meine Damen und Herren, mit diesem Antrag wol-len wir vor allem diesen schweren Weg bereiten, indemwir uns auch zu unserer Mitschuld und unserer Mitver-antwortung bekennen, weil es ohne Anerkennung keineVersöhnung und keine Annäherung geben kann . Die An-erkennung des Völkermords ist ein wichtiger Schritt aufdem Weg zur Verhinderung weiterer Genozide und einWeg, den vielen Millionen armenischen Nachkommenunser Mitgefühl zu erweisen .Meine Damen und Herren, das Leid kennt keine Zeit-grenzen; der Genozid an den Armeniern gerät nie inVergessenheit . Auch nach einem Jahrhundert ist er unsbewusst . Er ist auch ein Teil unserer gemeinsamen euro-päischen Vergangenheit . Er beschäftigt uns alle; er gehtuns alle an . Aber wir wollen vorankommen . Wir wollenauch bei dem schwierigen Verhältnis zwischen der Türkeiund Armenien das erleben, was wir Deutsche erlebt ha-ben, nämlich Vergebung und Versöhnung . Das wäre nichtDr. Hans-Peter Uhl
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geschehen, wenn wir uns nicht der Vergangenheit gestellthätten, sie nicht aufgearbeitet hätten – kritisch aufgear-beitet, wissenschaftlich aufgearbeitet, gesellschaftlichaufgearbeitet . Das war nicht einfach . Das war anstren-gend . Meine Damen und Herren, das war schmerzhaft .Doch ohne die Aufarbeitung wäre uns niemals das Maßan Vergebung und Versöhnung mit Israel begegnet, daswir Deutsche seit 1945 erleben durften und erleben dür-fen . Mit unserer Anerkennung im Parlament ermutigenwir auch die türkische Regierung, dass sie diesen erstenmutigen Schritt zur Anerkennung, Aufarbeitung und Ver-söhnung unternimmt, der die beiden Länder näher zu-sammenbringen wird .Es ist erfreulich, dass es gerade in der heutigen Tür-kei Menschen gibt, die eine ehrliche Aufarbeitung undVersöhnung mit Armenien anstreben – Menschen, die aneiner gemeinsamen Zukunft bauen . Mit unserem Antragwollen wir auch diese ehrwürdigen Frauen und Männerbestärken, die bereits mutige Schritte unternehmen, jenetürkischen Intellektuellen, die sich kritisch mit diesemTeil ihrer Geschichte auseinandersetzen . Wir werdengemeinsam mit diesen Menschen daran arbeiten, dassder Genozid von der türkischen Regierung aufgearbeitetwird zum Wohl der Türkei und Armeniens . Wir wollenaber keine Schuldzuweisungen . Unser Ziel ist, durchAnerkennung, Aufarbeitung und Versöhnung zu einergemeinsamen Zukunft, zu einem friedlichen Miteinan-derleben in dieser Region beizutragen . Genau dieses Zielwollen wir gemeinsam erreichen .Vielen Dank. Çok teşekkürler. Shat shnorhakalutyun.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Martin Pätzold für die CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Der heute dem Deutschen Bundestag vor-
liegende Antrag soll einen Beitrag zur Versöhnung der
Völker leisten . Eine Aussöhnung zwischen Armenien
und der Türkei ist nur möglich, wenn eine Aufarbeitung
der Geschehnisse von 1915 und 1916 erfolgt .
Ich bin Ihnen, Herr Kauder, sehr dankbar dafür, dass
Sie am 25 . Februar dieses Jahres die ausgestreckte Hand
von Herrn Özdemir angenommen haben und dieses
wichtige moralisch-historische Thema, bei dem wir als
Bundesrepublik Deutschland eine Mitverantwortung tra-
gen, eben nicht zum Parteiengeplänkel gemacht haben,
sondern die Möglichkeit gegeben haben, es interfrakti-
onell zu diskutieren . Noch einmal vielen Dank dafür an
dieser Stelle .
Sie, Herr Özdemir, haben deutlich gemacht, dass es
Ihnen um das Thema geht, um die Aufarbeitung und auch
um die Fragestellung, wie unterschiedliche Völker in ei-
ner friedlichen Welt leben können . Sie haben Ihren per-
sönlichen Hintergrund dargestellt . Bei mir ist es so, dass
ich als Deutscher eine Mutter habe – sie sitzt heute auf
der Besuchertribüne –, die in Armenien geboren ist . Ich
habe zur Kenntnis genommen, lieber Albert, dass du heu-
te etwas Armenisch gesprochen hast, die Sprache habe
ich als Kind gelernt . So bin ich als Deutscher mit armeni-
schen Wurzeln aufgewachsen in dem Bewusstsein, dass
es bei der Fragestellung des Genozids nicht darum geht,
mit dem Finger auf andere zu zeigen und über Schuld
zu diskutieren . Vielmehr geht es darum, Versöhnung und
Aussöhnung zu ermöglichen . Das ist tief in meinem Be-
wusstsein verankert .
Und weil das so ist, stellen wir dieses Thema eben nicht
in den aktuellen Kontext . Wir sehen und bewerten, was
die Türkei heutzutage für Flüchtlinge tut . 2,5 bis 3 Mil-
lionen Syrer bekommen dort Schutz und werden unter-
stützt . Die moralische Aufarbeitung des Genozids darf
aber nicht in diesen Kontext gestellt werden .
Mit dem vorgelegten Antrag, den wir heute im Deut-
schen Bundestag verabschieden werden, machen wir
der Bundesregierung gegenüber erstens deutlich, dass
wir den Versöhnungsprozess unterstützen möchten, und
zweitens, dass wir zivilgesellschaftliche, kulturelle und
wissenschaftliche Aufarbeitung in Armenien und in der
Türkei mit Projekten unterstützen wollen . Wir wollen,
dass man sich in der Türkei, aber auch in Armenien mit
wissenschaftlichen und kulturellen Fragestellungen be-
schäftigt, sich an die gemeinsame Geschichte und Kultur
erinnert .
Das dritte Thema in unserem Antrag – für mich übri-
gens vielleicht das wesentliche Thema in Bezug auf die
Fragestellung einer friedlichen Zukunft – ist der Umgang
mit dem Zürcher Protokoll, das – es wurde schon ange-
sprochen – 2009 auf den Weg gebracht wurde, aber nun
ins Stocken geraten ist . In dem Zürcher Protokoll geht es
gerade darum, dass die Grenzen zwischen der Türkei und
Armenien geöffnet werden . In diesem heutigen Europa,
wo Mauern hochgezogen werden, wo Grenzen geschlos-
sen werden, wäre es, auch von dieser Debatte ausgehend,
ein starkes Zeichen, wenn es gelingt, dass die Grenzen
zwischen der Türkei und Armenien geöffnet werden und
dass die Armenier von mehr Handel und von mehr Mög-
lichkeiten einer freien Grenzöffnung profitieren würden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und vielen
Dank dafür, dass sich der Deutsche Bundestag entschie-
den hat, den Völkermord in dieser Form anzuerkennen .
Ich schließe die Aussprache .Wir kommen zur Abstimmung über den gemeinsamenAntrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 18/8613 mit dem Titel„Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an denArmeniern und anderen christlichen Minderheiten in denAlbert Weiler
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Jahren 1915 und 1916“ . Zu dieser Abstimmung liegenmir eine Reihe von persönlichen Erklärungen zur Ab-stimmung vor, die wir wie immer dem Protokoll beifü-gen werden .1)Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage-gen? – Wer enthält sich der Stimme? – Dann ist bei einerGegenstimme und einer Enthaltung diese Entschließungmit einer bemerkenswerten Mehrheit des DeutschenBundestages angenommen .
Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 5 b: Be-
schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum
Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „100 . Jah-
resgedenken des Völkermords an den Armenierinnen
und Armeniern 1915/1916 – Deutschland muss zur Auf-
arbeitung und Versöhnung beitragen“ . Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 18/7909, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/4335 abzulehnen . Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der
Fraktion der Grünen und bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke angenommen .
– Es kommt ein spannender Tagesordnungspunkt . Aber
wer ihn nicht verfolgen möchte, möge bitte allfällige Ge-
spräche draußen führen .
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W . Birkwald, Sabine Zimmermann ,
Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Die Riester-Rente in die gesetzliche Renten-
versicherung überführen
Drucksache 18/8610
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Erster Redner ist der Abgeordnete Matthias W .
Birkwald, Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! CarstenMaschmeyer, ein enger Freund von Gerhard Schröderund Chef eines Finanzvertriebs, schwärmte nach der Ein-führung der Riester-Rente:1) Anlage 2Es ist so, als wenn wir auf einer Ölquelle sitzen . Sieist angebohrt, sie ist riesig groß, und sie wird spru-deln .Aha .Wie kam es zu Riester? Erstens wollten die Arbeitge-ber sich um das Jahr 2000 herum nicht mehr zur Hälfte ander Finanzierung einer Lebensstandard sichernden Rentebeteiligen . Sie wollten schlicht geringere Rentenbeiträgezahlen . Zweitens wollte die Versicherungswirtschaft Pro-visionen mit privater Altersvorsorge kassieren .Bundeskanzler Schröder und Arbeitsminister WalterRiester, SPD und Grüne haben die Rente aktiv teilpriva-tisiert, und das war schlecht .
So mussten fortan die Arbeitgeberinnen und Arbeitge-ber weniger in die Rentenkassen einzahlen, als für einegute Rente nötig gewesen wäre, und das war ein politischwillkürlich in die Rentenkassen gerissenes Loch . DiesemLoch sollen die Beschäftigen allein mit der Riester-Ren-te und steuerlichen Zulagen hinterhersparen . Die Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer wurden belastet, und dieArbeitgeberinnen und Arbeitgeber wurden entlastet . DieLinke sagt dazu: Diese Entscheidung war grottenfalsch,und sie ist grottenfalsch .
Heute müssen die Arbeitgeber nur 9,35 Prozent desLohnes für die Altersvorsorge ihrer Beschäftigten zah-len . So viel zahlen die Beschäftigten ebenfalls . Dazukommen aber noch 4 Prozent ihres Lohnes für die Ries-ter-Rente und 1,4 Prozent für die betriebliche Altersver-sorgung . Die Beschäftigten müssen also 14,75 Prozentihres Bruttolohns in die drei Säulen der Altersvorsorgestecken, um eine Lebensstandard sichernde Alterssiche-rung zu erhalten .Durchschnittlich verdienende Beschäftigte mit3 022 Euro brutto zahlen heute also 163 Euro mehr imMonat für ihre Altersvorsorge als ihre Chefs . Und weildie Arbeitgeber zu wenig zahlen, wird das Rentenniveauvon Lebensstandard sichernden 53 Prozent im Jahr 2000auf bis zu 43 Prozent im Jahr 2030 sinken, und das darfnicht so bleiben .
Für die Menschen ist das brutal; denn die Kaufkraftder gesetzlichen Rente ist massiv geschrumpft . Ein Bei-spiel: Eine durchschnittliche Rente für langjährig Ver-sicherte mit mindestens 35 Beitragsjahren ist zwischen2000 und 2014 von 1 021 Euro auf 916 Euro gesunken .Wenn man die Preissteigerungen seit dem Jahr 2000 be-rücksichtigt, hätte eine durchschnittliche Rente für lang-jährig Versicherte 1 284 Euro und nicht nur 916 Eurobetragen müssen . SPD, Grüne und CDU/CSU haben mitder Riester-Rente und der Absenkung des Rentenniveausalso dafür gesorgt, dass denen, die Jahrzehnte gearbei-tet haben und in die Rentenkasse eingezahlt haben, nunjeden Monat 368 Euro Rente im Portemonnaie fehlen .Meine Damen und Herren, das ist unverantwortlich .
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Die Rentnerinnen und Rentner werden nicht mehrvollständig am steigenden Wohlstand in unserem Landbeteiligt . Im Gegenteil: Es gibt immer mehr arme Rent-nerinnen und Rentner . Schon heute sind es 3 Millionen .Das darf nicht so bleiben .
Es geht auch anders . In unseren NachbarländernDänemark, Schweden, Niederlande, Schweiz und Ös-terreich leben viele Rentnerinnen und Rentner deutlichbesser . In Österreich ist der Beitragssatz seit 1988 stabil .Er ist etwas höher als bei uns, aber dafür zahlen die Ar-beitgeber in Österreich auch mehr in die Rentenkasse einals die Beschäftigten . Österreich hat deshalb eine star-ke gesetzliche Rente . Ein österreichischer Beschäftigtererhält nach 35 bis 45 Beitragsjahren sage und schreibe1 820 Euro Rente . Der vergleichbare Beschäftigte inDeutschland erhält nur 1 050 Euro Rente . 770 Euro mehr,ganz ohne Riester, dazu sage ich: Das muss drin sein,auch bei uns .
Die Riester-Rente kann die Rentenlücke nicht ausglei-chen, und die Menschen wissen das . Seit fünf Jahren sta-gniert die Zahl der Riester-Verträge . Es werden einfachnicht mehr . Im Gegenteil: Im vergangenen Jahr ging dieZahl der Neuverträge erneut zurück . Nach 15 Jahren ha-ben nun der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschafts-bundes, Reiner Hoffmann, CSU-Chef Seehofer, der Wirt-schaftsweise Professor Peter Bofinger und viele anderedie Notbremse gezogen . Sie sagen: Schluss mit der steu-erlichen Riester-Förderung . – Sie haben recht .
Meine Damen und Herren, die Riester-Rente ist in-effizient wegen der hohen Verwaltungskosten, die Ries-ter-Rente ist intransparent, weil die hohen Kosten unddie schmalen Renditen für die Verbraucherinnen undVerbraucher nicht erkennbar sind, die Riester-Rente istineffektiv, weil das Ziel, die Versorgungslücke zu schlie-ßen, nicht erreicht wird, und die Riester-Rente ist sozialungerecht, weil die staatlichen Subventionen von bisher35 Milliarden Euro nahezu ausschließlich in die Taschender Versicherungsunternehmen geflossen sind. Aus alldiesen Gründen fordert die Linke: Die milliardenschwereRiester-Förderung muss jetzt gestoppt werden .
Die Linke legt Ihnen heute eine machbare Alternativezu dem Riester-Unsinn auf den Tisch .Erstens . Riester-Sparerinnen und Riester-Sparer sollenab sofort das Recht erhalten, das bisher in Riester-Versi-cherungen angesparte Kapital freiwillig in die umlagefi-nanzierte gesetzliche Rentenversicherung zu überführen .Zweitens . Damit entstehen eins zu eins Anwartschaf-ten auf ihrem persönlichen Rentenkonto bei der gesetzli-chen deutschen Rentenversicherung .Drittens . Die Wechselkosten für den Riester-Vertragwerden auf ein absolutes Minimum begrenzt . Für die be-reits eingezahlten Eigenbeiträge und die erhaltenen Zu-lagen wird selbstverständlich Vertrauensschutz gewährt .Viertens . Gleichzeitig wird die steuerliche Förderungder privaten Altersvorsorge eingestellt . Die freiwerden-den Finanzmittel in Höhe von jährlich über 3 MilliardenEuro fließen direkt in die gesetzliche Rentenversiche-rung .Fünftens . Dann werden wieder die Ziele der Lebens-standardsicherung und der strukturellen Armutsvermei-dung in der gesetzlichen Rentenversicherung verankert .Sechstens . Die Kürzungsfaktoren in der Rentenanpas-sungsformel werden gestrichen .
Als rentenpolitisches Sicherungsziel wird dann fürdie sogenannte Standarderwerbsbiografie – 45 Versiche-rungsjahre mit einem Durchschnittsgehalt – ein Siche-rungsniveau von 53 Prozent vor Steuern festgeschrieben,also genau so, wie es war, bevor Schröder, Riester undFischer das Rentenniveau in den Sinkflug schickten.Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen: DiesesRettungsprogramm für die gesetzliche Rente ist verfas-sungskonform, und es ist finanzierbar. Wir haben denWissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestagesgefragt, ob eine Überführung von Riester-Guthaben indie gesetzliche Rente mit dem Grundgesetz vereinbarsei . Die klare Antwort lautet: Solange die Überführungfreiwillig bliebe, gebe es keine verfassungsrechtlichenBedenken .Was würde ein Rentenniveau von 53 Prozent die Bei-tragszahler und Beitragszahlerinnen sowie die Arbeitge-ber und die Arbeitgeberinnen kosten? Der aktuelle Ren-tenwert müsste ab 1 . Juli von 30,45 Euro auf 33,83 Eurosteigen . Das wäre eine Rentenanpassung von gut 11 Pro-zent . Sie würde im kommenden Jahr 29,11 MilliardenEuro kosten . Das klingt viel, ist aber nur eine Beitrags-satzerhöhung um 2,3 Prozentpunkte auf 21 Prozent . Be-schäftigte mit einem durchschnittlichen Bruttomonats-einkommen von zurzeit 3 022 Euro müssten im Monatgerade einmal knapp 35 Euro mehr an Beitrag in die ge-setzliche Rentenversicherung zahlen und eben nicht diefür Riester-Renten geforderten 4 Prozent vom Bruttoein-kommen . 35 Euro statt 108 Euro – das ist gerecht, unddas ist ein Schnäppchen .
Denn damit würde eine sogenannte Standardrente nach45 Berufsjahren von aktuell 1 370 auf 1 522 Euro stei-gen . Monatlich wären das 152 Euro mehr Rente . Das istdie linke Alternative zu Riester . Es ist eine gute Alterna-tive, finde ich. Das muss drin sein.Herzlichen Dank .
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-ordneten Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion .
Matthias W. Birkwald
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Jeder deutsche Erstklässler weiß: Wenn er sich spätes-
tens zum Beginn der Europameisterschaft im Fußball ein
neues Trikot von seinem Taschengeld kaufen will, dann
kann er das ihm am Monatsanfang von seinen Eltern
ausgezahlte Taschengeld nicht gleich für mehrere große
Eisbecher zu 100 Prozent verausgaben, sondern er muss
etwas davon zurücklegen . Das, was jeder deutsche Erst-
klässler weiß, wissen, glaube ich, die meisten Menschen
in Deutschland, aber nach dieser Rede muss ich feststel-
len: Die Linke weiß das nicht .
Aus dem Bundeshaushalt fließen über 80 Milliarden
Euro jährlich in die gesetzliche Rentenversicherung, die
umlagefinanziert ist.
Das ist eine großartige Leistung, mit der wir aus Steuer-
mitteln die Renten mit unterstützen . Herr Birkwald hat
von 3 Milliarden Euro gesprochen . Es ist sicherlich noch
mehr, wenn man sich anschaut, was der Staat denjenigen
an Unterstützung gibt, die für die Zukunft noch zusätz-
lich etwas ansparen wollen, einmal über die Zulage zur
kapitalgedeckten privaten Altersvorsorge, sprich Ries-
ter-Sparen,
und durch den Verzicht auf Steuern auf die sogenannte
Entgeltumwandlung zur Finanzierung einer betriebli-
chen Altersvorsorge . Aber wenn man auch dieses Geld,
das für das Ansparen für die Zukunft vorgesehen ist, jetzt
einfach eins zu eins nimmt und als zusätzlichen Bundes-
zuschuss in die Rentenkasse einzahlt, passiert Folgendes:
Der Rentenversicherungsbeitrag sinkt, übrigens auch für
den Arbeitgeber,
also er spart etwas – das steht im Gegensatz zu dem, was
die Linken wollen –, aber für die Zukunft fehlt das Geld
aus der zusätzlichen Altersvorsorge . Das ist der Effekt
von dem, was die Linken hier vorschlagen .
Nun hat die Linke gehofft, dass sie mit einem Gutach-
ten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bun-
destages, das sie in Auftrag gegeben hat, ihre Position
untermauert bekommt . Leider hat Kollege Birkwald uns
die letzten Sätze dieses Gutachtens vorenthalten .
Deswegen lese ich sie Ihnen wortwörtlich vor:
Würden nun in größerem Ausmaß aufgrund der
Übertragung von Altersvorsorgevermögen in die
gesetzliche Rentenversicherung höhere Beitragsein-
nahmen zu verzeichnen sein, würden die heutigen
Beitragszahler und Rentenberechtigten von einem
niedrigeren Beitragssatz und höheren Renten pro-
fitieren. Wenn dann später aus der Übertragung
Rentenleistungen zu gewähren sind, hat dies wie-
derum Auswirkungen auf den Beitragssatz und die
Rentenhöhe . Durch die höheren Ausgaben ergäben
sich dann ein höherer Beitragssatz und niedrigere
Renten . Benachteiligt wäre insbesondere die spätere
Generation der Beitragszahler .
Das ist das Resümee der Stellungnahme des Wissen-
schaftlichen Dienstes . Genau so ist es auch .
Herr Kollege, der Kollege Matthias W . Birkwald wür-
de gerne eine Zwischenfrage stellen . Wollen Sie sie zu-
lassen?
Bitte schön .
Vielen Dank, Herr Weiß . – Herr Weiß, unser Ziel war,erst einmal herauszubekommen, ob es verfassungsgemäßwäre, die Riester-Guthaben in die gesetzliche Rentenver-sicherung zu übertragen . Da hat das Gutachten gesagt:Ja, wenn das freiwillig erfolgt, ist das so . – Das halte icherst einmal fest .Darüber hinaus hat das Gutachten Ceteris-paribus-Be-dingungen genannt . Das bedeutet: Wir sind der Gesetz-geber, uns obliegt es, die Rentenanpassungsformel undauch die Rentenformel zu ändern, wenn es hier die ent-sprechende Mehrheit und die politische Einsicht gäbe .Uns obliegt es, beispielsweise dafür zu sorgen, dass dieNachhaltigkeitsrücklage stärker wachsen kann und derDeckel, den es heute gibt, wegfällt . Das heißt, es gibtzahlreiche Möglichkeiten, dafür zu sorgen, dass das, wasim Gutachten drinsteht, nicht passiert .Ich will Ihnen noch einmal sagen: In Österreich wirdes genau so gemacht . Dort gibt es eine deutlich höhereRente – ich habe Ihnen die Zahlen vorgetragen –, undalles ist stabil . Deswegen bitte ich Sie: Sagen Sie docheinmal etwas dazu, dass jemand nach den heutigen Re-gelungen 108 Euro in Riester stecken muss, wenn eroder sie durchschnittlich verdient, und dass das mit ei-ner Stärkung der gesetzlichen Rentenversicherung mit35 Euro für den Arbeitnehmer bzw . die Arbeitnehmerinund 35 Euro für den Arbeitgeber bzw . die Arbeitgeberinzu erledigen wäre . Man bräuchte also, wenn man die Zu-lagen nicht mitrechnet, insgesamt 38 Euro weniger . DerPunkt ist nämlich, dass wir den Versicherungsunterneh-men dieses Geld wegnehmen wollen . Für die Beschäf-
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tigten wäre das deutlich besser . Was sagen Sie zu diesemArgument?
Herr Kollege Birkwald, Sie machen es nicht besser .Erstens . Natürlich – da haben die Gutachter recht –:Wir als Deutscher Bundestag können die Rentengesetz-gebung verändern; gar keine Frage . Das machen wir auchhin und wieder .Zweitens . Ihre schlichte Behauptung ist: Wenn mandas Geld, das der Staat denjenigen, die für die Zukunftsparen wollen, wegnimmt und es in die Rentenkasse ein-zahlt, wird eine höhere Rente herauskommen . – Genaudas ist falsch . Es wäre ein Vorteil für die heutigen Bei-tragszahler, weil der Beitragssatz sinken würde . Aber eswäre eine Belastung für die künftigen Generationen, dieauch noch eine Rente bekommen wollen .
Das ist das Ergebnis der Untersuchung des Wissenschaft-lichen Dienstes . Genau das habe ich Ihnen eben vorge-halten, und dem haben Sie auch nicht widersprochen .
Da Sie auf Österreich und die Schweiz hinweisen,muss ich Ihnen übrigens sagen: Die Deutsche Rentenver-sicherung bzw . die gesetzliche Rente steht hervorragendda . Sie verfügt über eine hervorragende Rücklage .
Die Österreicher und die Schweizer haben mit der Finan-zierung ihrer Rentensysteme schwer zu kämpfen; das istleider die Wahrheit .
Nun will ich ja nicht bestreiten, dass es Reformbedarfgibt . Wir wollen die Reformen aber nicht so durchfüh-ren, wie Sie es machen wollen . Es gibt einen Reform-bedarf bei der gesetzlichen Rente, die Gott sei Dank gutdasteht . So sieht die Gesetzgebung von 2001 zum Bei-spiel vor, dass es nach dem Jahr 2030 kein Mindestsiche-rungsniveau mehr gibt . Ich glaube, gerade an die jungeGeneration muss es eine klare Ansage geben: Auch fürdie Zukunft wollen wir, dass die starke erste Säule derAltersversorgung in Deutschland, nämlich die gesetzli-che Rentenversicherung, stabil bleibt und dass sie eineMindestsicherungszusage für die junge Generation bein-haltet . Das ist, glaube ich, eine Reformaufgabe, die voruns liegt, eine Aufgabe, die die Bundesregierung im Ren-tendialog jetzt übrigens auch anpacken will .
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutsch-land haben schon vor der Rentenreform 2001 gewusst,dass es sinnvoll ist, die Altersvorsorge nicht nur auf einBein, sondern zumindest auf zwei Beine zu stellen . Diemeisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer habenzum Beispiel die vermögenswirksamen Leistungen, vondenen heute kaum noch jemand spricht, genutzt, um ei-nen Bausparvertrag oder eine Lebensversicherung abzu-schließen, oder sie haben sich angestrengt, ein eigenesHäuschen zu erwerben, auch als Rücklage für die eigeneAltersversorgung . 2001 wurde mit Blick auf das, was dieArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschlandohnehin wissen, lediglich ein zusätzlicher Anreiz gesetztbzw. eine zusätzliche finanzielle Unterstützung durchden Staat geschaffen .Meine sehr geehrten Damen und Herren, das ist eineLebensweisheit, die jeder kennt . Wenn ich meine Al-tersversorgung nicht nur auf ein Bein stelle, sondern sieauf zwei Beine stelle, ist das mit Sicherheit besser .Genau darum geht es . Sie betreiben eine Politik, mitder Sie die Bereitschaft der deutschen Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer, ihre Altersversorgung nicht nurauf die umlagefinanzierte Rente abzustellen, sondern fürsich selber auch noch etwas Zusätzliches anzusparen,
kaputtmachen . Wir wollen das Gegenteil . Wir wollendiese Bereitschaft stärken .
Viel Kritik an der Riester-Rente ist berechtigt . Deswe-gen ist sie auch reformbedürftig . Ich würde aber niemalsdie öffentliche Förderung abschaffen .Übrigens kommt Folgendes hinzu: Die öffentlicheFörderung der privaten Altersvorsorge ist die einzi-ge Form, bei der auch konkret etwas für Familien mitKindern geleistet wird . Für jedes Kind gibt es nämlich300 Euro jährlich .
Diese 300 Euro will Herr Birkwald ebenfalls in den gro-ßen Topf schmeißen – mit dem Ergebnis, dass die Fami-lien nichts von dem Geld sehen, das man ihnen gebenwollte, damit sie trotz der hohen Aufwendungen für dieFamilie ein bisschen finanziellen Spielraum haben, umzusätzliche Altersvorsorge zu betreiben . Dieses Geld willHerr Birkwald ihnen wegnehmen und es in den großenallgemeinen Rententopf schmeißen .
Damit begehen Sie ein Verbrechen an den Familienin unserem Land, deren Leistung schlichtweg nicht mehranerkannt wird .
Matthias W. Birkwald
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Die Linken wollen die Familien enteignen und diesesGeld in den großen allgemeinen Rententopf schmeißen .Das ist die Wahrheit .
– Das ist so .
– Es ist so .
Zweitens . Wir wissen, dass wir für die zusätzliche Al-tersvorsorge etwas tun müssen . Deswegen sind wir zur-zeit in sehr engen Gesprächen und Verhandlungen darü-ber, die betriebliche Altersvorsorge als eine Möglichkeiteiner kapitalgedeckten Altersvorsorge zu stärken .Die Gutachten, die von Arbeitsministerium und Fi-nanzministerium in Auftrag gegeben worden sind, liegenvor . Darin wird uns zum Beispiel empfohlen, dass wirfür Geringverdiener zusätzlich ein eigenes Förderinstru-mentarium schaffen . Ja, das ist richtig . Geringverdienerhaben die größten Schwierigkeiten, zusätzlich etwas zumachen . Deswegen brauchen sie auch zusätzliche Unter-stützung . Das wollen wir umsetzen .In dieser Rentendebatte, die die Linke wieder einmalangesetzt hat, komme ich auf die Erstklässler zurück .Wäre das, was da vorgeschlagen worden ist, das Resultateines Erstklässlers, das im Zeugnis benotet werden müss-te, stünden bei Lesen eine Fünf, bei Rechnen eine Sechs,bei Märchenerzählen eine Eins .Vielen Dank .
Als nächster Redner erhält das Wort Markus Kurth,
Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Meine Damen und Herren! Nachdem wir hier ebenetwas von Enteignung und Verbrechern gehört haben,sollten wir jetzt verbal wieder einen Gang zurückschal-ten . Ich habe immer noch das Gefühl, dass ich auch ohnePolizeischutz noch ganz gut hier vorne stehen kann .Kaum ein Satz ist an diesem Pult häufiger gefallen alsder Ausspruch: „Politik beginnt mit dem Betrachten derWirklichkeit“,
und selten war es so einfach wie heute bei diesem The-ma . Man muss sich nämlich nur einmal die gesammel-ten schriftlichen Fragen und mündlichen Anfragen vonBündnis 90/Die Grünen zum Thema Riester-Rente ausden letzten anderthalb Jahren angucken, um ein ziemlichgenaues Bild von der Lage zu bekommen .Wem das zu viel Arbeit ist, dem empfehle ich die Do-kumentation unseres Fachgesprächs „Ist Riester noch zuretten?“ vom März 2015 .
Dort kann man alles sehr gut nachlesen .Die nackten Zahlen sind ebenso einfach wie leiderzum Teil auch erschreckend . Wir sehen, dass die Zahl derVerträge seit einigen Jahren bei über 16 Millionen sta-gniert . Besorgter stimmen muss allerdings, dass längstnicht alle Verträge bespart werden . Voll bespart werdenausweislich der jüngsten Kleinen Anfrage nur noch ins-gesamt 6 Millionen dieser Verträge .
Wir müssen sehen, dass die Grundannahmen, die 2001in einem zugegebenermaßen sehr optimistischen Klimader Finanzmärkte getroffen worden sind – 4 Prozentdurchschnittliche Rendite, 10 Prozent Verwaltungskos-tenbegrenzung –, so nicht eingetreten sind .Letztlich müssen wir uns auch noch einmal anschau-en, wie sich die Förderung zwischen den besonders vonAltersarmut bedrohten Geringverdienenden und denBesserverdienenden verteilt . Da sehen wir eben ganzklar, dass Geringverdienenden nur ein sehr kleiner Teilder staatlichen Förderung im Rahmen der Riester-Rentezufließt und sie überwiegend zur Gruppe derjenigen ge-hören, die ihre Verträge im Moment beitragsfrei stellen .Angesichts dieses Gesamtbildes muss man sich alsodie Frage stellen: Ist die Riester-Rente geeignet, das Ab-sinken des Rentenniveaus, das mit dem Aufbau der För-derung einherging, auszugleichen? Nein, das ist sie leidernicht . Insofern kann und muss man zunächst einmal dieAussage treffen: Als systematische Lösung ist die soge-nannte Riester-Rente gescheitert .
Das bedeutet nicht – das will ich ausdrücklich dazu-sagen –, dass individuell jeder Vertrag gescheitert ist . Ichfinde, da muss man schon, um die Menschen in diesemLand nicht zu verunsichern, genau argumentieren . Werbeispielsweise aufgrund von vielen Kindern eine höhe-re Zulage bekommt, für denjenigen oder diejenige – dassind insbesondere die Frauen – wird es sich auch in Zu-kunft lohnen, den Riester-Vertrag weiterzuführen . Fürdiese Personen kommt auch eine angemessene Renditeheraus . Hier muss man zwischen systematischer und in-dividueller Sicht unterscheiden .
Peter Weiß
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Was aber die Gesamtlösung anbelangt – das hat in-zwischen sogar Herr Weiß von der Union zugegeben –,besteht dringender Reformbedarf .
Die Frage ist jetzt: Was tun? Die Lösung, die die Frak-tion Die Linke hier vorgeschlagen hat, basiert auf einerRechnung, die die langfristigen Kosten vollständig außerAcht lässt . Sie sagen, dass jetzt, um das Rentenniveauzu erreichen, wenn man die Riester-Rente abschaffte,durchschnittlich ein um 70 Euro höherer Beitragssatznotwendig ist . Sie sagen aber nicht, was das denn in derFortschreibung für das Jahr 2030 und darüber hinausbedeutet . Sie sagen, dass jetzt eine Beitragssatzerhö-hung um 2,3 Prozent notwendig ist . Das bedeutet aber,dass wir noch die steigenden Beitragssätze ab den Jah-ren 2025 mit in Rechnung stellen müssen . Ich bitte Siealso, sozusagen das Gesamtbild zu zeichnen .
Herr Kollege Kurth, Herr Birkwald möchte gern etwas
zum Gesamtbild sagen . Möchten Sie das zulassen?
Ja, ich lasse das zu .
Bitte schön .
Vielen Dank . – Ich habe mit der Kritik gerechnet . Des-
wegen haben wir auch ausgerechnet, was das Ganze im
Jahr 2029 kosten würde . Dazu muss man aber wissen,
dass das Durchschnittseinkommen nach den Annah-
men der Bundesregierung im Jahr 2029 bei 4 400 Euro
und nicht wie heute bei 3 000 Euro liegen würde . Dann
würde das, was ich eben vorgetragen habe, nämlich ein
lebensstandardsicherndes Rentenniveau in der gesetzli-
chen Rente, 99 Euro mehr im Monat kosten, wäre also im
Jahr 2029 für durchschnittlich verdienende Beschäftigte
sogar immer noch 9 Euro günstiger als heute, also in ei-
ner Zeit, in der sie 1 400 Euro weniger an Einkommen
haben . Das kann man nachlesen . Man muss auch beden-
ken, dass nach dem jetzigen Riester-Gesetz die Men-
schen in 2029 mit dem dann höheren Gehalt 164 Euro
für die Riester-Rente bezahlen müssten, wenn sie durch-
schnittlich verdienten .
Ich halte fest: Auch im Jahr 2029 sind nach den jetzi-
gen Daten und Annahmen der Bundesregierung 65 Euro
weniger zu bezahlen, wenn wir die gesetzliche Rente
stärkten und nicht bei Riester blieben . – Ich hoffe, ich
konnte mit diesen Hinweisen helfen .
Sie haben aber, Herr Birkwald, nicht gesagt, bei wel-chen Beitragssätzen wir dann am Ende im Jahr 2030 lan-den . Das haben Sie in anderen Debatten gesagt . Da sindWerte von bis zu 28 Prozent gefallen . – Ja, Sie nickenund bestätigen das hiermit .Ich möchte, wenn man den Grundsatz, dass Politik mitdem Betrachten der Realität anfängt, ernst nimmt, dochsagen, was dies im Gesamtbild der Sozialversicherungs-beiträge bedeutet .
Wir wissen ja, dass wir auch in der Kranken- und Pfle-geversicherung mit Sicherheit – eine vernünftige Kran-ken- und Pflegeversorgung wollen ja alle haben – höhereBeiträge zu gewärtigen haben .
Der Punkt ist, dass wir uns an dieser Stelle über syste-matische Lösungen Gedanken machen . Die Lösung, dieBündnis 90/Die Grünen schon seit Jahren vorschlagen,ist die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage und bei-spielsweise die Verbreiterung des Sozialschutzes mit derBürgerversicherung .
Auch der Blick ins Ausland, den Sie bemühen, be-darf einer vollständigen Betrachtung . Sie haben eben dasBeispiel Dänemark angeführt . Wir waren gerade letzteWoche in Dänemark, um uns das dortige System anzu-sehen . Das Versorgungsniveau ist dort in der Tat deut-lich höher . Aber dabei handelt es sich nicht allein umdas gesetzlich garantierte Versorgungsniveau; denn einGroßteil davon ist auf eine kapitalgedeckte betrieblicheAltersversorgung zurückzuführen, die, weil tariflich breitabgestützt, nahezu verpflichtend ist. Sie wissen genausowie ich – wir waren ja beide dort –, dass das betrieblicheKapitalvermögen und das in Pensionsfonds gesammelteVermögen 200 Prozent des Bruttoinlandsprodukts vonDänemark entspricht . Das ist für ein Land mit 5,6 Milli-onen Einwohnern, das das Vermögen seit über 50 Jahrenaufgebaut hat, eine zurzeit noch interessante Perspekti-ve . Auf Deutschland übertragen bedeutete das, dass wir6 Billionen Euro Kapital ansparen müssten . Allein dieseGrößenordnungen zeigen, dass derjenige, der einfach nurmit dem Finger auf das Ausland zeigt, Äpfel mit Birnenvergleicht .
Das Gleiche gilt in anderer Weise für Österreich .Man darf auch die dortige Rentenversicherung nichtisoliert betrachten, sondern muss – hören Sie zu, HerrBirkwald! – auch die Krankenversicherung berücksich-tigen, die bei weitaus niedrigeren Beitragssätzen we-sentlich stärker steuermitfinanziert ist, sodass sich derGesamtsozialversicherungsbeitrag für die Arbeitgeberanders darstellt .Ich bitte darum, dass wir, wenn wir internationale Ver-gleiche ziehen, nicht immer nur sozusagen Scheuklappenanlegen und einen ganz kleinen Ausschnitt betrachten .Damit trägt man nichts zur Klärung der Wirklichkeit bei .
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Was wir jetzt vorschlagen, geht allerdings deutlichüber die vagen Andeutungen von Herrn Weiß hinaus . Wirhaben unseren Antrag zur Reform der Riester-Rente ein-gebracht . Wir werden auch in unserer Partei – das sageich offen – noch Diskussionen über Sinn und Unsinn vonFörderung führen . Stand ist, dass diese unsere Fraktionhier in der Mitte des Hauses vorschlägt, die Förderungneu zu justieren und sie durch eine Anhebung der Grund-zulage, die seit Jahren nicht mehr gestiegen ist, auf Ge-ringverdiener zu konzentrieren .Gleichzeitig wollen wir ein sogenanntes Basisproduktin öffentlich-rechtlicher Trägerschaft einführen . Dasheißt, die Versicherten würden künftig nicht mehr mitVertriebskosten, Provisionen und anderem belastet . Daswürde deutlich attraktiver und transparenter für die Ver-sicherten . Es soll ein gutes Angebot mit Wahlmöglichkei-ten sein . Versicherte sollen ebenfalls die Möglichkeit ha-ben, geförderte Beiträge in eine Betriebsrente oder auchin die gesetzliche Rentenversicherung einzuzahlen, dieeine gar nicht so schlechte Rendite aufweist . Das wärealso echte Wahlfreiheit .
Das sind, glaube ich, Punkte, die es verdienen, bera-ten zu werden . Ich sage auch ganz offen: Wir werden si-cherlich nicht mit einer reformierten Riester-Rente odereinem Basisprodukt alleine das 4-Prozent-Rendite-Zielerreichen . Darum – auch das sagen wir klar – müssenwir uns im Zusammenhang mit dem Rentenniveau drin-gend über eine Mindestsicherung Gedanken machen . Wirwerden dazu Vorschläge machen . Wir wollen das Niveaustärken . Aber wir wollen kein Wolkenkuckucksheim à laLinke und auch keine Vorschläge aus dem Bauch herauswie die von Sigmar Gabriel, sondern wir wollen finan-zierbare Vorschläge machen .
Außerdem sagen wir: Für jahrzehntelang versicher-te Personen muss es eine garantierte Mindestsicherunggeben; das ist die Garantierente . Wenn man die privateVorsorge attraktiv halten will, dann heißt das auch, dassprivate Sparbeträge nicht auf diese Garantierente ange-rechnet werden dürfen .Nur durch ein Konzert dieser Gesamtmaßnahmenkommt man zu einer nachhaltigen Rente, die den Men-schen ein verlässliches Niveau verspricht, statt ihnen nurSand in die Augen zu streuen .Vielen Dank .
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Ralf Kapschack, SPD-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ver-ehrte Zuschauerinnen und Zuschauer! Eine ausreichendeAbsicherung im Alter ist eines der zentralen Versprechendes Sozialstaats . Wer jahrelang gearbeitet hat und trotz-dem mit der Angst lebt, im Alter in Armut zu fallen, derhat wenig Vertrauen in diesen Sozialstaat, und er hat auchwenig Vertrauen in diejenigen, die politische Entschei-dungen treffen . Deshalb geht es in dieser Debatte längstnicht nur um Zahlen .Für uns steht ohne Frage die gesetzliche Rente im Mit-telpunkt der Alterssicherung . Sie muss gestärkt werden .
Die weitere Absenkung des Rentenniveaus ist aus unse-rer Sicht nicht vernünftig .Natürlich müssen wir auch – deswegen diskutierenwir heute über dieses Thema – Konsequenzen aus denErfahrungen mit der Riester-Rente ziehen . Der Vorwurfallerdings: „Riester lohnt nicht, ein Sparstrumpf bringtmehr“ – den haben wir ja immer wieder gehört –, trifftso nicht zu . Das sage nicht ich, sondern die ZeitschriftFinanztest. Ich zitiere:Wer einen guten Vertrag abschließt, erreicht durchdie staatliche Förderung eine ganz ordentliche Ren-dite auf seine Riester-Beiträge . Sie ist jedenfallshöher als bei anderen vergleichbaren Produkten,beispielsweise einer privaten Rentenversicherung .
Deshalb macht es wenig Sinn, denjenigen, die einen ent-sprechenden Vertrag abgeschlossen haben, einzureden,sie hätten ihr Geld zum Fenster herausgeschmissen .
Unstrittig – das sage ich hier auch ganz klar – ist: DieRiester-Rente hat die Erwartungen nicht erfüllt . Da sindwir uns einig . Sie war und ist zu kompliziert und zu teu-er . Und vor allem: Diese Form der zusätzlichen Alters-vorsorge nutzen viel zu wenige Frauen und Männer . Mitrund 16 Millionen Verträgen ist das Ziel längst nicht er-reicht, die Riester-Rente als Vorsorge für alle zu etablie-ren, um die Einbußen bei der gesetzlichen Rente auszu-gleichen . Gerade die, die es besonders nötig hätten, wiezum Beispiel Geringverdiener, haben von diesem Ange-bot kaum Gebrauch gemacht . Viele hatten und haben of-fenbar nicht das Geld, um etwas auf die Seite zu legen .Manche haben es vielleicht, tun es aber trotzdem nicht .Nur, wenn in der Rentenformel unterstellt wird, alle tunes, aber maximal die Hälfte es tatsächlich tut, kann mandavor die Augen nicht verschließen .
Markus Kurth
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– Moment! Matthias Birkwald, hören Sie doch einmalzu!
Sie kommen jetzt mit der Idee: Lasst uns doch dieRiester-Guthaben in die gesetzliche Rentenversicherungüberführen . Das hört sich plausibel an – ich habe grund-sätzlich auch kein Problem damit –, aber ganz so einfachist es nicht . Ich hatte mir auch das Zitat aus dem Gut-achten des Wissenschaftlichen Dienstes herausgesucht;daraus zu zitieren, kann ich mir jetzt sparen . Das Ergeb-nis dieses Gutachtens ist: Rechtlich ist das machbar; dieheutigen Rentner und Beitragszahler würden profitieren;für die Zukunft hätte das aber negative Auswirkungen –unter sonst gleichen Voraussetzungen .
Die Riester-Rente hat die Erwartungen nicht erfüllt,ja, aber wir ziehen daraus andere Konsequenzen als Sie .Klar ist, alle laufenden Riester-Verträge müssen ge-schützt und weiterhin gefördert werden . Künftig wollenwir aber die betriebliche Altersversorgung ausbauen .Denn die betriebliche Altersversorgung ist für uns diebeste Ergänzung zur gesetzlichen Rente . Wir wollen des-halb eine flächendeckende, obligatorische Betriebsrentemit klarem und verbindlichem Rahmen und einem Vor-rang für tarifliche Lösungen.
Wir wollen kollektive Lösungen, die Verwaltungskostenminimieren und die Übertragbarkeit bei einem Jobwech-sel garantieren .Riester hat auch deshalb nicht funktioniert, weil esnicht obligatorisch war .
Diesen Konstruktionsfehler müssen wir bei einer betrieb-lichen Altersversorgung vermeiden . Jeder Arbeitsvertragsollte künftig ein Angebot für eine betriebliche Altersver-sorgung erhalten – möglichst mit finanzieller Beteiligungdes Arbeitgebers .
Da ist noch reichlich Luft nach oben . In der privatenWirtschaft haben gerade einmal 50 Prozent der Beschäf-tigten einen Anspruch auf eine Betriebsrente . Es gehtauch anders: In Dänemark – das ist ja eben schon genanntworden – sind es deutlich über 80 Prozent .Und Luft nach oben ist auch bei der Absicherung vonGeringverdienern im Alter . International stehen wir danicht so richtig gut da . Deshalb wollen wir vor allem Ge-ringverdienern den Zugang zur betrieblichen Altersver-sorgung erleichtern . Entsprechende Vorschläge, wie mandas mit Zulagen erreichen kann, werden gerade im Fi-nanz- und im Arbeitsministerium erarbeitet .Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Betrieb-liche Altersversorgung ist für uns kein Nice-to-have, be-triebliche Altersversorgung ist für uns ein Must-have .
Sie ist ein sinnvolles Instrument der Sozialpolitik . Des-halb wollen wir sie stärken . Betriebliche Altersversor-gung muss auch in kleinen und mittleren Betriebenselbstverständlich werden .Und noch einmal: Das hat auch etwas mit Gerechtig-keit zu tun . Denn wir wollen nicht, dass weiterhin nurBeschäftigte in Großbetrieben und in gut organisiertenBranchen Zugang zur betrieblichen Altersversorgung ha-ben .
Es gibt noch ein paar andere Stellschrauben, die fürdie Verbreitung von betrieblicher Altersversorgung wich-tig sind . Als Allererstes muss sich Sparen lohnen . Werwegen einer Minirente im Alter auf Grundsicherung an-gewiesen ist, sollte zumindest einen Teil seiner Betriebs-rente behalten dürfen, ohne dass diese mit der staatlichenHilfe verrechnet wird . Auch über den Krankenkassenbei-trag müssen wir sicherlich noch einmal reden .Im Herbst wird Andrea Nahles ein Konzept zur Alters-sicherung vorlegen . Das ist ein hartes Stück Arbeit . DieSPD-Fraktion steht ihr dabei mit Rat und Tat zur Seite .Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Susanna Karawanskij, Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Siekommen nicht darum herum: Die Riester-Rente war undbleibt ein Rohrkrepierer .
Sehen Sie endlich den Realitäten ins Auge: Sie konntenie die politisch herbeigeführte Sicherungslücke in dergesetzlichen Rente schließen . Nicht einmal die Hälfte derFörderberechtigten hat überhaupt einen Riester-Vertragabgeschlossen . 20 Prozent der Verträge sind beitragsfreigestellt . Von der Riester-Förderung und den Steuernach-lässen profitieren – das haben wir schon gehört – eherdie Einkommensstarken als die Geringverdiener . Diehohen Provisions- und Verwaltungskosten zehren dannnoch die theoretische Rendite auf . Um sein eingezahltesEntgelt noch herauszubekommen, muss man fast so altwerden wie Methusalem . Die Riester-Rente ist für dieVersicherten letztendlich teurer als die gesetzliche Rente .Verkaufen Sie die Leute draußen nicht für dumm! SagenSie klipp und klar: Die Riester-Rente war ein Schuss inden Ofen .
Ralf Kapschack
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17047
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Legen Sie den Rückwärtsgang ein, und stärken Sie diegesetzliche Rente!
Beenden Sie die Förderung der privaten Altersvorsorge,und schaffen Sie für die Sparerinnen und Sparer eineMöglichkeit, ihre Riester-Rente freiwillig in die gesetzli-che Rente zu überführen .
Das Grundproblem der dritten Säule, also der priva-ten und kapitalgedeckten Vorsorge, besteht ja eben da-rin, dass die Renditen von den Launen der Finanzmärkteabhängig sind . Das sehen wir doch auch bei den kapital-basierten Lebensversicherungen, die schon immer sehrteure Produkte waren: In Zeiten niedriger Zinsen wiejetzt wurden die Versicherungskonzerne gepäppelt, dieVersicherten weiter geschröpft . Die Bewertungsreservenwurden gekürzt . Die Überschüsse, die mit dem Geld derKunden erwirtschaftet wurden, werden einbehalten undnicht an die Versicherten ausgeschüttet . Der Garantiezinsist im freien Fall . Gleichzeitig liest man, dass die Versi-cherungsunternehmen weiterhin Gewinne einfahren, vondenen vor allen Dingen die Aktionäre profitieren. Le-bensversicherungen sind der Goldesel für die Versiche-rungen – zulasten der Versicherten . Um es noch einmaldeutlich zu sagen: Ob Riester-Rente oder Lebensversi-cherung, die dritte Säule der Altersvorsorge zerfällt nachund nach . Hier darf man den Bürgerinnen und Bürgernnicht länger Sand in die Augen streuen .
Weil das gerade betont wurde: Auch die zweite Säule,die betriebliche Altersvorsorge, zerbröselt zunehmend .Dr . Frank Grund, Exekutivdirektor der Versicherungs-aufsicht bei der BaFin, sagte Mitte Mai:Möglicherweise können daher bald einzelne Pensi-onskassen nicht mehr aus eigener Kraft ihre Leis-tungen in voller Höhe erbringen .Das klang schon wie eine Warnung . Wenig überraschendkonnte man dann vergangenen Dienstag im Internetauf-tritt der Süddeutschen Zeitung lesen: „Erste Pensionskas-se senkt Betriebsrenten“ . Im Schnitt gibt es dort 16 Pro-zent weniger Betriebsrente .Ob nun bei der privaten oder der betrieblichen Vorsor-ge, die Bürgerinnen und Bürger erfahren hautnah, dasssie später kaum noch das Geld, das sie eingezahlt haben,herausbekommen, geschweige denn, dass die Renditezur Armutsvermeidung im Alter reicht . Aus Angst vorAltersarmut und in Zeiten niedriger Zinsen folgen Ver-braucherinnen und Verbraucher verlockenden Verspre-chungen der Finanzbranche . Diese vermeintlich sicherenund renditestarken Geldanlagen entpuppen sich allzuoft als hoch riskant und vor allen Dingen als gänzlichungeeignet für die Altersvorsorge . Um hier Verbraucherzu schützen, muss man dafür sorgen, dass dieser ganzeFinanzschrott erst gar nicht auf den Markt kommt undAnleger schädigen kann .
Daher fordern wir eine verpflichtende Zulassungsprüfungsowohl für Geldanlagen als auch für Finanzpraktiken .
Wir brauchen einen Neuaufbau in der Altersvorsor-ge . Statt der vorhandenen drei dürren Ästchen, die wirda jetzt haben, brauchen wir wieder einen festen Stamm .Das ist die gesetzliche Rente . Dabei müssen Sie auch, umdas hier noch einmal deutlich zu sagen, die Lebensleis-tungen der Menschen in Ostdeutschland anerkennen undfür eine umfassende bzw . gerechte RentenüberleitungOst sorgen .
Wir haben das Konzept einer solidarischen Rentenver-sicherung mit einer gerechten Mindestrente vorgelegt . Esist jetzt an der Zeit, dass Sie Riester in Rente schicken .Vielen Dank .
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Jana Schimke, CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eines kannman den Linken nicht unterstellen: Sie hätten keinenSinn für Kreativität . – Nur schade, dass Ihre Ideen we-der zukunftsorientiert noch gerecht sind . Ich habe selteneinen Antrag gelesen, der in letzter Konsequenz so vielUngerechtigkeit in sich barg .
So möchte ich Sie fragen: Ist es gerecht, Politik für dieeinen zu machen und die anderen dafür zur Kasse zu bit-ten? Ist es also gerecht, das Rentenniveau dauerhaft auf53 Prozent festzuschreiben und dafür die Rentenbeiträgeder Arbeitnehmer in der Zukunft auf bis zu 28 Prozentzu erhöhen?
Sicher nicht, denn jeder zusätzliche Prozentpunkt fürdie Sozialversicherung nimmt den Beschäftigten etwasvom monatlichen Netto . Für andere notwendige Dingedes Alltags steht dieses Einkommen dann nicht mehr zurVerfügung .
Das kann die Miete sein, das kann die Autoreparatur seinoder der jährliche Familienurlaub .Wenn die Kaufkraft verloren geht, spüren wir das alledurch eine schwächere Konjunktur . Und das Einkommenfehlt am Ende auch in einem ganz entscheidenden Be-reich unserer Altersvorsorge: bei der Finanzierung desEigenheims . Jeder zusätzliche Prozentpunkt geht aufSusanna Karawanskij
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617048
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Kosten unserer wirtschaftlichen Entwicklung . HöhereSozialbeiträge machen Arbeit noch teurer und kostenschließlich Arbeitsplätze in Deutschland . Das könnenwir nicht wollen, meine Damen und Herren .Die derzeitige Lage am Arbeitsmarkt war noch nie sogut wie heute . Das belegen auch die aktuellen Zahlen derBundesagentur für Arbeit . Die Arbeitslosenquote liegtbei 6 Prozent, und mit 43,4 Millionen Menschen könnenwir derzeit von einer Rekordbeschäftigung in Deutsch-land sprechen . Dies sind alles Belege unserer guten Ar-beitsmarkt- und Wirtschaftspolitik der letzten Jahre . Da-rauf können wir stolz sein .
Diese Entwicklung aber setzt die Linke durch die Forde-rung nach höheren Beiträgen in der Rentenversicherungaufs Spiel .
Natürlich geraten unsere sozialen Sicherungssysteme,insbesondere die gesetzliche Rentenversicherung, zuneh-mend unter Druck . Weniger Kinder in Deutschland, eineimmer älter werdende Gesellschaft, die steigende Le-benserwartung und damit auch steigende Rentenlaufzei-ten führen dazu, dass das Sicherungsniveau der gesetzli-chen Rente sinkt . Aber gerade deshalb kann doch nichtdie Konsequenz sein, andere Formen der Altersvorsorgeinfrage zu stellen oder gar abzuschaffen . Ziel unserer Po-litik kann doch nicht sein, Dinge, die sich auch bewährthaben, abzuschaffen; vielmehr müssen wir versuchen,Hemmnisse und Hürden zu überwinden und für Verbes-serungen zu sorgen .
Warum ist das so sinnvoll? Weil die private und die be-triebliche Altersvorsorge eben zwingende Voraussetzun-gen sind, um Vorsorge individuell und auch krisensicherauszugestalten . Dazu zählt natürlich auch die staatlicheFörderung .
Die staatliche Förderung ist ein ganz entscheidenderAnreiz für die zweite und dritte Säule der Altersvorsor-ge, und beide dienen letztendlich dazu, Vorsorge für dieMenschen allumfassend auszugestalten . Deshalb, meineDamen und Herren, ist es wichtig, den Menschen mehrNetto vom Brutto zu lassen . So weit zum Grundsatz .
Jetzt fordern die Kollegen von der Linken, dass dieFörderung der privaten Altersvorsorge, also Riester, ab-geschafft wird und Sparvermögen freiwillig in die ge-setzliche Rente überführt wird . Die gesetzliche Rente istaber kein Versicherungssystem, liebe Kolleginnen undKollegen, in das jeder wie ihm beliebt einfach einmaleinzahlen kann und seine Rentenansprüche damit indivi-duell ausbauen kann .
Unser Rentensystem ist solidarisch und umlagefinan-ziert . Es fußt auf dem gesamten Erwerbsleben, in demjeder Beschäftigte seinen prozentualen Beitrag zu zahlenhat . Das heißt, heutige Arbeitnehmer zahlen die Rentenheutiger Rentner, und künftige Arbeitnehmer zahlen dieRenten künftiger Rentner . Wenn die Linke also fordert,dass Beschäftigte ihr Sparvermögen in die gesetzlicheRente einzahlen, dann sind es die künftigen Generatio-nen, die diesen höheren Rentenanspruch mit deutlich hö-heren Rentenbeiträgen zu finanzieren haben.
Das, meine Damen und Herren, ist nicht gerecht undkann nicht die Lösung sein .
Jetzt sind wir uns dessen, was sich auf den Finanz-märkten abspielt, bewusst . Wir wissen auch, dass wir dieFolgen der EZB-Niedrigzinspolitik, die sich natürlichauch auf die privaten und die betrieblichen Rentenan-wartschaften auswirkt,
schwerlich im Deutschen Bundestag überwinden können .Was wir aber tun können und auch tun werden, ist, dieprivate und die betriebliche Altersvorsorge – dazu zähltnatürlich auch Riester – wieder attraktiver zu machen .
Dazu müssen Mehrfachbelastungen und Bürokratie ab-gebaut werden . Das muss das Ziel unserer Politik sein .Wir alle hier in diesem Hause tragen Verantwortungfür eine gute und vor allem eine generationengerechteAlterssicherung . Weil das so ist, werden wir den Antragder Linken heute ablehnen .
Vielen Dank .
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Cansel Kiziltepe, SPD-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Frau Schimke, ich habe den Ein-Jana Schimke
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druck, dass nicht nur Sie, sondern Ihre gesamte Fraktiondie volkswirtschaftlichen Gesamtkosten der Alterssiche-rung in Deutschland verkennen .
Wenn man die Zahlen für 2020 zugrunde legt – da sollder Beitragssatz für die Arbeitgeber und auch für die Ar-beitnehmer 11 Prozent nicht übersteigen; zugleich solldas Sicherungsniveau in der ersten Säule konstant blei-ben –, dann darf man nicht vergessen, dass die Arbeitneh-mer mit 4 Prozent privat vorsorgen sollen .
Wenn ich diese Gesamtkosten addiere – 11 Prozent plus11 Prozent und 4 Prozent, welche die Arbeitnehmer allei-ne tragen –, komme ich auf 26 Prozent .
Ich möchte damit nur zeigen, dass die volkswirtschaftli-chen Gesamtkosten nicht anders sein würden . Es reichtalso nicht aus, hier nur anzuprangern, dass die Renten-versicherungsbeiträge zu hoch stiegen .
– Das sollte keine volkswirtschaftliche Nachhilfestundesein .
Ich gebe aber zu bedenken, dass Sie auch das berücksich-tigen sollten .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Teilprivati-sierung der Rente war von Anfang an umstritten . Nach15 Jahren sehen wir, dass die Riester-Rente ihr Ziel nichterreicht hat . Die Rentenniveauabsenkung konnte nichtausgeglichen werden . Im Jahr 2015 gab es 16 MillionenRiester-Verträge, aber nur noch in 12 Millionen wirdaktiv eingezahlt – und das bei einer Arbeitnehmerinnen-und Arbeitnehmerzahl von 38,5 Millionen . Das war nichtunser Ziel, und das ist auch nicht unser Ziel, liebe Kolle-ginnen und Kollegen .
Die Erwartungen, die mit der Riester-Rente verbundenwaren, haben sich nicht erfüllt . Vielen Menschen gelingtes immer weniger, die Rentenlücke zu schließen . Abergenerell davon zu sprechen, die Riester-Rente sei ge-scheitert, ist auch nicht ganz richtig .Wenn wir ernsthaft über die Probleme der Ries-ter-Rente sprechen, dann kommen wir um einen Punktnicht herum . Es sind nämlich gerade die Haushalte mitniedrigem Einkommen, die zwar in der Theorie starkdavon profitieren – das war auch unser Ziel –, aber beidenen es in der Realität ganz anders aussieht . Die Zahlendes Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zeigen,dass nur 7 Prozent der Angehörigen des untersten Ein-kommensdezils, also der untersten Einkommensgruppe,aktuell mit Riester sparen und, wenn man die Gesamt-förderung betrachtet, der Anteil noch viel niedriger liegt .
Was bedeutet das, liebe Kolleginnen und Kollegen? Die,die es gerade brauchen, erreichen wir mit diesem Instru-ment nicht . Und das geht nicht .Die Defizite der Riester-Rente sind ja vielfach benanntworden . Die Bürgerinnen und Bürger erwarten auch Ver-besserungen . Die staatliche Förderung in diesem Bereichist nicht gerade klein . Sie umfasst etwa 3 Milliarden Europro Jahr . Wir müssen schauen, ob der Fokus verlagertwerden kann . Aus meiner bzw . unserer Sicht müssen wirdie Riester-Produkte transparenter, einfacher und ren-diteträchtiger machen . Wir müssen aber auch schauen,ob wir Fördermittel und staatliche Subventionen auchanders nutzen können, zum Beispiel, um stärker in diebetriebliche Altersversorgung zu gehen .
Wir möchten die zweite Säule der Alterssicherungstärken . Hier muss es vorrangig darum gehen, gezieltGeringverdienerinnen und Geringverdiener zu stärken .
Das kann durch ein Obligatorium – dies wurde schongenannt – geschehen, aber auch dadurch, dass man dieArbeitgeber mit ins Boot holt .Ein weiterer Fokus muss – wie zum Beispiel in Däne-mark oder Schweden – auf ein Basisprodukt gelegt wer-den, das staatlich organisiert ist .Eines sollten wir nicht tun, nämlich, wie im Antrag derLinken gefordert, die bisher für Riester gezahlten Beiträ-ge in die gesetzliche Rentenversicherung zu überführen .
Damit würden wir weder Vertrauen in die gesetzlichenoch in die private Rentenversicherung schaffen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die Riester-För-derung im Rahmen der betrieblichen Altersvorsorgeheutzutage kaum genutzt wird, hängt unter anderem mitder doppelten Verbeitragung zusammen .
Das kann nicht so bleiben, liebe Kolleginnen und Kol-legen .
Wir diskutieren das in unserer Fraktion, und unsere Ar-beitsministerin arbeitet daran in ihrem Ministerium .Cansel Kiziltepe
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617050
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Die bestehenden steuerlichen Regelungen, die be-darfsgerechte Zulagenförderung und der Sonderausga-benabzug für Riester-Rentenbeiträge in der bAV müssenausgeweitet werden . Dazu liegen schon Vorschläge vor .Geringverdiener sollen auch in diesem Bereich gezieltergefördert werden . Das halte ich für eine sinnvolle Refor-moption .Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Geringverdie-ner in dieser Debatte zielgenauer gefördert werden müs-sen, darüber sind wir uns einig . Daran arbeiten wir . DasBundesarbeitsministerium wird im Herbst dazu, auchin Zusammenarbeit mit dem Bundesfinanzministerium,Vorschläge erarbeiten . Aber eines möchte ich an dieserStelle noch einmal sagen: Wir dürfen nicht verkennen,dass sich das Umlageverfahren im Vergleich zum kapi-talgedeckten System als stabiler und krisenfester bewährthat; das hat die Finanzkrise gezeigt .
Frau Kollegin .
Ich komme zum Ende, Herr Präsident .
Dazu hätten Sie schon längst kommen müssen .
Deshalb möchten wir als SPD-Bundestagsfraktion
eine starke erste Säule in der Alterssicherung, die für
eine lebensstandardorientierte Rente sorgt . Unsere Prio-
rität liegt hier .
Vielen Dank .
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Matthäus Strebl, CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! Frau Kollegin vom geschätzten Koalitions-partner SPD, die gerade gesprochen hat, zeitweise dach-te ich, Sie sprächen über die Riester-Rente und WalterRiester habe ehemals der CDU/CSU-Fraktion angehört .So ist es aber nicht . Ich kann mich noch gut daran erin-nern, dass hier in diesem Haus 2001 – ich gehörte schondamals dem Deutschen Bundestag an – über die Ries-ter-Rente in zweiter und dritter Lesung debattiert wordenist . Walter Riester saß damals auf der Regierungsbank,und für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sprach hierHorst Seehofer . Er wies damals auf die Schwierigkeitenhin . Heute wissen wir, dass wir in der Breite nicht daserreicht haben, was wir erreichen wollten . Deswegenmüssen wir bei der Riester-Rente reformieren, wie vonRednern schon mehrmals gesagt worden ist .
„Die Riester-Rente in die gesetzliche Rentenversiche-rung überführen“ lautet der Titel des Antrags der Links-fraktion . Lassen Sie mich zu Beginn einige Schlagzeilender letzten Tage zitieren . Da hieß es: „Sackgasse Ries-ter-Rente?“, „Rettung für Riester-Sparer gesucht“, „DieRiester-Rente muss bleiben“ . Damit wird deutlich, dasswir es mit einem Thema zu tun haben, das kontroversbetrachtet werden kann . Diese Pressemitteilungen lassenfür jeden erkennen: Es gibt keine einfache Lösung .Wichtig ist hierbei: Wir müssen die Alterssicherungaufgrund der demografischen, gesellschaftlichen undökonomischen Veränderungen anpassen . Gleichwohldarf dies nicht zulasten jüngerer Generationen gehen .Die gesetzliche Rente im Umlageverfahren ist und bleibtfür uns die wichtigste Säule . Dennoch dürfen wir die ka-pitalgedeckte Vorsorge als zweite und dritte Säule nichtvernachlässigen .Aufgrund des demografischen Wandels werden je-doch immer weniger Beitragszahler für die Finanzierungder Rente aufkommen . Deshalb ist es unausweichlich,dass die Altersvorsorge auf drei Säulen gestützt wird;Vorredner haben das schon gesagt . Nach Angaben desStatistischen Bundesamtes wurden in den Jahren 2001bis 2015 – darauf möchte ich hinweisen – 16 MillionenRiester-Verträge geschlossen . Diese Zahl könnte durch-aus höher sein . Dennoch spricht sie gegen eine Abschaf-fung der Riester-Rente .Natürlich gibt es auch eine hohe Anzahl von ruhendenVerträgen . Auch das muss bei einer ehrlichen Diskussionerwähnt werden . Es gehört aber auch zur Wahrheit, dassdie Riester-Rente kein Wundermittel ist . Die Idee derdamaligen Regierung war vielmehr die Schaffung einerweiteren Vorsorge und nicht eine unschlagbare Rendi-teoptimierung . Es war vor allem die Intention, neben ein-kommensschwachen Steuerpflichtigen auch kinderreicheFamilien zu unterstützen . So lautete die Aussage 2001,wenn ich mich richtig erinnere .Seit der Einführung der Riester-Rente haben – umauch das einmal zu erwähnen – über 2 000 Anbieter rund4 300 Produkte entwickelt . Zweifelsfrei gibt es dabeiauch Probleme: Die Riester-Rente ist, wie viele Kri-tiker bemängeln, ein sehr komplexes System mit einerVielzahl von unterschiedlichen Möglichkeiten, für dasAlter vorzusorgen . Da müssen wir ansetzen . Seit derWirtschafts- und Finanzkrise ist das Vertrauen in Finanz-dienstleistungen erheblich gesunken . Auch die mitunterhohen Abschluss- und Verwaltungskosten lassen denUnmut über Riester-Sparverträge noch steigen . VieleKunden bemängeln besonders die fehlende Transparenzüber die tatsächlichen Kosten, und durch die seit Jahrenandauernde Niedrigzinsphase ist die kapitalgedeckte Al-tersvorsorge natürlich weniger attraktiv als noch bei derEinführung 2002 .Cansel Kiziltepe
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Diese Einwände kann ich ohne Zweifel nachvollzie-hen . Vergessen dürfen wir aber bei dieser Diskussionnicht, dass Renditen langfristig betrachtet werden müs-sen . Die Riester-Rente ist – da stimme ich den Antrag-stellern ausnahmsweise zu – umstritten; aber die Ab-schaffung der Riester-Rente, werter Kollege Birkwald,halte ich für falsch . Allerdings stimme ich zu, wenn For-derungen nach der Vereinfachung der Riester-Rente undden Förderungsbedingungen laut werden, so wie es derKollege Peter Weiß bereits gesagt hat . Eine Optimierunghalte ich deshalb für geboten und unausweichlich .Werte Kolleginnen und Kollegen von der Linksfrak-tion, bei aller berechtigten Kritik an der Riester-Rentehalte ich Ihren Antrag für falsch . Sie fordern die Mög-lichkeit einer freiwilligen Überführung der Riester-Pro-dukte in die gesetzliche Rentenversicherung . Zunächststellt sich die Frage: Wie wollen Sie die Abschaffung denMenschen erklären, die auf die Einhaltung der Verträgevertrauen, genau den Menschen, die im Vertrauen auf diestaatliche Förderung die Riester-Verträge geschlossenhaben?
Diese Menschen sollen also dann keine staatliche Förde-rung für ihre Verträge mehr erhalten .
Neben dem Vertrauensschutz auf staatliche Förderungder Riester-Sparer spricht die Vermischung zweier unter-schiedlicher System gegen Ihren Antrag . Die heutigenBeschäftigten zahlen im Laufe ihres Erwerbslebens regel-mäßig Beiträge ein . Durch das Umlageverfahren werdendie Beitragsleistungen, wie wir wissen, für die Renten-zahlungen an die Rentnerinnen und Rentner verwendet .Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erhalten imGegenzug für ihre Beiträge einen Anspruch auf Renteim Alter, der dann von der nachfolgenden Beitragszahl-ergeneration finanziert wird. Wenn die Riester-Rente indie gesetzliche Rentenversicherung überführt wird, dannwerden die heutigen Rentnerinnen und Rentner durchdie höheren Beitragseinnahmen erheblich profitieren, dienachfolgenden Generationen jedoch benachteiligt . IhrenVorschlag bewerte ich deshalb als systemwidrig . Ebensowiderspricht er der Generationengerechtigkeit .Ich bin davon überzeugt, dass die Riester-Rente blei-ben muss; denn sie hat Potenzial . Dieses Potenzial, mei-ne sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, sollten wirnutzen . Wir lehnen daher den Antrag der Linksfraktionab .Herzlichen Dank .
Nächster Redner ist für die SPD der Kollege Dr . Martin
Rosemann .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will in die-ser Debatte noch einmal vier Punkte deutlich machen .Erster Punkt . Es ist ja mehrfach der Blick in andereLänder angesprochen worden . Ich bin immer sehr da-für, dass wir uns anschauen, was in anderen Ländern gutläuft, dass wir etwas von anderen Ländern lernen, dasswir über den Tellerrand hinausschauen . Aber wir solltendann auch sehr genau hinschauen und fragen, was viel-leicht nicht so leicht übertragbar ist und was da passiert .Insofern will ich gerne etwas zu Österreich sagen .Wenn Sie sich das österreichische System genau an-schauen, Herr Birkwald, dann werden Sie feststellen: DieÖsterreicher zahlen – das hat Herr Kurth vorhin schongesagt – deutlich höhere Beiträge zur Rentenversiche-rung, sie zahlen gleichzeitig deutlich geringere Beiträgein die Krankenversicherung . Dafür gibt es einen höherenSteuerzuschuss . Der Hauptpunkt aus meiner Sicht ist,dass die Österreicher vor etwas mehr als zehn Jahren dieSelbstständigen und Beamten in die Rentenversicherungeinbezogen haben. Das finde ich auch richtig.
Aber sie haben es so gemacht, dass die zusätzlich ein-genommenen Beiträge jetzt unmittelbar in Form höhererLeistungen ausgezahlt werden . Es gibt also zusätzlicheBeitragszahler, denen im Moment aber keine zusätzli-chen Empfänger gegenüberstehen . Das nutzen die Ös-terreicher, um damit das System im Moment stabil zuhalten, und verschieben damit aber die Lasten auf dieZukunft . Das halte ich für falsch .
Zweiter Punkt . Ich will auch einmal ganz deutlich ma-chen: Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra-ten ist die gesetzliche Rente die zentrale Säule unseresAlterssicherungssystems. Ich finde, da müssen wir unsüberhaupt nicht verstecken . Gerade in diesem Jahr habenwir Rentensteigerungen von 5 Prozent im Osten und über4 Prozent im Westen .
Ich finde, da kann man erst einmal sagen: Die Rentenver-sicherung in Deutschland steht gut da .
Natürlich müssen wir die gesetzliche Rente für die Zu-kunft stärken . Das Wichtigste ist dabei aus meiner Sicht,dass wir eine gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt,vor allem eine gute Entwicklung bei der sozialversiche-rungspflichtigen Beschäftigung in Deutschland haben.Deswegen ist Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitikdie wichtigste Rentenpolitik, meine Damen und Herren .
