Protokoll:
18173

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 173

  • date_rangeDatum: 2. Juni 2016

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 22:08 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/173 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 173. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2016 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Dr. Egon Jüttner, Karl Schiewerling und Bernhard Daldrup . . . . . . . . . . . . . . . . . 17001 A Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17001 B Absetzung des Tagesordnungspunktes 26 . . . . 17002 A Begrüßung von Vertretern der Botschaften Ar- meniens und der Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17028 A Tagesordnungspunkt 3: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Regulierung des Prostitutions- gewerbes sowie zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen Drucksache 18/8556 . . . . . . . . . . . . . . . . . 17002 B b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung zu den Auswirkungen des Gesetzes zur Rege- lung der Rechtsverhältnisse der Prosti- tuierten (Prostitutionsgesetz – ProstG) Drucksache 16/4146 . . . . . . . . . . . . . . . . . 17002 B Manuela Schwesig, Bundesministerin BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17002 C Cornelia Möhring (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 17003 D Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . . 17005 C Cornelia Möhring (DIE LINKE) . . . . . . . . 17006 B Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17007 D Dr . Carola Reimann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 17008 D Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17009 C Sylvia Pantel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 17010 D Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17012 B Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 17013 C Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17013 D Karin Maag (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 17015 C Tagesordnungspunkt 4: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 zur Verhütung und Be- kämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/629/JI des Rates Drucksache 18/4613 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17017 B Christian Lange, Parl . Staatssekretär BMJV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17017 B Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 17018 C Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17019 D Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17021 D Dr . Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17023 B Dr . Silke Launert (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 17024 C Dr . Matthias Bartke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 17026 A Dr . Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 17026 C Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016II Tagesordnungspunkt 5: a) Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Erin- nerung und Gedenken an den Völker- mord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916 Drucksache 18/8613 . . . . . . . . . . . . . . . . . 17027 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Katrin Ku- nert, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: 100. Jahresgedenken des Völkermords an den Armenierinnen und Armeniern 1915/1916 – Deutschland muss zur Auf- arbeitung und Versöhnung beitragen Drucksachen 18/4335, 18/7909 . . . . . . . . . 17028 A Präsident Dr . Norbert Lammert . . . . . . . . . . . . 17027 D Dr . Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 17028 C Dr . Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 17030 B Dr . Franz Josef Jung (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 17031 D Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17032 D Dr . Christoph Bergner (CDU/CSU) . . . . . . . . 17034 B Dietmar Nietan (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17035 A Dr . Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 17036 C Albert Weiler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 17037 C Dr . Martin Pätzold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 17038 B Tagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Matthias W . Birk- wald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Her- bert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Die Riester-Rente in die gesetzliche Rentenversicherung über- führen Drucksache 18/8610 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17039 B Matthias W . Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . 17039 B Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . . 17041 A Matthias W . Birkwald (DIE LINKE) . . . . . 17041 C Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17043 B Matthias W . Birkwald (DIE LINKE) . . . . . 17044 B Ralf Kapschack (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17045 C Susanna Karawanskij (DIE LINKE) . . . . . . . . 17046 D Jana Schimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 17047 C Cansel Kiziltepe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17048 D Matthäus Strebl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 17050 B Dr . Martin Rosemann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 17051 C Anja Karliczek (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 17052 D Tagesordnungspunkt 31: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Umweltstatistikge- setzes und des Hochbaustatistikgesetzes Drucksache 18/8341 . . . . . . . . . . . . . . . . . 17054 B b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 17. Dezem- ber 2015 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Japan zur Beseitigung der Doppelbesteuerung auf dem Ge- biet der Steuern vom Einkommen und bestimmter anderer Steuern sowie zur Verhinderung der Steuerverkürzung und -umgehung Drucksache 18/8516 . . . . . . . . . . . . . . . . . 17054 B c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Umsetzung der Richtlinien (EU) 2015/566 und (EU) 2015/565 zur Einfuhr und zur Kodierung menschli- cher Gewebe und Gewebezubereitungen Drucksache 18/8580 . . . . . . . . . . . . . . . . . 17054 B d) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Finanzhilfen des Bundes zum Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder und des Kinderbetreuungsfinan- zierungsgesetzes Drucksache 18/8616 . . . . . . . . . . . . . . . . . 17054 C e) Antrag der Abgeordneten Dr . Alexander S . Neu, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Keine Verlegung von Bun- deswehr-Einheiten nach Litauen Drucksache 18/8608 . . . . . . . . . . . . . . . . . 17054 C f) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Nationaler Implementierungsplan zur Umsetzung der EU-Jugendgarantie in Deutschland Drucksache 18/1108 . . . . . . . . . . . . . . . . . 17054 D g) Bericht des Ausschusses für Bildung, For- schung und Technikfolgenabschätzung gemäß § 56a der Geschäftsordnung: Tech- nikfolgenabschätzung (TA): Bilanz der Sommerzeit Drucksache 18/8000 . . . . . . . . . . . . . . . . . 17054 D Zusatztagesordnungspunkt 2: Antrag der Abgeordneten Lisa Paus, Christian Kühn (Tübingen), Kerstin Andreae, weiterer Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 III Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Spekulation mit Immobilien und Land beenden – Keine Steuerbegüns- tigung für Übernahmen durch Share Deals Drucksache 18/8617 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17055 A Tagesordnungspunkt 32: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu der Verordnung der Bundesregierung: Sechste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung Drucksachen 18/7992, 18/8129 Nr . 2, 18/8276 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17055 B b)–i) Beratung der Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersich- ten 313, 314, 315, 316, 317, 318, 319 und 320 zu Petitionen Drucksachen 18/8411, 18/8412, 18/8413, 18/8414, 18/8415, 18/8416, 18/8417, 18/8418 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17055 B Zusatztagesordnungspunkt 3: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. Juni 2015 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Kosovo über die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen Drucksachen 18/8211, 18/8642 . . . . . . . . . 17056 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für wirtschaftliche Zusammenar- beit und Entwicklung zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz, Dr . Frithjof Schmidt, Claudia Roth (Augsburg), weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates über die Unterzeichnung und die vorläufige An- wendung des Wirtschaftspartnerschafts- abkommens zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einer- seits und den SADC-WPA-Staaten an- dererseits, KOM(2016) 8 endg.; Rats- dok. 5608/16 und zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates über die Unterzeichnung und die vorläufige Anwendung des Wirt- schaftspartnerschaftsabkommens zwi- schen den Partnerstaaten der Ostafrika- nischen Gemeinschaft einerseits und der Europäischen Union und ihren Mitglied- staaten andererseits, KOM(2016) 63 endg.; Ratsdok. 6126/16 hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Ab- satz 3 des Grundgesetzes Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit der Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afrika und der ostafrikani- schen Gemeinschaft ablehnen Drucksachen 18/8243, 18/8643 . . . . . . . . . 17056 C Tagesordnungspunkt 7: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Telemediengesetzes Drucksachen 18/6745, 18/8645 . . . . . . . . . 17056 D b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr . Konstantin von Notz, Luise Amtsberg, Volker Beck (Köln), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie den Abgeordneten Halina Wawzyniak, Her- bert Behrens, Dr . Petra Sitte, weiteren Ab- geordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Telemediengesetzes – Störerhaftung Drucksachen 18/3047, 18/3861 . . . . . . . . . 17056 D Marcus Held (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17057 A Dr . Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 17057 D Axel Knoerig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 17059 A Dr . Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17059 D Lars Klingbeil (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17060 D Hansjörg Durz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 17061 D Christian Flisek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17063 A Thomas Jarzombek (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 17063 D Dr . Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17064 C Tagesordnungspunkt 8: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Stärkung der beruflichen Weiterbildung und des Versicherungsschutzes in der Arbeitslosenversicherung (Arbeitslo- senversicherungsschutz- und Weiter- bildungsstärkungsgesetz – AWStG) . Drucksachen 18/8042, 18/8647 . . . . . . 17066 A – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/8648 . . . . . . . . . . . . . . 17066 B Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016IV b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales – zu dem Antrag der Abgeordneten Sabi- ne Zimmermann (Zwickau), Matthias W . Birkwald, Susanna Karawanskij, weiterer Abgeordneter und der Frakti- on DIE LINKE: Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung stärken – zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Kerstin Andreae, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Arbeitslosenversicherung gerechter gestalten und Zugänge ver- bessern Drucksachen 18/7425, 18/5386, 18/8647 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17066 B c) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Poth- mer, Markus Kurth, Beate Müller-Gemme- ke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Arbeits- förderung neu ausrichten – Nachhaltige Integration und Teilhabe statt Ausgren- zung Drucksachen 18/3918, 18/5119 . . . . . . . . . 17066 B Anette Kramme, Parl . Staatssekretärin BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17066 C Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17067 B Albert Weiler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 17068 C Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17069 B Michael Gerdes (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17070 B Uwe Lagosky (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 17071 A Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17072 B Uwe Lagosky (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 17072 C Dr . Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 17072 D Dr . Astrid Freudenstein (CDU/CSU) . . . . . . . 17073 C Tagesordnungspunkt 13: a) Antrag der Abgeordneten Friedrich Osten- dorff, Dr . Anton Hofreiter, Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bäuerli- cher Milchviehhaltung eine Zukunft ge- ben – Milchmenge jetzt begrenzen Drucksache 18/8618 . . . . . . . . . . . . . . . . . 17075 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung und Landwirt- schaft zu dem Antrag der Abgeordneten Dr . Kirsten Tackmann, Karin Binder, Heid- run Bluhm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeord- neten Friedrich Ostendorff, Harald Ebner, Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Milchmarkt stabilisieren – Milch- krise beenden Drucksachen 18/6206, 18/8641 . . . . . . . . . 17075 C Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17075 C Peter Bleser, Parl . Staatssekretär BMEL . . . . . 17077 A Dr . Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . 17078 D Dr . Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . . 17079 D Alois Gerig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 17081 B Rainer Spiering (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17082 B Artur Auernhammer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 17083 C Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . 17084 B Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Das Fachkräftepotenzial ausschöp- fen – Zukunftschancen der deutschen Wirt- schaft sichern Drucksache 18/8614 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17085 B Axel Knoerig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 17085 C Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17086 C Dr . Hans-Joachim Schabedoth (SPD) . . . . . . . 17087 C Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17088 C Jana Schimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 17089 D Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17091 A Dr . Thomas Feist (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 17092 A Tagesordnungspunkt 11: Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Herbert Behrens, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion DIE LINKE: Anerken- nung der sowjetischen Kriegsgefangenen als NS-Opfer Drucksache 18/8422 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17093 B Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 17093 B Dr . André Berghegger (CDU/CSU) . . . . . . . . 17094 C Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17096 A Matthias Schmidt (Berlin) (SPD) . . . . . . . . . . 17097 A Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 17097 D Barbara Woltmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 17098 D Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 V Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17100 A Barbara Woltmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 17100 C Dennis Rohde (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17101 A Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der interna- tionalen Sicherheitspräsenz in Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Tech- nischen Abkommens zwischen der interna- tionalen Sicherheitspräsenz (KFOR) und den Regierungen der Bundesrepublik Ju- goslawien (jetzt: Republik Serbien) und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999 Drucksache 18/8623 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17102 B Dr . Ralf Brauksiepe, Parl . Staatssekretär BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17102 B Dr . Alexander S . Neu (DIE LINKE) . . . . . . . . 17103 B Dirk Vöpel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17104 B Dr . Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17105 B Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 17106 A Dr . Alexander S . Neu (DIE LINKE) . . . . . . . . 17107 A Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 17107 C Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Katja Dörner, Luise Amtsberg, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Elternschaftsvereinbarung bei Samenspende und das Recht auf Kenntnis eigener Abstammung Drucksache 18/7655 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17107 D Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17108 A Dr . Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU) . . . . 17109 A Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 17110 A Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17110 D Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17111 B Alexander Hoffmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . 17112 A Dr . Matthias Bartke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 17113 A Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streit- kräfte an der „United Nations Interim Force in Lebanon“ (UNIFIL) auf Grundlage der Resolution 1701 (2006) und nachfolgender Verlängerungsresolutionen des Sicherheits- rates der Vereinten Nationen, zuletzt Reso- lution 2236 (2015) vom 21. August 2015 Drucksache 18/8624 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17113 C Michael Roth, Staatsminister AA . . . . . . . . . . 17113 D Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 17115 A Jürgen Hardt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 17116 A Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17116 D Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 17117 C Tagesordnungspunkt 15: Antrag der Abgeordneten Karin Binder, Caren Lay, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Bundespro- gramm Kita- und Schulverpflegung – Für alle Kinder und Jugendlichen eine hoch- wertige und unentgeltliche Essensversor- gung sicherstellen Drucksache 18/8611 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17118 B Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 17118 C Katharina Landgraf (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 17119 B Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 17119 D Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17120 C Dr . Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . . 17121 D Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . . 17122 A Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 17122 D Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 17123 D Ursula Schulte (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17124 B Tagesordnungspunkt 16: Zweite und dritte Beratung des von den Frak- tionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Ände- rung des Agrarmarktstrukturgesetzes Drucksachen 18/8235, 18/8646 . . . . . . . . . . . 17125 B Kees de Vries (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 17125 B Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 17126 A Dr . Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . . 17126 D Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17127 D Waldemar Westermayer (CDU/CSU) . . . . . . . 17128 D Johann Saathoff (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17129 D Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016VI Tagesordnungspunkt 17: Antrag der Abgeordneten Katharina Dröge, Kerstin Andreae, Dr . Thomas Gambke, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Für mehr Transpa- renz und demokratische Kontrolle bei der Ministererlaubnis Drucksache 18/8078 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17130 D Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17130 D Dr . Matthias Heider (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 17131 D Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 17133 A Marcus Held (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17134 A Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17134 B Tagesordnungspunkt 18: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes über eine finan- zielle Hilfe für Dopingopfer der DDR (Zweites Dopingopfer-Hilfegesetz) Drucksachen 18/8040, 18/8261, 18/8461 Nr . 1 .4, 18/8515 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17136 B – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/8528 . . . . . . . . . . . . . . . . . 17136 B Ingo Wellenreuther (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 17136 C Dr . André Hahn (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 17137 D Dagmar Freitag (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17139 A Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17140 B Karin Strenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 17141 A Tagesordnungspunkt 19: Antrag der Abgeordneten Susanna Karawans- kij, Klaus Ernst, Jutta Krellmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Finanzaufsicht nach Anlagepleiten zum Schutz von Verbraucherinteressen stärken Drucksache 18/8609 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17142 C Susanna Karawanskij (DIE LINKE) . . . . . . . . 17142 C Dr . Frank Steffel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 17143 B Sarah Ryglewski (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 17144 C Alexander Radwan (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 17145 C Tagesordnungspunkt 20: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung bewachungsrechtlicher Vor- schriften Drucksache 18/8558 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17146 B Tagesordnungspunkt 21: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pfle- ge und Beruf für Beamtinnen und Beamte des Bundes und Soldatinnen und Soldaten sowie zur Änderung weiterer dienstrechtli- cher Vorschriften Drucksache 18/8517 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17146 C Tagesordnungspunkt 22: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Ge- setzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (6. SGB IV-Änderungsgesetz – 6. SGB IV- ÄndG) Drucksache 18/8487 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17146 D Tagesordnungspunkt 23: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Geset- zes zur Änderung des GAK-Gesetzes Drucksache 18/8578 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17146 D Tagesordnungspunkt 24: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Direktzahlungen-Durch- führungsgesetzes Drucksache 18/8514 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17147 A Tagesordnungspunkt 25: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Bekämpfung der Verbreitung neuer psychoaktiver Stoffe Drucksache 18/8579 . . . . . . . . . . . . . . . . . 17147 B b) Antrag der Abgeordneten Frank Tempel, Kathrin Vogler, Matthias W . Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für eine zeitgemäße Ant- wort auf neue psychoaktive Substanzen Drucksache 18/8459 . . . . . . . . . . . . . . . . . 17147 C Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17147 D Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 VII Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . . 17149 A Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zu der Abstim- mung über den Antrag der Fraktionen CDU/ CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916 (Tagesordnungspunkt 5 a) . . . . . . . . . . . . . . . . 17149 C Michael Brand (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 17149 C Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 17151 A Bettina Kudla (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 17153 A Dr . Dorothee Schlegel (SPD) . . . . . . . . . . . . . 17153 C Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 17154 C Oliver Wittke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 17155 A Anlage 3 Erklärung der Abgeordneten Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstim- mung über die Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Wirtschaft und Energie zu der von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD ein- gebrachten Entschließung zum Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Telemedi- engesetzes (Drucksache 18/8645) (Tagesordnungspunkt 7 a) . . . . . . . . . . . . . . . . 17155 B Anlage 4 Erklärungen nach § 31 GO zu der Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der beruflichen Weiterbildung und des Versiche- rungsschutzes in der Arbeitslosenversicherung (Arbeitslosenversicherungsschutz- und Wei- terbildungsstärkungsgesetz – AWStG) (Tagesordnungspunkt 8 a) . . . . . . . . . . . . . . . . 17155 C Burkhard Blienert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 17155 C Martin Dörmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 17156 A Siegmund Ehrmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 17156 C Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags der Abgeordneten Susanna Karawans- kij, Klaus Ernst, Jutta Krellmann, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Fi- nanzaufsicht nach Anlagepleiten zum Schutz von Verbraucherinteressen stärken (Tagesordnungspunkt 19) . . . . . . . . . . . . . . . . 17157 B Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17157 B Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung bewa- chungsrechtlicher Vorschriften (Tagesordnungspunkt 20) . . . . . . . . . . . . . . . . 17158 A Dr. Kristina Schröder (Wiesbaden) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17158 A Marcus Held (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17159 B Thomas Lutze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 17160 A Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17160 C Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur besseren Ver- einbarkeit von Familie, Pflege und Beruf für Beamtinnen und Beamte des Bundes und Sol- datinnen und Soldaten sowie zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften (Tagesordnungspunkt 21) . . . . . . . . . . . . . . . . 17161 B Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 17161 B Oswin Veith (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 17162 C Matthias Schmidt (Berlin) (SPD) . . . . . . . . . . 17163 B Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 17164 C Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17165 B Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Ände- rung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (6 . SGB IV-Änderungsge- setz – 6 . SGB IV-ÄndG) (Tagesordnungspunkt 22) . . . . . . . . . . . . . . . . 17166 A Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU) . . . . . . . 17166 A Gabriele Schmidt (Ühlingen) (CDU/CSU) . . . 17166 C Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 17167 B Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . . 17168 B Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . 17168 D Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des GAK-Gesetzes (Tagesordnungspunkt 23) . . . . . . . . . . . . . . . . 17169 C Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016VIII Hans-Georg von der Marwitz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17169 C Willi Brase (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17170 B Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 17171 D Markus Tressel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17173 C Peter Bleser, Parl. Staatssekretär BMEL . . . . 17174 A Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Direktzahlungen-Durchführungsgesetzes (Tagesordnungspunkt 24) . . . . . . . . . . . . . . . . 17175 A Artur Auernhammer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 17175 A Hermann Färber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 17175 C Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . . 17176 B Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . . 17177 A Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17177 D Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: - des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämp- fung der Verbreitung neuer psychoaktiver Stoffe - des Antrags der Abgeordneten Frank Tempel, Kathrin Vogler, Matthias W . Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für eine zeitgemäße Antwort auf neue psychoaktive Substanzen (Tagesordnungspunkt 25 a und b) . . . . . . . . . . 17178 B Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 17178 C Burkhard Blienert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 17179 A Martina Stamm-Fibich (SPD) . . . . . . . . . . . . . 17180 A Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 17181 A Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17182 A Ingrid Fischbach, Parl. Staatssekretärin BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17183 D (A) (C) (B) (D) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17001 173. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2016 Beginn: 9 .00 Uhr
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    3) Anlage 11 Präsident Dr. Norbert Lammert (A) (C) (B) (D) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17149 Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 02 .06 .2016 Beck (Bremen), Marieluise BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 02 .06 .2016 Fabritius, Dr . Bernd CDU/CSU 02 .06 .2016 Hänsel, Heike DIE LINKE 02 .06 .2016 Lämmel, Andreas G . CDU/CSU 02 .06 .2016 Lerchenfeld, Philipp Graf CDU/CSU 02 .06 .2016 Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 02 .06 .2016 Marwitz, Hans-Georg von der CDU/CSU 02 .06 .2016 Oßner, Florian CDU/CSU 02 .06 .2016 Petzold, Ulrich CDU/CSU 02 .06 .2016 Pflugradt, Jeannine SPD 02 .06 .2016 Roth (Augsburg), Claudia BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 02 .06 .2016 Schmidt (Fürth), Christian CDU/CSU 02 .06 .2016 Scho-Antwerpes, Elfi SPD 02 .06 .2016 Steinmeier, Dr . Frank- Walter SPD 02 .06 .2016 Strothmann, Lena CDU/CSU 02 .06 .2016 Thews, Michael SPD 02 .06 .2016 Veit, Rüdiger SPD 02 .06 .2016 Wagenknecht, Dr . Sahra DIE LINKE 02 .06 .2016 Wawzyniak, Halina DIE LINKE 02 .06 .2016 Wicklein, Andrea SPD 02 .06 .2016 Zech, Tobias CDU/CSU 02 .06 .2016 Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zu der Abstimmung über den Antrag der Fraktio- nen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Erinnerung und Gedenken an den Völker- mord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916 (Tages- ordnungspunkt 5 a) Michael Brand (CDU/CSU): Es ist keine Schwäche, sondern zeugt von Stärke, sich zur Wahrheit zu beken- nen . Es wäre ein Armutszeugnis, wenn es beim Thema Genozid statt Mut zur Wahrheit etwa Feigheit vor dem Freund gäbe – das widerspricht der Haltung Deutsch- lands als Verfechter und Anwalt der Menschenrechte . Es darf bei uns keinen taktischen Umgang mit der Wahrheit geben – wenn wir in den Demokratien Europas nicht mehr die Wahrheit sagen, wer dann? Dem heutigen fraktionsübergreifenden Antrag „Er- innerung und Gedenken an den Völkermord an den Ar- meniern und anderen christlichen Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916“ stimme ich zu und möchte als Begründung Argumente benennen, die ich auch bei ei- ner Rede zum diesjährigen „Gedenktag für die Opfer des Genozids an den Armeniern im Osmanischen Reich“ am Sonntag, 24 . April 2016, im Schlüterhof des Deutschen Historischen Museums ausgeführt habe: Der 24 . April 1915 steht für den Beginn eines unfass- baren Verbrechens . Eines Verbrechens, das zu den schlimmsten Verbre- chen des vergangenen Jahrhunderts zählt – und das mit den beiden Weltkriegen ein wahrlich blutiges Jahrhun- dert war . Eines Verbrechens an unschuldigen Menschen, die Opfer von Verfolgung und entsetzlicher Willkür wur- den – aus politischen, ethischen oder religiösen Gründen . Der 24 . April 1915, heute vor genau 101 Jahren, war der Tag, an dem der Befehl der jungtürkischen Regierung zur Verhaftung der politischen und kulturellen Elite der Armenier erlassen wurde . Menschen wurden misshandelt, enteignet, vertrieben, mussten hungern, wurden deportiert, verschleppt, auf Todesmärsche geschickt, massakriert, getötet . Ziel war die planmäßige Vernichtung der in der Türkei lebenden Armenier . Die Gräueltaten richteten sich aber ebenso ge- gen aramäische, chaldäische und assyrische Christen, die Pontos-Griechen . Die Verbrechen erfolgten vor den Au- gen der Weltöffentlichkeit, auch mit dem stillschweigen- den Wissen des damaligen deutschen Bündnispartners . Die historische Forschung spricht insgesamt von 1,5 Millionen Opfern . Für dieses Verbrechen gibt es nur eine unzweifelhafte und angemessene Bezeichnung: Der Völkermord an den Armeniern ist eine historische Tat- sache . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617150 (A) (C) (B) (D) Im Ringen um diesen Begriff wurde oft gesagt, dass der Tatbestand des Genozids erst im Zuge der UN-Völ- kermordkonvention 1948 definiert worden sei. Es war für mich beschämend und es entspricht auch nicht der Position der Bundesrepublik Deutschland, dass sich das Auswärtige Amt noch im letzten Jahr die Position der türkischen Regierung zu eigen gemacht und behauptet hat, dass der Genozid an den Armeniern deshalb nicht Völkermord genannt werden dürfe, weil die Völker- rechtskonvention der Vereinten Nationen erst 1948 be- schlossen und 1950 in Kraft getreten sei . Wer so argumentiert, blendet bewusst aus, dass Völ- kermord und Verbrechen an der Menschlichkeit im ver- gangenen Jahrhundert zu Recht ja den Ausgangspunkt für die Erarbeitung der UN-Konvention bildeten . Mit dieser Konvention hat dann das Unfassbare einen Namen bekommen und wurde eine moralische Norm geschaffen, hinter die heute niemand zurückgehen kann . Die Verbrechen aber nicht beim Namen zu nennen, hieße, die Opfer nicht anzuerkennen, ihnen die Würde noch einmal zu nehmen, die Verbrechen und das Gesche- hene zu verharmlosen . Anlässlich des 100 . Jahrestages des Völkermordes an den Armeniern haben in einer würdigen Debatte im Deutschen Bundestag Abgeordnete aus allen Fraktionen den Finger in die Wunde gelegt . Schon damals haben wir mit anderen darauf gedrängt, dass der Begriff Völker- mord mit in unseren Antrag aufgenommen werden muss, ohne rhetorische Windungen, denn: ein Völkermord ist ein Völkermord bleibt ein Völkermord . Es ist gut, aber auch überfällig, dass der Deutsche Bundestag dies im kommenden Juni in einem gemeinsa- men Antrag jetzt tun wird . In Richtung türkischer Regierung möchte ich sagen: Der Wahrheit ins Auge zu sehen, macht stark und nicht schwach . Deutschland hat seiner historischen Wahrheit ins Auge gesehen und hat sie aufgearbeitet . Das hat Deutschland nicht schwächer gemacht, sondern stärker . Aus unserer eigenen Geschichte wissen wir sehr gut, dass Aufarbeitung auch der dunklen Kapitel der eigenen Ge- schichte einer Gesellschaft, einer Nation, sehr hilft und ihr für die Zukunft Selbstvertrauen und Offenheit gibt . Den mutigen Vertretern der türkischen Zivilgesell- schaft, die es immer wieder auf sich nehmen, den eige- nen Landsleuten die Augen zu öffnen, gilt gerade heute mein Respekt. Auch ihretwegen bleibt es eine Verpflich- tung, auf die Wahrheit hinzuweisen und die Dinge klar beim Namen zu nennen . Denn auch das Verschweigen von Verbrechen ist ein Verbrechen . Ohne Wahrheit gibt es keine Gerechtigkeit . Ohne Gerechtigkeit und Aufarbeitung gibt es keine Aussöhnung . Mit der aktuellen Attacke gegen das Kultur-Projekt „Aghet“ der Dresdner Sinfoniker und des Musikers Marc Sinan manövriert sich die türkische Regierung weiter in eine Sackgasse . Die massive Einschränkung der Mei- nungs- und Pressefreiheit beschleunigen diesen Weg, lei- der . Aber meine Mahnung heute geht auch an die Euro- päische Union und Deutschland: Sich nicht zu Mittätern zu machen! Nicht die eigene Seele zu verkaufen! Unter- würfigkeit hilft nicht, im Gegenteil. Bundespräsident Joachim Gauck – ebenso Bundes- tagspräsident Norbert Lammert – haben im vergangenen Jahr in beeindruckender Weise den Völkermord an den Armeniern und anderen ethnischen Minderheiten vor genau 100 Jahren in sehr grundsätzlichen und zugleich auf unsere heutige Zeit gerichteten Ansprachen konkret benannt, ohne dabei die damalige deutsche Mitschuld an diesem Jahrhundert-Verbrechen zu leugnen . Die Türkei und Deutschland sind seit über 100 Jah- ren freundschaftlich verbunden . Zu den Grundelementen von Freundschaft zählt Offenheit und Respekt, auch vor der Wahrheit . Es bleibt eine Aufgabe, die heutige Türkei zu einem offenen und ehrlichen Umgang zu ermutigen und diesen auch einzufordern . Das war einer der Gründe, warum eine Delegation des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe jüngst, Anfang März, zu politi- schen Gesprächen nach Ankara und Istanbul gereist ist . Und es war kein Zufall, dass wir das unmittelbar vor den Verhandlungen der EU mit der Türkei getan haben . Auch gegenüber dem armenischen Volk können wir Deutsche dazu beitragen, dass die Aussöhnung zwischen Armeniern und Türken unter Anerkennung der histori- schen Tatsachen weitere Fortschritte macht . Wer das auch 100 Jahre nach dem Völkermord andau- ernde Leid des armenischen Volkes ermessen will, der kann dies aus dem Text eines Liedes entnehmen, das in so beeindruckender Weise beim Ökumenischen Gottes- dienst 2015 im Berliner Dom gesungen wurde und mich sehr berührt hat und berührt: Das Lied von Gabriel Aydin trägt den Titel „The Song of the Syriac People“: „Wie viele Kriege müssen wir noch ertragen, wie lan- ge werden wir noch unterdrückt, weil dein Name auf un- serer Stirn steht? Wie die Schafe führen sie uns zur Schlachtbank – Herr, lass uns nicht allein . Sie unterdrücken uns gewaltsam – Herr, komm und eile uns zu Hilfe . Unsere Augen sind voller Tränen . Unsere Kleidung voller Blut . Wir schreien, aber niemand hört uns . Herr, nur du kannst uns antworten – Herr, lass uns nicht allein . Komm, eile uns zu Hilfe – Herr, lass uns in unserer Not nicht allein . Herr, komm sei mit uns und bleib unter uns . Lass uns deinen Frieden spüren . Herr, sei du unsere Heimat .“ Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17151 (A) (C) (B) (D) Es ist ebenso berührend wie erschreckend, wie dieses Lied, das in Aramäisch, der Sprache von Jesus, gesungen wurde, nicht nur das historische Schicksal der christli- chen Minderheit so aufwühlend beschreibt . Erschreckend ist auch, dass es heute, 100 Jahre nach den schrecklichen Ereignissen im osmanischen Reich, in der Nachbarschaft, in Syrien und im Irak, schon wieder um die Ausrottung christlicher Minderheiten geht . Umso mehr sind wir dazu aufgefordert, die Dinge beim Namen zu nennen, den Völkermord auch Völker- mord zu nennen, damit wir nicht aus Angst vor der Wahr- heit und aus Angst vor dem Freund die Geschichte nicht beim Namen nennen und Gefahr laufen, dass sie sich in anderer Form an anderer Stelle wiederholt . Ich verneige mich vor den Opfern! Und ich danke ih- nen . Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Die Abstimmung im Bundestag zur Anerkennung des Völkermords an den Ar- meniern ist ein Sieg der Gerechtigkeit, ein Sieg der Auf- klärung . Über 100 Jahre hat es gedauert, bis ein deutsches Parlament endlich ohne Wenn und Aber den Völkermord an den Armeniern anerkannt hat . Die Abstimmung ist zu- gleich ein Bruch mit der deutschen Staatsräson des Ver- schweigens der Mitschuld des Kaiserreiches an diesem furchtbaren Verbrechen . Vor wenigen Wochen, am 24 . April 2016, jährte sich der Völkermord an den Armeniern . 101 Jahre ist es her, dass mit der Deportation armenischer Politiker und In- tellektueller aus Istanbul, auf Befehl des osmanischen Innenministers Mehmet Talat, diese grausame Tat be- gonnen wurde . Mit der heutigen Abstimmung gedenken wir heute hier all der 1,5 Millionen Opfer dieses schreck- lichen Verbrechens und verneigen uns vor ihnen in stiller Trauer . Über 100 Jahre sind vergangen seit jenem Tag . Kaum einer kennt noch die Namen der Deportierten . Haben wir je etwas von dem Schriftsteller Rupen Zartarian aus Diyarbakir, dem Dichter Yeruhan aus Istanbul oder dem Romanautor Dikran Chökürian aus Gümüşhane gehört. Sie alle wurden auf schändliche Art und Weise ermordet . Ja, man kann sagen, mit ihnen wurde auch ein Teil der Kultur des Osmanischen Reiches, ein Teil der Kultur der Welt ausgelöscht . Wer erinnert sich noch an die 20 zumeist jungen Ak- tivisten der Sozialdemokratischen Huntschak-Partei, die im Zuge des Völkermords an den Armeniern am 15 . Juni 1915 im Stadtteil Sultanbeyazid in Istanbul durch Erhän- gen hingerichtet wurden . Wer heute an diesen Auftakt des Völkermords erinnert, wird von den Sympathisan- ten der Völkermörder als Terroristenfreund diffamiert . 100 Jahre sind manchmal wie ein Tag . Diejenigen, die auch heute noch den Völkermord in widersprüchlicher Weise leugnen und zugleich rechtfertigen, setzen auf das Vergessen, setzen auf das Verschwinden . Wer weiß heute noch, dass diese Huntschak-Partei die erste sozialistische Partei im Osmanischen Reich war, dass es ihre Aktivisten waren, die zum ersten Mal das Kommunistische Mani- fest am Bosporus herausgegeben haben . Wenn wir heute des Völkermords an den Armeniern gedenken, geht es auch um eine Wiedergewinnung der Erinnerung an die Verschwundenen, eine Erinnerung an die Ausgelöschten . Eine Erinnerung an die in der Ke- mah-Schlucht Ermordeten oder in der Wüste des heuti- gen Syriens Zu-Tode-Gebrachten . Diese Erinnerung ist so schwer, weil von Beginn an alles getan wurde, um die- se unvorstellbare Tat vergessen zu machen . Es sollte eben nicht nur die Erinnerung an die Ermordeten ausgelöscht werden, sondern auch, durch eine Beseitigung aller Na- men oder kulturellen Erzeugnisse, die sie hinterlassen hatten, jedes steingewordene Dokument ihrer gewesenen Existenz . So wie ich es aus Erzählungen meines verstor- benen Vaters erfahren habe, dass im Dorf meiner Eltern, in der Provinz Erzincan, einst eine armenische Kirche stand . An ihrer Stelle ist heute die Dorfschule . Kein Stein ist dort mehr zu sehen . Die früher gleich neben dem ale- vitischen Friedhof gelegene armenische Grabstätte gibt es auch nicht mehr . Auch heute wird, wer an den Völkermord auch nur versucht zu erinnern, als Freund kurdischer oder armeni- scher Terroristen diffamiert . Die türkische islamistische Regierung, ganz Präsident Erdogan verpflichtet, setzt auf die Mobilisierung und die Entfesselung des Nationalis- mus . Mit ungeheurem propagandistischem Aufwand soll die Gleichung der Völkermörder, Terrorist gleich Arme- nier, in den Köpfen verankert werden . Und wer diese Ter- roristen verteidigt und auch noch auf Aufklärung dringt, der muss auch ein Armenier sein und steckt natürlich mit allen anderen Armeniern unter einer Decke . Und weiter: Die Armenier haben sich ihren Tod selbst zuzuschreiben, weil sie Terroristen sind . Und es ist diese Gleichung, die das Denken der Affirmierung des Völkermords an den Armeniern widerspiegelt . Dieses Völkermorddenken wird wach gehalten in Teilen der türkischen Gesellschaft durch ein ungeheures propagandistisches Trommelfeuer . Ziel ist es, die Zustimmung von großen Teilen der Bevöl- kerung zu einem Unterdrückungssystem par exellence zu erzielen . Und gerade deshalb ist Aufklärung so wichtig . Und gerade deshalb habe ich mich entschieden, mich von Drohungen oder zahlreichen üblen Beschimpfungen der Erdogan-Anhänger von „armenischer Hure“ bis „kurdi- scher Terroristin“ nicht einschüchtern zu lassen . Erdogan und die Seinen sprechen den Jargon der Völkermörder von 1915 . Es ist höchste Zeit, diese Leute in die Schran- ken zu weisen und sie nicht weiter zu ermutigen, wie dies die Bundeskanzlerin Merkel und Vizekanzler Gabriel durch ihre Abwesenheit bei der Abstimmung über den Völkermord an den Armeniern wieder einmal getan ha- ben . Über 100 Jahre sind nach den schrecklichen Massakern und Verfolgungen vergangen, doch wird der Völkermord an den Armeniern von der türkischen Regierung immer noch bestritten . Aber auch die Bundesregierung hat stets versucht, die deutsche Mitverantwortung für den Völ- kermord zu relativieren . Das eigentliche Ausmaß, nicht nur des Völkermords, aber auch der Beihilfe der deut- schen Militärs und Politiker, ist in der deutschen Öffent- lichkeit weithin unbekannt . Der Bundestag hatte sich in seiner Entschließung zur Erinnerung an die Vertreibung und Massaker an den Armeniern von 2005 um die ganze Wahrheit herumgedrückt . Darin heißt es: „Der Bundes- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617152 (A) (C) (B) (D) tag bedauert auch die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches, das angesichts der vielfältigen Informationen über die organisierte Vertreibung und Vernichtung von Armeniern nicht einmal versucht hat, die Gräuel zu stop- pen .“ Die historische Wahrheit lässt aber eine Festlegung der Rolle des Kaiserreiches auf eine unterlassene Hil- feleistung nicht zu . Mit Blick auf die mörderische Waf- fenbrüderschaft zwischen dem deutschen Kaiserreich und dem Osmanischen Reich im Ersten Weltkrieg hatte denn die deutsche Seite alles getan, um den Völkermord zu decken . 1915 hatte Reichskanzler Bethmann Holl- weg gegenüber österreichischen Bedenken geantwortet: „Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob da- rüber Armenier zugrunde gehen oder nicht .“ Daraus wird ersichtlich, dass Deutschland bereit war, den Völ- kermord zu billigen . Wichtig war allein die Waffenbrü- derschaft mit dem Osmanischen Reich . Als Beispiel sei nur General Fritz Bronsart von Schellendorf, Chef des Generalstabs im Großen Hauptquartier in Istanbul und damit oberster Kriegsplaner direkt nach dem Kriegsmi- nister Enver Pascha, genannt . Bronsart von Schellendorf befürwortete nicht nur die Deportation der Armenier aus militärischer Notwendigkeit, sondern äußerte sich auch nach dem Krieg in übelster Form über die armenische Minderheit . In einem Brief von 1921 an das Auswärtige Amt schrieb er: „Der Armenier ist nämlich, wie der Jude, außerhalb seiner engeren Heimat ein Parasit, der sich von dem Marke des Fremdvolkes mästet, unter dem er seinen Wohnsitz aufschlägt . Alljährlich wandern zahlreiche Ar- menier aus ihrem Stammlande nach Kurdistan, um nach kurzer Zeit ganze kurdische Dörfer zu bewuchern und sich dienstbar zu machen . Daher der Hass, der sich oft in ganz mittelalterlicher Weise durch den Mord miss- liebig gewordener Armenier entladen hat .“ Dazu taten 800 deutsche Offiziere und 25 000 Soldaten im Osmani- schen Reich Dienst, die sich auch aktiv am Völkermord an den Armeniern beteiligten . Diese Mitverantwortung Deutschlands zeigt sich auch in der Beantwortung der Kleinen Anfragen des späteren KPD-Gründers und damaligen USPD-Abgeordneten Karl Liebknecht im Januar 1916 im Reichstag . Liebknecht hatte als einziger Abgeordneter im Dezember 1914 gegen die Kriegskredite gestimmt und trat mit seinen Anfragen, dem einzig verbliebenen parlamentarischen Instrument, das ihm ohne Zustimmung seiner ehemaligen SPD-Frak- tion möglich war, im Reichstag auf, um die imperialisti- sche Politik des Kaiserreichs zu beleuchten . Der Anfrage Liebknechts zu den Massakern an den Armeniern folgte denn auch seine Anfrage zu weiteren Kriegsverbrechen, zu deutschen Kriegsverbrechen an Zivilisten in den be- setzten Ländern wie Belgien . Liebknecht fragte: „Ist dem Reichskanzler bekannt, dass während des jetzigen Krieges im verbündeten türkischen Reiche die armeni- sche Bevölkerung zu hunderttausenden vertrieben und niedergemacht worden ist? Welche Schritte hat der Herr Reichskanzler bei der verbündeten türkischen Regierung unternommen, um die gebotene Sühne herbeizuführen, die Lage des Restes der armenischen Bevölkerung in der Türkei menschenwürdig zu gestalten und die Wiederho- lung ähnlicher Greuel zu verhindern?“ Darauf antworte- te Dr . von Stumm, Kaiserlicher Gesandter, Dirigent der politischen Abteilung im Auswärtigen Amt, Kommissar des Bundesrats: „Dem Herrn Reichskanzler ist bekannt, daß die Pforte vor einiger Zeit, durch aufrührerische Um- triebe unserer Gegner veranlaßt, die armenische Bevöl- kerung bestimmter Gebietsteile des türkischen Reiches ausgesiedelt und ihr neue Wohnstätten angewiesen hat . Wegen gewisser Rückwirkungen dieser Maßnahmen findet zwischen der deutschen und der türkischen Regie- rung ein Gedankenaustausch statt . Nähere Einzelheiten können nicht mitgeteilt werden .“ Liebknecht versuchte eine Ergänzungsfrage nachzuschieben: „Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, daß Professor Lepsius geradezu von einer Ausrottung der türkischen Armenier gespro- chen . . .“ Diese wurde, ohne dass Liebknecht überhaupt zu Ende sprechen konnte, unter Beifall des Reichstags vom Präsidenten unterbunden . Nicht einmal die Frage sollte also gestellt werden können . Zu sehr war man sich einig, diese Verbrechen verschweigen zu müssen . Liebknecht erklärte im Nachhinein seine Handlungsstrategie wie folgt: „Die türkische Regierung hat ein furchtbares Ge- metzel unter den Armeniern angerichtet; alle Welt weiß davon – und in aller Welt macht man Deutschland verant- wortlich, weil in Konstantinopel die deutschen Offiziere die Regierung kommandieren . Nur in Deutschland weiß man nichts, weil die Presse geknebelt ist .“ Das Vorgehen des Kaiserreichs war, wie gesagt, symp- tomatisch für spätere Vorgehensweisen, den Völkermord an den Armeniern zu leugnen bzw . zu relativieren . Wie Richard Albrecht recherchierte, gab es im offiziellen „amtlichen Zensurbuch“ des Kaiserreichs die „arme- nische Frage“ betreffend im Herbst/Winter 1915 zwei zentrale Hinweise . Erstens am 7 . Oktober 1915 zu Arme- nien mit der Anweisung: „Veröffentlichungen über die armenische Frage unterliegen der Vorzensur“: „Über die Armeniergreuel ist folgendes zu sagen: Unsere freund- schaftlichen Beziehungen zur Türkei dürfen durch die- se innertürkische Verwaltungsangelegenheit nicht nur nicht gefährdet, sondern im gegenwärtigen, schwierigen Augenblick nicht einmal geprüft werden . Deshalb ist es einstweilig Pflicht zu schweigen. Später, wenn direkte Angriffe des Auslandes wegen deutscher Mitschuld er- folgen sollten, muß man die Sache mit größter Vorsicht und Zurückhaltung behandeln und später vorgeben, daß die Türken schwer von den Armeniern gereizt wurden .“ Zweitens am 23 . Dezember 1915 zur Türkei: „Über die armenische Frage wird am besten geschwiegen . Beson- ders löblich ist das Verhalten der türkischen Machthaber in dieser Frage nicht! [ . . .] Alle Ausführungen, die das An- sehen unserer türkischen Bundesgenossen irgendwie her- absetzen könnten, müssen vermieden werden [ . . .] Aufsät- ze über die armenische Frage unterliegen der Vorzensur .“ Festzuhalten ist, die Waffenbrüderschaft zwischen dem Kaiserreich und Osmanischen Reich bestand nicht nur im Hinblick auf den Völkermord an den Armeniern, sondern auch im Hinblick auf seine spätere Leugnung und Rela- tivierung . Der vorliegende Resolutionstext spricht jetzt wenigs- tens von dieser Mitschuld des Deutschen Reiches, auch wenn er das wahre Ausmaß der Mithilfe des Kaiserrei- ches an dem Völkermord an den Armeniern nicht in den Blick nimmt . Auch die Kennzeichnung der Todesmär- sche als „Vertreibung“ im Resolutionstext verfehlt die Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17153 (A) (C) (B) (D) historische Realität . Nichtdestotrotz trifft der Text den wichtigen Aspekt der Anerkennung wie auch der Mit- schuld des Kaiserreiches . Nur eine aufrichtige Anerkennung und Aufklärung kann den Weg zur Versöhnung und einer gemeinsamen Zukunft bahnen . Wir hier in Deutschland haben, was den Völkermord an den Armeniern angeht und die Aufklä- rung und Anerkennung über die deutsche Mitverantwor- tung angeht, noch ein Stück des Weges zu gehen . Denn auch für die konkrete Politik wurden daraus bisher noch keine Folgerungen gezogen . Für mich würde dies auch bedeuten, keine weiteren deutschen Rüstungsexporte zu tätigen, als eine der Lehren aus diesem imperialisti- schen Verbrechen . Es würde bedeuten, dass wir gerade angesichts des Kriegs des türkischen Staatspräsidenten Erdogan gegen die Kurden in der Türkei mit inzwi- schen über 500 000 Flüchtlingen und Hunderten zivilen Opfern, der Angriffe auf kurdische Enklaven in Syrien durch von Erdogan bewaffnete islamistische Terrorban- den wie auch auf armenische Dörfer wie Kesab in Syrien durch islamistische Milizen, die auch von der Türkei aus angreifen, die Waffenbrüderschaft mit dem Erdogan-Re- gime beenden . Bettina Kudla (CDU/CSU): Es ist nicht Aufgabe des Deutschen Bundestages, historische Bewertungen von Ereignissen in anderen Staaten vorzunehmen . Die Aufar- beitung von geschichtlichen Ereignissen obliegt dem be- troffenen Staat, in diesem Fall der Republik Türkei . Der vorliegende Antrag enthält keine Angaben von Quellen wie zum Beispiel Historikern, auf die sich die Beurtei- lungen des benannten Völkermordes stützen . Die politischen als auch finanziellen Folgen, die sich aus diesem Antrag ergeben, sind nicht kalkulierbar . Un- mittelbare finanzielle Folgen könnten sich durch das Aufmachen von Wiedergutmachungsforderungen seitens Armenien ergeben . Die Beziehungen zur Republik Türkei werden durch diesen Beschluss belastet . Der Vollzug des Flüchtlings- abkommens zwischen der Europäischen Union und der Republik Türkei wird erschwert . Dies ist umso bedauer- licher, da es sich um ein europäisches Abkommen han- delt und bisher europäische Lösungen bezüglich Asyl- bewerbern und Flüchtlingen nur schwer möglich waren . Sollte das Flüchtlingsabkommen mit der Republik Tür- kei scheitern, wird es neben gravierenden humanitären Folgen auch erhebliche finanzielle Mehrbelastungen für Deutschland geben . Allein aus der Kenntnis von Vorgängen kann meines Erachtens nicht abgeleitet werden, dass das Deutsche Reich eine Mitschuld an den damaligen Ereignissen der Verfolgung der Armenier trägt . Worin diese Verantwor- tung besteht, ist im Antrag nicht erkennbar . Im Antrag heißt es: „Der Deutsche Bundestag stellt fest: . . . Das Deutsche Reich trägt eine Mitschuld an den Ereignis- sen .“ In der Begründung des Antrages heißt es: „Die damalige deutsche Reichsregierung, die über die Verfol- gung und Ermordung der Armenier informiert war, blieb dennoch untätig . . . Das Deutsche Reich war als militäri- scher Hauptverbündeter des Osmanischen Reiches eben- falls tief in diese Vorgänge involviert .