Deswegen arbeiten wir an Baustellen wie der Stärkungder Tarifbindung, Erhöhung der Erwerbsbeteiligung vonMatthäus Strebl
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Frauen, Integration von Flüchtlingen in den Arbeits-markt, Förderung von Langzeitarbeitslosen und Gering-qualifizierten.Es kommt aus meiner Sicht ein zweiter Punkt hinzu .Wenn wir das System der gesetzlichen Rente stärkenwollen – und wir wollen das –, dann müssen wir gesamt-gesellschaftliche Aufgaben – dazu gehört für mich auchdie Mütterrente – konsequent über Steuern finanzieren.
– Ja . Ich sage das in Richtung des Koalitionspartners,und das weiß er auch .Zur Stärkung der ersten Säule gehört aber auch einesganz klar: Wer sein Leben lang gearbeitet hat und Leis-tungen erbracht hat, der darf am Ende des Erwerbslebensnicht weniger als die Grundsicherung haben .
Dritter Punkt . Wir brauchen natürlich Antworten aufdie Herausforderungen des demografischen Wandels –die niedrige Geburtenrate und vor allem die ständig stei-gende Lebenserwartung . Dazu gehört aus meiner Sicht,dass wir die Lasten gerecht zwischen den Generationenverteilen und dass wir die Finanzierung der Alterssiche-rung tatsächlich auf mehrere Säulen stützen . Auch eininternationaler Vergleich, wie ihn viele hier gezogen ha-ben, zeigt, dass das Sicherungsniveau in den Ländern amhöchsten ist, die einerseits eine starke erste gesetzlicheSäule haben und andererseits mindestens eine zweite ka-pitalgedeckte Säule . Das war ja auch der Grund für dieEinführung der Riester-Rente . Meine Damen und Her-ren, diese Überlegung bleibt auch richtig .
Ich will an der Stelle deutlich sagen: Alle, die Ries-ter-Verträge abgeschlossen haben, haben richtig gehan-delt . Es gilt das, was Bundesarbeitsministerin AndreaNahles gesagt hat – ich zitiere –:Der Staat garantiert, dass alle Riester-Inhaber ihrGeld ausgezahlt bekommen . Auch für die staatli-chen Zulagen gibt es Vertrauensschutz, die zahlt derStaat weiterhin .
Vierter und letzter Punkt . Natürlich ist die Kritik –mehrere Vorrednerinnen und Vorredner haben es ange-sprochen – nicht von der Hand zu weisen: Wir habenProbleme bei der Ausgestaltung der Riester-Rente, mitIntransparenz, mit hohen Vertriebs- und Verwaltungskos-ten, mit in der Regel wenig rentablen Anlagestrategien .Daran müssen wir arbeiten . Wir müssen die kapitalge-deckte Altersvorsorge in Deutschland weiterentwickeln .Unser Ansatzpunkt ist – das hat Ralf Kapschack gesagt,das hat Cansel Kiziltepe gesagt –, dass wir die betriebli-che Altersvorsorge stärken wollen, dass wir einen deut-lich höheren Verbreitungsgrad erreichen wollen und dasswir die Sozialpartner stärken wollen .
Damit erhöhen wir die Verbindlichkeit . Damit erreichenwir mehr Beschäftigte, vor allem auch in kleinen undmittleren Betrieben, dadurch reduzieren wir Vertriebs-und Verwaltungskosten, damit ermöglichen wir optima-lere Anlagestrategien .Ich sage auch: Wir Sozialdemokraten setzen dabei we-niger auf Entgeltumwandlung und mehr auf arbeitgeber-finanzierte Betriebsrentenmodelle.
Wir halten nach den Erfahrungen der vergangenen zehnJahre eine gesetzliche Verpflichtung für sinnvoll.Mein Fazit: Ich finde, wir sollten uns dieser histori-schen Aufgabe gemeinsam annehmen und gemeinsamdafür sorgen, dass sich die Altersvorsorge weiterentwi-ckelt und dass sich die betriebliche Altersvorsorge voneinem Instrument der betrieblichen Personalpolitik zueinem Instrument der Sozialpolitik weiterentwickelt .Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
Abschließende Rednerin in dieser Aussprache ist die
Kollegin Anja Karliczek für die CDU/CSU .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenKolleginnen und Kollegen! Liebe Linke! Den Antrag,den Sie uns heute vorlegen, können Sie nicht wirklichernst meinen .
– Nein . – Die Linke will ein Instrument, das ganz gezieltKleinstverdienern und auch Kleinstverdienern mit Kin-dern überproportional unter die Arme greift, nicht refor-mieren – eine Reform kann ich mir ja noch vorstellen –,sondern abschaffen . Ihr Antrag zeugt entweder von blin-der Ideologie oder von Unkenntnis in der Sache . Alles,was Sie vortragen, blendet den demografischen Wandelaus . Auch von der Tatsache, dass zwei Drittel der Zu-lagenempfänger ein Bruttoeinkommen von weniger als30 000 Euro haben, habe ich hier noch nichts gehört .
Sie verunsichern die Menschen in unserem Land immerwieder mit unausgereiften Ideen, ohne eine nachhaltigeLösung, wie wir der Herausforderung des demografi-schen Wandels begegnen können, zu nennen .
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17053
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(D)
– Ich habe gut zugehört .Unsere umlagefinanzierte Rente, der Sie alle Heraus-forderungen der Zukunft aufs Auge drücken wollen,kommt aus einem Dilemma nicht heraus: Spätestens abdem Jahr 2029 gehen die Babyboomer in Rente . Das istdie Zeit, in der auf anderthalb Beitragszahler ein Rentnerkommt. Umlagefinanziert bedeutet das, dass anderthalbBeitragszahler einen Rentner finanzieren müssen.
Dass es unserer umlagefinanzierten Rente heute gera-de gut geht, das bestreitet niemand . Aber woran liegt dasdenn? Es liegt daran, dass wir erstens in unserem schö-nen Land so viele sozialversicherungspflichtige Arbeits-plätze wie noch nie haben
und dass zweitens die Lohnsteigerungen in der letztenZeit so hoch waren .Die Wirtschaft floriert, und daran sollen alle teilhaben.Deshalb bekommen unsere Rentner ab 1 . Juli eine saftigeRentenerhöhung .
So hat es sich schon Ludwig Erhard vorgestellt, und sofunktioniert es bis heute .
Dank umfangreicher Rentenreformen in den vergan-genen Jahren steht die soziale Absicherung, die umla-gefinanzierte Rente, auf soliden Füßen. Wir können unsdarauf verlassen, dass das System funktioniert . Daraufkönnen wir sehr stolz sein .
Die Sorgen, über die wir heute reden, liegen in derZeit nach 2030 . Dann gehen 1,3 Millionen Menschen inden Ruhestand; Gott sei Dank oft recht fitte Menschen,die dann noch auf einige Jahre erfüllten Ruhestand hof-fen dürfen . In den Arbeitsmarkt hinein kommen aber nurknapp halb so viele junge Menschen . Eine immer kleinerwerdende Gruppe von Beitragszahlern muss dann dieRente für immer mehr Rentner erwirtschaften . Das istdie Perspektive. So funktioniert unsere umlagefinanzier-te gesetzliche Rente .
Eine lebensstandardsichernde Rente aber würde unse-re Kinder überfordern .
– Sie sind ganz schön aufgeregt . – Deswegen haben wirvor 15 Jahren begonnen, eine zusätzliche kapitalgedeck-te Vorsorge zu unterstützen . Diesen Zusammenhang end-lich einmal zur Kenntnis zu nehmen, ist die Basis für eineehrliche Diskussion darüber, wie es weitergehen soll .Dann kommen wir auch ganz schnell zu der Erkenntnis,dass wir den Aufbau einer kapitalgedeckten Vorsorge in-tensiver unterstützen müssen . Es geht nicht um das Ent-weder-oder – umlagefinanziert oder kapitalgedeckt? –,sondern um das Sowohl-als-auch . Das ist hier das Thema .
Wir brauchen die umlagefinanzierte Rente als Basisunserer Altersabsicherung und mindestens eine kapital-gedeckte Säule . Den immer weniger werdenden jungenMenschen dürfen wir nicht die Finanzierung der Renteder immer größer werdenden Zahl von Rentnern auf-bürden . Deshalb wollen wir gerade den Menschen mitkleinen Einkommen dabei helfen – das ist unser obers-tes Ziel –, dass auch sie eine anständige Rente erreichenkönnen .Ich könnte gut verstehen, wenn Sie heute sagen wür-den: Lassen Sie uns darüber reden, wie wir das Ries-ter-Sparen in Zeiten niedriger Zinsen attraktiver machenkönnen . Wie können wir Vertrauen zurückgewinnen, dasim Zuge der Finanzkrise und durch das Verhalten man-cher Anbieter verloren gegangen ist? Das sind die rich-tigen Fragen .
Frau Kollegin Karliczek, gestatten Sie eine Zwischen-
frage?
Nein, ich rede erst zu Ende . Die Kollegin kann gleichetwas sagen .Eigene Vorsorge für das Alter muss selbstverständli-cher werden; nur so können wir dauerhaft und langfristigsteigende Altersarmut verhindern . Das muss sich ebenauch für Geringverdiener lohnen . Wer vorsorgt, mussmehr haben als der, der es nicht tut . Das muss das Maßunserer Bemühungen sein .
Deshalb kann es zum Beispiel eine Möglichkeit sein,einen Freibetrag auf die Grundsicherung einzurichten füralle diejenigen, die kapitalgedeckt Eigenvorsorge leisten .Dann schaffen wir Mehrwert gerade für die Menschen inunserer Gesellschaft, die die Hilfe am nötigsten haben .Eine weitere richtige Frage ist die nach dem Umgangmit den niedrigen Zinsen . Wenn Zinsen keine Ertrags-quelle mehr sind, weil sie so niedrig sind, dann ist zufragen: Wie können wir Menschen über die Altersvorsor-Anja Karliczek
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ge einen Anteil an der wirtschaftlichen Entwicklung inunserem Land zukommen lassen, ohne dem Einzelnenein hohes Risiko zumuten zu müssen?Das, was Sie machen, ist billig . Es verunsichert gera-de die Menschen, die eine kapitalgedeckte Vorsorge amnötigsten haben . Es ist in der aktuellen Situation sogarbrandgefährlich .
Noch eine Bemerkung am Rande . Sie beziehen sich inIhrem Antrag auf eine Aussage des bayerischen Minister-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir sind alle Men-
schen . Menschen sind nicht unfehlbar, Menschen können
irren . Deswegen werden wir diesen Antrag ablehnen .
Damit schließe ich die Aussprache .Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/8610 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-verstanden? – Widerspruch sehe ich keinen . Dann ist dieÜberweisung so beschlossen .Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 31 a bis 31 gsowie den Zusatzpunkt 2 auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-derung des Umweltstatistikgesetzes und desHochbaustatistikgesetzesDrucksache 18/8341Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-heit
Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energieb) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demAbkommen vom 17. Dezember 2015 zwischender Bundesrepublik Deutschland und Japanzur Beseitigung der Doppelbesteuerung aufdem Gebiet der Steuern vom Einkommen undbestimmter anderer Steuern sowie zur Verhin-derung der Steuerverkürzung und -umgehungDrucksache 18/8516Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutzc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-zung der Richtlinien 2015/566 und (EU)2015/565 zur Einfuhr und zur Kodierungmenschlicher Gewebe und Gewebezuberei-tungenDrucksache 18/8580Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzungd) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Änderung des Gesetzes über Fi-nanzhilfen des Bundes zum Ausbau der Ta-gesbetreuung für Kinder und des Kinderbe-treuungsfinanzierungsgesetzesDrucksache 18/8616Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Finanzausschuss Haushaltsausschusse) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr . Alexander S . Neu, Wolfgang Gehrcke, Janvan Aken, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion DIE LINKEKeine Verlegung von Bundeswehr-Einheitennach LitauenDrucksache 18/8608Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss
Auswärtiger Ausschussf) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungNationaler Implementierungsplan zur Umset-zung der EU-Jugendgarantie in DeutschlandDrucksache 18/1108Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Uniong) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56a der Geschäftsord-
nungTechnikfolgenabschätzung
Bilanz der SommerzeitDrucksache 18/8000Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Innenausschuss Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-heit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Lisa Paus,Christian Kühn , Kerstin Andreae,Anja Karliczek
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weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENSpekulation mit Immobilien und Land been-den – Keine Steuerbegünstigung für Übernah-men durch Share DealsDrucksache 18/8617Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss
Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-heitDabei handelt es sich um Überweisungen im verein-fachten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen . Die Vorlage auf der Drucksache 18/8608zu Tagesordnungspunkt 31 e soll federführend im Ver-teidigungsausschuss beraten werden . Gibt es dagegenWiderspruch? – Das ist nicht der Fall . Dann sind dieseÜberweisungen so beschlossen .Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 i sowiedie Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf . Es handelt sich dabeium Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keineAussprache vorgesehen ist .Tagesordnungspunkt 32 a:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-gie zu der Verordnung der Bun-desregierungSechste Verordnung zur Änderung der Au-ßenwirtschaftsverordnungDrucksachen 18/7992, 18/8129 Nr. 2, 18/8276Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehltin seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8276,die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 18/7992nicht zu verlangen . Wer für diese Beschlussempfehlungdes Ausschusses stimmt, den bitte ich um ein Handzei-chen . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – DieBeschlussempfehlung ist damit angenommen mit denStimmen von CDU/CSU und SPD sowie Bündnis 90/DieGrünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke .Wir kommen jetzt zu den Beschlussempfehlungen desPetitionsausschusses .Tagesordnungspunkt 32 b:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 313 zu PetitionenDrucksache 18/8411Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammel-übersicht 313 ist damit mit den Stimmen des gesamtenHohen Hauses angenommen .Tagesordnungspunkt 32 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 314 zu PetitionenDrucksache 18/8412Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammel-übersicht 314 ist damit angenommen mit den Stimmenvon CDU/CSU und SPD sowie Bündnis 90/Die Grünenbei Enthaltung der Fraktion Die Linke .Tagesordnungspunkt 32 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 315 zu PetitionenDrucksache 18/8413Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammel-übersicht 315 ist mit allen Stimmen des Hohen Hausesangenommen .Tagesordnungspunkt 32 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 316 zu PetitionenDrucksache 18/8414Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammel-übersicht 316 ist mit den Stimmen von CDU/CSU undSPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Ent-haltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen .Tagesordnungspunkt 32 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 317 zu PetitionenDrucksache 18/8415Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammel-übersicht 317 ist mit allen Stimmen des Hohen Hausesangenommen .Tagesordnungspunkt 32 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 318 zu PetitionenDrucksache 18/8416Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammel-übersicht 318 ist mit den Stimmen von CDU/CSU undSPD sowie der Fraktion Die Linke gegen die Stimmenvon Bündnis 90/Die Grünen angenommen .Vizepräsident Johannes Singhammer
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Tagesordnungspunkt 32 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 319 zu PetitionenDrucksache 18/8417Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammel-übersicht 319 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPDund Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen derFraktion Die Linke angenommen .Tagesordnungspunkt 32 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 320 zu PetitionenDrucksache 18/8418Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammel-übersicht 320 ist mit den Stimmen von CDU/CSU undSPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und derFraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen .Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 3 auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zu dem Abkommen vom 29. Juni 2015zwischen der Regierung der BundesrepublikDeutschland und der Regierung der RepublikKosovo über die justizielle Zusammenarbeitin StrafsachenDrucksache 18/8211Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
Drucksache 18/8642b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz,Dr . Frithjof Schmidt, Claudia Roth ,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENzu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-tes über die Unterzeichnung und die vorläufi-ge Anwendung des Wirtschaftspartnerschafts-abkommens zwischen der EuropäischenUnion und ihren Mitgliedstaaten einerseitsund den SADC-WPA-Staaten andererseits KOM(2016) 8 endg.; Ratsdok. 5608/16undzu dem Vorschlag für einen Beschluss desRates über die Unterzeichnung und dievorläufige Anwendung des Wirtschafts-partnerschaftsabkommens zwischen denPartnerstaaten der Ostafrikanischen Ge-meinschaft einerseits und der EuropäischenUnion und ihren Mitgliedstaaten andererseits KOM(2016) 63 endg.; Ratsdok. 6126/16hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 desGrundgesetzesWirtschaftspartnerschaftsabkommen mit derEntwicklungsgemeinschaft des südlichen Afri-ka und der ostafrikanischen Gemeinschaft ab-lehnenDrucksachen 18/8243, 18/8643Zusatzpunkt 3 a . Der Ausschuss für Recht und Ver-braucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlungauf Drucksache 18/8642, den Gesetzentwurf der Bun-desregierung auf Drucksache 18/8211 anzunehmen . Ichbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-len, um das Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiterBeratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD beiEnthaltung der Fraktion Die Linke und von Bündnis 90/Die Grünen angenommen .Dritte Beratungund Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ge-setzentwurf ist damit mit den Stimmen von CDU/CSUund SPD bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und vonBündnis 90/Die Grünen angenommen .Wir kommen jetzt zum Zusatzpunkt 3 b . Der Aus-schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 18/8643, den Antrag der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/8243 abzulehnen .Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Ausschus-ses? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – DieBeschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen vonCDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion DieLinke und von Bündnis 90/Die Grünen angenommen .Damit kommen wir jetzt zu den Tagesordnungspunk-ten 7 a und 7 b, die ich hiermit aufrufe:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines ZweitenGesetzes zur Änderung des Telemediengeset-zesDrucksache 18/6745Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Wirtschaft und Energie
Drucksache 18/8645b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Dr . Konstantin von Notz, Luise Amtsberg,Volker Beck , weiteren Abgeordneten undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowieden Abgeordneten Halina Wawzyniak, HerbertBehrens, Dr . Petra Sitte, weiteren Abgeordnetenund der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Tele-mediengesetzes – StörerhaftungDrucksache 18/3047Vizepräsident Johannes Singhammer
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Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Wirtschaft und Energie
Drucksache 18/3861Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Widerspruchhöre ich keinen . Dann ist das somit beschlossen .Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner das Wort dem Kollegen Marcus Held für die SPD .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! In dieser Woche hatte ich eine Schü-
lergruppe hier im Bundestag in Berlin zu Gast, so wie
hier heute sicherlich auch einige zugegen sind . Sie ka-
men aus Polen, genauer gesagt aus Koscian, dem Part-
nerlandkreis des Landkreises Alzey-Worms in meinem
Wahlkreis .
Als ich versucht habe, meine aktuellen Tätigkeitsfelder
im Bundestag zu beschreiben, scheiterte es an der Über-
setzung des Begriffs der WLAN-Störerhaftung . Ich ver-
suchte es dann ein bisschen anders und habe gefragt: Wie
sieht es aus, kennt ihr es, dass ihr auf eurem Smartphone
ein Kennwort eingeben müsst, wenn ihr euch über einen
Hotspot ins Internet einwählen wollt? Da rief dann die
Lehrerin gleich: Nein, das kennen wir in Polen nicht,
aber wenn wir in Alzey in Deutschland sind, dann müs-
sen wir das regelmäßig tun .
Diesen Zustand wollen wir mit der heutigen Gesetzesän-
derung beenden .
Mit der Änderung des Telemediengesetzes sorgen wir
heute dafür, dass in Deutschland endlich gleiche Mög-
lichkeiten und gleiche Chancen bestehen wie in anderen
europäischen Ländern schon seit vielen Jahren . Denn wir
sind das einzige Land in Europa und vielleicht sogar in
der Welt, das über eine solche längst überholte Regelung
verfügt .
Heute machen wir hier im Deutschen Bundestag endlich
den Weg frei für offene WLAN-Netze und – das ist rich-
tig und wichtig – für eine moderne digitale Infrastruktur
in unserem Land .
Künftig haben Private die Möglichkeit, ihre
WLAN-Router zu öffnen und sie so zu echten Hotspots
zu machen, und das ohne die Gefahr, für Rechtsverlet-
zungen Dritter in Haftung genommen zu werden, so wie
dies bisher leider der Fall gewesen ist . Wir brauchen die-
se Hotspots auch in Cafés, in Bibliotheken, in Schulen,
auf den Marktplätzen dieser Republik und überall dort,
wo sich Tourismus in Deutschland entwickelt und sich
Gäste mithilfe des Internets über ihr jeweiliges Umfeld
informieren wollen, beispielsweise wenn sie hier in Ber-
lin unterwegs sind . Wir schaffen Rechtssicherheit, meine
Damen und Herren, die alle Betreiber brauchen, egal ob
Freifunk-Initiativen, Handelsverbände oder unsere Kom-
munen, die sich ja seit vielen Wochen und Monaten mit
dem Ziel befassen, öffentliche Hotspots intensiver auszu-
bauen und zu installieren .
Die rheinland-pfälzische Landesregierung unter
Malu Dreyer beispielsweise hat sich zum Ziel gesetzt,
1 000 Hotspots in Rheinland-Pfalz zu installieren und
dafür zu sorgen, dass alle öffentlichen Gebäude, die ei-
nen Internetanschluss haben, auch einen öffentlichen
WLAN-Zugang um- bzw . einbauen müssen . Das ist vor-
bildlich . Ich möchte an dieser Stelle, auch wenn auf der
Bundesratsbank niemand sitzt, alle Bundesländer auffor-
dern, diesem positiven Beispiel – dieses Ziel kann auf-
grund unserer Gesetzesänderung nämlich noch leichter
umgesetzt werden – nachzueifern .
Wir haben in der Koalition sehr lange über dieses The-
ma diskutiert . Wir, die SPD, hätten es gerne schon viel
früher abgeschlossen . Aber wir können heute im Ergeb-
nis sagen: Es gibt keine Zwischenlösungen; sie alle sind
vom Tisch . Es wird keine Vorschaltseiten und keine Pass-
wortpflicht geben. Die heutige Gesetzesänderung fördert
echtes freies WLAN .
Neben dem WLAN möchte ich noch kurz auf § 10
unseres Entschließungsantrages eingehen . Unser Ziel
ist es, gegenüber Internetplattformen, deren Geschäfts-
modell im Wesentlichen auf der Verletzung von Urhe-
berrechten beruht, wirksam vorgehen zu können und das
Recht durchzusetzen . Diese Diensteanbieter sollen sich
nicht länger auf das Haftungsprivileg, welches sie als
Host-Provider genießen, zurückziehen können und ins-
besondere keine Werbeeinnahmen mehr erhalten .
Jetzt hoffen wir gemeinsam, dass das Gesetz auch for-
mell schnell wirksam wird . Denn am dritten Wochenende
im September ist in Alzey Winzerfest; dann kommen die
Schüler aus Koscian wieder . Spätestens dann sollen sie
kein Passwort mehr eingeben müssen .
Danke schön .
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin
Dr . Petra Sitte .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ichhatte die Hoffnung, dass wir uns heute zum letzten MalVizepräsident Johannes Singhammer
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mit dem Problem der Störerhaftung bei offenen WLANsbeschäftigen .
Was Sie heute vorschlagen, geht zum Teil in die richtigeRichtung . Aber den entscheidenden Knoten, von dem Siegerade selbst gesprochen haben, lösen Sie leider nicht .
Ja, es gibt Verbesserungen gegenüber dem, was ur-sprünglich geplant war . Zum Glück verzichten Sie bei-spielsweise auf irgendwelche Pflichten für WLAN-An-bieter wie nutzlose Vorschaltseiten . Vernünftigerweiseverzichten Sie auch darauf, die Haftungsprivilegien fürHost-Provider zu schleifen . Die heftige Kritik, die an denursprünglichen Plänen geäußert wurde, scheint also – zu-mindest teilweise – angekommen zu sein . Aber Ihr Vor-schlag – da muss ich Ihnen widersprechen – ändert defacto nichts am heutigen Problem der Störerhaftung .
Der entscheidende Knackpunkt ist nämlich der soge-nannte Unterlassungsanspruch .
Bisher können Rechteinhaber bzw . deren Anwaltskanz-leien vom Rechteverletzer eine Erklärung verlangen,dass eine angeblich getätigte rechtswidrige Handlungkünftig ausbleibt . Bei Zuwiderhandlung wird dann nichtselten eine saftige Geldstrafe fällig .
Nach derzeitiger Rechtsprechung können solche An-sprüche auch gegen WLAN-Anbieter erhoben werden .Es kann also von einer WLAN-Anbieterin verlangtwerden, eine mögliche rechtswidrige Handlung einesWLAN-Nutzers zu unterbinden . Dies ist insbesonderefür private WLAN-Anbieter, wie wir alle wissen, kaumzu kontrollieren . Die Experten raten deshalb, die Haf-tungsfreistellung von WLAN-Betreibern explizit auf dieUnterlassungsansprüche auszuweiten .
Im ursprünglichen Gesetzentwurf der Bundesregie-rung war das auch noch vorgesehen . An genau dieserStelle haben die Kolleginnen und Kollegen der Koali-tionsfraktionen aber gegen den Gesetzentwurf der Bun-desregierung gearbeitet; Sie haben das nämlich wiedergestrichen . So werden nach Ihrem Vorschlag weiterhinWLAN-Anbieter für die Handlungen ihrer Nutzer haft-bar gemacht werden .
Sie wollen zwar klarstellen, dass die Haftungsprivile-gierung nach § 8 des Telemediengesetzes grundsätzlichauch für WLAN-Anbieter gilt . Nur ist das leider auchschon nach jetzigem Recht so .
Dumm nur, dass nach der Rechtsprechung des Bundes-gerichtshofes die Haftungsprivilegierung des § 8 Teleme-diengesetz gerade nicht für Unterlassungsansprüche gilt .Was wäre wirklich nötig? Wir Linken und die Bünd-nisgrünen haben einen Gesetzentwurf eingebracht, derumfassende Rechtssicherheit garantieren würde .
Er basiert auf einem Vorschlag des Vereins Digitale Ge-sellschaft .Wenn Sie meinen – so verbreiten Sie es ja auch inden sozialen Netzwerken –, dass die Erwähnung diesesThemas in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs aus-reicht, kann ich Ihnen nur entgegnen, dass der für Ur-heberrechtsfragen zuständige I . Zivilsenat des Bundes-gerichtshofs immer wieder ausdrücklich erklärt hat, dasseine Erwähnung in der Begründung nicht genügt, wenndies keinen hinreichenden Niederschlag im Gesetzestextfindet.
Die Linke hat einen solchen Gesetzentwurf sogarschon in der letzten Legislaturperiode eingebracht . Wirhätten also bereits seit drei Jahren Rechtssicherheit habenkönnen – aber das nur einmal nebenbei .Wir wollen ganz explizit die Haftungsfreistellungauch für gewerbliche und nichtgewerbliche WLAN-An-bieter festschreiben und sie insbesondere auf Ansprücheauf Unterlassung ausweiten . Dann kann kein Gericht die-ses Landes mehr auf die Idee kommen, hier anders zu ur-teilen – und es wird weitere Rechtsstreite geben . Das istfür diejenigen, die auf die offenen WLANs warten, ex-trem wichtig . Auch für die Anbieter ist es extrem wichtig .Dazu müssten Sie allerdings dem von den Grünen unduns vorgelegten Vorschlag Ihre Stimme geben . Ich hoffe,dass das bei Ihnen auch in irgendeiner Weise seinen Nie-derschlag findet; denn wir müssen davon ausgehen, wieich anfangs gesagt habe, dass wir uns weiter mit diesemThema beschäftigen werden, weil weitere Rechtsstreitefolgen – was sehr schade ist, da man die Chance hatte,hier etwas zu ändern .Besten Dank .
Das Wort hat jetzt für die CDU/CSU-Fraktion derKollege Axel Knoerig .
Dr. Petra Sitte
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die-
se Abstimmung heute hat schon eine gewisse – in Anfüh-
rungsstrichen – „historische“ Bedeutung; denn wir ebnen
den Weg für freies WLAN in der Bundesrepublik .
In ganz Deutschland soll es künftig offene Netze ge-
ben. Damit wird der flächendeckende Internetausbau
weiter beschleunigt . Gerade für die ländlichen Regionen
ist das besonders wichtig . Als jemand, der aus dem länd-
lichen Raum kommt, sage ich das bewusst immer wieder .
Wir haben immer noch viel zu viele Gemeinden, in denen
die insbesondere für Downloads entscheidenden Bitraten
nur sehr gering sind und in weiten Teilen sogar das Mo-
bilfunknetz nur sehr unzureichend ausgebaut ist .
Wir ergänzen dies durch eine bundesweite Breit-
bandförderung, insbesondere durch das geplante Digi-
Netz-Gesetz zur Beschleunigung des Glasfaserausbaus .
Wir müssen nämlich die weißen Flecken auf unserer
Landkarte bis 2018 ausradieren . Das wird auch gelingen,
und zwar auch durch das WLAN .
Damit ist eine gute Nachricht für alle Hoteliers und
Besitzer von Gastronomiebetrieben verbunden: Sie müs-
sen nicht mehr dafür haften, wenn ihre Gäste Rechtsver-
stöße im Internet begehen . Wir alle kennen aus unseren
Wahlkreisen das Dilemma, von dem uns Hoteliers und
Cafébetreiber berichten . Es gehört heute dazu, dass man
den Kunden ein funktionsfähiges WLAN anbietet; denn
man möchte konkurrenzfähig sein . Illegale Downloads
seitens der Nutzer haben den Hoteliers und Cafébetrei-
bern in den vergangenen Jahren aber teure Abmahnungen
beschert .
Doch damit ist nun Schluss . Wir geben den WLAN-Be-
treibern Rechtssicherheit . Dazu werden sie mit den Net-
zanbietern gleichgestellt. Das bedeutet: Sie profitieren
vom Haftungsausschluss . Den Regierungsentwurf haben
wir gerade auch dahin gehend verbessert . Dabei orientie-
ren wir uns sehr wohl inhaltlich an dem, was der Gene-
ralanwalt am Europäischen Gerichtshof vorgegeben hat .
Schließlich ist es nötig und wichtig, zu schauen, wie es
auf EU-Ebene geregelt ist . Er hat ganz klar ausgeführt,
dass es keine völlige Haftungsfreistellung geben kann .
Das heißt: Wenn in einem Netz eindeutig Rechtsverstöße
erfolgt sind, muss ein Unterbinden weiterer Vergehen per
Gerichtsbeschluss möglich sein .
Dieser Punkt wird bei den Linken sowie bei den Grü-
nen und leider in Teilen auch von der SPD vernachläs-
sigt . Wir können doch nicht den Schutz von WLAN-Be-
treibern über den Schutz geistigen Eigentums stellen .
Das sagt der Generalanwalt am EuGH .
Vielmehr brauchen wir ein Gleichgewicht zwischen
der Informations- und der unternehmerischen Freiheit
einerseits sowie dem Urheberrecht andererseits . Mit un-
serer Regelung haben wir eine ausgewogene Balance
dieser Grundrechte erzielt . WLAN-Betreiber, Nutzer und
Rechteinhaber werden gleichermaßen berücksichtigt,
und das bei einer praktikablen Handhabung .
Meine Damen und Herren, damit erfüllen wir den
Koalitionsvertrag . Darin steht auch, dass wir die Bür-
ger über die Risiken, die mit der Nutzung offener Netze
verbunden sind, aufklären . Ich möchte darauf hinweisen,
dass man sensible Daten, etwa beim Onlinebanking, nur
in privaten Netzen abrufen sollte . Ebenso sind E-Mails
zu verschlüsseln . Wir müssen – auch das haben wir im
Koalitionsvertrag festgehalten – diese grundlegenden
IT-Kompetenzen in der Zukunft noch stärker vermitteln .
Im Regierungsentwurf war vorgesehen, die Haftung
von Plattformbetreibern zu regeln . Da haben wir ganz
klar gesagt: Das muss auf europäischer Ebene geregelt
werden . Das betrifft besonders Geschäftsmodelle, die im
Wesentlichen auf Verletzung von Urheberrechten beru-
hen . Diesen Plattformen muss schlichtweg der Geldhahn
zugedreht werden . Sie dürfen keine Werbeeinnahmen
mehr kassieren .
Meine Damen und Herren, diese Änderungen beim
Telemediengesetz werden gewiss nicht die letzten sein .
Der digitale Wandel wird weiterhin rechtliche Anpassun-
gen erfordern . Wir als Union setzen dabei auf eine ver-
antwortungsvolle Digitalpolitik .
Mit diesem WLAN-Gesetz legen wir das Fundament
für neue Geschäftsmodelle . Wir geben heute innovativen
Diensten die Möglichkeit, sich freier und leichter zu ent-
wickeln .
Ich rufe insbesondere die Kommunen und die Landkrei-
se, aber auch die Bibliotheken, dazu auf, WLAN-Netze
einzurichten und anzubieten; denn sie sind sehr wohl –
das hat auch Kollege Held treffend gesagt – ein wichtiger
Faktor für Bildung, Tourismus und Wirtschaft .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Nächster Redner ist der Kollege Dr . Konstantin vonNotz, Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Mai 2010 gibtes die Entscheidung des BGH zum Musiktitel Sommerunseres Lebens. Seitdem gibt es diese Rechtsunsicher-heit, über die wir heute reden . Aus dem Sommer unseresLebens sind sechs Jahre unseres Lebens geworden – wasfür ein Wahnsinn! –: sechs Jahre Unklarheit, welchePflichten man erfüllen muss, um aus der Haftung genom-men zu werden, wenn man seine Netze für Dritte öffnet;sechs Jahre, in denen die Digitalisierung Deutschlands
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eines der Topthemen war, und zwar gesellschaftlich wiewirtschaftlich; sechs Jahre Regierungsverantwortung derCDU/CSU, die bei einer ganz entscheidenden Grundlageder Digitalisierung voll auf der Bremse stand und nichtaus dem Quark gekommen ist .Trotz Forderungen von allen Seiten, diese Rechtsun-sicherheit durch gesetzliche Klarstellung zu beseitigen,hat erst, Dorothee Bär, Schwarz-Gelb nichts unternom-men . Auch danach ist trotz Appellen aus der wegwei-senden Enquete-Kommission „Internet und digitaleGesellschaft“ und trotz der Zusage im Koalitionsvertragder Großen Koalition, als Gesetzgeber endlich Rechtssi-cherheit herzustellen, lange, viel zu lange, nichts passiert .Das ist und bleibt ein Armutszeugnis, meine Damen undHerren .
Dabei ist es gar nicht so schwer: Die Opposition, Lin-ke und wir, haben direkt zu Beginn dieser Wahlperiodeeinen Gesetzentwurf vorgelegt . Sie haben mit einigenJahren Verzögerung einen Gesetzentwurf der Bundesre-gierung nachgeschoben, der in die völlig falsche Rich-tung ging: weitreichende Verpflichtungen für WLAN-Be-treiber, ihre Netze zu schützen, die so abwegig waren,dass sich peinlicherweise selbst die eigenen Ministerien,Frau Bär, bis heute nicht daran halten; fernliegende, demTMG fremde Unterscheidungen zwischen privaten undkommerziellen Anbieterinnen und Anbietern; namentli-che Registrierungen, die man sonst nur aus autoritärenStaaten kennt . Auch § 10 TMG war von vornherein völ-lig abwegig .Der Gesetzentwurf der Bundesregierung war insge-samt gänzlich untauglich und hätte zu mehr Rechtsunsi-cherheit und zu weniger offenen Netzen geführt . Da fragtman sich: Wie kann es eigentlich nach Jahren zu einemsolchen Gesetzentwurf der Bundesregierung kommen?Wenn sich solche Fragen stellen, meine Damen und Her-ren, dann macht man etwas grundsätzlich falsch, liebeRegierung .
– Zum Parlament komme ich noch, Thomas . – Der Ge-setzentwurf wurde zu Recht von allen Seiten, selbst vonden eigenen Sachverständigen in der Bundestagsanhö-rung und von den eigenen Ministerien, zerrissen . Es warklar: Es musste etwas Neues her . Aber statt sich auf un-seren lichtvollen und wegweisenden Entwurf der Oppo-sition zu beziehen,
brauchte es erst ein Machtwort der Kanzlerin, um dasmittlerweile maximal peinliche Nicht-aus-dem-Quark-Kommen der Koalition zu beenden . Verhindert werdensollte vor allen Dingen auch die nächste Klatsche vomEuGH .Seit vorgestern Abend wissen wir, dass Sie die zweizentralen Versprechen, die Sie gemacht haben,
nicht erfüllen, nämlich erstens Rechtssicherheit herzu-stellen und zweitens die Störerhaftung zu beseitigen .Verstehen Sie es nicht falsch: Ich sehe durchaus auch,dass es in manchen Bereichen im Hinblick auf den Vor-schlag der Bundesregierung Verbesserungen gibt . So-wohl die Klarstellung in § 8 TMG als auch der kompletteWegfall des § 10 und des absurden Konstrukts – auchdas muss man sich vor Augen führen – der „besondersgefahrgeneigten Dienste“ ist eine Verbesserung .Aber während der Entwurf der Bundesregierung dieNotwendigkeit erkannt hatte, eine saubere Klarstellungim Gesetzestext selbst vorzunehmen, fehlt diese bei Ih-nen . Stattdessen überlassen Sie es den überlasteten Ge-richten erneut, nach Ihrer Begründung eines Änderungs-antrags im Bundestag zu googeln, um das Gesetz, dasSie vorgelegt haben, auslegen zu können . Was für einWahnsinn! Sie beziehen sich dabei auf das Argument desGeneralanwalts am EuGH . Was machen Sie eigentlich,wenn der EuGH anders entscheidet? Sollen dann dieMenschen weitere sechs Jahre auf freies WLAN warten,nur weil Sie es nicht schaffen, dies direkt ins Gesetz zuschreiben? Es ist unfassbar, meine Damen und Herren .
Den einzigen guten Punkt in dem Entwurf der Bun-desregierung haben Sie herausgestrichen . Herr Knoerighat eben ziemlich unverhohlen die Motive dafür genannt .Deswegen sage ich voraus, dass sich Frau Merkel heu-te Abend auf der CDU-MediaNight gerade nicht dafürfeiern lassen kann, die Störerhaftung beseitigt zu haben .Jegliche Siegerpose ist fehl am Platz . Sie sind den ent-scheidenden Schritt eben leider nicht gegangen .
Sie haben keine Rechtssicherheit hergestellt, sondern daserneut an die Gerichte delegiert . Das ist für dieses Parla-ment ein Armutszeugnis und leider zu wenig . Ich bedau-ere das hochgradig .Herzlichen Dank .
Für die SPD spricht jetzt der Kollege Lars Klingbeil .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Bundestag macht heute den Weg für mehr offenesWLAN in Deutschland frei . Das ist das Ergebnis einerlangen Diskussion, die wir hatten, und es ist das ErgebnisDr. Konstantin von Notz
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eines Gesetzentwurfs, den Sigmar Gabriel mit dem Wirt-schaftsministerium auf den Weg gebracht hat .Wir als Koalition haben in den letzten Wochen umden richtigen Weg gerungen . Aber es ist klar: Wir verab-schieden heute einen Gesetzentwurf in zweiter und drit-ter Lesung, der endlich den Weg für offenes WLAN inDeutschland frei machen wird . Es ist gut, dass wir heuteim Parlament endlich diese Entscheidung treffen .Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Ergebnis einerlangen Diskussion ist ein Paradigmenwechsel, den wirerreicht haben . Ich erinnere daran, dass wir noch vor ei-nem Jahr – ich glaube, das kann jeder, der sich mit demThema beschäftigt hat, bestätigen – immer zuerst zu derFrage kamen, was es bedeutet, wenn wir in DeutschlandWLAN-Netze öffnen . Es war von Urheberrechtsver-letzungen, die massenhaft zunehmen würden, und vonStraftaten die Rede, die vielleicht in Cafés und Restau-rants geplant würden . Das waren doch die Argumente,gegen die wir immer wieder anargumentieren mussten .Ich glaube, mit dem Gesetzentwurf gelingt es wirk-lich, den Paradigmenwechsel zu schaffen: weg von denGefahren, die immer wieder gesehen werden, wenn esum offene Netze geht, und hin zu den Chancen, die wirsehen und definieren. Ich finde, das ist ein großer Erfolgdes Parlaments . Das haben wir auch gemeinsam mit denOppositionsfraktionen in der Diskussion erreicht . Dafürein großer Dank an alle, die daran mitgewirkt haben!
Das ist aber bei Weitem nicht nur das Verdienst derPolitik . In den letzten Jahren hat es immer wieder Akteu-re gegeben, beispielsweise vorneweg die Freifunker, diedarum gerungen haben, dass wir eine solche Gesetzes-änderung auf den Weg bringen . Internetvereine wie D64oder die Digitale Gesellschaft, Akteure wie der DeutscheStädte- und Gemeindebund, der Deutsche Handelsver-band, aber auch rot-grüne Landesregierungen haben be-grüßt, was wir jetzt auf den Weg bringen, und sagen, dassdas, was die Große Koalition verabschiedet, der richtigeWeg ist . Alle diese Akteure haben ein großes Verdienstdaran, dass wir endlich freie und offene WLANs inDeutschland schaffen .
Der Gesetzentwurf zeigt also, dass Politik lernfähigist . Wir schaffen mit offenen WLAN-Netzen einen wei-teren Teil einer modernen digitalen Infrastruktur . Das Di-giNetz-Gesetz ist angesprochen worden . Der Breitband-ausbau ist auch erwähnt worden . Wir sorgen also dafür,dass es eine gute digitale Infrastruktur in Deutschlandgibt .Wir alle wissen aus unseren Erfahrungen, dass heutehäufig eine der ersten Fragen in Hotels oder Restaurantsdie nach einem WLAN ist . WLAN ist Innovationstreiber .Viele Geschäftsmodelle werden entstehen . Wir werdeneine Modernisierung der Innenstädte erleben . Ich selberkomme aus dem ländlichen Raum . Dort spielt der Tou-rismus eine große Rolle . Es ist ein wichtiger Wirtschafts-faktor auch für den Tourismus, dass wir dort freie undoffene WLAN-Netze bekommen werden .Dieses Gesetz, das wir heute auf den Weg bringen,steht in einer Reihe mit vielen anderen Prozessen, diewir erleben – etwa hier in der Stadt Berlin, wo 600 Hot-spots geschaffen werden . Die Kirche in Brandenburg undBerlin hat sich auf den Weg gemacht, zunächst 300, bald3 000 Hotspots zu schaffen .
Und wir sehen, dass erste Städte – etwa Erlangen – in ih-ren Innenbereichen eine komplett offene WLAN-Struk-tur schaffen . Unser Gesetz kann dann dafür sorgen, dassauch Private künftig nicht mehr vor ihrer Haftung fürRechtsverletzungen Dritter Angst haben müssen .Weil ich in den letzten Tagen auch etwas über eine„Mogelpackung“ gelesen habe, die wir hier angeblichauf den Weg bringen, will ich noch einmal vorlesen, wasim Gesetz und in der Gesetzesbegründung explizit steht .Dort steht:Die Haftungsprivilegierung– die dank der gesetzlichen Änderungen zweifelsfreiauch für WLAN-Anbieter gilt –,umfasst … auch die verschuldensunabhängige Haf-tung im Zivilrecht nach der sog . Störerhaftung undsteht daher nicht nur einer Verurteilung des Vermitt-lers zur Zahlung von Schadenersatz, sondern auchseiner Verurteilung zur Tragung der Abmahnkostenund der gerichtlichen Kosten … entgegen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will sagen: Werdiese Begründung nicht versteht, und wer diesen aus-drücklichen Wunsch des Gesetzgebers an dieser Stellenicht versteht, der ignoriert bewusst das, was wir hier aufden Weg bringen,
der ignoriert bewusst das Mehr an Rechtssicherheit, daswir hier schaffen . Und dem kann ich leider keine gutenAbsichten unterstellen .Herzlichen Dank fürs Zuhören .
Der Kollege Hansjörg Durz spricht jetzt für die Frak-
tion der CDU/CSU .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! DieGleichstellung von WLAN-Anbietern – auch von Priva-Lars Klingbeil
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ten mit klassischen Zugangsprovidern – ist ein riesigerSchritt nach vorn . Wir schaffen damit Rechtssicherheit,und zwar insbesondere für diejenigen, die sich bislangaus Sorge etwa vor teuren Abmahnungen dagegen ent-schieden haben, WLAN anzubieten . Wir erfüllen damitunseren eigenen, im Koalitionsvertrag formulierten An-spruch, der da lautete:Die Potenziale von lokalen Funknetzen . . . als Zu-gang zum Internet im öffentlichen Raum müssenausgeschöpft werden .Ich denke hier vor allem an die riesigen Potenziale,die etwa im Einzelhandel, in der Gastronomie, im Touris-mus oder auch im Verkehrsbereich stecken . Überall dortwerden digitale Anwendungen den Nutzern in Zukunftweit einfacher zugänglich gemacht werden . Insofern istder heutige Tag ein richtig guter für den DigitalstandortDeutschland .
Im Laufe des parlamentarischen Verfahrens stand füruns neben den Potenzialen, die es zu heben gilt, auch dasThema Sicherheit im Mittelpunkt . Das in dreierlei Hin-sicht:Zum einen ging es uns um Rechtssicherheit für dieWLAN-Anbieter und damit die Gewähr, vor teurenAbmahnkosten und vor Schadensersatzansprüchen ge-schützt zu werden .Zweitens ging es um die Sicherheit für Rechteinha-ber, die auch weiterhin die Möglichkeit haben, Urheber-rechtsverletzungen durch gerichtliche Anordnungen wir-kungsvoll entgegenzutreten .Und drittens ging es um die Sicherheit für Nutzer vonoffenen WLAN-Verbindungen . Dabei ist sehr interessant,dass bereits wenige Stunden nachdem die Einigung derKoalitionsfraktionen bekannt wurde, eine große deutscheTageszeitung sofort einen Artikel mit der Überschrift „Soschützen Sie sich in öffentlichen WLAN-Netzen“ veröf-fentlichte . Sie schrieb darüber, welche Gefahren und Ri-siken mit dem Surfen in öffentlichen Netzen verbundensind . Hier werden wir weiter Aufklärungsarbeit betreibenund die Nutzer sensibilisieren müssen, potenziell betrü-gerische Netzwerke zu erkennen, sichere Verschlüsselun-gen zu nutzen und sensible Daten nicht arglos zu kom-munizieren .Darüber hinaus haben wir in einer Protokollerklärungdie Bundesregierung aufgefordert, uns nach zwei Jahrenzu berichten, wie sich die WLAN-Ausbreitung entwi-ckelt hat und wie es in dieser Zeit mit Rechtsverletzun-gen ausgesehen hat .Auch wenn es in der öffentlichen Diskussion alsoausschließlich um das Thema WLAN geht, so regelt dasTelemediengesetz aber nicht nur die Haftung von diesenZugangsanbietern, sondern auch von Diensteanbietern,die zur Datenspeicherung Dritten eine technische Infra-struktur zur Verfügung stellen . Diese sogenannten HostProvider genießen für die Ausübung ihrer TätigkeitenHaftungsprivilegierungen, die jedoch bei Geschäftsmo-dellen, die sich im Wesentlichen auf Rechtsverletzungenstützen, in der Praxis zu gravierenden Problemen führenkönnen . Hier versuchte der Gesetzentwurf, durch dieCharakterisierung eines gefahrengeneigten Dienstes ei-nen Weg zu finden, um Rechtsverstöße einfacher ahndenzu können . Wir haben die geplanten Maßnahmen undderen Auswirkungen im parlamentarischen Verfahrenintensiv unter die Lupe genommen . Die Konsultation so-wohl der Rechteinhaber als auch der Internetwirtschafthat ergeben, dass mit den geplanten Maßnahmen des§ 10 TMG weder der einen noch der anderen Seite ge-holfen gewesen wäre . Deswegen haben wir uns dazu ent-schieden, es beim Status quo zu belassen . Mit dem Koali-tionspartner haben wir uns stattdessen darauf verständigt,die Bundesregierung aufzufordern, sich auf europäischerEbene für eine Überarbeitung des Haftungsregimes fürPlattformbetreiber einzusetzen . Ein einheitliches Haf-tungsregime für Rechtsverletzungen im Internet ist einevorrangig europäische Aufgabe . Gerade die aktuellenKonsultationsprozesse der Europäischen Kommissionzur Haftung von Plattformbetreibern und Intermediärensind eine gute Gelegenheit, sich hier aktiv einzubringen .Klar ist, dass wir in Zukunft innovative und wirksameAnsätze brauchen, um auf die rasante Entwicklung un-terschiedlicher Dienste und Geschäftsmodelle reagierenzu können . Wie die Bekämpfung illegaler Plattformengelingen kann, dazu listen wir im Entschließungsantragsieben für uns wichtige Punkte auf . Exemplarisch möch-te ich auf das Prinzip „Follow the money“ hinweisen .Wenn wir es schaffen, Geldströme auszutrocknen, indemsolche Plattformen legal keine Werbeeinnahmen generie-ren können, gehen wir direkt an die Wurzel der illegalenGeschäftsmodelle .
Noch zu einem dritten Themenkomplex . Der Bundes-rat hat in einer Stellungnahme zum Gesetzentwurf eineErgänzung zum § 14 TMG angeregt, um die Durchsetz-barkeit von Persönlichkeitsrechten zu verbessern . Wirteilen die Position des Bundesrats ausdrücklich . Daherfordern wir die Bundesregierung in unserem Entschlie-ßungsantrag auf, bis Ende des Jahres eine umfassendeErhebung zu Verletzungen des Persönlichkeitsrechts unddes Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbe-betrieb durchzuführen und Ergebnisse vorzulegen . Fallssich aus den Ergebnissen der Erhebung ein Rechtsset-zungsbedarf ergibt, soll dieser noch in dieser Legislatur-periode gedeckt werden .Zum Schluss möchte ich auf Folgendes hinweisen:Mit dem geänderten Telemediengesetz entwickeln wirden Digitalstandort Deutschland ein enormes Stück wei-ter . Wir werden die positiven Auswirkungen in Bälde se-hen . Ich bitte Sie daher um Zustimmung .Vielen Dank .
Hansjörg Durz
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Nächster Redner ist der Kollege Christian Flisek für
die SPD .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollegin-
nen und Kollegen! Nach dem ehemaligen Vorsitzenden
der SPD-Bundestagsfraktion ist ein Gesetz benannt, nach
dem kein Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es von
der Regierung eingebracht wurde . Für dieses sogenann-
te Struck’sche Gesetz ist die heute debattierte Änderung
des Telemediengesetzes geradezu ein Musterbeispiel .
Der Gesetzentwurf hat uns parlamentarisch sehr intensiv
und lange beschäftigt . Aber im Ergebnis beschließen wir
heute ein Gesetz, das an ganz erheblichen Stellen vom
Regierungsentwurf abweicht . Herr Kollege von Notz,
deswegen sollten Sie sich in zweiter und dritter Lesung
nicht am Regierungsentwurf abarbeiten . Vielmehr sollten
Sie sich mit der heutigen Beschlussvorlage befassen .
Wir schaffen Rechtssicherheit in Deutschland für öf-
fentliche WLANs; darauf wurde schon hingewiesen . Wir
leisten damit einen ganz erheblichen Beitrag dazu, dass
Deutschland aus der WLAN-Wüste geführt wird . Das ist
allerhöchste Zeit . Die bisher geltende Störerhaftung bei
der Bereitstellung von öffentlichen WLAN-Netzen traf
allzu oft die falschen Personen: den Familienvater, der
oft erst mit der Abmahnung erfahren hat, was alles über
seinen Anschluss möglich ist, oder die Kaffeehausbetrei-
berin, die die Handlungen ihrer Gäste nicht kontrollie-
ren konnte und die Gäste auch nicht persönlich kannte .
Eine ganze Abmahnindustrie konzentrierte sich auf die-
se Menschen, um Profite zu machen, ohne irgendeinen
volkswirtschaftlichen Nutzen dabei zu erzielen . Die Be-
reitsteller von WLAN-Netzen wie etwa der Familienva-
ter oder die Gastronomin waren und sind aus zwei Grün-
den die falschen Adressaten einer Haftung . Erstens . Sie
wollten sich in den allermeisten Fällen immer rechtstreu
verhalten . Zweitens fehlten ihnen schlicht die Mittel, um
die Nutzer ihrer W-LAN-Netze zu kontrollieren .
Die bisherige Störerhaftung war aus Sicht der Rechte-
inhaber ein effektives und vielleicht auch ein lukratives
Instrument, aber es war in höchstem Maße unfair . Dieser
Situation schieben wir heute gemeinsam einen Riegel
vor . Deshalb ist es auch richtig, sie abzuschaffen . Um
jede rechtliche Unsicherheit zu beseitigen, haben wir –
darauf hat der Kollege Klingbeil ausdrücklich hingewie-
sen – auch klargestellt, dass die Haftungsprivilegierung
jede Art der Haftung umfasst .
Lassen Sie mich aber auch klarstellen, dass die Rechte-
inhaber nach wie vor nicht schutzlos zu stellen sind .
Das Gegenteil ist der Fall . Wir müssen die Inhaber von
immateriellen Schutzgütern auch im digitalen Zeitalter
schützen; sie brauchen genauso viel Rechte, wie es im
analogen Zeitalter notwendig war und ist . Deswegen ist
es auch ganz wichtig – der Kollege Durz hat darauf völ-
lig zu Recht hingewiesen –, dass wir nicht so tun, als ob
wir in einer globalen digitalen Welt mit nationalem Recht
und nationalen Gesetzen alles lösen könnten .
Die Plattformen, die es im Wesentlichen auf Urheber-
rechtsverletzungen abgesehen haben und darauf abzie-
len, die Profite einzufahren, sitzen eben nicht in Deutsch-
land . Sie sitzen nicht in Tuttlingen, sondern sie sitzen in
Timbuktu . Deswegen ist der Ansatz, den wir mit unserem
Entschließungsantrag gehen, nämlich dass wir den Geld-
strömen folgen wollen oder, besser formuliert, dass wir
solchen illegalen Plattformen nachhaltig den Geldhahn
zudrehen wollen, der richtige Ansatz . Mit dem Entschlie-
ßungsantrag haben wir genau das in das Hausaufgaben-
heft unserer Bundesregierung hineingeschrieben .
Ich glaube, wir können heute gemeinsam diesen Ge-
setzentwurf guten Gewissens beschließen . Ich würde
mich wirklich darüber freuen; ich sage das ausdrücklich
zu den Kolleginnen und Kollegen der Opposition . Ich
weiß, in der Stellenbeschreibung des Oppositionspoliti-
kers steht Lob für die Regierung nicht drin, das ist nicht
ausdrücklich erwähnt .
Aber vielleicht können auch Sie irgendwann einmal über
Ihren Schatten springen . Heute wäre dazu die Gelegen-
heit .
Herzlichen Dank .
Abschließender Redner in dieser Debatte ist der Kol-
lege Thomas Jarzombek für die CDU/CSU .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist heu-te ein guter Tag für das digitale Deutschland . Wir habenlange daran gearbeitet und heute einen Gesetzentwurfvorgelegt, den wir auch beschließen werden . DiesesGesetz ist vielleicht von seiner Bedeutung her nicht dasgrößte Gesetz dieser Legislaturperiode, aber vielleichteines, das die meisten Menschen zum Aufbruch bringtund eine ähnliche Dynamik freisetzt wie das Gesetz, mitdem wir es in der letzten Legislaturperiode erlaubt ha-ben, dass Fernbusse wieder Menschen zwischen Städtenkommerziell transportieren dürfen . Da ist ein richtigerBoom entstanden, und ich glaube, wir werden jetzt aucheinen WLAN-Boom in Deutschland erleben . Das ist dasZiel dieses Gesetzes . Deshalb bin ich froh, dass wir denGesetzentwurf heute hier beraten und gleich beschließenwerden .
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Der Deutsche Bundestag hat nach dem Struck’schenGesetz immer alles zu verändern . In meinen sieben Jah-ren als Bundestagsabgeordneter habe ich allerdings auchGesetze gesehen, die der Bundestag nicht mehr so durch-einandergeschüttelt hat, wie Herr Struck es damals soplastisch zum Ausdruck gebracht hat . Hier hat das Par-lament – da nehme ich den Kollegen von Notz als Kron-zeugen – doch wirklich einmal richtige Arbeit geleistetund das, was die Regierung uns vorgelegt hat, nicht nurein bisschen überarbeitet und ein Stückchen verändert;das Parlament hat vielmehr etwas Neues gebaut, waswirklich gut ist und von dem ich überzeugt bin, dass eseine effektive und endgültige Problemlösung ist .
Zu der Frage der Rechte wurde schon vieles gesagt .Ich glaube, es ist richtig, mit dem heutigen Tag einen Pa-radigmenwechsel einzuleiten . Würde man von der Postreden, würde man sagen: Jetzt ist wieder derjenige dran,der den Brief verschickt, und nicht der Postbote . – Jetztkann man auf das Internet bezogen sagen: Wir fokussie-ren unser Engagement auf diejenigen, die wirklich großeillegale Plattformen betreiben . Das sind diejenigen, diedamit Geld verdienen und massiv den Urhebern schaden .Wir gehen nicht mehr gegen Familien mit 14-jährigenTeenagern vor . Ich glaube, das ist die richtige Ausrich-tung für die Rechtsdurchsetzung in Deutschland .
Es wurde in den letzten Tagen sehr viel darüber disku-tiert, ob die Störerhaftung jetzt wirklich abgeschafft wirdoder nicht . Ich verstehe die Rolle der Opposition, und ichverstehe auch die Eitelkeiten derjenigen, die selber einenGesetzentwurf eingebracht haben, den sie übrigens einszu eins abgeschrieben haben . Das wurde vorhin schoneinmal gesagt . Wegen Plagiaten mussten manche hierschon zurücktreten .
Dass alle diejenigen jetzt enttäuscht sind, kann ichverstehen . Aber mit der Störerhaftung ist jetzt endgültigSchluss . Das ist ganz einfach zu erklären: Als hier vorhinjemand sagte, in einem Bundesland würden jetzt massivHotspots gebaut, raunte mir der Kollege von Notz zu:Hoffentlich gibt es auch eine ausreichende Prozesskos-tenkasse . – Lieber Kollege von Notz, wir stellen hier klar,dass das Providerprivileg, das für die Deutsche Telekomund andere gilt, künftig für jeden gilt, der in diesem Landein WLAN betreibt . Sie können ja einmal fragen, welcheProzesskostenkasse die Deutsche Telekom hat oder wel-che Prozesskostenkassen andere haben .
Auch können Sie fragen, wie viele Abmahnungen sie be-kommen haben .Sie haben auch gelesen, dass es einen Streit unterJuristen gibt . Sie wissen, dass beispielsweise ProfessorHärting zu Recht gesagt hat, vor Abmahnungen – –
– Frage stellen, nicht Zwischenrufe machen, bitte!
– Ja, eben!
– Ich wollte Sie nicht provozieren, aber ich gehe der Dis-kussion natürlich nicht aus dem Weg .
Ich vermute nach Ihrer Reaktion, dass Sie mit einer
Zwischenfrage des Kollegen Dr . von Notz einverstanden
sind .
Ja, sehr gerne .
Lieber Thomas Jarzombek, erst einmal vielen Dankfür die Aufforderung und das Zulassen der Frage . – Ichhabe die eilige Stellungnahme Ihres Sachverständigen,Herrn Härting, nach der Diskussion gelesen . Er stellte –ich hoffe, Sie glauben es mir jetzt einfach – in der Anhö-rung zu Punkt 8 auf Seite 2 seiner Stellungnahme – ichzitiere – mit Bezug auf die Regelung des Regierungsent-wurfs selbst und die Änderung des Bundesrates fest:Im Ergebnis teile ich vollumfänglich die Kritik desBundesrates an § 8 Abs . 4 TMG-E . Nur durch einevorbehaltlose Abschaffung jedweder Störerhaftungdes Betreibers wird man das erklärte Ziel erreichen,die WLAN-Abdeckung des öffentlichen Raumsnachhaltig zu fördern .
Jedwede Abschaffung! Sie haben diesen Unterlassungs-anspruch, der auch heute noch beklagt werden kann,eben nicht herausgenommen . Das haben Sie nicht hin-bekommen . Herr Knoerig hat auch gesagt, warum: weilman ihn eben nicht heraus haben will . Man will dieseUnsicherheit bewusst so belassen .
Sie vielleicht nicht; aber das war ja der Kompromiss .Und zu dem sollten Sie sich bekennen .
Thomas Jarzombek
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Lieber Kollege von Notz, ich kann mich gut an die
Anhörung erinnern . Interessanterweise habe ich gerade
noch nachgelesen, was Professor Härting geschrieben
hat . Die Kritik bezog sich ja auf den Regierungsentwurf,
den wir vollständig gestrichen haben . Genau den Satz,
den er kritisiert hat, haben wir gestrichen . Seine Äuße-
rungen bezogen sich darauf, dass im Regierungsentwurf
zwei Konditionen für das Entfallen der Störerhaftung
enthalten waren . Die erste Kondition betraf die Ver-
schlüsselung, die zweite bezog sich auf die Vorschaltsei-
te . Deshalb glaube ich, dass das ein Zeichen ist, dass wir
aus dieser Anhörung gelernt haben . Wir haben gelernt,
diese Dinge – was richtig ist – herauszunehmen . Insofern
sehe ich hier überhaupt keinen Gegensatz . Ich lese viel-
leicht einmal § 8 so vor, wie er jetzt eben besteht . – So,
jetzt ist er auf meinem iPad verschwunden .
– Das ist nicht so schlimm, ich habe auch eine mobile
Datenverbindung . Ich empfehle, das einmal nachzulesen .
§ 8 Telemediengesetz, der jetzt für alle gilt, stellt den Be-
treiber ausdrücklich frei . Das Einzige, was übrig bleibt,
ist der Unterlassungsanspruch .
Das ist auch richtig, weil wir sonst nicht mehr europa-
rechtskonform wären . Dann stünden wir wieder vor dem
EuGH .
Der Unterlassungsanspruch – das erklären wir auch
noch einmal in der Begründung – gilt dann, wenn es eine
gerichtliche Anordnung gibt . Härting schrieb heute oder
gestern dazu, dass man natürlich keinen Schutz vor einer
Abmahnung bekommen kann, weil eine Abmahnung ja
ungerechtfertigt sein kann . Wir können nur vor Urtei-
len – und damit gerechtfertigten Abmahnungen – schüt-
zen . Genau das ist es, was wir hier tun . Deswegen darf
sich hier keiner mehr hinter die Fichte führen lassen . Es
gibt keinen berechtigten Abmahnanspruch mehr . Punkt .
Aus . Ende .
Ich beziehe mich jetzt noch einmal auf einen Blogger,
der ansonsten noch viel härter mit allen ins Gericht geht .
Ich finde, dass Markus Beckedahl relativ milde war. Er
schrieb, diese ganze Debatte sei ein gutes Sinnbild für
den Zustand der Digitalen Agenda in der Großen Koa-
lition . Meine Damen und Herren, deshalb sage ich zum
Schluss: Es gibt diejenigen, die im Internet und in den
neuen Technologien viele Chancen sehen . Auch ich zäh-
le mich dazu . Es gibt aber auch viele, die sich fragen,
ob all diese Veränderungen, die jetzt mit solch einer Ge-
schwindigkeit kommen, richtig und gut sind . Sie meinen,
dass man das alles erst einmal durchdenken muss . Wir
müssen uns davor hüten, zuzulassen, dass diejenigen, die
den Weg vorangehen, eine Arroganz entwickeln gegen-
über denjenigen, die sagen: Wir müssen darüber noch
einmal einen Tag nachdenken und diskutieren . – Das be-
zieht sich auf die gesamte Bundesrepublik und nicht nur
auf den Deutschen Bundestag oder auf diese Koalition .
Ich glaube, das muss man bei jeder dieser Abwägungen
immer mit einbeziehen; sonst macht man einen großen
Fehler .
Jetzt sind alle gefordert, sich auf den Weg zu machen .
Ich erwarte, dass jetzt, wo die WLAN-Störerhaftung
abgeschafft ist, mehr WLANs geschaffen werden . Da-
mit meine ich die Städte . Ich appelliere jetzt an meinen
eigenen Oberbürgermeister: In Düsseldorf gibt es zwar
trotz der Störerhaftung schon WLANs – aber nur da,
wo zufällig schon Sendestationen eines großen Netzbe-
treibers sind . Ich erwarte, dass die Städte jetzt losgehen
und flächendeckende Zonen mit WLANs schaffen, das,
was wir als Voraussetzung geschaffen haben, nutzen, um
den Menschen ein wirklich tolles WLAN-Ergebnis zu
präsentieren . Ich fange selber damit in meinem eigenen
Wahlkreisbüro an . Ich lade alle ein, da zu surfen . Auf
die Abmahnungen, die nicht kommen werden, freue ich
mich schon heute .
Vielen Dank .
Damit schließe ich die Aussprache .Tagesordnungspunkt 7 a . Wir kommen jetzt zur Ab-stimmung über den von der Bundesregierung eingebrach-ten Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung desTelemediengesetzes . Der Ausschuss für Wirtschaft undEnergie empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 18/8645, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/6745 inder Ausschussfassung anzunehmen . Ich bitte jetzt dieje-nigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassungzustimmen wollen, um das Handzeichen . – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist da-mit in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmenvon CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der FraktionDie Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .Wir kommen jetzt zurdritten Beratungund Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit angenommen mit den Stimmen von CDU/CSUund SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke undder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 18/8645 empfiehlt der Ausschuss, eine Ent-schließung anzunehmen . Wer für diese Beschlussemp-fehlung stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-empfehlung ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU,SPD, Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Frakti-on Die Linke angenommen .1)Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 7 b .Abstimmung über den von den Fraktionen Bündnis 90/1) Anlage 3
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Die Grünen und Die Linke eingebrachten Entwurf einesGesetzes zur Änderung des Telemediengesetzes – Stö-rerhaftung . Der Ausschuss für Wirtschaft und Ener-gie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf derDrucksache 18/3861, den Gesetzentwurf der FraktionBündnis 90/Die Grünen und Die Linke auf Drucksa-che 18/3047 abzulehnen . Ich bitte jetzt diejenigen, diedem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-chen . Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiterBeratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD ge-gen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bünd-nis 90/Die Grünen abgelehnt . Damit entfällt nach unsererGeschäftsordnung die weitere Beratung .Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c auf:a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Stärkung der beruflichenWeiterbildung und des Versicherungs-schutzes in der Arbeitslosenversicherung
Drucksache 18/8042Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
Drucksache 18/8647
Drucksache 18/8648b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
– zu dem Antrag der Abgeordneten SabineZimmermann , Matthias W .Birkwald, Susanna Karawanskij, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKESchutzfunktion der Arbeitslosenversiche-rung stärken– zu dem Antrag der Abgeordneten BrigittePothmer, Kerstin Andreae, Markus Kurth,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENArbeitslosenversicherung gerechter gestal-ten und Zugänge verbessernDrucksachen 18/7425, 18/5386, 18/8647c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordneten
Brigitte Pothmer, Markus Kurth, Beate Müller-Gemmeke, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENArbeitsförderung neu ausrichten – Nachhalti-ge Integration und Teilhabe statt AusgrenzungDrucksachen 18/3918, 18/5119Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Widersprucherhebt sich dagegen keiner . Dann ist die Redezeit so be-schlossen .Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-nerin das Wort der Parlamentarischen StaatssekretärinAnette Kramme für die Bundesregierung .
A
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Unter dem etwas kompliziert lautenden Titel„Gesetz zur Stärkung der beruflichen Weiterbildung unddes Versicherungsschutzes in der Arbeitslosenversiche-rung“, kurz: AWStG, setzen wir ein weiteres Vorhabenaus dem Koalitionsvertrag um . Wir leisten mit diesemGesetz einen Beitrag zu einer präventiven und aktivie-renden Arbeitsmarktpolitik . Ich freue mich sehr, dassunser Gesetzentwurf bei den Sachverständigen überwie-gend auf positive Resonanz stößt . So begrüßen Arbeit-geber- und Gewerkschaftsseite sowie die Bildungs- undWohlfahrtsverbände, dass wir mit dem AWStG bei derFörderung der Grundkompetenzen, die für das Nachho-len eines Berufsabschlusses notwendig sind, bei Wei-terbildungsmaßnahmen für Geringqualifizierte und inkleinen und mittleren Unternehmen ein gutes Stück vor-ankommen . Außerdem führen wir Weiterbildungsprämi-en ein, die das Durchhalten bis zum Ende einer Ausbil-dung belohnen sollen .Wir haben über dieses Instrument lange Zeit disku-tiert . Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschunghat noch einmal unterstrichen, dass unser Modell mitabschlussbezogenen Prämien einen deutlich besserenAnreiz setzt als etwa ein Modell mit monatlichen Prä-mien . Die Betroffenen werden besser motiviert . Wireröffnen damit Menschen, denen bislang ganz grundle-gende Voraussetzungen fehlen, bessere Chancen auf demArbeitsmarkt. Es profitieren aber auch diejenigen, fürdie Weiterbildung bisher ohne Anreize oder schlichtwegverschlossen war, zum Beispiel in kleinen Handwerks-betrieben .Ein Wort auch zur Finanzierung der Weiterbildungs-förderung: Für das Jahr 2016 planen die Agenturen fürArbeit und die Jobcenter immerhin mit Ausgaben voninsgesamt fast 3 Milliarden Euro für die berufliche Wei-terbildungsförderung . Mit mehr Mitteln ist es aber nichtan jeder Stelle getan, wenn es an Kompetenzen zum Er-reichen eines Berufsabschlusses fehlt . Mit dem Gesetzgeben wir deshalb den Agenturen und Jobcentern künftigInstrumente an die Hand, um Kompetenzen aufzubau-en – gerade im niedrigqualifizierten Bereich –, Motiva-tionshemmnisse abzubauen und während der Weiterbil-dung noch besser zu unterstützen . Schließlich geht esnicht darum, was gut und teuer klingt, sondern darum,das zu tun, was hilft und was wirkt . Und am Ende gehtes darum, das umzusetzen, was geht und was wir hier imHaus auch durchbekommen .Vizepräsident Johannes Singhammer
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17067
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Ja, wir als Bundesministerium für Arbeit und Sozia-les haben vorgeschlagen, den Zugang zum Anspruch aufArbeitslosengeld, insbesondere nach einer befristetenBeschäftigung, auszuweiten, zu erleichtern und die so-genannte Rahmenfrist des Arbeitslosengeldbezuges ge-nerell auf drei Jahre zu erweitern . Das hätte bestimmtenErwerbsbiografien, die durch viele kurzzeitige Beschäf-tigungen geprägt sind, etwa im Kulturbereich, besserRechnung getragen .
Allerdings war dies innerhalb der Bundesregierungnicht durchsetzbar . Aber angesichts dessen, was wir er-reicht haben, was an Verbesserungen kommt, bin ich,sind wir durchaus zufrieden . Auch weil wir Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmern, die von Restrukturierungbetroffen sind, künftig schneller Zugang zu beruflicherWeiterbildung verschaffen . So können notwendige Qua-lifizierungen von Älteren und von geringqualifiziertenBeschäftigten bereits während der Zeit in einer Trans-fergesellschaft gefördert werden, wenn der Arbeitgebermindestens die Hälfte der Kosten trägt, auch bei Maß-nahmen, die zu einem Abschluss im Ausbildungsberufführen. Ich finde, dass wir damit das Instrumentariumder Transfergesellschaften in durchaus sinnvoller Weiseweiterentwickeln .Liebe Kolleginnen und Kollegen, beim AWStG gehtes auch darum, möglichst allen Menschen lebenslangesLernen zu ermöglichen . Weiterbildung darf kein Luxusfür wenige sein, Weiterbildung muss für alle möglichsein, egal welche Voraussetzungen sie mitbringen undegal wie groß der Betrieb ist, in dem sie arbeiten .Am Ende wollen wir ein Recht auf Weiterbildungerreichen – in der Praxis, nicht auf dem Papier . Ich binder festen Überzeugung, dass wir mit dem AWStG einenweiteren Schritt in die richtige Richtung gehen . Ich bittedeshalb um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf .Herzlichen Dank .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Zimmermann
für die Fraktion Die Linke .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Sehr geehrte Frau Staatssekretärin! Wis-sen Sie, dieser Gesetzentwurf ärgert mich eigentlich sorichtig . Sie haben davon gesprochen, dass das Gesetz soeinen schönen, schwierigen Namen hat . Ich sage, es istein vielversprechender Name: Gesetz zur Stärkung derberuflichen Weiterbildung und des Versicherungsschut-zes in der Arbeitslosenversicherung . Eine tatsächlicheStärkung habe ich aber leider in Ihrem Gesetzentwurfvergeblich gesucht .
Sie reden davon, dass Sie Langzeiterwerbslose ver-stärkt für eine berufliche Weiterbildung gewinnen undihre Motivation und ihr Durchhaltevermögen durchPrämien stärken möchten . Mal wieder tun Sie so, alsob die Menschen selber ganz alleine daran schuld wä-ren, in welcher Situation sie sich befinden, weil sie wohlnicht motiviert seien . Fragt sich nur: Wofür motiviert?In Wahrheit gibt es kaum Weiterbildungsangebote . Stattdies einzugestehen, bedienen Sie sich immer wieder derLegende vom unmotivierten Erwerbslosen . Das ist schä-big, meine Damen und Herren . Ich denke, damit muss indiesem Hause endlich mal Schluss sein .
Im Jahr 2010 gab es im Bereich des SGB II noch rund220 000 Zugänge zur beruflichen Weiterbildung, imletzten Jahr gab es nur noch rund 130 000 – ein Rück-gang um über 40 Prozent . Die Zahl der Erwerbslosen imRechtskreis des SGB II ging aber im selben Zeitraum umnur 10 Prozent zurück . Wenn Sie also behaupten wollen,dass der Rückgang der Weiterbildung den sinkenden Er-werbslosenzahlen folgt, verkaufen Sie die Menschen fürdumm . Da sagen wir: Das kann nicht sein .
Viele wollen sich weiterbilden, doch Sie lassen sienicht . Ich kenne genügend Beispiele aus den Bürger-sprechstunden in meinem Wahlkreisbüro oder aber auchaus meiner Gewerkschaftsarbeit . Anstatt die Weitbil-dungsinteressierten zu unterstützen, speisen Sie sie mitAlmosen ab, und selbst die kürzen Sie noch über Sankti-onen . So sieht Ihre Arbeitsmarktpolitik aus .Die Bundesregierung wollte einen besonderenSchwerpunkt beim Abbau der verfestigten Langzeitar-beitslosigkeit setzen . Jetzt sind bald drei Jahre vergan-gen, und es hat sich nichts getan . Hier haben Sie grandiosversagt .
Das können Sie nicht schönreden, so wie HerrSchiewerling immer alles schönredet . Er guckt gar nichthoch, er liest ganz verbissen, wahrscheinlich in den neu-esten Zahlen, die er wieder nicht versteht .
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache, HerrSchiewerling: Es gibt immer noch über 1 Million lang-zeiterwerbslose Menschen in diesem Land . Aber Sie tunan dieser Stelle nichts .
Wenn Sie mehr Weiterbildungsangebote möchten, dannmüssen Sie einfach auch Geld in die Hand nehmen, dannmüssen Sie dafür sorgen, dass mehr Bildungsmaßnah-men stattfinden. Denn Bildung ist das A und O, um aufdem Arbeitsmarkt bestehen zu können .Das Verhältnis muss sich umkehren: Anstatt denMenschen zu misstrauen oder sie zu verfolgen, sorgenSie lieber dafür, dass Langzeiterwerbslose ein Recht aufParl. Staatssekretärin Anette Kramme
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Weiterbildung bekommen! Dieses Recht fordern wir alsFraktion Die Linke ein .
Alles kann man aber nicht mit Weiterbildung lösen;denn nicht immer sind es fehlende Qualifikationen, dieeiner Arbeitsaufnahme im Weg stehen . Viele Menschensind sogar überqualifiziert, weil sie zwei, drei oder vierBerufsabschlüsse haben . In vielen Regionen gibt esreichlich qualifizierte Erwerbslose, aber viel zu wenigeArbeitsplätze . Das ist leider Realität, zum Beispiel inOstsachsen: Erst gingen die Betriebe, dann gingen dieBeschäftigten, die Arbeitskräfte; heute ist diese Regionfast ausgeblutet . Wir brauchen hier Perspektiven . Des-halb fordern wir schon lange die Einführung eines öffent-lich geförderten Beschäftigungssektors .
Nun zur Arbeitslosenversicherung . Dazu gibt es in Ih-rem Gesetzentwurf ja wirklich überhaupt nichts zu fin-den . Über zwei Drittel der Erwerbslosen werden nicht imBereich der Arbeitslosenversicherung betreut, sondernim Hartz-IV-System . Fast ein Viertel der Beschäftigten,die erwerbslos werden, fallen direkt in Hartz IV . Das istIhre Arbeitsmarktpolitik der letzten 15 Jahre .Die Arbeitslosenversicherung muss wieder der Regel-fall bei der Absicherung von Erwerbslosigkeit sein . Diesbetrifft auch im besonderen Maße die kurzzeitig Be-schäftigten wie Filmschaffende, aber auch etliche Leih-arbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer gehören dazu .Für diese bieten Sie ein völlig unzureichendes Angebot .
Eine wirkliche Antwort wäre, die Rahmenfrist wiedervon zwei auf drei Jahre zu erweitern
und einen Anspruch auf das Arbeitslosengeld bereitsnach vier Monaten Beitragszeit zu gewähren .
Ich komme zum Schluss . Diesen Fehler sozialdemo-kratischer Regierungsverantwortung zu korrigieren, soll-te eigentlich auch Anliegen der Genossinnen und Genos-sen der SPD sein . Ich weiß natürlich, dass Sie das nichtwollen . Für eine tatsächliche Umsetzung scheinen Sie imMoment saft- und kraftlos zu sein .Danke schön .
Vielen Dank . – Als nächsten Redner rufe ich jetzt den
Kollegen Albert Weiler, CDU/CSU-Fraktion, auf .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich habemir sagen lassen, Herr Schiewerling kann keine Zahlenlesen, die SPD kann auch nichts;
es geht also ganz schön unter die Gürtellinie hier . LassenSie uns demgegenüber darauf zu sprechen kommen, wasdas Gesetz wirklich kann .Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung dasvon uns eingebrachte Gesetz zur Stärkung der beruflichenWeiterbildung und des Versicherungsschutzes in der Ar-beitslosenversicherung . Mit diesem Gesetz nehmen wirvor allem Geringqualifizierte, Ungelernte und Langzeit-arbeitslose in den direkten Fokus, um diese verstärkt inexistenzsichernde Arbeit zu vermitteln, sie passgenau zuqualifizieren und zu begleiten.Das ist wichtig und richtig . Das IAB bestätigt, dassGeringqualifizierte, die an einer abschlussbezogenenWeiterbildung teilgenommen haben, eine 20 Prozent hö-here Beschäftigungswahrscheinlichkeit aufweisen, unddas auch noch nach sieben oder acht Jahren . Dr . Kruppevom IAB spricht von sehr hohen und sehr deutlichen Ef-fekten .Unser Gesetz enthält einen ganzen Blumenstraußsinnvoller Maßnahmen, mit denen wir den Zugang zurberuflichen Weiterbildung für Geringqualifizierte, Lang-zeitarbeitslose und Ältere verbessern und die beruflicheQualifikation enorm erhöhen. Auf einige will ich kurzeingehen .Wir werden die Grundkompetenzen für Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer stärker fördern . Daher för-dern wir zur Vorbereitung auf eine abschlussbezogeneberufliche Weiterbildung notwendige Grundkompeten-zen in den Bereichen Lesen, Schreiben, Mathematik undInformations- und Kommunikationstechnologien .
– Danke . – Lese- und Rechenfähigkeit sind unabdingbareVoraussetzungen, um die berufliche Handlungsfähigkeitzu erwerben, um schlussendlich auch einen Berufsab-schluss erfolgreich nachholen zu können .Wir werden Weiterbildungsabbrüchen vorbeugen,indem wir zur Stärkung von Motivation und Durchhal-tevermögen Teilnehmerinnen und Teilnehmern einerabschlussbezogenen Weiterbildung beim Bestehen derZwischenprüfung eine Prämie von 1 000 Euro zahlen .Bei Bestehen der Abschlussprüfung kommen noch ein-mal 1 500 Euro dazu . Derzeit bricht jeder Vierte vorzei-tig seine Weiterbildung ab . Wenn wir es schaffen, dieseQuote zu verringern, dann ist das gut investiertes Geld .
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Weiterbildungs-förderung für Beschäftigte in kleinen und mittleren Un-ternehmen. Diese wird weiter flexibilisiert und in Betrie-Sabine Zimmermann
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ben mit weniger als 250 Beschäftigten künftig gefördert .Wir stärken in diesem Zusammenhang die Möglichkeitender Kofinanzierung von beruflicher Weiterbildung durchdie Agenturen für Arbeit und die Arbeitgeber .Das Gesetz verbessert zudem den Schutz für berufli-che Unterbrechungen bei Weiterbildung oder Kinderer-ziehung nach dem dritten Lebensjahr . Wir schaffen hierdie Möglichkeit zur freiwilligen Weiterversicherung, umLücken im Versicherungsschutz zu vermeiden .Wir entfristen die bis zum 31 . Dezember 2016 befris-tete Leistung, nach der innovative Ansätze in der Arbeits-marktpolitik erprobt werden können . Damit stellen wirder Bundesagentur für Arbeit künftig dauerhaft innovati-onsfördernde Instrumente zur Verfügung . Das bietet dieChance, neue Handlungsansätze in der Arbeitsmarktpo-litik zu erproben sowie flexibel auf Entwicklungen amArbeitsmarkt zu reagieren . Wir fördern somit gezielt dieKooperation der BA mit verschiedenen Partnern auf re-gionaler Ebene . Daraus werden sich Synergieeffekte fürdie verstärkte Netzwerkarbeit der Agenturen für Arbeitergeben .Ich will es einmal auf den Punkt bringen: Wir stärkenmit unserem Gesetz erstens eine breitere und stärkerePartizipation von Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mern an Fort- und Weiterbildung . Zweitens erhöhen wirdie Durchlässigkeit für einen beruflichen Aufstieg. Wirverbessern drittens die Teilhabe am Arbeitsleben und inder Gesellschaft . Wir leisten viertens einen wichtigenBeitrag zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, undfünftens geben wir der BA dauerhaft flexible innovativeInstrumente an die Hand, mit denen sie für die Situationund die Region passende Maßnahmen stricken kann, umArbeitslose innovativ in den Arbeitsmarkt zu bringen .
– Vielen Dank .Ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit diesemGesetz große Chancen bei der Bekämpfung der Lang-zeitarbeitslosigkeit eröffnen, und danke denen, die darangearbeitet haben . Ich freue mich darauf, dass Sie demGesetz zustimmen .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Für Bündnis 90/Die Grünen spricht
jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! PeterStruck hat bekanntermaßen einmal gesagt: Kein Gesetzverlässt den Bundestag so, wie es eingebracht wordenist . – Formal trifft das auch auf dieses Gesetz zu, in-haltlich leider nicht, obwohl die Koalition in der Aus-schussanhörung, wie ich finde, mit substanzieller Kritikbedacht worden ist . Frau Kramme, da waren wir offen-sichtlich in zwei unterschiedlichen Veranstaltungen . Ichfinde es schade, dass Sie sich trotz dieser Kritik so bera-tungsresistent gezeigt haben .
Dabei wissen Sie es doch selbst; denn die Zahlen ha-ben wir von Ihnen: Über 1 Million Menschen sind neunJahre und länger im Hartz-IV-Bezug . Das ist wirklich eingrandioses Versagen der Arbeitsmarktpolitik . Das liegtan den Kürzungen, die im Bereich der aktiven Arbeits-marktpolitik vorgenommen wurden . Das liegt daran, dassSie jahrelang nur Kurzfristmaßnahmen gemacht haben,die eben nicht zu einer besseren Qualifizierung geführthaben, und das liegt vor allen Dingen daran, dass Sienach dem Motto gehandelt haben: Vermittlung um jedenPreis, ganz unabhängig davon, ob es in irgendeiner Weisenachhaltig ist . Diese Strategie ist wirklich gescheitert .
Ihre Analyse, die Sie in den Gesetzentwurf hineinge-schrieben haben, ist ja durchaus richtig . Sie sagen: Wirhaben in Deutschland einen Fachkräftearbeitsmarkt, undfür einen solchen Fachkräftearbeitsmarkt braucht manbekanntlich Fachkräfte; die muss man qualifizieren, undin die muss man investieren . Jetzt behaupten Sie, dassSie dies mit genau diesem Gesetzentwurf tun würden .
Das machen Sie in begrenztem Umfang tatsächlich fürdie Arbeitslosengeld-I-Bezieherinnen und -Bezieher .Aber, liebe Frau Kramme, lieber Herr Weiler – Sie habenhier das große Loblied auf die Bedeutung der Weiterbil-dung gesungen –: Warum gilt dies bitte schön nicht fürSGB-II-Bezieher, also für diejenigen, die Hartz IV be-ziehen? Warum gilt für die nicht, dass Weiterbildung vorVermittlung steht? Das, was Arbeitslosengeld-I-Bezie-her kriegen, kriegen die SGB-II-Bezieher nicht . Warumnicht? Erläutern Sie uns das mal!
Für die gibt es keinen einzigen Cent zusätzlich für dieWeiterbildung .Die Jobcenter stehen vor der Wahl zwischen Pest undCholera: Entweder sie fördern einige wenige etwas bes-ser, oder sie fördern viele ganz schlecht . Meine Damenund Herren, so kann das nicht weitergehen . Mit diesemGesetzentwurf zeigen Sie zum x-ten Mal, dass Sie dieSGB-II-Bezieher vollständig abgeschrieben haben . Daswerden wir nicht hinnehmen .
Kapituliert haben Sie offensichtlich auch vor der Auf-gabe, die Arbeitslosenversicherung für die veränderteArbeitswelt fit zu machen. Angesichts dessen, dass Siemit Ihrer Sonderregelung nur 0,6 Prozent derjenigen er-reichen, die Sie erreichen wollten, können Sie doch selbstnur sagen: Die ist vollständig wirkungslos . – Da Sie die-se wirkungslose Regelung jetzt noch einmal verlängernund damit vor der Aufgabe, in dieser LegislaturperiodeVeränderungen vorzunehmen, kapitulieren: Bitte, sagenAlbert Weiler
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Sie nie wieder: Eine Große Koalition ist dafür da, großeAufgaben zu lösen . – Das hier ist Pipifax .
Wenn dieser Gesetzentwurf, wenn diese Regelung dieBlaupause dafür sein soll, wie Sie zukünftig mit den An-forderungen von Arbeit 4 .0 umgehen wollen, kann ichnur sagen: Gute Nacht, Marie! Arbeit 4 .0 ist nicht irgend-etwas, was in der Zukunft stattfindet. Das hat bereits be-gonnen, und deswegen müssen wir die Regelungen jetztanpassen . Das dürfen wir nicht auf den Sankt-Nimmer-leins-Tag verschieben .
Aber, meine Damen und Herren, ich bin ja fair .
Deswegen sage ich an dieser Stelle auch: Ja, der Gesetz-entwurf enthält auch einige wenige positive Elemente .
Wir finden es gut, dass es jetzt möglich wird, auch dieAusbildung von Grundqualifikationen zu fördern. Wirfinden es gut, dass es eine Verbesserung der präventivenQualifizierung gibt. Deswegen werden wir – schwerenHerzens – diesen Gesetzentwurf nicht ablehnen, sondernuns enthalten . Aber, meine Damen und Herren, verstehenSie das nicht falsch . Das ist wirklich ein großes Zuge-ständnis . Nehmen Sie zur Kenntnis: Dieser Gesetzent-wurf löst die Herausforderungen, vor denen wir stehen,wirklich nicht .Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Als Nächstes hat jetzt der Kollege
Michael Gerdes, SPD-Fraktion, das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die ver-schiedenen Maßnahmen des AWStG wurden nun schonmehrfach zitiert . Sie sind bekannt . Ich möchte deshalbnoch einmal unsere Zielrichtung in den Mittelpunkt stel-len .Dieser Gesetzentwurf, Frau Pothmer, ist kein Pipifax .
Herzlichen Dank, dass Sie sich kraftvoll enthalten wer-den! Wir verabschieden diesen Gesetzentwurf, damitmehr Menschen in unserem Land Zugang zu berufli-cher Weiterbildung und Ausbildung haben . Wir wollenmöglichst vielen die Chance geben, so qualifiziert wiemöglich zu arbeiten . Wir wollen denjenigen, die bishervon Arbeit und Ausbildung ausgeschlossen waren, neueWege eröffnen .
Es ist aus sozialen sowie aus gesellschaftlichen Gründennicht hinnehmbar, dass die Mehrheit der Menschen imSGB-II-Bezug keinen Berufsabschluss nachweisen kann .Warum wir das AWStG so begrüßen, liegt auf derHand: Je geringer die Qualifikation, desto schlechter dieChancen, desto weniger Teilhabe . Wir Sozialdemokra-ten wollen selbstverständlich das Gegenteil: Wir wollenmehr Menschen durch gute Arbeit teilhaben lassen amgesellschaftlichen Leben. Die Fragen der beruflichenWeiterbildung werden nicht zuletzt auch aufgrund vonGlobalisierung und Digitalisierung immer dringender .Einerseits wird immer schneller neues Wissen abgefor-dert, andererseits müssen aber auch die Grundlagen stim-men . Deshalb ist es uns so wichtig, sprachliche sowiemathematische Grundkompetenzen zu fördern .
Arbeitsförderung mit Zukunft heißt für uns, die Be-schäftigungsfähigkeit zu sichern, und das geht nicht ohneBildung . Das geht auch nicht ohne stetige Auffrischungund Erweiterung des eigenen Könnens . Die Verantwor-tung für die berufliche Weiterbildung ruht auf mehrerenSchultern: Staat, Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssenihren Beitrag leisten .In der gestrigen Ausschusssitzung hieß es, die Regie-rungsfraktionen vertrauten ihrem eigenen Gesetzentwurfnicht . Doch, das tun wir . Ich bin überzeugt, dass Ideenund Ziele richtig sind . Das haben im Übrigen auch dieExperten in der Anhörung bestätigt . Ich war übrigens beider gleichen Veranstaltung wie Frau Kramme .Gleichwohl werden nicht alle Probleme des Arbeits-markts mit dem AWStG allein gelöst; das ist richtig .Liebe Frau Zimmermann, ja, wir haben es zum Beispielnicht geschafft, im Rahmen dieses Gesetzentwurfs denZugang zum Arbeitslosengeld I so zu regeln, dass kurz-zeitig Beschäftigte, insbesondere im Kulturbereich, bes-ser abgesichert sind . Das bleibt für die SPD aber auf derTagesordnung; das kann ich Ihnen versprechen .
Für mich als Abgeordneter aus dem Ruhrgebiet bleibtebenso auf der Agenda, dass wir mit Blick auf Langzeit-arbeitslose eine Doppelstrategie fordern . Wir müssengleichzeitig auch alternative Wege ebnen, wir müssendie Bildung der Menschen fördern, und wir wollen bei-spielsweise auch den sozialen Arbeitsmarkt auf den Wegbringen . Es ist besser, Beschäftigung statt Arbeitslosig-keit zu finanzieren.
Für Betroffene bedeutet der soziale Arbeitsmarkt ge-sellschaftliche Teilhabe . Er bedeutet Minimierung mate-rieller und kultureller Teilhabedefizite sowie verbesserteChancen auf Reintegration in den ersten Arbeitsmarkt .Brigitte Pothmer
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Nebenbei werden auch eigenständige Ansprüche in densozialen Sicherungssystemen geschaffen . Ich glaube, dasist einer der Wege, den wir gehen werden .Herzlichen Dank, Glück auf!
Vielen Dank . – Als Nächstes spricht der Kollege Uwe
Lagosky, CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Frau
Pothmer, wir haben es eben gerade noch einmal klären
lassen . Es kam auch im Ausschuss zur Sprache, ist dort
aber nicht geklärt worden . Es ist so: Der Instrumenten-
kasten des SGB III gilt über die Verweisklausel auch
für das SGB II . Insofern ist das, was Sie gesagt haben,
scheinbar – scheinbar; das sage ich ganz bewusst an der
Stelle – nicht richtig .
Die Arbeitslosenquote von Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern mit einem qualifizierten Berufsab-
schluss entwickelt sich in Richtung Vollbeschäfti-
gung .
Das ist ein Zitat aus der Begründung des Gesetzentwurfs
und bringt zum Ausdruck, dass wir in Deutschland auf
dem richtigen Weg sind . Doch trotz der guten Konjunk-
tur und der vielen unterschiedlichen Unterstützungspro-
gramme und der immensen Arbeit, die die Jobcenter und
Arbeitsagenturen leisten, hat sich an der Zahl von 1 Mil-
lion Langzeitarbeitslosen in den letzten Jahren nicht viel
geändert .
Es kommen Menschen aus der Langzeitarbeitslosigkeit
heraus . Dafür kommen andere wieder hinein .
Daher ist es von besonderer Bedeutung, sich mit den
Wurzeln des Problems auseinanderzusetzen . Das wollen
wir vor dem Hintergrund dieser Zahlen bei der Langzeit-
arbeitslosigkeit tun .
Der vorliegende Gesetzentwurf setzt bei der Stärkung
der beruflichen Weiterbildung an und enthält eine Rei-
he von Schritten, um die von Langzeitarbeitslosigkeit
betroffenen Menschen besser vermittelbar zu machen .
Mindestens genauso wichtig in dem Gesetzentwurf, den
wir heute verabschieden, ist aber die Tatsache, dass wir
Beschäftigten mit einer geringen Qualifikation, die im
Beruf stehen, über die berufliche Weiterbildung in der
Zukunft eine entsprechende Förderung zukommen las-
sen können . Damit kann präventiv erreicht werden, dass
eine mögliche Langzeitarbeitslosigkeit dieser Menschen
verhindert wird .
Wir helfen Beschäftigten, Grundkompetenzen zu er-
werben, um einen Berufsabschluss nachzuholen . Sie
haben künftig Anspruch auf Förderleistungen in den
Bereichen Lesen, Schreiben, Mathematik, Informations-
und Kommunikationstechnologien . Das haben wir heute
schon gehört .
Herr Kollege Lagosky, gestatten Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Pothmer?
Ich würde das gerne auf das Ende verschieben . Jetztnicht .
Wir gehen davon aus, dass die Digitalisierung der Ar-beitswelt und die Veränderung, die damit einhergeht, einlebenslanges Lernen erfordern . Insbesondere vor demHintergrund der Arbeitswelt 4 .0 steigen die Ansprüchean die Beschäftigten in allen Bereichen . Dies ist schonheute zu erkennen . Deshalb ist es umso wichtiger, dasswir diese Menschen, die eine geringe Qualifikationsstu-fe haben, im Beruf so fördern und fordern, dass sie denAnschluss an den Arbeitsmarkt in der Zukunft nicht ver-lieren .Die bereits vorhandene Weiterbildungsförderung fürBeschäftigte in kleinen und mittelständischen Unterneh-men hat zu einer wachsenden Nachfrage nach Weiter-bildungsmaßnahmen geführt . Daher führen wir eine zu-sätzliche altersunabhängige Förderung von beruflichenWeiterbildungen außerhalb der Arbeitszeit ein, die an dieBedingung geknüpft ist, dass die Arbeitgeber 50 Prozentder Kosten übernehmen .In der gesamten deutschen Wirtschaft ist die berufli-che Weiterbildung von absolut großer Bedeutung . DieWeiterbildungsförderung insbesondere in kleinen undmittelständischen Unternehmen ist ganz besonders wich-tig, weil man hiermit denjenigen, die in diesem Bereicharbeiten und eine geringe Qualifizierung haben, zusätzli-che Weiterbildungen ermöglicht . Der Regierungsentwurfenthält eine ganze Reihe von Schritten, um langzeitar-beitslose Menschen effektiver und nachhaltiger zu unter-stützen .Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz all dieser Maß-nahmen ist aber nicht außer Acht zu lassen, dass es ex-trem schwierig ist, Langzeitarbeitslose zu vermitteln,weil es eine ganze Reihe von Vermittlungshemmnissengibt, die nicht nur mit Qualifizierung zu tun haben. Daszeigt auch die Eingliederungsquote nach arbeitsmarktpo-Michael Gerdes
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litischen Maßnahmen von etwa 23 Prozent im Jahr 2014,wie dem Bericht der BA zur Arbeitsmarktsituation vonlangzeitarbeitslosen Menschen zu entnehmen ist . Das istaus meiner Sicht einfach zu wenig .Die Gründe für Langzeitarbeitslosigkeit – ich sagte esschon – sind vielschichtig, und sie lassen sich nicht in-nerhalb kurzer Zeit beseitigen . Unterschiedliche Vermitt-lungshemmnisse beeinflussen die Arbeitsvermittlung.Neben der Frage der Qualifikation sind es unter anderemgesundheitliche Einschränkungen, aber auch Suchtpro-bleme und die Umstände, dass man älter als 55 Jahre istoder in nicht gefestigten Familienstrukturen lebt . All die-se Dinge spielen dabei durchaus eine Rolle und führen zuVermittlungshemmnissen .Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich kommezum Schluss . Unser Ziel bleibt es, den Menschen einePerspektive zu geben und ihnen die Integration in denArbeitsmarkt zu ermöglichen . Der beste Schlüssel dafürist der Zugang zu beruflicher Weiterbildung.Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Jetzt hat die Kollegin Pothmer zu einer
Kurzintervention das Wort .
Herr Lagosky, es nützt nichts, meine Frage nicht zuzu-
lassen; ich lasse mich nicht mundtot machen .
Frau Präsidentin, ich danke Ihnen, dass Sie mir die-
se Möglichkeit eröffnen, weil meine Aussage, das gelte
für das SGB II nicht, infrage gestanden hat . Ich will hier
ausdrücklich betonen, dass diese Aussage richtig ist . Der
Vorrang der Weiterbildung vor der Vermittlung gilt nur
für das SGB III . Aus diesem Grund hat die Bundesagen-
tur für Arbeit in der Anhörung ausdrücklich eine korre-
spondierende Regelung für das SGB II gefordert . Auch
der Paritätische Wohlfahrtsverband hat in der Anhörung
stark kritisiert, dass diese Möglichkeit eben nicht im Hin-
blick auf das SGB II gilt . Meine Damen und Herren, ich
habe doch den Eindruck, dass wir bei sehr unterschiedli-
chen Veranstaltungen waren .
Ich danke Ihnen .
Herr Kollege Lagosky, möchten Sie darauf antwor-
ten? – Dann haben Sie jetzt das Wort .
Frau Pothmer, zunächst einmal hat es sich so ange-
hört, als ob Sie Ihre Aussage auf den gesamten Instru-
mentenkasten bezogen haben .
– So hat es sich in Ihrer Rede angehört; insofern mag an
dieser Stelle durchaus noch eine Differenz zwischen uns
bestehen . Wie ich höre, ist das aber nicht der Fall . Ich
kann das an dieser Stelle nicht endgültig aufklären; wir
sollten das aber machen . Gemeinsam mit dem Bundes-
ministerium für Arbeit und Soziales sollten wir das, was
Sie eben gesagt haben, klären .
Trotzdem kann ich Ihre Auffassung nicht verstehen .
Wenn Sie diesen Gesetzentwurf hier und heute mögli-
cherweise ablehnen, was Sie an anderer Stelle ja schon
einmal geäußert haben,
dann verstehe ich nicht, warum Sie das tun . Wir haben
mit Blick auf das SGB III den Vorrang der Vermittlung
vor der Weiterbildung, also den Vermittlungsvorrang,
aufgehoben . Ich verstehe nicht, warum Sie dem nicht
zustimmen wollen . Das ist eine ureigene Forderung von
Ihnen, die Sie in einem Antrag erhoben haben . Auch Sie
hätten an dieser Stelle etwas erreicht, wenn Sie heute zu-
stimmen würden . Ich bitte darum, dass Sie das auch tun .
Frau Kollegin Pothmer, ich kann Ihnen jetzt nicht
noch einmal das Wort geben, weil wir hier keine Zwie-
gespräche führen . Der einzelne Abgeordnete hat nur die
Gelegenheit, kurz etwas zu einem Sachverhalt zu sagen .
Als Nächster darf der Kollege Dr . Ernst Dieter
Rossmann, SPD-Fraktion, das Wort ergreifen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn meine Fraktion mir die Möglichkeit gibt, hier alsBildungspolitiker etwas zu sagen, dann tut sie das, weildrei Zahlen uns ja wohl alle bewegen: Es gibt 7,5 Milli-onen funktionale Analphabeten in Deutschland und über5 Millionen Menschen, die sich ohne abgeschlosseneBerufsausbildung im Erwerbsstatus befinden, von denenüber 1 Million unter 30 Jahre alt ist .Wenn man diese Zahlen auf sich wirken lässt, kannman nur für jeden Baustein dankbar sein, den wir einset-zen können, um mehr Chancen für diese verschiedenenGruppen von Menschen zu ermöglichen – für jeden ein-zelnen Baustein .
Uwe Lagosky
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Ich will das jetzt nicht zu emotional machen, es aberauch in Relation dazu setzen, wie diese Koalition hierressortübergreifend arbeitet . Wir haben uns gefreut, dassStaatssekretär Rachel für das BMBF sagen konnte: DieKommunen und die Länder engagieren sich in der Alpha-betisierungsdekade, und das BMBF gibt 100 MillionenEuro über zehn Jahre dazu .Jetzt kommen in der Solidargemeinschaft der Arbeits-losenversicherung noch 230 Millionen Euro für zehnJahre obendrauf, um die Grundkompetenzen von Lesen,Schreiben und Rechnen zu vermitteln und so einen Ein-stieg in Arbeit zu ermöglichen . Welch ein Erfolg! Welchein Schritt, auf dem man aufbauen kann!
Es geht um die Menschen, die keine abgeschlosseneBerufsausbildung haben, bis zum Alter von 30 Jahrenoder darüber hinaus . Dort schaffen wir jetzt ein Instru-mentarium, das neu ist und dem manche auch nicht un-eingeschränkt zugestimmt haben, nämlich die sogenann-te Weiterbildungsprämie .Die Weiterbildungsprämie hat ja eine Vorgeschichte .Mit ihr hat man unter anderem in England gute Erfahrun-gen gemacht . Sie hat in Teilen eine positive Evaluation ineinem nicht unbedeutenden Land wie Thüringen erfah-ren . Vielleicht können sich auch die Vertreter der Links-fraktion in Bezug auf Thüringen sachkundig machen undsich einmal anschauen, welche ersten Erfolge sich dortschon abzeichnen .
Im Übrigen ist es doch nur gut, wenn Menschen, diemit 25 oder 30 Jahren, also in einem Alter, in dem mancheresignieren, ihre zweite Chance ergreifen, in eine Berufs-ausbildung einsteigen und über eine Zwischenprüfungund eine Abschlussprüfung einen Abschluss bekommen,das auch als Erfolg in der Form erleben, dass es für sienicht ein Schulterklopfen nach dem Motto „Jetzt hast dues auch geschafft“ oder eine Urkunde in Goldschnitt gibt,sondern etwas sehr Handfestes, etwas, was sie begreifen,was ihnen nützt, mit dem sie renommieren können undaufgrund dessen sie sich etwas leisten können . So ist dieWeiterbildungsprämie doch gemeint – als Anstoß, alsMotivation, als Aufforderung, durchzuhalten .
Frau Zimmermann, ich verstehe überhaupt nicht, dassSie das so abtun, als sei es diskriminierend gemeint .Nein, Diskriminierung findet im deutschen humanis-tischen Bildungswesen bisher an einer anderen Stellestatt . Zum Beispiel diejenigen, die die High Potentialsin der Wissenschaft sind, oder diejenigen, die ein ganztolles Abitur machen, bekommen selbstverständlich ihrePrämien, nämlich als spezielles Stipendium oder als be-sonderen Gutschein oder anderes . Aber denjenigen, diesich verdammt anstrengen, um von ganz unten mit müh-samsten Möglichkeiten Schritt für Schritt nach oben zukommen, verwehrt man das .
Herr Kollege Rossmann, gestatten Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Pothmer?
Das brechen wir jetzt auf .
Umgekehrt ist das, was die Arbeitsmarktpolitiker, die
Bildungspolitiker und andere jetzt hier zusammen tun,
auch eine Art und Weise, die Gleichwertigkeit von be-
ruflicher und akademischer Bildung im Grundverständ-
nis mit umzusetzen . Zwar kann man immer noch mehr
machen . Das wird auch geschehen, wenn es denn jetzt
wirksam wird . Aber man soll die ersten Bausteine nicht
kleinreden . Das ist ein Wunsch, den wir zusammen ha-
ben .
Danke schön .
Vielen Dank . – Als letzte Rednerin zu diesem Ta-
gesordnungspunkt hat jetzt die Kollegin Dr . Astrid
Freudenstein, CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Wir befinden uns im Jahre 2016. Ganz Europa leidetnoch unter den Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise,der Staatsschulden- und der Bankenkrise .
Ganz Europa? Nein, ein von unbeugsamen Deutschenbevölkertes Land stellt sich dieser Krise wacker entge-gen und vermeldet einen Arbeitsmarktrekord nach demanderen .
Das Leben ist deshalb tatsächlich nicht leicht für diedeutsche Opposition, die offenbar mit ihrer Politik dieseBlütezeit beenden will .
Liebe Opposition, Frau Zimmermann, Sie kommenmir wirklich vor wie die Römer bei „Asterix“ .
Sie versuchen es immer wieder . Aber ich sage Ihnen: Sowird das nichts; denn die Zahlen, die nicht nur der Kol-lege Schiewerling sehr gut lesen kann, sondern die wirvon der Union alle ganz gut lesen können, sprechen eineandere Sprache .
– Ein schlaues Dorf . – Als Angela Merkel 2005 Bun-deskanzlerin wurde, lag die Arbeitslosenquote bei fastDr. Ernst Dieter Rossmann
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12 Prozent . Erst vorgestern kamen die aktuellen Zahlenheraus . Jetzt liegen wir bei 6 Prozent . Das heißt: UnterUnionsregierung hat sich die Zahl der Arbeitslosen in-nerhalb eines Jahrzehnts halbiert .
Dazu gehört natürlich eine gute Konjunktur . Dazugehören natürlich Fleiß und Leistungsbereitschaft derArbeitnehmer . Dazu gehören natürlich die Risikobereit-schaft und die Innovationskraft deutscher Unternehmer .Aber natürlich haben wir dafür auch mit unserer Politikdie Weichen richtig gestellt . Die Kosten der Arbeit zumBeispiel sind ein wichtiger Faktor . Wenn wir es weiterhinschaffen, die Lohnnebenkosten niedrig zu halten, dannbleibt Deutschland weiter attraktiv, und zwar für Arbeit-nehmer wie für Arbeitgeber .Nicht umsonst hat Rot-Grün damals die Rahmenfristin der Arbeitslosenversicherung auf zwei Jahre gesenktund die Anwartschaftszeit bei zwölf Monaten belassen .Das hat Wirkung gezeigt . Seit fast fünf Jahren ist derBeitragssatz stabil . Das hilft den Arbeitnehmern, denendamit mehr Netto vom Brutto bleibt .Natürlich hat sich der deutsche Arbeitsmarkt in denvergangenen Jahren verändert; Sie haben das in IhrenAnträgen etwas überspitzt beschrieben . Es gibt tatsäch-lich eine Flexibilisierung in den Arbeitsverhältnissen . Esgibt mehr Befristungen, mehr Teilzeit, mehr Jobwechsel .Aber all das verhindert nicht, dass man innerhalb von24 Monaten 12 Monate Anwartschaft erwerben kann .Das ist auch möglich, wenn man in Teilzeit arbeitet oderwenn man befristet beschäftigt ist . Was im Prinzip ganzgut funktioniert, das sollte man nicht einfach über denHaufen werfen . Wir sollten Änderungen an den Stellenbeschließen, an denen wir das System noch weiter ver-bessern können . Genau das tun wir mit dem vorliegendenGesetzentwurf .
Wir wissen, dass Weiterbildung in unserem speziali-sierten Arbeitsleben immer wichtiger wird . Deswegenwollen wir genau jene unterstützen, die sich weiter qua-lifizieren. Dazu werden wir beispielsweise die Weiter-bildungsförderung flexibilisieren oder Förderleistungenzum Erwerb von Lesen, Schreiben und Rechnen schaf-fen .Auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wirdimmer wichtiger . Wenn wir das Fachkräftepotenzial vonFrauen heben wollen, dann müssen wir zum Beispiel denArbeitslosenversicherungsschutz bei der Kindererzie-hung erweitern .Auch den speziellen Erwerbsbiografien wird Rech-nung getragen . Die Sonderregelung für überwiegendkurzfristig Beschäftigte zum Beispiel macht genau dortAusnahmen, wo es strukturelle Nachteile auszugleichengilt, zum Beispiel bei Kulturschaffenden, die immerwieder kurze Arrangements haben . Sie haben einen An-spruch, wenn sie innerhalb von zwei Jahren sechs stattder üblichen zwölf Monate Anwartschaftszeit erfüllen .Diese Sonderregelung wird jetzt verlängert . Das ist ersteinmal in Ordnung so . Danach werden wir uns überlegenmüssen, mit welchen dauerhaften und systemkonformenInstrumenten wir den Zugang von Kulturschaffenden zurArbeitslosenversicherung noch weiter verbessern kön-nen .
Frau Kollegin Freudenstein, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage der Kollegin Pothmer?
Nein, die gestatte ich jetzt nicht mehr .
Wir bleiben dabei: Wir wollen nur dort Ausnahmen
machen, wo es strukturelle branchenspezifische Nach-
teile auszugleichen gilt, und nicht generell mit neuen
Pauschalregelungen die Stabilität der Arbeitslosenversi-
cherung gefährden . Ihre Vorschläge würden aber genau
dazu führen . Das mag in guten Zeiten noch recht ordent-
lich funktionieren . Aber wir dürfen gerade jetzt, in dieser
schwierigen Phase, in der wir mit steigender Arbeitslo-
sigkeit rechnen müssen, weil wir sehr viele Flüchtlinge
im Land haben, die nicht ausreichend qualifiziert sind,
nicht an den Säulen des Sozialstaates bohren, meine Da-
men und Herren .
Liebe Opposition, um noch einmal auf das Bild zu Be-
ginn meiner Rede zurückzukommen: Sie brauchen, um
unser gallisches Dorf zu besiegen, einen Zaubertrank .
Dafür brauchen Sie mindestens drei Zutaten, die ich Ih-
nen verraten kann, nämlich Eigenverantwortung, Reali-
tätssinn und Nachhaltigkeit .
Ich danke Ihnen .
Vielen Dank . – Damit ist die Aussprache beendet .Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Stärkungder beruflichen Weiterbildung und des Versicherungs-schutzes in der Arbeitslosenversicherung . Zu Tagesord-nungspunkt 8 a liegen drei schriftliche Erklärungen nach§ 31 der Geschäftsordnung vor .1)Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unterBuchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 18/8647, den Gesetzentwurf der Bundesregierungauf Drucksache 18/8042 in der Ausschussfassung anzu-nehmen . Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf inder Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-zeichen . – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – DerGesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit denStimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung derOpposition angenommen .1) Anlage 4Dr. Astrid Freudenstein
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Dritte Beratungund Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis ange-nommen .Tagesordnungspunkt 8 b . Wir setzen die Abstimmungzu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeitund Soziales auf Drucksache 18/8647 fort . Der Ausschussempfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlungdie Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke aufDrucksache 18/7425 mit dem Titel „Schutzfunktion derArbeitslosenversicherung stärken“ . Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmenvon CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegendie Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen .Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ableh-nung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenauf Drucksache 18/5386 mit dem Titel „Arbeitslosenver-sicherung gerechter gestalten und Zugänge verbessern“ .Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-nen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen beiEnthaltung der Fraktion Die Linke angenommen .Tagesordnungspunkt 8 c . Beschlussempfehlung desAusschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Arbeits-förderung neu ausrichten – Nachhaltige Integration undTeilhabe statt Ausgrenzung“. Der Ausschuss empfiehlt inseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/5119,den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 18/3918 abzulehnen . Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmenvon Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der FraktionDie Linke angenommen .Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten FriedrichOstendorff, Dr . Anton Hofreiter, Oliver Krischer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENBäuerlicher Milchviehhaltung eine Zukunftgeben – Milchmenge jetzt begrenzenDrucksache 18/8618Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-heitb) Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts des Ausschusses für Ernährung undLandwirtschaft zu dem Antragder Abgeordneten Dr . Kirsten Tackmann, KarinBinder, Heidrun Bluhm, weiterer Abgeordneterund der Fraktion DIE LINKE sowie der Abge-ordneten Friedrich Ostendorff, Harald Ebner,Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMilchmarkt stabilisieren – Milchkrise beendenDrucksachen 18/6206, 18/8641Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .Wenn Sie die Plätze etwas zügiger einnehmen könn-ten, könnte ich die Aussprache eröffnen .Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der KollegeFriedrich Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Bevor ich mit meiner Rede beginne: Herzli-chen Glückwunsch, Frau Staatssekretärin, zu Ihrem Ge-burtstag heute!
Was für Zeiten haben wir eigentlich? 300 Bauernver-bandsmitglieder demonstrieren in Schleswig-Holsteingegen den Bauernverband mit seinem äußerst hilflosenPräsidenten Schwarz .
Sie fordern, dass der Bauernverband sich endlich für einesofortige europaweite Milchmengenreduzierung einsetzt .Meine Damen und Herren, das ist nicht die Position vonBauernverband und Union . Das sind grüne Forderungen .Auch wir Grünen sind dafür, denen zu helfen, die sichverantwortlich verhalten und die Milchmengen nichtsteigern .
Bäuerliche Politik wird heute von Grünen formuliert .Ich bin seit 48 Jahren Bauer . 20 Cent, teilweise15 Cent pro Liter Milch – solch ein Milchpreiszusam-menbruch und so lange, das ist der totale Strukturbruch .Das Schlimmste: Es gibt kein Licht am Ende des Tun-nels . Minister Schmidt erklärt – ehrlich, wie er ist –,2025 werde der Preis für Milch wieder bei 37 Cent proLiter liegen . Bekommt der Minister denn überhaupt nochmit, was in den Betrieben los ist? Milchbäuerinnen undMilchbauern auf 2025 zu vertrösten, ist ein Schlag insGesicht derjenigen, die nicht mehr ein noch aus wissen,die nicht mehr an morgen glauben können, weil sie nichtmehr wissen, wie sie heute die Rechnungen von gesternund vorgestern bezahlen sollen, meine Damen und Her-ren .
Ihr Milchgipfel am Montag, was war das denn?
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Was hat der denn verändert? – Ja, das war der Gipfel . Eswar der Gipfel der Verantwortungs- und Hilflosigkeit. Sokann man es zusammenfassen .
Milchbäuerinnen und Milchbauern wurden nicht einmaleingeladen . Dann, nach unserem massiven Druck von-seiten der Opposition, durften sie letzten Freitag an denKatzentisch von Staatssekretär Bleser rücken . Und dieLänderagrarminister? Die werden erst eingeladen, dannwerden sie wieder ausgeladen . Welche Arroganz! WelcheSelbstherrlichkeit! Was ist das für eine Kultur, miteinan-der umzugehen!
Minister Schmidt hat es anscheinend nicht mehr nötig,mit Bäuerinnen und Bauern zu reden . Was ist das für einPolitikverständnis? Es ist eine Politik über die Köpfe derBetroffenen hinweg . Rückzug ins dunkle Kämmerlein,Zugbrücke hoch . In der Wagenburg, die der DeutscheBauernverband einrichtet, ist für Sie sicherlich noch eineinsames warmes Plätzchen, Herr Minister Schmidt .
Was haben Sie denn mit diesem Gipfel erreicht? An-gekündigt hatten Sie unter anderem den Kampf, einenFonds des Handels aufzulegen . 500 Millionen Euro soll-te der Handel in einem Solidaritätsfonds bereitstellen .Nichts, null, gar nichts ist dabei herausgekommen . DerHandel hat die kalte Schulter gezeigt – wie nicht anderszu erwarten –, und das war’s . Nur, die 75 000 Milch-viehbetriebe haben im letzten Jahr 5 Milliarden EuroMilchgeld verloren . „Schmidt fehlt eine Strategie“, titelttop agrar, das Leitmagazin der Landwirtschaft . Schmidtfehlt eine Strategie – stimmt, das finden wir auch. Wiewahr! Wir unterstützen die These „Schmidt fehlt eineStrategie“ ausdrücklich .
Es ist aber noch viel schlimmer: Minister Schmidtschafft mit seiner Politik die bäuerliche Landwirtschaftab .
Wer von uns hätte das gedacht, dass ein CSU-Landwirt-schaftsminister die bäuerliche Landwirtschaft auf demAltar des liberalen Weltmarktes der Agrarindustrie op-fert?
Frau Merkel, Herr Kauder, Herr Seehofer, Sie haben jaschon am Montag Gelegenheit dazu: Stoppen Sie endlichdiesen irrlichternden Totengräber!Schauen wir uns die Vorschläge, die Sie gemacht ha-ben, diese Gießkannenvorschläge, einmal an:
Unfallversicherungszuschüsse wollen Sie geben . Unfall-versicherungszuschüsse helfen allen, aber nicht speziellden Milchbauern . Sie bringen sie im Durchschnitt höchs-tens einen Tag weiter; denn der durchschnittliche Betriebbekommt ungefähr 350 Euro Zuschuss, und das ist das,was er im Moment jeden Tag im Stall verliert . KlasseVorschlag, oder doch nicht?Steuererleichterungen und Steuerrückstellungen hel-fen wieder nur den Betrieben, die eh schon Gewinne ma-chen, nicht den Betrieben in der Krise, die keine Gewin-ne machen; denn es ist bisher nicht bekannt, dass Steuernauf Verluste erhoben werden . Toller Vorschlag, oder?Bürgschaften sind sicherlich gut für Volksbanken undSparkassen, die den Wahnsinn gefördert haben . Das istnichts als weiße Salbe .Aber die Krönung ist der einzig neue Vorschlag, deram Montag kam, nämlich Flächenverkäufe steuerfrei zustellen .
Das kann doch wohl nicht wahr sein . Das ist der pureSkandal .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, CDU/CSU und Minis-ter Schmidt setzen sich dafür ein, Bauernfamilien schnel-ler um ihr Eigentum zu bringen . Kalte Enteignung istdas, nichts anderes . Wer hätte das für möglich gehalten?
Was wir jetzt endlich brauchen, ist eine Politik für dieErhaltung der bäuerlichen Landwirtschaft . Wir brauchendie Erhaltung der Milcherzeugung in der Fläche . Wirbrauchen sie besonders mit Weidehaltung . Eine Politikfür die bäuerliche Landwirtschaft bedeutet für uns Grüneeine Politik für die Umwelt, die Tiere sowie die Bäuerin-nen und Bauern . Das alles wollen wir zusammen denken .Dafür setzen wir uns ein .Was wir endlich brauchen, ist eine wirksame Men-genreduzierung . Herr Staatssekretär, Sie müssen denMilchbäuerinnen und -bauern helfen, die Mengen zu re-duzieren . Alles andere hilft nicht . Setzen Sie endlich dievorgeschlagenen Maßnahmen, den einstimmig gefasstenBeschluss der Agrarministerkonferenz um .
Sie kommen bitte zum Schluss .
Sofort, Frau Präsidentin . – Selbst Bundeskartellamts-präsident Mundt, nicht verdächtig, Grünen-nah zu sein,bezeichnet das Molkereigeschäft als das risikoloseste .Nehmen Sie die Molkereien stärker in die Pflicht, wennes darum geht, wirksame Mengenreduzierungen anzu-Friedrich Ostendorff
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gehen und ihren Lieferanten zu helfen . Wir Grüne for-dern Minister Schmidt auf, endlich zu handeln oder seinScheitern hier zu erklären .
Vielen Dank . – Nun hat für die Bundesregierung der
Parlamentarische Staatssekretär Peter Bleser das Wort .
P
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! In der Tat liegen die Agrarmärkte am Boden . DieGetreidepreise sind im Vergleich zu 2008 um ein Drittelbis zur Hälfte geringer . Die Schweinepreise liegen eben-falls am Boden . Der Milchmarkt ist am schlimmsten be-troffen . Dort haben wir Preise zu verzeichnen, die sichin der Nähe von 20 Cent bewegen . Das alles hat seineGründe .
Der Ukraine-Krieg und die Sanktionen gegen Russlandzeigen Wirkung . Der Markt in China ist aufgrund einesKonjunktureinbruchs zurückgegangen . Nordafrika undder arabische Raum sind durch Terrorismus und Krieggeprägt . Das Ganze ist auf eine Produktion gestoßen, dieaufgrund hoher Preise auf einem hohen Niveau war . Pa-rallel ist die Milchquotenregelung, die seit 1983 bestand,ausgelaufen . Das Problem ist nun, dass die Märkte aufdiese Veränderungen nicht ausreichend schnell reagierenkonnten .Lieber Kollege Ostendorff, wenn man in einer sol-chen Situation einen befristeten Festpreis für Milch ein-führt, wie das Ihre Fraktion in ihrem Antrag fordert, dannschimmert das sozialistische Rot in Ihrem grünen Partei-buch wieder einmal sehr deutlich durch .
Das funktioniert auf den Märkten nicht . Auch eine Steu-erung ist nicht mehr zu etablieren . Wer rückzahlbare So-forthilfen fordert, leistet keine Hilfe . Wer dann noch wiedie Linke einen Festpreis mit einer Abgabenbonus- bzw .-malusregelung durchsetzen will,
dem kann man nur sagen: Das funktioniert ebenfallsnicht . Das ist vorbei . Es gibt keine Quote mehr . Wir wol-len genauso wie die Bauern keine Quote mehr, weil sienicht funktioniert hat .
Dass sie nicht funktioniert hat, beweisen die Jahre 2007und 2008 . Damals war der Milchpreis genauso im Keller .
Deswegen sage ich hier ganz klar: Die Verantwor-tung liegt bei den Marktbeteiligten – dorthin gehört sieauch –, beim Lebensmitteleinzelhandel genauso wie beiden Molkereien . Kollege Ostendorff, an diesem Punktstimmen wir überein . Wir haben beim Milchgipfel amvergangenen Montag darüber gesprochen, warum dieMolkereien hinnehmen, dass Milch, die nicht auf denregulären Märkten verkauft und nicht für Produkte ver-wendet werden kann, für 17 oder 18 Cent auf dem Spot-markt vertickt wird . Das macht keinen Sinn . Da müssenwir eingreifen . Wir müssen mit den Erzeugern sprechen;denn so, wie es bisher läuft, wird der Milchpreis der Pro-dukte reduziert, die einen Markt gefunden haben .
Herr Kollege Ostendorff, Sie haben den Rückgang derZahl der landwirtschaftlichen Betriebe angesprochen . ZuBeginn der Milchquote 1983 gab es noch 394 000 milch-erzeugende Betriebe . Nun gibt es noch rund 74 000 . TrotzQuote hat der Strukturwandel durchschnittlich 5 Prozentder Betriebe jährlich zur Aufgabe bewegt; das muss manzur Kenntnis nehmen .
Daran wird sich durch Fortschritt und Effizienzsteige-rung auch in Zukunft nichts wesentlich ändern, egal werregiert . Das ist die Realität, und die können Sie nicht aus-blenden .
Wie ich dargelegt habe, ist die Marktsituation drama-tisch . Weil es außenpolitische Wirkungen gibt und weilwir eine Kulturlandschaft und eine sichere Lebensmittel-produktion in Deutschland haben wollen, haben wir einegesellschaftliche Verantwortung . Diese wollen wir auchwahrnehmen . Deswegen haben wir am Ende des letz-ten Jahres und zu Beginn dieses Jahres ein Liquiditäts-hilfeprogramm aufgelegt . Wir sprechen von 69,2 Mil-lionen Euro; rund 10 000 Betriebe haben die Mittel inAnspruch genommen . Es konnten Liquiditätshilfen von100 000 Euro mit einer Verzinsung von 1 Prozent und10 000 Euro als direkte Hilfe an die Höfe ausgereichtwerden . An der Stelle möchte ich einmal ein Lob anunser Haus aussprechen . Das BLE hat zwischen Weih-nachten und Neujahr durchgearbeitet und die Anträgebeschieden, die in einer ersten Tranche bis Mitte Märzausgezahlt worden sind . Die letzte ist in diesem Monatbei den Höfen angekommen .
Wir haben uns auch sozial engagiert . Wir haben ge-meinsam in der Großen Koalition die Mittel der landwirt-schaftlichen Berufsgenossenschaft mit zusätzlich 78 Mil-lionen Euro aufgestockt . Das bringt Beitragssenkungenvon 16 Prozent . Das ist ein Beitrag zur Solidarität . Dasmuss man einfach sehen . Andere Branchen achten dies-bezüglich argwöhnisch auf uns .Auch die Europäische Union hat reagiert . Wir habeneinen Auffangpreis, nämlich den, bei dem die Interventi-on bei Magermilchpulver und Butter greift . Die MengeFriedrich Ostendorff
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wurde jetzt noch einmal auf 350 000 Tonnen aufgestockt,um den Druck aus dem Markt zu nehmen . Mehr kannman nicht tun .Heute gegen Abend wird das Agrarmarktstruktur-gesetz beraten . Nach diesem Gesetz werden erstmals,kartellrechtlich abgedeckt, freiwillige Mengenabspra-chen zwischen Erzeugergemeinschaften und Molkereienmöglich werden . Wir setzen noch eins drauf – ich binsehr dankbar, dass uns das gelungen ist –, indem wir dieMöglichkeit der Allgemeinverbindlichkeitserklärungaufnehmen . Das ist etwas ganz Neues, das eine Lang-fristwirkung hat . Damit beenden wir die Ohnmacht derMilcherzeuger auf dem Markt; denn wir geben ihnen dieChance, sich zu organisieren und, wenn einige nicht mit-machen wollen, sie mit einer Allgemeinverbindlichkeits-erklärung dazu zu bringen . Damit können Marketing-maßnahmen organisiert werden . Herr Minister Schmidtist in Brüssel vorstellig geworden, um damit unter Um-ständen auch eine Mengensteuerung zu erreichen . Das istsinnvoll . Ich bin dem Koalitionspartner dankbar, dass wirdas zum Schluss doch noch zusammen hinbekommen ha-ben .
Nun zum Milchgipfel . Man kann einen Milchgipfelmit 50 Leuten einberufen . Ich kann Ihnen sagen, wiedas dann abläuft . Es werden Statements abgegeben;die Pressemeldungen sind schon vorher verschickt . Eskommt nichts dabei heraus . Wir haben die Erzeuger, dieMilchindustrie und auch den LEH zusammengeführt undüber drei Stunden sehr intensiv diskutiert . Ich kann nureines sagen: Nachdem man sich zunächst gegenseitig dieSchuld zugewiesen hat, ist man dann doch zu der Mei-nung gekommen, man müsse einen Branchendialog be-ginnen . Den haben wir begonnen . Unter Beachtung derkartellrechtlichen Bestimmungen kann in Zukunft mit-einander besprochen werden, was getan werden kann,um Markteinbrüche wie den, den wir jetzt haben, abzu-federn . Ich bin sehr optimistisch, dass das eine Langfrist-wirkung entfaltet .Wir sind auch staatlicherseits noch nicht am Ende .Wir hoffen, dass das Parlament bei der nächsten Haus-haltsberatung wieder eine zusätzliche Hilfe für die Un-fallversicherungsbeiträge gewährleistet . Wir haben demFinanzminister dafür zu danken, dass er uns angebotenhat – das alles muss hier noch beschlossen werden –, dasswir eine Gewinnglättung von drei Wirtschaftsjahren vor-sehen können . Das hört sich banal an; aber damit könnenwir erstmals entsprechend der Volatilität der Märkte undauch der Witterung landwirtschaftliche Gewinne stre-cken, sodass Gewinne, die in einem Jahr, das ein gutesWirtschaftsjahr war, anfallen, nicht versteuert werdenmüssen, wenn im folgenden Jahr, das vielleicht schlechtwar, keine Gewinne erzielt worden sind . Das hilft undwird schon im laufenden Steuerjahr Wirkung entfaltenkönnen .
Herr Ostendorff, Sie haben die Veräußerungsgewinneangesprochen . Wir wollen nicht, dass Landwirte Grundund Boden verkaufen . Aber wenn der eine oder ande-re die Chance hat, einen Bauplatz zu vermarkten, dannsollte man ihm die Chance geben, diese Gewinne zurSchuldentilgung steuerfrei zu verwenden . Mehr ist dasnicht . Das ist eine Hilfe, die in Anspruch zu nehmen wirermöglichen sollten .
Ich will noch einmal sagen: Die Bundesregierungsteht hinter den bäuerlichen Familien . Wir sorgen uns umderen Zukunft . Ich hätte eine herzliche Bitte an die Grü-nen und auch an die Linken, und auch unser Koalitions-partner kann da nicht ungeschoren bleiben:
Versuchen wir zumindest in der jetzigen Zeit, unsereBauern und unsere bäuerlichen Familien nicht weiterzu belasten, indem wir neue bürokratische Auflagen be-schließen, die nur zu Kosten und zur Verringerung derMotivation der Bauern führen . Das wollen wir nicht .
Wir haben eine Politik gemacht, die eine Perspektive fürdie Landwirtschaft bedeutet .
Dazu stehen wir, und dabei bleiben wir .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Als Nächstes spricht die Kollegin
Dr . Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Gäste auf den Tribünen! Worum geht es denn ei-gentlich bei der Milchkrise? Es geht darum, dass manseit vielen Monaten sehr früh am Morgen aufsteht, undzwar auch am Wochenende, um Kühe zu melken, undan jedem einzelnen Tag genau weiß, dass der Erlös sogering sein wird, dass man eigentlich noch Geld mitbrin-gen muss . Warum ist das so? Weil Handels- und Mol-kereikonzerne Milch zur Ramschware gemacht habenund weil sie selbst vom Dumpingpreis erst einmal ihreGewinne abziehen, sodass die Milcherzeuger nur dasbekommen, was übrig bleibt . Im Klartext: Almosen stattfaire Bezahlung. Ich finde das sittenwidrig. Dass das ge-duldet wird, finde ich nicht akzeptabel.
In den Betrieben herrscht Verzweiflung, Frust undblanke Existenzangst, und zwar überall . Ich verstehe dassehr gut – erst recht, weil sie in eine Falle gelaufen sind .Was haben EU, Bundesregierung und Bauernverbandnicht alles für die Zeit nach dem Ausstieg aus der QuoteParl. Staatssekretär Peter Bleser
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im April 2015 versprochen? Es wurde ein gelobtes Landohne die Fesseln der Mengenbegrenzung mit unerschöpf-licher Nachfrage auf dem Weltmarkt gepriesen . SchonJahre zuvor durfte pro Jahr 1 Prozent Milch mehr pro-duziert werden . In Deutschland wurde sogar noch mehrgemolken, weil der Markt angeblich auf diese Milchwartete . Die dafür fälligen Strafzahlungen würde man inBrüssel schon wegverhandeln, wurde versprochen . DesWeiteren gab es Fördermittel für eine Erweiterung derProduktion . „Sanfte Landung“ nach dem Quotenaus-stieg hieß der Plan . Daraus geworden ist ein Absturz vonButterbergen und ein Ertrinken in Milchseen . Dass die-se auch noch selbst erarbeitet wurden, zeigt auf, dass essich um ein perverses System handelt, dessen Fehler aufKosten von Natur, Mensch und auch Tieren gehen .
Wir haben aber neben der Menge durchaus noch einganz anderes Problem . Das Überangebot macht die Dik-tatur der Handels- und Molkereikonzerne noch mächti-ger . Erpresserische Ladenpreise von 47 Cent pro Litersind doch die Folge . Was haben Bundesagrarminister undKoalition in dieser zugespitzten Krise getan? Sie bliebenüber ein Jahr lang im Hoffnungsmodus und griffen zuKrisenzeiten in die Mottenkiste der Interventionen, ge-folgt von Schockstarre, weil das nicht geholfen hatte, undjetzt kommt der hektische Aktionismus . Verantwortungs-volle Krisenpolitik sieht wirklich anders aus .
Dabei gab es frühzeitig Warnungen und Vorschläge,wie dieser Albtraum verhindert werden kann, zum Bei-spiel auch im gemeinsamen Antrag der Linken und Grü-nen, über den heute abgestimmt wird . Dieser Antrag liegtdem Bundestag bereits seit September 2015 vor und wur-de im Oktober 2015 erstmals beraten . Wir wollten schondamals ernsthaft über Mengenregulierungen diskutieren .Aber das war ja Teufelszeug . Wir wollten schon damalsüber das Vertragsrecht diskutieren, damit die Produkti-onsrisiken nicht allein bei den Erzeugern hängen bleiben .Wir wollten schon damals darüber diskutieren, ob nichtwenigstens in Krisenzeiten ein Mindestpreis notwen-dig ist oder ob überhaupt ein Preis in die Lieferverträgegehört . Wir wollten schon damals über das Kartellrechtdiskutieren, weil Handels- und Molkereikonzerne ihreMarktübermacht missbrauchen; das wissen wir doch . Esist die Realitätsverweigerung des Bundesministeriums,der Koalition und des Bauernverbands, die den Betriebenjetzt zum Verhängnis wird .Recht zu behalten – das sage ich ganz ehrlich –, istmanchmal wirklich bitter . Leider wird es nicht besser .Zum Beispiel macht ein Branchendialog doch nur Sinn,wenn man zuvor Milcherzeuger auf Augenhöhe mit Mol-kereien und Handel bringt . Was soll denn sonst darauswerden?
Was soll denn das unmoralische Angebot von Steuerfrei-beträgen für Gewinne aus Landverkäufen? Ich überset-ze das einmal: Durch Bundespolitik kommen Betriebein Existenznot, und wenn sie deshalb die Produktions-grundlage Boden verkaufen müssen, verzichtet der Bundgroßzügig auf Gewinnbeteiligung . Scheinheilig ist nochdas netteste Wort, das mir dabei einfällt .
Im Subtext bedeutet das doch eine Ermutigung der Heu-schrecken, die längst unterwegs sind, um die Leichen desWettbewerbs bzw . die fette Beute einzusammeln .
Auch auf diese Gefahr habe ich schon lange hingewie-sen . Auch dazu sage ich: Es ist bitter, dass man manch-mal recht behält .
Abschließend noch eines: Dass es noch nicht einmalin Genossenschaftsmolkereien gelungen ist, einen so-lidarischen Ausweg aus dieser Krise zu finden, besagt,dass eben auch der Genossenschaftsgedanke nicht mehrdie Solidarität bietet, die er eigentlich ursprünglich ein-mal beinhaltete . Es bedeutet, dass es – unter dem Druckdieses sogenannten Wettbewerbs – zu einer Vereinzelungund Entsolidarisierung in der gesamten Branche gekom-men ist . Wir Linke sagen schon lange, dass wir über dasGenossenschaftsrecht reden und auch hier wieder zu denWurzeln zurück müssen . Deswegen muss ich sagen: Esgeht auf das Versagen der Koalition und der Bundesre-gierung zurück, dass das alles nicht passiert ist und dieBetriebe jetzt die Zeche zahlen .
Vielen Dank . – Das Wort hat jetzt der Kollege
Dr . Wilhelm Priesmeier für die SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, esist einmal an der Zeit, in der Debatte abzurüsten, auchwas gegenseitige Schuldzuweisungen angeht . Begrif-fe wie „irrlichternder Totengräber“ oder „kalte Enteig-nung“ mögen zwar die parlamentarische Debatte beflü-geln, tragen aber in gar keiner Weise zur Lösung deswirklich ernsten Problems bei, das wir im Bereich desMilchmarktes haben .
Dr. Kirsten Tackmann
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– Friedrich, ich glaube, dass die Provokation allein dasProblem nicht löst .
Das ist, wie ich finde, eine Art von Politik, die unehrlichist gegenüber den Betroffenen . Denn die Lösungsvor-schläge, die von eurer Seite auf den Tisch gelegt werden,sind nicht ausreichend .
Ich erinnere mich noch an die Debatte, die wir 2009 –sie begann ebenfalls im Frühjahr und ging bis zum Som-mer – geführt haben . Da hatten wir die gleiche Situation .Da hatten wir ebenfalls Probleme mit dem Milchmarkt,allerdings aufgrund anderer Ursachen: wegen der dama-ligen Wirtschafts- und Währungskrise . Aber die Preisewaren genauso weit unten wie heute. Damals fing dieDiskussion mit der Frage an: Ausstieg aus der Quote odernicht? Alles wurde hinterfragt . Der BDM und andere Or-ganisationen haben dazu beigetragen, dass Milch auf denAcker gefahren und mit dem Güllefass verteilt wurde,dass Molkereien blockiert wurden . Damals ist die Situ-ation noch viel weiter eskaliert, als es heute der Fall ist .
Auch damals war dieser Weg keine Lösung des Pro blems .
Es reicht doch weiß Gott nicht aus, die Welt in Gutund Böse zu unterteilen . Wir sollten uns konkret daran-machen, dass wir tragfähige Lösungen für das Problemerarbeiten
und auch den gesetzlichen Rahmen dafür schaffen .
Nationale Politik kann nun einmal nicht den interna-tionalen Markt lenken . Das ist die Erkenntnis aus denvielen Jahren Quotierung . Wir hatten auch vorher schoneinmal einen Mindestpreis . Er hieß Interventionspreis;das war lange vor der Quote . Er hat bei der damaligenAusrichtung von Produktion dazu beigetragen, dass wirAnfang der 80er-Jahre Mengen hatten, die wir nichtmehr in den Griff bekommen haben, was hinterher dasstaatlich zwangsverwaltete Quotensystem hervorgerufenhat – mit allen seinen Folgewirkungen, etwa der Bindungan die Fläche und dem, was wir beide kennen .Mich hat diese Thematik „Strukturwandel desMilchmarkts“ mein ganzes Berufsleben begleitet . Ichhabe 1982 eine Tierarztpraxis übernommen, also vorEinführung der Quote . Ich habe den gesamten Struktur-wandel erlebt . Ich habe erlebt, dass in dieser ganzen Zeitin Dörfern, wo früher noch viel Vieh war, hinterher keineinziger Betrieb mehr war und dass Betriebe immer grö-ßer geworden sind: Ein Betrieb, der mit 25 Kühen an-gefangen hat, hat heute 350 Kühe . So what? Was ist andieser Entwicklung denn negativ? Hätten wir denn die-se Entwicklung mit anderen Methoden, anderen Ansät-zen, anderen Möglichkeiten und direkter Förderung ausHaushaltsmitteln und anderen Zusammenhängen aufhal-ten können? Das hätten wir nicht! Da muss man einmalehrlich sein, was die Möglichkeiten von Politik betrifft,und man darf keine Illusionen wecken, wir könnten be-stimmte Dinge erreichen . Wir können nicht rückwärtsmarschieren; wir können nur vorwärts marschieren . Wirkönnen uns nur an die Bedingungen anpassen .Aber richtig ist natürlich, dass wir ein Marktversagenin dem gesamten Bereich haben . Das ist so lange nichtrichtig zum Tragen gekommen, wie wir eine quotierteMenge hatten . Aber jetzt sehen wir, dass wir die recht-lichen Rahmenbedingungen dringend ändern müssen,auch die Rahmenbedingungen und die vertraglichen Vor-gaben für den Bereich der Lieferbeziehungen zwischenProduzenten und verarbeitendem Gewerbe . Es kannnicht sein, dass Landwirte Milch produzieren und ohnevertragliche Regelung über Menge, Zeit und Preis blei-ben . Diese Punkte sind immer der Gegenstand von Ver-trägen . Mit Satzungen allein kann man dieses Problemnicht lösen .Insofern erwarte ich in diesem Zusammenhang, dasssich vor allen Dingen der größte Bereich der Milchver-arbeitung, die genossenschaftlichen Molkereien, dortbewegen . Wie soll man denn Mengenabsprachen oderMengenregulierungen vornehmen, wenn ein Landwirtalles vor die Tür stellen kann, wenn die Molkereien allesabholen und irgendwie verarbeiten müssen? Wenn manin diesen Mechanismus nicht eingreift, braucht man sichüber Mengenregulationen oder Marktanpassungen über-haupt keine Gedanken zu machen .Das, was wir kennen – Angebot, Nachfrage undPreis –, sind die zentralen Elemente des Marktes . DerenZusammenspiel funktioniert in diesem Bereich nicht .Dieses Zusammenspiel müssen wir wiederherstellen . Wirmüssen zumindest dafür sorgen, dass die entsprechendenVoraussetzungen geschaffen werden können . Das sollnicht durch staatliche Eingriffe passieren, sondern indemwir den Beteiligten ein Instrument an die Hand geben,um vorübergehend entsprechende Absprachen zu tref-fen, damit das ganze System wieder ins Gleichgewichtkommt . Das soll genutzt werden . Das werden wir heuteAbend beschließen . Aber es ist illusorisch, zu glauben,wir könnten mit Steuermitteln, so wie in Ihrem Antragvorgeschlagen, mit verlorenen Zuschüssen oder mit an-deren Instrumenten wie beispielsweise Bonuszahlungenletztendlich Mengen in entscheidender Weise beeinflus-sen . Das geht nicht; denn wir haben ja erlebt, wie büro-kratisch die Umsetzung in diesem System war und wiewir versucht haben, das immer weiter anzupassen . Aberletztendlich hat es nicht funktioniert .Ich glaube, es ist vernünftig, wenn wir gemeinsam mitden Landwirten und der Branche nicht nur zu Einschät-zungen, sondern auch zur Umsetzung von Konzeptenkommen . Kurzfristige Liquiditätshilfen sind nach meinerEinschätzung vollkommen akzeptabel . Man sollte sichdarauf konzentrieren, den Betrieben, die in Schwierig-keiten sind, zumindest für den Zeitraum, in dem die Kri-se anhält, so viel Liquidität zukommen zu lassen, dassDr. Wilhelm Priesmeier
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sie nicht allein aus dem Grund, weil sie Kredite zu tilgenhaben, die Hoftür abschließen müssen . Aber auf die ei-gentlichen betriebswirtschaftlichen Entscheidungen, diezu treffen sind, können wir mit politischen Entscheidun-gen keinen Einfluss nehmen; das sollte uns klar sein.
Wir brauchen strukturelle Veränderungen im Markt-sektor; das ist jedem klar . Wir müssen uns auch Gedan-ken machen, wie wir bestimmte Bereiche der Produk-tion fördern wollen . Ein Beispiel ist das UnternehmenHemme Milch, das regionale Märkte bedient und dortnatürlich eine höhere Wertschöpfung erzielt . Die Wert-schöpfung ist das zentrale Element, auch in der Milch-produktion . In Deutschland haben wir eine Wertschöp-fung von 85 Cent, in Frankreich von über 1,10 Euro undin Italien von 1,50 Euro . Warum ist das so? Das ist dieFolge der Strukturen, die sich entwickelt haben, weil beiInterventionspreisen über viele Jahre für die Interventionproduziert wurde und die Unternehmen nicht gezwun-gen waren, sich auf die Marktnachfrage einzustellen undMarkenprodukte zu produzieren . Die Privaten haben dasanders angefangen . Deshalb haben sie natürlich aucheine größere Gewinnspanne . Aber die Genossenschafts-molkereien bestimmen mit der Menge, die sie für denMarkt verarbeiten, den Preis, und die privaten Molkerei-en orientieren sich daran .Der Landwirt ist letztendlich derjenige, der betriebs-wirtschaftliche und sonstige Fehlentscheidungen sowieMarktentwicklungen zu tragen hat . Der Landwirt trägtzum gegenwärtigen Zeitpunkt fast das vollständigeMarktrisiko . Das ist das Problem . Ich habe noch nichtgehört, dass irgendeine Molkerei davor steht, Insolvenzanzumelden . Das heißt also: In diesem Bereich wird im-mer noch verdient . Solange aber in diesem Bereich keinunternehmerisches Risiko getragen wird, so lange kanndieser Markt auch nicht funktionieren . Dafür, dass dasnicht mehr so ist, wollen wir sorgen .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt der Kollege Alois Gerig .
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Meine Damen und Herren! Ich begrüße es, dasswir hier heute zu einer guten Debattenzeit eine Plenarde-batte zur Milchkrise führen .
Ich freue mich, dass wir alle ein Ziel haben: Wir wollender Landwirtschaft, insbesondere den Milchviehhaltern,zu Hilfe kommen . Und: Ja, wir haben zwei Anträge, diewir als Koalitionsfraktionen wegen des Inhalts und derAusrichtung nicht teilen können . Aber, lieber FriedrichOstendorff, Beschimpfungen helfen uns hier gar nicht .
Wir sollten gemeinsam nach einem Weg suchen, umden Bauern zu helfen, damit die Bauern Vertrauen in diePolitik haben und wissen, dass sie sich auf uns verlas-sen können . Alle Ebenen müssen jetzt zusammenhalten,alle müssen sich bewegen, alle können etwas dafür tun .Ich bin dem Minister dankbar, dass er den Milchgipfeleinberufen hat, und ich bin ihm dankbar dafür, dass ereuropa- und weltweit um Freunde wirbt, die mit ihm ge-meinsam an dem Problem der globalen Überproduktionvon Milch arbeiten . Was können wir machen? 32 Jahrelang hat die EU-Milchquote nicht dazu gedient, dass wireine ordentliche Marktregel bei der Milchmenge hinbe-kommen haben . Das hat die melkenden Bauern sehr vielGeld gekostet und Preistiefs nicht verhindert . Es hat abersehr viel Bürokratie geschaffen . Das hat uns auch nichtgeholfen .Das erste Liquiditätshilfeprogramm war kein Allheil-mittel, aber es hat geholfen; ein weiteres wird folgen . Dageht es um Zuschüsse für die landwirtschaftliche Un-fallversicherung, um Bürgschaften, um Kredite und umSteuerglättung, wie es der Herr Staatssekretär gesagt hat .Mit der Novelle des Agrarmarktstrukturgesetzes, die wirheute später debattieren, sorgen wir dafür, dass die Rah-menbedingungen für die Marktpartner verändert werdenkönnen . Darin liegt für mich auch ein Teil der Lösung .Wir dürfen das Problem nicht den Milchbauern alleineüberlassen .Ich kann mir vorstellen, dass man mit Lieferverein-barungen, zum Beispiel mit Zu- und Abschlägen bei denBranchenquoten, bei den Milchbauern eine Motivationschaffen kann, die Überproduktion von Milch zu been-den . Dadurch könnte eine Win-win-Situation entstehen .Handel und Verarbeiter haben keinen Grund, den aktu-ellen Milchmarkt auszunutzen . Es braucht aktuell amdeutschen Markt doch auch keine ausländische Milch . Esbraucht kein Preisdumping, das überwiegend durch dieEigenmarken des Lebensmitteleinzelhandels verursachtwird .Im Übrigen können die Verbraucher jetzt schon mitdem richtigen Griff ins Regal dafür Sorge tragen, dassmehr Wertschöpfung bei den Milchbauern ankommt . Dasmuss man auch immer wieder in der Öffentlichkeit sa-gen . Ich spüre eine große Solidarität . Aber die Menschenmüssen da auch mitgehen; sie müssen etwas machen .
Ja, die Politik muss den Milchbauern helfen . Es gehthier um keine Branche wie die übrige Wirtschaft . DieBauern produzieren keine Waschmaschinen .
Die Bauern produzieren Lebensmittel von allerhöchsterQualität . Die Lebensmittel, die in Deutschland produ-ziert werden, erfüllen die höchsten Standards . UnsereBauern erhalten die geliebte vielfältige Kulturlandschaft .Dr. Wilhelm Priesmeier
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Da ist mir wichtig, dass wir weiterhin flächendeckend inganz Deutschland Milchkühe und Milchbauern haben .
Unsere Bauern sind das Rückgrat in den Dörfern, dasRückgrat in den ländlichen Regionen . Klar, es hat schonimmer den Strukturwandel gegeben, aber im Momentgeht es wie im freien Fall . Auch die der Landwirtschaftvor- und nachgelagerten Gewerke und Branchen sind ak-tuell schon betroffen; auch sie leiden .Deswegen: Lassen Sie uns die Leistungen der Bauernin den Fokus nehmen . Lassen Sie uns mit den Bürgernund den Verantwortlichen einen Dialog führen . Es gehtum Wertschöpfung; das ist richtig . Es geht aber auchum Wertschätzung der Lebensmittel und einer ganzenBranche . Lassen Sie uns deshalb alle gemeinsam daranarbeiten, die schwierige Situation unserer Bauern zu ent-schärfen . Lassen Sie uns dafür Sorge tragen, dass unse-re Bauern Freude an der Arbeit und eine wirtschaftlichePerspektive haben . Dann haben die ländlichen Regioneneine Chance .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Rainer Spiering .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol-legen! Sehr geehrte Gäste! Ich möchte mich dem an-schließen, was Wilhelm Priesmeier gesagt hat: Es wäreganz gut, wenn wir verbal ein bisschen abrüsteten .Die Frage der Milchpreisentwicklung ist nicht erstheute entstanden . Ich habe mir die Zahlen kommen las-sen . Deutschland hat gemäß den Zahlen, die ich habe,seit 2007 einen sehr hohen Überschuss an Milch im Au-ßenhandel . Ist das mit oder ohne Quote passiert? Es istmit Quote passiert .
Das haben wir gewähren lassen, und wir hatten durch dieQuote einen Effekt, von dem wir alle wissen, dass wir ihnauch nicht wollten . Ich würde den Fokus darauf legen:Wie gehen wir mit den Landwirten um, was können wirtun?Ich sage ganz deutlich: Die 100 Millionen Euro, diewir jetzt geben, werden keinen großen Effekt erzielen,und das wissen wir alle .
Da müssen wir uns ehrlich genug machen . Das wird dieStrukturveränderung in der Landwirtschaft nicht aufhal-ten .Ich sage gleichwohl – wir waren vorgestern Abendbeim Sozialverband Deutschland, SoVD –: Es ist eineerstaunliche Leistung – ich finde, da kann sich die bäu-erliche Gemeinschaft auch glücklich schätzen –, dassdie Bundesrepublik Deutschland in diesen Sozialver-band 4 Milliarden Euro, das entspricht 50 Prozent allerLeistungen, hineingibt . Ich kenne keinen Sozialversiche-rungszweig in Deutschland, in den so viele Bundesmittelfließen. Ich finde, das ist wirklich eine richtige Hilfe fürdie Landwirtschaft, und das ist auch in Ordnung .
Wenn wir uns jetzt aber mit den Strukturen auseinan-dersetzen wollen und wenn wir wirklich helfen wollen,dann hilft es uns übrigens nicht, wenn wir uns nur auf dieMilchpreiskrise konzentrieren .
Vielmehr hat sich etwas verändert . Unser Land hat sichauf den Weg gemacht, eine Exportnation in der Land-wirtschaft zu sein . Das birgt große Risiken, sehr großeRisiken .
Jetzt kann man überlegen, wie man dort mit nationalenMitteln etwas ändern kann .Mir stellt sich die Frage – und ich bitte, dass der Bun-desminister sie beantwortet –: Wie kommt es eigent-lich zu dem Unterschied bei der Entlohnung bayrischerLandwirte gegenüber niedersächsischen Landwirten? Esgibt fast kontinuierlich 5 Cent Ertragsunterschied zwi-schen Milchbauern in Niedersachsen und in Bayern . Ichmöchte gerne einmal wissen: Woran liegt das? Hat dasmit Strukturen zu tun, die dort entstanden sind? Ist dasZufall? Das möchte ich wissen; denn ich halte es für aus-gesprochen ungewöhnlich, dass das so ist .Zur nächsten Frage, die mir zu beantworten ist . Invielen Bereichen der landwirtschaftlichen Produktiongibt es durchaus Wertschöpfung . Das betrifft aber Pro-dukte, die aus Milch hergestellt werden . Angesichts derMilchmengen, die wir produzieren, würde mich interes-sieren: Wie stark sind wir eigentlich bei der Produktionneuwertiger Produkte? Wie viel lassen wir uns das kos-ten, neue Produkte zu entwickeln? Kann es nicht sein,dass wir in einem Bereich, in dem wir deutlich höhereWertschöpfung erzielen können, viel zu schwach sind?Diese Frage müssen wir uns auch einmal stellen . Wirmüssen in Forschung und Entwicklung gehen und sagen:So, Landwirte, das ist ein Angebot, das wir euch machenkönnen . Wir offerieren euch ein Produkt, mit dem ihrGeld verdienen könnt . – Es kann übrigens sein, dass dasmehr als 100 Millionen Euro kostet . Aber das ist eine In-vestition in die Zukunft, die helfen kann .Der nächste Punkt . Da vorne sitzt mein Freund JohannSaathoff . Er ist einer der am stärksten Betroffenen hier,weil er in einer reinen Milchviehwirtschaft lebt und ar-beitet. Ich finde, viel zu dünn kommt die Argumentationvon „Grünland als CO2-Senke“ daher . Wir alle wissen umdie segensreiche Wirkung von Grünland, und zwar ge-wachsenem Grünland, nicht umgebrochenem Grünland .Alois Gerig
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Ich finde, es ist den Schweiß der Edlen wert, darübernachzudenken, ob ich diese natürliche CO2-Senke nichtschütze . Das bedeutet aber auch, dass ich Umbruchmög-lichkeiten reduziere oder abschaffe . Das bedeutet auch,dass ich mich als Staat dazu bekennen muss, in Grünlandrichtig Geld zu investieren, und zwar so, dass es für denMilchbauern attraktiv wird, von einer intensiven auf eineextensive Landwirtschaft umzusteigen . Wenn ich höre,dass die heutige Milchkuh, wenn ich ihr das Kraftfutterentziehe, gar nicht mehr lebensfähig ist, dann muss ichmit Verlaub sagen: So ganz richtig kann das auch nichtsein .
Ich finde, hier sollten wir ansetzen und umsteuern. Wirsollten Bundesmittel in die Hand nehmen und nachhaltigin die CO2-Senke investieren; ob wir das über Umschich-tung der Säulen machen oder auf anderen Wegen, das seieinmal dahingestellt . Aber das sind Wege, die wir gehenkönnen .Zur Preisentwicklung . Man muss ganz nüchtern sa-gen: Für die Milchviehwirtschaft hat es im Novem-ber 2013 eine sehr ertragreiche Zeit gegeben . Damalswurden Preise von 42 Cent pro Liter gezahlt . Aber wennman sich die Kurven genau anschaut, dann stellt manfest, dass mit dem Anstieg des Preises die Milchproduk-tion stieg .
An dieser Stelle muss ich an alle Beteiligten appellieren,sich sehr sorgfältig zu überlegen: Auf was für ein Spiellasse ich mich ein? Jetzt komme ich zu einem zentralenPunkt . Es gibt in der Landwirtschaft eine Vereinigung,die für die Interessen der Landwirtschaft tätig ist, unddas ist der Bauernverband . Ich kann vom Bauernverbanddoch erwarten, dass er eine schlüssige Antwort daraufgibt . Ich muss mit dieser Antwort nicht einverstandensein, aber ich kann eine schlüssige Antwort erwarten, unddie bekomme ich im Moment nicht .Wenn ich mir den Bereich anschaue, aus dem ichkomme – das ist der Zentralverband des DeutschenHandwerks –: Die Vielfältigkeit des deutschen Hand-werks ist mindestens so groß wie die der deutschenLandwirtschaft . Aber der Zentralverband des DeutschenHandwerks spricht mit einer Stimme . Das kann ich voneiner Standesorganisation wie dem Bauernverband aucherwarten .Danke schön fürs Zuhören .
Vielen Dank . – Zum Abschluss der Debatte erhält jetzt
der Kollege Artur Auernhammer, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort .
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Wenn bei einer Milchdebatte ein
Glas Milch hier stehen würde, würden wir der deutschen
Landwirtschaft mehr dienen als mit dem vorliegenden
Antrag .
Wir können das mit in den Haushaltsausschuss neh-
men .
Ist der da zuständig? – Die Debatte der letzten Tageund Wochen hat wieder einmal die Landwirtschaft indie Mitte der Berichterstattung geholt . Der Milchpreishat die Landwirtschaft wieder in die Schlagzeilen und indie Nachrichtensendungen der großen Medien gebracht,aber ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dasses auch andere landwirtschaftliche Betriebe gibt, die hal-ten Schweine oder bauen Getreide an . Wenn ich heuteMorgen in der WhatsApp-Gruppe meiner Jungbauernlese, dass der Schlachtschweinepreis in der nächstenWoche wieder um 5 Cent sinkt, dann müssen wir grund-sätzlich über die Einkommenslage in der Landwirtschaftdiskutieren und nicht nur über die Milcherzeuger .
Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, dieMilch hat eine hohe Bedeutung für unser Land, geradefür Süddeutschland, aber auch für andere Regionen . Ichdenke hier an Ostfriesland . Lieber Rainer Spiering, wennman einer Kuh das Kraftfutter entzieht, dann verhungertsie deswegen nicht . Die Kuh hat einen Wiederkäuerma-gen, und sie ist eine der wenigen lebensfähigen Kreatu-ren in unserem Land, die es schaffen, aus Gras Milch zuproduzieren . Deshalb ist es wichtig – das hast du voll-kommen richtig gesagt –: Zum Grünlanderhalt ist eineleistungsfähige Milchviehhaltung notwendig .Wie sieht die Realität aus? Im November 2007 lagder Preis meiner Anlieferungsmilch bei der Molkerei bei44 Cent . Im Juli 2009 lag er bei 22 Cent . In dieser Zeithatten wir eine Milchquote . Wir hatten auch die Kostenfür Bodenkauf, für Bodenpacht, für Überlieferung, fürLeasing und für die ganzen Finanzmittel zu tragen, dieaus der aktiven Landwirtschaft in andere Bereiche abge-wandert sind . Die müssen wir hier auch einmal erwäh-nen . Deshalb kann es keine staatliche Mengenregulie-rung mehr geben .
Wir wussten alle, die Quote läuft aus . Viele haben sichauf das Auslaufen der Quote eingestellt, in erster Liniedie Milchbauern in Europa . In Irland stieg die Milchan-lieferung um 18 Prozent, in den Niederlanden um 12 Pro-zent . In Deutschland „nur“ um 3,8 Prozent, aber von derMenge war dies natürlich wesentlich mehr . Ich möchteRainer Spiering
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nicht wissen, wie viel Milch die deutschen Milchbau-ern geliefert hätten, wenn wir in unserem Land keine sogroße Trockenheit gehabt hätten . Aber, wie gesagt, dieMilchbauern haben sich darauf eingestellt . Sie haben Gasgegeben .Wer sich meiner Meinung nach nicht darauf einge-stellt hat, ist die Molkereiwirtschaft . Wir haben hoheDefizite in der Vermarktung, und es wurde gerade ange-sprochen, dass wir im Milchpreis einen Unterschied von5 Cent zwischen Nord- und Süddeutschland haben . Dashat vielleicht damit etwas zu tun, dass wir in Süddeutsch-land innovative Produkte haben .
Die Frage ist aber, ob diese Produkte auch weltmarktfä-hig sind . Wir haben in Süddeutschland auch einen besse-ren Zugang zum italienischen Markt, und wir haben – ichnenne das Stichwort „Bergbauernmilch“ – ein gutes Ab-satzimage beim Verbraucher .Zum Thema Absatzimage muss ich aber auch be-richten, was ich in den letzten Tagen in einem BerlinerDiscountladen gesehen habe . Dort stand ein Milchre-gal für Frischmilch . Der Liter Milch, 1,5 Prozent Fett,zu einem Verkaufspreis von 42 Cent . Leider konnte ichkeine Milch mitnehmen, weil das Regal leergefegt war .Der Verbraucher trifft seine eigenen Entscheidungen . Ergreift nach den billigen Produkten und will diese nutzen .Frau Präsidentin, die Kollegin Bulling-Schröter willeine Zwischenfrage stellen .
Das haben wir schon gesehen . Ich wollte Sie nur zu
Ende reden lassen . Jetzt frage ich Sie aber . Sie gestatten
die Frage der Kollegin Bulling-Schröter?
Von der Kollegin Bulling-Schröter, gerne .
Bitte schön .
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie mir die Möglich-
keit geben, Ihnen eine Frage zu stellen . Sie sprechen von
Wettbewerbsfähigkeit . Das heißt, dass die Milch überall-
hin verkauft wird, auch in die USA und in andere Länder
und umgekehrt . So sollen wir ja jetzt im Rahmen von
TTIP frische Eier aus den USA bekommen .
– Lasst mich doch meine Frage stellen . Warum regt ihr
euch jetzt so auf?
Jetzt meine Frage an Sie: Wir kommen beide aus Bay-
ern, und wir wissen, dass die Bayerinnen und Bayern gern
regionale Kreisläufe haben . Wir sind gemeinsam in eini-
gen Gremien, in denen wir auch dafür eintreten, regiona-
le Produkte vor Ort zu kaufen . Warum organisieren wir
nicht mehr regionale Kreisläufe, damit das, was bei uns
produziert wird, auch vor Ort vermarktet und zu einem
fairen Preis verkauft wird? Warum sagen wir nicht: „Wir
wollen mehr tiergerechte Haltung“? Man kann sich zwar
darüber streiten, aber im Prinzip sind wir uns doch einig,
dass da noch viele Zugaben notwendig sind, damit in der
Region so viel produziert wird, wie gebraucht wird, und
die Bäuerinnen und Bauern davon leben können .
Verehrte Frau Kollegin! Wenn Sie gerade aufgepassthätten, wüssten Sie, dass auch ich ein Freund der regio-nalen Vermarktung bin .
Auch ich bin dafür, die regionale Bergbauernmilch so zuvermarkten, dass der Verbraucher nachvollziehen kann,wo das Produkt herkommt .
Aber die Realität sieht doch ganz anders aus: Im Dis-counter wird das billigste Produkt genommen und nichtdas regionale . Das ist doch das Problem . Wenn man demVerbraucher eine Keule, also ein Mikrofon, vor die Nasehält und ihn fragt, was er alles einkaufen will, sagt er:Regionale Produkte und Bio . – Die Realität sieht aberganz anders aus: hauptsächlich billige Lebensmittel, da-mit noch genügend Geld für den Urlaub übrig bleibt .
Ein Hinweis sei mir noch gestattet: Sie kommen ausIngolstadt . In Ingolstadt gibt es eine Autowerkstatt, dieProdukte herstellt . Wenn diese Autowerkstatt nicht aufdem Weltmarkt tätig wäre, dann wäre der Arbeitsmarktin Ihrer Region ganz anders aufgestellt .
Warum soll die deutsche Land- und Ernährungswirt-schaft die Potenziale des Weltmarktes nicht nutzen dür-fen? Darf das nur ein Autohersteller? Darf das nur einegewerkschaftlich organisierte Fabrik?
Nein, das müssen auch unsere Bäuerinnen und Bauernmachen dürfen . – Danke .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir debat-tieren das Thema Milch hier teilweise hochemotionalund mit großer Leidenschaft, viele liefern gute Beiträ-ge, aber es geht auch um die Rahmenbedingungen fürunsere Landwirtschaft . Wenn ich mit Landwirtinnen undLandwirten rede und sie frage: „Was bewegt euch ammeisten?“, dann werde ich als Erstes gefragt: Wie gehtes weiter mit der Düngeverordnung? Wann kommt einArtur Auernhammer
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Düngegesetz? Ich möchte hier alle Akteure, die sich heu-te und in den letzten Tagen so hervorragend für die deut-sche Landwirtschaft eingesetzt haben, einladen, auch einvernünftiges, praxisgerechtes Düngegesetz zu machen .
Das Gleiche gilt, wenn es darum geht, dafür zu sor-gen, dass unsere Bauern auch in Zukunft noch verant-wortungsbewusst Pflanzenschutzmittel einsetzen dürfen,auch wenn es darum geht, einen Ampfer in der Wiese zubekämpfen. Dafür ist ein bestimmtes Pflanzenschutzmit-tel notwendig .Noch einen Satz zum Schluss: Im Bundesrat wurdeneulich eine Abstimmung herbeigeführt, in der es darumging, die Anbindehaltung zu verbieten . Meine sehr ver-ehrten Damen und Herren, ein Drittel der bayerischenBetriebe hat noch eine Anbindehaltung . Wenn Sie dieseAnbindehaltung verbieten wollen, müssen Sie zu einemDrittel der bayerischen Milchbauern sagen: Sperrt eureHöfe zu . – Das will ich vermeiden . Darum stelle ich zumSchluss –
Aber wirklich zum Schluss .
– die gleiche Frage, die Fritz Ostendorff eingangs ge-
stellt hat: In welchen Zeiten leben wir eigentlich?
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Zwischen den Fraktionen wurde ver-
einbart, dass die Vorlage auf Drucksache 18/8618 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwie-
sen wird . – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden . Dann
ist das so der Fall . Die Überweisung ist beschlossen .
Wir kommen damit zur Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft zu dem
Antrag der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Milchmarkt stabilisieren – Milch-
krise beenden“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 18/8641, den Antrag
der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 18/6206 abzulehnen . Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Opposition angenommen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Das Fachkräftepotenzial ausschöpfen – Zu-
kunftschancen der deutschen Wirtschaft si-
chern
Drucksache 18/8614
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege
Axel Knoerig, CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Esgibt zwei wesentliche Faktoren bei dem Thema Fach-kräftesicherung . Das ist zum einen die Digitalisierung .Sie birgt für die Wirtschaft, für die Arbeit große Wachs-tumspotenziale . Es reicht aber nicht, nur allein auf Inno-vation und Forschung zu setzen . Im Mittelpunkt unsererUnionspolitik steht der Mensch und nicht die Technik .
Das Wissen unserer Fachkräfte ist eigentlich der Roh-stoff für Innovationen von morgen . Darauf muss sich diePersonalpolitik der Unternehmen entsprechend einstel-len . Wir müssen den Arbeitnehmern Perspektiven geben,die neuen Technologien als Chance zu begreifen .Der zweite wichtige Faktor in diesem Zusammenhangist der demografische Wandel. Schon in den nächsten15 Jahren wird die Zahl der Erwerbstätigen um 5 bis6 Millionen Menschen sinken . Das Institut für Arbeits-markt- und Berufsforschung sieht sogar einen Rück-gang um eine halbe Million pro Jahr bis 2035 . Das sindalarmierende Zahlen .Der vorliegende Antrag macht deutlich, dass das Bun-desministerium für Wirtschaft und Energie eigene Instru-mente zur Fachkräftesicherung entwickelt hat . Deswe-gen ist dieser Antrag hier gerechtfertigt . Das grenzt ihnauch von den sozial-, bildungs- und familienpolitischenZielsetzungen ab .Über die Mitberatung dieser Ressorts sind alle Quer-schnittsaufgaben zur Fachkräfterekrutierung enthalten .Ich möchte meinen Dank für die konstruktive Zusam-menarbeit in den Arbeitsgruppen von SPD und CDU/CSU hier noch einmal deutlich formulieren . Insbesonde-re gilt der Dank meiner Kollegin Lena Strothmann undmeinem Kollegen Herrn Dr . Hans-Joachim Schabedothvon der SPD .
Wir haben zurzeit noch keinen flächendeckendenFachkräftemangel, aber es gibt sehr wohl regionaleEngpässe . Diese sind vor allem im Süden und im Os-ten unseres Landes erkennbar . Dazu haben wir mit demBundeswirtschaftsministerium eine Studie in Auftrag ge-geben . Diese wurde vom Kompetenzzentrum für Fach-kräftesicherung konzipiert . Zum Jahresanfang 2016 sind685 Berufe untersucht worden . Es gibt bereits in 148 Be-rufen Engpässe . Dazu zählen der Maschinenbau, die Me-tall- und Elektronikbranche, Sanitär, Heizungs- und Kli-matechnik sowie die Gesundheits- und die Pflegeberufe.Artur Auernhammer
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Sowohl der demografische als auch der digitale Wan-del fordern ein Umdenken bei der Fachkräfterekrutie-rung . Wir müssen uns fragen: Was kann ein Unterneh-men tun, um einen Arbeitnehmer über Jahre, Jahrzehnteoder gar bis zur Rente an sich zu binden? Auch dazu hatdas Bundeswirtschaftsministerium eine Studie in Auftraggegeben . Diese wurde vom Institut der deutschen Wirt-schaft in Köln in 2015 durchgeführt und trägt den Titel„Lebensphasenorientierte Personalpolitik“ . Das ist eineganzheitlich ausgerichtete Personalpolitik . Sie reicht vonder Anwerbung über Weiterbildungsangebote bis hin zuStrategien zur langfristigen Bindung von Beschäftigten .Da diese Personalpolitik demografiefester ist, könnenFachkräfte erfolgreich im Unternehmen gebunden wer-den .Um das zu erreichen, sind die betrieblichen Anfor-derungen mit den Bedürfnissen der Beschäftigten inEinklang zu bringen . Hier sind vor allen Dingen die Le-bensphasen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerwie Elternschaft, Ehrenamt, Familienpflegezeit oderauch Krankheit und deren Folgen hinzuzunehmen . Ana-log dazu gibt es die Berufsphasen wie Einstieg, Orientie-rung, Reife, Führung und Ausstieg aus dem Beruf . Diesekreuzen sich miteinander und stellen auch unterschied-liche Ansprüche an die Arbeitszeiten . Unternehmensollten flexibler Angebote wie Teilzeit und Heimarbeitermöglichen. Auch finanzielle Anreize wie betrieblicheAltersvorsorge oder variable Gehaltsbestandteile sind ineine solche Personalpolitik einzubeziehen .Wenn man diese Ansätze zusammenführt, dann kannman sehr wohl von einer lebensphasenorientierten Perso-nalpolitik sprechen . Doch wenn wir in die Betriebe hin-einschauen, dann stellen wir fest, dass diese Politik erstvon 8 Prozent der Unternehmen praktiziert wird . MeineDamen und Herren, man kann schlichtweg sagen: Hierbesteht dringender Aufholbedarf . Obwohl ich einen sehrländlichen, kleinstädtisch strukturierten Wahlkreis mitsehr vielen kleinen und mittelständischen Unternehmenmit 20 bis 50 Arbeitnehmern habe, höre ich von immermehr Unternehmern: „Ich brauche einen Personaler, dersich um die Arbeitnehmer kümmert“, sodass man wirk-lich von einer lebensphasenorientierten Personalpolitiksprechen darf .Geschäftsführungen und Personalabteilungen müssenalso viel weiter denken und sich darüber im Klaren sein,dass die Bindung von Fachkräften langfristig zu einemWettbewerbs-, wenn nicht sogar zu einem Standortfak-tor für das Unternehmen wird . Der wirtschaftliche Er-folg baut also immer mehr auf den Mitarbeiterinnen undMitarbeitern auf . Deswegen habe ich hier und heute dielebensphasenorientierte Personalpolitik als solche in denMittelpunkt meiner Rede gestellt .Es ist gut, sich um die Arbeitnehmer nicht nur im Hin-blick auf Technologie, Innovation und Lerninhalte zukümmern . Vielmehr sollte man auch in den Blick neh-men, wie sich ein Arbeitnehmer in der Bildungsphaseentwickelt, also von der Ausbildung bis hin zum Studi-um, und was er in den einzelnen Lebensphasen – auch inder Elternzeit und selbst dann, wenn er ehrenamtlich tätigist – leistet . Dies muss dann vernünftig zusammengefügtwerden . Man muss den Arbeitnehmer im Rahmen einervernünftigen Personalpolitik ganzheitlich betrachten .Danke schön .
Vielen Dank . – Das Wort hat jetzt Sabine Zimmermann,
Fraktion Die Linke .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wie immer, wenn es sich um dieses Themadreht, haben Forschung und Wissenschaft – zumindestaußerhalb der arbeitgebernahen Institute – eine ziemlicheinheitliche Meinung . Ich zitiere einmal aus dem aktuel-len Bericht der Bundesagentur für Arbeit:Aktuell zeigt sich nach der Analyse der Bundes-agentur für Arbeit kein flächendeckender Fachkräf-temangel in Deutschland .Dass überhaupt über einen Fachkräftemangel gespro-chen wird, führt die Bundesagentur für Arbeit auf denBeschäftigungszuwachs zurück . So ist das eben: Wenndie Beschäftigung zunimmt, heißt das, dass die Nachfra-ge nach Arbeitskräften steigt . Da fühlt sich die Bundesre-gierung anscheinend berufen, die Unternehmen vor denGesetzen des freien Marktes zu schützen . Denn bekann-termaßen steigt mit der Nachfrage auch der Preis für dieArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer . Die Linke sagt:Das ist gut so .
Nach Untersuchungen der Bundesagentur für Arbeitgibt es einen Fachkräftemangel im Wesentlichen in ein-zelnen technischen Berufsfeldern sowie im Pflege- undGesundheitsbereich. Der Pflege- und Gesundheitsbereichist ein Musterbeispiel dafür, warum die Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter dort ständig wechseln . Die Arbeitsbelas-tung ist enorm, die Arbeitszeiten sind familienfeindlichund gesundheitsschädigend, und die Entlohnung ist völ-lig unangemessen niedrig .
Der Pflegenotstand ist hausgemacht. Vor allen Dingenaufgrund der Unterfinanzierung des Gesundheitssystems,die Sie verschärft haben, wird er sich für die Beschäftig-ten in Zukunft verschärfen . Das, meine Damen und Her-ren, war bis jetzt Ihre Politik .In den technischen Berufen – im Maschinenbau undbei den Metall-, Sanitär- und Klempnerberufen – habenwir einen sogenannten Fachkräfteengpass; das sind dieklassischen Ausbildungsbranchen . Aber der Anteil derBetriebe, der ausbildet, liegt bei gerade mal 20 Prozent .Nur jeder fünfte Betrieb bildet den Nachwuchs aus . DenUnternehmen, die nun einen Fachkräftemangel fürchten,kann man da eigentlich nur raten: Wer Fachkräfte will,Axel Knoerig
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muss Fachkräfte ausbilden und sie ordentlich bezahlen .So einfach ist das .
Dabei könnten wir sie politisch unterstützen, zumBeispiel durch eine Ausbildungsplatzumlage . Wer nichtausbildet, zahlt ein; wer ausbildet, bekommt Unterstüt-zung . Gerade kleineren Betrieben würden wir helfen,wenn wir die Ausbildungsverbünde, die ja lange Zeit ge-fördert worden sind, wieder stärker fördern würden . Überdie Ausbildungsplatzumlage reden wir in diesem Hauseigentlich schon seit Jahrzehnten .Einmal abgesehen davon, dass die Lobesarien, die imAntrag für Maßnahmen der Wirtschaft gesungen werden,die in deren ureigenem Interesse liegen, in unseren Au-gen ebenso überflüssig sind wie Ihr fast schon peinlichesSelbstlob, könnten wir Linke viele Punkte unterschrei-ben . Um hier nur einmal einige zu nennen: die Anreizefür die Erwerbstätigkeit von Frauen, die bessere Ver-einbarkeit von Familie, Pflege und Beruf, die Nutzungder Potenziale von Migrantinnen und Migranten und dieIntegrations- und Qualifizierungsinitiative für Langzei-terwerbslose . Was die Linke natürlich besonders freut,ist die Integration von Menschen mit Behinderung aufdem ersten Arbeitsmarkt . Ja, das alles könnten wir un-terschreiben .Leider stützen Sie aber seit Jahren eine Politik, die aufdas Gegenteil Ihrer Forderungen hinausläuft . Das wissendie Antragsteller natürlich nur zu genau; denn sie fordernin ihrem Antrag selbst, dass diese Forderungen im Rah-men der verfügbaren Haushaltsmittel umgesetzt werdensollen . Es soll also nicht mehr Geld geben . Schwupp!Und schon sind die ganzen Träume in Bezug auf die32 Punkte in Ihrem Antrag ausgeträumt .Schauen wir uns einmal die Forderungen für die Lang-zeiterwerbslosen an . Zum Beispiel wollen Sie die Wei-terbildung für Langzeiterwerbslose stärken . Ja, klar; damachen wir mit . Aber was haben Sie denn in den letz-ten Jahren getan? Sie haben doch die Mittel in diesemBereich massiv gekürzt . Jetzt wollen Sie die Aktivitätenwieder ausweiten – im Rahmen der verfügbaren Haus-haltsmittel . Wie soll das denn gehen?Zusammengefasst: Die Worte hör ich wohl, die Wortehör ich auch gern, allein mir fehlt der Glaube .
Die Linke wird natürlich weiterhin kritisch hinterfragen,wie Sie Ihre 32 Forderungen in Ihrem schönen Antragdenn umsetzen wollen .Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Für einen solchenSchaufensterantrag steht die Linke nicht zur Verfügung .Danke schön .
Vielen Dank . – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Dr . Hans-Joachim Schabedoth .
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der deutschen Wirtschaft geht es doch eigent-lich gut . Das BIP wächst, die Arbeitslosigkeit wird wei-ter sinken, die Einkommen steigen . Das ist allerdings nurmöglich, weil es in Deutschland ein wunderbar funktio-nierendes System der Fachkräfteausbildung gibt . Dafürbewundert man uns weltweit – mit Recht .Aber auch was schon gut ist, muss ständig an neueHerausforderungen angepasst werden – nicht zuletzt inunserer Gesellschaft des demografischen Wandels. Wirhaben das im vorliegenden Antrag ausführlich darge-stellt . Ich will deshalb nur einzelne Aspekte hervorheben .Zum Beispiel muss die Facharbeiterausbildung inKonkurrenz mit der akademischen Bildung immer wie-der neu profiliert werden. Es gibt in Deutschland rund2,8 Millionen Studierende, Tendenz steigend, währenddie Zahl der Auszubildenden stetig sinkt . Derzeit sind1,4 Millionen junge Menschen in Ausbildung . Es müss-ten erheblich mehr sein .Etwa 50 000 Stellen sind derzeit unbesetzt . Viele wis-sen gar nicht, dass man unter 330 Ausbildungsberufenwählen könnte . So verwundert es uns nicht, dass vieleAusbildungsgänge unbekannt bleiben .Zudem weichen viele Menschen lieber auf eine akade-mische Ausbildung aus . Es gibt über 18 000 Studiengän-ge . Wir freuen uns über jeden Studienabschluss; verste-hen Sie mich bitte nicht falsch . Aber ohne die Basis vonFacharbeit würden wir als Industrieland an Bedeutungverlieren .
Viele Menschen, die das berühmte IMM studiert ha-ben, also „Irgendwas mit Medien“, wären vielleicht alsMechatroniker oder als Schreinerin glücklicher . MehrGeld verdienen könnten sie damit, glaube ich, allemal .Viel zu sorglos sind wir lange davon ausgegangen, inder Berufswelt stünden Nachwuchskräfte immer ausrei-chend zur Verfügung . Doch sie sind nie auf den Bäumengewachsen . Jetzt mehren sich die Engpassfälle, wo derNachwuchs mit der Lupe gesucht wird .Wir können heute eine ganze Menge dafür tun – dashaben wir ja aufgeschrieben –, damit die Kluft zwischenAngebot und Nachfrage geschlossen oder zumindestnicht größer wird . Vielleicht ist es schlichtweg auch nichtlukrativ genug, zum Beispiel als Metzger oder als Bäckerzu arbeiten . Aber da stellt sich doch die Frage: Müssteunattraktivere Arbeit nicht deutlich besser bezahlt wer-den, auch schon während der Ausbildung?
Es darf auch nicht unerwähnt bleiben, dass Frauennach wie vor erheblich weniger verdienen als Männer .Sabine Zimmermann
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Die bestausgebildeten Frauen aller Zeiten und auch vieleMänner fehlen dem Arbeitsmarkt, weil wir ihre Problememit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf noch nichtlösen konnten .
Selbstverständlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, ha-ben alle Frauen einen legitimen Anspruch, auch an denvon Männern präferierten Segmenten der Arbeitsweltteilzuhaben .Frauen sind nicht der Rest, sondern leider vielfachgegen ihren eigenen Wunsch die noch unterbeschäftig-te Hälfte der Gesellschaft . Das kann man ändern . AufArbeitsfeldern, in denen heute überwiegend Frauen be-schäftigt sind, wird im Übrigen am schlechtesten ent-lohnt . Auch das ist kein Naturgesetz, sondern das hatschon etwas Männerbündisches . Das darf so nicht blei-ben .
Es ist doch irre, dass der Dienst am Menschen schlechterbezahlt wird als der Dienst am Auto .Auch junge Menschen, die sich vielleicht nur für dieDauer ihres Flüchtlingsstatus bei uns aufhalten, müs-sen wir jetzt ausbilden, und zwar so gut und so schnelles geht. Davon profitieren wir alle; mein Kollege JosipJuratovic wird Ihnen das noch ausführlicher erklären .Heutige Versäumnisse bei der Ausbildung von Flüchtlin-gen würden sich bitter rächen . Das ist die eine Seite . Dieandere Seite ist es, im Ausland gezielt um Fachkräfte zuwerben . Kluges Einwanderungsmanagement gehört des-halb zur Palette aller Maßnahmen, mit denen wir demFachkräftemangel vorbeugen . Das wäre moderne Politik .Während viele Industrieländer eine Einladung an dieFähigsten aussprechen, machen wir was genau? Dasmorgen zu diskutierende Integrationsgesetz ist ein ersterSchritt; denn es nutzt die Potenziale derer, die schon dasind und die wir glücklicherweise schon haben . Es gibtviele Menschen mit einer Behinderung, die nur durch ge-zielte und begleitete Maßnahmen einen willkommenenPlatz in der Berufswelt finden können. Das sollten wirfortan systematischer berücksichtigen .Wir brauchen auch eine Perspektive für Studienabbre-cher und die Unterstützung für die allzu vielen, die ihreAusbildung ohne Abschluss beenden . Es ist und bleibteine Lüge, Kolleginnen und Kollegen, dass Hans nichtmehr lernen könnte, was Hänschen versäumt hat . Auch inder beruflichen Ausbildung darf es nie ein Zu-spät geben.Lassen Sie uns jetzt die vielen, die heute resigniert habenoder sich als Langzeitarbeitslose ausgegrenzt fühlen, er-mutigen, die Fachkräfte von morgen zu werden .
Eine solide Ausbildung ist niemals eine Sackgasse, son-dern die Startrampe für ein gelingendes Leben .Unser Antrag zeigt auf, was bereits passiert, aberes muss auch noch viel getan werden . Haben wir viel-leicht etwas vergessen? Frau Kollegin, reichen Ihnen die32 Punkte nicht? Das mag sein, ja. Das Qualifizieren vonFachkräften ist eine Dauerbaustelle . Was wir jetzt ange-hen wollen und müssen, um unser Fachkräftepotenzial zumehren und besser auszuschöpfen, haben wir in vielenGesprächen ermittelt und aufgezeigt .Danke an alle, die daran mitgewirkt haben, vor allenDingen auch an Sie, Herr Knoerig, aber auch an vieleKolleginnen und Kollegen aus den anderen Arbeitskrei-sen . Jetzt muss es getan werden . Danke an alle, die dabeimithelfen .
Vielen Dank . – Als Nächster spricht der Kollege
Dieter Janecek, Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter HerrKnoerig! Herr Schabedoth, es ist löblich, dass Sie die32 Maßnahmen, die wir derzeit haben, in Ihrem Antragauflisten und damit etwas beschreiben, das bereits statt-findet. Das kann man nicht kritisieren. Es ist sinnvoll,aber das ergibt noch keine Gesamtstrategie .Sie haben zum Beispiel das Thema Integration undEinwanderungsgesetz angesprochen . Wir haben dasJahr 2016 . Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass wir unsgezielt um Einwanderung und um die Integration vonAusländern in den Arbeitsmarkt kümmern müssen, undjetzt diskutieren wir erst darüber, ob wir vielleicht imnächsten Jahr ein Einwanderungsgesetz bekommen . Daszeigt doch die ganze Misere, dass wir bei den Grundlini-en eben nicht vorankommen, was die Fachkräfte angeht;dort sind wir im Hintertreffen .
Wir können das fortsetzen, zum Beispiel beim ThemaFrauenförderung . Sie haben in Ihrem Antrag die vorhan-denen Maßnahmen genannt . Auch die Linke hat es ange-sprochen. Wir haben an dieser Stelle ein Defizit, aber dieBundesregierung gibt auch die falschen Signale .Sie haben das Betreuungsgeld ermöglicht . Gestern hatdie Bayerische Staatsregierung das erneut beschlossen .Das Geld dafür fließt aus dem Bundeshaushalt. Das sinddoch keine Signale, um mehr Frauen in den Arbeitsmarktzu bringen . Das sind Signale dafür, dass Frauen zu Hausebleiben sollen . Also auch das ist von der großen Linie hernicht der richtige Ansatz .
Der nächste Punkt: Sie schreiben in Ihrem Antrag: Äl-tere Erwerbspersonen müssen länger in das Arbeitslebeneingebunden werden . Auch das begrüßen wir . Die skan-dinavischen Modelle zeigen, was damit möglich ist .Aber was haben Sie gemacht? Sie haben die Rente mit63 eingeführt . Auch das ist ein Signal, zu dem ich nichtDr. Hans-Joachim Schabedoth
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sagen kann: Das ist konsistent . Sie haben 32 Einzelmaß-nahmen, aber die großen Linien funktionieren eben nicht .
Ich habe als bayerischer Abgeordneter der Grünen,auch wenn es uns noch nicht gelungen ist, alle Wahlkrei-se in Bayern zu erobern, die Ehre, nicht nur Münchenals dynamische bayerische Hochleistungsregion zu ver-treten, sondern auch die ländliche Oberpfalz und Unter-franken . Die Frage, ob es einen Fachkräftemangel gibt,ist sehr unterschiedlich zu beantworten . Per se kann mannicht sagen, dass es einen Fachkräftemangel gibt, schongar nicht in Bayern, aber vielleicht in Teilen Ostdeutsch-lands .Aber es gibt natürlich Herausforderungen . Die He-rausforderung, eine Erzieherin in München zu halten, istbei den Mietpreisen, die man dort zu bezahlen hat, eineandere Herausforderung, als sich in der Oberpfalz umeine Industrieregion zu kümmern, die dringend Ansied-lungen sucht, oder in Unterfranken die Weiterentwick-lung der Industrie vor Ort zum Beispiel mit erneuerbarenEnergien zu gewährleisten .Um diese Rahmenbedingungen muss man sich küm-mern . Denn wenn man zum Beispiel beim DIHK nach-fragt, dann erfährt man, dass Unternehmer sagen – daszeigt sich auch immer wieder, wenn man Unternehmenvor Ort besucht –: Wir können freie Stellen nicht beset-zen .Das wird sich bei Nachfragen bestätigen . Auch dasMittelstandsbarometer zeigt das: 62 Prozent der Betriebekönnen freie Stellen nicht besetzen . Man muss hinter-fragen, woran genau das liegt . Liegt es daran, dass keinqualifiziertes Personal vorhanden ist, oder liegt es viel-leicht auch daran – Sie sagen es –, dass die Bezahlungzum Teil nicht stimmt? Vielleicht liegt es daran, dass wirim Bereich der Löhne das Problem haben, dass sich dieMenschen in die Zentren orientieren, wo entsprechen-de Löhne gezahlt werden, und wenn zu wenig gezahltwird und der Wettbewerb so hart ist, dass die Löhne nichthoch genug sind, dann gehen sie nicht dorthin . Auch dasgehört zur Situation: Wenn man den Fachkräftemangelbeseitigen will, dann muss man gerechte Löhne in einergerechten Industrie und einem gerechten Mittelstandschaffen .
Dann komme ich zu dem Thema, das uns sehr langebewegt hat, nämlich die Integration der Flüchtlinge . Ichgehöre nicht zu denen, die der Meinung sind, dass derZuzug von Flüchtlingen – der ja nicht erfolgt ist, weildiese Menschen aus wirtschaftlichen Gründen kommenwollten, sondern weil sie aufgrund von Krieg und Ver-treibung kommen mussten – die wirtschaftliche Chanceper se ist . Das halte ich für überhöht . Aber Sie müssendarüber nachdenken, dass wir heute mit Sprachkursenund Angeboten in diese Menschen investieren müssen,damit sich morgen etwas daraus ergibt . Das geht; denndie Menschen, die hierhergekommen sind, wollen etwastun . Denen müssen wir etwas geben, und auf einem Ar-beitsmarkt wie unserem mit einer Rekordbeschäftigungvon 43,4 Millionen sozialversicherungspflichtig Be-schäftigten gibt es die Chancen .Wir können das schaffen . Lassen Sie uns in die Zu-kunft denken und vielleicht einmal den Blick daraufrichten, wie andere Länder, beispielsweise die USA, ihrWachstum über die Jahrzehnte geschaffen haben . Durch-aus auch mit Einwanderung und Zuwanderung, leideraber in dem Fall – damit sind wir wieder bei sozialenGesichtspunkten – wieder nur in den unteren Lohnberei-chen . Das ist nämlich genau der Punkt .Wir brauchen stabile Löhne, ein gutes Umfeld für dieWirtschaft und eine offene Volkswirtschaft statt der Si-gnale, die in den letzten Wochen und Monaten gegebenwurden: geschlossene Grenzen bis hin zu den wirklichschlimmen Beleidigungen eines Nationalspielers . Dasschafft ein Klima im Land, das uns allen nicht dienenwird .Deswegen bitte ich Sie einfach, eine offene, vielfältigeVolkswirtschaft zu schaffen – das ist auch eine Voraus-setzung dafür, dass wir gute Fachkräfte haben werden –,Frauenförderung zu machen, die Flüchtlinge zu integrie-ren und einfach darauf zu schauen, dass wir bei den Löh-nen auch stabil sind, damit die Menschen ein Auskom-men haben . Dann kommt das alles zusammen, und dannwerden wir das auch schaffen .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Das Wort hat jetzt Jana Schimke,
CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Indus-trie 4 .0, Arbeit 4 .0 oder die Digitalisierung der Arbeits-welt, der digitale Wandel der Arbeitswelt, das alles istnicht nur politisch, sondern auch öffentlich in aller Mun-de . Sowohl die Tages- als auch die Fachpresse widmensich regelmäßig diesen Themen . Studien und Untersu-chungen werden bemüht, um den technischen Wandelund dessen Auswirkungen auf die Arbeitswelt zu prog-nostizieren .Bei den Experten aber ist man sich uneinig darüber,was das für einzelne Berufsfelder bedeutet . Weitestge-hend einig ist man sich in der Wissenschaft nur darüber,dass die Digitalisierung ganz neue Anforderungen an Ar-beitnehmer stellen wird und Qualifikation immer wich-tiger wird .Fachkräfte sind also ein entscheidender Fakt, wenn esum die erfolgreiche Umsetzung der Digitalisierung in derArbeitswelt geht . Deshalb kann es uns auch nicht egalsein, wie sich die Fachkräftesituation in den Betriebendarstellt . Unser wirtschaftlicher Erfolg basiert auf gutenIdeen und klugen Köpfen .
Dieter Janecek
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Zwar ist der Fachkräftemangel noch keine flächen-deckende Erscheinung, doch er tritt schon seit längererZeit in bestimmten Branchen und Berufen, aber auch inRegionen auf . Beispielsweise bei den MINT-Berufen lagdie Arbeitskräftelücke im April dieses Jahres schon beiknapp unter 172 000 Personen . Wenn ich eben gesagthabe, dass sich das inzwischen auch in verschiedenenRegionen abbildet, so muss man leider sagen, dass esUnternehmen in Deutschland gibt – mitunter auch sehrgroße Unternehmen –, die sehr, sehr große Schwierigkei-ten haben, qualifizierte Fachkräfte zu ihrem Stammsitzzu bekommen und für eine Beschäftigung im Unterneh-men zu gewinnen .Diese Regionen sind nicht nur in weit entfernten länd-lichen Räumen zu finden oder in Ostdeutschland ganzallgemein, sondern das fängt manchmal schon hinterder Berliner Stadtgrenze an . Mein Wahlkreis reicht vomSpreewald bis an die Berliner Stadtgrenze, und mir be-richten mitunter sogar Unternehmen, die in relativ Ber-lin-nahen Regionen ihren Sitz haben, wie schwierig esist, mit den Konzernen, die auf Berliner Stadtgebiet ihrenSitz haben, zu konkurrieren .Fest steht, dass wir es den Unternehmen aber auchnicht abnehmen können, attraktiv für Fachkräfte zu sein .Hier ist die Eigeninitiative der Betriebe gefragt . Feststeht aber auch, dass größere Unternehmen bei der Fach-kräftegewinnung mitunter andere Möglichkeiten habenals kleine und mittelständische Betriebe . Unsere Aufgabeist es deshalb, dieses Engagement mit klugen Initiativen,Gesetzen und Fördermöglichkeiten zu unterstützen . Die-sem Ziel, meine Damen und Herren, tragen wir mit demvorliegenden Antrag Rechnung .
In diesem Antrag wird deutlich, wie viele Politikfeldervon der klassischen Wirtschaftspolitik über die Sozialpo-litik bis hin zur Bildungspolitik und sogar zur Asylpolitikinzwischen in diesem Themengebiet involviert sind . Einganz entscheidendes Ziel dieses Antrags ist die Stärkungder dualen Berufsausbildung . Wir müssen deshalb allesdaransetzen, der dualen Berufsausbildung dieselbe Wert-schätzung zukommen zu lassen wie anderen Bildungs-wegen .
Ich erlebe in meinem Wahlkreis tagtäglich, wie Hand-werksbetriebe um ihre Existenz kämpfen, weil der Nach-wuchs und mitunter auch die Unternehmensnachfolgefehlen . Stattdessen gibt es einen Run der jungen Men-schen auf die Universitäten . Dabei werden wir weltweitum unsere gute berufliche Ausbildung beneidet. Auch diemehr als 350 Ausbildungsberufe, die es in Deutschlandgibt, haben sich verändert . Auch dank der Digitalisierunghaben sie sich mitunter zu hochkomplexen technologi-schen und perspektivenreichen Aufgabengebieten ent-wickelt . Das müssen wir den Schülerinnen und Schülernverdeutlichen, meine Damen und Herren .
Weiterhin ist es richtig, dass wir bereits frühzeitig aufdigitale Bildungsangebote setzen . Dafür braucht es einenganzheitlichen Ansatz: von der Kita bis zur beruflichenBildung. Das setzt entsprechende Qualifikationsangebotefür die Lehrenden sowie natürlich auch eine gute techni-sche Ausstattung voraus . Schaffen wir das, wird uns derdigitale Wandel in der Arbeitswelt gut gelingen . Hierbeikann man an bereits bestehende Initiativen – zum Bei-spiel an die Initiative „erlebe IT“ – anknüpfen, die sichinsbesondere mit der Stärkung der Medienkompetenzder Schülerinnen und Schüler, aber auch mit Themenwie „Sicherheit im Internet“ und „Datenschutz“ befas-sen . Der Bundesverband BITKOM bietet diese Initiativean . Sie ist kostenfrei . Es wurde allen Abgeordneten an-geboten, an den Schulen im Wahlkreis mit dieser Initia-tive zu werben . Ich habe das gemacht . Ich war erstaunt .Ich wurde von der Nachfrage und der großen Resonanzin meinem Wahlkreis förmlich überrannt . Viele Schulenhaben sich daran beteiligt, und ich weiß auch, dass dieseInitiative deutschlandweit großen Anklang gefunden hat .Nicht nur Schüler werden durch diese Initiative so-zusagen fortgebildet, sondern auch Lehrer und Eltern .Wir alle wissen, dass wir auf die Bildungspolitik derLänder nur wenig Einfluss haben; denn wir sitzen ja hierim Deutschen Bundestag . Aber ich bin sehr dankbar fürsolche Initiativen vonseiten der Wirtschaft und der Ver-bände, weil sie uns die Möglichkeit geben, ein Stück weitFehlentwicklungen in der Bildungspolitik auf Landese-bene zu korrigieren und auch ein Stück weit auf die Lan-desbildungspolitik einzuwirken .
Schließlich liegt mir auch die Stärkung der Berufsori-entierung am Herzen . Zu oft sitzen mir Schüler im Altervon 14 bis 18 Jahren gegenüber ohne jedwede Vorstel-lung über ihre berufliche Zukunft. Zu oft habe ich ge-hört, dass beispielsweise eine Friseurin lieber Tischleringeworden wäre, wenn der Vater es erlaubt hätte, odereine junge Frau, die ihren Alltag mit Gelegenheitsjobsbestreitet, lieber Kfz-Mechatronikerin geworden wäre,ihr dafür aber der Mut fehlte . Ähnliche Beispiele gibt esselbstverständlich auch bei den Männern .Es kommt also darauf an, gerade im Bereich der Be-rufsorientierung über den Tellerrand hinauszuschauenund den jungen Menschen in unserem Land angesichtsder Vielzahl der Möglichkeiten, die das Leben heutzuta-ge bietet, ein Stück weit einen Leitfaden an die Hand zugeben . Ich bin sehr dankbar für die gute Arbeit, die dieBundesagentur für Arbeit in diesem Bereich leistet, abervor allen Dingen auch unsere Wirtschaftsverbände, diedabei mit interessanten und spritzigen Initiativen auf sichaufmerksam machen .
Unsere Aufgabe, meine Damen und Herren, ist es,beim jährlich stattfindenden Girls’ Day und Boys’ Daybzw . beim Zukunftstag, wie auch immer man ihn nennenmag, mitzuhelfen, mitzuwirken und für das zu werben,worum es uns in der Bildungs- und insbesondere in derAusbildungspolitik im weitesten Sinne geht .Jana Schimke
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Das sind nur wenige Punkte aus unserem sehr umfas-senden Antrag, die ich soeben nannte . Sie zeigen aber,dass Bildung, Ausbildung, Weiterbildung und Integrationzentrale Zukunftsaufgaben für uns sind, um im globalenWettbewerb Schritt halten zu können .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Josip Juratovic
von der SPD-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Erlauben Sie mir zu Beginn, zu betonen: Ers-tens . Es ist ein Fakt: Zur Fachkräftesicherung in unse-rem Land gehört Einwanderung . Zweitens . Dabei dürfenMenschen nicht gegeneinander ausgespielt werden .Ich bin Integrationsbeauftragter meiner Fraktion . Füruns ist es wichtig, in unserem Handeln die gesamte Ge-sellschaft zu berücksichtigen . Deswegen heißt es bei unsnicht: „Frau gegen Mann“, „Alt gegen Jung“, „Gesundgegen Beeinträchtigt“, und eben auch nicht: „Migrantgegen Deutschstämmig“ . Unsere Politik ist für alle Men-schen da . Nur so kann der Zusammenhalt in unserer Ge-sellschaft gesichert werden .Ich freue mich darüber, dass es uns gelungen ist, in un-serem Antrag die Vielschichtigkeit der Fachkräftesiche-rung darzulegen . Er zeigt auf, welche Bedarfe es gibt undwelche Angebote unsere Politik macht . Mit der Vielfaltder Programme zur Fachkräftesicherung zeigen wir, dasswir bedarfsgerecht zuschneiden können . Und warum?Jeder in unserem Land soll so gefördert und gefordertwerden, dass er seine Chancen optimal nutzen kann . Kol-leginnen und Kollegen, was brauchen wir dazu?Erstens . Wir müssen die Potenziale im Inland optimalnutzen . Wir wollen alle unterstützen, die Vermittlungs-hindernisse haben . Wir wollen uns um sie kümmern, obdeutschstämmig oder Migrant, ob ein Langzeitarbeitslo-ser gut Deutsch spricht oder nicht . Jedes Programm zurHeranführung an den Arbeitsmarkt ist gut für diese Men-schen und für unser Land .Zweitens . Viele Menschen sind aus humanitären Grün-den nach Deutschland gekommen . Wir müssen möglichstviele für unseren Arbeitsmarkt gewinnen . Gerade denGeflüchteten stehen viele Hürden im Weg. Dabei ist esmir wichtig: Wir brauchen keine Angst vor Niedrigqua-lifikation zu haben. Ich als ehemaliger Fließbandarbeiterund nun als Abgeordneter im Deutschen Bundestag binnicht als Fachkraft in unser Land gekommen . Ich bin hierzur Fachkraft geworden, nicht zuletzt dank der optimalenBedingungen, die mir unser Land geboten hat .
Deshalb ist es uns wichtig, dass wir Qualifikation fördern,zum Beispiel ganz aktuell durch Rechtssicherheit wäh-rend der Ausbildung oder durch die Bereitstellung von100 000 Arbeitsgelegenheiten für Geflüchtete. Gleich-zeitig vereinfachen wir die Anerkennungsverfahren zumBeispiel mit dem deutschen IQ-Netzwerk . Kolleginnenund Kollegen, es wird sich lohnen, Neuankömmlingeneine Chance auf Arbeit zu geben; denn der Arbeitsplatzist der beste Ort zur Integration .
Drittens . Trotzdem wird die bisherige Zuwanderungnicht reichen, um den Fachkräftebedarf langfristig opti-mal zu decken . Wir brauchen Einwanderung, wenn wirunsere alternde Gesellschaft für die Zukunft absichernwollen . Doch Wirtschaft und Gesellschaft verlangen fürdie Einwanderung Planbarkeit . Um diesen gesellschaft-lichen Prozess planen und steuern zu können, brauchenwir ein Einwanderungsgesetz . Dazu gehört auch, imAusland für den deutschen Arbeitsmarkt zu werben, vorallem in Ländern mit besonders hohem Migrationsdruck .Ein gutes Beispiel ist der Westbalkan . Seit Novem-ber 2015 dürfen Menschen aus dem Westbalkan inDeutschland arbeiten, wenn sie einen Vertrag über ei-nen Arbeitsplatz mit fairer Bezahlung nachweisen unddie Vorrangprüfung bestehen . Seitdem gewinnen wirMenschen, die der deutsche Arbeitsmarkt offensichtlichbraucht; gleichzeitig sinkt die Zahl von Asylbewerbernaus diesen Ländern .Kolleginnen und Kollegen, in letzter Zeit ist die Fach-kraftgewinnung auf dem europäischen Binnenmarkt lei-der aus dem Blickwinkel geraten . Europas Arbeiter sindmobil . Sie sollen es zu fairen Bedingungen sein . Die Pro-jekte MobiPro und „Faire Mobilität“ gehen zum BeispielHand in Hand, wenn es darum geht, dass EU-Bürger inDeutschland lernen und arbeiten können . Ausbildung inDeutschland ist ein wichtiger Aspekt . Wenn wir Men-schen schon zur Ausbildung nach Deutschland lockenkönnen, werden sie unserem Land für lange Zeit als guteFacharbeiter zur Verfügung stehen .Als Fließbandarbeiter und Gewerkschafter appelliereich aber auch an die Redlichkeit unserer Unternehmen .Mischkalkulationen, in denen Menschen gegeneinanderausgespielt werden, dürfen nicht Bestandteil von Ge-schäftsmodellen sein . Sie sind Betrug an der gesamtge-sellschaftlichen Verantwortung . Es darf nicht sein, dassÄltere nicht beschäftigt werden, weil man den Jüngerenweniger bezahlen muss und sie obendrein noch leich-ter mit Befristung knechten kann . Genauso wenig darfes sein, dass Ausländer angeworben werden, weil sie inihrer Not bereit sind, an der unteren Grenze, die das Ar-beitsrecht noch erlaubt, zu arbeiten, und somit Deutschegegen Ausländer ausgespielt werden .Kolleginnen und Kollegen, Wettbewerb hat Grenzen,
nicht nur entlang der Gesetze, sondern vor allem entlangdes Anstands und der Redlichkeit . Nur wenn es uns ge-lingt, dass jeder und jede sein bzw . ihr Bestes gibt, nichtJana Schimke
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nur für den eigenen Profit, sondern auch für das Gemein-wohl, dann sind Frieden und gesellschaftlicher Zusam-menhalt gesichert . Die Wirtschaft muss hier mit gutemBeispiel vorangehen .Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Als letzter Redner hat Dr . Thomas
Feist von der CDU/CSU-Fraktion in dieser Debatte das
Wort .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Meine lieben Kolle-ginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren!Ich freue mich, dass ich als Bildungspolitiker zu dieserDebatte auch noch etwas beitragen darf; denn ohne Bil-dung keine Fachkräfte . Darin sind wir uns ja einig .Ich möchte auf der einen Seite etwas dazu sagen, waswir tun müssen, um Fachkräften Qualifizierung, Per-spektiven und Karrierechancen zu ermöglichen . Auf deranderen Seite möchte ich etwas dazu sagen, wie wir den-jenigen, die bisher keinen Berufs- oder Schulabschlusshaben, etwas an die Hand geben können; denn es gehtnicht nur darum, dass wir Fachkräfte brauchen, sondernwir müssen auch Möglichkeiten eröffnen, damit sichLeute in diesem Land für dieses Land engagieren unddas Gefühl bekommen, gebraucht zu werden . Auch dasist eine wichtige Botschaft .Ich möchte mit einem Punkt anfangen, der auch imAntrag erwähnt worden ist und den ich für ganz zen-tral halte . Es geht um Berufsorientierung, und zwar anallen Schulformen für alle Schüler . Es ist schon gesagtworden: Wir haben 330 Ausbildungsberufe . Einige da-von kennt man, zum Beispiel den Klempner oder denZimmermann . Aber wenn ein junger Mensch – und daschaue ich die jungen Leute an, die hier oben auf derZuschauertribüne sitzen – nach Hause kommt und sei-nen Eltern sagt, er bzw . sie würde gerne Verfahrenstech-niker werden, dann werden einen die Eltern erst einmalkomisch anschauen; denn es gibt einfach zu wenige In-formationen darüber, welche Berufe es gibt und welcheMöglichkeiten es auch gibt, sich im Beruf fort- und wei-terzubilden . 330 Ausbildungsberufe sind also schon eineganze Menge . Weiterhin gibt es – das haben wir auchschon gehört – 18 000 grundständige Bachelorstudien-gänge .Mir geht es nun um Folgendes: Weil natürlich auch dieEltern in die Entscheidung wesentlich mit eingebundensind, brauchen wir eine Berufs- und Studienorientierungfür alle Schüler . Dabei hat allerdings die akademischeBildung in diesem Bereich einfach wegen des besserenMarketings einen Vorteil; denn bei 18 000 Studiengängenwird nicht gefragt: „Was studiert denn deine Tochter oderdein Sohn?“, sondern da sagt man: „Die oder der machteinen Bachelor .“ Das ist natürlich eine tolle Sache, aberdarunter kann sich überhaupt niemand etwas vorstellen .Außerdem hat man, wenn man mit einem Bachelor eineHochschule verlässt, eigentlich eine Employability, alsoeine Einstellungsfähigkeit, die sich zwar nicht gerade beinull befindet, aber vergleichsweise gering ist.Wichtig ist es deswegen, dass wir in einem zweitenSchritt zwischen der akademischen und der beruflichenBildung Übergänge schaffen, sodass gesagt wird: Eineberufliche Bildung ist ein guter Anfang. Dann kann manauch denjenigen, die das Abitur haben, aber merken, dassihnen eine berufliche Bildung eigentlich viel besser liegt,zeigen: Es geht nicht nur darum, einen guten Gesellenab-schluss zu machen, sondern auch darum, dass man sichspezialisiert und vielleicht ein Meisterstudium aufnimmt .Wir haben in dieser Legislaturperiode ja dafür gesorgt,dass die Förderbedingungen – ich will das jetzt hier nichtnoch einmal wiederholen – für das Meister-BAföG we-sentlich besser geworden sind . Genau das sind die richti-gen Signale, die wir aussenden . Und es ist wichtig, dasswir diese Punkte – es gab ja Kritik daran – auch einmalzusammenführen .
Dass wir das im Bereich des Wirtschaftsministeriumszusammenführen, hängt auch damit zusammen, dass dieAllianz für Aus- und Weiterbildung auch im Wirtschafts-ministerium angesiedelt ist . Natürlich kann es nicht ge-lingen, Aus- und Weiterbildung allein im Wirtschaftsmi-nisterium zu organisieren, sondern wir brauchen dabeiauch die Bereiche Arbeit und Soziales sowie natürlichBildung .Ich möchte auch noch einmal kurz darstellen, warumdas so wichtig für diejenigen ist, die bisher keinen Be-rufs- oder Schulabschluss haben . Es geht darum, dasswir Netzwerke schaffen, in denen aus den verschiede-nen Rechtskreisen – zum Beispiel des Sozialgesetzbu-ches – Leistungen zusammengeführt werden . Ein ganzwichtiges Mittel dafür ist zum Beispiel die Jugendbe-rufsagentur, die den jungen Leuten, die die Schule ver-lassen, passgenaue Angebote macht und dafür sorgt, dassman sie nicht aus dem Blick verliert . Denn je länger manmit einer Ausbildung wartet, umso schwerer wird es . Siehaben gesagt, auch Hans kann das noch lernen; das istrichtig . Aber es fällt ihm natürlich wesentlich schwerer .Deswegen müssen wir dafür sorgen, dass wir möglichstgute Übergänge von der Schule in den Beruf schaffen .Es gehört auch dazu, dass wir denjenigen, die im über-betrieblichen Bereich Bildungsangebote bereitstellen,sagen: Wir brauchen Kriterien, die sich auf die Beruf-lichkeit – das heißt auf die Anschlussfähigkeit von Be-rufen – fokussieren . In den Arbeitsagenturen haben wirjetzt natürlich Kriterien eingeführt, nach denen man dieQualität und die Qualifikation derer, die solche Lehrgän-ge anbieten, besser beurteilen kann . Wenn man sich abereinmal die Ausschreibungspraxis anschaut, stellt manfest, dass es sich so verhält: Wenn jemand ein beson-ders günstiges Angebot macht, wird man dieses nehmenmüssen . Deswegen habe ich gestern auch in meinem Ge-spräch mit der Bundesarbeitsgemeinschaft KatholischeJugendsozialarbeit – sie hat im Verbund jahrzehntelangviel gute Arbeit gemacht – gesagt: Wir sollten vor allemJosip Juratovic
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gemeinsam Verbünde mit den Unternehmen vor Ort – dasheißt auch mit den Kammern vor Ort – schaffen; denn jepraxisnäher solch eine Ausbildung für diejenigen von-stattengeht, die eine zweite oder dritte Chance brauchen,umso besser ist das für die jungen Menschen in unseremLand und damit auch für die Fachkräfte .Vielen Dank .
Ganz herzlichen Dank . – Damit schließe ich die De-
batte über diesen Tagesordnungspunkt, und wir kommen
zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/8614 mit dem
Titel „Das Fachkräftepotenzial ausschöpfen – Zukunfts-
chancen der deutschen Wirtschaft sichern“ . Wer stimmt
für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Damit ist dieser Antrag mit den Stimmen der Ko-
alition gegen die Stimmen der Opposition angenommen
worden .
Wir kommen zum nächsten Tagesordnungspunkt, zu
TOP 11:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Herbert Behrens, Sevim Dağdelen, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Anerkennung der sowjetischen Kriegsgefan-
genen als NS-Opfer
Drucksache 18/8422
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre dazu
keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Wenn sich die Kolleginnen und Kollegen zügig auf
ihre Plätze begeben würden, könnten wir auch mit der
Debatte beginnen .
Ich eröffne die Aussprache . Als erster Redner in der
Debatte hat Jan Korte von der Fraktion Die Linke das
Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Fast genau vor 75 Jahren begann der Angriffs- und Ver-nichtungskrieg Nazideutschlands gegen die damaligeSowjetunion . Die Folge waren 27 Millionen tote Sow-jetbürger . Heute, einige Tage vor diesem bewegendenJahrestag, gilt unser Dank selbstverständlich denjenigenMenschen in der Sowjetunion, die mit oder ohne Uni-form durchgehalten haben und den wesentlichen Anteilan der Befreiung Europas vom Joch des Hakenkreuzesgeleistet haben .
Der Krieg gegen die Sowjetunion war halt nicht ir-gendein Krieg, sondern es war ein Krieg, der alle bis da-hin von der Menschheit entwickelten Rechts- und Zivi-lisationsregeln außer Kraft setzte . Jan Philipp Reemtsmasagte zur Eröffnung der ersten Wehrmachtsausstellung1995 in München – ich darf ihn zitieren –:Der Krieg der deutschen Wehrmacht im – pauschalgesprochen – „Osten“ ist kein Krieg einer Armeegegen eine andere Armee gewesen, sondern er sollteder Krieg gegen eine Bevölkerung sein, von der einTeil – die Juden – ausgerottet, der andere dezimiertund versklavt werden sollte . Kriegsverbrechen wa-ren in diesem Kriege nicht Grenzüberschreitungen,die erklärungsbedürftig sind, sondern das Gesichtdieses Krieges selbst . Der Terminus „Kriegsver-brechen“ ist aus einer Ordnung entliehen, die vonDeutschland außer Kraft gesetzt worden war, alsdieser Krieg begann .Heute geht es nun darum, endlich einer der größtenOpfergruppen Nazideutschlands würdig zu gedenken .5,7 Millionen Angehörige der Roten Armee sind damalsin deutsche Kriegsgefangenschaft geraten . Von diesen5,7 Millionen starben 3,3 Millionen an Hunger, Kälte,Krankheiten und massenhaften Hinrichtungen . Das istübersetzt eine Sterblichkeitsquote von 60 Prozent . ImVergleich – um ein wenig einzuordnen, worum es hiergeht –: Die Sterblichkeitsquote bei anderen alliiertenKriegsgefangenen lag bei 3,5 Prozent . Ich denke, dasmacht die Systematik des Mordens unter der Regie derdeutschen Wehrmacht deutlich . Deswegen, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, hat Bundespräsident Gauck natür-lich recht mit seiner Aufforderung an die Politik, endlichdiese Opfergruppe aus dem Erinnerungsschatten heraus-zuholen, wie er es treffend formuliert hat .
Man muss logischerweise darüber nachdenken, wa-rum diese Opfergruppe so lange keinen adäquaten Wertin unserer Erinnerungskultur hatte . Ich will einige Stich-worte nennen .Das hatte natürlich etwas mit dem schier wahnwitzi-gen Antikommunismus der 50er- und 60er-Jahre zu tun,in dessen Gesamtklima der Krieg gegen die Sowjetunionals fast legitim galt .Es hatte etwas mit der verheerenden Lüge von der sau-beren Wehrmacht zu tun, die noch bis Mitte der 90er-Jah-re die Debatte dominierte .Zum Dritten hatte es natürlich etwas mit der „Unfähig-keit zu trauern“ zu tun, wie es Alexander und MargareteMitscherlich richtigerweise gesagt haben: Die Gesell-schaft war geprägt vom Verschweigen, Verdrängen unddavon, sich zu dem eigentlichen Opfer zu machen undkeinerlei Empathie mit den wirklichen Opfern zu haben .Dr. Thomas Feist
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Natürlich hatte es etwas – das wollen wir bei so einemThema auch nicht verschweigen – mit der Rückkehr deralten Eliten in Bundeswehr, Justiz, Wirtschaft und letzt-endlich Politik zu tun .Ein weiterer Grund, warum diese Opfergruppe sovergessen worden ist, hatte etwas mit der Politik der Stalin’schen Sowjetunion zu tun; denn auch dort gab eskein adäquates Gedenken an die Kriegsgefangenen . Siegalten bis in die 90er-Jahre als Verräter . Auch das ist einPunkt, der erwähnt werden muss, wenn wir über diesesThema sprechen, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Mein Dank gilt heute natürlich auch den vielen Wis-senschaftlern, kritischen Journalisten und vor allem denvielen lokalen Geschichts- und Gedenkinitiativen, dieimmer wieder auf dieses Schicksal aufmerksam gemachthaben . Deswegen war es eine gute, überfällige Entschei-dung, dass der Haushaltsausschuss im Mai 2015 endlich,zumindest symbolisch, 10 Millionen Euro zur Entschä-digung der noch wenigen überlebenden sowjetischenKriegsgefangenen bereitgestellt hat .
Ich freue mich ausdrücklich – wir haben das überprüftund entsprechende Auskunft erhalten –, dass bereits da-mit begonnen wurde, pauschal 2 500 Euro an diese Men-schen – die sind Mitte 90 – auszuzahlen . Das ist richtigund gut so, aber es ist zu spät .
Heute geht es aber um eine mindestens genauso wich-tige Frage, nämlich die, ob der Deutsche Bundestag ne-ben der finanziellen Anerkennung des Leids dieser Opferin der Lage und willens ist, anlässlich des 75 . Jahrestagesdes Überfalls auf die Sowjetunion endlich ein politischesZeichen zu senden . Deswegen formulieren wir in unse-rem Antrag:Der Deutsche Bundestag bittet die Überlebendenum Verzeihung für das, was ihnen durch das NS-Re-gime angetan wurde, und dafür, dass Deutschlandso lange brauchte, dieses Unrecht beim Namen zunennen .Darum geht es heute . Ich würde mich freuen, wenn wirdies konsensual und interfraktionell hier so beschließenkönnten, um dieses wichtige Zeichen auszusenden, liebeKolleginnen und Kollegen .
Neben dieser politischen Geste sollte es natürlich auchdarum gehen, dass wir uns aus der Mitte des Bundesta-ges daranmachen, endlich ein adäquates Mahnmal odereinen Gedenkort, wie man heute sagt, in der Mitte Ber-lins für diese riesige Opfergruppe zu schaffen . Ich dankeinsbesondere der Initiative „Gedenkort für die Opfer derNS-Lebensraumpolitik“, die ja bereits mit allen Frakti-onen Gespräche geführt hat . Mir wurde heute berichtet,dass alle Fraktionen offen für die Schaffung solch einesGedenkortes gewesen sind .Langer Rede kurzer Sinn: Wann, wenn nicht im75 . Jahr des Überfalls Nazideutschlands auf die Sowjet-union, wäre es an der Zeit, diese Leerstelle zu füllen?Ich lade Sie herzlich ein, dass wir gemeinsam, gegebe-nenfalls auch interfraktionell – unsere Fraktion ist dazubereit –, einen Antrag einbringen, der die politische Ges-te der Entschuldigung beinhaltet und mit dem wir einMahnmal bzw . einen Erinnerungsort hier in Berlin aufden Weg bringen . Es ist an der Zeit . Es leben nur nochganz wenige . Deswegen müssen wir uns beeilen .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Dr . André
Berghegger von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir bera-ten heute einen Antrag der Fraktion Die Linke . Ich würdeaus meiner Sicht gerne zwei Kernpunkte dieses Antra-ges herausgreifen . Der erste Kernpunkt ist die Frage, obdie Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen alsnationalsozialistisches Unrecht und die Betroffenen alsNS-Opfer anerkannt werden können . Der zweite Kern-punkt ist der Wunsch, dass der Deutsche Bundestag, sowie es Herr Korte gerade gesagt hat, die Überlebendenum Verzeihung bittet . Ich würde sagen: Gerade vor demHintergrund unserer Geschichte ist das ein Thema vongroßer Tragweite und Bedeutung . Wir sollten damit an-gemessen und sensibel umgehen, ohne zu polarisieren .Ich glaube, das werden wir auch hinbekommen .Allein in der laufenden Legislaturperiode haben wiruns mit dem Thema „Würdigung des Schicksals sowje-tischer Kriegsgefangener in der NS-Zeit“ mehrfach be-schäftigt . Dieses Thema war Gegenstand von Beratungenund Debatten im Plenum und im Ausschuss . Zur Chro-nologie noch einmal einige Stichworte: Ende 2014 gabes hierzu Anträge der Linken und der Grünen . Wir habenüber beide Anträge verbunden im Frühjahr 2015 hier imPlenum debattiert . Nach der Überweisung in den Haus-haltsausschuss haben wir im Mai 2015 eine öffentlicheAnhörung durchgeführt und viele der dort gestellten Fra-gen intensiv erörtert .Insbesondere spielte die Fragestellung eine Rolle:Wurden sowjetische Kriegsgefangene im Vergleich zuanderen Betroffenen, zu anderen Personengruppen au-ßerordentlich menschenunwürdig und unbarmherzig be-handelt? Nachdem diese Frage bejaht wurde, haben wirauf Initiative der Koalition im Nachtragshaushalt 2015einen Beschluss gefasst . Wir haben unter der Titelgruppe„Leistungen im Zusammenhang mit Kriegsfolgen“ dieerwähnten 10 Millionen Euro als symbolische Anerken-nung in Würdigung des Schicksals als ehemalige sowje-Jan Korte
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tische Kriegsgefangene bereitgestellt . Dann hat das Bun-desfinanzministerium hierzu Richtlinien ausgearbeitet,der Haushaltsausschuss hat die Mittel freigegeben . Mitder Durchführung der Aufgabe der Auszahlung wurdedas Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermö-gensfragen, das BADV, beauftragt . Im Kern geht es da-rum, dass auf Antrag hin 2 500 Euro pro Fall ausgezahltwerden . Die Anträge können bis Ende September deskommenden Jahres gestellt werden .Um den vorhin angesprochenen angemessenen undwürdigen Umgang darzustellen, wurde vieles Weitereinitiiert, um pragmatisch und unbürokratisch Wege auf-zuzeigen . Formulare und Unterlagen wurden online ge-stellt . Die Verbreitung der Informationen über Massen-medien wurde angestrebt . Es gab Hinweise im In- undAusland auf dieses Thema, auch über die deutschen Bot-schaften und andere Netzwerke . Die Dokumente wurdenmehrsprachig erstellt . Zusammenfassend wurde viel un-ternommen, um die Informationen wirksam an die Be-troffenen herausgeben zu können .Aktuell liegen rund 1 200 Anträge auf Auszahlung die-ser Mittel vor, aus 16 verschiedenen Ländern . 50 Prozentder Anträge kommen aus Russland, und in der Reihen-folge der Anzahl der Anträge folgen die Staaten Ukraine,Armenien, Belarus und Georgien . Angesichts der damalsangenommenen noch rund 4 000 lebenden Betroffenenhalte ich die Zahl der eingegangenen Anträge für beacht-lich . Ungefähr ein Drittel der eingegangenen Anträgewurde bearbeitet, und die Mittel sind ausgezahlt worden .Ich denke, das ist schon eine intensive Abarbeitung . Ichhoffe, dass noch viele Anträge folgen werden .Der vorliegende Antrag der Linken ist aus meinerSicht allerdings so formuliert, dass die Grenzen zwischenmoralischen, historischen und juristischen Aussagen ver-schwinden . Ob das bewusst oder unbewusst geschehenist, sei dahingestellt; aber ich glaube, dass diese Aussa-gen sauber getrennt werden sollten .Zum ersten Kernpunkt dieses Antrages, zur Frage derAnerkennung der Behandlung der sowjetischen Kriegs-gefangenen als nationalsozialistisches Unrecht bzw . dieAnerkennung der Betroffenen als NS-Opfer: Nach stän-diger Rechtsprechung in diesem Land werden Angehöri-ge der im Zweiten Weltkrieg von Deutschland besetztenStaaten und damit insbesondere auch Kriegsgefangenenicht als Verfolgte im Sinne der Entschädigungsgesetzeangesehen . Damit sind Kriegsopfer nicht Opfer national-sozialistischen Unrechts im Sinne der Entschädigungs-gesetze – mit den entsprechenden rechtlichen Folgen . Soist es eben auch hier: Im Sinne der Wiedergutmachungs-gesetze sind sowjetische Kriegsgefangene nicht NS-Op-fer und ihre Behandlung nicht nationalsozialistischesUnrecht. Ich denke, es ist wichtig, die Begrifflichkeitenauseinanderzuhalten, und das ist in diesem Antrag nichtdeutlich herausgearbeitet worden . Wir müssen die Be-grifflichkeiten unterscheiden.Die unstreitig grausame Behandlung der ehemaligensowjetischen Kriegsgefangenen stellt rechtlich gesehensonstiges Staatsunrecht dar, das zur Verletzung des Le-bens, des Körpers, der Gesundheit oder der Freiheit ge-führt hat . Für diese Situation gilt das allgemeine Kriegs-folgenrecht .
Deshalb ist die entsprechende Darstellung in der Titel-gruppe „Leistungen im Zusammenhang mit Kriegsfol-gen“ im Nachtragshaushalt nachzuvollziehen . Es fällteben nicht in den Bereich NS-Unrecht .Der zweite Kernpunkt ist der Wunsch, dass der Deut-sche Bundestag die Überlebenden um Verzeihung bittenmöge . Aus meiner Sicht bedeutet „jemanden um Verzei-hung bitten“, dass man jemanden von etwas freispricht,jemandem vergibt . Man kann auch synonym sagen: sichentschuldigen . Gemeinsam ist diesen Begriffen jedoch,dass auf einen persönlichen Schuldvorwurf verzichtetwerden soll . Vergeben, verzeihen, entschuldigen kannman aber nur den Tätern bzw . die Täter, nicht aber dieTaten . Es trifft die Mitglieder des Parlaments und denDeutschen Bundestag kein persönlicher Schuldvorwurf .Wir haben aber eine große moralische und ethische Ver-antwortung . Wir müssen dafür sorgen, dass so grausamesUnrecht nie wieder passieren kann . Aber die Unterschei-dung zwischen Schuld und Verantwortung ist aus meinerSicht sehr wichtig . Deswegen könnte ich nachvollziehen,wenn der Deutsche Bundestag diesem Antrag nicht statt-geben würde .Ich möchte noch einige Anmerkungen in moralischer,ethischer und politischer Hinsicht machen . Wir werdennatürlich nie vergessen oder nachsichtig sein, also dieVerantwortung relativieren . Wir werden nie dieses Un-recht akzeptieren oder billigen . Wir werden dieses Un-recht nie leugnen oder gar rechtfertigen . Wir müssen undwerden dauerhaft eine angemessene Erinnerungskulturpflegen.Ich glaube, dass wir als Deutscher Bundestag mit demBeschluss, einen symbolischen Anerkennungsbetrag ansowjetische Kriegsgefangene auszuzahlen, den wir imHaushaltsausschuss vorbereitet haben, einen wichtigenSchritt gemacht haben und ein deutliches Zeichen imLichte unserer Verantwortung gesetzt haben . Der Voll-ständigkeit halber möchte ich an dieser Stelle noch er-wähnen, dass wir, im Haushaltsjahr 2016 startend, einenweiteren symbolischen Anerkennungsbetrag bewilligthaben . Es werden 50 Millionen Euro symbolische An-erkennung für ehemalige deutsche zivile Zwangsarbei-ter bewilligt . Auch das ist in diesem Zusammenhang einwichtiges Signal .In diesem Sinne schließe ich mit folgendem Gedan-ken: Wo es keine Erinnerung gibt, gewinnt das Boshafte,das schreckliche Unrecht die Oberhand . Aus dieser not-wendigen Erinnerung heraus wächst unsere Verantwor-tung, dafür zu sorgen, dass derartiges Unrecht nie wiedergeschehen kann .Vielen Dank fürs freundliche Zuhören .
Dr. André Berghegger
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Vielen Dank . – Als nächster Redner spricht Volker
Beck von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich willausdrücklich würdigen, dass wir uns im Haushaltsaus-schuss zusammengefunden haben, um gemeinsam eineLösung für die Entschädigung der sowjetischen Kriegs-gefangenen hinzubekommen . Das ist ein wichtiger undnicht gering zu schätzender Schritt der moralischen An-erkennung des Unrechts, das von Deutschen gegenübersowjetischen Kriegsgefangenen begangen wurde . Bitterbleibt, dass es Jahrzehnte zu spät kam und viele der Be-troffenen das nicht mehr erlebt haben .Ich finde, wir als Bundestag sollten zu diesem The-ma nicht schweigen; denn: „Nur durch die Erinnerung anein solches Unrecht wächst die Aussicht, dass sich die-ses nicht wiederholt, in welcher Form und auf welchemErdteil auch immer .“ „Der Deutsche Bundestag darf dazunicht schweigen .“
Die Ereignisse mögen lange zurückliegen . DieWunden – der Opfer und –bei den Nachfahren der Opfer sind aber geblieben,und daher ist es an der Zeit, dass auch das deutscheParlament dazu klar Stellung nimmt .Das sind Worte des Fraktionsvorsitzenden Volker Kauderaus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu der bedeu-tenden Entscheidung des heutigen Tages: Wir haben denVölkermord an den Armeniern anerkannt . Wir sagen zuRecht dem türkischen Volk, dass die Grundlage für Ver-söhnung und die Grundlage für eine gemeinsame guteZukunft unter den Völkern die Anerkennung der histo-rischen Wahrheit ist . Das, was wir gegenüber der Türkeirichtigerweise sagen, das sollten wir auch uns selbst beider Aufarbeitung unserer Geschichte in diesem Fall zuHerzen nehmen .
Wenn Sie, Herr Berghegger, darauf rekurrieren, esgebe im Entschädigungsrecht eine Unterscheidung zwi-schen dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz und demBundesentschädigungsgesetz, dann will ich Ihnen sagen,weil ich dieses Thema jetzt schon mehr als 20 Jahre imParlament betreue und vorher auch daran gearbeitet habe:Wir haben uns in den 80er- und 90er-Jahren entschieden,die historisch falsche Entscheidung nicht wieder aufzu-machen und mit den zu diesen beiden Gesetzen einge-richteten Härtefonds weiter zu verfahren . Aber selbst-verständlich war die Verfolgung der Homosexuellen, derEuthanasiegeschädigten und Zwangssterilisierten undder Wehrmachtsdeserteure auch nationalsozialistischesUnrecht . Das hat der Deutsche Bundestag in mehrerenResolutionen eindeutig festgestellt .
Trotzdem bekommen die Betroffenen Leistungen ausdem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz wegen der fal-schen Entscheidung des historischen Gesetzgebers .Man sollte an falschen Entscheidungen nicht fest-halten und versuchen, ein System darin zu erkennen,sondern man sollte den Mut haben, bei der historischenWürdigung die historische Wahrheit zugrunde zu legen,und die historische Wahrheit ist – das haben wir uns inder Anhörung, die wir im Haushaltsausschuss hatten, vonden Fachleuten, von den Historikern sagen lassen –: DerMord und das Verhungernlassen von 3 Millionen sow-jetischen Kriegsgefangenen in Russenlagern hatte nichtsmit Staatsunrecht und mit überbordender Gewalt im Rah-men von Kriegshandlungen zu tun, sondern es war dererklärte Wille des nationalsozialistischen Regimes, auf-grund seiner Rasseideologie die Völker der Sowjetuni-on zu dezimieren . Dazu gehörte das kriegssinnwidrigeAushungernlassen der Kriegsgefangenen in den Lagern,die eigentlich dafür bestimmt waren, in der deutschenRüstungsindustrie die deutschen Soldaten zu ersetzen .Aber man hat sie lieber sterben lassen, als ihre Arbeits-kraft auszubeuten, weil man der Ansicht war, dass dieVölker der Sowjetunion rassisch minderwertig sind . Daswar nationalsozialistische Ideologie, und das war natio-nalsozialistisches Unrecht . Wir sollten die Kraft haben,das auch zu sagen .Daraus folgt entschädigungsrechtlich überhauptnichts . Das Bundesentschädigungsgesetz hat seinSchlussgesetz 1969 gehabt . Seitdem sind keine Neuan-träge mehr möglich . Es geht um die historische Wahrhaf-tigkeit, um nicht mehr und nicht weniger .Ich weiß, dass die Koalition am Ende keinem Antragder Linken zustimmen wird, schon aus Prinzip nicht . Wirhaben einen Antrag eingebracht . Er liegt im Haushalts-ausschuss, und er ist noch nicht beschieden . Er ist be-wusst noch nicht beschieden, weil wir mit Ihnen zusam-menkommen wollen . Lassen Sie uns mit allen Fraktioneneinen gemeinsamen Text finden, den wir fraktionsüber-greifend hier im Hohen Hause tragen .
Lassen Sie uns die Rede des Bundespräsidenten Gauckvom 8 . Mai letzten Jahres zugrunde legen, der dafürwürdige Worte gefunden hat, und lassen Sie uns mit denklaren Worten schließen: Die Verbrechen, die an den so-wjetischen Kriegsgefangenen begangen wurden, warennationalsozialistisches Unrecht . – Punkt . Dann ist Frie-den in dieser Frage .Ich finde, gerade angesichts der schwierigen außenpo-litischen Situation, die wir mit der Ukraine und Russlandhaben, wäre es ein gutes Signal der Versöhnung, dasswir zu unserer historischen Verantwortung stehen undtrotz aller Differenzen mit der russischen StaatsführungFreunde des russischen, des ukrainischen, des weißrus-sischen Volkes und der anderen Völker der ehemaligen
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Sowjetunion sind und hier keine Abstriche machen, auchwenn wir politische Auseinandersetzungen haben . Inso-fern könnte das außenpolitisch noch eine gute Geste derEntspannung sein, bei der wir uns nichts vergeben, außerdass wir unsere Geschichte mit klarerem Blick und mitgrößerer Wahrhaftigkeit betrachten .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Matthias
Schmidt von der SPD-Fraktion das Wort .
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren auf den Zuschauertribünen! Lie-
be Kolleginnen und Kollegen! Mehr als 70 Jahre nach
Ende des Zweiten Weltkriegs leben in Deutschland ganz
überwiegend Menschen, die diesen Krieg nur aus Erzäh-
lungen kennen . Sie tragen an den in deutschem Namen
verübten Gräueln keine persönliche Schuld . Aber die
Nachkriegsgenerationen, wir alle, haben die Pflicht, die
Erinnerung zu bewahren . Das ist unsere Verantwortung,
und diese Forderung ist leider aktueller denn je .
Hierzu leistet der Antrag der Linken einen Beitrag,
wofür ich Ihnen danken möchte . Weiterhin möchte ich
mich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie uns die Gele-
genheit geben, die Leistungen der Koalition und der sie
tragenden Fraktionen zu würdigen . Bereits im letzten
Jahr hat die Koalition einen namhaften und zugleich
doch nur symbolischen Betrag für die ehemaligen sow-
jetischen Kriegsgefangenen zur Verfügung gestellt . Wir
taten dies nicht mit stolzgeschwellter Brust, sondern mit
demütiger Geste und Dankbarkeit, dass wir das nun end-
lich auf den Weg bringen konnten .
Die Linke will im Vorfeld des 75 . Jahrestages des
Überfalls auf die Sowjetunion am 22 . Juni 1941 durch
die deutsche Wehrmacht erneut auf die Opfergruppe der
sowjetischen Kriegsgefangenen hinweisen . Ja, dieser
historische Tag gibt uns natürlich allen Anlass, der vielen
Opfer, die dieser Angriffskrieg gefordert hat, zu geden-
ken . Dieser Krieg hat 60 bis 70 Millionen Menschen das
Leben gekostet, und noch viel mehr haben gelitten .
Ja, die sowjetischen Kriegsgefangenen gehören dazu .
Rund 5,7 Millionen waren es, die unter unmenschlichen
Bedingungen interniert wurden und Zwangsarbeit leis-
ten mussten . An die 3 Millionen von ihnen – die Zah-
len gehen bei Historikern etwas auseinander – wurden
direkt oder indirekt ermordet durch Hunger, Krankheit,
Erschöpfung oder auch durch direkte Gewalt und Peini-
gung durch die Nationalsozialisten . Ihr Leid und ihr Op-
fer sind unbestritten .
2013, am Ende der letzten Legislaturperiode, gab es
einen gemeinsamen Antrag von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen, der eine Entschädigung für diese Opfer-
gruppe forderte . Dieser wurde von den damaligen Ko-
alitionsfraktionen [CDU/CSU] und FDP abgelehnt . Nur
ein Jahr später, also schon in dieser Legislaturperiode,
wurde unsere Absicht von den Oppositionsfraktionen in
zwei Anträgen mit unterschiedlichen Entschädigungs-
summen erneut aufgegriffen . Wir haben darüber hier im
Februar 2015 diskutiert . Ich kann mich noch sehr lebhaft
an die Debatte erinnern .
Nach dieser Debatte gelang es uns, mit der Union eine
Einigung herbeizuführen . 10 Millionen Euro wurden im
Haushalt eingestellt, um den wenigen Überlebenden we-
nigstens eine symbolische Anerkennung zukommen zu
lassen . Sie beträgt 2 500 Euro . Auch das Antragsverfah-
ren ist hinsichtlich der Fragen noch einmal überarbeitet
worden, was ich sehr begrüße .
Kollege Beck, ich kann Ihre Aussage, dass der Bun-
destag geschwiegen hätte, nicht bestätigen. Ich finde
sogar, er hat an dieser Stelle sehr intensiv und würdig
diskutiert und auch ebenso entschieden .
Nun komme ich zum heutigen Antrag . Ich muss sagen,
dass mich der Antrag ein kleines bisschen ärgert; denn
Sie schieben jetzt einen Antrag hinterher, der hinsicht-
lich seiner Sinnhaftigkeit zumindest Fragen aufwirft . Sie
fordern, dass die Mitglieder des Deutschen Bundestages
in einer Feststellung den sowjetischen Kriegsgefange-
nen, ihren Angehörigen und Nachkommen Achtung und
Mitgefühl bezeugen . Ja, aber das ist doch mit Blick auf
die Geschichte selbstverständlich . Das wurde in jeder
Debatte hier im Bundestag hervorgehoben . Es gab in der
Vergangenheit diverse Gründe, warum die Anträge dazu
abgelehnt wurden, auch unser eigener Antrag . Doch nie-
mals war mangelnde Achtung oder mangelndes Mitge-
fühl der Grund . Es wäre ja geradezu unmenschlich, das
zu verweigern .
Dann fordern Sie, dass es der Deutsche Bundestag in
Anerkennung des Unrechts begrüßt, dass ein finanzieller
Anerkennungsbetrag aus dem Bundeshaushalt bereitge-
stellt wurde . Dies hat der Deutsche Bundestag bereits
dadurch getan, dass er die Bereitstellung der Mittel be-
schlossen hat – im Haushaltsausschuss und im Plenum,
und zwar im Mai 2015 . Zuvor hat der Haushaltsaus-
schuss eine Anhörung dazu durchgeführt, die letztendlich
mit dazu geführt hat, dass wir diesen Beschluss fassen
konnten .
Herr Kollege Schmidt, lassen Sie eine Zwischenfrage
von Herrn Korte zu?
Aber gerne .
Danke, dass Sie die Zwischenfrage zulassen . – Siehaben eben gesagt, dass das eine Selbstverständlich-keit sei . Wenn wir uns die Geschichte der Bundesrepu-blik anschauen, stellen wir fest, dass zum Beispiel dasGedenken an die Schoah in den 50er- und 60er-Jahrenmitnichten eine Selbstverständlichkeit gewesen ist, son-Volker Beck
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dern das musste erkämpft werden, übrigens insbesonderevon denjenigen, die selber Opfer waren . Denken Sie andie Rehabilitierung der Deserteure, die erst im Jahr 2002erfolgte – das war eben keine Selbstverständlichkeit .Denken wir an die Rehabilitierung der sogenanntenKriegsverräter im Jahr 2009 – das war ebenfalls keineSelbstverständlichkeit . Ich würde gerne Ihre Einschät-zung dazu hören .Im Rahmen der Erinnerungskultur war die Erinnerungan die Opfer des NS-Regimes und der damit verbunde-ne Blick auf die Täter eben keine Selbstverständlichkeit,sondern das musste bitter erkämpft werden, übrigens ins-besondere auch von Sozialdemokraten wie Fritz Bauer,Willy Brandt und anderen . Im Falle der sowjetischenKriegsgefangenen ist das historisch erklärbar, aber den-noch inakzeptabel . Deswegen kann man nicht von einerSelbstverständlichkeit reden .Mein zweiter Punkt . Wenn Sie mit Vertretern der Op-ferverbände reden, zum Beispiel von Kontakte-Kontaktye . V ., dann haben Sie natürlich vernommen, dass dieseEinmalzahlung in Höhe von 2 500 Euro mit großer Ge-nugtuung und Freude begrüßt wurde . Alle haben aber ge-sagt, dass ein politisches Zeichen für sie genauso wichtigist, weil das eben keine Selbstverständlichkeit ist . Dasmüssten Sie als Sozialdemokrat doch nachvollziehenkönnen .
Herr Kollege Korte, historisch gesehen haben Sie völ-
lig recht . Die Beispiele, die Sie angeführt haben, zeigen,
dass das über einen langen Zeitraum erkämpft werden
musste . Die besondere Situation der sowjetischen Kriegs-
gefangenen haben Sie in Ihrer Rede sehr gut beschrieben .
Ich beziehe mich mit meinen Aussagen auf diese Le-
gislaturperiode, in der wir schon mehrfach über dieses
Thema gesprochen haben. Dabei ist es, wie ich finde,
eine Selbstverständlichkeit, dass wir das Leid der Opfer
anerkennen . Wir als Bundestag haben das getan . Wir ha-
ben in würdigen Debatten darauf hingewiesen, und wir
haben im Nachgang zu der Debatte, wie schon mehrfach
erwähnt wurde, gemeinsam mit der Union dafür gesorgt,
dass die finanzielle Anerkennungsleistung geregelt wer-
den konnte . Die Vertreter des Vereins Kontakte-Kontakty
haben unseren finanziellen Beitrag als unsere Anerken-
nung des Leids gewürdigt .
– Finanziell, und damit natürlich auch darüber hinaus .
Das finde ich eindeutig.
Herr Kollege Korte, der Punkt, den ich inhaltlich
mit Ihnen teilen kann, verfolgt das Ziel, den Opfern ein
ehrendes Andenken zu bewahren und sie stärker in der
deutschen Erinnerungskultur zu verankern. Ja, ich finde,
das ist ein guter Ansatz . Hier gibt es viele Möglichkei-
ten, diese Leerstelle, wie sie die Wissenschaftlerin Beate
Fieseler nannte, zu schließen .
In Berlin gibt es zahlreiche Orte, wo Zivilisten und
Kriegsgefangene Zwangsarbeit leisten musste . Einer
dieser Orte befindet sich in meinem Wahlkreis. Das Do-
kumentationszentrum NS-Zwangsarbeit erinnert am au-
thentischen Ort in Berlin-Schöneweide an die Geschich-
te und das Leid der vielen Zwangsarbeiterinnen und
Zwangsarbeiter . Das ist so eine Stätte, wo mit großem
persönlichem Einsatz Erinnerungskultur gepflegt wird.
Im letzten Haushalt ist es gelungen, diesen Lern-, Erin-
nerungs- und Begegnungsort mit Bundesmitteln stärker
zu fördern, worüber ich mich sehr freue . Ich kann Ih-
nen allen einen Besuch des Dokumentationszentrums in
Schöneweide mit Ihren Besuchergruppen nur empfehlen .
Es ist nicht weit vom Bundestag entfernt .
Für uns ist es wichtig, dass wir die Erinnerung an die
Verbrechen und an die Opfer des Nationalsozialismus
wachhalten . Das schließt die sowjetischen Kriegsgefan-
genen ausdrücklich mit ein . Ich bin vollkommen damit
einverstanden, dass diese in Zukunft eine stärkere Be-
rücksichtigung finden sollen.
Ich freue mich auf die Beratungen in den Ausschüs-
sen . Wir bleiben sicher gesprächsbereit . Wir werden uns
keinesfalls eines überfraktionellen Antrags verschließen .
Da müsste dann aber das eine oder andere in den Aus-
schüssen noch geklärt und besprochen werden .
Vielen herzlichen Dank .
Als nächste Rednerin spricht Barbara Woltmann für
die CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren!Wir werden nicht durch die Erinnerung an unsereVergangenheit weise, sondern durch die Verantwor-tung für unsere Zukunft .Das stellte schon der irische Schriftsteller, Politiker undPazifist George Bernard Shaw fest.Die unfassbaren Verbrechen Hitlers haben sich un-löschbar in die deutsche Geschichte eingebrannt . Esist und muss uns Erinnerung und Mahnung für die Zu-kunft sein . Viele Menschen leiden noch immer unter denschrecklichen Ereignissen des Zweiten Weltkrieges . Die-ser Krieg hat Elend und Verderben über Millionen vonMenschen in Europa und darüber hinaus gebracht .Das Gedenken an Verdun, an den Ersten Weltkrieg100 Jahre zurück, oder auch an den Völkermord an denArmeniern – heute Morgen hier in diesem Hause bera-ten – erinnert uns daran, mahnend wachsam zu sein ge-gen jeden Aggressor gegen die Menschlichkeit . Die sow-jetischen Truppen und die anderen Siegermächte warenes, die ein Deutschland befreiten, in dem Menschen plan-mäßig und in nie dagewesenem Umfang vernichtet undJan Korte
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Andersdenkende gnadenlos verfolgt wurden . Der ZweiteWeltkrieg hat Europa weitgehend verwüstet .Auch das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefange-nen in der NS-Zeit war ein menschenverachtendes Kapi-tel der Naziherrschaft . Das wissen wir alle und bestreitetniemand . Sämtliche Regierungen der BundesrepublikDeutschland haben der moralischen und finanziellenWiedergutmachung des vom NS-Regime verübten Un-rechts stets eine besondere Priorität eingeräumt . DieserAufgabe stellt sie sich, wie wir sehen, noch heute .Ihre Forderung, liebe Kollegen und Kolleginnen vonden Linken, der Deutsche Bundestag solle die Überleben-den um Verzeihung bitten und ihren Angehörigen Ach-tung und Mitgefühl bezeugen, finde ich allerdings – wieschon teilweise meine Vorredner – sehr missverständlich .Das klingt nämlich so, als wenn Sie der deutschen Be-völkerung damit jedwedes Mitgefühl absprechen – in derVergangenheit und in der Gegenwart . Das können Sienicht wirklich ernsthaft meinen .Was hat Sie im Grunde dazu bewogen, nach der Dis-kussion um die Anerkennungsleistung an ehemaligesowjetische Kriegsgefangene im Jahre 2015 – meineVorredner haben schon darauf hingewiesen – und den da-raus erfolgten Regelungen jetzt wieder diese Diskussionauf die Tagesordnung zu heben und Ihren Antrag vorzu-legen?
Mir erschließt sich das nicht wirklich .Letztes Jahr ist auf Antrag der Grünen sowie derLinken über eine finanzielle Anerkennung von NS-Un-recht für sowjetische Kriegsgefangene im Plenum ein-gehend diskutiert und eine entsprechende Vorlage anden Haushaltsausschuss überwiesen worden . Nach einerSachverständigenanhörung hat der Haushaltsausschussim Mai 2015 einen Beschluss zum Nachtragshaushaltgefasst und einen symbolischen finanziellen Anerken-nungsbetrag von 10 Millionen Euro bereitgestellt; denndas Bundesentschädigungsgesetz greift für Kriegsgefan-gene nicht .
Der Bundestag hat den Nachtragshaushalt dann auchbeschlossen . Das heißt, das Leid dieser Menschen ist –auch darüber ist hier damals diskutiert worden – durchdiesen Betrag zumindest symbolisch anerkannt worden .Ehemalige sowjetische Kriegsgefangene erhaltendemnach eine Einmalzahlung in Höhe von 2 500 Euro .Wir gehen von bis zu 4 000 noch lebenden Berechtigtenaus . Bisher sind 1 233 Anträge eingegangen . In 391 Fäl-len wurden Leistungen ausgezahlt, etwas mehr sind er-ledigt, und nicht alle konnten anerkannt werden . DieseRegelung halte ich ausdrücklich für richtig; denn eineEntschädigung von Kriegsgefangenen durch die Stiftung„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ ist auch aus-geschlossen . Bei den internationalen Verhandlungen, dieder Errichtung dieser Stiftung vorausgegangen sind, wur-de dies einvernehmlich so geregelt . Die Begründung wardamals, man wolle keine neuen Reparationszahlungenzum Ausgleich von Kriegsschäden ehemaliger Kriegsge-fangener justiziabel machen . Die Stiftung wurde bereits2000 gegründet, um vor allen Dingen Zahlungen an ehe-malige Zwangsarbeiter zu leisten .Meine Damen und Herren, die BundesrepublikDeutschland hat auf dem Gebiet der Entschädigung fürNS-Unrecht bis heute rund 70 Milliarden Euro erbracht .Deutschland war dabei immer darauf bedacht, dass dieEntschädigungsleistungen nicht einseitig – das heißt nurfür eine Gruppierung – gewährt werden, sondern dassalle Betroffenen und alle Verfolgten zumindest eine spä-te Wiedergutmachung bekommen . Allerdings muss auchich sagen: Mit Geld allein kann man das, was dort pas-siert ist, nie wiedergutmachen .
Da stehen wir zu unserer historischen Verantwortung .Festzuhalten bleibt: Krieg ist immer eine furchtbareGeißel für alle davon Betroffenen, insbesondere dann,wenn man es mit solch menschenverachtenden Regimenwie dem Naziregime zu tun hat . Wir sollten und müssenuns daher – auch im Interesse unserer Kinder und dernachfolgenden Generationen – immer unserer Geschich-te bewusst sein, damit ein solches Verbrechen niemalswieder geschieht . Aber man sollte niemandem, der denKrieg nicht erlebt hat, Schuldgefühle einreden . Die meis-ten von uns sind nach Kriegsende geboren .Ich möchte ganz ausdrücklich betonen: Wir habendie Schuld unserer Vorfahren von Beginn an auf unsereSchultern genommen und die Verantwortung übernom-men . Wenn wir es aber nach über 70 Jahren nicht lang-sam schaffen, uns von dem Gedanken zu emanzipieren,dass das alles immer noch nicht reicht und wir nicht ge-nug tun, habe ich die Sorge, dass sich dieses Pflichtgefühlirgendwann ins Gegenteil verkehren wird .Wir sehen uns heute von kriegerischen Auseinander-setzungen umgeben, die entsetzliche Gräueltaten, die wirin unserem friedlich vereinten Europa seit über 70 Jahrendurch unsere gemeinsame Politik erfolgreich abgewen-det haben, zutage bringen .
Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Beck zu?
Diesmal nicht, nein . – Ich trete dafür ein, dass wir un-seren Blick auf die Gegenwart und die Zukunft richten,ohne die Vergangenheit zu vergessen . Wir sollten dafürSorge tragen, dass unser Friedensmodell für andere Regi-onen in der Welt beispielhaft sein kann . Wir sollten dahervoller Zuversicht in die Zukunft schauen . Es sind 70 Jah-re Frieden, die uns das europäische Haus beschert hat .Das müssen wir heute mehr denn je vermitteln . Da halteich Ihren Antrag für nicht zielführend .Barbara Woltmann
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Vielen Dank .
Vielen Dank . – Jetzt erhält der Kollege Beck das Wort
für eine Kurzintervention .
Frau Kollegin, Ihre Ausführungen haben mich an zwei
Punkten etwas erstaunt . Zu Beginn Ihrer Rede haben Sie
gesagt, dass die Erinnerung nicht so wichtig ist wie das
In-die-Zukunft-Schauen . Das hat mich insbesondere des-
halb gewundert, weil ich vorhin in meiner Rede Ihren
Fraktionsvorsitzenden zitiert habe, der am 2 . Juni dieses
Jahres in der FAZ geschrieben hat:
Nur durch die Erinnerung an ein solches Unrecht
wächst die Aussicht, dass sich dieses nicht wieder-
holt – in welcher Form und auf welchem Erdteil
auch immer .
Was bei der Anerkennung des Völkermords an den
Armeniern richtig ist, kann bei der Anerkennung des
NS-Unrechts gegenüber den sowjetischen Kriegsgefan-
genen nicht falsch sein .
Aus der Erinnerung, aus der Vergangenheit, wächst die
Zukunft in Verantwortung, weil man daraus die Lehren
zieht .
Noch mehr berührt und auch ein bisschen erschüttert
hat mich, dass Sie darüber gesprochen haben, dass im
Krieg eben schlimme Dinge passieren . Die Kriegsgefan-
genen wurden aber in zwei Klassen eingeteilt . Für die
westalliierten Kriegsgefangenen galt auch im National-
sozialismus die Genfer Konvention, und sie wurde bei
allem Elend, das es auch dort gab, grundsätzlich auch
respektiert und angewandt . Für die sowjetischen Kriegs-
gefangenen wurde sie dagegen durch Führerbefehl aus-
drücklich außer Kraft gesetzt . Deshalb hat man sie sys-
tematisch ausgehungert . Ich habe den Eindruck, dass Sie
das nicht zur Kenntnis nehmen wollen, obwohl wir das in
der Anhörung diskutiert haben .
Ich möchte hier wirklich keine Schärfe in die Debatte
bringen, sondern ich möchte im Sinne der Würdigung der
Geschichte und auch mit Blick auf die Menschen, die un-
sere Debatte in den Gebieten der ehemaligen Sowjetuni-
on – in Russland, in der Ukraine, in Belarus – verfolgen,
einfach versuchen, zu erreichen, dass wir uns in einem
Berichterstattergespräch noch einmal gemeinsam der
Frage annehmen, wo die entscheidende Differenz war .
War es nicht so, wie uns alle Historiker in der Anhö-
rung gesagt haben, dass die entscheidende Differenz da-
rin bestand, dass es nicht um ein Kriegsziel ging, und
dass der Grund, weshalb man die Leute verhungern ließ,
nicht ein Mangel an Ressourcen zur Versorgung der
Kriegsgefangenen war, sondern der Wille, sie aus rasse-
biologischen Gründen umzubringen? Das Unrecht, das
auf rassebiologischen Gründen fußt, ist klassischerweise
nationalsozialistisches Unrecht .
Lassen Sie uns diese Frage noch einmal ohne Schärfe
und jenseits von Partei- und Fraktionsgrenzen bespre-
chen, damit wir hier als Hohes Haus gemeinsam zur his-
torischen Wahrheit finden. Ich bitte Sie: Gewähren Sie
uns diese Diskussion .
Frau Woltmann, Sie haben das Wort zur Erwiderung .
Kollege Beck, ich glaube, Sie wollen mich missver-
stehen; denn ich weiß nicht, warum auch immer Sie die-
sen Beitrag jetzt gemacht haben .
Ich habe in keiner Weise gesagt, dass die Vergan-
genheit und die Erinnerung an die Vergangenheit nicht
wichtig sind . Ganz im Gegenteil: Die Erinnerung an die
Vergangenheit – ich habe das in meiner Rede mehrfach
gesagt – ist zwingend notwendig; denn sonst kann ein
Volk keine Zukunft haben . Das steht für mich überhaupt
nicht zur Disposition . Ich muss die Vergangenheit ken-
nen, um dann auch in die Zukunft schauen zu können .
Beides gehört zusammen .
Ich habe an George Bernard Shaw erinnert, der ge-
sagt hat, dass wir uns auch der Verantwortung für unsere
Zukunft stellen müssen . Das heißt, beides gehört zusam-
men .
In keiner Weise habe ich an irgendeiner Stelle das
Unrecht, das den russischen Soldaten damals widerfah-
ren ist, kleinreden wollen . Ganz im Gegenteil: Es gab
ein großes Unrecht gegenüber dieser Gruppe . Insofern
verstehe ich Ihre jetzigen Bemerkungen nicht . Ich glau-
be, dass ich in meiner Rede ausdrücklich angesprochen
habe, dass es ein furchtbares, schreckliches, menschen-
verachtendes Regime war – nicht nur russischen Solda-
ten, sondern auch vielen anderen Gruppen gegenüber,
wie zum Beispiel den Juden .
Ich habe mir heute Morgen auch noch einmal ganz
ausführlich die Ausstellung im Paul-Löbe-Haus zum Di-
alog zwischen Deutschland und Polen angeschaut . Auch
in Polen sind sehr viele Menschen durch das Unrechtsre-
gime umgekommen .
Insofern sage ich: Die Vergangenheit gehört dazu,
aber auch die Zukunft, und ich glaube, das ist in meiner
Rede mehr als deutlich geworden .
Vielen Dank . – Jetzt hat Dennis Rohde von derSPD-Fraktion das Wort .
Barbara Woltmann
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Sehr geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Am 3 . Mai dieses Jahres durfte ich, übri-gens gemeinsam mit meiner Vorrednerin, in meiner Hei-mat in Oldenburg der Kranzniederlegung zum Gedenkenan die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsar-beiter der NS-Zeit beiwohnen . Ich kann heute sagen, dasses ein Ereignis war, das mich sehr berührt hat, viel mehr,als ich es im Vorfeld erwartet hatte . Ich war zum erstenMal an diesem Mahnmal in meiner Stadt . Das, was michso sehr berührt hat, waren die Schicksale, die auf einmaltransparent wurden . Es waren die Namen und insbeson-dere die Geburts- und Todesdaten, die auf dem Mahnmalvermerkt sind .Ich selbst bin in einer Zeit aufgewachsen, in der ichnie Angst vor Krieg oder Angst um mein Leben habenmusste . Ich weiß, dass das ein großes Glück ist . Vielmehr noch: Ich darf heute mit 29 Jahren meine Heimatim Deutschen Bundestag vertreten . Aber viele der Men-schen, derer an diesem Mahnmal gedacht wird, hättensich gefreut, das 29 . Lebensjahr überhaupt erreichen zudürfen . Es sind die Schicksale wie das von Jakow Suscht-schenko, der im Alter von 25 Jahren zu Tode kam, oderdas von Anna Bogutschenko, die lediglich 18 Jahre altwerden durfte . Beide fanden ihre letzte Ruhestätte in ei-nem Massengrab in Oldenburg, mit ihnen übrigens auch111 Kinder, zu großen Teilen Kleinkinder .Noch bedrückender wird das Gefühl, wenn man sichmit dem Leid der – zum großen Teil sowjetischen –Kriegsgefangenen in der eigenen Heimat intensiver be-schäftigt . So wurden diese damals zum Bau der Umge-hungsstraße eingesetzt, die wir auch heute noch nutzenund tagtäglich befahren . Nicht nur das: Die Gefangenenhaben auch den Sand hierfür abtragen müssen . Aus die-sem Abtrag ist, wie vielerorts auch, ein Baggersee ent-standen . Er ist heute ein beliebter Rückzugsort in unsererStadt .Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir halten es unswahrscheinlich nicht jeden Tag vor Augen und machenes uns auch nicht jeden Tag aufs Neue bewusst: Aber dieSpuren der NS-Zeit, die Spuren des Leidens der Gefan-genen sind nach wie vor Bestandteil unseres täglichenLebens . Wir wissen, dass die sowjetischen Kriegsgefan-genen hierbei in unserer Region wie in ganz Deutschlandzu den größten Opfergruppen nationalsozialistischer Ver-brechen im Zweiten Weltkrieg zählen .Bis 1945 starben in deutschem Gewahrsam mehr als60 Prozent – die Zahl ist bereits gefallen – der insgesamtbis zu 6 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen . DieUrsachen für den Tod so vieler Menschen waren nicht al-lein die allgemeinen Kriegsumstände oder die mangelndeVersorgung . Tod und Vernichtung in den Lagern wurdenvom NS-Regime mehr als billigend in Kauf genommen .Sie waren Folge der nationalsozialistischen, der men-schenverachtenden Ideologie . Wir wissen auch: Diejeni-gen, die trotz der tödlichen Bedingungen überlebt haben,wurden nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion oftmalsder Kollaboration verdächtigt . Nicht selten kamen sie inLagerhaft . Sie wurden gesellschaftlich diskriminiert undstaatlicherseits erst 1995 vollständig rehabilitiert .Unsere Geschichte gibt uns eine Verantwortung fürunser heutiges Handeln, eine Verantwortung, wie ich fin-de, im doppelten Sinne . Zum einen tragen wir als Mit-glieder des Deutschen Bundestages, aber viel mehr nochals Mitglieder unserer Gesellschaft die Verantwortungdafür, dass sich das dunkelste Kapitel der europäischenGeschichte niemals wiederholt .
Wir wollen gute Nachbarn sein . Und wir werden uns je-dem standhaft und entschieden entgegenstellen, der Frie-den, Freiheit und Demokratie in diesem Land bedroht,ganz egal, wie er sich nennt, ganz egal, wie er sich tarnt .Nie wieder Faschismus – dieser Aufgabe haben wir unstagtäglich zu stellen .
Zum anderen haben wir als Parlamentarier aucheine politische Verantwortung, die wir Sozialdemokra-ten wahrgenommen haben und wahrnehmen . Es wardie damalige rot-grüne Bundesregierung unter GerhardSchröder, die im Jahr 2000, 55 Jahre nach Ende desZweiten Weltkrieges, mit dem Gesetz zur Errichtung ei-ner Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“dafür gesorgt hat, dass NS-Zwangsarbeiter Entschädi-gungszahlungen erhielten .
Hierfür stellten der Bund und die Wirtschaft damals im-merhin 5,2 Milliarden Euro zur Verfügung .Doch eine Lücke gab es auch in diesem Gesetz noch:Sowjetische Kriegsgefangene blieben unberücksichtigt;denn Tatbestandsvoraussetzung war die Zwangsarbeit .In der letzten Legislaturperiode wurden die Anträge zurErweiterung des Kreises der Anspruchsberechtigten lei-der noch regelmäßig abgelehnt . Aber im Nachtragshaus-halt 2015 haben wir endlich das durchgesetzt, was wirbereits zuvor gefordert hatten: Nunmehr 70 Jahre nachEnde des Zweiten Weltkrieges haben auch die noch le-benden sowjetischen Kriegsgefangenen einen Entschä-digungsanspruch bekommen, zwar spät, aber wir sindunserer historischen Verantwortung in diesem Punkt ge-recht geworden .
Egal ob im Jahr 2000 für die Zwangsarbeiter oder imletzten Jahr für die sowjetischen Kriegsgefangenen, ichsage ganz klar: Kein Geld der Welt kann die Taten undGrausamkeiten des nationalsozialistischen Unrechtsre-gimes ungeschehen machen . Die Entschädigungsleis-tungen sind Symbol unserer Verantwortung und unseresWillens, diejenigen niemals zu vergessen, denen in denZeiten des Zweiten Weltkrieges die Freiheit geraubt unddas Leben genommen wurde . Sie sind Symbol für unsereVerantwortung und unseren entschlossenen Willen, nichtzu vergessen . Nie wieder Faschismus – das ist und bleibtunsere wichtigste Aufgabe .
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Vielen Dank .
Vielen Dank . – Damit schließe ich die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/8422 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federfüh-
rung beim Haushaltsausschuss liegen soll . Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
ordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
internationalen Sicherheitspräsenz in Kosovo
auf der Grundlage der Resolution 1244
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Tech-
nischen Abkommens zwischen der internati-
onalen Sicherheitspräsenz und den
Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien
und der Republik
Serbien vom 9. Juni 1999
Drucksache 18/8623
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre dazu
keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Als erster Redner in der
Debatte hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr . Ralf
Brauksiepe das Wort .
D
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Die Bundeswehr leistet nicht nurim Kosovo, sondern in der Region insgesamt seit demBeginn der NATO-Mission KFOR im Jahr 1999 einenwichtigen Beitrag zu deren Stabilisierung . Wir habenunter dramatischen Umständen begonnen, um ein grau-sames Abschlachten und Morden dort in der Region zubeenden, wie wir es in Europa seit Ende des ZweitenWeltkrieges nicht mehr erlebt haben und uns auch nichtvorstellen konnten . Es waren dramatische Umstände, un-ter denen wir damit unseren Beitrag zur Stabilisierungund zum Beenden des Mordens geleistet haben .Auf dem Balkan haben die Bemühungen der interna-tionalen Gemeinschaft Früchte getragen . Auch das letzteJahr hat durchaus positive Entwicklungen im Kosovo so-wohl für die allgemeine Sicherheitslage als auch für denWeg zur Normalisierung der Beziehungen zwischen denKonfliktparteien Serbien und Kosovo gezeigt.Ich finde es wichtig, nicht nur auf die Fortschritte die-ses letzten Jahres zu blicken, sondern uns, wenn wir überdas Kosovo reden, immer wieder vor Augen zu führen,wie dramatisch die Lage damals war, als wir angefangenhaben, uns dort zu engagieren . Natürlich sind 17 Jahreeine lange Zeit, aber wir sind aus einer ganz grausamenSituation gekommen, von der unbestreitbar ist, dass er-hebliche humanitäre Fortschritte für die Menschen er-zielt worden sind, liebe Kolleginnen und Kollegen . Dashat etwas mit diesem Mandat zu tun .
Im Jahr 2013 wurde ein Normalisierungsabkommenvereinbart, das auf die Eingliederung der kosovo-serbi-schen Parallelstrukturen abzielt und somit nicht nur eineeinheitliche staatliche Struktur schafft, sondern auch zueiner Annäherung zwischen Kosovo-Serben und Koso-vo-Albanern beiträgt . Hier konnten bereits umfassendeFortschritte erreicht werden, zum Beispiel im Polizei-bereich oder bei der Einbindung der kosovarisch-serbi-schen Bevölkerungsteile in die politische Repräsentanz .Es konnten auch erste Annäherungen bei der Überfüh-rung der Justiz- und Kommunalverwaltungsstrukturen ineinheitliche kosovarische Strukturen erwirkt werden .Diese positiven Entwicklungen gilt es nun zu stärkenund weiter zu begleiten, liebe Kolleginnen und Kollegen .Die erreichten Fortschritte sind maßgeblich dem profes-sionellen Engagement aller beteiligten Kräfte und Ak-teure zuzuschreiben . Daher gilt ihnen und insbesondereallen im Rahmen von KFOR agierenden Soldatinnen undSoldaten an dieser Stelle mein ganz besonderer Dank .
Trotz der positiven Entwicklungen gibt es auch wei-terhin Herausforderungen und Mängel, deren Lösung wirkünftig verstärkt angehen müssen . Wir wissen auch alle,dass ein rein militärisches Begleiten nicht die Lösung ist .Daher wird Deutschland auch weiterhin umfassend diezivile Mission EULEX unterstützen, um die Entwicklungder Rechtsstaatlichkeit im Kosovo zu stärken .Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern haben dasAuswärtige Amt, das Bundesministerium des Innern unddas Bundesministerium der Verteidigung zum viertenMal den Tag des Peacekeepers begangen. Ich finde, es isteine sehr wichtige Einrichtung, dass die Ministerien, dieden Einsatz von Polizeibeamtinnen und -beamten, vonzivilen Helfern und auch von Soldatinnen und Soldatenverantworten, gemeinsam den Einsatz dieser Menschen,dieser Peacekeeper, würdigen . Das war gestern, was dasDennis Rohde
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Kosovo angeht, geradezu symbolhaft . Es wurde ein Sol-dat für seinen Einsatz bei KFOR geehrt, und es wurdeein ziviler Peacekeeper für seinen Einsatz geehrt . Beidesgehört eben zusammen, und wir tun gut daran, dieses En-gagement unserer Peacekeeper im Allgemeinen und auchim Kosovo stärker zu würdigen, als das bisher der Fallwar, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Ein Ziel der KFOR-Mission konnte bereits durch dendeutlich zu verzeichnenden Anstieg der Fähigkeiten derbegleiteten lokalen Sicherheitskräfte umgesetzt werden .Die kosovarische Polizei ist mittlerweile imstande, dieLage im Land zu kontrollieren . Nun gilt es, nach undnach alle Kompetenzen an solche lokalen Kräfte abzuge-ben und KFOR als einen stillen Begleiter und Vermittlermehr und mehr in den Hintergrund treten zu lassen .Der NATO-Rat hat Anfang Januar der Umsetzung ei-nes Konzepts zur flexibleren Anpassung der Truppenstär-ke in Abhängigkeit von der Sicherheitslage zugestimmt,und der NATO-Oberbefehlshaber hat im April die fort-schreitende Stabilisierung der Sicherheitslage bestätigt .Vor diesem Hintergrund, liebe Kolleginnen und Kol-legen, ist es konsequent und gut vertretbar, die Man-datsobergrenze auch für uns von 1 850 auf 1 350 Sol-datinnen und Soldaten herabzusetzen . Dies erlaubt unsweiterhin, alle übertragenen Aufgaben vollständig zu er-füllen, auf Lageänderungen – wenn nötig – angemessenzu reagieren und gleichzeitig den Handlungsspielraumfür lokale Sicherheitskräfte nach und nach zu erweitern .Das deutsche Engagement bei KFOR, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, ist weiterhin der richtige Weg .Deswegen bitte ich Sie im Namen der Bundesregierungum Unterstützung für diesen Weg . Die Bekämpfung vonKorruption, organisierter Kriminalität und die Unterbin-dung des Zulaufs zu radikalen Kräften müssen Hand inHand gehen mit der Stärkung der Zivilgesellschaft undder Schaffung einer ökonomischen Perspektive . Dazuzählt unser Engagement bei KFOR als ein wichtiger Bei-trag . Ich bitte Sie um Zustimmung zu unserem Antrag,dieses reduzierte militärische Engagement um ein Jahrzu verlängern .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Herr Dr . Neu
von der Linken das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Im Februar 2001 hatte die ARD eine Do-kumentation mit dem Titel veröffentlicht: Es begann miteiner Lüge – Deutschlands Weg in den Kosovo-Krieg. Ei-gentlich hätte ein zweiter Teil mit dem Titel Kosovo – dieFortsetzung einer Lüge und westliche Doppelstandardsproduziert werden müssen .Welches sind die wesentlichsten Lügen, die diesenKrieg begleitet haben? Einmal der angebliche Genozid,der Völkermord, der gegen die Albaner stattfindet. Alsdas nicht mehr beweisbar war, sprach man von einemdrohenden Genozid . Spätestens seit heute Morgen solltenwir mit Blick auf die Armenien-Debatte eines begriffenhaben: Dort, wo Völkermord stattfindet, muss er benanntwerden und müssen Konsequenzen gezogen werden .Dort, wo er nicht stattfindet, darf er auch nicht herbeifa-buliert werden, um politische Gegner zu dämonisieren .
Die tatsächliche Motivation war nämlich, letztendlichRest-Jugoslawien komplett zu zerschlagen . Das hat manbis heute geschafft . Der KFOR-Einsatz selbst basiert aufLügen und Rechtsbrüchen – bis heute .Die Lüge ist, KFOR sei eine neutrale Friedenstrup-pe . Tatsache ist doch, dass die NATO, die den Kern vonKFOR ausmacht, Kriegspartei aufseiten der terroristi-schen UCK gegen Serbien war; sie war sozusagen dieLuftwaffe der Albaner . Über Nacht, vom 10 . auf den11 . Juni 1999, wurde dann die NATO-Kriegspartei zurKFOR-Friedenstruppe .Eine weitere wesentliche Lüge: Wir, KFOR, stabi-lisieren das Kosovo als ein multiethnisches Gebiet . Sowurde es auch in der UN-Sicherheitsratsresolution 1244festgehalten: Aufrechterhaltung der Souveränität Serbi-ens etc . Aber diese Resolution wurde von Anfang an vonden NATO-Staaten, die in KFOR organisiert waren, nichteingehalten . Im Gegenteil: Die Resolution 1244 wurdeselektiv interpretiert und missbraucht .Statt Sicherheit für die Menschen und eine multiethni-sche Gesellschaft zu schaffen, flohen über 230 000 Men-schen oder wurden vertrieben, zumeist Serben und an-dere Nicht-Albaner . Bis heute konnten diese Menschennicht zurückkehren, und das zumindest unter Duldungder NATO . Statt Wahrung der Souveränität und territo-rialen Integrität Serbiens, die Sie nun für die Ukraineeinfordern, hat die NATO die territoriale Abspaltung desKosovo im Jahre 2008 militärisch abgesichert . Hierzuzählen auch die Androhung und Anwendung militäri-scher Gewalt gegen die Serben, die den Verfassungs-bruch der albanischen Minderheit und den Völkerrechts-bruch der NATO nicht akzeptieren wollen . Das heißt inIhrer Sprache etwa Aufrechterhaltung des sicheren undstabilen Umfeldes insbesondere im Norden, also dort, woSerben noch konzentriert leben .Fazit: Jede Mandatsverlängerung setzt die Lügen fort .Jede Mandatsverlängerung dient einer fortgesetzten mi-litärischen Absicherung eines massiven Völkerrechts-bruchs. Aber bis heute ist nicht wirklich reflektiert wor-den, wen man unterstützt hat und noch immer unterstützt .Ich habe kürzlich einen Bericht gelesen, in dem es darumgeht, wen man unterstützt . Die Essenz des Berichts ist:Man unterstützt ein Mafiagebilde. Der Westen und dieBundesregierung unterstützen seit 1989/99 militärisch,Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
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finanziell und anderweitig ein Mafiagebilde. Der Steu-erzahler bezahlt das . Was war das für ein Bericht? Eswar – dank WikiLeaks – ein Bericht des Bundesnach-richtendienstes aus dem Jahre 2005 . Er ist heute genausoaktuell wie damals . Aber ähnlich wie bei dem kürzlicherschienenen Bericht über den Verteidigungsministervon Saudi-Arabien wollen Sie das nicht wahrhaben . Siehalten weiterhin an den sogenannten Alliierten fest .Die meisten MdBs, die heute hier sitzen, waren1998/99 noch nicht Mitglied des Bundestages . Sie habenalso nicht diesen Vorratsbeschluss zum Krieg im Okto-ber 1998 mitgetragen . Deshalb: Machen Sie jetzt Schlussmit den Lügen, und beenden Sie KFOR . Machen SieSchluss mit Doppelstandards . Sorgen Sie dafür, dass dievölkerrechtswidrige Anerkennung des Kosovo seitensder Bundesregierung zurückgezogen wird .
Sorgen Sie dafür, dass Deutschland wieder zum Völ-kerrecht zurückkehrt; denn nur dann haben wir auch diemoralische Autorität, andere Staaten, die das Völkerrechtbrechen, zu kritisieren .
Lügen und Doppelstandards haben eines gemeinsam:kurze Beine .Ich danke Ihnen .
Als nächster Redner hat der Kollege Dirk Vöpel von
der SPD-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wenn der Bundestag dieser Mandatsver-längerung zustimmt, geht der Kosovo-Einsatz der Bun-deswehr bereits in das achtzehnte Jahr . Leider müssenwir auch heute, fast zwei Jahrzehnte nach der Beendi-gung des Kosovo-Krieges, nüchtern feststellen: Noch istdie Zeit für einen endgültigen Abzug der KFOR-Trup-pen nicht reif . Eine direkte Einsatzunterstützung durch NATO-Verbände wurde im derzeitigen Mandatszeitraumnicht angefordert . Der Aufbau selbsttragender kosovari-scher Sicherheitsstrukturen schreitet erkennbar gut vo-ran . Aber als alleinige Ordnungsmacht wären sie zurzeitnoch überfordert .Außerdem steht der für die zukünftige Entwicklung sowichtige Normalisierungsprozess zwischen dem Kosovound Serbien vor einer entscheidenden Phase . Die dies-bezüglichen Verhandlungen sind mit ihren unvermeidli-chen Kompromissen und Zugeständnissen innenpolitischheftig umstritten und treffen auf den teilweise gewaltsa-men Widerstand einer kleinen, aber aggressiven Opposi-tion . Wenn das Spannendste in den Parlamentssitzungenin Pristina über Monate die Frage war, wann die Oppo-sition den nächsten Tränengasangriff startet, dann istdas kaum als Indiz für einen schnellen demokratischenReifeprozess zu werten, ebenso wenig übrigens wie dierechtsstaatlich fragwürdige Inhaftierung mehrerer Oppo-sitionspolitiker .Die ethnischen Auseinandersetzungen zwischenKosovo-Albanern und Kosovo-Serben sind seit der Un-abhängigkeitserklärung seltener geworden . Dennoch gabes auch 2015 über 250 gewalttätige Übergriffe, vor allemgegen Angehörige der serbischen Minderheit und serbi-sche Rückkehrer .Der „Islamische Staat“ hat seine Rekrutierungsbemü-hungen unter radikalisierten Muslimen im Kosovo deut-lich verstärkt . Sorgen bereiten nach wie vor die vielenSpielarten der organisierten Kriminalität . Darüber hinausdrohen die innenpolitischen Konflikte in Mazedonienund Bosnien-Herzegowina die Region weiter zu desta-bilisieren .In der aufgepeitschten See politischer Auseinander-setzungen auf dem Westbalkan dient die KFOR-Missi-on als wichtiger Stabilisierungsanker, notfalls auch, umdie zivilgesellschaftlichen Aktivitäten der UNO und derEU-Rechtsstaatlichkeitsmission EULEX militärisch zuunterstützen . Deshalb möchte ich um Ihre Unterstützungfür eine Verlängerung des Mandats werben .Der vorliegende Antrag der Bundesregierung be-schränkt sich nicht auf die zeitliche Fortschreibung desbestehenden Mandats, er markiert vielmehr eine Zwi-schenetappe im Auslaufprozess der bisher längsten Aus-landsmission der Bundeswehr . Es ist auch dem Einsatzdeutscher Soldatinnen und Soldaten zu verdanken, dasssich die Sicherheitslage in den letzten Jahren deutlichverbessert hat . Aufgrund der Abnahme interethnischerKonflikte erscheint es deshalb vertretbar, den deutschenBeitrag zu KFOR im neuen Mandat kleiner anzusetzen .Die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Proble-me des Kosovo als schwierig zu bezeichnen, wäre eineUntertreibung . Korruption und Energienotstand – soheißen die beiden ökonomischen Vogelscheuchen, dieausländische Investoren nachhaltig abschrecken, obwohlsie angesichts der desolaten wirtschaftlichen Lage imKosovo dringend gebraucht würden . Mit dem geringstenPro-Kopf-Einkommen, der höchsten Armutsquote, einerGesamtarbeitslosigkeit zwischen 35 und 45 Prozent undeiner der weltweit höchsten Quoten im Bereich der Ju-gendarbeitslosigkeit ist das Kosovo das Armenhaus Eu-ropas .
Sicher, die Hoffnung stirbt zuletzt . Aber was ge-schieht, wenn der letzte Hoffnungsfunken verglüht ist,haben wir in den ersten Monaten des letzten Jahres er-lebt . Zehntausende überwiegend junge Leute kehrten ih-rer Heimat den Rücken und eröffneten mit dieser erstengroßen Wanderungsbewegung in den Schengen-RaumDr. Alexander S. Neu
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17105
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letztlich den Flüchtlingskorridor der Balkanroute . Vielevon ihnen sind mittlerweile wieder zurückgekehrt,
nach wie vor ohne ausreichende Erwerbs- und Lebens-perspektive im eigenen Land, dafür oft reicher nur anSchleuserschulden und der frustrierenden Erfahrung desScheiterns .Vor diesem Hintergrund kann es, glaube ich, keinenpassenderen Zeitpunkt und kein stärkeres Signal derHoffnung geben als den von der EU-Kommission am4 . Mai auf den Weg gebrachten Vorschlag der Visalibe-ralisierung für Staatsangehörige des Kosovo . Der Vor-schlag der Kommission sieht vor, dass Kosovaren fürKurzaufenthalte bis zu 90 Tagen endlich visumfrei in fastalle EU-Mitgliedstaaten reisen können . Ich begrüße die-sen Schritt ganz ausdrücklich, nicht nur weil er eine vonden Kosovaren seit Jahren zu Recht kritisierte Diskrimi-nierung im Vergleich zur Behandlung anderer Balkan-staaten beseitigt, sondern vor allem, weil er vielen Men-schen im Kosovo das oft beklagte Gefühl der Isolationnehmen wird .Es gibt keine echte Freiheit ohne Reisefreiheit . Wirin Deutschland haben damit unsere eigenen Erfahrun-gen gemacht . Jetzt liegt es an den Kosovaren, zügig dieletzten Hausaufgaben zu erledigen und vor allem denGrenzvertrag mit Montenegro zu ratifizieren, damit Ratund Europäisches Parlament dem Vorschlag der Kom-mission endgültig zustimmen können . Die Visaliberali-sierung wird die Menschen im Kosovo näher an Europaheranrücken . Das ist ein kräftiger Hoffnungsfunken . Siebelegt, dass die europäische Perspektive real und keinleeres Versprechen ist .Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Als nächster Redner spricht Tobias
Lindner von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Als dieses Hohe Haus zum ersten Mal einMandat für KFOR erteilt hat – das war 1999 –, war ich –das ist mir vorhin erst wieder aufgefallen – 17 Jahre alt .Das ist normalerweise das Alter, in dem viele junge Men-schen richtig politisch aktiv werden . Heute bin ich 34 .
Mich hat dieses Mandat also quasi über die Hälfte meinesLebens hinweg begleitet. Es zeigt: Krisen und Konfliktekönnen plötzlich und für viele von uns unvorhergesehenkommen . Aber wenn sie einmal da sind, braucht es ei-nen ziemlich langen Atem, um sie wirklich dauerhaft undnachhaltig zu lösen . So ist es auch bei diesem Mandat .Dabei müssen wir uns – ich bin dem Staatssekretärdurchaus dankbar, dass er das angesprochen hat – immerwieder klarmachen: Das Militär, liebe Kolleginnen undKollegen, kann diesen Konflikt nicht lösen. Es kann abereinen Rahmen bieten, in dem zivile Instrumente bzw . po-litische Lösungen dabei helfen können, Entwicklungenim Kosovo anzustoßen, welche die Probleme, die in die-ser Debatte schon angesprochen worden sind, lösen oderzumindest abmildern können . Deswegen, meine sehr ge-ehrten Damen und Herren, wird meine Fraktion auch indie Beratungen über dieses Mandat mit der Einstellunghineingehen, es wohlwollend zu unterstützen .Wir müssen uns, wenn wir uns zivil und politisch en-gagieren wollen, vor allem aber auch klarmachen: EineLösung für den Konflikt im Kosovo wird es nur gebenkönnen, wenn der Westbalkan insgesamt eine politischePerspektive erhält .
Es braucht ein außerordentliches Engagement dieserBundesregierung vor dem Hintergrund dessen, dass esin Mazedonien gerade eine Vertrauenskrise gibt, dassin Bosnien-Herzegowina nationalistische Kräfte mit derAbspaltung der Republika Srpska liebäugeln und dass inMontenegro die Zivilgesellschaft und die Presse unter er-heblichem Druck stehen . Wir brauchen zur Lösung die-ser Probleme eine Lösung für den gesamten Westbalkan,liebe Kolleginnen und Kollegen .Herr Kollege Vöpel, Sie haben es dankenswerterweiseangesprochen: Es geht um den Weg in das Haus Euro-pa und um ein näheres Heranrücken an Europa . Ich binfest davon überzeugt – das gilt auch für meine Frakti-on –, dass es für Serbien und das Kosovo am Ende desTages nur einen gemeinsamen Weg in das Haus Europawird geben können . Es braucht eine Aussöhnung, undes braucht eine Verständigung zwischen beiden Staaten,wenn wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht noch in17 Jahren hier stehen wollen, um über dieses Mandat zuberaten .
1999 hat die damalige Bundesregierung – auch daswurde schon erwähnt, und auch das sollten wir uns in derjetzigen Debatte vergegenwärtigen – eine Mandatsober-grenze von 8 500 Soldatinnen und Soldaten beantragt .Seitdem hat die Präsenz des Militärs stetig abgenom-men . Das ist ein guter und wichtiger Schritt . Deswegenbegrüßen wir es auch, dass mit dem neuen Mandat dieMandatsobergrenze weiter gesenkt werden soll . Das istein Weg dahin, dass man dieses Mandat hoffentlich inwenigen Jahren wird beenden können, liebe Kolleginnenund Kollegen .Die 17 Jahre, die dieser Einsatz andauert, sollten unsbei allem Streit darüber – der Kollege Neu hat es ja ge-rade vorgeführt –, ob Mandate sinnvoll oder wenigersinnvoll sind bzw . ob wir dafür oder dagegen sein soll-ten, alle gemeinsam dazu mahnen oder motivieren, beiMandaten frühzeitig zu fragen, wie man da auch wiederherauskommt . Sind die Ziele, die wir uns gesetzt haben,Dirk Vöpel
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erreicht worden? Was läuft sinnvoll? Und wo gibt esRückschläge?Wir sollten uns gemeinsam darüber im Klaren sein,was wir in den kommenden Monaten bzw . noch in dieserLegislaturperiode in den Ausschussberatungen werdenleisten müssen, damit es uns gelingen kann, die Mandats-grenze weiter abzuschmelzen und KFOR vorerst auf eineRolle zu reduzieren, bei der sie quasi nur noch als letzteVersicherung vor Ort steht, damit wir dann – hoffentlichin wenigen Jahren und nicht erst nach weiteren 17 Jah-ren – auch dieses Mandat beenden und damit in eine Zu-kunft blicken können, in der das Kosovo insgesamt einenWeg in das Haus Europa und in eine gute Zukunft findenkann .Ich danke Ihnen .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Florian Hahn
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der KFOR-Einsatz im Kosovo steht beispielhaft für denlangen Atem, den man für eine erfolgreiche Stabilisie-rungsmission benötigt . Er besteht seit 1999 und ist damitder längste und weiterhin zweitgrößte Auslandseinsatzder Bundeswehr . Wenn wir mittlerweile verstärkt aufandere Krisenregionen blicken, dann liegt das vor allemdaran, wie effektiv die bei KFOR eingesetzten Soldatin-nen und Soldaten zur Normalisierung und Stabilität imKosovo beitragen .Oberst von Keyserlingk, der 2004 das erste Mal Kom-mandeur des deutschen Einsatzkontingents im Kosovowar und am 26 . dieses Monats nach rund zwei Jahrendie Truppenfahne im Feldlager Prizren zum zweiten Malwieder abgab, hat die Fortschritte in einem Interviewganz plastisch beschrieben . Den Soldaten sei es anfangsnicht möglich gewesen, das Lager ohne Waffen zu ver-lassen . Mittlerweile brauche man den Gefechtshelm unddie Weste nur noch bei sich in der Nähe zu haben; manmüsse sie nicht mehr tragen . – Das Resümee des letztenMandatszeitraums unterstreicht sein Urteil: Es war keinEingreifen seitens KFOR notwendig .Auch die Zahlen spiegeln die positive Entwicklung wi-der . 1999 waren noch 50 000 KFOR-Soldaten im Land;heute sind es rund 5 000 . Am 20 . April bestätigte der NATO-Oberbefehlshaber in Europa zudem die geplanteReduzierung der Einsatzkompagnien von 14 auf 12 . NochAnfang des Jahres allerdings spielten sich im KosovoSzenen ab, die für alles andere als für eine Stabilisierungsprachen: Tränengasschwaden im Parlament, Abgeord-nete mit Gasmasken, Angriffe militanter Demonstrantenim Zentrum der Hauptstadt, Polizisten, die Abgeordne-te der Opposition gewaltsam aus dem Saal entfernten .Die Opposition versuchte, durch gewaltsame StörungenNeuwahlen zu erringen . Diese scharfen innenpolitischenAuseinandersetzungen sind besorgniserregend .Ich betone dies, um uns eine Wahrheit noch einmal vorAugen zu führen: So viel wir auch im Kosovo erreichthaben, noch immer ist der Staat, der mittlerweile von111 Ländern weltweit völkerrechtlich anerkannt wird,ein fragiles Gebilde . Obwohl die kosovarische Polizeibei den Großdemonstrationen Anfang des Jahres keineUnterstützung benötigte – dies zeugt im Übrigen vonder guten Ausbildung der Polizei und der kosovarischenSicherheitskräfte durch KFOR –, bleibt die internationa-le Präsenz als Garant für eine Grundsicherheit notwen-dig . Auch wenn KFOR nicht eingreifen musste, wurdedoch alles für einen möglichen Einsatz des deutschenSicherungszuges vorbereitet . Während Demonstrantenden Niedergang der Regierung skandierten, blieben dieSoldatinnen und Soldaten in Bereitschaft . So richtig dieAbsenkung der Personalobergrenze ist, so wichtig bleibtdie Möglichkeit, auf Krisensituationen zu reagieren . Umes nochmals mit den Worten von Oberst von Keyserlingkzu sagen:Gut, dass nichts passiert ist, und gut, dass wir hätteneingreifen können .Trotz der zum Teil gewaltsamen innenpolitischenAuseinandersetzungen, die sich vor allem gegen denStatus der serbischen Gemeinden im Kosovo richten, hatder Normalisierungsprozess zwischen den beiden Akteu-ren, Pristina und Belgrad, einen großen Sprung gemacht .Das im vergangenen August beschlossene Abkommenzwischen Ministerpräsident Aleksandar Vucic und demkosovarischen Regierungschef Isa Mustafa wurde zuRecht als historischer Meilenstein bezeichnet . Der vorge-sehene Rückzug serbischer Institutionen aus dem Nord-kosovo könnte dazu dienen, die ethnischen Spannungenim Norden langfristig zu mindern . Im Gegenzug solltenden serbischen Gemeinden weitgehende Selbstbestim-mungsrechte gewährt werden .Es ist jetzt wichtig, zu verhindern, dass die Annähe-rung Opfer politischer Instrumentalisierung wird . DieIntegration und der Schutz der serbischen Minderheit –rund 50 000 Serben leben noch im Norden Kosovos –,die Toleranz und Aussöhnung innerhalb der Gemeindenund der Schutz von Minderheiten bleiben wichtige Bau-steine in diesem Prozess . Es gilt daher, Präsident Thaciund Ministerpräsident Vucic bei ihrer mutigen Stabilisie-rungspolitik zu unterstützen .Für die Entwicklung des Kosovos bleibt derKFOR-Einsatz, flankiert durch unser entwicklungspo-litisches Engagement, weiterhin wichtig . Er schafft einstabiles Umfeld, das für die Entwicklung des Landes undden Weg in die Europäische Union notwendig ist . UnserEinsatz wird daher auch in Zukunft nicht zeitgebundensein, sondern immer ergebnisorientiert die Kräftekontin-gente an die Lage im Land anpassen .Noch eine Bemerkung zum Kollegen Neu: Es ist rich-tig, man muss Völkermord Völkermord nennen, wenn erVölkermord ist . Genauso richtig ist es aber auch, drohen-den Völkermord zu verhindern . Mit Blick auf die Diskus-sion, die wir heute in diesem Plenum geführt haben, mitBlick auf die Rolle des Kaiserreichs beim Völkermord anDr. Tobias Lindner
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den Armeniern ist es gerade für uns Auftrag, drohendenVölkermord zu verhindern .Danke schön .
Der Kollege Neu erhält die Möglichkeit zu einer
Kurzintervention .
Sehr geehrter Kollege, es gab keinen drohenden Völ-
kermord . Ich beziehe mich damit auf Aussagen des Aus-
wärtigen Amts aus dem Jahre 1998 bis in den März 1999
hinein . Entsprechende Informationen zur Abschiebung
von Kosovo-Albanern kurz vor Beginn des Krieges
durch die NATO wurden von den verschiedenen Verwal-
tungsgerichten angefragt . Ich kann Ihnen gerne vier Fälle
vorlesen, um das einmal zu verdeutlichen .
Auskunft des Auswärtigen Amts, 12 . Januar 1999, an
das Verwaltungsgericht Trier:
Eine explizit an die albanische Volkszugehörig-
keit anknüpfende politische Verfolgung ist auch im
Kosovo nicht festzustellen . Der Osten des Kosovo
ist von den bewaffneten Konflikten bislang nicht er-
faßt, das öffentliche Leben in Städten wie Pristina,
Urosevac, Gnjilan usw . verlief im gesamten Kon-
fliktzeitraum in relativ normalen Bahnen.
Das Vorgehen der Sicherheitskräfte war
… nicht gegen die Kosovo-Albaner als ethnisch de-
finierte Gruppe gerichtet, sondern gegen den militä-
rischen Gegner und dessen tatsächliche oder vermu-
tete Unterstützer .
Sprich: die UCK .
Auskunft des Auswärtigen Amts, 15 . März 1999, an
das Verwaltungsgericht Mainz:
Wie im Lagebericht vom 18 .11 .1998 ausgeführt,
hat die UCK seit dem Teilabzug der … Sicher-
heitskräfte im Oktober 1998 ihre Stellungen wieder
eingenommen, so daß sie wieder weite Gebiete im
Konfliktgebiet kontrolliert. Auch vor Beginn des
Frühjahrs 1999 kam es weiterhin zu Zusammenstö-
ßen …
Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs – das
dürfte Sie jetzt interessieren – aus dem Oktober 1998:
Die den Klägern in der Ladung zur mündlichen Ver-
handlung angegebenen Lageberichte des Auswärti-
gen Amts vom 6 . Mai, 8 . Juni und 13 . Juli 1998 las-
sen einen Rückschluß auf eine Gruppenverfolgung
ethnischer Albaner aus dem Kosovo nicht zu . Nicht
einmal eine regionale Gruppenverfolgung, die allen
ethnischen Albanern aus einem bestimmten Teilge-
biet des Kosovo gilt, läßt sich mit hinreichender Si-
cherheit feststellen . Das gewaltsame Vorgehen des
jugoslawischen Militärs und der Polizei seit Febru-
ar 1998 bezog sich auf separatistische Aktivitäten
und ist kein Beleg für eine Verfolgung der gesamten
ethnischen Gruppe der Albaner aus dem Kosovo
oder einem Teilgebiet desselben .
Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster, 11 . März
1999:
Albanische Volkszugehörige aus dem Kosovo wa-
ren und sind in der Bundesrepublik Jugoslawien
keiner regionalen oder landesweiten Gruppenver-
folgung ausgesetzt .
Stoppen Sie also das Märchen von einem drohenden
Genozid .
Danke .
Herr Hahn, Sie haben die Möglichkeit zur Erwide-
rung .
Herr Kollege Neu, Sie haben unter anderem Doku-
mente des Auswärtigen Amts aus dieser Zeit zitiert, die
ich jetzt nicht nachvollziehen kann .
Ich habe leider keine Aussagen der Führung des Auswär-
tigen Amts aus dieser Zeit zur Hand; aber das können
wir gerne beim nächsten Mal nachholen . Ich könnte mir
vorstellen, dass Bundesaußenminister Joschka Fischer
die Lage damals deutlich anders eingeschätzt hat .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Debatte ist da-mit beendet .Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/8623 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisungauch so beschlossen .Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten KatjaKeul, Katja Dörner, Luise Amtsberg, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENElternschaftsvereinbarung bei Samenspendeund das Recht auf Kenntnis eigener Abstam-mungDrucksache 18/7655Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Florian Hahn
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Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für GesundheitNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre dazukeinen Widerspruch . Dann ist das auch so beschlossen .Wenn die Kolleginnen und Kollegen ihre Plätze ein-genommen haben – ich bitte darum, dass das zügig ge-schieht –, dann kann ich die Debatte auch eröffnen .Ich eröffne die Aussprache . Als erste Rednerin erhältKatja Keul von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen dasWort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Samenspende ist ein seit über vier Jahr-zehnten praktiziertes Verfahren . Tausende von Familiensind auf diesem Wege gegründet worden . Dennoch fehltes bis heute an einer gesetzlichen Regelung und damitan einer rechtlichen Absicherung aller Beteiligten . Mitunserem heutigen Antrag machen wir konkrete Vorschlä-ge für eine solche gesetzliche Regelung . Im Zentrumunserer Überlegungen stehen zunächst einmal die Inte-ressen des durch die Samenspende entstandenen Kindes,das aufgrund der Rechtsunsicherheit noch immer vor derSchwierigkeit steht, die erforderlichen Informationenüber seine Abstammung zu erhalten . Seit Jahren ist un-bestritten, dass die Kenntnis der eigenen Abstammungzentral bei der eigenen Identitätsfindung sein kann unddie Unkenntnis zu gravierenden psychologischen Be-lastungen führen kann . Deswegen ist eine anonyme Sa-menspende auch nicht zulässig . Klar ist auch, dass nichtjede oder jeder diese Kenntnis haben will oder habenmuss . Aber denjenigen, für die es wichtig ist, müssen wirzur Durchsetzung ihres Anspruches verhelfen .
Das Verfassungsgericht hat seit den 80er-Jahrenmehrfach klargestellt, dass die Kinder einen verfassungs-rechtlich geschützten Anspruch auf Auskunft gegenüberihren Eltern haben . Was sie bisher nicht haben, ist einAnspruch gegen einen Dritten auf Durchführung einesVaterschaftsfeststellungsverfahrens . Der einzige rechtli-che Weg liegt bislang in der Anfechtung ihres rechtlichenVaters und der Geltendmachung von Ansprüchen gegenden vermutlichen biologischen Vater, soweit bekannt .Genau dort liegt das Problem .Das Recht der Kinder auf Anfechtung der Vaterschaftkontrahiert deren Anspruch auf Auskunft über ihre Ab-stammung . So müssen die Samenbanken zwar gewisseDaten vorhalten; in der Praxis machen sie aber alles,um aus ihrer Sicht ihre Kunden zu schützen und ihrGeschäftsmodell zu erhalten . Es gibt daher einen sehrunterschiedlichen Umgang mit den Auskunftspflichtengegenüber den Kindern, bis hin zur gezielten praktischenVerhinderung . Dabei geht es den Kindern so gut wie nieum die Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen oder Erb-ansprüchen gegen den Samenspender, sondern schlichtum die Kenntnis ihrer Abstammung .Was also tun? Wie können wir gleichzeitig Rechtssi-cherheit für die Spenderkinder, Wunscheltern und Spen-der schaffen? Unser Vorschlag:Als Allererstes sollte der bislang verfassungsrechtlichunbestrittene Auskunftsanspruch der Kinder gesetzlichverankert werden, auch gegenüber den Samenbanken .Als Zweites sollte es schon vor der Zeugung möglichwerden, in einer Elternschaftsvereinbarung die rechtli-che Elternschaft des Wunschvaters vertraglich und ver-bindlich zu regeln . Das schafft nicht nur Sicherheit beiSpenden über Samenbanken, sondern gerade auch beisogenannten vertraulichen Spenden im privaten Umfeld,vor allen Dingen, wenn die Eltern nicht verheiratet sind .
Diese Vereinbarung sollte beim Jugendamt protokolliertund mit einer entsprechenden Belehrung über den zu-künftigen Umgang mit dem Auskunftsrecht gegenüberdem Kinde zu dessen Wohl verbunden sein .Drittens müssen wir künftig dem Kind einen gesetz-lichen Weg verschaffen, die biologische Vaterschaft desSpenders feststellen zu lassen, ohne dabei die rechtlicheVaterschaft infrage zu stellen .
Eine solche gerichtlich festgestellte biologische Vater-schaft ohne Statusänderung haben wir bereits vor einigenJahren ins Gesetz eingeführt, als es um die Durchsetzungvon Umgangsrechten des biologischen Vaters ging . Eshandelt sich also nicht um eine völlig neue Konstrukti-on . Nur wenn dem Kind ein solcher Weg zur Verfügungsteht, ist es verfassungsrechtlich vertretbar, im Gegen-zug das Anfechtungsrecht des Kindes gegenüber demrechtlichen Vater mittels einer Elternschaftsvereinbarungauszuschließen . Im Ergebnis wirkt die Elternschaftsver-einbarung wie eine Adoption, bei der das Kind ebenfallskein Anfechtungsrecht erhält .Nach diversen Gesprächen im Vorfeld mit den Ver-bänden sowohl der Eltern als auch der Kinder kann ichIhnen sagen, dass der Ausgleich der durchaus gegen-läufigen Interessen alles andere als banal ist. Die Elternwünschen keinen zusätzlichen Druck hinsichtlich derAufklärung ihrer Kinder durch einen Eintrag im Gebur-tenregister, während die Spenderkinder ins Feld führen,dass die Aufklärungsrate mit geschätzten 10 Prozentnach wie vor viel zu niedrig sei . Auf der anderen Seitewollen die Spenderkinder gern an ihrem Anfechtungs-recht gegenüber dem rechtlichen Vater festhalten, wasaber die Rechtsunsicherheit aufseiten der Spender nichtaufheben würde .Ich glaube, dass unser Vorschlag das ausgewogene Er-gebnis eines Abwägungsprozesses zwischen Auskunfts-anspruch auf der einen Seite und Anfechtungsrecht aufder anderen Seite ist . Ich bin gespannt auf die weiterenBeratungen und die entsprechenden Vorschläge der Re-gierungsseite .Vielen Dank .
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Dr . Sabine
Sütterlin-Waack das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle-gen! Wo komme ich her? Von wem stamme ich ab? Füralle Kinder gilt das Recht auf Herkunft . Darüber herrschtEinigkeit . Konkrete, einfachgesetzliche Regelungen gibtes zu diesem Anspruch allerdings bislang nicht . Vielmehrleitet sich der Anspruch der Kinder, wie höchstrichterlichfestgestellt, aus den Artikeln 2 und 1 des Grundgesetzes,dem Persönlichkeitsrecht, ab .Ich stimme mit den Antragstellern überein, dass Re-gelungsbedarf besteht . Auch ist es richtig, dass sich dieDurchsetzung des Rechts auf Kenntnis der Abstammungin der Realität oft als schwierig erweist . Kinder habenaus den verschiedensten Gründen Schwierigkeiten, Kon-takt zum Samenspender, zum biologischen Vater aufzu-nehmen . Die Väter sind oftmals in Sorge, dass sie nachAnfechtung zum rechtlichen Vater gemacht werden undsich damit Erb- und Unterhaltsansprüchen aussetzen . Esist zudem keine Seltenheit, dass Kliniken und Samen-banken wenig Ehrgeiz an den Tag legen, Kindern bei derDurchsetzung ihrer Rechte hilfreich zur Seite zu stehen .Zu groß ist die Angst, eines Tages keine Samenspendermehr zu finden.Der vorliegende Antrag geht grundsätzlich in die rich-tige Richtung,
in einigen Punkten schießt er aber über das Ziel hinausund ist deswegen auch abzulehnen .
Er enthält Regelungen, die auch Auswirkungen auf weiteTeile des Abstammungsrechts hätten . Hierfür bedarf eseiner gründlicheren Prüfung und eines schlüssigen Ge-samtkonzepts . Ich verweise auf die für Sommer 2017 zuerwartenden Ergebnisse des seit 2015 tagenden Arbeits-kreises „Abstammungsrecht“ des Bundesministeriumsder Justiz und für Verbraucherschutz . Dort wird unterBeteiligung von führenden Familienrechtlern, Verfas-sungsjuristen, Psychologen und Medizinethikern derFrage nachgegangen, inwieweit unsere abstammungs-rechtlichen Regelungen überhaupt noch passen . Faktist, dass die modernen Technologien, die im Bereich derFortpflanzungsmedizin zur Verfügung stehen, zu Famili-enformen führen, die noch vor kurzem auch für den Ge-setzgeber unvorstellbar waren . Sie stellen das deutscheFamilienrecht vor neue Herausforderungen .
Vor diesem Hintergrund finde ich es wenig hilfreich,nur in einem Teilbereich des Abstammungsrechts vor-schnell isolierte Regelungen zu schaffen . Damit meineich nicht, dass die Schaffung eines Samenspenderegis-ters eine schlechte Idee ist; sie ist sogar eine sehr gute,wenn sie richtig umgesetzt wird . Um eine entsprechendeUmsetzung kümmert sich derzeit das in diesem Bereichfederführende Bundesgesundheitsministerium in engerAbstimmung mit den Ressorts Justiz und Familie .Dabei muss nochmals genauer geprüft werden – derAntrag der Grünen ist hier nicht klar genug –, ob Kindernnicht auch ein Recht auf Nichtwissen eingeräumt werdensoll .
Gemäß des Regelungsvorschlags der Grünen, also einerEintragung eines entsprechenden Vermerks in das Ge-burtenregister,
wird das Kind quasi zwangsweise über seine Entste-hung aufgeklärt . Sollte es nicht der Initiative des Kindesüberlassen werden, herauszufinden, ob es durch eine Sa-menspende gezeugt wurde?Als zu weitgehend sehen wir außerdem die Idee an,das Kind solle gegenüber dem Vater feststellen lassenkönnen, ob der von der Klinik bzw . Samenbank benann-te Spender tatsächlich sein biologischer Vater ist . Diejüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hatdeutlich gemacht, dass ein Auskunftsanspruch nicht ab-solut ist, also auch durch die Persönlichkeitsrechte desmutmaßlichen Vaters eingeschränkt ist . Es ist zum Bei-spiel die Frage zu klären, ob ein Klärungsanspruch desKindes auch bei natürlicher Zeugung gegenüber jedemmutmaßlichen biologischen Vater bestehen soll . Auchhier halte ich eine Einbettung dieser und anderer Fragenin die Arbeit des Arbeitskreises für sinnvoll .Größere Probleme haben wir allerdings mit der soge-nannten Elternschaftsvereinbarung . Auf den ersten Blickerscheint diese sinnvoll, weil es Fälle gibt – aber es sindwirklich nur Einzelfälle –, in denen ein nicht verheirate-tes Paar sich für eine Insemination entscheidet und derWunschvater im Laufe der Schwangerschaft abspringtoder die Mutter die Zustimmung verweigert . Hier schafftzwar eine Elternschaftsvereinbarung auf den ersten Blickeinen Mehrwert an rechtlicher Sicherheit im Sinne desKindes . Bei näherem Hinsehen schleicht sich aber derbittere Beigeschmack ein, dass hier eher auf die Interes-sen und die Wünsche der Eltern abgestellt wird .Die Antragsteller konnten es nicht lassen, einen wei-teren Versuch zu starten, Gesellschaftspolitik durch dieHintertür zu betreiben .
Co-Mutterschaft und Co-Parenting sind Konzepte, diesich, wie Sie wissen, nur schwer mit der Linie der Gro-ßen Koalition vereinbaren lassen .
Zusammengefasst: Es gibt durchaus Schnittmengen,wie die Errichtung eines Registers oder den Vorschlagzur Einrichtung einer Höchstgrenze von Samenspenden
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eines einzelnen Spenders; auch der Verbesserung vonBeratungsangeboten stehen wir offen gegenüber . Aberunter dem Strich trennt uns dann doch zu viel von demvorliegenden Antrag .Danke schön .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Jörn
Wunderlich von der Fraktion Die Linke das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jedes Kind hat das Recht auf Kenntnis seiner Abstam-
mung; wir haben es mehrfach gehört . In Deutschland
ist dieses Recht sogar verfassungsrechtlich geschützt;
das haben wir auch schon gehört . 1989 hat das Bundes-
verfassungsgericht entschieden, dass dieses Recht vom
allgemeinen Persönlichkeitsrecht – Sie haben es gesagt,
Frau Kollegin Sütterlin-Waack – aus Artikel 2 und Arti-
kel 1 Grundgesetz umfasst wird . Das war 1989, also vor
27 Jahren . Das entspricht genau der Altersgrenze für die
noch das KJHG gilt . Ich denke, es wird langsam Zeit, dass
sich etwas tut . Das geschieht auch nicht, wie die Kollegin
Sütterlin-Waack behauptet, übereilt oder vorschnell . Ich
meine, Zeit genug war . Im Koalitionsvertrag haben die
beiden Koalitionspartner vereinbart, dies rechtlich zu re-
geln, aber davon ist bislang noch nichts zu sehen .
Selbst nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom
28 . Januar 2015 – das ist auch schon knapp eineinhalb
Jahre her –, das besagt, dass durch Samenspende gezeug-
te Kinder unabhängig vom Alter ein Recht auf Kenntnis
ihrer Abstammung haben, hat sich diesbezüglich nichts
getan . Um dieses Grundrecht grundsätzlich zu wahren,
hat der Bundestag im Jahr 2008 § 1598a BGB – er ist
auch schon erwähnt worden –, eingeführt, um eine Vater-
schaftsfeststellung oder eine Abstammung unabhängig
von der Vaterschaftsanfechtung zu ermöglichen, um eben
nicht in dieses Rechtskonstrukt oder in diese rechtlichen
Beziehungen einzudringen oder sie zu ändern . Dies ge-
schieht aber nur, um festzustellen, ob der rechtliche Vater
auch der leibliche Vater ist .
Gegen den Samenspender besteht ein solcher An-
spruch auf Klärung nicht . Das haben wir damals leider
übersehen . Ich war damals auch Berichterstatter, wobei
ich aber auch nicht glaube, dass so ein Einwand, wenn er
von der Linken gekommen wäre, Gehör gefunden hätte .
Die übrigen Einwände fanden ja auch kein Gehör . Umso
mehr begrüßt die Linke jetzt den vorliegenden Antrag
der Grünen; denn schließlich ist nicht einzusehen, wa-
rum adoptierten Kindern die Möglichkeit eröffnet wird,
die Identität ihrer leiblichen Eltern zu erfahren und diese
kennenzulernen, ohne dass Rechtsbeziehungen zu ihnen
entstehen, durch Samenspende gezeugten Kindern aber
nur der Weg über die Vaterschaftsanfechtung bleibt, mit
allen rechtlichen Konsequenzen .
Bei adoptierten Kindern ist ein entsprechender Ver-
merk im Geburtenregister vorhanden und bleibt lebens-
lang zugänglich . Warum sollte dies nicht ebenso bei
Spenderkindern erfolgen, um ihnen diese Möglichkeiten
letztlich zu eröffnen? Anonymität bei Samenspende gibt
es nicht . Schon vor fast 50 Jahren, als die Samenspende
nicht mehr geächtet wurde, hatte die Bundesärztekam-
mer darauf hingewiesen, dass anonyme Spenden eben
nicht möglich sind . Die meisten Samenbanken weisen
deshalb auf die rechtlichen Folgen einer möglichen Va-
terschaftsfeststellung mit allen unterhaltsrechtlichen und
erbschaftsrechtlichen Folgen etc . hin .
Die Frage ist nach wie vor, wie sich die rechtlichen
Beziehungen zwischen Spender und Kind möglicherwei-
se entwickeln können . Im Moment ist dies nur auf dem
Weg der Vaterschaftsfeststellung mit allen rechtlichen
Konsequenzen möglich, auch wenn sie weder vom Kind
noch von den Eltern noch vom Spender gewollt sind .
Hier setzt der Antrag der Grünen an, um ein Verfah-
ren zu schaffen, das es Spenderkindern, ähnlich wie 2008
hier in diesem Haus beschlossen, ermöglicht, festzustel-
len, ob der angegebene Vater, nämlich der Spender, auch
der biologische Vater ist – deshalb der anonyme Rand-
vermerk im Geburtenregister – man hat auch ein Recht
auf Nichtwissen – und die Forderung nach einem Mel-
de- und Auskunftssystem, welches es ermöglicht, auf die
entsprechenden Spenderdaten zurückzugreifen . Gleich-
zeitig wird durch ein solches System gewährleistet, dass
die obligatorische Zahl von maximal zehn Kindern pro
Spender auch sichergestellt ist . Es wird zwar darauf hin-
gewiesen, dass das nicht passieren soll, aber keine Sa-
menbank kontrolliert, ob jemand nicht in der Samenbank
Berlin, in der Samenbank Bayreuth und in der Samen-
bank Hintertupfing spendet. Das würde durch ein solches
System gewährleistet .
Ob das von den Grünen geforderte Instrument der El-
ternschaftsvereinbarung die Wirkungen zeigt, die sich
die Grünen erhoffen, werden die Beratungen zeigen .
Ich freue mich jedenfalls darauf und auch auf die Ände-
rungsanträge der Koalition .
Danke schön .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Sonja Steffen
von der SPD-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Besucher auf der Tribüne! DieIdee, dass ein Kind stets nur zwei Elternteile hat, ist inder heutigen Zeit überholt . Es gibt Regenbogenfamilien,Dr. Sabine Sütterlin-Waack
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es gibt Patchworkfamilien, es gibt rechtliche Eltern, esgibt soziale Eltern, es gibt biologische Eltern . Genausoüberholt ist es, dass Kinder nur dann entstehen, wenndie Eltern miteinander schlafen . Die moderne Reproduk-tionsmedizin macht es möglich, dass Kinder auch ohneSex entstehen können .Seit langer Zeit nun sind bei uns schon anonyme Sa-menspenden erlaubt,
und sie verhelfen unfruchtbaren Männern und Frauen,aber auch lesbischen Paaren und Singles zu einem Kind .Inzwischen gibt es rund 100 000 sogenannte Spender-kinder, und in Deutschland kommen jährlich 1 500 Kin-der hinzu . Ich glaube, eines ist für uns alle klar: Kind istKind, und es ist völlig egal, auf welchem Weg die Zeu-gung erfolgt ist .
Aber jeder Mensch, jedes Kind sollte auch die Möglich-keit haben, zu erfahren, wer seine Eltern sind; denn dieFrage nach der Herkunft quält . Bei der Vorbereitung zudieser Rede habe ich mich auch mit Gedanken und Bei-trägen von betroffenen Personen beschäftigt . Ein Zitatlautete beispielsweise: Es ist so, als würde mir ein Kör-perteil fehlen. – Das kann man gut nachempfinden. Auchwenn es keine verbindlichen Zahlenwerte dazu gibt, istdavon auszugehen, dass die Unwissenheit über die eige-ne Herkunft zu schweren psychischen Problemen führenkann .Wir haben es schon gehört: Es gehört zu den Per-sönlichkeitsrechten eines Menschen, seine genetischeHerkunft zu erfahren . Das Bundesverfassungsgericht istschon zitiert worden . Das steht auch in der UN-Menschen-rechtskonvention . Auch der Europäische Gerichtshof fürMenschenrechte hat das so entschieden . Allerdings hatunser Recht bislang eine Lücke . Deshalb begrüßen wirgrundsätzlich den Vorstoß der Grünen, den sie mit ihremAntrag unternehmen . Allerdings sind wir bereits dabei –darauf hat Frau Sütterlin-Waack schon hingewiesen –,diese Lücke zu schließen . Das Bundesjustizministeriumhat 2015 eine Kommission eingerichtet, die aus vielenExperten besteht . Nicht nur Juristen, sondern auch Medi-ziner sind dabei . Es geht auch um ethische Fragen . Mankümmert sich also bereits um diese Angelegenheit . Ichhoffe, dass wir da zu guten Ergebnissen kommen .Ich will noch ein paar Gedanken loswerden .
Bevor Sie fortfahren, Frau Steffen, möchte ich Sie fra-
gen: Lassen Sie eine Zwischenfrage zu? – Bitte .
Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Zwischen-
frage zulassen . Es ist erfreulich, dass es eine Kommis-
sion aus Juristen und Medizinern gibt, die sich damit
beschäftigt . Ich frage Sie: Sind denn die Vereine der
Wunscheltern und der Verein Spenderkinder an diesem
Prozess beteiligt, und wenn nein, warum nicht?
Die Kommission ist ja mitten in der Arbeit . Ursprüng-lich sollte das Ergebnis im Sommer 2017 feststehen . Dasist noch eine lange Zeit. Ich finde, das ist fast ein biss-chen zu lange, weil wir wissen, dass diese Legislaturpe-riode 2017 zu Ende sein wird .
Daher hoffe ich, dass wir früher zu Ergebnissen kommen .Übrigens hoffe ich – damit nehme ich das Ende meinerRede vorweg –, dass wir im Gesetzgebungsverfahrenwirklich überfraktionell arbeiten können .In dem Zusammenhang werden auch Verbände be-teiligt werden . Ich weiß, dass ein großes Forum geplantist, dass auch entsprechende Anhörungen durchgeführtwerden sollen . Ich bin mir sicher, sehr sicher, dass daranauch Verbände beteiligt werden .
Der BGH hat 2015 ausdrücklich den Auskunftsan-spruch des Kindes gegen den Arzt, also gegen den Re-produktionsmediziner, hinsichtlich des Samenspendersanerkannt . Allerdings – darauf hat Frau Sütterlin-Waackschon hingewiesen – gab es im April 2016 eine Entschei-dung des Bundesverfassungsgerichts, in der es zwar nichtum Samenspender ging, die aber dennoch bedeutsam ist .Es ging – die Juristen werden sich erinnern – um eine66-jährige Frau, die festgestellt wissen wollte oder zu-mindest einen Auskunftsanspruch hinsichtlich des mut-maßlichen Vaters geltend machen wollte . Das war einhochbetagter Herr von 92 Jahren . Der Vater hat gesagt:„Das will ich nicht“, und das Bundesverfassungsgerichthat gesagt: Das darf er, weil er das Recht hat, seine au-ßereheliche Beziehung zu verheimlichen . – Das Urteil istnun einmal da . Im Gegensatz zu Frau Sütterlin-Waackhalte ich es, ehrlich gesagt, für nicht zufriedenstellendund vielleicht ein bisschen männerlastig,
weil das Recht auf informationelle Selbstbestimmunghier höher bewertet wurde als das Recht auf Auskunft .Noch ein paar Gedanken zu dem Antrag selbst . ZurAufbewahrungsdauer von medizinischen Daten habenSie gesagt: Das sollen 100 Jahre sein . In der Kommissionmüssen wir darüber reden, ob man tatsächlich eine Fristvon 100 Jahren benötigt . Im Moment sind es, glaube ich,nur 30 Jahre . Das ist mit Sicherheit zu wenig .Dann stellt sich folgende Frage: Sollen wir die Zahlder Spenden limitieren? Es gibt ja Feststellungen, nachdenen 100 Kinder von einem Samenspender gezeugtworden sind . Das ist, denke ich, nicht das, was man sichwünscht . Da sollte es eine Reduzierung geben .Zuletzt will ich noch Folgendes sagen: Die Zeiten ha-ben sich geändert . Wir müssen und sollten den KindernSonja Steffen
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zuliebe Regelungen schaffen, die es wirklich jedem undjeder ermöglichen, soweit das möglich ist, zu erfahren,wessen Herkunft er oder sie ist . Ich hoffe, dass wir zueinem überfraktionellen Ergebnis kommen, weil es sichhier um eine ethische Frage handelt . Da sollten wir, den-ke ich, alle zusammenarbeiten .
Vielen Dank . – Nächster Redner für die CDU/
CSU-Fraktion ist der Kollege Alexander Hoffmann .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolle-ginnen und Kollegen! Wir haben in Deutschland keineZahlen oder genauen Erkenntnisse über die Anzahl derdurch Samenspenden gezeugten Kinder . Nach Experten-schätzungen dürften es über 100 000 sein . Ebenso wenigliegen Erkenntnisse dazu vor, wie viele Kinder überhauptwissen, dass sie das Produkt einer Samenspende sind .Was wir aber wissen, ist, dass ein solcher Sachverhaltfür alle Beteiligten rein von der menschlichen Seite einunglaublich sensibles Thema ist . Er ist sicherlich persön-lich bewegend, und er ist auch voll mit psychologischemSprengstoff .Zudem reden wir – ich denke, auch das ist in der De-batte schon klar geworden – über eine ungeheuer kom-plexe juristische Materie . Das ist bei der letzten Grund-satzentscheidung des BGH vom 28 . Januar 2015 deutlichgeworden . Wenn wir bei der juristischen Bewertung sind,dann muss man ganz ehrlich feststellen, dass dieser Be-reich in Deutschland bislang gesetzlich nur unzureichendgeregelt ist .
Deswegen hat die Große Koalition aus CDU, CSUund SPD – auch das ist schon angeklungen – im Koali-tionsvertrag das Ziel formuliert, dass wir das Recht desKindes auf Kenntnis seiner Herkunft gesetzlich regelnwollen . Deswegen bin ich sehr dankbar – auch das istschon angeklungen –, dass im Jahr 2015 im Justizminis-terium eine Kommission eingerichtet wurde, ein Arbeits-kreis „Abstammungsrecht“, dessen Ergebnisse wir imSommer 2017 erwarten .Jetzt kann man natürlich sagen: Das dauert zu lan-ge . Wir haben so viel Zeit zugebracht . – Aber ich warnevor dieser vorschnellen Beurteilung . Denn dieser Ar-beitskreis hat ja noch andere Themenfelder als nur dieSamenspende im Blick . So wirft er einen Blick auf dieFrage der Leihmutterschaft und auch auf die verwandtenFragestellungen der Eizellenspende . Wenn wir den ernst-haften Willen haben, eine schlüssige Gesamtkonzeptionzu entwickeln, dann, glaube ich, sollten wir uns auch dieZeit nehmen, alle miteinander verwandten Themenfelderin diesem Bereich gleichzeitig zu regeln .
Deswegen verbietet sich meines Erachtens zu diesemZeitpunkt eine isolierte Vorabregelung . Wenn wir unsjetzt auf den Weg zu dieser Gesamtkonzeption „Abstam-mungsrecht“ – so will ich es einmal nennen – begeben,dann wird uns da eine Vielzahl sehr diffiziler Rechtsfra-gen begegnen . Das betrifft zum Beispiel – dies wird auchin Ihrem Antrag formuliert – die Eintragung eines ent-sprechenden Vermerkes im Geburtenregister . Ich glaube,dass wir das Recht auf Nichtwissen alleine durch die An-onymität, Herr Wunderlich, nicht wahren können . Viel-mehr bräuchten wir so etwas wie einen Blindvermerk,sodass nur auf ausdrücklichen Wunsch Informationenherausgegeben werden .Ich kann mich mit Ihren Überlegungen durchaus an-freunden, wenn Sie sagen: Das Verfahren zur Aufklärungder Abstammung lehnen wir an § 1598a BGB an . Nur, damüssen wir auch daran denken, dass es eine jüngere Ent-scheidung des Bundesverfassungsgerichts gibt, die ge-rade bei § 1598a weiteren Klärungsbedarf beim Gesetz-geber sieht . Es muss geklärt werden, ob es nicht einengenerellen Klärungsanspruch gegenüber jedem mutmaß-lichen biologischen Vater gibt . Das ist in der Norm ak-tuell nicht so . Es muss vonseiten des Gesetzgebers auchdie Frage geklärt werden, ob im Rahmen der Norm nichtauch jeder mutmaßliche biologische Vater zum Kreis derKlärungsberechtigten gehört . Auch das wird eine Frage-stellung in diesem Arbeitskreis sein .Am Ende noch zwei, drei Sätze zur Elternschafts-vereinbarung . Sie würde nach Ihrer Forderung auch beiverheirateten Wunscheltern gelten . Das bedeutet aber inder Konsequenz, dass wir dann zu einem Paradigmen-wechsel kommen, weil wir von unserem Institut der Va-terschaftsvermutung, so wie § 1592 BGB es kennt, weg-kommen . Da sage ich: Wir sollten uns die Zeit nehmen,uns ausreichend die Frage zu stellen, ob wir das wollen,zumal diese Elternschaftsvereinbarung unanfechtbar seinsoll; das soll auch für das Kind gelten . Auch da, glau-be ich, sollten wir uns die Zeit nehmen, uns das gut zuüberlegen . Denn Lebenssachverhalte können sich ja imLaufe von 10 oder 20 Jahren ändern, und das Kind kannunter Umständen den Wunsch nach einer Vaterschafts-konstellation entwickeln . Ich glaube, dass das Institut,das Sie dann anbieten, nämlich die einfache Adoption,dafür nicht ausreicht .Meine Damen, meine Herren, ich glaube, all dieseAusführungen haben deutlich gemacht, dass sich eineisolierte Vorabregelung in diesem Bereich verbietet . Wirbrauchen ein schlüssiges Gesamtkonzept . Das sollten wirmit Unterstützung des Arbeitskreises ansteuern . Darauffreue ich mich .Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Sonja Steffen
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Vielen Dank . – Nächster Redner ist Matthias Bartke,
SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte Ihnen eingangs von Mia berichten, Mia F ., die
mithilfe einer anonymen Samenspende gezeugt wurde .
Mit 17 Jahren hat Mia in einem Familienstreit erfahren,
dass ihr Vater gar nicht ihr richtiger Vater ist . Als sie das
erfahren hat, war sie am Boden zerstört . Sie fand, ihre
Eltern hätten sie jahrelang belogen . Zermürbender ist für
sie allerdings die nun schon zehnjährige Suche nach ih-
rem biologischen Vater . Sie weiß zwar, dass sie in der
Berliner Charité gezeugt wurde; das ist aber auch alles .
Wenn Kinder erst spät oder vielleicht sogar nur zufällig
davon erfahren, dass sie Samenspenderkinder sind, ist
das für viele traumatisierend . Die Suche nach dem Vater
kann dann zur beherrschenden Lebensaufgabe werden .
Die Spenderkinder wollen wissen, welche Gene sie in
sich tragen, welche Charaktereigenschaften sie vielleicht
geerbt haben .
Das Bundesverfassungsgericht – das wurde gesagt –
hat 1988 das erste Mal das Recht jedes Menschen auf
Kenntnis seiner genetischen Abstammung bestätigt .
Spenderkinder rennen jedoch bei ihrer Suche nach dem
Erzeuger immer noch regelmäßig gegen Wände . Viele
Reproduktionsmediziner haben den Samenspendern Ano-
nymität versprochen und die Spenderdaten vernichtet .
Letzten Monat hat das Bundesverfassungsgericht festge-
stellt, dass das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstam-
mung nicht absolut ist . Stattdessen muss es mit wider-
streitenden Grundrechten in Ausgleich gebracht werden .
Das Bundesverfassungsgericht hat aber ausdrücklich den
Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers betont .
Er kann den Anspruch auf eine rechtsfolgenlose Abstam-
mungsklärung einführen .
Es war daher richtig und wichtig, dass wir im Koaliti-
onsvertrag vereinbart haben, die Rechte der Spenderkin-
der zu stärken . Sinnvoll sind ausdrückliche Regelungen
zum Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Herkunft –
Frau Sütterlin-Waack, ich würde ergänzen: auch des
Rechts auf Nichtkenntnis –, die Einrichtung eines zen-
tralen Samenspenderregisters und eine Regelung zur
Freistellung des Samenspenders von jeder rechtlichen
Inanspruchnahme .
Meine Damen und Herren, ich setze darauf, dass wir
den entsprechenden Gesetzentwurf noch in dieser Legis-
laturperiode hier beraten können .
Ich danke Ihnen .
Vielen Dank . – Das war der letzte Redner zu diesem
Tagesordnungspunkt .
Die Fraktionen haben interfraktionell vereinbart, dass
die Vorlage auf Drucksache 18/7655 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen wird . –
Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind . Dann ist die
Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an der „United Nations
Interim Force in Lebanon“ auf
Grundlage der Resolution 1701 und
nachfolgender Verlängerungsresolutionen des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, zu-
letzt Resolution 2236 vom 21. August
2015
Drucksache 18/8624
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat für die Bun-
desregierung der Staatsminister Michael Roth .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Anfang Mai dieses Jahres bin ich in den Libanon gereist .Ich konnte mir vor Ort selbst ein Bild von der aktuel-len Lage machen . Mein ganz persönlicher Eindruck wirdsicherlich von vielen Kolleginnen und Kollegen geteilt:Das Land steht vor gewaltigen Bewährungsproben . DieGräben zwischen den konfessionellen und politischenGruppen sind tief . Die Suche nach einem Präsidenten istseit nunmehr zwei Jahren erfolglos geblieben .Die Syrien-Krise hat die ohnehin schon schwierigeGemengelage noch weiter verkompliziert: Seit 2012 hatder Libanon weltweit pro Kopf die meisten Flüchtlin-ge aufgenommen, nämlich über 1 Million bei 4,5 Mil-lionen Einwohnern . Schulen und Krankenhäuser sinddramatisch überlastet, der Wohnraum ist knapp, Mietenund Lebenshaltungskosten sind enorm gestiegen . Zwargelangt mittlerweile viel internationale Hilfe ins Land –die Bundesregierung zählt im Übrigen zu den größtenGebern –; doch die sozialen Spannungen zwischen Liba-nesen und den syrischen Flüchtlingen können damit nurteilweise abgefedert werden .
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Der Syrien-Konflikt wirkt sich eben auch auf die Si-cherheitslage aus . Im syrisch-libanesischen Grenzgebietist die Terrororganisation „Islamischer Staat“ präsent undversucht immer wieder, auch in den Libanon vorzudrin-gen . Allen Schwierigkeiten zum Trotz hat die libanesischeArmee bislang verhindert, dass die Terrororganisation imLibanon Fuß fassen konnte . In der Bevölkerung – diesenEindruck werden diejenigen bestimmt teilen, die selbereinmal im Libanon waren – genießt die Armee enormhohes Ansehen und gilt als glaubhaft überkonfessionel-le Institution . Allein schon deshalb ist und bleibt unsereUnterstützung für die libanesischen Streitkräfte mit Aus-bildung und Ausrüstung so wichtig .Aber die Situation im Libanon bleibt eben auch sehrschwierig: sicherheitspolitisch, humanitär, sozial undwirtschaftlich . Da kann man die stabilisierende Rolle derVN-Mission UNIFIL gar nicht hoch genug einschätzen,und dabei geht es mir in erster Linie gar nicht einmalum deren militärische Bedeutung allein . Die Mission istein immens wichtiges politisches Symbol . Sie steht fürdie Unterstützung der internationalen Gemeinschaft . Wirsind einem stabilen, friedlichen Libanon verpflichtet, undunsere klare Botschaft lautet: Wir lassen das Land in die-ser so schwierigen Lage nicht alleine .Angesichts der Fliehkräfte, die dort derzeit wirken,ist es wichtiger denn je, UNIFIL als Stabilitätsanker zuerhalten; denn es ist für uns von herausragendem sicher-heits- und außenpolitischem Interesse, dass der Libanonstabil bleibt bzw . stabiler wird . Dies ist angesichts derdramatischen Lage im Nachbarland Syrien und der vie-len Flüchtlinge, die derzeit im Libanon leben, alles ande-re als selbstverständlich .Der zentrale Beweggrund für die Mission bleibt jabestehen: Der Waffenstillstand zwischen Libanon undIsrael darf nicht infrage gestellt werden. Derzeit findeneinzig und allein unter dem Dach von UNIFIL direkteGespräche zwischen Israel und Libanon statt . Diploma-tisch erkennen sich die Staaten nach wie vor nicht an;aber sie akzeptieren und schätzen UNIFIL als wertvollenMechanismus zur Streitschlichtung .In den vergangenen Jahren hat auch UNIFIL einigeMale eine militärische Eskalation verhindern können .Hierzu zählten beispielsweise der Tod eines israelischenSoldaten durch Schüsse eines libanesischen Soldaten imJahr 2015 oder zuletzt, im Januar 2016, ein Anschlagder Hisbollah gegen eine israelische Grenzpatrouille . Inbeiden Fällen konnte UNIFIL durch die Einleitung vonUntersuchungen und die anschließende Vermittlung zwi-schen den Konfliktparteien einen wichtigen Beitrag zurDeeskalation leisten .UNIFIL, meine sehr verehrten Damen und Herren,hat zwei Komponenten . Dies ist einmal die Komponentezu Land . Sie entlastet die libanesische Armee bei ihremKampf gegen den Terrorismus, insbesondere entlang dersyrisch-libanesischen Grenze . Sie sorgt damit indirektauch für Stabilität und Sicherheit an der libanesischen-is-raelischen Grenze .Die zweite Komponente, die auf See – hierbei enga-giert sich seit Beginn auch Deutschland –, trägt eben-falls zur Sicherheit bei . UNIFIL hilft von der Seeseiteher, die Grenzen des Libanon abzusichern, und meineGesprächspartner, die ich im Libanon getroffen habe,bestätigten mir noch einmal, dass diese gemeinsame See-überwachung sehr erfolgreich ist .Darüber hinaus umfasst das Mandat der maritimen Mis-sion eben auch eine Ausbildungskomponente .Aber – das wissen Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-gen – die Bundesregierung leistet eben nicht nur mili-tärische Unterstützung . Vielmehr ist sie in humanitäreHilfe eingebettet und wird durch Entwicklungszusam-menarbeit ergänzt . Wir engagieren uns für die Region .Wir haben die Entwicklungszusammenarbeit seit diesemJahr wieder bilateral ausgerichtet .Wir werden alleine in diesem Jahr 300 Millionen EuroHilfen zur Verfügung stellen: im Bereich der humanitä-ren Hilfe und im Bereich der Entwicklungszusammen-arbeit . Wir sind damit der größte bilaterale Geber . Mitder libanesischen Regierung sind wir im engen Kontaktdarüber, wofür wir das Geld sinnvoll verwenden können .Besonders wichtig ist mir der ganze Bereich der Bildungund Ausbildung . Wir möchten die libanesische Regie-rung dabei unterstützen, ab dem kommenden Schuljahrjedem Flüchtlingskind und jedem libanesischen Kindden Zugang zu Bildung zu ermöglichen . Darauf habenwir uns mit dem Libanon auf der Londoner Geberkon-ferenz für Syrien und seine Nachbarländer verständigt .Ich habe eine von UNICEF und von uns geförderteSchule in der Bekaa-Ebene besucht . Hier werden aufganz eindrucksvolle Weise im Zweischichtbetrieb liba-nesische und syrische Kinder teilweise gemeinsam imUnterricht beschult . Das ist wirklich gut angelegtes Geld,liebe Kolleginnen und Kollegen .
Wir können dieses Engagement nicht einfach so vonder militärischen Komponente abtrennen . Deshalb werbeich für unser Gesamtengagement . Ich kann Ihnen versi-chern: Dieses Engagement wird vor Ort enorm geschätzt,weil wir als ein verlässlicher Partner gelten, der seinenabstrakten Zusagen auf Geberkonferenzen konkrete Ta-ten folgen lässt . Entsprechend sollte das Bundestagsman-dat, liebe Kolleginnen und Kollegen, für die deutscheBeteiligung am UNIFIL-Flottenverband mit unverän-derter Personalobergrenze von 300 Soldatinnen und Sol-daten um weitere zwölf Monate bis zum 30 . Juni 2017verlängert werden .Damit handeln wir nicht nur gemäß unserem eigenenInteresse an Stabilität und Frieden in der Region . Wirentsprechen damit auch dem ausdrücklichen Wunsch Is-raels, des Libanons und der Vereinten Nationen . Deshalbbitte ich Sie im Namen der Bundesregierung um Ihre Un-terstützung .Vielen Dank .
Staatsminister Michael Roth
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Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Gehrcke,
Fraktion Die Linke .
Danke sehr, Frau Präsidentin . – Ich bitte Sie: ErinnernSie sich zurück an das Mandat 2006, durch Resolutiondes Sicherheitsrats der Vereinten Nationen begründet . In-sofern stellt sich nicht die Frage, ob das Mandat völker-rechtlich begründet ist – das ist es – und erlassen wordenist . Schauen Sie sich ein bisschen selbstkritischer an, wasseitdem passiert oder nicht passiert ist .Ich war 2006 in Beirut, nachdem der Libanon von Is-rael mit Raketen angegriffen worden ist und ein Teil desLibanons von der israelischen Armee abgeriegelt wordenist . In Beirut hat man sehr genau gemerkt, dass die Rake-ten gezielt auf die schiitischen Stadtviertel abgeschossenworden sind und nicht auf die christlichen Stadtviertel .Mir ist das im Grunde wurscht, weil ich überhaupt nichtmöchte, dass Raketen auf Menschen abgeschossen wer-den . Das ist das Entscheidende .Bei dem Mandat selbst lautete die Begründung – diefand ich akzeptabel –, dass wahrscheinlich der Krieg Isra-els gegen den Libanon und die Abriegelung des Libanonsnur über eine Aktion der Vereinten Nationen zu stoppensind . Das war die Ausgangslage . Bei dieser Ausgangsla-ge muss man sich natürlich fragen: Warum ist es eigent-lich so zwingend notwendig, dass sich Deutschland auchim Nahen Osten an solchen Aktionen mit militärischenFormationen beteiligt? Ich halte das für falsch, ich haltedas für grundfalsch .
Ich glaube, dass Deutschland im Nahen Osten sehrviele andere Aufgaben hat statt solcher militärisch be-gründeten Aktionen . Meine Sorge war auch: Wenn mandas einmal begonnen hat, wird man sich bei anderenKonflikten nur schwer raushalten können.
– Ja, ich möchte, dass wir uns raushalten . Ich möchte,dass zu einer Politik der militärischen Zurückhaltung zu-rückgekehrt wird . Das ist mir sehr wichtig .
Deswegen haben wir gesagt: Es gibt eine Begründungder Vereinten Nationen . Aber es gibt keine Begründungdafür, warum Deutschland an diesem Mandat militärischbeteiligt sein muss .
– Ja, die UN sind auch ohne Deutschland handlungsfä-hig . Warum wollen Sie auch über die Vereinten Nationenimmer deutsche Großmachtpolitik durchsetzen? Es gibtsehr viele andere Möglichkeiten .
– Ja, ich war häufiger im Libanon.Sie sehen, dass ein Schritt den anderen nach sich zieht .Mittlerweile sind wir über den Tornado-Einsatz auch inSyrien militärisch beteiligt . Wir haben übrigens dieseWoche beim Verfassungsgericht unsere Klage gegen denTornado-Einsatz eingereicht .
Ich bin mir sehr sicher, dass das Verfassungsgericht nichtdie Position der Bundesregierung bestärken wird .Wir möchten auch angesichts der deutschen Geschich-te, dass Deutschland sich zumindest im Nahen Ostenkomplett aus Militäraktionen raushält .
Wenn Sie es wollen, dann gibt es genügend andere Mög-lichkeiten, den Libanon zu unterstützen, die aber allenicht genutzt werden . Man könnte im Libanon sehr vielmehr machen, um Vermittlungsgespräche zu führen .
Ich weiß, dass Sie – gerade auch die SPD – in IhrerAußenpolitik verdeckt immer mit der Hisbollah redenund verhandeln. Das finde ich eigentlich ganz in Ord-nung, dass Sie das machen .
– Verdeckt; Sie machen es ja nicht offiziell.Ich finde es ganz in Ordnung, dass man alle Möglich-keiten nutzt, um von der Gewalt wegzukommen .
– Ja, verdeckt machen Sie das . Sie sagen ja nicht: „Wirreden mit der Hisbollah“, sondern „Wir reden mit derRegierung“ oder „Wir reden mit dem Parlament“ . Darinsitzen sie aber mit 40 Prozent der Mandate .
Das wissen Sie doch auch . Sie bekennen sich aber nichtzu dem, was man an Politik betreiben muss .Ich bitte Sie sehr, das Mandat nicht zu verlängern undmit Israel deutlicher darüber zu reden, dass Israel aus die-ser Zwangssituation rauskommen muss . Das ist doch dasEntscheidende: dass man stärker auf die Politik setzt alsauf das Militär . Und zumindest im Nahen Osten solltesich Deutschland komplett raushalten . Sie kommen sonstin eine Situation, die auch Sie nicht mehr bewältigen .
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Danke .
Vielen Dank . – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt der Kollege Jürgen Hardt .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundesregierung hat uns einen Antrag auf Verlänge-
rung des UNIFIL-Mandats vorgelegt, einen wohlbegrün-
deten und wohldurchdachten Antrag zu einem Einsatz,
der seit vielen Jahren den Frieden in der Region stabi-
lisiert .
Lieber Herr Gehrcke, der Linkenfraktion ist kein Ar-
gument zu dürftig, um fadenscheinige Gründe dafür zu
finden, sehr vernünftige Dinge wie zum Beispiel dieses
UNIFIL-Mandat abzulehnen . Was die deutsche Betei-
ligung angeht, ist allein die Tatsache, dass Israel diese
deutsche Beteiligung zum Schutz dieses Landes außer-
ordentlich schätzt, für mich Argument genug dafür, dass
wir mit einer deutschen Einheit an diesem Verband be-
teiligt sind .
Gegenwärtig sind 135 Soldaten im Einsatz . Die Kor-
vette „Erfurt“ ist seit über fünf Monaten dort unterwegs .
Sie darf am 11 . Juni an die Hohe Düne zurückverlegen
und wird dann durch die Korvette „Braunschweig“ ab-
gelöst . Wir sind mit unseren modernsten Einheiten an
diesem Einsatz beteiligt und leisten dort einen, wie ich
finde, sehr wichtigen und verantwortungsvollen Beitrag.
Denn die Situation im Libanon ist durch den seit Jahren
andauernden Bürgerkrieg in Syrien nicht besser gewor-
den .
Es gibt erstens eine hohe Zahl von Flüchtlingen in
diesem Land . 30 Prozent der libanesischen Bevölkerung
haben einen Flüchtlingshintergrund . Zweitens hat im
Grenzgebiet zu Syrien die Gefahr, dass auf illegale Wei-
se Waffen den Besitzer wechseln, enorm zugenommen .
Es gibt auch von außen weiterhin Einfluss auf Kräfte, die
terroristische Aktivitäten aus dem Libanon heraus zum
Beispiel gegen Israel vorbereiten könnten . Von daher ist
dieser Einsatz, wie ich finde, nicht nur notwendig, son-
dern er ist geradezu wichtiger denn je .
Ich möchte den Scheinwerfer auch auf einen ganz
wesentlichen Aspekt lenken, der eben keine militärische
Komponente ist, nämlich die vermittelnde Funktion die-
ses UNIFIL-Einsatzes . Es gibt Dreiparteiengespräche,
bei denen zwischen Libanon und Israel im Vorfeld Dinge
geklärt und bereinigt werden – vielleicht Kleinigkeiten,
die sich aber zu großen Problemen auswachsen kön-
nen –, ohne dass eine der beiden Seiten das an die große
Glocke hängen muss . Das ist auch ein Mediationsbeitrag
zum Frieden in der Region, der meines Erachtens nicht
hoch genug eingeschätzt werden kann .
Deutschland nimmt wie bei allen Auslandseinsätzen
den Auftrag, der damit ergangen ist, in besonderer Weise
ernst . Wir machen eine solide und gute Ausbildung bei
libanesischen Marinesoldaten, die zunehmend die Auf-
gaben des Schutzes der Küste selber übernehmen müs-
sen. Zwei libanesische Offiziersanwärter machen ihre
Ausbildung an der Marineschule Mürwik, der schönsten
Kaserne Europas, und werden dort nach deutschem Maß-
stab zu Offizieren ausgebildet.
Ich kann Ihnen aus der Erfahrung sagen, dass diese
Ausbildung an deutschen Offiziersschulen nicht nur be-
deutet, dass dort deutsche Fertigkeiten vermittelt werden,
sondern auch, dass ein Stück weit eine deutsche Werte-
haltung vermittelt wird, wie man Soldaten führt, wie man
mit Soldaten umgeht, wie man in modernen Streitkräften
Menschenführung gestaltet . Von daher, glaube ich, ist
das nicht zu unterschätzen . Die Bundeswehr mit ihrem
modernen Ansatz, Streitkräfte zu führen, ist ein Vorbild .
Der Einsatz ist wichtig, er ist natürlich auch nicht ganz
billig . Wenn ich es richtig gesehen habe, sind 32,2 Millio-
nen Euro für die Verlängerung des Mandats bis Juni 2017
in den Etat eingestellt worden .
Wir als CDU/CSU-Fraktion werden dieses Mandat in
den Ausschüssen sorgfältig beraten . Ich habe das sichere
Gefühl, dass wir dem Antrag der Bundesregierung, lieber
Herr Staatsminister, uneingeschränkt zustimmen können
und dass wir angesichts der gegenwärtigen Situation die-
sem Antrag unsere Zustimmung nicht verweigern wer-
den .
Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Nächste Rednerin ist die KolleginAgnieszka Brugger für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Es grenzt doch an ein Wunder, dass in derkrisengeplagten und von Gewalt erschütterten Regiondes Nahen und Mittleren Ostens ein kleines Land trotzgewaltiger eigener Probleme, Rückschläge und Heraus-forderungen nicht auch noch in Instabilität und Chaosabgleitet: der Libanon .Die Menschen dort leiden unter der korrupten und in-effizienten Verwaltung, ob es sich um Wasser, Elektrizi-tät oder die Entsorgung von Müll handelt . Die politischeSituation ist nach wie vor mehr als schwierig . Seit 2014konnten sich die zerstrittenen Kräfte im Parlament immernoch nicht auf einen Präsidenten einigen . Es gibt Waffenin gefährlichem Überfluss und in den falschen Händensowie zahlreiche politische, aber auch bewaffnete undterroristische Gruppierungen, die bewusst ethnische undkonfessionelle Spannungen schüren und versuchen, denLibanon auch in den Strudel der Gewalt des Syrien-Kon-flikts hineinzuziehen.Wolfgang Gehrcke
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die größte, immen-se Herausforderung für die Menschen im Land, das beiWeitem politisch nicht so stabil und wirtschaftlich sowohlhabend ist wie viele europäische Länder, ist aberdie hohe Zahl der Flüchtlinge . Wenn Politiker ohne Herzund Hirn in Deutschland über Belastungsgrenzen klagen,dann sollten sie sich vielleicht einmal klarmachen, dassim Libanon seit Jahren jeder vierte Mensch ein Flücht-ling ist .Ich kann es bis heute nicht fassen, dass trotz allerGipfelbilder und schönen Absichtsbekundungen sich diereichen Staaten dieser Welt weigern, die Menschen imLibanon bei dieser schwierigen Aufgabe zu unterstützen .Die Programme sind nur zu einem Bruchteil ausfinan-ziert – ungefähr ein Viertel –, und, Herr Staatsminister,dann ist es doch mehr als beschönigend, wenn Sie hierdavon sprechen, dass man den Libanon nicht alleinlassendarf .
Es ist aber nicht nur herzlos und zynisch, sondern es istauch sicherheitspolitisch kurzsichtig und brandgefähr-lich .Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allen schlechten,schrecklichen und deprimierenden Nachrichten aus derRegion muss man aber auch eines feststellen: Die Frie-densmission der Vereinten Nationen UNIFIL ist eine jah-relange Erfolgsgeschichte . Sie hat nicht nur 2006 dazubeigetragen, den Krieg zwischen Libanon und Israel zubeenden, sondern sie ist auch heute noch – zehn Jahrespäter – ein unverzichtbarer Beitrag zu Gewaltpräventi-on, zu Friedenserhaltung, zu Konfliktlösungen und zumDialog .
Wir müssen nur den Beginn dieses Jahres anschauen,als es einen Anschlag der Hisbollah gab, der dann auchmit einem israelischen Militärschlag beantwortet wurde .Es braucht doch wirklich nicht viel Fantasie, sich vorzu-stellen, wie aus einem solchen Vorfall eine neue Eskala-tionsdynamik entstehen kann, eine weitere Krise in derRegion oder ein Aufflammen alter Konflikte. Das wäredoch verheerend . UNIFIL ist im Libanon genau die Mis-sion, die das verhindert .Es ist das einzige Forum, das direkte Gespräche zwi-schen den beiden Parteien Israel und Libanon ermöglicht .Und, Herr Gehrcke, weil Sie die Frage gestellt haben,warum sich Deutschland daran noch beteiligen muss,sage ich Ihnen: Wir wurden nicht nur damals von beidenStaaten darum gebeten, sondern wir werden auch heutewiederholt darum gebeten . Sie bitten um den deutschenBeitrag, und sie honorieren ihn ausdrücklich . Die Mis-sion übernimmt aber auch Aufgaben in den BereichenGrenzsicherung und Unterbindung des Waffenschmug-gels über den Seeweg oder im Rahmen der Ausbildungder libanesischen Sicherheitskräfte .Auch wenn es manchmal schwerfällt, positive Ent-wicklungen auszumachen, und auch wenn klar ist, dassein Waffenstillstand und eine Friedensmission nicht au-tomatisch sicheren und gefestigten Frieden bedeuten,darf man die Erfolge von UNIFIL nicht kleinreden . Viel-mehr müssen sie bewahrt und fortgeschrieben werden .Es wäre falsch und fatal, die Mission zu beenden . Es istaber auch gefährlich, angesichts der höchst fragilen Lagezu glauben, dass sie allein Stabilität und Sicherheit ge-währleistet . Ja, die Aufnahmebereitschaft der Menschenim Libanon ist sehr beeindruckend . Aber ohne weitereinternationale Hilfe – diese darf nicht so halbherzig seinwie in den vergangenen Jahren – wird das, was in derVergangenheit erreicht wurde, fahrlässig aufs Spiel ge-setzt . Daher möchte ich mit dem Appell an die Bundes-regierung und an die anderen reichen Staaten dieser Weltenden, ihre humanitäre Verantwortung für die Menschenim Libanon und die Flüchtlinge dort endlich ernst zunehmen und ihr gerecht zu werden .
Vielen Dank . – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt der Kollege Florian Hahn .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das UNIFIL-Mandat gehört nicht zu den großen, me-dienwirksamen Einsätzen wie Atalanta, KFOR oderder Einsatz gegen Daesh . Dennoch ist diese Missionvon großer Bedeutung für die Stabilität in der Region .131 deutsche Soldatinnen und Soldaten sind genausowenig ein Symbol deutscher Großmachtfantasie, wie dieKorvette „Erfurt“ ein Symbol thüringischer Großmacht-fantasien ist . Vielmehr ist UNIFIL die Geschichte vonengen, freundschaftlichen Beziehungen . UNIFIL setztein Zeichen in Düsternis und Zerstörung, in Krieg undElend, die den Nahen Osten heute wieder prägen . DieMission kann uns ein klein wenig Hoffnung geben, weilsie zeigt, wie durch geduldige, praktische Zusammenar-beit über Jahre Kompetenzen und Sicherheit aufgebautwerden können und wie damit zugleich Vertrauen undFreundschaft wachsen .Die Operation UNIFIL ist eine erfolgreiche Friedens-mission . Sie dient der Begleitung der Waffenruhe zwi-schen dem Libanon und Israel, unterstützt die libanesi-sche Regierung bei der Grenzsicherung und hilft beimKampf gegen den Waffenschmuggel . Die Weltgemein-schaft kann diese Aufgabe aber nicht dauerhaft überneh-men . Unser deutscher Beitrag fokussiert sich daher zuRecht auf die Ausbildung . Wir wollen mithelfen, die Fä-higkeiten der libanesischen Marine so auszubauen, dasssie zukünftig in der Lage sein wird, Küste und Territorial-gewässer selbstständig zu überwachen . Die libanesischeMarine wird zunehmend in die Aufgaben des internatio-nalen Flottenverbandes integriert und lernt so praktisch,die Herausforderungen später selbst zu meistern .UNIFIL war durchaus erfolgreich, gerade was denWaffenschmuggel angeht . Aber Aufbau und Training derlibanesischen Marine verlangen einen längeren Atem .Wir wollen kein Strohfeuer, sondern nachhaltige Erfolge .Mit dem künftigen Eigenschutz der libanesischen Küstewerden die ausgebildeten Soldaten einen Beitrag zur Sta-Agnieszka Brugger
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bilität in der Region und damit auch zu unserer Sicher-heit leisten . Die UNIFIL-Präsenz ist weiterhin einer derSicherheits- und Stabilitätsfaktoren, der deeskalierendwirkt . Auch die Streitkräfte sind ein beruhigendes, dieNation insgesamt verkörperndes Element . Sie werden inder Bevölkerung als professionell, integer und überkon-fessionell wahrgenommen . Wenn wir ihnen weiter hel-fend zur Seite stehen, können sie eine positive Rolle ineinem künftigen Libanon spielen, einem Libanon, der fürsich selbst entscheidet, der nicht Spielball rivalisierenderMächte in der Region ist .Wie helfen wir darüber hinaus? Die Beteiligung amFlottenverband ist – genauso wie bei praktisch allen an-deren unseren Mandaten – nur Teil eines umfassendenEngagements für den Libanon und die gesamte Region .Deutschland hilft dem Libanon bei der Verbesserung derFlüchtlingssituation, bei der kommunalen Infrastruktur,beim Hariri-Tribunal und bei der Grenzsicherung .Unser deutscher Beitrag im Rahmen von UNIFILzeichnet sich durch sein einleuchtendes Konzept aus, dasunmittelbaren Nutzen bringt . Die konsequente, verläss-liche Verfolgung wertvoller Ziele ist in unserer kurzle-bigen Zeit nichts Selbstverständliches . Wir stehen zumLibanon und zu seinen Streitkräften . Das wissen unserelibanesischen Freunde zu schätzen . Lassen Sie mich ab-schließend aber auf eines hinweisen: Die deutsche Mari-ne ist zurzeit in einer ganzen Reihe von Einsätzen gefor-dert . Sie operiert an der Belastungsgrenze . Es ist daherrichtig, dass wir in der Koalition bei Haushalt, Personalund auch Investitionen in der Bundeswehr umgesteuerthaben . Im Einzelnen müssen wir sehen, ob das perspekti-visch wirklich ausreicht . Für Deutschland als Handelsna-tion ist klar: Eine schlagkräftige und weltweit einsetzbareMarine bleibt von essenzieller Bedeutung .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Der Kollege Hahn war der letzte Red-
ner in dieser Debatte . Damit schließe ich die Aussprache .
Die Fraktionen haben interfraktionell vereinbart, dass
die Vorlage auf Drucksache 18/8624 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen wird . – Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden . Dann ist die Über-
weisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Binder, Caren Lay, Herbert Behrens, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Bundesprogramm Kita- und Schulverpfle-
gung – Für alle Kinder und Jugendlichen eine
hochwertige und unentgeltliche Essensversor-
gung sicherstellen
Drucksache 18/8611
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Debatte 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre keinen
Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich bitte Sie, Ihre Plätze einzunehmen . – Ich eröffne
die Aussprache . Das Wort hat die Kollegin Karin Binder,
Fraktion Die Linke .
Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Meine Damen und Herren auf den Besu-chertribünen! Kita- und Schulverpflegung ist in Deutsch-land mangelhaft . Das wissen wir schon lange, aber spä-testens seit einer Studie von Professor Arens-Azevedovon der Hochschule für Angewandte WissenschaftenHamburg müssten es auch die Kolleginnen und Kollegenim Hohen Hause wissen . Die Qualität erfüllt ernährungs-gesundheitliche Anforderungen nicht . Die Mahlzeitensind zu fett, zu süß, enthalten zu wenig frisches Obst undfrisches Gemüse, es fehlt an Vitaminen und Ballaststof-fen, und es fehlt am Geschmack . Es fehlt an Geld, es fehltan Fachleuten und geeigneten Räumen . All das wissenwir; aber bisher wird nichts dagegen getan . Nur die Hälf-te der Schülerinnen und Schüler in Ganztageseinrichtun-gen geht überhaupt zum Essen . Auch das war eine Er-kenntnis dieser Studie . Ich frage mich: Warum wohl?Kinder aus armen Familien werden, wie wir unter an-derem aus der Bild-Zeitung und anderen Medien wissen,vom Essen ausgeschlossen, wenn die Eltern nicht bezah-len . Wo soll das bitte schön hinführen? Es muss uns dochklar sein, dass solche Zustände Folgen für die gesund-heitliche Entwicklung und den Lernerfolg dieser Kinderhaben, ganz abgesehen davon, dass das eine Diskrimi-nierung ist – und das in unserem Schulsystem . Ich denke,dagegen müssen wir etwas tun .
Wer das Problem bisher nicht verstanden hat, der hatwirklich ein Problem . Der hat nichts dazugelernt, und dasheißt: Die Versetzung ist gefährdet .Die Linksfraktion hat deshalb bereits Anfang des Jah-res eine Fachtagung mit dem Titel „Bausteine für gutesKita- und Schulessen“ durchgeführt . Es ging uns darum,uns noch einmal mit allen Akteuren, mit Schülerinnenund Schülern, mit Lehrerinnen und Lehrern, mit Men-schen aus den Kommunen, mit Menschen aus den Ein-richtungen, aus den Küchen, mit den Trägern und denSchulleitungen, darüber zu verständigen, was wirklichnotwendig ist, um daraus abzuleiten, wie viel uns daskosten wird .Allen, die dabei waren, ist ganz klar geworden, wasgute Kita- und Schulverpflegung auszeichnet. Erstens.Es muss schmecken . Dazu gehört, dass wir die Kinderund die Jugendlichen beteiligen; denn nur, wenn wirFlorian Hahn
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sie fragen, was sie mögen, besteht die Option, dass dieKinder und Jugendlichen das auch essen . Zweitens . Esmuss frisch gekocht werden; denn nichts ist schlimmerals Essen, das seit Stunden warm gehalten in der Gegendherumsteht . Das würden wir Erwachsene nicht zu unsnehmen wollen, und die Kinder wissen auch, was gutund schlecht ist . Also wird es nicht gegessen . Das mussgeändert werden . Es muss frisch gekocht werden .
Ein ganz wichtiger Punkt ist: Wir brauchen bundes-weit einheitliche Standards . Wenn wir hier im Bund nichtfestlegen, dass eine bestimmte Qualität gewährleistet ist,werden wir immer die Situation haben, dass es Catererbzw . Anbieter gibt, die ein Essen anbieten, das nichteinmal die 1,50 Euro wert ist, die es kostet . Sprich: Wirbrauchen Qualitätsstandards, die verbindlich geregeltwerden müssen . Und ich sage Ihnen eines, liebe Kolle-ginnen und Kollegen: Wer bestellt, der zahlt . Wenn alsoder Bund will, dass die Träger Standards einhalten, dannmuss er auch klären, wie das finanziert wird. Ich behaup-te eines: Diese Gesellschaft hat sehr viel davon, wenn dieKinder anständig versorgt werden . Ich möchte nur daranerinnern, wie viel Geld die Krankenkassen in die Handnehmen müssen, um ernährungsbedingte Krankheiten zubehandeln . Das sind jedes Jahr zig Milliarden Euro . Ichwünsche mir, dass wir diese volkswirtschaftliche Rech-nung aufmachen, um dann auch über die Finanzierungeiner vernünftigen Verpflegung für alle Kinder und Ju-gendlichen zu beraten .Danke schön .
Vielen Dank . – Als Nächste hat Katharina Landgraf,
CDU/CSU, das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Wunsch der Linken nach einer hochwertigen und gleich-
zeitig kostenlosen Essensversorgung an Kitas und Schu-
len ist nicht mehr als ein frommer Traum .
Klar, Wunschzettel schreiben die Linken bekanntlich
nicht nur vor dem Weihnachtsfest . Das tun sie eigentlich
immer . Wer es bezahlt, ist doch egal . Wer in unserer staat-
lichen Ordnung eigentlich zuständig ist, ist auch egal .
Hauptsache, der Wunschzettel ist lang und umfassend
und ignoriert das bereits Erreichte .
Ich sage nur: Föderalismus! Haben Sie davon schon ein-
mal gehört?
Ich kann jedoch nicht abstreiten, dass das Grundanlie-
gen Ihres Antrages für eine bessere Essensversorgung in
Kitas und Schulen in Ordnung ist . Da stimme ich Ihnen
vom Ansatz her zu . Über den Weg zum Ziel aber müssen
wir streiten . Hochwertig und kostenlos schließen sich
meines Erachtens aus . Gutes Essen hat seinen Wert . Und
was gut ist, kostet auch etwas . Der Umkehrschluss „Was
nichts kostet, ist nichts wert“ ist schnell gezogen und lei-
der häufig Realität. Da wird schon einmal zu viel auf die
Teller gepackt, und die Reste werden einfach weggewor-
fen . Dieses Phänomen kennt wohl jeder von uns bei der
Selbstbedienung an reichlich gedeckten Büfetts .
Ich sage nicht, dass Kinder genauso mit dem Essen um-
gehen; aber ich bin der Meinung, dass hochwertige Kita-
und Schulverpflegung schon etwas kosten darf, wenn
nicht sogar etwas kosten muss . Es wundert mich ohne-
hin, dass Sie mit Ihrem Antrag das kostenlose Schulessen
für alle fordern, also auch für die Familien, die es sich
ohne Weiteres leisten könnten, das Essen für ihre Kinder
zu bezahlen . Ich persönlich würde da schon eine Gren-
ze ziehen und das unentgeltliche Essen nur den wirklich
bedürftigen Kindern zukommen lassen . Aber das ist nur
eine ganz persönliche Bemerkung am Rande .
Eine viel wichtigere Frage lautet: Was ist überhaupt
hochwertig? Bedeutet es, nur Fleisch und Fisch aus art-
gerechter Tierhaltung zu verwenden oder nur saisonale
oder regionale Produkte zu verarbeiten? Oder bedeutet
„hochwertig“, nur Lebensmittel aus biologischem Anbau
zu beziehen? Und ist dies automatisch gesünder?
Darf ich Sie hier einmal unterbrechen, Frau Kolle-
gin? – Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Leidig?
Ja, bitte .
Bitte schön .
Sie haben sich gerade darüber ausgelassen, dass es Ih-rer Meinung nach ausgenutzt wird, wenn Dinge kostenloszur Verfügung gestellt werden, und dass Menschen, diewirklich bedürftig sind, nicht ausreichend berücksichtigtwerden, wenn alle etwas kostenlos nutzen können . Nunmöchte ich Sie einmal fragen: Wie schätzen Sie eigent-lich den kostenlosen Fahrdienst des Deutschen Bundes-tages ein, der allen Abgeordneten zur Verfügung steht,obwohl niemand von uns auf diese kostenlose Dienstleis-tung angewiesen ist und obwohl kaum eine andere gro-ße Stadt ein so toll ausgebautes Nahverkehrssystem wieBerlin hat, das wir selbstverständlich nutzen können?Fahren Sie denn mit diesem Fahrdienst kreuz und querdurch Berlin, nur weil er kostenlos ist?Karin Binder
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Ich fahre sehr selten damit, nämlich nur, wenn ich mit
meinem Fahrrad oder der U-Bahn irgendwo nicht hin-
komme .
Außerdem finde ich den Vergleich völlig unpassend.
Sie können es ja beobachten: Wenn Sie aus einem Auto
der Fahrbereitschaft aussteigen, komme ich vielleicht ge-
rade mit dem Fahrrad vorbei . Daran sehen Sie, wie unter-
schiedlich man mit diesem Angebot umgehen kann .
Es geht hier darum, ob etwas automatisch gesünder
ist, wenn es bio ist . Das wird pauschal von einem Groß-
teil der Bevölkerung so angenommen . Es entspricht aller-
dings nicht der Wahrheit, finde ich. Gerade gestern hatte
ich einen Wissenschaftler von der Leibniz-Gemeinschaft
zu Gast . Er bestätigte mir, dass Biolebensmittel nicht per
se gesünder sind als herkömmlich erzeugte .
– Das habe ich nicht gesagt. – „Bio“ definiert sich näm-
lich durch eine ökologische und nachhaltige Art des An-
baus; nachhaltig ist ja auch mein Fahrradfahren . Die Le-
bensmittel enthalten deswegen aber nicht mehr Vitamine
und Nährstoffe . Die große Bedeutung einer gesunden
Ernährung für Kinder ist jedoch erwiesen .
Als besonders positiv möchte ich das Schulmilch- und
Schulobstprogramm der EU hervorheben . Das Parlament
konnte im Frühjahr dieses Jahres eine Zusammenlegung
beider Programme und eine Erhöhung der Finanzmittel
um 20 Millionen Euro durchsetzen . Mit dieser Vereinfa-
chung und dem gleichzeitigen Wegfall des Eigenanteils
der Länder bietet sich die Chance, dass Kinder in allen
Bundesländern von beiden Programmen profitieren. Die
Mitgliedstaaten, die am Schulprogramm teilnehmen,
verpflichten sich auch zu pädagogischen Maßnahmen.
Dabei sollen die Kinder aufgeklärt werden über lokale
Lebensmittelketten, ökologischen Landbau, nachhaltige
Erzeugung oder die Bekämpfung von Lebensmittelver-
schwendung . Sie sollen auch der Landwirtschaft wie-
der nähergebracht werden; ich erinnere nur an den Tag
des offenen Hofes . Dabei ist das Wissen über gesunde
Ernährung der zentrale Bestandteil . Dieser wird im We-
sentlichen im Kindesalter erlernt und gebildet . Die hier
erworbenen Ernährungsmuster und Geschmacksmuster
behalten Kinder und Jugendliche häufig ein Leben lang.
Die Evaluationen des Schulmilch- und Schulobstpro-
gramms haben eine deutliche Zunahme der Beliebtheit
und Akzeptanz von Milch, Obst und Gemüse ergeben .
Zudem stieg das Bewusstsein der Kinder um die Wich-
tigkeit von Milch, Obst und Gemüse als Bestandteil einer
gesunden Ernährung . Ich appelliere also an alle Bundes-
länder, die sich noch nicht an diesen Programmen betei-
ligen, dies zum Wohle der Kinder schnell nachzuholen .
An Sie von der Linksfraktion appelliere ich, das Er-
reichte in den Kommunen und auf Bundesebene nicht
infrage zu stellen; meine Zeit reicht nicht aus, weitere
Details zu nennen . Sie können in den Portalen der Bun-
desregierung, insbesondere des Bundesministeriums
für Ernährung und Landwirtschaft, nachlesen, was zum
Thema „gesunde Ernährung für Kinder und Jugendliche“
schon alles gemacht wird und was geplant ist . Ich wün-
sche Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Links-
fraktion, viel Freude beim Studium dieser Materialien .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt
der Kollege Özcan Mutlu das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Landgraf, eines ist aber sicher – das wer-
den auch Sie nicht bestreiten –: Bio enthält keine Schad-
stoffe, und damit ist es doch definitiv gesünder.
Das sollten Sie endlich einmal akzeptieren .
Ich freue mich sehr, dass wir im Bundestag erneut
über das wichtige Thema der Versorgung unserer Kinder
in Kitas und Schulen mit gesundem Mittagessen reden
können . Eine gesunde Lebensweise und eine gesunde
Lebenskultur werden nämlich schon im Kindesalter er-
lernt . Wo, wenn nicht in der Kita oder in der Schule, soll-
te das geschehen?
Daher sehen wir Grüne den Ausbau einer gesunden Ge-
meinschaftsverpflegung als einen wichtigen Baustein,
auch um soziale Ungleichheiten aufzufangen . Kinder und
Jugendliche, die viel Zeit in Kita und Schule verbringen,
brauchen gerade dort hochwertiges und gesundes Essen .
Die Forderungen im Antrag der Linken gehen daher in
die richtige Richtung und decken sich zum größten Teil
mit unseren Forderungen, allerdings mit einem gewissen
Unterschied: Wir Grüne meinen, dass sich Eltern, die
dazu in der Lage sind, einkommensabhängig an der Fi-
nanzierung der Schulverpflegung beteiligen sollen. Wir
haben in vielen Bundesländern bereits sogenannte sozial
gestaffelte Systeme, die gut laufen . Es ist eine Binsen-
wahrheit und längst durch Studien erwiesen, dass viele
Eltern bereit sind, mehr zu bezahlen, wenn sichergestellt
wird, dass ihre Kinder gutes und gesundes Mittagessen in
den Schulen oder Kitas bekommen .
Herr Mutlu, die Kollegin Hein möchte Ihnen eineZwischenfrage stellen .
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Nein, ich habe nur vier Minuten Redezeit .
Das ist egal; ich stoppe die Zeit . Aber Sie können auch
gerne weiterreden .
Danke sehr, Frau Präsidentin . Ich möchte gerne im
Redefluss bleiben und deshalb keine Fragen zulassen.
Was allerdings nicht läuft – das ist eine Tatsache –,
ist die Ernährungspolitik dieser Bundesregierung und
des Ministers Schmidt . Immer wieder nur Berichte und
Gutachten über den Sachstand der Kita- und Schulver-
pflegung in Auftrag zu geben und dann teilweise über die
schlechte Qualität des Essens zu lamentieren, welche uns
seit Jahren bekannt ist, reicht uns eben nicht . Es reicht
uns auch nicht, dass teure Plakatkampagnen in Auftrag
gegeben werden, die keiner versteht . Die 2,3 Millionen
Euro Bundesmittel, die Minister Schmidt für seine letzte
Kampagne investiert hat, wären vor Ort viel notwendi-
ger und viel besser investiert . Alle hier im Hause wissen:
Der Ausbau der Ganztagsschulen, der auch einhergeht
mit einer Versorgung der Kinder mit gesundem Essen,
kommt vielerorts nicht voran . Im Gegenteil: Es wird
noch Jahrzehnte dauern, bis in der Republik ausreichend
Ganztagsschulplätze mit Mensen vorhanden sind . Noch
etwas ist eine Binsenwahrheit: Ohne finanzielle Betei-
ligung des Bundes können die Länder den Ausbau der
Ganztagsschulen nicht stemmen . Deshalb – das werden
wir in diesem Hause immer wiederholen – muss das Ko-
operationsverbot endlich auch für den Schulbereich ab-
geschafft werden .
Es muss abgeschafft werden, damit Kooperationen zwi-
schen Bund und Ländern im Interesse der Kinder und Ju-
gendlichen möglich sind .
Der Minister lobt landauf, landab die gute Idee ei-
nes Kompetenzzentrums zur Schulverpflegung; aber ein
Konzept dazu hat er bisher nicht geliefert . Stattdessen
berichtete er gestern im Ausschuss für Ernährung und
Landwirtschaft, dass beim Thema „eigenes Schulfach
Ernährung“ große Dinge von ihm zu erwarten seien
und dass er demnächst bei der KMK dazu vorsprechen
werde . Was glauben Sie wohl, was passiert? Werden die
Kultusministerinnen und Kultusminister ihren Beschluss
von 2013 verwerfen und sich einem Minister mit sponta-
nen und fixen Ideen anschließen? Wohl nicht! Wir sagen
wie die Ernährungsexpertinnen und -experten im ganzen
Land, dass die Forderung nach einem eigenen Schulfach
Ernährung als kontraproduktiv und eventuell sogar als
schädlich angesehen werden kann .
Die Bundesregierung muss die ernährungspolitische
Dynamik der rot-grünen Koalition wiederbeleben und
Unterstützungs- und Infrastrukturmaßnahmen für den
Ausbau einer gesunden Kita- und Schulverpflegung för-
dern .
Das haben wir mit dem Ganztagsschulprogramm vorge-
macht, und das können wir wiederholen . Dabei helfen
wir Ihnen gerne .
Aber Sie bitte nicht mehr, Herr Kollege Mutlu; denn
Sie haben Ihre Redezeit um fast eine Minute überzogen .
Ein letzter Satz noch .
Aber ein allerletzter .
Danke, Frau Präsidentin . – Gemeinsam mit den Län-
dern müssen unserer Meinung nach auch die Vernet-
zungsstellen Schulverpflegung gestärkt werden. Diese
müssen zu Kompetenzzentren der Gemeinschaftsverpfle-
gung ausgebaut werden,
damit der Markt nicht irgendwelchen Großanbietern
überlassen wird .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Die Kollegin Hein hat um eine Inter-
vention gebeten . Ich erinnere aber daran, dass es sich um
eine Kurzintervention handelt .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Herr Mutlu, schade,dass Sie meine Frage nicht zugelassen haben . Ich wollteSie nämlich an unsere gemeinsame Ausschussreise nachSchweden und Finnland erinnern . In Finnland konntenwir an einem kostenlosen Schulessen teilnehmen, dasdort allen Kindern zur Verfügung steht . Ich wollte Siefragen, ob Sie mir bestätigen würden, dass wir dort kei-neswegs die Erfahrung gemacht haben, dass Schulkin-der dieses kostenlose Schulessen nicht wertschätzen,sondern dass sie sich dieses vollwertige Schulessen ineigener Verantwortung selbst von einem großen Tresennehmen und damit sehr vernünftig umgehen . Da Sie mei-ne Frage nicht zugelassen haben, muss ich das jetzt übereine Kurzintervention machen . Ich würde auch gerne derKollegin von der CDU/CSU-Fraktion sagen, dass ihreAnnahme falsch ist .Im Übrigen ist es sehr schwierig, in Deutschlandüberhaupt ein kostenloses und gesundes Mittagessen inden Schulen anzubieten – nicht nur in Ganztagsschulen,
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sondern in allen Schulen . Es gibt nur ein einziges Bun-desland, in dem für alle Schulen vorgeschrieben ist, dassein angemessenes, vollwertiges Mittagessen bereitzuhal-ten ist, und zwar zu sozialverträglichen Preisen . DieseRegelung ist seit Mitte der 90er-Jahre im Schulgesetzvon Sachsen-Anhalt enthalten . Das reicht nicht aus, zeigtaber immerhin, dass es geht .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Der Kollege Mutlu verzichtet auf eine
Antwort .
Dann hat jetzt die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß für
die SPD das Wort .
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf der Tribüne! Eine
gesunde Ernährung ist die Grundlage für ein gesundes
Leben und die Basis für einen guten Start ins Leben .
Es gibt aber immer mehr Kinder, die am verborgenen
Hunger leiden, dem sogenannten Hidden Hunger . Das
heißt, sie werden jeden Tag satt, aber ihnen fehlen in der
Nahrung wichtige Nährstoffe, die für eine gesunde Ent-
wicklung nötig sind . Die Folgen sind dramatisch: Eine
ungesunde Ernährung erhöht nicht nur das Risiko, an
Diabetes oder Adipositas zu erkranken . Eine ungesunde
Ernährung beeinträchtigt auch die Bildungsleistung und
hat somit Auswirkungen auf den gesamten späteren Le-
bensweg . Für die SPD ist es deshalb ein Gebot sozialer
Gerechtigkeit, für alle Kinder und Jugendlichen eine aus-
gewogene und hochwertige Ernährung sicherzustellen .
Es steht außer Frage, dass der Schulverpflegung bei der
Erfüllung dieser Aufgabe eine wichtige Funktion zu-
kommt .
Es ist längst überfällig, dass wir eine offene Debatte
über eine vernünftige – ich sage: vernünftige – Finanzie-
rung der Schulverpflegung führen. Daher begrüße ich es
sehr, dass wir mit dem heute vorliegenden Antrag dazu
einmal Gelegenheit haben . Allerdings möchte ich gleich
vorwegnehmen, dass uns eine lange Liste mit Wünschen
allein – wir haben gerade schon einige gehört – in der
Sache nicht weiterbringen wird . Tatsächlich kann uns die
heutige Qualität der Schulverpflegung nicht zufrieden-
stellen . Hier haben wir schon einen großen Aufholbedarf .
Die Mahlzeiten an vielen Kitas und Schulen sind weder
ausgewogen noch bei den Schülerinnen und Schülern be-
liebt . Ich spare mir, an dieser Stelle die Mängel aufzuzäh-
len; wir kennen sie .
Mit unserem Antrag haben wir im vergangenen Jahr
bereits wichtige Vorhaben beschlossen, beispielsweise,
die Vernetzungsstellen Schulverpflegung zu unterstützen
und Mindeststandards für Caterer einzuführen, die Essen
an Kitas und Schulen anbieten . Es sollen nur noch die
Anbieter einen Zuschlag erhalten, die nach den Quali-
tätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung
zertifiziert sind.
So hat beispielsweise das Land Berlin den Wandel vom
Preis- zum Qualitätswettbewerb in der Ausschreibungs-
praxis bereits eingeleitet . An die Erfahrungen kann dann
auch das Nationale Qualitätszentrum Schulverpflegung
gut anknüpfen, wenn es endlich seine Arbeit aufnimmt .
Im Ernährungspolitischen Bericht habe ich gelesen: Das
soll noch in diesem Jahr der Fall sein .
Letztendlich kann es nicht die Lösung sein, den Län-
dern und Kommunen die DGE-Verpflegungsstandards
einfach per Gesetz aufzuzwingen . Daher teile ich die
Auffassung, dass sich der Bund an der wichtigen gesamt-
gesellschaftlichen Aufgabe, eine hochwertige, gesunde
Schulverpflegung sicherzustellen, finanziell beteiligen
sollte . Auch der Vorschlag, die Mehrwertsteuersätze für
Gemeinschaftsverpflegung zu überdenken, findet meine
Sympathie .
Die Forderung nach einer grundsätzlich kostenlosen
Schulverpflegung halte ich hingegen für falsch. Es ist
durchaus vertretbar, dass sich Eltern an den Essenskos-
ten angemessen beteiligen . Seit langem diskutieren wir
darüber, wie wir die gesellschaftliche Wertschätzung von
Lebensmitteln wieder stärken können . Wir wissen doch
aus eigener Erfahrung nur allzu gut, dass der Preis dabei
eine wichtige Rolle spielt . Wenn wir also wollen, dass
Kinder möglichst früh einen verantwortungsvollen Um-
gang mit Nahrungsmitteln lernen, dann sollten sich ihre
Eltern auch darüber im Klaren sein, dass eine hochwerti-
ge Schulverpflegung etwas kostet. Unser erstes Ziel muss
es deshalb sein, sicherzustellen, dass das Essensgeld für
alle Eltern bezahlbar ist und so alle die Möglichkeit ha-
ben, an einem hochwertigen Schulessen teilzunehmen .
Vielen Dank .
Danke schön . – Jetzt spricht die Kollegin Marlene
Mortler für die CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Kochen will gelernt sein, genauso wie Anträge schrei-ben . Gerade in Bezug auf Ihren Antrag möchte ich sagen:Drücken Sie in Zukunft etwas weniger Copy-and-paste,dann kommt auch etwas Neues heraus .
Dr. Rosemarie Hein
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Denn wir reden heute über nichts Neues . Wir reden übereinen Antrag, der schon mehrfach gestellt worden ist, ge-fühlt schon viel zu oft .
Ich verstehe Ihren Ausgangspunkt . Wir alle in die-sem Haus sind uns einig, dass eine gute, eine gesundeErnährung in jungen Jahren die entscheidende Basis fürdas spätere Leben legt . Ich glaube, das ist eine Selbst-verständlichkeit . Aber wenn ich Sie so reden höre, frageich mich: Wo leben wir eigentlich? Sie reden über Dinge,die in vielen Bundesländern, vor allem in Bayern, längstselbstverständlich sind .Das Schulfach Ernährung gibt es in Bayern fächer-übergreifend .
In Bayern ist es auch selbstverständlich, dass Grund-schulkinder regelmäßig auf Bauernhöfe gehen, dass siedie Zusammenhänge lernen von Säen, Wachsen, Erntenund Essen, damit sie wissen, dass das Lebensmittel nichtaus dem Supermarktregal kommt, sondern vom Ackerbzw . aus dem Stall, damit sie wissen, wie ein Lebensmit-tel schmeckt, wie es riecht, wie man es genießen kann .All diese Dinge sind selbstverständlich . Aber ich gebezu: Man kann immer noch mehr machen .Sie werfen nun dem Bund vor, dass gar nichts passiertwäre . Dabei ist schon unter Ilse Aigner jede Menge pas-siert .
Beim nationalen Aktionsplan „IN FORM“ geht es bei-spielsweise nicht nur um gesundes Essen, sondern auchum Bewegung, also um einen gesamtheitlichen Ansatz .Die Landfrauen im Deutschen LandFrauenverband ha-ben sich dem Projekt „SchmExperten“ gewidmet, in demman Schülerinnen und Schülern spielerisch zeigt, wieEssen geht, dass man Essen auch genießen kann und dasman Essen vor allem auch wertschätzen kann und muss .Das sind wenige Beispiele, aber ich denke, es sind guteBeispiele .Was soll der Bund denn noch machen? Im Grunde ge-nommen hat er die entscheidenden Projekte seit Jahrenvorgelegt, den Bundesländern sogar mundgerecht vorge-legt, sie müssen sie nur abrufen . Damit bin ich bei Ihrereigentlichen Forderung .Sie fordern in Ihrem Antrag, dass ein Kind in Kita oderSchule in Zukunft vom Bund mit mindestens 4,50 Eurounterstützt werden muss . Wenn Sie so weitermachen mitIhren Forderungen, dann brauchen wir die Bundesländernicht mehr, dann kann der Bund in Zukunft alles selberbezahlen .
Aber Bildung ist bis zum heutigen Tag Ländersache .
Zur Bezahlung des Essens . Wir müssen uns die Grö-ßenordnung vor Augen halten . Ich habe es nicht ausge-rechnet, aber bei Ihrem letzten Antrag – inzwischen istdie Kita dazugekommen – ging es um eine zweistelligeMilliardensumme .
– Nein . Das ist jetzt meine Version . Wenn jeder etwasbekommen soll, dann geht es um eine zweistellige Mil-liardensumme .Ich finde, wir dürfen die Länder nicht aus der Verant-wortung entlassen . Ich will vielmehr wissen: Was ma-chen denn Ihre Bundesländer? Welchen Beitrag leistensie zur Ernährungsbildung, zur Qualität der Schul- oderKitaernährung?
Frau Kollegin .
Welchen Beitrag leisten sie im Zusammenhang mit der
Finanzierung von Schulvernetzungsstellen, die auch im
Bund geboren sind? Oder welches Land finanziert zum
Beispiel Lernküchen? Das sind Fragen, über die man re-
den sollte, bevor wir hier leichtfertig einem Antrag unse-
re Zustimmung geben . Wir als CDU/CSU lehnen diesen
Antrag auf alle Fälle ab .
Darf ich Sie kurz fragen, ob Sie noch eine Frage der
Kollegin Binder gestatten? Sie haben nämlich noch et-
was Zeit .
Bitte schön .
Liebe Frau Kollegin Mortler, also: Es geht nicht umeinen zweistelligen Milliardenbetrag, es ging in unseremAntrag aus der letzten Legislaturperiode um 8 MilliardenEuro . Wir haben deshalb extra diese Tagung veranstaltet,bei der wir wirklich versucht haben, im Detail die Kostenzu ermitteln . Ich lasse Ihnen das gern im Zusammenhangmit der Ausschussberatung zukommen, dass Sie sehen,wie sich die einzelnen Kosten zusammensetzen . Da-durch sind wir auf die Kosten von 4,50 Euro pro Kind imDurchschnitt gekommen . Das würde einen Betrag vonetwa 6 Milliarden Euro im Jahr ausmachen .Weitere 2 Milliarden Euro werden durch die Länderund die Kommunen zu bestreiten sein, weil es Trägerkos-ten gibt . Allein die Vorhaltung von Räumen etc . kostetGeld, das ist ganz klar . Wenn Sie dem aber gegenüber-stellen, wie wir Dienstwagen und andere Dinge in diesemLand bezuschussen oder durch Steuererleichterungen be-günstigen, dann muss ich Sie ehrlich fragen: Was ist Ih-nen mehr wert? Die Kinder und deren Zukunft und damitauch unsere Zukunft oder so etwas?Das ist eine volkswirtschaftliche Rechnung, die manaufstellen kann . Wenn ich weiß, dass allein 20 Milliar-Marlene Mortler
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den Euro pro Jahr für Diabetes aufgewendet werden müs-sen – andere ernährungsbedingte Krankheiten sind dabeinoch gar nicht erfasst –, dann muss ich einfach sagen:Das ist eine gute Investition .
Ich weiß nicht, ob Sie ernst meinen, was Sie hier sagen
und fordern . Ich kann mich erinnern, dass eine zusätzli-
che Forderung der Einbau von Schulküchen war . Wenn
wir glauben, dass wir mit dieser Summe auskommen,
dann ist das eine vollkommen falsche Rechnung .
Wenn es um unsere Kinder geht, dann dürfen Sie mir
glauben . Ich kann Ihnen als Familienfrau, als dreifache
Mutter und als fünffache stolze Großmutter sagen: In der
Familie muss beginnen, was in Staat und Gesellschaft
blühen soll .
Dazu gehört neben Ihrem Antrag – und das ist für mich
persönlich ganz wichtig – das Vermitteln von Ernäh-
rungswissen, das Miteinanderkochen, das Miteinander-
essen . Das kostet wenig, das bringt viel . Es bringt vor
allem für unsere Gesellschaft einen hohen Mehrwert .
Dafür sollten wir kämpfen, dafür kämpfe zumindest ich .
Vielen Dank .
Vielen Dank, Frau Kollegin Mortler . – Dann hat jetzt
als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt die
Kollegin Ursula Schulte, SPD-Fraktion, das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren auf der Tribüne! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Alle Jahre wieder kommt das Christus-kind, aber auch ein Antrag der Linken zum Thema hoch-wertige und kostenlose Kita- und Schulverpflegung.
Die Anträge aus den vergangenen Jahren unterschei-den sich kaum, geben uns allen aber immer wieder dieGelegenheit, über das wichtige Thema „Ernährung vonKindern und Jugendlichen“ zu diskutieren . Wir müssenauch darüber sprechen; denn immer mehr Mahlzeitenverlagern sich aus dem familiären Umfeld in Kitas undSchulen und damit auch in die Verantwortung von Kom-munen, Trägern, Land und Bund .Allerdings, und das möchte ich betonen: Eltern gebendie Verantwortung für die Ernährung ihrer Kinder nichtan der Kita- bzw . der Schultür ab . Sie können und sollensich einmischen, sie können und sollen mitbestimmen .Die Kampagne „Macht Dampf!“ unterstützt die Elterndabei, und das ist gut so . Bei uns im Kreis Borken dür-fen die Jugendlichen auch mitentscheiden, was sie essenwollen . Frau Binder, manchmal habe ich wirklich denEindruck, wir leben in verschiedenen Welten .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn wir hierim Plenum häufig inhaltlich miteinander streiten, so eintuns doch – das hoffe ich wenigstens – die Auffassung,dass jedes Kind in Deutschland Zugang zu einer gesun-den und ausgewogenen Ernährung haben muss; dennnur so können sich Kinder körperlich und geistig gutentwickeln . Das hat meine Kollegin Elvira Drobinski-Weiß gerade schon gesagt . Ich freue mich daher über dieHandlungsempfehlungen der Vernetzungsstellen Kitaund Schulverpflegung, die besagen, dass allen Kindernunabhängig von ihrer sozialen Herkunft die Teilnahmean der Kita- und Schulverpflegung ermöglicht werdenmuss .Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, dann würde ichmir wünschen, dass in allen Schulen und Kitas frisch ge-kocht wird, natürlich gemeinsam mit den Kindern undJugendlichen . Ich weiß, die Realisierung meines Wun-sches liegt in weiter Ferne, aber wenn wir gemeinsamdaran arbeiten, dann schaffen wir das eines Tages . Dazumöchte ich Sie gerne auffordern .Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Kommunalpoli-tikerin habe ich mich schon immer darüber geärgert, dassbei der Vergabe der Mittagsverpflegung nicht der Bestezum Zuge gekommen ist, sondern der Preiswerteste . Da-ran müssen wir im Interesse der Kinder und Jugendlichendringend etwas ändern .
Durch das Bildungs- und Teilhabepaket ist es ja möglich,einen Zuschuss für das gemeinschaftliche Mittagessenzu bekommen . Der verbleibende Eigenanteil der Elternliegt dann bei 1 Euro pro Tag und Essen . Wenn das nichtgeleistet werden kann, dann springen bei uns auch nochFördervereine ein . In Nordrhein-Westfalen ist die Weltalso auch in Ordnung . Ich glaube, da bleibt kein Kindohne Mittagessen .
Ich finde, gutes Mittagessen muss wertgeschätzt werden.Was nichts kostet – Frau Landgraf, da haben Sie durch-aus recht –, ist auch nichts wert .
Deshalb fordern ja auch die Tafeln von ihren Kunden ei-nen kleinen Obolus .Die Forderung nach einer unentgeltlichen Verpflegungfür alle hat Charme . Sie ist unbürokratisch . Aber ist sieauch gerecht? Die Linke beklagt immer wieder die Un-gleichheit in unserer Gesellschaft . Nur, warum muten Siedann zum Beispiel einer Bundestagsabgeordneten nichtzu, die Kita- und Schulverpflegung zu bezahlen? Die Ab-geordnete wird dadurch ja nicht arm; einer Familie ausdem Niedriglohnsektor oder aus der sogenannten Mit-telschicht täte die Ersparnis dagegen richtig gut . MehrGerechtigkeit – das ist meine persönliche Meinung – er-zielt man nicht dadurch, dass man das Füllhorn über allenausgießt. Für mich gilt immer noch – das finde ich über-Karin Binder
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haupt nicht altmodisch –: Starke Schultern tragen mehrals schwache Schultern .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt viele Initi-ativen auf Bundesebene für gesünderes Essen, auch fürmehr Wissensvermittlung über eine gute Ernährung . DieKommunen und die Bundesländer sind auch nicht untä-tig . Ich will nur ein Beispiel nennen: „Alle Kinder essenmit“; das ist ein Härtefallfonds aus Nordrhein-Westfalen .Man kann jetzt klagen: Das sind alles nur Konzepte bzw .kleine Schritte . – Das stimmt, aber sie führen in die rich-tige Richtung, und das ist entscheidend .Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Damit schließe ich die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/8611 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit
einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall . Dann ist die
Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent-
wurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des
Agrarmarktstrukturgesetzes
Drucksache 18/8235
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
Drucksache 18/8646
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege
Kees de Vries von der CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Es ist wohl unbestritten: Der Milchmarktbefindet sich in einer sehr ernsten Marktkrise. Diese –ich glaube, da sind wir uns auch einig – kann nur ge-löst werden, indem weniger Milch produziert wird oderdie Nachfrage steigt . Es gibt keine Anzeichen, dass dieNachfrage schnell wieder steigen wird . Also muss es zueiner Verringerung der Produktion kommen .Nun hat die Europäische Kommission mit Rechtsak-ten vom 11 . April 2016 für sowohl anerkannte als auchnicht anerkannte Erzeugerorganisationen die befristeteMöglichkeit geschaffen, die Rohmilchproduktion auffreiwilliger Basis zu regulieren . Die Regelungen sehenvor, dass der Milchsektor befristet für eine Zeit von sechsMonaten – mit der Option, einmal um sechs Monate zuverlängern – freiwillige gemeinsame Vereinbarungentreffen und Beschlüsse fassen kann, die die Planung derMilchproduktion zum Gegenstand haben .Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Mit-gliedstaaten haben nun die erforderlichen Maßnahmenzu ergreifen, um sicherzustellen, dass die Vereinbarun-gen und Beschlüsse die Funktionsfähigkeit des Binnen-marktes nicht untergraben und auf die Stabilisierung desMilchmarktes abzielen . Die Umsetzung ist also rechtlichzwingend . Mit dem Entwurf eines Ersten Gesetzes zurÄnderung des Agrarmarktstrukturgesetzes der Frak-tionen der CDU/CSU und SPD, Bundestagsdrucksa-che 18/8235, wird der Branche die Möglichkeit gegeben,auf freiwilliger Basis zur Begrenzung der Milchmengezu kommen . Zusätzlich werden mit dem Änderungsan-trag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD Regelungenüber die Allgemeinverbindlichkeit in den Gesetzentwurfaufgenommen .Unter Einbeziehung der im Änderungsantrag enthalte-nen Regelungen eröffnet der Gesetzentwurf die Chance,dass deutlich weniger Milch produziert wird . Der Ge-setzentwurf ist zielführend, weil wir mit ihm die Voraus-setzungen schaffen, dass für einen begrenzten ZeitraumMengenabsprachen zur Reduzierung der Rohmilchpro-duktion innerhalb der Branche getroffen werden können .Damit nutzen wir eine Möglichkeit des europäischenRechts, die allerdings nur zeitlich begrenzt, nämlich fürsechs Monate mit der Option auf weitere sechs Monate,zur Verfügung steht . Deshalb ist eine zügige Verabschie-dung dringend geboten, um der betroffenen Milchwirt-schaft jetzt die Möglichkeit zu geben, die Rohmilchpro-duktion auf freiwilliger Basis zu regulieren .Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass sich die Oppo-sitionsfraktionen trotz des Wunsches der Bundesländernach einer zeitnahen Verabschiedung des Gesetzentwur-fes der Abstimmung verweigert haben, ist angesichts derexistenziellen Marktkrise einfach verantwortungslos .
Nur mit weniger Milch auf dem Markt können die Prei-se steigen . Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion steht,nachdem sich auch der Sektor für einen Ausstieg aus derQuotierung ausgesprochen hat, außer Frage, dass es nichtAufgabe der Politik ist, jetzt den Markt zu regulieren .Hier sind die Wirtschaftsakteure selbst gefordert, kurz-fristig Lösungen zu finden. Mit der Änderung des Agrar-marktstrukturgesetzes schaffen wir dafür den rechtlichenRahmen . Nun ist es an der Branche selbst, ein deutlichesSignal für eine bessere Steuerung des Milchangebots undeine eventuelle Flexibilisierung der Marktstrukturen zusetzen .Vielen Dank .
Ursula Schulte
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Vielen Dank . – Als Nächstes erhält die Kollegin Karin
Binder das Wort für die Fraktion Die Linke .
Liebe Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kol-
legen! Meine Damen und Herren auf den Besuchertri-
bünen! Die Koalition möchte mit den Änderungen zum
Agrar marktstrukturgesetz den notleidenden Bauern in
der derzeitigen Milchkrise zu Hilfe kommen . Ich be-
haupte, Sie haben sich auf dem sogenannten Milchgipfel
und mit den Änderungen zu diesem Gesetz für den fal-
schen Behandlungsweg entschieden .
Sie hängen die Patienten, die Bauern, auf der Intensivsta-
tion an den Tropf . Das ist aber nicht mehr als eine le-
bensverlängernde Maßnahme und leider kein Heilmittel .
Es ist sicher gut gemeint, aber wenn der Tropf abgehängt
wird, geht das Sterben weiter .
Wenn auch Sie im Sinne der Verbraucherinnen und
Verbraucher unsere heimische Landwirtschaft retten
wollen, sollten Sie auf die Linke hören .
Wenn nicht, dann – das garantiere ich Ihnen – zahlen
die Zeche die Bauern und die Verbraucherinnen und
Verbraucher, und die vier großen Handelsunternehmen,
Handelsketten füllen sich die Taschen . Die Linke fordert
deshalb eine nachfrageorientierte flexible Mengensteue-
rung gegen Milchseen und Butterberge . Das könnte mög-
licherweise auch bei anderen Erzeugnissen wie Schwei-
nefleisch helfen.
Sonst produzieren einige wenige Große immer mehr und
drücken damit die Preise immer weiter in den Keller . Um
das zu verhindern, sollten wir regionale Kreisläufe unter-
stützen und fördern .
Deshalb fordern wir hier: Regionale Molkereien und
regionale Erzeugnisse im Handel brauchen ein gesetzlich
geschütztes glaubwürdiges Regionalsiegel .
Wir brauchen faire Preise für heimische Lebensmittel,
damit Verbraucherinnen und Verbraucher wissen, dass
ihr Geld tatsächlich beim Erzeuger landet . Dumpingprei-
se und Lockvogelangebote bei Lebensmitteln gehören
ebenso verboten wie Spekulationsgeschäfte mit Lebens-
mitteln auf internationalen Märkten .
Wir müssen das Kartellrecht stärken . Wir hatten Herrn
Mundt, den Präsidenten des Kartellamtes, im Ausschuss .
Es geht darum, Bauern und Landwirtschaft auf Augenhö-
he mit Molkereien und Handel zu bringen . Wir müssen
die Vertragsbedingungen zwischen den Bauern und den
Molkereien auf den Prüfstand stellen .
Laufzeit, Abgabepflicht und auch Mindestpreise müssen
in diesen Verträgen zugesichert werden, wenn wir wol-
len, dass unsere heimischen Landwirte überleben .
Eine aktuelle Untersuchung von Foodwatch zeigt:
Auch bei teuren Milchmarken kommt bei den Bäuerin-
nen und Bauern kaum mehr an als bei den Billigproduk-
ten .
Für eine „Bärenmarke“-Milch, die im Laden 1,15 Euro
kostet, erhält der Bauer genauso wenig wie für die billi-
ge „ja!“-Milch, die für 46 Cent verkauft wird . Nur noch
zwischen 23 und 27 Cent bekommt ein Bauer derzeit für
einen Liter Milch . Verbraucherinnen und Verbraucher
sind gerne bereit, mehr zu bezahlen . Aber sie müssen
dann auch sicher sein können, dass das Geld bei den Er-
zeugern ankommt und nicht in den Taschen der großen
Handelskonzerne landet .
Die meisten Menschen haben ein Interesse daran, die
heimische Landwirtschaft vor Ort zu stärken und zu un-
terstützen . Sie wollen regionale Kreisläufe . Sie sind sich
im Klaren über den hohen Wert der Lebensmittelerzeu-
gung vor Ort in ihrer Region . Aber leider wird diese Re-
gionalität, die sich der Verbraucher wünscht, vom Handel
oft nur vorgetäuscht und für Werbezwecke missbraucht .
Dem muss ein Riegel vorgeschoben werden .
Es braucht ein verbindliches gesetzliches Siegel, damit
Verbraucherinnen und Verbraucher nicht an der Nase he-
rumgeführt werden können . Sonst ist alles schlicht Ver-
braucherbetrug .
Ich denke, hier brauchen wir die Verbraucherinnen
und Verbraucher an der Seite der Landwirte und Land-
wirtinnen, damit die Lebensmittelsicherheit weiterhin
hochgehalten wird und damit sich nicht einige wenige
zulasten der Verbraucher die Taschen füllen .
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Dr . Wilhelm Priesmeier .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sie haben eine etwas verquaste Vorstellung von Ökono-mie; aber das schadet vielleicht nicht . Bei Dosen- und
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Kondensmilch haben wir einen Selbstversorgungsgradvon 580 Prozent .
Wenn man sich die Produktion anschaut, stellt man fest:Wir produzieren im Augenblick 32,4 Millionen Tonnen .Davon exportieren wir 50 Prozent . 37 Prozent gehen inden Lebensmitteleinzelhandel, der Rest in andere Berei-che . Dann erzählen Sie mir mal, warum ausschließlichdieser Bereich dafür verantwortlich sein soll, dass dasPreisniveau so weit unten ist .
Wir haben gesagt, dass wir uns dieses Themas anneh-men werden . Das haben wir getan . Wir haben nach einemintensiven Diskussionsprozess innerhalb der Koalitionzumindest einen Konsens darüber erzielt, wie wir vorge-hen wollen . Aus der ursprünglichen Vorlage, die in denBundestag gekommen ist, haben wir etwas Ordentlichesgemacht. Wir haben nämlich die Allgemeinverpflich-tung drangehängt und – mit einem Dank vor allen Din-gen nach Mecklenburg-Vorpommern, was die Abläufebetrifft – eine Fristverkürzung beim Bundesrat erreicht .Der Agrarausschuss wird sich nächste Woche Dienstagmit dem Gesetzentwurf und mit der Verordnung beschäf-tigen . Ich gehe davon aus, dass wir am 17 . Juni diesesJahres beides in einem Paket beschließen werden, sodassdann die Voraussetzungen dafür geschaffen sind, dasssich die Branche bekennen kann, was sie möchte bzw . obsie handeln möchte .Die Vorgaben zur Allgemeinverbindlichkeit sind na-türlich nicht gesetzlich verbindlich . Vielmehr muss esschon eine übergreifende Einigung im Sektor geben . Ichglaube, das ist ein Ansatz, bei dem wir nicht zum Stan-dardmittel des Wettbewerbsrechts greifen, sondern imPrinzip so etwas Ähnliches wie ein staatlich sanktionier-tes Mengenkartell bemühen, die Angebots- und Nach-fragemenge zumindest in ein Gleichgewicht zu bringen,damit die Preismechanismen wieder funktionieren kön-nen .In diesem Zusammenhang freue ich mich auch darü-ber, dass Minister Backhaus aus Mecklenburg-Vorpom-mern, der Vorsitzende der Agrarministerkonferenz, in derentsprechenden Vorlage vorgesehen hat, dass die Andie-nungspflicht gestrichen wird.
Ich glaube, das ist ein vernünftiger Ansatz . Wir müssennämlich auch den gesamten Rechtsbereich darüber hinausim Blick haben, etwa Artikel 168 GMO – GemeinsameMarktordnung – und Artikel 148 GMO . Ich freue michauch, dass mir die Bundesregierung signalisiert hat, dasssie bereit ist, die Genossenschaften in Artikel 148 GMOeinzubeziehen und sich dafür in Brüssel einzusetzen . Dasist der zweite Schritt, den wir gehen müssen, wenn wirvertraglich vereinbarte Bedingungen haben wollen, dassjedem Landwirt, auch wenn er in einer Genossenschaftist, ein entsprechender Vertrag angeboten wird, in demMenge, Preis und Vertragslaufzeit geregelt werden . Diebloße Mitgliedschaft in einer Genossenschaft ist nämlichnoch lange kein Vertrag . Zwar gibt es Regelungen, die soähnlich behandelt worden sind; aber davon wollen wirweg .
Darüber hinaus wollen wir in diesem Zusammenhangmehr Wettbewerb, auch hinterher um das Produkt . Wirmüssen jetzt die Voraussetzungen dafür schaffen, dassspäter, wenn der Markt wieder funktioniert, jeder für dasProdukt, das er erzeugt, ein gerechtes Entgelt bekommt .
Die Dinge, die Sie angesprochen haben, sind an sichgar nicht so schlecht, beispielsweise die Regionalisie-rung von Produkten; damit bin ich auch einverstanden .Aber so etwas kann nur wachsen, wenn regional auchMengen frei werden, nicht aber, wenn große Molkereienalle Mengen mitnehmen und irgendwo anders verarbei-tet wird . Auch dafür, dass das umgesetzt werden kann,schaffen wir die Voraussetzungen .Ich hoffe, dass wir den Weg, den wir jetzt beschreiten,nicht so schnell wieder beschreiten müssen . Die ganzeRegelung wird nur für zwölf Monate wirksam sein, be-ginnend mit dem 12 . April dieses Jahres, also bis zum12 . April nächsten Jahres . Darüber hinaus wäre dann zu-mindest auch noch die Kommission bzw . die EuropäischeUnion gefragt, diese Regelung entsprechend zwischen-zeitlich, nachdem sie geprüft worden ist, zu verlängern .Ich kann dieses Modell, so wie wir es jetzt hier inDeutschland gemeinsam in dieser Großen Koalition kon-zipiert haben, auch auf der europäischen Ebene zunächsteinmal nur empfehlen, bevor wir zu anderen Maßnahmengreifen . Ich glaube, das ist ein guter Ansatz, mit dem wirauf europäischer Ebene auch weitermachen können .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Nächster Redner ist der KollegeFriedrich Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Noch im März 2015 haben Sie von CDU/CSUnicht aufgehört, die Zukunft der Milchbetriebe rosarot zumalen . Denen, die Gas geben, gehöre die Zukunft; daswaren die Reden. Am 1. April fiel dann nach 32 Jahrendie Quote . Bereits am 7 . April war Ihr Traum ausge-träumt; denn der Lebensmitteleinzelhandel reagierte mit51 Cent für den Liter Milch, und jeder wusste, jetzt wirdes ernst, der Traum ist beendet .Heute bekommen die Bauern 20 Cent und wenigervon der Molkerei, und dies bei Kosten von über 40 Centpro Liter Milch . Das führt gerade die großen Wachstums-betriebe, aber leider auch die bäuerlichen Betriebe in denRuin . Die Milchanlieferung wird höher und höher undhöher; dies führt immer weiter in die Krise . 3,8 ProzentDr. Wilhelm Priesmeier
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mehr wurden in Europa im letzten Milchjahr erzeugt;das sind 6,1 Millionen Tonnen . Dazu hat Deutschland alsgrößter Milcherzeuger in Europa mit 10 Prozent beige-tragen .Wohin führt uns das, liebe Kolleginnen und Kollegen?Die Preise gehen runter, runter, runter . 3 200 Milchhöfehaben in 2015 aufgeben müssen . Dieses Jahr werden eswahrscheinlich noch mehr sein, bald 10 Prozent im Mo-ment in Schleswig-Holstein . Der LEH nutzt gnadenlosdas Überangebot aus und treibt die Preise tiefer und tie-fer . Der Liter Milch ist bei einem Preis von knapp über40 Cent im LEH billiger als Mineralwasser .Bauernverbandsgeschäftsführer Krüsken hat dies alsBankrotterklärung des Lebensmitteleinzelhandels undder Molkereien bezeichnet . Recht hat er . Aber ganz si-cher ist es auch eine Bankrotterklärung von MinisterSchmidt .
Die Bündelung der Erzeuger zu stärken, was wir heutetun, ist dringend notwendig . Wir würden, wenn es nur al-leine darum ginge, diesem Gesetz auch vonseiten der Op-position zustimmen . Das brauchen wir . Wir können dasVerfahren gern noch einmal wiederholen, Kees de Vries;es ist auch protokolliert . Vielleicht liest du es einmal;dann kannst du noch einmal erfahren, wie es gewesen ist .Das Pilotverfahren des Kartellamtes zur Überprüfungder Lieferbeziehungen, das im Moment läuft, begrüßenwir auch . Wir warnen aber davor, in zu großer Zuversichtzu schwelgen, und mahnen zu Vorsicht . Wenn aber dieÄnderungen der Andienungspflicht, die ihr heute voll-zieht, nur darauf abzielen, die Flexibilität auf dem Marktzu erhöhen, führt das eben nicht zu einer Stärkung undBündelung der Milcherzeuger, sondern wird genau dasGegenteil bewirken . Wir brauchen eine andere Markt-struktur mit mehr und kleineren Molkereien und einerdeutlichen Stärkung der Erzeuger .
Darum geht es heute . Wir sollten auch frank und frei er-klären, worum es eigentlich geht .Zum jetzigen Zeitpunkt aber einmal holterdiepolter dieAndienungspflicht – am Ende wird es die Abnahmever-pflichtung sein – gleich mit zu kippen, das ist deutlich zuschnell geschossen, lieber Kollege Wilhelm Priesmeier .
Dies ist – das sage ich dir als leidenschaftlicher Ge-nossenschaftler – Grundlage des genossenschaftlichenHandelns . Das zu machen, indem du morgens einmalaufwachst und etwas zu laut vor dich hin gedacht hast,die Abschaffung jetzt so einfach übers Knie brichst undes so schnell tust – als handstreichartig, als überfallartigmöchte ich es bezeichnen –, dieses Gebaren macht dieOpposition in der Tat nicht mit .
Da verweigern wir uns; denn das ist nicht sachgerecht .Das geht auf gar keinen Fall .
Wir sind stolz darauf, dass wir in den vergangenenJahrzehnten den notleidenden Menschen auf dem Lan-de mit den Genossenschaften helfen konnten . Das wareine große Errungenschaft . Diese in einer Nacht-und-Ne-bel-Aktion niederzumachen, auch noch mit Scheinge-fechten, wir ihr das macht, geht so nicht . Damit wird nurvon der Krise abgelenkt . Das hilft niemandem: keinemBetrieb und auch sonst keinem .
Es geht doch heute nur um eine Sache: Wie könnenwir die Menge verringern? Mengenreduzierung ist dasThema, egal wie; nichts anderes . Damit müssen wir an-fangen . Wir müssen die Realitäten ins Auge fassen . Des-halb fordern wir den Minister auf: Koppeln Sie jetzt dievon Ihnen angekündigten Mittel endlich an die Mengen-reduzierung . Geben Sie Hilfen nur gegen eine Mengen-senkung . Das ist das Gebot der Stunde . Tun Sie endlichetwas! Lösen Sie endlich die Probleme, statt weiter aufder Bremse zu stehen .Schönen Dank .
Vielen Dank . – Als Nächster spricht der Kollege
Waldemar Westermayer, CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! WerteKolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute dieÄnderung des Agrarmarktstrukturgesetzes . Ich möchtegleich zu Anfang deutlich machen, dass der vorliegendeGesetzentwurf ein wichtiger Baustein für den Einstieg indie Marktwirtschaft für die Milcherzeuger in Deutsch-land und Europa leistet .Wenn sich der Erzeugerpreis dauerhaft bei unter30 Cent einpendelt, ist die Zukunft der Milcherzeugermassiv bedroht . Es gibt auch gute Beispiele, etwa imBerchtesgadener Land, wo 34 Cent für 1 Liter Milchbezahlt werden, oder bei uns von der OMIRA, die jetztVerträge über einen Milchpreis von 32,5 Cent über100 000 Tonnen Milch für ein Jahr geschlossen hat . Da-rauf komme ich noch zurück . Bestimmte Molkereienzahlen teilweise nur noch einen Preis von unter 20 Cent,vor allem in Norddeutschland .Friedrich Ostendorff
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Schon im letzten Jahr mussten rund 3 200 Milchvieh-betriebe in Deutschland aufgeben . Angesichts der aktuel-len Situation auf dem Markt braucht die Milchwirtschaftmit ihren noch 74 000 Betrieben in der Bundesrepublikzweierlei: Zum einen benötigen wir Sofortmaßnahmen .Diese hat Minister Schmidt am Montag auf dem Milch-gipfel vorgestellt . Vor allem die rückwirkenden steuer-lichen Möglichkeiten zur Gewinnglättung ab 2014 sindsehr sinnvoll . Hervorheben möchte ich zum anderen aberauch den gestiegenen Zuschuss zur Unfallversicherungund die vorgeschlagenen Bürgschaften . Aus meiner Sichtmuss die Erteilung von Bürgschaften aber an Bedingun-gen geknüpft werden . Das sind wichtige Elemente, umdie aktuelle Krise zu überbrücken .Die Brücke alleine reicht aber nicht aus . Am Ende derBrücke muss es eine Perspektive geben . Diese Perspekti-ve muss langfristig und nachhaltig sein . Deshalb halte ichausdrücklich nichts von einer Rückkehr zu einer staatlichverordneten Quote . Diese hat in den über 30 Jahren ihresBestehens nicht für einen nachhaltigen Markt gesorgt .Vielmehr gab es den jetzt ausgiebig besprochenen Struk-turwandel auch schon zu Zeiten der Milchquote . Über380 000 Betriebe waren es 1983, als man sie eingeführthat . Jetzt gibt es noch 74 000 Betriebe . Ein einfaches Zu-rück zum vorherigen System darf es deshalb nicht geben .
Als Milchviehhalter, der schon viel für Quotenrechtegezahlt hat, weiß ich, wovon ich rede . Wir müssen statt-dessen die Erzeuger stärken .
Das beinhaltet für mich zunächst eine grundlegende Ver-änderung der Stellung der Erzeuger am Markt .
Wir müssen weg vom bloßen Anliefern und hin zu einemVerkaufen der Milch .
Erfolgreiches Wirtschaften bemisst sich nämlich nichtallein danach, volle Tankwagen vom Hof fahren zu las-sen . Vielmehr muss der Einstieg in einen bedarfsange-passten Verkauf erfolgen . Hier ist die Branche gefragt .Sie muss tragfähige Konzepte für die Ausgestaltung derVertragsbeziehungen liefern . Diese sind aus meiner Sichtder Schlüssel für eine nachhaltige Aufwertung der Stel-lung der Erzeuger . Verträge über den Preis, die Laufzeitund die Menge sind die Grundlage für eine erfolgreicheMarktbeteiligung .
In diesem Zusammenhang brauchen wir eine starke aner-kannte Branchenorganisation .Wir Politiker können nur das Spielfeld aufbauen undregeln . Spielen müssen die Akteure selber . Im Kartell-recht ermöglichen wir jetzt schon und weiter verstärktdurch den vorliegenden Gesetzentwurf den Erzeugerneine Bündelung . Der gebündelten Marktmacht auf derSeite des Handels muss jedoch jetzt endlich etwas entge-gengesetzt werden . Die einseitige Verteilung des Preis-risikos zulasten der Erzeuger darf nicht einfach so wei-tergehen .
Im jetzigen System werden falsche Anreize gesetzt,zum Beispiel durch das Milchgeld . Ein Teil des Problemsist doch, dass der Lebensmitteleinzelhandel und die Mol-kereien überhaupt kein Risiko tragen .
Die Molkereien setzen die Milch ab und ziehen ihreProduktionskosten und ihre Gewinne ab, und der Restverbleibt dann beim Erzeuger . Das ist nicht sach- undinteressengerecht . Vielmehr muss jeder Teil der Wert-schöpfungskette auch am Ertrag beteiligt sein .Abschließend möchte ich noch einmal betonen, dasswir Politiker die Ursache des Problems nicht allein behe-ben können und werden . Wir brauchen hierzu die Bran-che und müssen gesetzliche Vorgaben machen, damit wirendlich echte und faire Vertragsbeziehungen etablieren .Das sollte unser gemeinsames Ziel sein . Deshalb gehenwir mit dem Agrarmarktstrukturgesetz einen wichtigenSchritt in Richtung Marktwirtschaft . Ich möchte michauch bei der SPD bedanken, die hier hervorragend mitge-zogen hat . Ich hoffe, dass es beim Düngegesetz genausoder Fall sein wird .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Als Nächstes spricht für die SPD-Frak-
tion jetzt der Kollege Johann Saathoff .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Zweimal Milchpolitik an einem Tag: Dashaben wir selten in diesem Hause. Aber ich finde, dassdie Bäuerinnen und Bauern es verdient haben, dass wiruns mit der Situation auseinandersetzen und miteinanderüber die beste Lösung streiten . Ich glaube, Streit ist auchetwas, das die Kultur ausmacht und für die Bäuerinnenund Bauern auf jeden Fall richtig sein kann .Halten wir an dieser Stelle fest: Das Problem sindÜberkapazitäten im Milchmarkt . Wir haben es schon ge-hört: Das Angebot ist in der EU 2014 um 2,2 Prozent und2015 um 3,8 Prozent gestiegen . Das heißt, wir haben einzu großes Angebot im Milchmarkt .Auf der Nachfrageseite haben wir einen deutlichenNachfragerückgang erlebt, insbesondere bei den Expor-ten außerhalb der Europäischen Union .Aber ich finde, dass es an dieser Stelle auch dazuge-hört, zu betonen, dass es gut ist, dass mittlerweile alleWaldemar Westermayer
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erkannt haben, dass der Markt insgesamt das Problem istund nicht nur die Nachfrageseite .
Ich würde mir wünschen, dass die Bauernverbände in derpolitischen Debatte irgendwann wieder zusammenfindenund sich miteinander abstimmen, was die beste Lösungist, damit wir nicht über Monate die Situation haben, dassder eine Hü sagt und der andere Hott .
Im Agrarmarktstrukturgesetz wird die Möglichkeit derMengenabsprache zwischen Molkereien und Erzeuger-gemeinschaften geregelt . Das hilft sicher, aber ich glaubenicht, dass es das Problem löst . In Ostfriesland würdeman sagen: Man hett eerst utleert, wenn all Finger glieklang sind . Das heißt: Man lernt nicht aus im Leben .Ich glaube, wir brauchen neue Standards und neueRahmenbedingungen, vielleicht für eine zusätzliche undandere Milchwirtschaft . Wir haben viel über Landwirt-schaft 4 .0 geredet . Aber haben wir uns eigentlich auchGedanken über Landwirtschaft 2 .0 und 3 .0 gemacht? ZuLandwirtschaft 2 .0 gehört für mich zum Beispiel, dassVerbraucher einfacher in die Lage versetzt werden, wert-volle Milch, zum Beispiel Grünlandmilch, zu kaufen .Dazu gehört zwingend, dass diese Milch gekennzeichnetwird .
Diese Milch muss an bestimmte Voraussetzungen ge-bunden werden . Wer macht sich denn heute beim Milch-kauf Gedanken über Zellzahlen, Omega-3-Fettsäure,über Bedingungen, wie Tiere im Stall und auf dem Feldgehalten werden, über gentechnikfreie Fütterung oderüber die Frage, ob man nicht künftig Zweinutzungsrindereinsetzen kann, statt immer nur auf eine bestimmte Nut-zung zu achten? Dass, wenn die Kennzeichnung richtigist, die Verbraucher dies auch annehmen, sieht man wun-derbar am Beispiel der Bodenhaltung von Hühnern imBereich der Eierwirtschaft .Zu Landwirtschaft 3 .0 gehört aus meiner Sicht einBlick auf die Forschungseinrichtungen im Bereich derLandwirtschaft . Das Ministerium unterhält sieben For-schungseinrichtungen mit einem Etat von mehreren100 Millionen Euro. Ich finde, liebe Kolleginnen undKollegen, 10 Prozent für alternative Wege der Milchwirt-schaft wären in dieser Krise gut investiertes Geld fürLeuchtturmprojekte der neuen Milchwirtschaft und fürLeuchtturmprojekte in der Milchverarbeitung . Wir wis-sen alle: Jeder Euro, der darin investiert würde, würdefünfmal über Wertschöpfung zurückkommen und kommtden ländlichen Räumen insgesamt zugute .Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Damit ist die Aussprache beendet .
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurf
eines Gesetzes zur Änderung des Agrarmarktstrukturge-
setzes . Der Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 18/8646, den Gesetzentwurf der Fraktio-
nen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 18/8235
in der Ausschussfassung anzunehmen . Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen . – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen bei Enthaltung der Opposition angenommen .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist in dritter Lesung mit dem gleichen Stimmen-
verhältnis angenommen .
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/8646 empfiehlt der Ausschuss, eine
Entschließung anzunehmen . Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Opposition angenommen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Katharina Dröge, Kerstin Andreae, Dr . Thomas
Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für mehr Transparenz und demokratische
Kontrolle bei der Ministererlaubnis
Drucksache 18/8078
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre hier
keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich bitte Sie, Ihre Plätze einzunehmen oder die Ge-
spräche außerhalb des Plenarsaals fortzusetzen – Herr
Kollege Spiering auch .
Die Herren hier von mir aus gesehen rechts bitte eben-
falls die Debatten außerhalb des Plenarsaals fortsetzen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat die Kollegin
Katharina Dröge, Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir haben in den letzten Wochen öfter mit-einander über das Thema Ministererlaubnis gesprochen .Wir haben über die aktuelle Ministerentscheidung vonSigmar Gabriel im Falle der Fusion Edeka/Tengelmanngesprochen . Wir Grünen haben uns hier klar positio-Johann Saathoff
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17131
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niert: Wir halten die Entscheidung von Sigmar Gabrielfür falsch . Genauso wie das Kartellamt, genauso wie dieMonopolkommission, genauso wie Verbraucher- und Er-zeugerverbände halten wir diese Entscheidung für schäd-lich für den Wettbewerb, schädlich für die Verbraucherund schädlich für die Zulieferer .
Die Entscheidung von Sigmar Gabriel bedeutet mehrMarktmacht für Edeka, weniger Wettbewerb, wenigerAuswahl für die Verbraucher, höhere Preise in den Su-permarktregalen und mehr Preisdruck auf die Hersteller,auf die Bäuerinnen und Bauern . Deswegen ist Ihre Ent-scheidung falsch .Gleichzeitig schafft es Sigmar Gabriel nicht, das ein-zige von ihm angeführte Argument zugunsten dieser Mi-nistererlaubnis umzusetzen . Er hat versprochen, er würdedurch die Fusion 16 000 Arbeitsplätze retten . Doch dashat er nicht erreicht. Denn die Auflagen, die er für dieseFusion vorgesehen hat, retten eben nicht 16 000 Arbeits-plätze . Sigmar Gabriel hat offengelassen, wie viele Ar-beitsplätze gerettet werden, und er hat offengelassen, fürwen dieser Schutz gilt .Unsere Nachfragen im Wirtschaftsausschuss, unsereNachfrage an das Bundeswirtschaftsministerium habenergeben, dass nur die Mitarbeiterinnen und Mitarbeitervon Kaiser’s Tengelmann durch diese Auflagen geschütztsind, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Edekanicht . Genau das, was wir nun in der Presse lesen kön-nen, passiert jetzt, nämlich dass der Konzern nach derFusion eigene Mitarbeiter entlässt, dass diese Personennicht geschützt sind und dass die Auflagen von SigmarGabriel an dieser Stelle nicht funktionieren .
Unser Fazit lautet daher: schlechte Entscheidung,schlecht gemacht .Wir kritisieren in unserem Antrag des Weiteren dieArt und Weise, wie Sigmar Gabriel diese Entscheidunggetroffen hat; auch diese ist schlecht . Wenn man sich an-schaut, wie die Ministererlaubnis funktioniert, dann stelltman fest, dass ein einziger Mensch darüber entscheidet,ob zwei so große Unternehmen miteinander fusionierendürfen . Er entscheidet, ob die Entscheidung des Bundes-kartellamts rückgängig gemacht wird . Er entscheidet, obes überragende Interessen im Sinne des Allgemeinwohlsgibt, die eine solche Entscheidung legitimieren . Ich fra-ge mich ganz ehrlich: Wieso sollte ein Mensch entschei-den können, ob es überragende Interessen im Sinne desAllgemeinwohls gibt? Sind nicht wir, die Mitglieder desDeutschen Bundestages, es, die dafür gewählt sind, zudefinieren, was ein überragendes Interesse im Sinne desAllgemeinwohls ist? Sind es nicht wir, die die Aufgabehaben, miteinander abzuwägen, ob es ein solches Inte-resse gibt?Wir sind der Meinung, dass solche Entscheidungenaus dem Hinterzimmer heraus müssen . Wir schlagenvor, dass der Deutsche Bundestag über solche Entschei-dungen beraten kann . Wir schlagen ein suspensives Vetodes Bundestages vor, wenn ein Minister, wie es SigmarGabriel gemacht hat, das Bundeskartellamt überstimmt .Wir fordern, dass der Bundeswirtschaftsminister ordent-lich und transparent informiert, welche Beweggründe esfür seine Entscheidung gibt . Das hat er im laufenden Ver-fahren nicht gemacht . Wir haben zig Fragen gestellt, Fra-gestunden genutzt und Aktuelle Stunden dazu durchge-führt und Anfragen an die Bundesregierung gestellt . Aberer musste seine Entscheidung gegenüber dem Parlamentnoch nicht einmal begründen . Mehr Hinterzimmer undmehr Intransparenz gehen aus meiner Sicht nicht .
Wir wollen, dass dieses durchaus wichtige Instrumentdemokratisch legitimiert ist, dass es akzeptiert ist, dassdie Menschen verstehen und dass transparent ist, warumeine Entscheidung so getroffen wird . Wir sagen nicht,dass es keine Allgemeinwohlgründe geben kann, die einesolche Fusion letztendlich rechtfertigen . Wenn aber einMensch allein im Hinterzimmer eine solche Entschei-dung treffen kann, ohne sie begründen zu müssen, dannmacht es sie massiv missbrauchs- und lobbyanfällig .Deswegen haben wir einen Antrag eingebracht, in demwir ein suspensives Veto fordern . Die Beteiligung desBundestages stärkt am Ende auch die Ministererlaubnis .Deshalb hoffe ich, dass wir uns heute gemeinsam auf die-sen Weg verständigen .
Vielen Dank . – Nächster Redner ist der Kollege
Dr . Matthias Heider für die CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Meine Damen und Herren! Was haben eigentlichdie Unternehmen Daimler-Benz, Eon und Edeka gemein-sam? Sie alle sind schon einmal in den Genuss einer Mi-nistererlaubnis gekommen . Daimler-Benz durfte sich imJahr 1989 mit MBB, einem Luft- und Raumfahrtunterneh-men, zusammenschließen . Das Unternehmen Eon konnteim Jahr 2002 mit der Ruhrgas fusionieren . Schließlichhat der Wirtschaftsminister in diesem Jahr entschieden,dass der Handelskonzern Edeka das Unternehmen Kai-ser’s Tengelmann übernehmen darf . Über dieses aktuel-le Fusionsverfahren haben wir im Wirtschaftsausschussund in mittlerweile einigen Sitzungen hier in diesemHaus gesprochen . Ich habe wiederholt in der Diskussi-on auf die Risiken hingewiesen, die mit dieser Entschei-dung einhergehen . Aus meiner Sicht sind noch nicht alleFragen gelöst . Einige sind gerade angesprochen worden:Reicht das Arbeitsplatzargument als alleinige Begrün-dung aus, um erhebliche Wettbewerbsbeschränkungenaufzuwiegen? Ist es sinnvoll, eine solche Erlaubnis vomWohlwollen Dritter, von den Gewerkschaften, abhängigzu machen? Werden durch die Bedingungen wirklich alleArbeitsplätze bei Kaiser’s Tengelmann gesichert, oderKatharina Dröge
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wird Edeka eigene Arbeitnehmer bei sich entlassen, umdie Übernahme möglichst effizient zu gestalten? DieseFragen müssen noch beantwortet werden . Da warten wirnoch auf die Entwicklung, die sich in diesen Wochen erstganz langsam zeigt .Generell nehme ich jedenfalls aus diesen Verfahrenerst einmal mit: Das Instrument der Ministererlaubnisscheint reformbedürftig zu sein . Deshalb, liebe Kollegin-nen und Kollegen von den Grünen, ist die Aufmerksam-keit, die Sie dieser Regelung zuteilwerden lassen, ver-dient, auch wenn ich Ihren Lösungsvorschlag nicht teile .
Das Ministererlaubnisverfahren ist seit seiner Ein-führung im Jahr 1973 umstritten . Die Ministererlaubnisist im deutschen Kartellrecht ein Ausnahmeinstrument .Es gibt sie beispielsweise im europäischen Kartellrechtnicht . Der Bundeswirtschaftsminister kann sich durchseine Ministererlaubnis über eine ablehnende Entschei-dung des Bundeskartellamtes hinwegsetzen und eine Fu-sion zweier Unternehmen aufgrund von Vorteilen für dasAllgemeinwohl erlauben .Doch was sind diese Gründe für das Allgemeinwohl?In den 22 Ministererlaubnisverfahren, die seit Einfüh-rung des Instruments durchgeführt worden sind, habensich verschiedene Fallgruppen herausgebildet . So hatder Bundeswirtschaftsminister im Fall von Daimler/MBB eine Ministererlaubnis zur Verbesserung der Pri-vatisierungsmöglichkeiten und aus Gründen des Subven-tionsabbaus erteilt . Außerdem spielte in dem Verfahrendie Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeiteine Rolle . Auch das hat im Verfahren Eon und Ruhrgaseine Rolle gespielt . Schließlich war im Verfahren Ede-ka/Kaiser’s Tengelmann der ausschlaggebende Grunddie Arbeitsplatzsicherung . Neu daran war und ist, dassdas Argument der Arbeitsplatzsicherung bisher nicht beieiner Entscheidung als einziger Ausnahmegrund angese-hen worden ist .
Das Risiko liegt darin, dass dies eine politische Ent-scheidung ist .
Das soll heißen: Die Frage, was als Allgemeinwohl an-gesehen wird, haben verschiedene Wirtschaftsministerin den letzten Jahren natürlich völlig verschieden beant-wortet . Das ist das Problem daran . Die Entscheidung desWirtschaftsministers hat einen zu großen Abstand zu denwettbewerbsrechtlichen Verbotsmerkmalen im Laufe derJahre bekommen .Sie, liebe Grüne, schlagen jetzt in Ihrem Antrag zurBegrenzung dieser Unabhängigkeit ein aufschiebendesVeto des Deutschen Bundestages vor . Wenn der Bundes-wirtschaftsminister von einem solchen Veto abweichenwill, dann soll dies nur mit Zustimmung der Bundesre-gierung möglich sein . Ich halte den Vorschlag nicht fürzielführend; denn die Entscheidung über eine Minister-erlaubnis bedarf umfangreicher wettbewerbsrechtlicherErmittlungen, ausführlicher Informationen, die eingeholtwerden müssen, und einer zeitaufwendigen Analyse die-ses Sachverhalts .Eine solche Möglichkeit der Ermittlungs- und Ana-lysetätigkeit hat unser Parlament nicht . Bei Ihrer Argu-mentation, dass das Parlament die Allgemeinwohlgründeam besten bestimmen könne, verkennen Sie, dass es ei-gentlich wirtschaftspolitische Gründe sind . Maßgeblichfür die Entscheidung über eine Ministererlaubnis ist nichtnur die Beurteilung der Gemeinwohlargumente, sondernvielmehr die Abwägung mit den Wettbewerbswirkungendes Zusammenschlusses .
Dabei sind entsprechende Merkmale der Marktmachtzu untersuchen; sie sind festzustellen, und sie sind hin-terher wieder zu überprüfen . Daher glaube ich nicht, dassein Veto in einem solchen Verfahren die Entscheidung zueiner besseren machen würde, auch nicht dadurch, dassder Rest der Bundesregierung darin einbezogen wird .Entscheidungsfindungen in dieser Form halte ich nichtfür sinnvoll .
Sie würden im Zweifel nur die Entscheidung auf eine an-dere Ebene heben .Wir wollen nicht, dass das Parlament exekutives Han-deln vornimmt . Das ist Aufgabe der Regierung, die hierzu meiner rechten Seite sitzt, und unsere Verfassung sagt,dass wir das gar nicht dürfen . Aufgabe der Monopolkom-mission in einem Ministererlaubnisverfahren ist es, einGutachten zu erstellen . Das Gutachten enthält nebender Würdigung der vom Bundeskartellamt festgestelltenWettbewerbsbeschränkungen und der Gemeinwohlgrün-de eine Empfehlung, die an den Minister ausgesprochenwird .Bisher haben die Gutachten der Monopolkommis-sion keine Bindungswirkung . Das verkennt jedoch denWert der Arbeit, den diese Kommission leistet . Es sindhochkarätige Mitglieder, die volkswirtschaftliche, be-triebswirtschaftliche, sozialpolitische, technologischeund wirtschaftsrechtliche Kenntnisse und Erfahrungenmitbringen . Sie sind prädestiniert dafür, den Minister zuberaten, und ihrer Arbeit sollte ein höherer Stellenwertzukommen .Ich halte es für sinnvoll, die Arbeit der Kommissionweiter zu stärken, indem der Bundeswirtschaftsministerseine Ministererlaubnis nur im Einvernehmen mit derMonopolkommission treffen sollte . So würde sicherge-stellt, dass die Expertise der Mitglieder dieses Gremiumsauch Gewicht hat . Zudem ersparen wir dem Minister,dass er im Kreuzfeuer der Kritik steht, wenn die Ent-scheidung nicht so ausgeht, wie sich viele das vielleichtvorgestellt haben .Dr. Matthias Heider
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Der Rücktritt des ehemaligen Vorsitzenden der Mo-nopolkommission Professor Zimmer spricht Bände . Daszeigt auch, dass in dem Gremium der Monopolkommis-sion nicht nur Unmut, sondern auch Unverständnis überdiese Entscheidung herrscht . Das ist nachvollziehbar, zu-mal es nicht das erste Mal gewesen ist, dass ein Bundes-wirtschaftsminister so entschieden hat . In den neuen Ver-fahren, in denen der jeweilige Wirtschaftsminister eineMinistererlaubnis erteilt hat, ist er nur in drei Fällen denEmpfehlungen der Monopolkommission gefolgt .Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir kön-nen heute eines feststellen: Die Reform der Ministerer-laubnis steht nach vielen Jahrzehnten an . Lassen Sie unsdie Diskussion darüber in den Beratungen über die anste-hende neunte Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbs-beschränkungen führen .Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Er war schon fertig . – Danke schön . – Der nächste
Redner ist der Kollege Michael Schlecht, Fraktion Die
Linke .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren!
– Wollen Sie mir zuhören? – Nein?
– Gut! Ich würde Ihnen ja auch gerne etwas sagen .Als dieser Antrag von Ihnen kam, habe ich zum Teilgedacht, dass da etwas ganz Sinnvolles kommt, wobeiich mich auch schon wieder gefragt habe, ob der Antragnur vorgelegt wurde, um noch einmal eine vermeintlicheAbrechnung mit dem Wirtschaftsminister in der FrageEdeka und Tengelmann vorzunehmen . Momentan habeich – nachdem ich mir Ihren Vortrag angehört habe – dasGefühl, dass dies eher das Motiv ist . Also, ich hätte, so-sehr ich jetzt für diese Ministererlaubnis bin, persönlichin der Tat ein Interesse, das Verfahren der Ministererlaub-nis zu verändern, und zwar allein schon deshalb, weil ichsehe, was in der Vergangenheit passiert ist .In der Vergangenheit hat man sich – wenn man sah,was da lief – schon gefragt, ob nicht irgendwelche Lob-byisten das Ministeramt okkupiert und ihren alten Freun-den eine Fusionserlaubnis erteilt haben . Das letzte Malhat mich zum Beispiel im Jahr 2002 in Bezug auf Minis-ter Werner Müller dieses Gefühl beschlichen . Vor diesemHintergrund finde ich schon, dass man die Weisheit einesMinisters, aber auch die – ich sage das einmal so – ver-meintliche Weisheit einer Monopolkommission am Endeeiner parlamentarischen Kontrolle unterziehen sollte .Man könnte sich sehr wohl vorstellen – dabei gingenmeine Vorstellungen viel weiter als das, was Sie von denGrünen in Ihrem Antrag aufgeschrieben haben –, dasssich ein Minister, wenn er die Empfehlung der Mono-polkommission nicht teilt und abweichend davon eineFusion zulassen will, noch die Zustimmung aus dem Par-lament holen muss .Aber ich sage es einmal so: Das geht jetzt noch in dieAusschüsse . Wir können ja im Ausschuss darüber disku-tieren, wie man sich so etwas vorstellen kann . Das müs-sen wir jetzt hier – ich habe ja auch nur eine relativ kurzeRedezeit – nicht bis ins Kleinste durchdiskutieren . Ichsage aber noch einmal: Man muss dann auch, finde ich,die Weisheit einer Monopolkommission infrage stellen .Herr Heider, Sie haben ja eben auch so getan, als wenndie Monopolkommission die Weisheit mit Löffeln ge-fressen hätte . Da hätte ich wirklich größte Zweifel . Dadas am Ende – Sie haben das selbst betont – eine politi-sche Entscheidung ist, sollte man es, finde ich, dann auchdem Parlament vorbehalten .Vielleicht noch ein paar Sätze zu Edeka und Tengel-mann . Mich wundert in der Tat, dass Sie vonseiten derGrünen – Frau Dröge, ich schätze Sie sonst sehr – nachwie vor so verbiestert dagegen anrennen .
Anscheinend ist es Ihnen wirklich nicht zugänglich zumachen, was für einen Wert es hat, wenn dort einer großenZahl von Beschäftigten – seien es 16 000 oder auch etwasweniger, je nachdem wie es läuft – die Existenz gerettetwird . Als jemand, der so etwas als Gewerkschaftssekre-tär jahrzehntelang erlebt hat, weiß ich, was es bedeutet,wenn Leute in den Betrieben zum Teil unter schwierigs-ten Bedingungen ihre Arbeitsplätze verlieren . Von daherempfinde ich es erstens als wichtig, dass solch ein Impulsgesetzt wird bzw . dass dort Menschen geholfen wird . Ichlobe Minister Gabriel in diesem Fall ausdrücklich . Dasist mir ja auch ein bisschen befremdlich; aber ich tue es,weil es, wie ich finde, der Sache angemessen ist.
Zweitens treibt mich auch die Frage um: Rennen Sieso gegen diese Entscheidung an, weil hier zum erstenMal ein Minister den Gewerkschaften eine ganz starkeStellung verschafft und ihnen, wie wir als Gewerkschaf-ter sagen würden, Korsettstangen eingezogen hat?
Das frage ich mich auch:
Stört Sie das? Das wäre auch die Frage – sie treibt michmanchmal um –, die ich in Richtung CDU/CSU stellenkönnte . Denn diese Entscheidung beinhaltet wirklich einpositives Element: dass dort nämlich die Interessenver-tretung Gewerkschaft die Möglichkeit hat, diesen Pro-Dr. Matthias Heider
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zess ganz anders zu gestalten, als wenn diese Ministerer-laubnis mit dieser Auflage nicht gekommen wäre.Danke schön .
Danke schön . – Frau Kollegin Dröge, die Zeit war
abgelaufen . – Nächster Redner ist der Kollege Marcus
Held, SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Ich finde diese Debatte schon bemerkenswert,
wenn ich sie so verfolge, insbesondere weil doch eini-
ge Kolleginnen und Kollegen und ganze Fraktionen hier
im Parlament ihr wahres Gesicht zeigen . Wenn ich höre,
dass plötzlich der Erhalt von Arbeitsplätzen nicht mehr
im Mittelpunkt unserer politischen Bemühungen stehen
darf, dann bin ich – das sage ich an die Adresse der Grü-
nen und auch der CDU/CSU – doch einigermaßen über-
rascht .
Das Arbeitsplatzargument muss das zentrale Argument
sein, auch bei dieser Debatte um die Ministererlaubnis .
Das möchte ich Ihnen an dieser Stelle eingangs ganz aus-
drücklich sagen .
– Der Präsident ist noch nicht am Platz .
Ganz offenkundig möchte nicht nur die Kollegin
Dröge eine Zwischenfrage stellen, ganz offenkundig ist
auch der Redner begeistert über die Möglichkeit, auf die-
se Weise seine Redezeit zu verlängern .
Richtig .
Bitte schön, Frau Dröge .
Es freut mich sehr, dass Sie so begeistert sind . Auch
ich bin ganz begeistert, dass ich diese Frage jetzt stellen
darf, nachdem ich bereits den zweiten Anlauf unternom-
men habe, eine Zwischenfrage zu stellen .
Es geht im Zusammenhang mit der Ministererlaubnis
um die Arbeitsplätze; diesen Punkt haben Sie ja gerade
angesprochen . Sie haben da suggeriert, uns Grünen sei
es egal, ob durch eine Ministererlaubnis Arbeitsplätze
erhalten blieben . Ich möchte Sie jetzt einfach einmal
fragen, weil ich, obwohl das immer unsere Argumen-
tation zum Thema Arbeitsplätze war, von Ihnen darauf
noch keine Antwort bekommen habe: Was ist denn mit
den Arbeitsplätzen bei den Zulieferern? Was ist mit den
Arbeitsplätzen bei den Herstellern? Was ist mit den Ar-
beitsplätzen bei den Konkurrenten, die durch die Fusion
von Edeka und Tengelmann unter Druck geraten? Was ist
mit den Arbeitsplätzen bei Edeka selbst? Auch das haben
wir ja im Wirtschaftsausschuss diskutiert .
Herr Gabriel hat mir mittlerweile schriftlich geantwor-
tet, dass es keine Beschäftigungssicherung für die Mitar-
beiter von Edeka gibt . Wir haben jetzt Medienberichte
dazu bekommen, dass Edeka plant, bei eigenen Unter-
nehmen Arbeitsplätze abzubauen . Gleichzeitig hat Herr
Gabriel die Beschäftigungssicherung bei Edeka nicht zur
Voraussetzung für die Ministererlaubnis gemacht .
Was wir immer kritisiert haben, war: Diese Fusion
führt zu einer Verstärkung von Marktmacht, führt zu
einem Kostendruck, und dieser Kostendruck wird sich
negativ auf die Arbeitsplätze auswirken . Deswegen ist
es eine Illusion und ein Trugschluss von Sigmar Gabriel
gewesen, durch diese Ministererlaubnis – –
Frau Kollegin Dröge, Sie sollen keine zweite Rede
halten, sondern den aufgerufenen Redner mit einer knap-
pen Zwischenbemerkung zu einer zusätzlichen Aussage
veranlassen .
Können Sie mir das erklären?
Nach den vielen Debatten im Ausschuss glaube ichnicht, dass man Ihnen das wirklich nahebringen kann,weil Sie es ja nicht verstehen wollen .Wir werden es natürlich nicht so erleben, dass, wieSie es über Wochen, über Monate hinweg bösartig zuunterstellen versuchen, automatisch die Zahl der Be-schäftigungsverhältnisse, die bei Kaiser’s Tengelmannerhalten bleiben sollen – darauf werde ich gleich nocheinmal eingehen –, bei Edeka einfach wegfällt . WartenSie doch einmal die Verhandlungen zwischen Edeka undden Tarifparteien ab. Die Auflage ist ganz klar, dass einVertrag geschlossen werden muss . Dieser Vertrag kanndoch nicht bedingen, dass bei Edeka automatisch ein Teilder Arbeitsplätze wegfällt . Warten Sie doch einmal dasErgebnis ab . Wir werden sehen: Es werden nicht einfachEdeka-Märkte geschlossen, nur weil Märkte von Kai-ser’s Tengelmann zum Unternehmen dazukommen . In-sofern bin ich optimistisch .
Sie nehmen hier ständig Unterstellungen vor . Sie ver-breiten letztendlich Angst unter den Beschäftigten undMichael Schlecht
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auch Angst in der Bevölkerung . Lassen Sie es doch end-lich! Sie kommen doch so nicht weiter .
– Ja, gut . Die Erklärung wird es dann geben, wenn es zudem Erhalt der Arbeitsplätze kommt, Herr Kollege .Ihr Antrag führt ja den Titel „Für mehr Transparenzund demokratische Kontrolle bei der Ministererlaubnis“ .Da geht es letztendlich abstrakt um das Thema Minister-erlaubnis . Sie versuchen die ganze Zeit, Ihr Anliegen ander jüngsten Ministererlaubnis und an der Person SigmarGabriel aufzuhängen . Dazu muss ich sagen – das wurdeauch schon während der Reden deutlich –: Auch das Kar-tellamt hat keine Begründung für seine Entscheidung zuliefern . Insofern glaube ich, hat es schon seinen Grund,dass wir nicht öffentlich in Parlamenten über Unterneh-men, über mögliche Insolvenzen, über mögliche Proble-me, die in Unternehmen bestehen, debattieren . Vielmehrmüssen Entscheidungen, auch Ausnahmeentscheidun-gen – mehr ist ja die Ministererlaubnis letztendlichnicht –, intern, etwa im Kartellamt, gefällt werden . Demdarf eine demokratische Debatte hier im Parlament nichtzuwiderlaufen .Ich möchte aber auch ein Argument entkräften, mitdem in der heutigen Debatte wieder ein völlig falscherEindruck erweckt wurde; dabei ging es um die Frage dermarktbeherrschenden Stellung . Es kommt durch die Fu-sion von Kaiser’s Tengelmann mit Edeka eben nicht zueiner marktbeherrschenden Stellung . Ganz im Gegenteil,meine Damen und Herren: Edeka hat derzeit bundesweiteinen Martkanteil von 25,2 Prozent . Kaiser’s Tengel-mann hat nur noch einen Marktanteil von 0,6 Prozent
und ist deshalb in Diagrammen noch nicht einmal mehrmit einem Balken aufgeführt . Wer bei der Fusion in Sum-me von einer marktbeherrschenden Stellung redet,
der hat wohl in der Grundschule in Mathe nicht aufge-passt und dem kann man es letztendlich dann auch nichtnäherbringen . Insofern sollten Sie auch hier Ihre falschenUnterstellungen wirklich unterlassen .Ich komme aber gern noch auf weitere Punkte in Ih-rem Antrag zu sprechen . Darin steht unter anderem:Der Entscheidungsprozess des Bundesministers fürWirtschaft und Energie zog sich über Monate underzeugte erhebliche Unsicherheit für Unternehmenund Beschäftigte .
Gleichzeitig sagen Sie auf Seite 2 in der Begründung Ih-res Antrages, es sei „eine politische Abwägung, ob Ge-meinwohlgründe im Einzelfall die wettbewerbsverzer-renden Folgen einer Fusion aufwiegen“, und die müsseausführlich geprüft werden .Ja, meine Damen und Herren, die Tatsache, dass HerrGabriel sich diese Zeit genommen hat, dass er mit allenInteressengruppen ausführlich gesprochen hat – mit denGewerkschaften, mit den Arbeitnehmervertretungen, mitKaiser’s Tengelmann, mit Edeka, mit denen, die tatsäch-lich dort das Sagen haben –, belegt doch gerade eindeu-tig, dass er sich klar und intensiv mit der Frage befassthat und dass er es sich mit der Entscheidung nicht leichtgemacht hat .
Hinsichtlich einer Diskussion über die Abwägung, dieSie auch auf der letzten Seite Ihrer Drucksache in derBegründung fordern, liegen die Argumente doch auf derHand . Ich möchte sie hier auch noch einmal für die All-gemeinheit wiederholen und betonen, worum es bei derFusion von Kaiser’s Tengelmann mit Edeka geht .Der Minister hat das erste Mal in der Geschichteder Bundesrepublik entsprechende Auflagen erteilt undBedingungen gestellt, nämlich dass 16 000 Beschäfti-gungsverhältnisse erhalten bleiben müssen . Nur danndarf fusioniert werden . Sie müssen aber nicht einfach nurerhalten bleiben, sondern müssen durch rechtssichereTarifverträge und eine Kontrolle des Arbeitsplatzerhaltsdurch Gewerkschaften, wie es eben Herr Schlecht schonangesprochen hat, garantiert werden . TarifvertraglicheRegelungen müssen also zwischen Edeka und Verdi ge-troffen werden; diese müssen fünf Jahre gelten, und dieArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen eine zu-sätzliche Zusage erhalten, dass nach diesen fünf Jahrennoch einmal zwei Jahre lang keine betriebsbedingtenKündigungen ergehen dürfen . Das heißt sieben JahreRechtssicherheit für die Mitarbeiterinnen und Mitarbei-ter von Kaiser’s Tengelmann . Ich glaube, dass es rich-tig und wichtig war, dass erstmals in der Geschichte einWirtschaftsminister diese sozialpolitischen Bedingungenin eine Ministererlaubnis mit aufgenommen hat .
Wenn das für Sie kein Gemeinwohlargument ist und fürSie nicht höher wiegt als das Wettbewerbsrecht,
dann, muss ich sagen, kann ich Ihnen an dieser Stelleauch nicht helfen .Ich frage mich: Wo waren die Grünen als Antragstel-ler, als es um die Frage ging, bei Kaiser’s TengelmannArbeitsplätze zu sichern? Die Diskussion läuft ja nichterst ein halbes Jahr . Die gibt es ja schon einige Jahre .Da hätte ich erwartet, dass Sie Vorschläge unterbreitenund nicht hinterher kommen und nörgeln, so wie Sie esauch 2006/2007 gemacht haben, als die letzten Minister-erlaubnisse ergangen sind . Damals – daran möchte ichauch Herrn Heider noch einmal erinnern – war es derWirtschaftsminister der CDU/CSU, nämlich MichaelGlos, der hier entsprechende Ministererlaubnisse erteiltMarcus Held
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hat . Auch das möchte ich an dieser Stelle der Vollständig-keit halber noch einmal sagen .Nein, meine Damen und Herren, wir als SPD sindfroh und zufrieden mit der Entscheidung unseres Mi-nisters Sigmar Gabriel, dass hier 16 000 Menschen undihre Angehörigen bzw . Familien weiterhin in sozial ver-antwortlichen, gut bezahlten und tariflich gebundenenArbeitsverhältnissen bleiben . Dass Sie den Erhalt vonArbeitsplätzen falsch finden, das finden wir sehr traurig.Vielen Dank .
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf der Drucksache 18/8078 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall . Dann ist
die Überweisung so beschlossen .
Wir kommen damit zum nächsten Tagesordnungs-
punkt, dem Tagesordnungspunkt 18:
– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes über eine finanzielle Hilfe
Drucksachen 18/8040, 18/8261, 18/8461
Nr. 1.4
Beschlussempfehlung und Bericht des Sport-
ausschusses
Drucksache 18/8515
Drucksache 18/8528
Zu diesem Gesetzentwurf liegt ein Änderungsantrag
der Fraktion Die Linke vor .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Auch dazu
sehe ich keinen wirklichen Proteststurm . Also können
wir so verfahren .
Dann will ich mal einen Verfahrensvorschlag machen .
Bei gelegentlichen Überlegungen, die wir im Ältestenrat
angestellt haben, was man vielleicht zur Verlebendigung
der Debatten tun könnte, ist uns nämlich in den Sinn ge-
kommen, ob wir nicht gelegentlich, vor allen Dingen bei
den ohnehin kurzen Beiträgen vom Platz aus miteinan-
der reden sollten, statt hier feierliche Reden vom Pult aus
zu halten . Jeder kann das also so machen, wie es ihm
am wohlsten ist . Aber diejenigen, die meinen, ihre Rede
würde auch vom Platz aus nichts an Wirkung verlieren,
möchte ich hiermit ausdrücklich ermutigen, davon gege-
benenfalls Gebrauch zu machen .
Die Redezeit wird dadurch auch nicht kürzer .
Der Erste, dem ich das Wort erteile, ist der Kollege
Ingo Wellenreuther für die CDU/CSU-Fraktion .
Er hat fünf Minuten Redezeit, was man im Augenblick
wegen eines Ausfalls der Technik nicht sehen kann . Er
weiß es, die anderen wissen es jetzt auch . – Bitte schön .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Herr Präsident, es würde mich überfordern, michjetzt so schnell umzustellen und vom Platz aus zu reden .Deswegen bleibe ich am Anfang hier vorne stehen .
Meine Damen und Herren, es ist inzwischen Allge-meingut: Der Sport hat herausragende Bedeutung in un-serer Gesellschaft . Er begeistert, er weckt Emotionen,er verbindet Menschen über Grenzen hinweg und leisteteinen Beitrag zur Integration . Sportlerinnen und Sportlersind Vorbilder. Viele Kinder finden nur wegen bekannterund berühmter Sportlerinnen und Sportler den Zugangzum Sport . Weil das so ist, ist die Bedeutung eines ehr-lichen Sports umso höher . Im vergangenen Jahr habenwir deshalb das Anti-Doping-Gesetz verabschiedet, umgegen die vorzugehen, die dopen . Dieses Gesetz ist einechter Meilenstein in der Sportpolitik und in der Doping-bekämpfung . Wie nötig das ist, zeigen die aktuellen Bei-spiele in der russischen Leichtathletik .Doping schadet nicht nur dem Ansehen und der Inte-grität des Sports, sondern vor allem auch der Gesundheitder Athletinnen und Athleten . Damit komme ich zumKern dieser Debatte über den vorliegenden Gesetzent-wurf . Auf der Grundlage des sogenannten Staatsplanthe-mas 14 .25 wurden in der ehemaligen DDR Kinder undJugendliche sowie erwachsene Athletinnen und Athletenim staatlichen Auftrag gezielt gedopt, um Leistungen imSpitzensport zu steigern . Dabei war das DDR-Doping einperfides System: Kindern und Jugendlichen wurden vomstaatlich geleiteten Sportmedizinischen Dienst der DDRunter Mitwirkung von Trainern, Betreuern und auch Ver-einsärzten Dopingpräparate ohne deren Wissen verab-reicht . Diese jungen Sportler wurden bewusst getäuschtund zielgerichtet körperlich geschädigt .Die circa 10 000 zwangsgedopten Athleten warenweder über die Medikamente noch über die Folgen derEinnahme dieser informiert . Was damals geschah, warunverantwortlich und erfolgte ohne jegliche Rücksichtauf die Gesundheit . Die überwiegend verabreichten an-abolen Steroide haben zum Teil massive gesundheitlicheSchädigungen bei den Betroffenen verursacht: Krebs-erkrankungen, Organschäden, chronische Schäden amBewegungsapparat, am Gelenkapparat, psychische Be-lastungen oder auch massive Hormonstörungen . Dabeihandelte es sich schlicht um Zwangsdoping und – daskann man wirklich nicht oft genug hervorheben – umDoping im Auftrag des Staates, wobei das DDR-Regi-me – das kam noch erschwerend hinzu – kollusiv undkriminell mit dem DDR-Sport zusammenwirkte .Marcus Held
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Meine Damen und Herren, bereits das erste Dopin-gopfer-Hilfegesetz aus dem Jahre 2002 war ein Zei-chen dafür, dass die Bundesregierung die Schicksale derDDR-Dopingopfer anerkennt, indem sie einen gewissenAusgleich geschafft hat . Das Gesetz verhalf damals aner-kannten DDR-Dopingopfern wenigstens zu einer finanzi-ellen Unterstützung mittels eines Hilfsfonds . Der DOSBund auch das Nachfolgeunternehmen von VEB Jena-pharm, dessen Erzeugnisse damals die DDR-Sportlerverabreicht bekamen, erklärten sich damals ebenfalls zuEntschädigungszahlungen bereit .Im Jahre 2007 war dann der Hilfsfonds des ers-ten Doping opfer-Hilfegesetzes erschöpft . 194 DDR-Doping opfer hatten eine finanzielle Unterstützung desBundes in Höhe von jeweils 10 500 Euro erhalten . Aller-dings wurden damals nicht alle Dopingopfer erfasst . Daslag erstens daran, dass ein Zusammenhang zwischen ge-sundheitlichen Schäden und Doping vielfach erst spätererkennbar war, zweitens daran, dass einige von diesemFonds schlichtweg nichts gewusst haben, und drittens da-ran, dass Dopingspätfolgen erst wesentlich später zutagetraten .Inzwischen ist es anders . Es sind viele Opfer bekanntgeworden, die nach den damaligen Kriterien einen An-spruch auf eine entsprechende finanzielle Hilfe ge-habt hätten. Deshalb war die Neuauflage eines solchenHilfsfonds notwendig . Dem kommen wir heute mit demZweiten Dopingopfer-Hilfegesetz nach .Um den DDR-Dopingopfern schnell und unbürokra-tisch zu helfen, hat das Innenministerium einen neuenFonds aufgelegt . Es stehen jetzt weitere 10,5 MillionenEuro bereit . Anspruchsberechtigt sind die DDR-Doping-opfer, die nach dem ersten Dopingopfer-Hilfegesetz kei-ne finanziellen Hilfen erhalten hatten. Die Zahlungen lin-dern das Leid der Betroffenen natürlich nicht, sie könnenes auch nicht wiedergutmachen, aber wir als Gesetzgeberwerden einer moralischen Verpflichtung gerecht und set-zen damit ein weiteres Zeichen .Ich muss allerdings sagen: Ich halte es für sehr be-dauerlich, dass sich bisher weder der DOSB noch dasgenannte Nachfolgeunternehmen aus der Pharmabranchean der Neuauflage des Fonds beteiligt haben.
Aber was nicht ist, kann ja nach dem Gesetz noch wer-den; die Möglichkeit besteht .Nach § 2 des Gesetzes haben jetzt Personen Anspruchauf Entschädigung, die erhebliche Gesundheitsschädenerlitten haben, weil ihnen als Hochleistungssportlern derDDR oder ihrer Mutter während der Schwangerschaft,übrigens ohne ihr Wissen oder gegen ihren Willen, Do-pingsubstanzen verabreicht worden sind . Wir gehen da-von aus, dass noch circa 1 000 weitere DDR-Dopingopfernach den damaligen Kriterien anspruchsberechtigt sind .Wir stellen mit dem neuen Gesetz also Gleichbehandlungmit bereits Entschädigten her .Ich bin der Bundesregierung sehr dankbar dafür, dasssie diesen Gesetzentwurf sehr beschleunigt und für eil-bedürftig erklärt hat sowie eine Fristverkürzung erreichthat, damit das Gesetz noch vor der Sommerpause verab-schiedet werden kann . Angesichts der schweren Schick-sale vieler DDR-Dopingopfer und vor allem auch imHinblick auf ihren mitunter sehr schlechten Gesundheits-zustand war nämlich Eile geboten .Das kann jetzt auch schnell gehen .
Es muss jetzt auch schnell gehen .
Es muss auch schnell gehen . Herr Präsident, Sie haben
vollkommen recht, ich beeile mich . – Die Anträge kön-
nen schon jetzt an das Bundesverwaltungsamt gerichtet
werden . Sie müssen bis spätestens Juni 2017 eingereicht
sein . Ziel ist es, bereits in der zweiten Jahreshälfte 2016
mit der Auszahlung an Anspruchsberechtigte zu begin-
nen .
Zum Schluss darf ich noch etwas aufgreifen, was ei-
ner unserer Kollegen bereits in der ersten Debatte formu-
liert hat und was ich sehr wichtig finde: Der vorliegende
Gesetzentwurf und unsere heutige Diskussion darüber
müssen ein Signal an Sportlerinnen und Sportler sein, die
sich auf dem Holzweg befinden und meinen, ihre sport-
lichen Leistungen mit Doping steigern zu müssen . Denn
Doping lohnt sich nicht und ist gefährlich . Auf der einen
Seite sind die Gesundheitsrisiken und die Langzeitfolgen
sehr gravierend, auf der anderen Seite wird die Integrität
des Sports dadurch nachhaltig beschädigt .
Die Botschaft des heutigen Tages muss lauten: Wir
unterstützen die Opfer des Zwangsdopings der DDR und
sagen Nein zu Doping .
Herzlichen Dank .
André Hahn ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor allemSie, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Koalitionund von den Grünen, haben noch die Chance, im Sin-ne des Struck’schen Gesetzes dafür zu sorgen, dass derGesetzentwurf das Parlament nicht so verlässt, wie er hi-neingekommen ist, zumal der Gesetzentwurf einen gra-vierenden Mangel aufweist . Dazu liegt der Änderungsan-trag der Linken vor .Allerdings haben die bisherigen Debatten, vor allemjene im Ausschuss, nur zu wenig Hoffnung Anlass gege-ben, dass es noch ein Einlenken gibt . Sie wollen den of-Ingo Wellenreuther
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fenkundigen Mangel aus rein politischen Gründen nichtbeheben .
Einige wollen das deshalb nicht, weil Ihnen die ideo-logisch geprägte Abrechnung und Diskreditierung desDDR-Sports anscheinend wichtiger ist als die wirksameUnterstützung von Leistungssportlern,
die gegen ihren Willen oder ohne ihr Wissen gedopt wor-den sind und dadurch bis heute andauernde erheblichegesundheitliche Beeinträchtigungen erlitten haben .
Wenn für Sie das Wohl der Dopingopfer im Mittel-punkt stehen würde, würden Sie nicht nur eine Einmal-zahlung von 10 500 Euro gewähren, sondern darüberhinaus die unzweifelhaft erforderlichen passgenauenHilfsleistungen für die Betroffenen . Davon ist im vorlie-genden Gesetzentwurf aber keine Rede .
Und wenn für Sie das Wohl der Dopingopfer im Mittel-punkt stehen würde, würden Sie auch im Sinne des ver-fassungsrechtlich gebotenen Gleichheitsgrundsatzes diedeutschen Dopingopfer in Ost und West endlich in glei-cher Art und Weise unterstützen .
Reflexartig – Frau Freitag hat es wieder gezeigt –kommt immer wieder der Verweis, dass es sich beimDDR-Sport um Staatsdoping auf der Grundlage desStaatsplanes gehandelt hat, was im Westen nicht der Fallgewesen sei .
Dazu möchte ich gerne zwei Dinge anmerken .Erstens steht selbst in dem von der Bundesregierungvorgelegten Gesetzentwurf nicht, dass Betroffene nurdann antragsberechtigt sind, wenn sie Dopingopfer imRahmen eines Staatsplanes waren, sondern Anspruchs-voraussetzung ist einzig und allein, dass die Sportler ge-gen ihren Willen und ohne ihr Wissen gedopt wurden .Das aber kann es sowohl in Ost wie West gegeben ha-ben . Und wenn man sieht, wie die Aufklärungsarbeit derunabhängigen Evaluierungskommission Sportmedizinzur Dopingvergangenheit an der Universität Freiburg be-hindert oder sogar boykottiert wird, ahnt man, was dortvertuscht werden soll .Zweitens bestreitet inzwischen nicht einmal mehr dieBundesregierung, dass es auch in der alten und heutigenBundesrepublik Sportler geben kann, die gegen ihrenWillen und ohne ihr Wissen gedopt wurden .
Auch deshalb ist die bislang artikulierte Ablehnung unse-res Änderungsantrags unverständlich .
Entweder es gab keine derartigen Opfer im Westen – dannwerden eben auch keine Anträge gestellt –, oder aber esgibt tatsächlich auch im Westen Betroffene – dann habendie natürlich auch ein Recht auf Entschädigung .Gestatten Sie mir den Verweis auf ein anderes un-rühmliches Kapitel deutscher Geschichte . Der Conter-ganskandal ist leider bis heute ein hochaktuelles Thema .Hier taten Bundestag und Bundesregierung gemeinsammit der Justiz alles, um die Opfer und ihre Angehöri-gen – leider sehr spät und dann noch unzureichend – zuentschädigen . Inzwischen musste durch den Druck derConterganopfer und ihrer Angehörigen sowie vieler Un-terstützer – die Linke eingeschlossen – das Contergan-stiftungsgesetz mehrfach geändert werden; und trotzdemgibt es im Interesse der Opfer noch immer viel zu tun .Die historische Aufarbeitung stößt weiterhin auf Wider-stand, und den größten Teil der Kosten müssen die Steu-erzahler tragen – auffällige Parallelen .Abschließend möchte ich noch eine Anmerkung zumVerein Doping-Opfer-Hilfe machen, den wir um eineStellungnahme zu unserem Änderungsantrag gebetenhaben . Mit den Positionen dieses Vereins stimmen wirwahrlich nicht immer überein, aber Ines Geipel und ihreMitstreiter leisten seit vielen Jahren unter schwierigenBedingungen eine Arbeit, vor der ich großen Respekthabe . Ohne dieses hartnäckige Engagement hätte dieBundesregierung ihren Gesetzentwurf wohl nicht vorge-legt . Frau Geipel hat mir Folgendes geschrieben – Zitat –:Es ist in unseren Augen keine Frage, dass ein Ath-let, der als Minderjähriger von einem westdeutschenTrainer oder auch von einem Trainer nach 1989 ge-gen Wissen und Wollen gedopt wurde und heute mitphysischen und psychischen Schäden zu kämpfenhat, entschädigt werden muss .Und ihr Fazit ist:Politik, zuallererst aber der Sport werden hier nach-legen müssen .Auch deshalb fordern wir, dass sich endlich auch derDOSB an der Finanzierung beteiligt .
Herr Präsident, ich komme zum Schluss: Die Linkewird dem Dopingopfer-Hilfegesetz trotz der geäußertenBedenken zustimmen, weil wir eine Entschädigung derBetroffenen aus der ehemaligen DDR natürlich unterstüt-zen . Ich kann den Dopingopfern in Ost und West aberzugleich versichern, dass dies kein Schlussgesetz ist . DasThema wird uns leider weiter beschäftigen müssen .Dr. André Hahn
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Herzlichen Dank .
Das Wort erhält nun die Kollegin Dagmar Freitag für
die SPD-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lie-ber Herr Kollege Hahn, Sie mögen die Schlachten derVergangenheit immer wieder schlagen wollen: Ich werdeIhnen auf diesem Weg nicht folgen, und ich erkläre Ihnenauch gleich, warum Ihr Antrag heute ohnehin im Prinzipgegenstandslos ist .Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben es gehört,der Bundestag beschäftigt sich heute zum zweiten Malmit einem der dunkelsten Kapitel in der deutschen Sport-geschichte: mit Doping und seinen Folgen . Ich sprechejetzt ausnahmsweise nicht von den vielen vergifteten Sie-gen und Medaillen . Nein, ich spreche von den Folgen,die von gewissenlosen Funktionären, Trainern, Ärztenund Helfershelfern auf Druck staatlicher Stellen in derDDR in Kauf genommen wurden . Die Athletinnen undAthleten waren teilweise nichts anderes als Versuchska-ninchen in einem skrupellosen System . Ich zitiere: DieVergabe der Präparate an die Athleten hat entweder inFremdpackungen bzw . ohne Packung zu erfolgen . Kei-nesfalls dürfen die Athleten in den Besitz der Original-packungen gelangen . – So lautete die Anweisung desSportmedizinischen Dienstes der DDR .Es ist schlichtweg erschütternd, was die Sportlerin-nen und Sportler teilweise schon im Kindesalter an so-genannten unterstützenden Mitteln schlucken mussten .Dies alles, ob Sie das mögen oder nicht, Herr Kollege, istvon staatlicher Seite akribisch erfasst und notiert worden .
Das ist ein Unterschied zu dem, was Sie eben gesagt ha-ben . Die Schäden der Opfer offenbaren die gesundheitli-chen, aber auch die seelischen Qualen . An diesen Schä-den werden sie im Übrigen bis an ihr Lebensende leiden .Daher wollen wir die Betroffenen, die keine Hilfen ausdem ersten Dopingopfer-Hilfegesetz bekommen haben,mit diesem zweiten Gesetz unterstützen .
Die Bundesregierung und das Parlament bzw . dieKoalitionsfraktionen stellen sich dieser Verantwortung .Aber – da teile ich die Meinung meiner Vorredner – essollten wahrlich auch andere Akteure in die Pflicht ge-nommen werden . Wenn ich kurz einen Blick zurück wer-fen darf: Die Auflage des ersten Dopingopfer-Hilfsfondsist jetzt 14 Jahre her . Durch diese etwas längere Zeitspan-ne ist offensichtlich auch die Chronologie der Vorgängeim Gedächtnis vieler etwas verblasst . Daher muss ich dieRolle des organisierten Sports an dieser Stelle noch ein-mal ins Gedächtnis rufen: Die damalige Dachorganisa-tion, der Deutsche Sportbund, hatte sich nämlich nicht,wie gelegentlich fälschlicher Weise dargestellt wurde, imJahr 2002 an dem Fonds beteiligt, obwohl ausdrücklich,wie auch jetzt, geregelt war, dass Zuwendungen von drit-ter Seite zulässig sind, und insbesondere der autonomeSport aufgerufen war, seinen Beitrag zu leisten .Das Gegenteil war der Fall: Der autonome Sport – da-mals der Deutsche Sportbund – hatte zunächst jeglicheBeteiligung abgelehnt . Erst durch einen Rechtsstreit miteiner ehemaligen DDR-Schwimmerin, die Schadenser-satz vom DOSB als Rechtsnachfolger des NationalenOlympischen Komitees forderte, kam dann Bewegung indie Sache . Das Landgericht Frankfurt bestätigte nämlich,dass der Deutsche Olympische Sportbund Rechtsnach-folger des NOK sei und damit grundsätzlich in Anspruchgenommen werden könne . Daraufhin hatten die Betrof-fenen Entschädigungsansprüche gegenüber dem DOSBgeltend gemacht, und es kam zu einer außergerichtlichenEinigung . Das war allerdings im Jahr 2006, vier Jahrenach Inkrafttreten unseres Gesetzes . Alle anerkanntenDopingopfer des DDR-Sports erhielten somit eine wei-tere Einmalzahlung von 9 250 Euro .Es scheint aber völlig in Vergessenheit geraten zu sein,dass auch dieser außergerichtliche Vergleich nur deshalbzustande gekommen ist, weil das Bundesinnenministe-rium eine finanzielle Unterstützung des DOSB in Höhevon 1 Million Euro vorgenommen hatte . Der Löwenan-teil kam auch hier, wie so oft, vom Bund . Ich denke, dassollte an dieser Stelle wirklich noch einmal erwähnt wer-den . Der DOSB hat sich dann mit 500 000 Euro beteiligt .Die Opfer mussten flugs schriftlich erklären, auf jeglicheweiteren Ansprüche gegenüber dem DOSB zu verzich-ten . Deckel zu, Fall erledigt – zumindest aus Sicht desSports .Eine finanzielle Beteiligung – wen wundert es? – istauch beim Zweiten Dopingopfer-Hilfegesetz trotz ein-deutiger Aufforderung, beispielsweise seitens des Sport-ministers, nicht in Sicht . Stattdessen hat die Führungs-spitze des DOSB anlässlich des kürzlich begangenenzehnjährigen Jubiläums vor einigen Tagen tatsächlichverlauten lassen – ich zitiere –:Jetzt sind wir froh, dass Bundesregierung und Bun-destag eine weitere Entschädigungswelle durchfüh-ren wollen . Der DOSB hat diese Aktivitäten vomersten Tag bis heute stets aktiv unterstützt .Ich war ein bisschen fassungslos, aber wahrscheinlichnicht nur ich . Dieses Muster, liebe Kolleginnen undKollegen, kommt wohl nicht nur mir bekannt vor . DieHaltung des Dachverbands im deutschen Sport bleibt,wie sie schon im Jahr 2002 war: ein Armutszeugnis an-gesichts dessen, was eben auch im Namen des Sportsjungen Menschen angetan worden ist . Deshalb wird esSie nicht überraschen, dass auch ich an dieser Stelle denDOSB wirklich noch einmal auffordere, seine Haltungzu überdenken und seinen Teil der Verantwortung anzu-erkennen .Nun zu Ihrem Antrag, Herr Kollege Hahn . Sie for-dern eine Einbeziehung von West-Dopingopfern . Darü-ber kann man reden, aber nicht heute . Wer das nämlichheute fordert, lieber Herr Kollege, macht das im Wissen,Dr. André Hahn
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dass er damit dieses Zweite Gesetz über eine finanzielleHilfe für Dopingopfer der DDR komplett infrage stellt;denn es gibt einen Beschluss des Haushaltsausschussesvom April 2016, mit dem der Haushaltsausschuss demGesetzentwurf der Bundesregierung unter dem ausdrück-lichen Vorbehalt zugestimmt hat, dass der federführendeSportausschuss – Sie waren dabei – keine Änderungenam Gesetzentwurf mit erheblichen finanziellen Auswir-kungen empfiehlt.
Dieser Beschluss des Haushaltsausschusses, Herr Kolle-ge, erfolgte einstimmig, also auch mit den Stimmen derFraktion Die Linke . Vielleicht reden Sie einmal mit Ihreneigenen Leuten . Dann würden solche Dinge wie heutenicht passieren . Ich denke, Herr Hahn, Sie wissen dasganz genau .Daher stellt sich aus meiner Sicht wirklich die Frage:Wollen Sie etwa mit dem heutigen Antrag das ganze Ge-setz zu Fall bringen? Schon allein deshalb, dass das nichtpassiert, werden wir Ihrem Antrag nicht zustimmen .Vielen Dank .
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-
legin Monika Lazar das Wort .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Heute stimmen wir über einen Gesetzentwurf ab, derauch mir persönlich sehr am Herzen liegt, nämlich dasZweite Dopingopfer-Hilfegesetz . Für uns Grüne ist esein wichtiges Ergebnis, über das wir wirklich sehr frohsind . Selbstverständlich hätten wir uns dieses Gesetzschon sehr viel früher gewünscht, aber manchmal mussman eben etwas länger Überzeugungsarbeit leisten unddie Koalition zu ihrem Glück zwingen .
Aber besser spät als nie . Wir werden diesem Gesetzent-wurf selbstverständlich zustimmen .Die Politik hat also ihre Hausaufgaben gemacht . An-ders sieht es leider beim organisierten Sport aus . Es istja von allen anderen Rednerinnen und Rednern schonangesprochen worden: Wir würden uns eine konkretefinanzielle Beteiligung des DOSB durchaus wünschen.Doch bis jetzt gibt es leider nur Sonntagsreden . Die Redevon DOSB-Präsident Alfons Hörmann beim Festakt am20 . Mai ist von Frau Freitag schon zitiert worden . Auchich zitiere daraus, weil der vorherige Satz ebenfalls inte-ressant ist:Wir . . .– sprich: der DOSB –haben schon vor zehn Jahren die Initiative ergriffenund mit Hilfe des Bundes und unter Einbeziehungdes Herstellerunternehmens Jenapharm viele Do-pingopfer entschädigen können . Jetzt sind wir froh,dass Bundesregierung und Bundestag eine weite-re Entschädigungswelle durchführen wollen . DerDOSB hat diese Bemühungen auf politischer Ebenestets aktiv unterstützt .Mit Verlaub, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich findediese Aussage einfach nur dreist .
Nachdem sich die Politik zu einer Neuauflage ent-schieden hat, steht der DOSB immer noch auf der Brem-se . Der Verein Doping-Opfer-Hilfe bezeichnet die Aus-sagen Hörmanns auch als „Offensivlügen“ . Ganz falschist das leider nicht . Aber es ist für den DOSB noch nichtzu spät . Vielleicht sollte man das zehnjährige Jubiläum,auch wenn es ein paar Tage oder Wochen her ist, nochnutzen, um die Dopingopfer nicht im Regen stehen zulassen .Aber auch wir sollten uns nicht zurücklehnen . Denn,so schön wie die Zahlungen sind, es sind Einmalzahlun-gen . Viele Opfer können jetzt erst daran teilhaben, weilsie bei der ersten Auflage 2003 nicht erfasst waren. DieseEntschädigungen sind für einige auch eine moralischeAnerkennung des Unrechts, das ihnen in der DDR wi-derfahren ist . Deshalb bleibt für uns Grüne klar: Blei-bende Schäden benötigen auch bleibende Hilfen . Wirbleiben daher dabei, dass wir uns eine Rentenzahlung fürSchwerstfälle im DDR-Doping wünschen .
Dazu müssten die DDR-Dopingopfer nur mit insSED-Unrechtsbereinigungsgesetz aufgenommen wer-den . Vielleicht lässt sich die Koalition ja noch zu diesemSchritt bewegen .Zum Schluss möchte auch ich noch etwas zum Än-derungsantrag der Linksfraktion sagen . Auf den erstenBlick klingt es nachvollziehbar . Allerdings können wirdiesem Antrag nicht zustimmen . Natürlich gab es auchin Westdeutschland Doping, und das gibt es in ganzDeutschland heute noch . Dennoch ist es eine besondereSache, wenn ein Staat Doping von oben verordnet . DerStaatsplan 14 .25 des ZK der SED vom Oktober 1974 istschon angesprochen worden . Für Westdeutschland wis-sen wir bisher noch nichts von einer flächendeckendenDopinganordnung durch Politik oder Sport .In den letzten Jahren wurde von Historikern der Be-griff des systemischen Dopings in der Bundesrepublikbis 1990 verwendet . Das bedeutet Doping im kleinenKreis und mit großen individuellen Varianten des Do-pingmissbrauchs durch Sportler, Trainer und Mediziner .Noch gibt es keinen Beweis für ein staatlich verordnetesDoping . Aber glauben Sie uns: Wenn sich herausstellensollte, dass es auch in Westdeutschland eine Dopingan-ordnung von oben gegeben haben könnte, wären wirsicherlich die Letzten, die sich von einem weiteren Ent-schädigungsfonds, dann für West-Dopingopfer bis 1990,nicht überzeugen lassen würden . Das müsste dann neuberaten werden .Dagmar Freitag
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Vielen Dank .
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Karin Strenz für die CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einganz persönlicher Blick zurück in meine eigene Vergan-genheit: Aufgewachsen bin ich in der ehemaligen DDR .Ich war neun oder vielleicht zehn Jahre alt, als sich inmeinem Zuhause die Sportlehrer an meiner Schule dieKlinke in die Hand gaben . Da saßen sie nun und redetenauf meine Eltern ein . Ja, ich war – die Betonung liegtnatürlich auf „war“ – eine echte Sportskanone . Selbstdie Jungs zwei Klassenstufen höher konnten mich beimLaufen nicht einholen; sie waren chancenlos . Dafür stiegallerdings die Chance, als junger Kader für die KJS – dasZauberwort für „Kinder- und Jugendsportschule“ – ak-quiriert zu werden .Mein Vater – stolz wie Bolle auf seine Lütte, gebauch-pinselt durch Vater Staat – war begeistert . Meine Mut-ter – immer darauf bedacht, ihr Kind zu behüten und zubeschützen, es nicht zu früh aus der Familie zu geben undzu entlassen – hat den familieninternen Machtkampf ge-wonnen . Die kleine Karin – ohne Ahnung – ging weiteran drei Nachmittagen die Woche in ihre Sport-AG undlief weiter fröhlich und unbeschwert anderen davon .Wovor ich in Wahrheit bewahrt blieb, ist mir seiner-zeit natürlich komplett verborgen geblieben . Heute binich unendlich dankbar, dass mir das Schicksal der Do-pingopfer aus dem DDR-Staatsplan 14 .25 erspart blieb .Unfassbar, dass dieses Regime noch nicht einmal vorKindern und Jugendlichen haltgemacht hat und lebens-bedrohliche und lebensvernichtende Maßnahmen ergriff,mit dem Wissen, dass sie die Menschen und die Seelenzerstören, nur um bei Spielen in Gold zu glänzen .Was passiert wäre, wenn bei mir die Entscheidungein anderes Ende gefunden hätte, ist uns durch die vie-len, vielen überaus schweren Schicksale von Sportlern,die in der Vergangenheit systematisch auf Befehl derDDR-Führung gedopt wurden, nun glasklar geworden .Wir haben eine schreckliche Bilanz zu verzeichnen, diein unseren Augen erneut dringenden Handlungsbedarferfordert .Wenn nicht gleich und unmittelbar, dann wurden dievielen gesundheitlichen Folgen erst später – oder aucherst sehr viel später – ersichtlich . Das Gravierende, garMenschenverachtende daran: Die gefährlichen Doping-mittel, die zu enormer Leistungssteigerung führen soll-ten, wurden den Athleten nichtwissentlich verabreicht .Sie hatten schlicht und ergreifend keinen blassen Schim-mer davon, welche qualvollen Konsequenzen ihre großeFreude am Sport für ihr Leben noch haben sollte . Das istzutiefst bitter . Umso wichtiger ist es, dass wir den zahl-reichen Opfern jetzt zügig unter die Arme greifen . Dieswollen wir mit der heutigen Verabschiedung des ZweitenDopingopfer-Hilfegesetzes auf den Weg bringen .Wenn wir heute von Staatsdoping sprechen, dachtenwir, zumindest bis vor Kurzem, dieses Vorgehen sei einRelikt aus vergangenen Zeiten . Doch erst jüngst wurdenwir bedauerlicherweise eines Besseren belehrt .
Während wir uns mit der Aufarbeitung und Anerkennungbefassen, stehen andere erst vor der Realisierung einesnoch nicht abzusehenden Scherbenhaufens . Ein Beispiel:Russland hat zwar erste Konsequenzen gezogen; dochnoch kennen wir die Tragweite des Ausmaßes nicht . Dasist zweifellos ein schmerzhafter Paukenschlag für den in-ternationalen Sport, der, sollten sich die Vorwürfe so be-wahrheiten, noch lange und vor allem im wahrsten Sinnedes Wortes tief in den Knochen stecken wird .Die Verantwortlichen richten einen unermesslichenSchaden für diesen unseren internationalen Sport an,den wir lieben und der uns schon über Generationen hin-weg begeistert hat . Das ist nicht hinnehmbar, und das istschändlich, vor allem gegenüber den fairen und sauberenSportlern .Wir sollten uns die Frage stellen, was die Teilnahmean Olympischen Spielen für einen Sportler, der ehrlichund fair mit seinen Mitstreitern um den Sieg ringen will,überhaupt bedeutet . Ich denke, für viele ist es das Ereig-nis schlechthin; das ist eine wahrhafte Lebensleistung .Die emotionale Bedeutung sollte in keinem Fall unter-schätzt werden . Denn bis ein Sportler die einzigartigeChance erhält, an so einem Event teilzunehmen, muss ereinen steinigen Weg beschreiten und einen langen, an-strengenden Kampf führen .Nur die Besten der Besten werden sich hier miteinan-der messen . Wer das geschafft hat, kämpft schließlichum das ganz, ganz große Los: um einen Platz auf demSiegertreppchen, darum, in einer feierlichen Zeremonieeinmal im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen und fürseine außerordentlich besondere Leistung vor den Augenvon Millionen Fans daheim geehrt zu werden . Was mussdas für ein besonderes und verdientes Gefühl für denje-nigen sein!Leider reicht es nicht immer für Platz eins, den Platzganz oben . Wer knapp daneben liegt, muss es auch ver-kraften . Aber umso gewaltiger muss doch die Enttäu-schung für ebendiesen ehrlichen Athleten sein, wenn erdann im Nachhinein erfährt, dass er diese Würdigungdoch verdient hätte, da der vermeintliche Sieger des Do-pings überführt wurde . Schlimmstenfalls liegen dann ir-gendwann die Medaille und ein nettes Schreiben mit denWorten „Herzlichen Glückwunsch“ und „mit tiefem Be-dauern“ lieblos im Briefkasten . Doch das unglaublicheFeeling einer Siegesfeier bei Olympia, das, wofür manso lange gekämpft hat und den Menschen in Erinnerungbleibt, ist vergangen und unwiederbringlich . Für solcheFälle müssen wir alle zusammen ein angemessenes Ze-remoniell erfinden, es kreieren, um die Würdigung derLeistung noch einmal in den Mittelpunkt zu stellen .Monika Lazar
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In neun Wochen ist es wieder so weit . Am 5 . August be-ginnen die Olympischen Spiele in Rio, und ich hoffe, dassbis dahin die Verantwortlichen der jüngsten Vorfälle ange-messen sanktioniert werden . Viel zu oft fehlt genau hierdie Durchschlagskraft für eine angemessene Bestrafung .Wer hingegen in Deutschland betrügt, indem er verbo-tene Substanzen zur Leistungssteigerung zu sich nimmt,muss durch die Verabschiedung des Anti-Doping-Ge-setzes, das wir Ende vergangenen Jahres hier beschlos-sen haben, mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen .Deutschland nimmt seine Aufgabe ernst, Manipulationund Betrügerei im Sport zu bekämpfen .
Frau Kollegin .
Sofort . – In diesem Zusammenhang gehört auch eine
ehrliche und konsequente Aufarbeitung dazu . Wir wollen
unseren Beitrag für die Integrität des Sports, vor allem
für einen sauberen Sport leisten . Wir müssen im Übrigen
alle unsere Höchstleistungen erbringen, im Job wie im
Alltag, und Doping gehört nicht dazu .
Ich schließe die Aussprache .
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Zweiten
Gesetzes über eine finanzielle Hilfe für Dopingopfer der
DDR. Der Sportausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/8515, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/8040 und
18/8261 anzunehmen . Hierzu liegt der vorhin ange-
sprochene Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/8622 vor, über den wir zuerst abstimmen .
Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Änderungs-
antrag abgelehnt .
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen . – Wer stimmt da-
gegen? – Enthält sich jemand? – Damit ist der Gesetzent-
wurf in zweiter Beratung angenommen .
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung . Ich darf diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, bitten, sich von den
Plätzen zu erheben . – Möchte jemand gegen den Gesetz-
entwurf stimmen? – Möchte sich jemand der Stimme ent-
halten? – Dann ist der Gesetzentwurf hiermit einstimmig
angenommen .
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 19:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Susanna
Karawanskij, Klaus Ernst, Jutta Krellmann, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Finanzaufsicht nach Anlagepleiten zum
Schutz von Verbraucherinteressen stärken
Drucksache 18/8609
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Auch hier soll nach einer interfraktionellen Verein-
barung die Aussprache 25 Minuten dauern . – Auch hier
sehe ich dazu keine Einwände . Also verfahren wir so .
Ich erteile das Wort zunächst der Kollegin Susanna
Karawanskij für die Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Worum geht es zu sospäter Stunde? Es geht um Augenhöhe . Wir Linke habeneinen Antrag vorgelegt, der mehr Augenhöhe zwischenIhnen als Kleinanleger und den großen Unternehmen derFinanzbranche schaffen soll .Uns ist es wichtig, dafür zu sorgen, dass Verbrauche-rinnen und Verbraucher vor finanziellen Verlusten beiihrer Geldanlage insbesondere dann geschützt werden,wenn Anbieter unseriös oder gar betrügerisch handeln .Gerade im Bereich des Grauen Kapitalmarkts – das istimmer noch ein weitestgehend unregulierter Markt – gibtes einen unübersichtlichen Wust von Anlegermodellen,die stetig erweitert werden . Für die Verbraucherinnenund Verbraucher, die ihr Geld anlegen, nicht zuletzt, umbeispielsweise etwas für die Altersvorsorge zu tun, unddie dann auch manchmal in risikoreiche Anlageformengetrieben werden, führen illusorische Gewinnverspre-chen oder Schneeballsysteme jährlich zu hohen finanzi-ellen Verlusten .Nun wurde in dieser Wahlperiode – das müssen wirauch anerkennen – bereits mit dem Kleinanlegerschutz-gesetz versucht, Anleger in diesem ungleichen Spiel bes-ser zu schützen. Prospektpflichten wurden verschärft.Es gibt Werbebeschränkungen . Die Finanzaufsicht Ba-Fin kann mittels einer sogenannten Produktinterventionsogar Finanzpraktiken und -instrumente verbieten . Dassind alles Fortschritte, die sich allerdings auf die Phaseder Ausgabe von Wertpapieren beziehen, also auf denVertrieb und den laufenden Handel der Finanzinstrumen-te .Wir möchten mit unserem Antrag den kollektiven Ver-braucherschutz stärken . Dazu bedarf es nur einer ganzkleinen Erweiterung in den entsprechenden Gesetzen,um die genannte Finanzaufsicht, die BaFin, in die Lagezu versetzen, die Anleger zu schützen, nachdem eine An-lagepleite passiert ist . Damit hier keine Missverständnis-se aufkommen: Die BaFin soll eben nicht einzelne Ver-braucherinteressen schützen, sondern die Verbraucherin der Gesamtheit unterstützen . Das soll sie nach einerAnlagepleite tun können und müssen . Damit wird sie ei-nen zusätzlichen Auftrag zur kollektiven Sicherung derRechtsverfolgung bekommen .Karin Strenz
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Das klingt erst einmal sehr technisch, ist aber im Grun-de sehr einfach . Die BaFin muss dafür sorgen, dass sichdie Anbieter nach einer Anlagepleite eben nicht aus demStaub machen, ihre Tat verdecken oder in eine Insolvenzgehen können . Die Praxis zeigt, dass Anbieter oftmalseine Pleite aussitzen, wohl wissend, dass ihnen im Falleeines Scheiterns eines solchen Geldanlagemodells nichtspassiert, unter anderem auch deswegen, weil viele Ver-braucherinnen und Verbraucher schlicht und ergreifendnicht die finanziellen Mittel haben, um einen Fachanwaltzurate zu ziehen . Manche Anbieter setzen auf Verjährungoder darauf, das Ganze zu vertuschen . Danach haben dieKleinanleger nicht die Möglichkeit, Ansprüche geltendzu machen .Kurzum: Pleitemacher haben so gut wie nichts zu be-fürchten, während die Verbraucher auf den Kosten, ver-ursacht durch die finanziellen Schäden, sitzen bleiben.Das muss sich dringend ändern . Meine Damen und Her-ren, wir können das ändern .
Wie ich gerade dargestellt habe: Es geht nur um eine klei-ne Ergänzung, für die ich ausdrücklich werben will . DieBaFin kann es so ermöglichen, dass Verbraucherinnenund Verbraucher überhaupt erst einmal die Gelegenheitzur Rechtsdurchsetzung haben . Das sollte unser aller An-liegen sein .Die von uns vorgeschlagene Formulierung im Antragwäre ein großer Schritt für den finanziellen Verbraucher-schutz . Wir haben in unseren Antrag ganz bewusst keineweiteren Schritte aufgenommen, zum Beispiel die Mög-lichkeit der Gruppenklage, die Einführung einer Prü-fung für Geldanlagen aller Art, also so etwas wie einenFinanz-TÜV . Es wird weiter Anlageskandale geben, diemeist Kleinanlegerinnen und Kleinanleger treffen . Diesebrauchen von uns mehr Rückendeckung .Weil das eine kleine Gesetzesänderung ist, weil wirschon viel für den Verbraucherschutz getan haben undweil Sie beim letzten Finanzmarktnovellierungsgesetzdie Gelegenheit verpasst haben, diese kleine Änderungvorzunehmen, die aber für die vielen Kleinanlegerinnenund Kleinanleger, die mit den Maßnahmen aus unseremAntrag weniger auf sich allein gestellt wären, sehr wich-tig wäre, könnten Sie sich einen Ruck geben und einfachzustimmen .Vielen Dank .
Der Kollege Frank Steffel erklärt jetzt für die CDU/
CSU-Fraktion, ob es diesen Ruck geben wird .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der Kollege Frank Steffel würde sehr gerneerklären, ob wir zustimmen oder nicht zustimmen . Wirhaben nur alle gar nicht genau verstanden, was Sie wol-len . Es ist für uns etwas unklar geblieben, was Sie mitsalbungsvollen Worten konkret vorgeschlagen haben .Dankenswerterweise haben Sie allerdings nicht nur eben,sondern auch in Ihrem Antrag darauf hingewiesen, dassdie Regierungskoalition den Verbraucherschutz in denletzten Jahren so massiv gestärkt hat wie noch keine Re-gierung und keine Koalition vorher .
Insofern können wir heute erst einmal zur Beruhigung alljener, die Sie eben versucht haben, zu verunsichern,
darauf hinweisen, dass der Verbraucherschutz, geradebei den Finanzprodukten, noch nie eine größere Rolle alsheute gespielt hat und dass wir heute das höchste Schutz-niveau in der Geschichte der Bundesrepublik Deutsch-land haben .
Im vergangenen Jahr – ich will uns allen das verge-genwärtigen – haben wir die Aufgaben der Bundesanstaltfür Finanzdienstleistungsaufsicht, der Aufsichtsbehör-de über Banken, Finanzdienstleister, den Aktienhandelund Versicherungen, deutlich – man kann sogar sagen:drastisch – erweitert . Zusätzlich ist sie nun dem Schutzkollektiver Verbraucherinteressen verpflichtet. Das ha-ben Sie eben etwas anders dargestellt . Deswegen will iches noch einmal ausdrücklich betonen . Es ist gesetzlichverankert, dass die BaFin auch dem Schutz kollektiverVerbraucherinteressen verpflichtet ist, und diese Rol-le füllt sie nach allem, was wir sehen und hören, auchaußergewöhnlich kraftvoll aus . Nahezu wöchentlich un-tersagt aufgrund dieser neuen Gesetzesmöglichkeit dieBaFin Angebote von Produkten, ordnet die Abwicklungunerlaubter Geschäfte an und warnt vor riskanten Anla-geprodukten . Das ist auch in diesem Bereich der besteVerbraucherschutz, den wir jemals hatten .Zur Unterstützung hat die Koalition übrigens bei denVerbraucherzentralen den Finanzmarktwächter neu ge-schaffen . Ich will auch das noch einmal ausdrücklichunterstreichen . Dort sitzen Experten, die unmittelbar aufHinweise eingehen und unmittelbar für Verbraucher mitdem Ohr am Bürger sind und die Produkte thematisierenund kritisieren, vor denen wir zu Recht gemeinsam war-nen wollen .Sie erfahren aus erster Hand, wo Missstände sind .Wird ein Risiko identifiziert, kann die BaFin den Verkaufproblematischer Produkte an Kleinanleger untersagenund in letzter Konsequenz – was ein sehr weit gehenderSchritt ist, den es in fast keinem anderen Marktsegmentgibt – die Produkte sogar komplett verbieten . Man über-trage das einmal auf andere Teile unserer Wirtschaft . Dawürde es zu Recht einen erheblichen Aufschrei von Kon-sumenten und Verbrauchern geben .Obwohl das Kleinanlegerschutzgesetz noch keinezwölf Monate in Kraft ist, haben wir es bereits sinnvollgeändert . Ich will auch darauf hinweisen; denn es ist völ-lig klar: Unternehmen sind jetzt zusätzlich gezwungen,Susanna Karawanskij
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sämtliche von der BaFin angeforderten Unterlagen un-verzüglich herauszugeben . Die BaFin kann Vermögens-werte einfrieren oder Anbietern die Zulassung komplettentziehen . Diese Befugnisse sind außergewöhnlich um-fassend . Sie wirken abschreckend, und sie ermöglichender Behörde ein sehr gezieltes Durchgreifen im Interesseder Verbraucher .Uns allen ist bewusst – das müssen wir nicht immerwieder betonen, aber wir tun es gern –: Wir sind keines-wegs am Ziel . Wir werden auch nie am Ziel sein . Denn esist wie in allen Bereichen des Lebens: Die Märkte entwi-ckeln sich weiter . Den Menschen, ob gut meinenden oderböse meinenden, kriminellen oder weniger kriminellen,fällt immer wieder etwas Neues ein . Unseriöse Anbietersuchen sich neue Wege, um an das Geld von Verbrau-chern und Anlegern zu kommen . Daher haben wir ver-einbart, das Gesetz Ende 2016 auf seine Wirksamkeit zuüberprüfen und damit bereits ein Jahr nach Inkrafttretennoch einmal nach Bedarf zu ergänzen .Viele Schutzmöglichkeiten für Verbraucher vor Risi-ken im Finanzmarkt ignorieren Sie in Ihrem Antrag völ-lig . Ich will nur auf den Ombudsmann hinweisen, den esschon sehr lange gibt . Das ist eine große Errungenschaft,die übrigens außergewöhnlich intensiv genutzt wird . DieVerfahren sind kostenfrei . Sogar die Versicherer bezah-len die Verfahren im Zweifelsfall . Auch die Behauptung,es gebe keinen Rechtsschutz, ist falsch . Natürlich sindauch diese Verfahren vom Rechtsschutz gedeckt . Wirhaben die Haftpflichtversicherung für Finanzvermittlermehrfach ausgeweitet und haben damit auch vielen Ver-brauchern berechtigte Sorgen genommen .So schutzlos, unwissend und unbeholfen, wie Sie dieBürger darstellen, sind diese in der Regel Gott sei Danknicht . Das zeigen Hunderte, ja Hunderttausende von Ver-fahren, die beispielsweise nach der Pleite von LehmanBrothers auch zur Entschädigung von Anlegern geführthaben . Das zeigen auch Kapitalanlegermusterverfah-ren . Denken Sie an die Verfahren gegen die Telekomund gegen die Daimler AG . Das zeigen hunderttausendVerfahren bei Bankenombudsmännern im Jahr 2014 . Ichwiederhole: 100 000 Bürgerinnen und Bürger haben vondiesem Recht Gebrauch gemacht . Sie sind weniger unin-formiert und unbeholfen, als Sie es darstellen .Der informierte Verbraucher hat also unzählige Mög-lichkeiten, auch nach einem Schaden auf dem Finanz-markt zu seinem Recht zu kommen . Wer allerdingsüberhaupt kein Interesse an Informationen über Finanz-produkte hat, dem kann ich nur raten: Lassen Sie dieFinger von diesen Produkten . Denn wenn man Produktenicht versteht, dann sollte man sie nicht kaufen und seinGeld besser anders einsetzen .
Der jetzt eigentlich vorgesehene Kollege Gerhard
Schick gibt seine Rede zu Protokoll . Das macht die De-
batte nicht unbedingt lebhafter, verkürzt aber die Debat-
tenzeit, sodass als Nächstes gleich die Kollegin Sarah
Ryglewski für die SPD-Fraktion das Wort erhält .
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lie-be Frau Karawanskij, Sie wissen ja, dass mir das ThemaVerbraucherschutz und insbesondere auch die Belan-ge der Kleinanlegerinnen und Kleinanleger besonderswichtig sind . Ich betone das an dieser Stelle auch nocheinmal ganz explizit . Ich glaube, das Vertrauen, das inder Finanzmarktkrise verloren gegangen ist, stellen wirin erster Linie nicht dadurch wieder her, dass wir überTrennbanken, über Hochfrequenzhandel und über andereDinge diskutieren, sondern das stellen wir im Wesentli-chen dadurch wieder her, dass wir den Leuten das Gefühlgeben, dass ihre Geldanlagen bei uns in sicheren Händensind, dass wir uns darum kümmern, dass sie da gut ab-gesichert sind und dass sie ihr sauer Erspartes nicht anirgendeinen windigen Anlageberater verlieren .
In dieser Hinsicht, Frau Karawanskij, sind wir unseinig . Aber wir sind uns leider nicht in der Bewertungeinig, ob die hier zur Verfügung stehenden Instrumenteeigentlich ausreichen . Ich glaube, dass wir schon jetzt dieMöglichkeit haben, mit dem, was wir jetzt beschlossenhaben, zu einem wirksamen Verbraucherschutz zu kom-men . Die verschiedenen Maßnahmen, die wir beschlos-sen haben – das wurde auch schon ausführlich darge-stellt –, sind wichtige Schritte: angefangen bei der BaFinals kollektive Verbraucherschutzinstitution bis hin zuWarnhinweisen zu Produkten des Grauen Kapitalmarktsetc . Ich glaube, das muss ich hier nicht weiter benennen .Besonders wichtig ist auch – darauf haben Sie selberhingewiesen –, dass wir eben auch die Möglichkeit ha-ben, diese marktschreierischen Werbestrategien endlichzu verbieten .
– Ja, dazu komme ich gleich auch noch einmal . – Wennwir jetzt einmal an Prokon denken: Ich erinnere michnoch gut an diese Aufhänger „20 Prozent risikolos“, diein der Straßenbahn hingen . Alles das – da dürfen wir unsdoch nichts vormachen – hat auch dazu beigetragen, dassMenschen überhaupt in diese Situation gekommen sind .Wir tun ja nicht nur etwas im Bereich der Informa-tion . Das, was Sie sagen, ist ja im Grunde genommennicht verkehrt, nämlich dass wir einen Schritt weiter-gehen . Aber da tun wir doch einiges . Es ist ja nicht so,als würden wir nur sagen: Wir informieren, sodass sichder Verbraucher erkundigen kann . Wenn er dann auf einProdukt hereinfällt, ist er selber schuld . – Wir haben jaauch in anderen Bereichen etwas gemacht . Die BaFin hatdie Möglichkeit, Produkte, die sich als schädlich erwei-sen, vom Markt zu nehmen . Das ist – das hat auch HerrSteffel gesagt – eine ganz große Errungenschaft und et-was, was in anderen Bereichen undenkbar wäre .Wir haben mit dem Finanzmarktwächter eine Mög-lichkeit geschaffen, dass man sich den Finanzmarkt ausder Perspektive der Verbraucherinnen und VerbraucherDr. Frank Steffel
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anguckt, frühzeitig Auffälligkeiten benennt und dannauch tätig werden kann .
Ich glaube, dass damit schon ein Großteil der Punkte, diein Ihrem Antrag aufgegriffen werden, geregelt ist .Ich gehe nun einmal auf die Artikel ein, die Sie in Ih-rem Antrag als Referenz genannt haben, damit Sie auchsehen, dass wir uns das doch sehr genau angeguckt haben .Sie haben darin einen Artikel der Verbraucherschutzzen-trale Hamburg mit dem Titel „Geschlossene Fonds . GuteChancen vor Gericht“ zitiert . Verbraucherinnen und Ver-braucher haben die Möglichkeit, bei Anlagepleiten vorGericht ihre Rechte geltend zu machen . Das Problem istnur, dass viele Leute einfach einen großen Respekt vordem haben, was vor Gericht passiert . Natürlich gibt esauch ein gewisses Risiko, aber am Ende bekommen dieLeute meistens recht; die müssen das Ganze noch nichteinmal letztinstanzlich durchklagen, sondern am Endeknicken die meisten Banken sogar ein, gehen in den Ver-gleich, weil sie wissen, dass es ausgeurteilt wird .Wir haben mit dem Finanzmarktwächter und im Üb-rigen auch mit den Verbraucherzentralen ganz wertvolleInstrumente in der Hand, die den Menschen nicht nurumfassend Informationen über ihre Rechte zukommenlassen, sondern die ihnen auch konkrete Hilfestellungenanbieten, wie sie rechtlich vorgehen können . Es gibt eineHaftung bei Falschberatung . Das haben wir gerade imRahmen des Finanzmarktregulierungsgesetzes aufgegrif-fen und diskutiert . Ich glaube, da sind wir auf einem ganzguten Weg .
Was die Frage angeht, was passieren soll, wenn amEnde des Tages ein Anbieter in Insolvenz geht, und wasdann, wenn das Geld weg ist, passieren soll, da habe ichmich hier schon, als wir über das Finanzmarktregulie-rungsgesetz diskutiert haben, gefragt, wie Sie das dennmachen wollen . Darauf wäre ich sehr gespannt gewesen .Sie sagen, dass Sie das in Ihrem Antrag klar und präzisedargelegt haben . Vielleicht haben wir alle hier das nichtverstanden, aber, ehrlich gesagt, die konkreten Maßnah-men, die wirksam werden sollen, wenn auf einmal dasGeld weg ist, haben Sie nicht dargelegt . Es hätte michwirklich gefreut, wenn das geschehen wäre . Da habenwir in der Tat eine Regelungslücke, aber noch keine Lö-sung . Diese hätte ich gern von Ihnen gehört .
– Na ja, gut . Das muss ich mir, glaube ich, nicht vorwer-fen lassen .Ich komme zum Schluss . Ich glaube, wir haben hier inden letzten Jahren eine ganze Reihe von Maßnahmen be-schlossen, die uns wirklich auf einen guten Weg gebrachthaben . Herr Steffel hat es gesagt: Verbraucherschutz istetwas, bei dem es ständig Veränderungen gibt . Der Fi-nanzmarkt ist ein Markt, auf dem ständig neue Produkteangeboten werden . Das ist ein Hase-und-Igel-Spiel . Damüssen wir immer wieder genau schauen, wie wir danachsteuern können . Da – das kann ich Ihnen verspre-chen – haben Sie mich an Ihrer Seite . Die Offenheit,die signalisiert wurde, wenn es darum geht, die entspre-chenden Gesetze zu evaluieren und zu schauen, wo wirnachsteuern müssen, werden wir uns zu eigen machen .Ich hoffe, dass dann größere Einigkeit als heute Abendherrscht .Vielen Dank .
Der voraussichtlich letzte Redner heute Abend ist der
Kollege Alexander Radwan für die CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Herr Kollege Steffel und Frau Kollegin Ryglewskihaben die Diskussion bereits angesprochen . Ich gehedavon aus, dass die Linke in absehbarer Zeit einen ent-sprechenden Antrag erneut einbringen wird . Vielleichtnehmen Sie dann unsere Anregungen auf .
– Wenn Sie sie immer aufnehmen, dann freue ich michumso mehr . Dann werde ich demnächst darauf zurück-kommen . Aber nicht Versprechen geben, die man nichthalten kann!
Sie haben vorhin in Ihrer Argumentation dargelegt,was passiert, wenn der Anleger wegen einer Insolvenzsein Geld verliert . Wir sprechen von Verbraucherschutzund müssen uns die Frage stellen, wie wir dann dafürsorgen können, dass er die Ansprüche, die aus dem ihmentstandenen Schaden resultieren, durchsetzen kann; dassind zwei unterschiedliche Paar Schuhe .Es wurde schon ausführlich dargelegt, dass der Ver-braucherschutz eine ganz andere Priorität bekommenhat . Ursprünglich war die Finanzaufsicht für die Markt-stabilität, die Risiken und die makroprudenzielle Auf-sicht zuständig . Diese wurde in Deutschland sukzessiveergänzt und immer weiter ausgebaut durch den kollek-tiven Verbraucherschutz . Nun werden Produkte und Ge-schäftspraktiken genau überprüft . Das geht bis hin zuProduktverboten . Die BaFin hat also zukünftig die Auf-gabe, auf diesem breiten Feld tätig zu werden, und zwarnicht nur, wenn allgemeine Hinweise vorliegen, sondernauch, wenn es Einzelhinweise gibt . Wenn sich jemandgegenüber der BaFin entsprechend äußert und wenn dieBaFin bestimmte Einzelfälle mitbekommt, kann sie tätigwerden und dafür sorgen, dass der Verbraucherschutz zurGeltung kommt . Wir sollten nicht ausblenden, dass hiereine Weiterentwicklung stattgefunden hat .Nun stellt sich für mich die Frage, welche Schritte wirdemnächst gehen . Ich ziehe eine Parallele zu anderen Ver-Sarah Ryglewski
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braucherschutzbereichen, um darzulegen, was geschieht,wenn ein entsprechender Schadensfall eingetreten ist . ImBereich der Hygiene haben die Landratsämter die Zustän-digkeit, Maßnahmen zu ergreifen und Betriebe zu kon-trollieren . Ähnliches gilt im Umweltschutz . Nach Ihremvorgeschlagenen System soll das Landratsamt, das für dieEinhaltung der Hygienevorschriften zuständig ist, auchnoch dafür sorgen, dass der Betreffende den Schaden,der ihm entstanden ist, geltend machen kann . Das ist abernicht die Aufgabe hoheitlichen Handelns . Um den Scha-den zu beziffern und entsprechende Ansprüche durchzu-setzen, haben wir Gerichte . Frau Karawanskij, darüber binich auch froh; denn die Gerichte sind dazu da, hoheitlichesund zivilrechtliches Handeln neutral und unabhängig zuüberprüfen . Sollte zum Beispiel die BaFin Hinweisen nichtnachgekommen sein und falsch gehandelt haben, wird dasHandeln der BaFin gerichtlich überprüft werden . Für michist wichtig, dass diese Möglichkeit weiterhin besteht .Wir erleben das gerade bei den Bausparkassen . Die Bau-sparkassen haben zivilrechtlich relevante Kündigungenvorgenommen . Hierzu häufen sich momentan die Gerichts-verfahren . Wir erleben landauf, landab die unterschiedlich-sten Gerichtsentscheidungen in diesem Bereich . Das wirdletztinstanzlich entschieden . Aber die Menschen kommenzu ihrem Recht, wenn es einen Schaden gibt . Deshalb bit-te ich Sie: Erwecken Sie hier nicht den Eindruck, dass dieVerbraucher letztendlich rechtlos sind . Sie haben die Mög-lichkeit, das entsprechend einzuklagen und durchzusetzen .Deshalb wird meine Fraktion Ihren Antrag ablehnen .Besten Dank .
Nun ist auch das geklärt . – Ich schließe die Ausspra-che .1)Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/8609 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federfüh-rung beim Finanzausschuss liegen soll . Gibt es dagegenEinwände? – Das ist nicht der Fall . Dann können wir dasoffenkundig so beschließen .Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 20:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung bewachungsrechtlicher VorschriftenDrucksache 18/8558Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzDie dazu vorbereiteten Reden sollen zu Protokoll ge-geben werden . – Ich sehe niemanden, der etwas dagegenhat .2)1) Anlage 52) Anlage 6Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 18/8558 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt esandere Vorschläge? – Das ist auch nicht der Fall . Dannist die Überweisung so beschlossen .Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur besse-ren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Be-ruf für Beamtinnen und Beamte des Bundesund Soldatinnen und Soldaten sowie zur Än-derung weiterer dienstrechtlicher Vorschrif-tenDrucksache 18/8517Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAuch hier sollen die Reden zu Protokoll gegebenwerden . – Auch hier sehe ich keinen Widerspruch .3)Dann gibt es hoffentlich auch keinen Einwand gegendie Überweisung des Gesetzentwurfes auf der Drucksa-che 18/8517 an die in der Tagesordnung aufgeführtenAusschüsse . – Das ist so . Damit ist die Überweisung sobeschlossen .Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzeszur Änderung des Vierten Buches Sozialge-
Drucksache 18/8487Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Innenausschuss Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GODie Reden werden zu Protokoll gegeben . Einwän-de? – Keine .4)Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfsauf Drucksache 18/8487 an die in der Tagesordnung auf-geführten Ausschüsse vorgeschlagen . Andere Vorschlä-ge? – Keine . Dann ist das so beschlossen .Tagesordnungspunkt 23:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zurÄnderung des GAK-GesetzesDrucksache 18/8578Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Innenausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-heit3) Anlage 74) Anlage 8Alexander Radwan
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Weiß jemand, worum es sich dabei handelt?
– Sehr gut . Dann haben wir das mindestens im Protokoll;denn Reden werden dazu auch nicht gehalten, sondernzu Protokoll gegeben .1)Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfsauf Drucksache 18/8578 an die in der Tagesordnung auf-geführten Ausschüsse vorgeschlagen . Einwände? – Kei-ne . Dann ist das so vereinbart .Tagesordnungspunkt 24:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zurÄnderung des Direktzahlungen-Durchfüh-rungsgesetzesDrucksache 18/8514Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-heitDazu hätte ich mir natürlich jetzt wirklich eine spritzi-ge Debatte vorstellen können .
Wir lesen die Reden, die zu Protokoll gegeben wer-den, nach und gewinnen dann sicher eine Vorstellungüber die Debatte, die wir verpasst haben .2)Jedenfalls wird auch hier interfraktionell die Über-weisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/8514 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen . Alternativen? – Keine . Dann ist das so verein-bart .Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be-kämpfung der Verbreitung neuer psychoakti-ver StoffeDrucksache 18/85791) Anlage 92) Anlage 10Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit
Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutzb) Beratung des Antrags der Abgeordneten FrankTempel, Kathrin Vogler, Matthias W . Birkwald,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEFür eine zeitgemäße Antwort auf neue psy-choaktive SubstanzenDrucksache 18/8459Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit
Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
– Alle Zwischenrufe werden anstelle der Reden zu Pro-tokoll genommen .
Na, die Reden auch . Gut .3)Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 18/8579 und 18/8459 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .Sind Sie damit einverstanden? – Was bleibt Ihnen andersübrig . Auch das haben wir damit so beschlossen .Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-ordnung .Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-tages auf morgen, Freitag, den 3 . Juni 2016, pünktlichum 9 Uhr, ein .Die Sitzung ist geschlossen . Machen Sie etwas ausdem Rest des Abends . Alles Gute .