“ Konkrete historische Fakten sind nicht benannt . Auch in dem Antrag der Fraktion Die Linke vom März 2015 zu diesem Thema – Drucksache 18/4335 – und in dem An- trag der Fraktion Die Grünen vom April 2015 – Druck- sache 18/4687 – heißt es, dass die Regierung des Deut- schen Reiches jeweils über den Völkermord informiert war, aber nicht einschritt . Allein daraus kann meines Er- achtens nicht zwingend eine deutsche Mitverantwortung abgeleitet werden . Auch heute hat die Bundesregierung und auch der Deutsche Bundestag Kenntnis über Massa- ker zum Beispiel an Syrern . Trotz jahrelanger diplomati- scher Bemühungen und der Unterstützung von militäri- schen Einsätzen ist es nicht gelungen, diese Massaker in Syrien zu verhindern . Der vorliegende Antrag wird von mir abgelehnt . Dr. Dorothee Schlegel (SPD): Bei der Abstimmung über den heutigen Antrag „Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern und anderen christli- chen Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916“, dessen Inhalt ich grundsätzlich mittrage, votiere ich als Bericht- erstatterin für die Türkei im Ausschuss für Angelegen- heiten der Europäischen Union dennoch mit Enthaltung, da ich folgende Aspekte zu bedenken geben will: Das Ziel, von deutscher Seite her zu einer Versöhnung zwischen der Türkei und Armenien beizutragen, wird mit diesem Antrag meiner Wahrnehmung nach nicht zu errei- chen sein . Denn er berücksichtigt in seiner vorliegenden Form nicht ausreichend seine direkten und weiteren Fol- gen . Versöhnung kann weder isoliert von aktuellen poli- tischen Ereignissen noch ohne konkrete Angebote oder Symbole stattfinden. Die Aufarbeitung der Vergangen- heit braucht eine aktiv daran teilhabende und kritische Zivilgesellschaft . Dazu müssen schulische und universi- täre, politische und kulturelle Bildung in und zwischen den Ländern beitragen . Der vorliegende Antrag, der in seinen wesentlichen Aussagen den Anträgen 15/5689 (2005) und 18/4684 (2015) folgt, sollte weder anklagen noch verurteilen oder Reuebekenntnisse erzwingen, sondern Impuls zur wei- teren Aufklärung sein . Er sollte dazu beitragen können, Empfindlichkeiten auf armenischer und türkischer Seite zu überwinden . Dies ist, und das möchte ich betonen, nur im stetigen und gegenseitigen Dialog möglich . Der Versöhnungsprozess zwischen der Türkei und Armenien ist in den letzten Jahren ebenso ins Stocken geraten wie das Bemühen auf deutscher Seite, auch hier in Deutschland klarere Impulse zum Dialog auf verschie- densten Ebenen zu geben . Geschichte ist immer ein identitätsstiftender Bezugs- punkt für ein Land und seine Bevölkerung . Daher ist es, vor allem, wenn es um unrühmliche Taten und Rollen geht, äußerst wichtig, den Versöhnungsgedanken und den Prozess der Annäherung, das heißt das Ziel einer friedli- chen Koexistenz, höher zu bewerten als möglicherweise die Infragestellung des historisch gewachsenen oder ge- stalteten Bezugspunkts – und hier beziehe ich ausdrück- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617154 (A) (C) (B) (D) lich die Rolle des Deutschen Reiches und die deutsche Verantwortung mit ein . Folgende Aspekte sind mir wichtig: Die unrühmliche deutsche Rolle und die deutsche Verantwortung werden in den Anträgen kaum beleuchtet und weder offensiv benannt noch kommuniziert . Der da- malige deutsche Bündnispartner war seinerzeit über den Verlauf der Massenvertreibungen und Massaker unter- richtet und mit seinen Diplomaten und Militärmissionen vor Ort . Die Berichte nach Berlin waren dann aber eher fragmentarisch . Der Völkermord war kein Thema, so der Journalist Wolfgang Gust . Denn „Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht“, formulierte Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg die deutsche Linie . Mit Blick in die türkische Geschichte der letzten Jahr- zehnte wird deutlich, dass über die Ereignisse – und hier ist jedes Opfer, egal welcher Religions- oder Staatszu- gehörigkeit, eines zu viel! – nicht nur ideologisch pola- risiert, sondern auch geschwiegen wurde . Ähnliches gilt sicher auch in unterschiedlicher Ausprägung für die Län- der Deutschland und Armenien . Es sind immer Ängste, auch kollektive Ängste, die das Reden über die Vergangenheit schwer und das Schwei- gen scheinbar leichter machen . Warum neben den Depor- tationen und Massakern an anderen christlichen Volks- gruppen die Vernichtung der armenischen Bevölkerung im damaligen Osmanischen Reich vonseiten der heuti- gen Türkei nicht als Genozid benannt wird, kann nur im Dialog mit der Türkei geklärt werden . Sollte der Begriff Völkermord ein Tabubegriff sein, dann braucht es zu sei- ner Aufklärung mehr als eine Resolution, die, so meine ich, das Tabuthema eher zementieren wird . Und das wäre bedauerlich – gerade für die Menschen, die sich offene Türen und eine offene Gesellschaft wünschen . Für Deutschland, Armenien und die Türkei umschrei- be ich die vor den Ländern und ihrer Bevölkerung lie- gende Aufgabe mit den Worten von Hrant Dink: „Man braucht für den Umgang mit der Geschichte einen ge- wissen Anstand, eine gewisse Ethik . Wo beides fehlt, nutzen die Dokumente wenig .“ Er folgerte daraus: „Die ethische Haltung, die wir in der Armenien-Frage brau- chen, ist Empathie .“ Und nur diese könne zu einem ange- messenen Gedächtnis beider Gesellschaften führen . Dink wurde am 19 . Januar 2007 erschossen – zu Beginn des Wahljahrs 2007, in dem über Parlament, Regierung und den Präsidenten neu entschieden werden sollte . Es war der Beginn des Konflikts zwischen Beharrungskräften und Gewinnern des Wandels, zwischen Islamismus und Säkularismus . Diese ethische Haltung, die zum Umgang mit der Geschichte notwendig ist, braucht ein Klima der Begegnung, in dem auch Gemeinsamkeiten entdeckt werden . Da der Prozess der Erinnerung und Aufarbeitung auch ein kultureller ist und nicht allein Historikern und Politi- kern überlassen werden darf, begrüße ich jegliche Förde- rung von Initiativen zur Aufarbeitung ebenso wie die be- reits geschehene Herausgabe der deutschen Dokumente . Zudem halte ich es für sinnvoll, wenn die Bundesregie- rung dazu beitragen könnte, dass unter Beteiligung von Armenien, Deutschland und der Türkei eine unabhängige Historikerkommission eingesetzt wird, die die damaligen Ereignisse aufarbeitet, Zahlen und Fakten überprüft und für mehr Transparenz sorgt . Was wir auch über den heutigen Tag hinaus verhindern sollten, ist, all die vielen Brücken, die es in die Zivilge- sellschaft hinein zwischen Familien und Organisationen gibt, aufs Spiel zu setzen . Fördern wir vielmehr auf allen Ebenen den bisher nicht ausreichenden Dialog über die jeweils eigene, aber ebenso die gemeinsame Geschichte von vor über 100 Jahren . Erika Steinbach (CDU/CSU): Ich begrüße nach- drücklich, dass der Deutsche Bundestags heute das Schicksal der autochthonen Christen im Osmanischen Reich als das bezeichnet was es war: Völkermord! Versöhnung beginnt immer mit der Aufarbeitung und der Auseinandersetzung über geschehenes Unrecht . Das bedeutet weder Anklage noch Diffamierung der da- für Verantwortlichen oder deren Nachfahren . Es ist ein wichtiger und unverzichtbarer Schritt, einem überfälli- gen Versöhnungsprozess neue Impulse zu geben und die Aufarbeitung der damaligen Ereignisse im Osmanischen Reich voranzubringen . Gerade als Vorsitzende der Arbeitsgruppe Menschen- rechte und humanitäre Hilfe der CDU/CSU-Bundestags- fraktion war es mir seit Jahren ein besonderes Anliegen, die Verbrechen der jungtürkischen Nationalisten im Os- manischen Reich deutlich zu benennen . Dabei ist es unverzichtbar, deutlich zu machen, dass sich die Gewalt nicht nur gegen die osmanischen Arme- nier, sondern letztlich gegen alle autochthonen Christen des Osmanischen Reiches gerichtet hat: bereits seit 1909 gegen die Pontos-Griechen, später gegen die Aramäer, Assyrer und Chaldäer . Das habe ich nicht erst im vergan- genen Jahr in meiner Rede zum 100 . Jahrestag des Be- ginns des Völkermordes am 24 . April 2015 im Deutschen Bundestag betont . Denjenigen, die den Antrag in den vergangenen Wo- chen und Tagen als falschen Weg und Gefahr für die deutsch-türkische Freundschaft bezeichnet haben und die Zuständigkeit für eine Bewertung der Gräuel eher bei Historikern oder Gerichten sehen, sage ich: Deutschland hat damals geschwiegen und darf gerade deshalb heute nicht schweigen . Zudem können wir uns heute nur dann glaubwürdig für das Menschenrecht auf Religionsfreiheit und gegen die Vertreibungen der Christen infolge der Gewalt in Sy- rien und dem Irak einsetzen, wenn wir auch angemessen an den Völkermord an den Christen im damaligen Osma- nischen Reich erinnern . Was mit dem Genozid seinerzeit an Gräueln verbun- den war, ist für uns unvorstellbar . Es war nicht nur die Tötung ganzer Gruppen von Menschen, sondern ging mit unglaublicher Brutalität vor sich . Die Vertreibungen ge- schahen systematisch zur Vernichtung der Menschen und trugen eindeutig alle Merkmale von Völkermord . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17155 (A) (C) (B) (D) Ich bin überzeugt, dieses Leid zu teilen, es anzuerken- nen, es beim Namen zu nennen, hilft den Nachfahren der Opfer, ihre eigenen Kräfte wieder zu stärken, zu bündeln und die Zukunft besser zu bewältigen . Man braucht Soli- darität von anderen, die keine Opfer waren, oder von an- deren, die auch Opfer waren und sich an die Seite stellen . Deshalb ist es so ein wichtiges Signal, dass wir uns heute im Deutschen Bundestag gemeinsam an die Seite der Nachfahren der Opfer stellen . Oliver Wittke (CDU/CSU): Die Vertreibung und Er- mordung von bis zu 1,5 Millionen Armeniern, Aramäern, Assyrern und sogenannten Pontos-Griechen im damali- gen Osmanischen Reich ist eines der großen Verbrechen des 20 . Jahrhunderts . Die Aufarbeitung und Erinnerung an diese furchtbaren Ereignisse ist insbesondere Aufgabe der Nachfahren der Tätergeneration . Ziel muss es sein, derartige Verbrechen nie wieder auch nur im Bereich des Möglichen erscheinen zu lassen . Daher muss eine umfassende und internationalen An- sprüchen gerecht werdende Aufarbeitung unter Beteili- gung der Nachfahren von Opfern und Tätern erfolgen . Nur so kann Akzeptanz und vor allem Lehre aus dem Geschehenen gezogen werden . Ähnlich wie Deutschland mit seinem Grundgesetz, aber auch den allgemeinen Re- geln des Zusammenlebens Konsequenzen aus seiner Ge- schichte gezogen hat, muss auch die Türkei für die aktu- elle alltägliche Politik Konsequenzen aus den Verbrechen vor 100 Jahren ziehen . Dies wird sie aber nicht aufgrund von Resolutionen ausländischer Parlamente, sondern nur bei aktiver Einbeziehung in die Aufarbeitung der Ge- schichte tun . Die Verurteilung des Geschehenen in der Vergangenheit ist richtig . Wichtiger ist aber das Ziehen von Konsequenzen für die Gegenwart . Dies wird nur mit der Türkei und nicht ohne sie erfolgreich sein . Anlage 3 Erklärung der Abgeordneten Britta Haßelmann (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirt- schaft und Energie zu der von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entschließung zum Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Ände- rung des Telemediengesetzes (Drucksache 18/8645) (Tagesordnungspunkt 7 a) Ich erkläre im Namen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, dass unser Votum zur Entschließung „Enthal- tung“ lautet . Anlage 4 Erklärungen nach § 31 GO zu der Abstimmung über den von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der beruflichen Weiterbildung und des Versicherungsschutzes in der Arbeitslosenversi- cherung (Arbeitslosenversicherungsschutz- und Weiterbildungsstärkungsgesetz – AWStG) (Tages- ordnungspunkt 8 a) Burkhard Blienert (SPD): Die Verlängerung der be- fristeten Sonderregelung zum erleichterten Bezug von Arbeitslosengeld I (ALG I) für überwiegend kurz befris- tet Beschäftigte (§ 142 SGB III) bis zum 31 . Juli 2018 im Rahmen des „Gesetzes zur Stärkung der beruflichen Weiterbildung und des Versicherungsschutzes in der Ar- beitslosenversicherung“ (AWStG) ist sowohl in sozial- als auch in kulturpolitischer Hinsicht ein Fortschritt . Wir beenden mit dieser Regelung eine Phase der Unsicherheit und schaffen das nötige Zeitfenster für die Ausgestaltung einer tragfähigen Anschlussregelung . Dennoch ist dies nicht die erhoffte langfristige Lösung, die SPD, CDU und CSU in ihrem Koalitionsvertrag in Aussicht gestellt haben . Ursprüngliches Ziel der Sonderregelung war es, die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung für kurz befristet Beschäftigte – vor allem im Kulturbereich – zu stärken . Während der Anspruch auf ALG I grundsätzlich erst bei zwölf Monaten versicherungspflichtiger Be- schäftigung innerhalb einer Rahmenfrist von zwei Jah- ren erworben werden kann, gilt nach der Sonderregelung eine verkürzte Anwartschaft von sechs Monaten . Die vorliegenden Zahlen der Antragstellungen und -bewilligungen zeigen jedoch, dass die ALG-I-Sonder- regelung in ihrer bestehenden Form nur bedingt greift . Im letzten Erhebungszeitraum vom 1 . April 2014 bis 31 . März 2015 wurden lediglich 295 Anträge bewilligt, die nach der Sonderregelung zu behandeln waren . Als Hinderungsgrund für die Inanspruchnahme der Sonderregelung haben sich für die Betroffenen vor al- lem die engen Zugangsvoraussetzungen erwiesen . Zum einen sieht die Sonderregelung eine Verdienstobergrenze von 34 860 Euro vor . Zum anderen dürfen die versiche- rungspflichtigen Beschäftigungen eine Dauer von zehn Wochen nicht überschreiten . Dies hat zur Konsequenz, dass die kurz befristet Beschäftigten trotz Zahlung von Beiträgen an die Arbeitslosenversicherung im Falle ei- nes Arbeitsplatzverlustes in der Regel kein Arbeitslosen- geld I erhalten . Daher war zwischen den Koalitionsparteien CDU/ CSU und SPD eine grundlegende Anpassung der Son- derregelung in dieser Legislaturperiode verabredet, die – entsprechend unserer Vereinbarungen im Koalitions- vertrag – „den Besonderheiten von Erwerbsbiografien in der Kultur hinreichend Rechnung“ tragen sollte . Wir plädieren dafür, dass die Regierungskoalition – im Inte- resse der Kulturschaffenden – an diesen Vereinbarungen festhält und sowohl die Verdienst- als auch die Befris- tungsgrenze der Sonderregelung – zu berücksichtigende Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617156 (A) (C) (B) (D) Beschäftigungsdauer von zehn Wochen; Verdienstober- grenze von 34 020 Euro im Jahr – der Berufswirklichkeit im Kulturbereich anpasst . Hierfür muss jetzt unmittelbar ein intensiver Prozess zwischen dem Bundesarbeitsmi- nisterium, dem Bundeskanzleramt und den Fraktionen von SPD und CDU/CSU in Gang gesetzt werden, um noch in dieser Legislaturperiode die praktischen Hürden der Sonderregelung abzubauen und die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung insgesamt zu stärken . Ich stimme dem Gesetzentwurf zu . Martin Dörmann (SPD): Ich stimme der verlängerten Sonderregelung zum erleichterten Bezug von Arbeitslo- sengeld I für überwiegend kurz befristet Beschäftigte im Rahmen des „Gesetzes zur Stärkung der beruflichen Wei- terbildung und des Versicherungsschutzes in der Arbeits- losenversicherung“ (AWStG) zu und erkläre: Die Verlängerung der befristeten Sonderregelung zum erleichterten Bezug von Arbeitslosengeld I (ALG I) für überwiegend kurz befristet Beschäftigte (§ 142 SGB III) bis zum 31 . Juli 2018 im Rahmen des „Gesetzes zur Stärkung der beruflichen Weiterbildung und des Ver- sicherungsschutzes in der Arbeitslosenversicherung“ (AWStG) ist sowohl in sozial- als auch in kulturpoliti- scher Hinsicht ein Fortschritt . Wir beenden mit dieser Regelung eine Phase der Unsicherheit und schaffen das nötige Zeitfenster für die Ausgestaltung einer tragfähigen Anschlussregelung . Gleichwohl ist dies noch nicht die erhoffte langfristige Lösung, die SPD, CDU und CSU in ihrem Koalitionsvertrag in Aussicht gestellt haben . Ziel der Sonderregelung ist es, die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung für kurz befristet Beschäftig- te – vor allem im Kulturbereich – zu stärken . Während der Anspruch auf ALG I grundsätzlich erst bei zwölf Monaten versicherungspflichtiger Beschäftigung inner- halb einer Rahmenfrist von zwei Jahren erworben wer- den kann, gilt nach der Sonderregelung eine verkürzte Anwartschaft von sechs Monaten . Die vorliegenden Zahlen der Antragstellungen und -bewilligungen zeigen jedoch, dass die ALG-I-Sonderre- gelung in ihrer bestehenden Form für viele Kulturschaf- fende nur bedingt greift . Im letzten Erhebungszeitraum vom 1 . April 2014 bis 31 . März 2015 wurden lediglich 295 Anträge bewilligt, die nach der Sonderregelung zu behandeln waren . Die Zahl der Kulturschaffenden, die längere Zeit arbeitslos waren, lag jedoch deutlich höher . Als Hinderungsgrund für die Inanspruchnahme der Sonderregelung haben sich für die Betroffenen vor allem die engen Zugangsvoraussetzungen erwiesen . Zum einen greift die Sonderregelung nur bis zu einer Verdienstober- grenze von 34 860 Euro im Jahr . Zum anderen dürfen die versicherungspflichtigen Beschäftigungen eine Dauer von zehn Wochen nicht überschreiten . Dies hat zur Kon- sequenz, dass gerade im Kulturbereich – zum Beispiel beim Film – oftmals nur kurz befristet Beschäftigte trotz Zahlung von Beiträgen an die Arbeitslosenversicherung im Falle eines Arbeitsplatzverlustes in der Regel kein Arbeitslosengeld I erhalten . Einzelengagements sind oft projektbezogen und damit zeitlich befristet . Daher war im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD eine grundlegende Anpassung der Sonderregelung in dieser Legislaturperiode verabredet, die „den Beson- derheiten von Erwerbsbiografien in der Kultur hinrei- chend Rechnung“ tragen sollte . Es ist klar, dass die rechtssichere Umsetzung dieser Aufgabenstellung schwierig ist, weil die finanziellen Auswirkungen auf die Versichertengemeinschaft sowie verfassungsrechtliche Vorgaben zu beachten sind . Jede Sonderbehandlung muss sachgerecht, verhältnismäßig und gut begründet sein . Hierfür sehe ich noch Spielraum, der über die bisherige Regelung hinausgeht . Deshalb setze ich mich dafür ein, dass die Regierungskoalition sowohl die Verdienst- als auch die Befristungsgrenze der Sonderregelung daraufhin überprüft, wie sie der Be- rufswirklichkeit im Kulturbereich stärker anpasst werden kann . Um noch in dieser Legislaturperiode die Schutzfunkti- on der Arbeitslosenversicherung für Kulturschaffende zu stärken, müssen die bisherigen Gespräche, insbesondere zwischen dem Bundesarbeitsministerium, dem Bundes- kanzleramt und den Fraktionen von SPD und CDU/CSU, fortgesetzt und weiter intensiviert werden . Siegmund Ehrmann (SPD): Ich stimme der ver- längerten Sonderregelung zum erleichterten Bezug von Arbeitslosengeld I für überwiegend kurz befristet Be- schäftigte im Rahmen des „Gesetzes zur Stärkung der beruflichen Weiterbildung und des Versicherungsschut- zes in der Arbeitslosenversicherung“ (AWStG) zu und erkläre: Die Verlängerung der befristeten Sonderregelung zum erleichterten Bezug von Arbeitslosengeld I (ALG I) für überwiegend kurz befristete Beschäftigte (§ 142 SGB III) bis zum 31 . Juli 2018 im Rahmen des „Geset- zes zur Stärkung der beruflichen Weiterbildung und des Versicherungsschutzes in der Arbeitslosenversicherung“ (AWStG) ist sowohl in sozial- als auch in kulturpoliti- scher Hinsicht ein Fortschritt . Wir beenden mit dieser Regelung eine Phase der Unsicherheit und schaffen das nötige Zeitfenster für die Ausgestaltung einer tragfähigen Anschlussregelung . Dennoch ist dies nicht die erhoffte langfristige Lösung, die SPD, CDU und CSU in ihrem Koalitionsvertrag in Aussicht gestellt haben . Ursprüngliches Ziel der Sonderregelung war es, die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung für kurz- befristet Beschäftigte – vor allem im Kulturbereich – zu stärken . Während der Anspruch auf ALG I grundsätzlich erst bei zwölf Monaten versicherungspflichtiger Be- schäftigung innerhalb einer Rahmenfrist von zwei Jah- ren erworben werden kann, gilt nach der Sonderregelung eine verkürzte Anwartschaft von sechs Monaten . Die vorliegenden Zahlen der Antragstellungen und -bewilligungen zeigen jedoch, dass die ALG-I-Sonder- regelung in ihrer bestehenden Form nur bedingt greift . Im letzten Erhebungszeitraum vom 1 . April 2014 bis 31 . März 2015 wurden lediglich 295 Anträge bewilligt, die nach der Sonderregelung zu behandeln waren . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17157 (A) (C) (B) (D) Als Hinderungsgrund für die Inanspruchnahme der Sonderregelung haben sich für die Betroffenen vor al- lem die engen Zugangsvoraussetzungen erwiesen . Zum einen sieht die Sonderregelung eine Verdienstobergrenze von 34 860 Euro vor . Zum anderen dürfen die versiche- rungspflichtigen Beschäftigungen eine Dauer von zehn Wochen nicht überschreiten . Dies hat zur Konsequenz, dass die kurz befristet Beschäftigten trotz Zahlung von Beiträgen an die Arbeitslosenversicherung im Falle ei- nes Arbeitsplatzverlustes in der Regel kein Arbeitslosen- geld I erhalten . Daher war zwischen den Koalitionsparteien CDU/ CSU und SPD eine grundlegende Anpassung der Son- derregelung in dieser Legislaturperiode verabredet, die – entsprechend unserer Vereinbarungen im Koalitions- vertrag – „den Besonderheiten von Erwerbsbiografien in der Kultur hinreichend Rechnung“ tragen sollte . Wir plädieren dafür, dass die Regierungskoalition – im Inte- resse der Kulturschaffenden – an diesen Vereinbarungen festhält und sowohl die Verdienst- als auch die Befris- tungsgrenze der Sonderregelung der Berufswirklichkeit im Kulturbereich anpasst . Hierfür muss jetzt unmittelbar ein intensiver Prozess zwischen dem Bundesarbeitsmi- nisterium, dem Bundeskanzleramt und den Fraktionen von SPD und CDU/CSU in Gang gesetzt werden, um noch in dieser Legislaturperiode die praktischen Hürden der Sonderregelung abzubauen und die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung insgesamt zu stärken . Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags der Abgeordne- ten Susanna Karawanskij, Klaus Ernst, Jutta Krellmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion DIE LINKE: Finanzaufsicht nach Anlageplei- ten zum Schutz von Verbraucherinteressen stärken (Tagesordnungspunkt 19) Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Rechtsverfolgung von Verbrauchern begegnet im Fi- nanzbereich besonderen Herausforderungen . Dem Bür- ger stehen hier regelmäßig übergroße, undurchsichtige Emittenten und Vermittler gegenüber . Diese Beziehung ist weiterhin geprägt von einer asymmetrischen Infor- mationsverteilung zulasten des Verbrauchers, wobei das auf Abschlussprovisionen basierende Eigeninteresse der Berater die Gefahren dieser Asymmetrie noch verschärft . Erleidet der Verbraucher einen unrechtmäßigen Scha- den, steht er allzu oft alleine da . Die Schadensverursa- cher können sich darauf verlassen, dass dem Bürger die tatsächlichen Ursachen des Schadens nicht oder nur un- zureichend bekannt werden . Dazu kommt, dass die Schä- den regelmäßig unter den Anlegern weit gestreut sind und ein Rechtsstreit ohne ermittelbare Sachlage stets mit einem unwägbaren Ausgang und daher einem erhebli- chen Kostenrisiko verbunden ist . Im Ergebnis führt diese Situation zu einer Art rationa- ler Untätigkeit der Betroffenen: Es ist besser, die Verluste abzuhaken, als weitere erhebliche Unkosten zu riskieren . Und falls es doch einmal ein rechtsschutzversicherter Verbraucher wagt, zu klagen, bedienen sich die Beklag- ten nicht selten in rechtsmissbräuchlicher Weise des In- struments der Kettenstreitverkündung, bis die Gerichts- kosten auf einen prohibitiv hohen Betrag angeschwollen sind und die Rechtsschutzversicherung die Deckungszu- sage zurücknimmt oder der Verbraucher von selbst – er- neut ganz rational – die Segel streicht . Es gibt also in der Tat ganz erhebliche Missstände beim Verbraucherschutz nach Anlagepleiten, und wir be- grüßen jede Sensibilisierung für dieses Thema . Wenn wir von den Bürgern in einer anhaltenden Niedrigzinsphase und bei einer kriselnden Lebensversicherungsbranche eine diversifizierte private Altersvorsorge erwarten, dann gilt es, die Position von Verbrauchern gegenüber Finanz- dienstleistern und -instituten zu stärken . Der der BaFin auferlegte kollektive Verbraucherschutz ist aber nicht die Kumulation individueller Schutzgewäh- rung; die BaFin kann nicht und soll nicht zur Einzelfall- streithelferin werden. Wir wollen einfachere, effiziente und effektive Mittel, um die Defizite bei der Rechtsver- folgung zu beheben . Um die rationale Untätigkeit zu beenden, dürfen die drohenden Gerichtskosten die zu erwartende Schadenser- satzzahlung nicht überwiegen . Dafür muss die Informati- onsasymmetrie überbrückt werden, die Streitverfolgung muss für den Verbraucher einfacher und billiger werden, und rechtsmissbräuchliche Taktiken der Beklagten müs- sen unterbunden werden . Der Bundesfinanzminister ist gefordert, die BaFin zu einer schlagkräftigen Behörde auszubauen, die Sachver- halte bei Verdachtsmeldungen schnell und umfassend ermittelt . Geschädigten Anlegern muss bei den behördli- chen Verfahren ein Akteneinsichtsrecht gewährt werden, damit sie auf dieser Grundlage die Erfolgsaussichten ei- ner zivilrechtlichen Klage mit größerer Sicherheit prog- nostizieren können . Zudem sollte für den eingrenzbaren Bereich der Prospekt- und Emittentenhaftung die Mög- lichkeit einer Sammelklage geschaffen werden, damit auch weit gestreute Schäden auf eine für alle Beteiligten wirtschaftliche Weise gerichtlich geltend gemacht wer- den können . Eine Sammelklage funktioniert allerdings nicht, wenn die Schäden so weit gestreut sind, dass selbst die Rechts- anwaltsgebühren nach der Gebührenordnung zu rationa- ler Untätigkeit führen . Daher muss für die Fälle der Sam- melklage auch die Möglichkeit eines rechtsanwaltlichen Erfolgshonorars in angemessener Höhe erlaubt sein . So wird das Kostenrisiko für die Verbraucher auf null redu- ziert; der mögliche Fehlanreiz zu einem zu frühen, zu niedrigen Vergleich steht dahinter zurück . Um schließlich die missbräuchlichen Kettenstreitver- kündungen zu unterbinden, muss das Kostenregime der Zivilprozessordnung geändert werden . Der Streitverkün- der soll bis zum Urteil den Kostenvorschuss tragen . Mit diesen Regelungen wird die Verbraucherposition spürbar gestärkt werden, ohne dass es zu Mehrkosten für rechtschaffende Prospektersteller, Emittenten oder Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617158 (A) (C) (B) (D) Berater käme . Kern dieser Regelungen muss aber eine schlagkräftige Finanzaufsicht sein, wofür Herr Minister Schäuble weiterhin in der Verantwortung steht . Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung bewachungsrechtlicher Vorschriften (Tagesord- nungspunkt 20) Dr. Kristina Schröder (Wiesbaden) (CDU/CSU): Ich freue mich sehr, dass wir heute den vom Bundeswirt- schaftsministerium vorgelegten Entwurf eines „Geset- zes zur Änderung bewachungsrechtlicher Vorschriften“ in den Bundestag einbringen . Damit starten wir auf die Zielgrade eines Reformprozesses, den wir Wirtschaftspo- litiker, aber auch unsere Kollegen aus dem Innenressort auf Bundes- wie Länderebene schon lange vorantreiben; denn es besteht große Einigkeit darüber, dass wir klarere Regeln für die private Sicherheitswirtschaft brauchen: Die Branche ist in den vergangenen Jahren ein wich- tiger Pfeiler unserer deutschen Sicherheitsarchitektur ge- worden, und die Mitarbeiter privater Sicherheitsfirmen ergänzen die Arbeit der Polizei der Länder und des Bun- des in vielen Bereichen . Ohne sie wären Großveranstal- tungen wie Fußballspiele oder Konzerte, aber auch der Schutz kritischer Infrastruktur undenkbar . Insofern diskutieren wir heute zwar nicht die Über- tragung von staatlichen Hoheitsrechten an private Un- ternehmen – das Gewaltmonopol möchte niemand hier aufweichen –, es geht jedoch in der Tat um elementare sicherheitspolitische Fragestellungen . Dessen sind sich alle bewusst, die an der Novelle mitarbeiten, und ich bin sehr froh über die sehr konstruktive Zusammenarbeit mit den Kollegen aus dem Innenausschuss . Wir stellen also fest: Gemessen an der hohen Verantwortung der Branche ist die gesetzliche Regulierung unzureichend . Deswegen hat die Koalition von CDU, CSU und SPD in ihrem Koa- litionsvertrag festgelegt, an private Sicherheitsdienstleis- ter verbindliche Anforderungen an Seriosität und Zuver- lässigkeit zu stellen . In Erinnerung ist uns allen noch der Vorfall in einer Flüchtlingsunterkunft in Burbach in Nordrhein-Westfa- len, als dort 2014 Bewacher Flüchtlinge massiv drang- saliert haben, und nach dem wegen einer Terrordrohung abgesagten Länderspiel in Hannover im November 2015 hat sich gar herausgestellt, dass ein mutmaßlicher Isla- mist unter den vom Deutschen Fußballbund beauftrag- ten Ordnern einer privaten Sicherheitsfirma war. Keiner möchte, dass sich so etwas wiederholt . Deswegen muss der Gesetzgeber jetzt dringend gegensteuern, bevor es zu noch schwereren Vorfällen kommt . Die Anforderungen und Regeln für das Sicherheitsge- werbe sind in der Gewerbeordnung – § 34a – und der zu- gehörigen Bewachungsverordnung festgeschrieben . Des- wegen ist auch der Wirtschaftsausschuss federführend . Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe unter Leitung des BMWi hat unter Einbeziehung aller beteiligten Akteure – IHKen, Gewerbeämter, Unternehmen, Verband usw . – Eckpunkte für eine Novelle ausgearbeitet, die seit Ende des letzten Jahres vorliegen . Das BMWi hat daraus den vorliegenden Gesetzentwurf entwickelt, um die beste- hende Unterregulierung in der Branche zu beenden . Ziel des Gesetzentwurfs ist es, durch höhere Standards und durch die Verbesserung des Vollzugs die Bürger zu schüt- zen und das Vertrauen in die Branche aufrechtzuerhalten . Die Anforderungen sind im europäischen Vergleich mit am niedrigsten: Derzeit schreibt die Gewerbeordnung strengere Re- gelungen für die Bewachung von Diskotheken und für Kaufhausdetektive als für diejenigen vor, die in Flücht- lingsunterkünften arbeiten . Zweitens . Um die Zuverlässigkeit, das heißt die Se- riosität, der Bewacher zu prüfen, langt es aus, einmalig zu Beginn der Tätigkeit ein einfaches polizeiliches Füh- rungszeugnis abzufragen. Das heißt, später stattfindende Verurteilungen und laufende Verfahren fallen unter Um- ständen nie auf . Auch Abfragen beim Verfassungsschutz hat es bislang nur in seltenen Fällen gegeben . Drittens . Für das Personal reicht meist eine 40-stün- dige Unterrichtung ohne Prüfung bei einer IHK aus, um eingesetzt werden zu dürfen . Auch um als Unternehmer ein Sicherheitsgewerbe anzumelden, braucht man nur ei- nen Sitzschein . Viertens . Außerdem lässt die Transparenz in der Bran- che zu wünschen übrig . Es gibt bislang keine einheitli- chen Ausweise für Sicherheitspersonal und auch kein Branchenregister . Insgesamt können sich nach der aktu- ellen Gesetzeslage auch Unternehmen mit sehr niedrigen Standards in der Branche halten . Der Gesetzentwurf umfasst daher folgende zentrale Verbesserungen zur Qualitätssteigerung: Wer ein Sicherheitsgewerbe anmelden möchte, muss zukünftig eine Sachkundeprüfung ablegen . Eine Unter- richtung reicht nicht mehr aus . Auch für das Personal in Flüchtlingsunterkünften und bei zugangsbeschränkten Großveranstaltungen wie Fußballspielen und Konzerten werden die Prüfungsanforderungen erhöht . Die Zuverläs- sigkeitsprüfung für die Unternehmer und das Personal, die das zuständige Gewerbeamt durchführt, wird erheb- lich erweitert, sodass Straffälligkeiten und Verbindungen zu extremistischen Gruppen zukünftig besser und schnel- ler erkannt werden können . Die Zuverlässigkeitsprüfung muss außerdem alle drei Jahre wiederholt werden . Den schwarzen Schafen unter den Unternehmern sowie den Angestellten kann so in Zukunft konsequent die Erlaub- nis der Gewerbebehörde entzogen werden . Ein bundes- weites, elektronisch auswertbares Bewacherregister wird aufgebaut, sodass bei Kontrollen Informationen über die notwendigen Unterrichtungs- und Sachkundenachweise sowie die Zuverlässigkeit schnell beschafft werden kön- nen . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17159 (A) (C) (B) (D) Insbesondere für die Aufnahme des Registers – mit festem Stichtag für die Inbetriebnahme – haben mein Kollege Marcus Held, Berichterstatter der SPD, und ich uns bereits im Vorfeld intensiv eingesetzt . Wir danken dem BMWi, dass dieser Punkt bereits vor Kabinettsbe- schluss in den Regierungsentwurf aufgenommen wurde . Einige weitere Punkte werden wir uns jetzt im parla- mentarischen Verfahren vornehmen: Wir können uns vorstellen, die Möglichkeiten zur Ver- fassungsschutzabfrage noch auszuweiten . Diese Ansicht unterstützt übrigens auch der Bundesrat in seiner Stel- lungnahme . Dass ein den Behörden bekannter Islamist als Ordner bei einem Fußballspiel zum Einsatz kommt oder dass ein Rechtsextremer eine Flüchtlingsunterkunft bewacht, möchten wir auf jeden Fall vermeiden . Welche Maßnahmen hier sinnvoll sind, werden wir noch prüfen . Auch beim Bewacherausweis können wir uns noch mehr vorstellen . Für Kontrollen und die Erkennbarkeit für den Bürger wäre ein bundesweit einheitlicher Aus- weis von Vorteil, der auch offen getragen werden muss . Außerdem wollen wir eine Regelung für Gewerbe- treibende und Bewacher ergänzen, die sich in den ver- gangenen fünf Jahren vor der Zuverlässigkeitsprüfung nicht dauerhaft in Deutschland oder der EU aufgehalten haben . In diesen Fällen ist es oft nicht möglich, die er- forderlichen Auskünfte für die Zuverlässigkeitsprüfung einzuholen, und wir wollen, dass dann die Erlaubnis ver- sagt werden kann; denn es macht keinen Sinn, insgesamt die Anforderungen an die Zuverlässigkeit der Mitarbei- ter dieser Branche zu erhöhen, aber bei neuen Bürgern auf jede Überprüfung der Zuverlässigkeit zu verzichten . Nach fünf Jahren kann davon ausgegangen werden, dass den inländischen Behörden ausreichend Anhaltspunkte vorliegen . Diese Aufgaben nehmen wir uns für die kommenden Wochen vor . Es wird eine Neuregelung mit Augenmaß geben, die innenpolitische und wirtschaftspolitische Er- wägungen berücksichtigt und nur dort regulierend ein- greift, wo wir uns begründet einen Mehrwert verspre- chen . Schließlich gilt es auch, die Gewerbe- und Betäti- gungsfreiheit zu berücksichtigen und unnötige Büro- kratie für die Unternehmen und die Verwaltung zu ver- meiden . Das klare Ziel ist es, das Gesetz zur Änderung bewachungsrechtlicher Vorschriften noch vor der Som- merpause zu verabschieden . Marcus Held (SPD): Heute beraten wir in erster Le- sung den Entwurf eines „Gesetzes zur Änderung bewa- chungsrechtlicher Vorschriften“ . Der Gesetzentwurf ist das Ergebnis eines Eckpunktepapiers einer Bund-Län- der-Arbeitsgruppe zu dem Thema . Diese hatte sich nach verschiedenen Vorfällen und Übergriffen in Flüchtlings- heimen formiert, um Vorschläge zur Verschärfung des gewerblichen Bewachungsrechts und zur Verbesserung des Vollzugs in diesem Bereich zu machen . Private Sicherheitsdienste sind, wie ich damals in mei- ner Rede hier betont habe, ein wichtiger Bestandteil in der Sicherheitsarchitektur Deutschlands und an vielen Stellen nicht mehr wegzudenken . Daher hatte sich die Frage gestellt, ob die derzeitigen Anforderungen an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im privaten Sicher- heitsgewerbe noch dieser gestiegenen Bedeutung ent- sprechen . Damit werden wir uns intensiv auseinanderzu- setzen haben . Auf dem Tisch liegt nun ein Gesetzentwurf aus dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, zu dem es auch schon eine Stellungnahme des Bundesrates und die entsprechende Gegenäußerung der Bundesregierung gibt . Wichtig ist dabei vor allem, das Wesentliche im Blick zu halten, nämlich, die schwarzen Schafe, die es im pri- vaten Sicherheitsgewerbe gibt, einzudämmen und die bisher seriösen privaten Sicherheitsdienste, die sich bis- her nichts haben zu Schulden kommen lassen und gut qualifiziertes Personal beschäftigen, zu stärken. Einige Worte zu dem vorliegenden Gesetzentwurf: In Bezug auf die Sachkunde des Bewachungsunter- nehmers und -personals sieht der Gesetzentwurf laut § 34a Absatz 1 Satz 3 Nummer 3 Gewerbeordnung eine Sachkundeprüfung als Erlaubnisvoraussetzung für die Bewachungsunternehmer vor . Ebenso soll es für das Be- wachungspersonal in leitender Funktion nun auch eine Sachkundeprüfung in Flüchtlingsunterkünften und bei zugangsgeschützten Großveranstaltungen geben, wie es in § 34a Absatz 1a Satz 2 Nummern 4 und 5 Gewerbe- ordnung steht . In Bezug auf die Zuverlässigkeit soll es im Gesetz- entwurf für den Bewachungsunternehmer nun neben der Auskunft aus dem Gewerbezentralregister und der un- beschränkten Auskunft aus dem Bundeszentralregister auch die Möglichkeit einer Auskunft der Polizeibehörde und einer Abfrage beim zuständigen Landesverfassungs- schutz geben . Für das Wachpersonal kann diese Abfrage beim Landesverfassungsschutz erfolgen, wenn es, wie bei der Sachkunde, in leitender Funktion Flüchtlingsun- terkünfte oder zugangsgeschützte Großveranstaltungen bewacht . Weiterhin werden wir im parlamentarischen Verfahren auch die Vorschläge des Bundesrates prüfen . Die Bun- desländer fordern in ihrer Stellungnahme, dass eine Ab- frage bei der Verfassungsschutzbehörde nicht nur mög- lich ist, sondern gleich gesetzlich vorgeschrieben wird . Ebenso fordert der Bundesrat eine Überprüfung von Gewerbetreibenden, die sich nicht dauerhaft im Inland oder in einem EU/EWR-Staat aufgehalten haben, nach fünf Jahren . Daneben werden wir uns mit den Themen „Einheit- licher Bewacherausweis“ und „Errichtung eines Bewa- cherregisters“ auseinanderzusetzen haben, zu denen uns vonseiten des Ministeriums und des Bundesrates Vor- schläge gemacht wurden . Wir werden die Zeit im par- lamentarischen Verfahren, auf welche ich mich freue, nutzen, um uns intensiv damit zu befassen . Mit meiner Kollegin aus der Union, Frau Dr . Schröder, stehe ich hierzu in gutem Kontakt . Der Gesetzentwurf bildet eine gute Diskussionsgrundlage . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617160 (A) (C) (B) (D) Ich hoffe, dass wir als SPD-Bundestagsfraktion nach Ende des Gesetzgebungsverfahrens ein ordentliches Ge- setz auf den Weg gebracht haben, welches seriöse private Sicherheitsunternehmen mit gut ausgebildetem Personal stärkt und wodurch Vorfälle, wie wir sie in der Vergan- genheit erleben mussten, eingedämmt werden . Thomas Lutze (DIE LINKE): Die sogenannte Flüchtlingskrise hat der Sicherheitsbranche einen Boom beschert: Rund 10 000 der rund 219 000 Beschäftigten im Bewachungsgewerbe sind in Flüchtlingsheimen tätig . Gab es im Jahr 2000 noch 2 570 Wach- und Sicherheits- dienste, sind jetzt rund 4 000 Firmen auf dem Markt . Die Zahl der Mitarbeiter ist von rund 171 000 im Jahr 2010 auf nun rund 219 000 Mitarbeiter angestiegen . Die Mitarbeiter in privaten Sicherheitsdiensten, die zuständig für die Bewachung von Flüchtlingsunterkünf- ten sind, sind oft bewaffnet, obwohl sie im Durchschnitt nur etwa zwei Wochen geschult werden . Die Liste der Vorfälle, in denen es in den letzten Jahren zu Fehlver- halten und Straftaten durch Sicherheitspersonal kam, ist lang: Die grausamen Misshandlungen von Asylbewer- bern in Burbach im Siegerland sind nicht der einzige erschreckende Vorfall . Hinzu kommen mehrere Berichte von gewalttätigen Übergriffen durch Sicherheitsperso- nal, ein Granatwurf auf ein von der Konkurrenz bewach- tes Asylbewerberheim sowie Schikanen und Gewaltan- drohungen . Die Linksfraktion begrüßt daher, dass die Bundesre- gierung nun angesichts der weiter steigenden Zahl von Bewachungsunternehmen erhöhte Standards einführen möchte, ebenso die regelmäßige Überprüfung von Unter- nehmen und Personal . Es muss gesetzlich sichergestellt werden, dass die Gewerbetreibenden und das Personal Standards der persönlichen Eignung, Zuverlässigkeit und Sachkunde erfüllen . Obwohl wir einzelne Maßnah- men begrüßen und glauben, dass sie eine Verbesserung darstellen, sehen wir den Gesetzentwurf der Bundesre- gierung dennoch kritisch . Insbesondere zu kritisieren ist die vorgesehene Mög- lichkeit des Datenabgleichs mit den Landesämtern für Verfassungsschutz . Es ist nicht geregelt, ob die Landes- ämter lediglich melden, ob es einen Treffer im nachrich- tendienstlichen Informationssystem gibt oder nicht oder ob die Landesämter im eigenen Ermessen eine Zuverläs- sigkeitsprognose abgeben sollen . Es ist nicht einmal ein- deutig festgelegt, dass sie sich überhaupt oder jedenfalls wahrheitsgemäß äußern müssen . Ebenso fehlen jegliche datenschutzrechtliche Regelungen zum Umgang mit den an die Landesämter übermittelten Daten, was beispiels- weise Speicherung und Löschung betrifft . Unverständlich ist am Gesetzentwurf auch, dass die Regelungen zum Fachkundenachweis nur bei bestimm- ten Tätigkeiten, nicht aber im gesamten Wachschutzge- werbe gelten sollen . Wir müssen auch feststellen, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung den gefährlichen Trend des Abbaus des staatlichen Gewaltmonopols fort- setzt . Denn die vermeintliche Notwendigkeit des Einsatzes privater Bewachungsunternehmen ist insbesondere Re- sultat des massiven Stellenabbaus bei Polizeibeamten im Streifen- und Schutzdienst . In vielen Bundesländern sinkt die Zahl weiter oder stagniert trotz steigenden Be- darfs . Wir haben es hier mit einem Ausverkauf der öf- fentlichen Sicherheit zu tun . Zwar wird durch Kontrolle und Transparenz privater Sicherheitsunternehmen auf die katastrophale Situation reagiert, jedoch ändert das nichts daran, dass die gegenwärtige Entwicklung hinsichtlich der Privatisierung von Sicherheitsaufgaben grundsätzlich bedenklich ist . Hier muss dringend umgedacht werden! Und lassen Sie mich auch ganz klar sagen: Die Aus- bildung sogenannter Hilfspolizisten im Schnellverfahren ist sicherlich nicht der richtige Weg . Nach maximal drei Monaten Ausbildung bereits mit Schusswaffe in Flücht- lingsunterkünften eingesetzt zu werden, wo schnell eine Situation entstehen kann, unter großem Stress eine Ent- scheidung zu treffen, kann verheerende Folgen haben . Hierzu braucht es vielmehr eine intensive Polizeiausbil- dung und umfassende Rechtskenntnisse . Halten wir fest: Die geplanten Änderungen führen zwar zu einer Verbesserung der gegenwärtigen Situation, das Grundproblem der Erosion des staatlichen Gewalt- monopols bleibt jedoch bestehen . Die Linke wird ihre Verbesserungsvorschläge in die Ausschussberatung ein- bringen . Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Eckpunktepapier des Bund-Länder-Ausschusses „Ge- werberecht“ zur Überarbeitung des Bewachungsrechts hatte die Hoffnung geweckt, die Zeit für eine wirkliche Reform des privaten Sicherheitsgewerbes wäre endlich gekommen . Aber leider löst der vorliegende Gesetzent- wurf dieses Versprechen nicht ein . Zu viele wichtige Punkte wurden nicht aufgegriffen oder sind zwischen- zeitlich unter den Tisch gefallen . Eine Sachkundeprüfung sollte in weiteren Bereichen eine selbstverständliche Voraussetzung für die Aufnah- me einer Tätigkeit sein, die den Schutz von Menschen und kritischer Infrastruktur – gerade auch in Ausnahme- situationen – zum Gegenstand hat . Dabei reicht es nicht, wenn nun die Geschäftsleitung entsprechend geschult wird . Die Kompetenzen und Fähigkeiten müssen vor Ort vorhanden sein, damit sie abrufbar sind, wenn sie be- nötigt werden . Und die Anforderungen der praktischen Arbeit sind vielfältig und hoch . Daher braucht es auch entsprechende Qualitätsstandards für die Ausbildung der Sicherheitskräfte . Der vorliegende Gesetzentwurf kann das aber in kei- ner Weise garantieren . Es fehlen entsprechende konkrete Vorgaben in Bezug auf Inhalt und Qualität der Ausbil- dung, und die Einhaltung entsprechender gesetzlicher Vorgaben muss notwendigerweise auch vor Ort überprüf- bar sein . Hier liegt eine weitere große Schwäche des vor- liegenden Gesetzentwurfs; denn das noch im Eckpunkte- papier diskutierte bundesweite Register wurde ersatzlos gestrichen . So sind Kontrollen vor Ort praktisch nicht sinnvoll möglich . Dies alles trägt nicht dazu bei, den dringend notwen- digen Qualitätswettbewerb im Sicherheitsgewerbe zu fördern . Ich bin daher wenig optimistisch, dass die Serie Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17161 (A) (C) (B) (D) schwerster Übergriffe durch Beschäftigte von Sicher- heitsdiensten, wie wir sie in Flüchtlingsunterkünften er- leben mussten, nicht wieder aufflammen wird. Es sollte uns sehr zu denken geben, wenn betroffene Wirtschafts- verbände mehr Regulierung in ihrem Bereich fordern . Auch finde ich nicht, dass der Gesetzentwurf die schrecklichen Vorfälle des letzten Jahres angemessen be- rücksichtigt . Wir müssen davon ausgehen, dass überhaupt nur die Spitze des Eisberges öffentlich bekannt geworden ist . Doch schon die bekannten Fälle lassen strukturelle Defizite erkennen, die ein entschiedenes Eingreifen des Gesetzgebers geboten erscheinen lassen . Wir brauchen im Sicherheitsgewerbe einen Berufs- stand, der sich höheren Zielen verpflichtet sieht. Es kann nicht sein, dass der Staat den Schutz von geflüchteten Menschen in die Hände von Personen legt, die selbst Protagonistinnen oder Protagonisten einer rechten Be- wegung sind . Entsprechende Informationen des Verfas- sungsschutzes sollten daher regelmäßig und nicht nur, wie im Gesetzentwurf vorgesehen, in Ausnahmefällen berücksichtigt werden . Die Polizei ist den Grundrechten, der Demokratie und dem Rechtsstaat verpflichtet. Der Anspruch an private Sicherheitsdienste im Sinne dieser verfassungsrechtli- chen Werteordnung kann nicht geringer sein . Das sind allgemeine Grundsätze, die allgemeine Geltung haben müssen . Sie gelten aber in besonderer Weise, wenn Si- cherheitsdienste die Polizei unterstützen sollen . Der vor- liegende Gesetzentwurf greift berechtigte Bedenken in diesem Bereich nicht auf . Dass Zuverlässigkeitsprüfungen nun wenigstens häu- figer und unter Einbeziehung einer unbeschränkten Aus- kunft aus dem Bundeszentralregister erfolgen sollen, ist aber zumindest ein Schritt in die richtige Richtung . Auch die Verbesserungen, die für den Bereich der Unterbrin- gung geflüchteter Menschen gelten werden, sind zu be- grüßen . Mit unserem Antrag „Private Sicherheitsfirmen um- fassend regulieren und zertifizieren“ haben wir, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, bereits vor eineinhalb Jahren mehr gefordert . Diesen Weg wollten Sie damals nicht mitgehen . Der Gesetzentwurf heute ist daher nur ein erster Schritt in die richtige Richtung . Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf für Beamtinnen und Beamte des Bundes und Solda- tinnen und Soldaten sowie zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften (Tagesordnungs- punkt 21) Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Zur ersten Beratung des Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf für Beamte und Soldaten möchte ich Ihnen die Eckpunkte dieses Gesetzentwurfs zunächst kurz vorzustellen: Angesichts der kontinuierlich zunehmenden Zahl der Pflegebedürftigen in unserer Gesellschaft stehen auch immer mehr Beamtinnen, Beamte, Soldatinnen und Sol- daten vor der Aufgabe, sich innerhalb der Familie aktiv in die Pflege einzubringen. Tritt ein akuter Pflegefall ein, müssen die Pflegenden ihren Alltag oft grundlegend verändern; sie müssen kurzfristig eine professionelle Unterstützung organisieren oder auch selbst für länge- re Zeit die häusliche Pflege übernehmen. Dies stellt sie besonders dann vor große Herausforderungen, wenn sie berufstätig sind . Wir unterstützen mit diesem Gesetzent- wurf unsere pflegenden Beschäftigten, ihren Beruf und die Pflege besser in Einklang zu bringen. Die neuen Regelungen erleichtern es einerseits Fa- milien, Pflege und berufliche Verpflichtungen besser zu vereinbaren, andererseits leisten sie auch einen wichtigen Beitrag zur Fachkräftesicherung und dienen so den Inte- ressen der Arbeitgeber . Der Bedarf jedenfalls ist da: Bereits seit Juli 2013 können Beamte des Bundes ei- nen Antrag auf Familienpflegezeit stellen. Allerdings liegt die Bewilligung noch im Ermessen des Dienstherrn . Im vergangenen Jahr hat das Bundesministerium des Innern eine Ressortabfrage bei den obersten Bundesbe- hörden durchgeführt, um einen Überblick zu erhalten, in welchem Umfang Familienpflegezeit in Anspruch genommen wurde . Diese Abfrage ergab, dass im Zeit- raum von Juli 2013 bis einschließlich Februar 2015 von insgesamt 15 gestellten Anträgen auf Familienpflegezeit 14 Anträge bewilligt wurden . Wer den demografischen Wandel in den Blick nimmt, der weiß, dass der Pflegebedarf in den nächsten Jahren zunehmen wird . Diesen Entwicklungen muss sich auch der Staat als Arbeitgeber stellen . Wir müssen bereits heu- te darauf reagieren und die entsprechenden Weichen für einen leistungsfähigen öffentlichen Dienst stellen . Dies wird nur dann gelingen, wenn er seine Verantwortung für ein flexibles, familienorientiertes und gesundes Arbeiten wahrnimmt und als Arbeitgeber für seine Mitarbeiter so- wie für Nachwuchskräfte attraktiv bleibt . Dabei müssen wir die Zeitsouveränität für die Be- schäftigten auch im öffentlichen Dienst zukunftsfest gestalten . Um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Sorge für die Familie, insbesondere die Pflege von Älteren, zukünftig mehr Zeit in Anspruch nehmen wird, müssen Berufs- und Familienleben flexibler gehandhabt werden können . Dies ist auch ein Ausdruck von Wert- schätzung den eigenen engagierten Mitarbeitern gegen- über . Angesichts der hohen Bereitschaft, Familienangehö- rige zu pflegen, ist es eine wichtige gesellschaftspoliti- sche Aufgabe, die Rahmenbedingungen zur Vereinbar- keit von Pflege und Erwerbstätigkeit für Beschäftigte zu verbessern . Mit dem Gesetzentwurf soll deshalb nun ein Rechtsanspruch auf Familienpflegezeit und Pflegezeit für Beamte und Soldaten eingeführt werden . Die Beschäftigten sollen zudem einen Vorschuss in Anspruch nehmen können, um während der – teilwei- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617162 (A) (C) (B) (D) sen – Freistellung, die mit einer Gehaltsreduzierung verbunden ist, ihren Lebensunterhalt weiter sichern zu können . Hierzu werden das Bundesbeamtengesetz, das Bundesbesoldungsgesetz und das Soldatengesetz ent- sprechend angepasst . Damit wird das für die Privatwirt- schaft und für Tarifbeschäftigte bereits seit dem 1 . Januar 2015 geltende Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Fa- milie, Pflege und Beruf im Wesentlichen wirkungsgleich im Beamten- und Soldatenbereich nachvollzogen . Lassen Sie mich auf einen weiteren Punkt des Gesetz- entwurfs zu sprechen kommen: Ich will über Gewalt gegen Beschäftigte im öffent- lichen Dienst sprechen . Leider ist dies mittlerweile ein allgegenwärtiges Problem . Um diese zu bekämpfen, ha- ben wir bereits eine Vielzahl von Maßnahmen getroffen . So wurde die Ausrüstung von Polizisten verbessert, es wurden Notrufknöpfe in Jobcentern installiert und Fort- bildungen durchgeführt, die Personalausstattung wurde erhöht, und Gesetzesänderungen im Strafgesetzbuch wurden vorgenommen . Jetzt gehen wir einen weiteren richtigen Schritt: Be- amte, die Opfer von Gewalt werden, sollen aus Fürsor- gegründen leichter Schmerzensgeld erlangen können . Aus Gewalttaten folgen zwar in der Regel Schmerzens- geldansprüche der Beschäftigten gegen die Täter, die Vollstreckung des Anspruchs scheitert aber mitunter an der fehlenden Leistungsfähigkeit des Schädigers . Beam- te, aber auch Soldaten, die Opfer von Gewalt werden, sollen mit der Durchsetzung derartiger Ansprüche nicht alleingelassen werden . Mit der Änderung des Bundesbeamtengesetzes sor- gen wir jetzt dafür, dass in solchen Fällen zunächst der Dienst herr zur Zahlung des Schmerzensgelds verpflichtet wird . Dieser muss sich dann beim Täter schadlos halten . Ein weiterer Punkt: Die Beihilferegelung in § 80 des Bundesbeamtengesetzes wird neu gefasst . Zum einen wird der Wortlaut an neue Formen der Leistungserbrin- gung angepasst, zum anderen wird die Ermächtigungs- grundlage für den Erlass der Rechtsverordnung prä- zisiert . Eingefügt werden soll zudem ein gesetzlicher Forderungsübergang von Erstattungs- und Schadens- ersatzansprüchen von beihilfeberechtigten und berück- sichtigungsfähigen Personen auf den Dienstherrn bei zu Unrecht erbrachten Beihilfeleistungen . Des Weiteren sollen Regelungen, die neu in die Richt- linie über die Anerkennung von Berufsqualifikationen – Richtlinie 2005/36/EG – aufgenommen worden sind, im Dienstrecht des Bundes umgesetzt werden . Die Richtli- nie sieht vor, dass sich die Mitgliedstaaten der Europä- ischen Union über Berufsangehörige unterrichten müs- sen, denen die Ausübung unter anderem einer ärztlichen Tätigkeit untersagt worden ist . Ferner müssen sich die Mitgliedstaaten über Personen unterrichten, die für den Antrag auf Anerkennung der Berufsqualifikation ge- fälschte Nachweise benutzt haben; dies ist der sogenann- te Vorwarnmechanismus . Diese europarechtlichen Vorgaben werden durch neue Regelungen im Bundesbeamtengesetz und im Bundes- disziplinargesetz umgesetzt . Der Gesetzentwurf enthält darüber hinaus noch weite- re Änderungen, die der redaktionellen Bereinigung sowie der Klarstellung dienen . Insgesamt haben wir hier aus meiner Sicht ein gutes und ausgewogenes Paket vorgelegt . Ich möchte an dieser Stelle einen Dank an alle Mitarbeiterinnen und Mitar- beiter des öffentlichen Dienstes aussprechen, die täglich Großartiges leisten . Oswin Veith (CDU/CSU): In dieser Legislaturperio- de stellt das Thema Pflege für die Union einen Schwer- punkt dar . Unsere älter werdende Gesellschaft stellt uns vor eine Reihe von schwierigen Fragen . Werden Men- schen pflegebedürftig, sind in der Regel die Angehörigen gefragt, sich um jene zu kümmern, die sich nicht mehr selbst versorgen können . Viele Menschen entscheiden sich in dieser Situation dafür, die Angehörigen selbst zu pflegen und über einen gewissen Zeitraum die eigenen beruflichen Ambitionen hintanzustellen. Folgen einer solchen Entscheidung sind neben der Doppelbelastung auch finanzielle Einbußen. Die Koalition hat sich von Anfang an dieses Themas angenommen und sichtbare Fortschritte gemacht . Ange- fangen mit dem Gesetz zur Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf, haben wir vor über einem Jahr für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen Rechts- anspruch auf Pflegeunterstützungsgeld geschaffen. In einem akuten Fall können die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ohne Krankschreibung eine zehntägige Pflegeauszeit nehmen und erhalten einen Lohnersatz. Mit der Möglichkeit, die Arbeitszeit vorübergehend zu redu- zieren, müssen Arbeitnehmer nicht ihre Erwerbstätigkeit aufgeben, und den Arbeitgebern bleiben die Arbeitskräf- te so erhalten . Menschen, die Verantwortung für ihre Fa- milien übernehmen wollen, wird so erheblich geholfen . Nicht nur Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ken- nen familiäre Notsituationen bzw. familiären Pflegebe- darf, auch eine Vielzahl unserer Bundesbeamtinnen und Bundesbeamten wollen und müssen Verantwortung für ihre Angehörigen übernehmen können, wenn diese ihre Hilfe benötigen . Daher hat sich die Union bereits nach Verabschiedung des Gesetzes zur Pflegezeit für Ange- stellte für die Übertragung auch auf die Bundesbeamten ausgesprochen . Die Lebenslagen von Beamten und An- gestellten sind in diesem Fall vergleichbar, und ähnlich wie bei den Arbeitnehmern sollten auch Beamte An- spruch auf eine Auszeit erhalten, wenn Angehörige zu pflegen sind. Somit begrüße ich es für die CDU/CSU-Bundestags- fraktion, dass wir mit dem heute zur Debatte stehenden Gesetz Möglichkeiten für die Familienpflege für die Bundesbeamtinnen und Bundesbeamten schaffen . Damit tragen wir nicht nur den Veränderungen in unserer Ge- sellschaft Rechnung, sondern beseitigen zudem die Un- gleichbehandlung von Angestellten und Beamten . Denn auch Beamte sollen bei familiären Notlagen flexibel ein- springen können . Für die Bundesbeamtinnen und Bundesbeamten, Richterinnen und Richter sowie Soldatinnen und Sol- daten wird es ebenfalls einen Rechtsanspruch auf Fami- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17163 (A) (C) (B) (D) lien- und Pflegezeit geben. Dazu tritt ein Anspruch auf Vorschuss, um die Gehaltseinbußen aufgrund verkürzter Arbeitszeit abfedern zu können. Der Familienpflege- zeitanspruch wird als eine Teilzeitbeschäftigung von ma- ximal 24 Monaten bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von mindestens 15 Stunden ausgestaltet . Der Vorschuss soll während der Pflegezeit gezahlt und anschließend mit den Bezügen verrechnet werden . Gleichzeitig enthält der Gesetzentwurf einen Anspruch gegen den Dienstherren auf Schmerzensgeld im Falle ei- ner Verletzung durch Dritte während des Dienstes . Diese neue Regelung halte ich für ein wichtiges und richtiges Signal für unsere Beamten, die sich tagtäglich für unsere Bürger einsetzen . Viele vergessen, dass die Beamtinnen und Beamten sich um die Sicherheit unserer Bürger küm- mern und dabei täglichen Gefahren ausgesetzt sind . Im- mer wieder kommt es vor, dass vor allem Polizeibeamte während des Dienstes Opfer von Gewalttaten werden . Auch Soldaten werden angegriffen, wenn sie im Wege der Amtshilfe eingesetzt werden . Aus solchen Angriffen resultieren in der Regel Schmerzensgeldansprüche gegen den Schädiger . Betrachtet man die Gewalttaten gegen Polizeibeamte in den letzten Jahren, ist – das muss ich an dieser Stelle leider sagen – eine negative Entwicklung klar erkennbar . 2014 wurden 700 Mitarbeiter von Rettungsdiensten so- wie 60 000 Polizisten und Vollzugsbeamte angegriffen . Im vergangenen Jahr wurden nach Angaben der Gewerk- schaft der Polizei 62 000 Beamte angegriffen . Ein Trend zu mehr Gewalt und Respektlosigkeit gegenüber Beam- ten des Bundes und der Länder ist klar erkennbar, und wir als Bund sehen uns deshalb verpflichtet, hier zu han- deln . Der Gesetzentwurf sieht nun vor, dass der Bund für angegriffene Beschäftigte die Schmerzensgeldansprüche regelt, wenn der Täter zahlungsunfähig ist . Mit dieser Regelung zeigen wir als Bund, dass wir Respektlosigkeit und Gewalt gegen unsere Beamten nicht dulden, und las- sen Betroffene nicht alleine mit ihren Ansprüchen gegen oftmals mittellose Angreifer . Es kann nicht sein, dass die- jenigen, die sich tagtäglich für die Belange des Gemein- wohls und die Sicherheit der Bürger einsetzen, zuneh- mend von Gewalt bedroht sind . Gesetzliche Lösungen werden hier nicht ausreichen; wir benötigen ebenso ein Umdenken in der Bevölkerung, hin zu mehr Respekt im Umgang miteinander . Mit diesem ersten Schritt stellen wir uns eindeutig hinter unsere Beamtinnen und Beamte . Abschließend betone ich, dass wir mit diesem Gesetz- entwurf unser Ziel weiter fortschreiben, den öffentlichen Dienst attraktiver zu gestalten . Attraktiv ist ein Arbeitge- ber, wenn er im Falle von Notsituationen Verständnis für die Bedürfnisse der Arbeitnehmer hat . Wie auch schon beim ersten Familienpflegegesetz, welches wir auch auf die Bundesbeamten übertragen haben, übertragen wir nun auch den Familienpflegezeitanspruch auf die Bun- desbeamten . Ich werbe daher für eine breite Zustimmung zum Gesetzentwurf . Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): Plötzlich wurde mein Mann zum Pflegefall: So höre ich es manchmal in meiner Sprechstunde, und die dann folgenden Schil- derungen der Menschen führen mir immer wieder vor Augen, was Angehörige alles zu leisten haben, wenn ein geliebter Mensch plötzlich gepflegt werden muss. Das wirft den gesamten Alltag durcheinander, und viele Fragen strömen auf die Betroffenen ein: „Wie soll der Angehörige gepflegt werden, zu Hause oder in einer Ein- richtung?“, „Wer soll nun pflegen, eine Fachkraft oder jemand aus der Familie?“, „Was kostet das, und wie soll das bezahlt werden?“, „Erhalte ich hier Unterstützung, und welche?“ usw . Jeden Tag stehen Familien vor dieser Situation, und die Pflegebedürftigkeit, das wissen wir alle, wird deut- lich zunehmen, wenn die Babyboomer, nämlich meine Generation, in das fortgeschrittene Alter kommen . Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes wird sich die Anzahl der Pflegebedürftigen in den nächsten 15 Jah- ren auf rund 3,5 Millionen belaufen. Sehr häufig sind es Frauen, die diese überaus wichtige und notwendige Ar- beit leisten . Schauen wir uns die aktuelle Situation an: Rund 2,6 Millionen Menschen waren Ende 2013 pflegebedürf- tig, und rund 1,8 Millionen, das heißt mehr als zwei Drit- tel davon, wurden zu Hause versorgt . Bei 1,25 Millionen waren es Angehörige, die die Pflege übernahmen. Das ist eine enorme Zahl und zeigt, welche Leistung in den Fa- milien erbracht wird . Das verdient unsere Anerkennung, und das darf in diesem Haus auch deutlich gesagt wer- den . Diese Situation betrifft natürlich auch viele Arbeitneh- merinnen und Arbeitnehmer . Wir wissen, dass die Anzahl der Erwerbstätigen unter den Pflegenden ansteigt und weiter ansteigen wird, und wir müssen dem Rechnung tragen, indem wir die Rahmenbedingungen dafür ver- bessern . Wer seine Arbeitszeit reduziert oder sogar un- terbricht, um einen Angehörigen zu pflegen, soll soweit es geht Unterstützung erhalten . Hier sind wir als Gesetz- geber gefragt, und wir haben in dieser Legislaturperiode schon einige Anstrengungen unternommen, um die Situ- ation für erwerbstätige Pflegende zu verbessern. So haben wir mit dem Pflegezeitgesetz und dem Fa- milienpflegezeitgesetz die Freistellungsmöglichkeiten für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verbessert, bei denen plötzlich eine Pflegesituation eintritt. Sie haben seit dem 1 . Januar 2015 einen Anspruch auf vollständige oder teilweise Freistellung und auf finanzielle Förderung. Mithilfe des Pflegeunterstützungsgeldes können durch die Pflegesituation entstandene finanzielle Engpässe re- duziert werden . Das ist gut so und hat seit 2015 die Situ- ation für die Menschen verbessert . Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir diese Verbesserungen auf Beamtinnen und Beamte und Soldatinnen und Soldaten übertragen . Das ist drin- gend notwendig; denn natürlich gibt es auch hier viele Menschen, die parallel zu ihrer Berufstätigkeit Angehö- rige pflegen und betreuen, und auch hier wird sich die de- mografische Situation niederschlagen und die Erwerbstä- tigen verstärkt vor Herausforderungen stellen . Mit dem Gesetzentwurf schaffen wir auch für diese große und wichtige Beschäftigtengruppe einen Rechtsan- spruch auf Familienpflegezeit und Pflegezeit. Sie haben künftig einen Anspruch auf Familienpflegezeit von bis Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617164 (A) (C) (B) (D) zu 24 Monaten bei einer verbleibenden Arbeitszeit von 15 Stunden pro Woche. Darüber hinaus können sie Pfle- gezeit beanspruchen bei bis zu sechs Monaten vollstän- diger oder teilweiser Freistellung . Das schafft bei kurz- fristigem Handlungsbedarf kurzfristige Freiräume . Bei einer plötzlich eintretenden Pflegesituation wird dadurch die Situation spürbar erleichtert . Auch hier ermöglichen wir eine finanzielle Förderung, um den Lebensunterhalt für die Betroffenen zu sichern . Mit diesen Maßnahmen haben wir die Gruppe der Be- amtinnen und Beamten sowie Soldatinnen und Soldaten als wichtige Säulen in unserer Gesellschaft einbezogen, und das ist gut so . Wir haben mit dem Gesetzentwurf noch weitere Rege- lungen in den Blick genommen, die zu verändern waren . So wird es künftig möglich sein, vorübergehend zwei Beamtenverhältnisse – das auf Lebenszeit und das auf Widerruf oder Probe – nebeneinander zu haben . Damit tragen wir den beruflichen Veränderungswünschen Rech- nung und erleichtern den Wechsel in eine neue oder hö- here Laufbahn . Das ist eine kleine Änderung, die auch die Bürokratie entlastet und den öffentlichen Dienst fle- xibler macht . Darüber hinaus reagieren wir mit dem Gesetzentwurf auf eine Entwicklung, die leider auch zu den Realitäten von immer mehr Beamtinnen und Beamten gehört: Ge- walt im Dienst . Besonders gefährdet sind hier Polizistin- nen und Polizisten und Soldatinnen und Soldaten . Doch auch Verwaltungsbeamtinnen und -beamte sind schon bedroht und verletzt worden . War es bislang so, dass die Opfer von Gewalt bei Schadensersatzansprüchen häufig leer ausgingen, weil die Schädiger nicht zahlen konnten, wird im Falle ei- ner erfolglosen Vollstreckung künftig der Dienstherr die Schadensersatzzahlung übernehmen . Ziel der Angriffe ist nämlich stets die Instanz des öffentlichen Dienstes und nicht etwa der Beschäftigte als Privatperson . Damit wird sichergestellt, dass die Opfer von Gewalt in jedem Fall ihre rechtlich erstrittenen Ansprüche auch durchsetzen können . Das ist auch moralisch von Bedeutung und soll einen Beitrag zur Anerkennung der Beschäftigten leisten . Des Weiteren werden wir die Beihilfeverordnung konkretisieren . Dazu gehört die Einführung eines Forde- rungsübergangs von Schadensersatz- oder Erstattungs- ansprüchen auf den Dienstherrn . Auch das kommt den Beschäftigten zugute und hat unsere Zustimmung . Weitere Bestandteile des Gesetzentwurfs sind auch Anpassungen an EU-Normen . So werden Unterrichtungs- pflichten bei Berufsverboten und Disziplinarverfahren in den Bereichen Medizin, Gesundheitsversorgung und der Erziehung Minderjähriger nachvollzogen . Es ist somit ein Gesetzentwurf, der verschiedene Aspekte aufgreift und dabei vor allen Dingen die Verbesserung der Situa- tion von Beamtinnen und Beamten und Soldatinnen und Soldaten im Blick hat . Das begrüßen wir ausdrücklich . Dennoch gibt es hier und da noch Punkte, die im wei- teren Verfahren zu diskutieren sind . So stellt sich zum Beispiel die Frage, ob bei den Schadensersatzansprüchen die geplante Bagatellgrenze von 500 Euro nicht im Sinne der Beschäftigten aufzuheben wäre . Darüber werden wir sicher noch einmal diskutieren; denn auch hier werden die Maßgaben des Struck’schen Gesetzes greifen . Ich freue mich auf die Beratungen in den Ausschüs- sen . Frank Tempel (DIE LINKE): Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem für die Be- amtinnen und Beamten die Regelungen nach dem Pfle- gezeitgesetz bzw. dem Familienpflegezeitgesetz weitge- hend übernommen werden sollen . Dieses Anliegen wird von der Linken ganz grundsätzlich begrüßt und unter- stützt . Auch Beamtinnen und Beamte müssen die Mög- lichkeit haben, ihre Angehörigen zu pflegen und danach in ihren Beruf zurückzukehren . Leider enthält der Gesetzentwurf an einzelnen Punk- ten eine Schlechterstellung gegenüber Arbeitnehmerin- nen und Arbeitnehmern, die für uns sachlich nicht nachvollziehbar ist . Noch dazu enthält er sachfremde Neuregelungen, die gesondert diskutiert werden müssen . Zunächst zu den eigentlichen Regelungen zur Famili- enpflegezeit: Während Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen klaren Rechtsanspruch auf Beurlaubung zur Pflege ihrer Angehörigen haben, kann dies den Beamtinnen und Be- amten mit Verweis auf „zwingende dienstliche Gründe“ verweigert werden. Diese Abweichung vom Pflegezeit- gesetz ist für uns nicht nachvollziehbar; die Koalition muss hier dringend nachbessern . Eine Ungleichbehandlung sehen wir außerdem bei den Regelungen zum Ausgleich des Verdienstausfalls . Bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ist die Sache klar: Sie erhalten ein Darlehen des Bundesamts für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben . Bei Beschäftigten mit geringem Verdienst gibt es Härtefall- regelungen für die Stundung des Darlehens oder sogar einen teilweisen Verzicht auf Rückzahlung . Beamtinnen und Beamte müssen die während der Pflegezeit erhal- tenen Bezüge über Abzüge von ihrem Sold zurückzah- len, wenn die Pflegezeit vorbei ist. Für sie gibt es keine Möglichkeit eines Teilerlasses dieser Rückzahlung . Auch für die Stundung im Falle der weiteren Pflege über die 24-monatige Pflegezeit hinaus ist es in das Ermessen der Dienststelle gestellt, ob sie niedrigere Raten für die Ab- geltung des Darlehens genehmigt . Ich weise gerade auch für die Öffentlichkeit darauf hin, dass nicht alle Beamtinnen und Beamten wie die Made im Speck leben, sondern gerade für die unteren Besol- dungsgruppen Soldabzüge über einen längeren Zeitraum existenziell bedrohlich sein können. Dort finden sich überproportional viele Frauen, die zugleich in vier von fünf Fällen die Pflegearbeit in der Familie übernehmen. Der Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird hier also ein Bärendienst erwiesen . Hier müssen klare Regelungen analog zu den Regelungen des Familienpflegezeit- und des Pflegezeitgesetzes geschaffen werden, und zwar im Gesetz selbst und nicht, wie hier vorgesehen, auf dem Verordnungswege . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17165 (A) (C) (B) (D) Lassen sie mich noch einen letzten Punkt in Bezug auf die Pflegezeit ansprechen: Für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gelten die Regelungen ausdrücklich auch für die Begleitung ihrer sterbenden Angehörigen . Dem Wortlaut nach geht es für die Beamtinnen und Be- amten nur um die Pflege und Betreuung. Das kann auch die Sterbebegleitung meinen, muss es aber nicht . Auch hier fordern wir eine Klarstellung im Gesetzgebungsver- fahren . Darüber hinaus bleibt es bei unserer Kritik am Pfle- gezeitgesetz und am Familienpflegezeitgesetz, dass die geforderte Rückzahlung des Darlehens für die Pflege – im Falle der Beamten: die Verrechnung mit späteren Be- zügen – gerade für Bezieherinnen und Bezieher geringer Einkommen bzw . der untersten Besoldungsstufen ein Armutsrisiko darstellt und dass die starren Regelungen für die Befristung von Pflegezeit/Pflegeteilzeit keine fle- xible Reaktion auf unterschiedliche Krankheitsverläufe zulassen . Ich will am Ende noch auf eine Reihe sachfremder Re- gelungen des Gesetzentwurfs eingehen: Grundsätzlich zu begrüßen ist die Regelung zur Übernahme von tatsäch- lich nicht vollstreckbaren Schmerzensgeldansprüchen durch den Dienstherrn . Sie ist aber leider nur als Ermes- sens- statt als Ist-Regelung ausgestaltet, und die Mindest- betragsgrenze von 500 Euro ist zu hoch angesetzt und wird bei bereits gezahltem Unfallausgleich oder gezahl- ter Unfallentschädigung nicht gezahlt . Schmerzensgeld hat aber mit Unfallausgleich nichts zu tun . Die Gesundheitsprävention wird aus der Beamten- beihilfe herausgenommen . Das ist ein eklatanter Wider- spruch zum Ziel der Gesunderhaltung der Beamtinnen und Beamten im Rahmen der Demografie-Strategie der Bundesregierung . Das wird absurderweise dazu führen, dass Beamtinnen und Beamte Präventionsangebote der gesetzlichen Krankenversicherungen annehmen müssen, wenn es sie in ihrer Dienststelle gibt . Das würde eine un- zulässige Kostenverschiebung bedeuten . Ebenfalls zulasten der gesetzlichen Krankenversi- cherungen und der unteren Besoldungsgruppen geht die Neuregelung zur Kostenübernahme bei einem Wechsel in die gesetzliche Krankenversicherung . Bislang konnten die Beamtinnen und Beamten mit viel Mühe in die ge- setzliche Krankenversicherung wechseln . Statt Beihilfe zu zahlen, übernimmt der Staat dann den Arbeitgeberan- teil . Nun wollen Sie diese Regelung einfach streichen . Das ist genau der falsche Weg . Richtig wäre es, viel mehr Beamtinnen und Beamte zum Wechsel in die gesetzliche Krankenversicherung zu ermutigen . Es gibt also im weiteren Gesetzgebungsverfahren noch einiges zu tun . Wir werden Sie dabei gerne unter- stützen . Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Mit diesem Gesetz werden die Regelungen zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf wirkungsgleich auf Beamtinnen und Beamte sowie Sol- datinnen und Soldaten übertragen . Das heißt, auch Be- amte können sich jetzt für die Pflege bis zu 24 Monate freistellen lassen und erhalten einen Vorschuss, der den Verdienstausfall teilweise kompensiert . Leider hat das ursprüngliche Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Fa- milie, Pflege und Beruf zahlreiche Schwächen, und die werden durch eine Ausweitung des Geltungsbereichs na- türlich nicht behoben . Die Darlehenslösung, die bei den Beamten durch ei- nen Vorschuss, der später verrechnet wird, erreicht wird, bedeutet unter dem Strich eine Einkommensreduzierung . Die ausgefallenen Bezüge werden nur zum Teil kompen- siert, und nach der Pflegezeit muss die Kompensation zu- rückgezahlt werden . Die Einkommensreduzierung kann bis zu vier Jahre dauern, wenn man die 24 Monate für die Familienpflegezeit voll in Anspruch nimmt und an- schließend 24 Monate zurückzahlt bzw . eine geringere Vergütung erhält. Pflegezeit muss man sich also leisten können . Die Gehaltseinbußen sind besonders für Gering- verdiener – und die gibt es auch unter Beamten und Sol- daten – nicht tragbar . Für zwei Jahre die Arbeitszeit zu reduzieren, um zu pflegen, kommt nur für diejenigen infrage, die in der Nähe des Pflegebedürftigen leben. Die Tochter, die 300 Kilometer von der Mutter entfernt lebt, kann nicht jeden Tag ein paar Stunden arbeiten und sich anschlie- ßend um die Mutter kümmern . Und selbst wenn alles am selben Ort stattfindet – die Arbeit, die Pflege, das Leben in der eigenen Wohnung –, ist es nur möglich, das alles zu vereinbaren, wenn der Pflegebedürftige nicht rund um die Uhr jemanden braucht, der bei ihm ist . Menschen mit Demenzerkrankungen kann man nicht stundenlang al- leinlassen . Unsere letzte Kleine Anfrage zur Inanspruchnahme hat ergeben, dass für Pflegezeit und Familienpflegezeit im letzten Jahr insgesamt 242 Darlehen vergeben wur- den. Angesichts von 2,5 Millionen pflegebedürftigen Menschen, von denen zwei Drittel zu Hause gepflegt werden, ist das nichts . Wir brauchen etwas anderes: Wir brauchen viel mehr entlastende Angebote für Menschen, die sich entschei- den, sich um ihren pflegebedürftigen Angehörigen, Nachbarn oder Freund zu kümmern . Darum wollen wir sowohl Beratungs- und Informationsangebote als auch flexible Tages- und Nachtpflegeangebote inklusive Hol- und Bringdiensten flächendeckend ausbauen. Konkret heißt das: Wer Verantwortung übernimmt, erhält dauer- haft Unterstützung – nicht nur bis zu 24 Monaten . Der Pflegebedürftige wird nicht alleingelassen. Die Pflegezeit selbst wollen wir nicht mit einem kni- ckerigen, zurückzahlbaren Darlehen ausstatten, sondern mit einer Lohnersatzleistung wie das Elterngeld . Diese grüne Pflegezeit ermöglicht es, bis zu drei Monate kom- plett aus dem Beruf auszusteigen, um alles Notwendige für eine Pflege zu veranlassen: einzuschätzen, was not- wendig sein wird, sich über Angebote und Ansprüche zu informieren, die Leistungen zu beantragen und schließ- lich alles zu organisieren . Und das Beste daran: Unsere grüne PflegeZeitPlus – die dreimonatige Freistellung mit Lohnersatzleistung sowie die ergänzenden Angebote – gilt für alle Erwerbs- tätigen, kommt allen zugute: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern – auch in kleinen Betrieben –, Beamten, Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617166 (A) (C) (B) (D) Soldatinnen und Soldaten und Selbstständigen . Selbst- ständige und Angestellte kleiner Betriebe sind nämlich bei den derzeitigen Gesetzen zur Vereinbarkeit von Fa- milie, Pflege und Beruf weiterhin außen vor. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (6. SGB IV-Änderungsge- setz – 6. SGB IV-ÄndG) (Tagesordnungspunkt 22) Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Wir verab- schieden im Bereich Arbeit und Soziales eine Menge Gesetzentwürfe, von denen wir denken, dass sie die Welt besser und gerechter machen . Bei vielen dieser Gesetz- entwürfe müssen wir uns danach allerdings anhören, dass sie nur neue Bürokratie brächten und dass sie unverhält- nismäßig viel Aufwand bedeuteten . Manchmal ist daran etwas Wahres . Umso schöner ist es, dass wir heute über einen Gesetzentwurf sprechen, der genau für das Gegen- teil sorgt . Es ist natürlich nicht der erste Gesetzentwurf dieser Art . Im vergangenen Jahr haben wir es durch kluge Ge- setzgebung geschafft, die Bürokratie zu bremsen . So ist zum ersten Mal der zeitliche und finanzielle Aufwand ge- sunken, den unsere Gesetze hervorrufen . In erster Linie war dafür das Bürokratieentlastungsgesetz verantwort- lich . Mindestens ebenso wichtig sind jedoch die vielen kleinen Verbesserungen, die wir verabschiedet haben . Nicht alle haben eine große mediale und öffentliche Auf- merksamkeit erfahren, aber es sind Gesetzentwürfe wie der vorliegende, die Schritt für Schritt die Bürokratie in Deutschland eindämmen . Es geht dabei um die Vereinfachung und Optimierung von Meldeverfahren in der sozialen Sicherung . Das klingt erst einmal sehr unspektakulär . Es handelt sich bei dem Meldeverfahren jedoch um das größte und komplexes- te Massenverfahren zur Weitergabe von Informationen von den Arbeitgebern an öffentliche Stellen in Deutsch- land . Daten von mehr als 40 Millionen Beschäftigten bei etwa 3,7 Millionen Arbeitgebern müssen weitergegeben werden . Insgesamt sind das pro Jahr etwa 400 Millionen Meldevorgänge . Hier gibt es also eine Menge Raum, um Bürokratie einzusparen . Wir haben bereits im vergangenen Jahr einige Opti- mierungen in dem Verfahren auf den Weg gebracht, die den Erfüllungsaufwand um rund 126 Millionen Euro reduziert haben . Die Vorschläge kamen aus dem Pro- jekt „Optimiertes Meldeverfahren in der sozialen Siche- rung“ – kurz: OMS –, in dem sich Fachleute zwei Jahre Gedanken darüber gemacht haben, wie das Verfahren besser, einfach und günstiger gemacht werden kann . Ar- beitsgruppen mit Teilnehmern aus allen Bereichen der Sozialversicherung bewerteten dann die eingereichten Verbesserungsvorschläge . Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir nun die übrig gebliebenen Verbesserungsvorschläge aus dem Projekt um . So wird es pro Jahr weitere 43 Millionen Euro weniger Erfüllungsaufwand für die Wirtschaft ge- ben . Aber auch die Bürger sparen Zeit und Mühe . Durch die verstärkte Möglichkeit des elektronischen Abrufs von Bescheinigungen und durch die Reduzierung von Mel- dungen werden sie spürbar entlastet . Vom französischen Schriftsteller und Philosophen Honoré de Balzac stammt aus dem 19 . Jahrhundert der Satz: Es gibt nur eine einzige von Zwergen bediente Rie- senmaschinerie, und das ist die Bürokratie . Wir wissen heute: Es sind keine Balzac’schen Fabelwe- sen, die hinter der Bürokratiemaschine stecken . Wir sind es selbst, die dafür sorgen können, dass die Riesenma- schinerie zurückgebaut und kleiner wird und dass Unter- nehmen sowie Arbeitnehmer mehr Zeit für die wichtigen Dinge haben . Dabei dürfen wir uns nicht ausruhen . Auch in Zu- kunft muss gelten: Jeder Euro zusätzlicher Aufwand muss durch einen Euro Entlastung begleitet werden . Das fördert unsere Wettbewerbsfähigkeit und unseren Wohl- stand . Dafür setzen wir uns ein . Gabriele Schmidt (Ühlingen) (CDU/CSU): Be- reits im letzten Jahr haben wir mit der Verabschiedung des 5 . Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches So- zialgesetzbuch und anderer Gesetze Rechtsklarheit und Rechtssicherheit in den Meldeverfahren gestärkt und da- durch eine Entlastung der Arbeitgeber durch optimierte und vereinfachte Meldeverfahren erreicht; denn es hatte sich herausgestellt, dass sich die Praxis erheblich weiter entwickelt hat, als sie im Gesetz geregelt ist . Das Gesetz definiert nunmehr klar wichtige Verfahrensbestandteile der Meldeverfahren und stärkt damit die Verfahrenssi- cherheit . Mit dem vorliegenden Entwurf der Bundesregierung eines 6 . Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches SGB und anderer Gesetze setzen wir den eingeschlagenen Kurs fort und weitere nunmehr ausgearbeitete Verbesse- rungsvorschläge aus dem seit 2011 vom BMAS durch- geführten OMS-Projekt – Optimiertes Meldeverfahren in der sozialen Sicherung – um, an dem unter anderem So- zialversicherungsträger, Bundesagentur für Arbeit, Sozi- alpartner und andere Akteure mitgewirkt haben . Darüber hinaus schließen wir eine bestehende Rechtsschutzlücke im Arbeitsrecht . Dazu gleich mehr . Der vorliegende Gesetzentwurf gilt primär der Ver- besserung und Vereinfachung von technischen und orga- nisatorischen Abläufen . Wir senken weiter Bürokratie- kosten und entlasten die Arbeitgeber spürbar – um rund 43,5 Millionen Euro . Wir reduzieren den Aufwand der Bürgerinnen und Bürger, unter anderem durch die Möglichkeit des elek- tronischen Abrufs von Bescheinigungen direkt vom Ar- beitgeber durch die Träger der Unfallversicherung, um rund eine Stunde im Einzelfall . Auch die Sozialversiche- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17167 (A) (C) (B) (D) rungsträger werden durch qualitätsverbessernde Maß- nahmen um 3,4 Millionen Euro jährlich entlastet . Lassen Sie mich Ihnen ein paar Details der im Gesetz- entwurf enthaltenen Optimierungen vorstellen: Betriebsnummer und Zahlstellennummer werden ge- setzlich definiert, es werden maschinenlesbare Codes auf dem Sozialversicherungsausweis und die Möglichkeit zur elektronischen Beantragung und Rückübermittlung der Bescheinigungen über die Fortgeltung des Versi- cherungsschutzes im Ausland eingeführt; wir schaffen außerdem eine Grundlage für ein Informationsportal für Arbeitgeber zu Basisfragen zur Sozialversicherung und entlasten damit weiter die mittelständische Wirtschaft von Bürokratie . Das Qualitätsmanagement wird bei der Massenverar- beitung von sensiblen Daten immer bedeutender . Auch hier setzt der Gesetzentwurf an: Wir führen Prüfverfah- ren für die Teile der Software der Sozialversicherungs- träger ein . Weitere Änderungen betreffen unter anderem die Alterssicherung der Landwirte . Die rückwirkende Auf- hebung von Bescheiden über den Zuschuss zu den Aufwendungen für die freiwillige gesetzliche Kranken- versicherung beugt einer Doppelbelastung der Alterssi- cherung vor . Nun komme ich auf die oben angesprochene Rechts- schutzlücke zu sprechen, die wir mit dem Gesetz schließen werden: Durch die neue Möglichkeit, eine Nichtzulassungsbeschwerde gegen berufsverwerfende Beschlüsse der Landesarbeitsgerichte beim Bundesar- beitsgericht einzulegen, anstatt gleich Verfassungsge- richte anzurufen – bislang die einzige Möglichkeit –, wird das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Rechtsstaat gestärkt . Zusammenfassend sind alle Änderungen notwen- dig und sinnvoll . Sie sind die logische Fortsetzung der Umsetzung der gemachten Vorschläge zur qualitativen Verbesserung von Verfahren und ganz im Sinne aller Be- teiligten. Von den Verbesserungsmaßnahmen profitieren Wirtschaft, Verwaltung sowie jede und jeder Einzelne von uns . Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Mit dem vorliegenden 6 . SGB IV-Änderungsgesetz treten wir erneut auf die Bü- rokratiebremse und vereinfachen umständliche und zeit- raubende Verwaltungsvorgänge . Das machen wir jetzt in der Sozialversicherung mit verbesserten elektronischen Meldeverfahren . Ich freue mich, dass unsere Bundesre- gierung den Kampf aufgenommen hat und das Bürokra- tiemonster in seine Schranken weist . Bürokratie kostet die Bürgerinnen und Bürger vor allem Zeit und Nerven, und sie bremst darüber hinaus unsere Wirtschaft aus . Besonders betroffen sind die etwa vier Millionen kleinen und mittleren Unternehmen, un- sere Fackelträger für Wachstum und Beschäftigung in Deutschland . Weniger Bürokratie zahlt sich für sie in ba- rer Münze aus und macht sie somit wettbewerbsfähiger, kurbelt unsere Wirtschaft an und sichert Arbeitsplätze . Welches Unternehmen wäre nicht froh über eine leis- tungsstarke Verwaltung, die einen nicht mit Formularen erschlägt! Eine gute Verwaltung ist also auch ein wichti- ger Standortfaktor . Worum geht es in dem Gesetzentwurf? Die elektroni- schen Meldeverfahren in der sozialen Sicherung sollen besser und effizienter organisiert und vereinfacht wer- den – sowohl für Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber als auch für die Verwaltung und natürlich für die Bürgerin- nen und Bürger . So führen wir jetzt unter anderem die maschinenles- bare Verschlüsselung der Daten auf dem Sozialversiche- rungsausweis ein . Das klingt nicht aufregend, spart aber Zeit und Geld . Viele Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sowie Sozial- versicherungsträger werden sich über das beschleunigte Verfahren freuen, weil sie zukünftig automatisch mit der jeweils richtigen Sozialversicherungsnummer arbeiten können und sich nicht mehr länger mit Fehlern und ent- sprechenden Korrekturen abmühen müssen . Außerdem wird die Möglichkeit zur elektronischen Beantragung und schnellen elektronischen Zusendung der A1-Be- scheinigungen geschaffen . Diese Bescheinigungen sind nötig, um den Versicherungsschutz für Arbeitnehmerin- nen und Arbeitnehmer zu sichern, wenn sie vorüberge- hend für Arbeitseinsätze ins Ausland entsandt werden . Derzeit müssen dafür noch Antragsformulare aus Papier umständlich und zeitraubend hin- und hergeschickt wer- den – und die Bescheinigung selbst natürlich auch . Kleinere und mittelständische Unternehmen werden besonders von der Einführung des neuen Informati- onsportals im Internet profitieren. Dort können Unter- nehmerinnen und Unternehmer zukünftig schneller als bisher an die wichtigsten Informationen zu allen sozial- versicherungsrechtlichen Fragen herankommen, die die Melde- und Beitragsverfahren ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betreffen . Das wird ihnen viele Nachfragen und dadurch Zeit ersparen – wertvolle Zeit, die sie nun in ihren Betrieb investieren können . Auch die Übermittlung von Entgeltbescheinigungsdaten wird vereinfacht . Die Verbesserungen im SGB IV mögen für manche kleinteilig klingen, das sind sie aber nicht . Im Gegenteil: Die Auswirkungen für die Bürgerinnen und Bürger, für die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber und auch für die Sozialversicherungsträger sind enorm . Schauen wir uns die Entlastungen einmal genauer an: Die Bürgerinnen und Bürger gewinnen Zeit, nämlich etwa 315 000 Stunden pro Jahr; denn die pauschale obli- gatorische Meldung über Versorgungsbezüge entfällt in Zukunft und muss nur noch von denjenigen abgegeben werden, die über der Beitragsbemessungsgrenze liegen . Für die Unternehmen verringert sich ihr Bürokra- tieaufwand im Umfang von etwa 43,5 Millionen Euro jährlich . Das geht auf die erwähnte Einführung des Infor- mationsportals im Internet zu sozialversicherungsrecht- lichen Melde- und Beitragsfragen zurück . Außerdem werden die Firmen durch Qualitätsverbesserungen bei den Fehlerrückmeldungen der Krankenkassensoftware Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617168 (A) (C) (B) (D) erheblich entlastet . In Zukunft werden die Fehler syste- matisch erfasst und bereinigt . Auch die Verwaltung spart jährlich etwa 3,4 Millionen Euro . Durch das Internet-Informationsportal reduziert sich die Anzahl der Anfragen aus den Unternehmen auch für sie . Diese Einsparungen sind beträchtlich, aber auch drin- gend notwendig; denn jährlich finden sage und schreibe etwa 400 Millionen Meldevorgänge von den Arbeitge- bern zu den Sozialleistungsträgern und zurück statt, vor allem Anmeldungen, Abmeldungen und monatliche Bei- tragsmeldungen von Beschäftigten bei den Kranken- und Unfallkassen, der Renten- und Arbeitslosenversicherung und bei der Pflegeversicherung. Damit das klappt, brauchen wir gute und leistungs- fähige Systeme . Daher ist es die fortwährende Aufgabe der Bundesregierung sowie der Sozialversicherungs- und Sozialleistungsträger, die Funktionsfähigkeit dieses wichtigen Systems zu erhalten und zu verbessern . Dazu gehört, es zeitnah an tatsächliche, rechtliche und tech- nische Veränderungen anzupassen, und dazu gehört, den Aufwand für alle Beteiligten, insbesondere auch für die Arbeitgeber, die die Hauptlast der Meldungen tragen, soweit wie möglich zu beschränken und die Kosten so gering wie möglich zu halten . Durch diese Vereinfachungen, die Teil eines großen Pakets im Rahmen der Meldevereinfachungen sind, ge- winnen letztlich alle Bürgerinnen und Bürger, Betriebe und die Verwaltung . Die durch Entbürokratisierung und Entlastung gewonnene Zeit kann nun sinnvoller genutzt werden, auch, um in Zukunft weiter auf die Bürokra- tiebremse treten zu können und über anwenderfreundli- che und datensichere Online-Verfahren zu noch schnel- leren und einfacheren Lösungen zu kommen, nach dem Motto: So wenig Verwaltung wie möglich und nur so viel wie nötig . Mit dem Gesetzentwurf schaffen wir also, wie man so schön sagt, eine Win-Win-Situation für uns alle, und das ist ja nicht immer der Fall . Vielleicht gelingt es uns mit diesem Gesetzentwurf ja auch, ein Stück weit das alte Sprichwort: „Von der Wiege bis zu Bahre: Formulare, Formulare“, aus den Angeln zu heben . Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Erneut dürfen wir uns mit der gesetzlichen Umsetzung des Projekts mit dem schönen Titel „Optimiertes Meldeverfahren in der sozialen Sicherung“ – kurz: OMS – beschäftigen, und wir hoffen alle, dass dies zum letzten Mal geschehen werde . Erste Maßnahmen des Projekts wurden Anfang ver- gangenen Jahres mit dem sogenannten 5 . SGB IV-Ände- rungsgesetz umgesetzt . Es hat sich jedoch herausgestellt, dass einige Vorschläge noch nicht zur Umsetzungsreife gediehen waren und deshalb nicht alle Vorschläge umge- setzt werden konnten . Prinzipiell ist erst einmal nichts dagegen einzuwen- den, das Meldeverfahren in der Sozialversicherung durch den elektronischen Datenaustausch sowie die Datenver- arbeitung effektiver zu gestalten . Wenn die Träger der Sozialversicherungen und die Unternehmen hiervon profitieren: Gut so. Wenn als Nebeneffekt auch die Ver- sicherten von beschleunigten Abläufen einen Nutzen haben: Umso besser . Und dennoch: Oberste Priorität müssen die Datensicherheit und der Datenschutz haben . Werden Verschlüsselungsverfahren genutzt, so ist ins- besondere beim Sozialdatenschutz sicherzustellen, dass sensible persönliche Informationen nicht für unbefugte Personen sichtbar und nutzbar werden . Gegenüber dem Referentenentwurf wurden aufgrund der Stellungnahmen der Verbände bzw . Sozialversiche- rungsträger bereits einige Maßnahmen im Gesetzentwurf weiter korrigiert, einige dagegen nicht . Einige wurden gegenüber dem Referentenentwurf neu eingefügt, wie etwa die Möglichkeit, dass die Krankenkassen nach § 171e SGB V sowie die Unfallkassen nach § 172c SGB VII die Möglichkeit erhalten sollen, zehn Prozent der Altersrückstellungen für die Betriebsrenten ihrer Be- schäftigten in Aktien anzulegen . So sollen aufgrund der Niedrigzinsphase höhere Zinsen erzielt werden, als durch herkömmlichen Anlagen . Als ich das las, musste ich mir nicht nur die Augen reiben, sondern habe ich – mit Ver- laub – gedacht: Ich glaube, mein Schwein pfeift . Dass ich mit dieser Einschätzung nicht ganz alleine dastehe, zeigt die Stellungnahme des Bundesrates . Er moniert, dass es sich bei der Altersrückstellung der ge- setzlichen Krankenkassen um Beitragsgelder, also um unser Geld, und nicht um privat von Arbeitnehmern und Arbeitgebern einvernehmlich angesparte Wertguthaben handele. Dabei ist gesetzlich klipp und klar definiert, dass der Grundsatz der Anlagesicherheit Vorrang gegenüber der Erzielung eines angemessenen Ertrages hat . Diesen Grundsatz wollen sie aufgrund der miesen Kapitalrendi- ten mit der geplanten Gesetzesänderung aushebeln . Immerhin hatte der Bundesrat Ihnen eine Brücke ge- baut und vorgeschlagen, die Änderungen in einer separa- ten Gesetzesänderung zu regeln . Aber nicht einmal die- sen Weg wollen Sie gehen . Wir haben hier also noch erheblichen Beratungsbe- darf, von dem wir im Ausschuss und in der geplanten An- hörung sicherlich ausführlich Gebrauch machen werden . Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN): Nach dem 5 . Änderungsgesetz im vergangenen Jahr kommt jetzt das 6 . Änderungsgesetz im Vierten Sozialgesetzbuch . Hintergrund ist das vom BMAS beauftragte Projekt „Optimiertes Meldeverfahren in der sozialen Sicherung“ . Jetzt liegt also das zweite Ge- setz zur Umsetzung der Vorschläge vor . Erneut handelt es sich um eine Sammlung von überwiegend kleintei- ligen technischen Änderungen . Was die vielen kleinen Schritte angeht, zu einer bestmöglichen Optimierung des Meldeverfahrens im Rahmen der sozialen Sicherung zu gelangen, wie auch wieder im vorliegenden Gesetzent- wurf, so sehen wir die Bestrebungen der Bundesregie- rung und der hier eingebundenen Akteure im Großen und Ganzen durchaus positiv – auch wenn bei manchen die Frage gestellt werden könnte, ob wirklich Änderungsbe- darf besteht, und einzelne Punkte problematisch sind . So schließen wir uns der Einschätzung des Bundesrats an, dass die Möglichkeit der Krankenversicherung und der Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17169 (A) (C) (B) (D) Unfallversicherung, ihre Rücklagen in Aktien anzulegen, zumindest gründlich zu hinterfragen ist und aus dem Ge- setzentwurf gestrichen werden sollte . Darüber hinaus sieht zum Beispiel der Deutsche An- waltverein „noch erheblichen Nachbesserungsbedarf, um das Ziel der Optimierung der Meldeverfahren in der sozialen Sicherung (OMS) insbesondere in Bezug auf Rechtssicherheit und Verfahrensvereinfachung zu errei- chen.“ Auch wir finden, angesichts der großen Ziele wie Bürokratieabbau und Rechtsklarheit ist es kein großer Wurf . Dazu müsste noch an ganz anderen Stellschrauben gedreht werden . Lassen Sie uns endlich die Bürgerversicherung ange- hen. Im Bereich der Pflege-, Kranken- und Rentenver- sicherung kann man so eine Harmonisierung innerhalb der Sozialversicherungen herbeiführen . Das würde eine deutliche Vereinfachung darstellen, Sicherungslücken schließen und zu einer sowohl gerechteren als auch nachhaltigeren Absicherung führen . Das gäbe auch Gele- genheit, eine Harmonisierung mit dem Steuersystem zu bekommen . Die unterschiedlichen Regelungen in Steu- er- und Sozialrecht über Einkommensbegriffe oder die Frage, wer selbstständig ist und wer nicht, führen zu un- nötiger Bürokratie und zu Unsicherheit sowohl bei den Betroffenen als auch in der Verwaltung . Sozialversicherungen können sich schon heute, hin- sichtlich der Effizienz ihrer Verwaltung, als recht büro- kratiearm bezeichnen . Warum das so ist? Im Gegensatz zu den privaten Versicherungen, und das hören wir ja im- mer wieder, und das wird auch immer wieder kritisiert, haben wir innerhalb der Sozialversicherungen schon jetzt sehr geringe Verwaltungskosten . Deswegen wollen wir Grünen ja auch ein öffentlich organisiertes Basisprodukt für die Riester-Rente . Neben einer wirklichen Vereinfachung im Sozialver- sicherungssystem brauchen wir eine Veränderung im Grundsicherungsbereich . Die Bundesregierung hat mit ihrem kürzlich vom Kabinett gebilligten Gesetzesent- wurf zur „Rechtsvereinfachung“ im SGB II erneut unter Beweis gestellt, dass sie kein Interesse an einer wirkli- chen Vereinfachung und damit Verbesserung in diesem Bereich hat . Das vorliegende Gesetz ist im Gegenteil so- gar bürokratischer, es ist restriktiver, und es ist keine Ent- lastung . Weder für die Jobcenter noch für die Menschen, die sich im Grundsicherungsbezug für Arbeitsuchende befinden. Für die Betroffenen ist es an vielen Stellen so- gar eine Rechtsverschärfung . Die Bundesregierung hätte die Chance gehabt, ein deutliches Signal in die richtige Richtung zu senden . Bisher hat sie das zu unserem Be- dauern leider nicht getan . Ich habe Ihnen einige Möglichkeiten genannt, wie wir zu einer wirklichen Vereinfachung im Bereich der sozi- alen Sicherung kommen könnten . Das sind die großen Schritte, die Sie leider nicht zu gehen wagen . Das ist be- dauerlich . Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung einge- brachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Ände- rung des GAK-Gesetzes (Tagesordnungspunkt 23) Hans-Georg von der Marwitz (CDU/CSU): Mit dem Gesetz zur Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ – GAK-Ge- setz – haben wir in Deutschland seit dem Inkrafttreten am 1 . Januar 1973 ein sehr wichtiges nationales Bund-Län- der-Förderinstrument . Ziel der GAK ist es, die Leis- tungsfähigkeit der Land- und Forstwirtschaft zu sichern und auf künftige Anforderungen auszurichten . Ebenso sollen die Wettbewerbsfähigkeit auf dem europäischen Markt sowie eine Verbesserung des Küstenschutzes ge- währleistet werden . Durch die Mittel der GAK werden Maßnahmen zur Entwicklung der Landwirtschaft und des ländlichen Raumes gefördert . Neben der GAK bieten Förderprogramme wie LEADER oder die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesse- rung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ – GRW – und auch das Bundesprogramm „Ländliche Entwicklung“ – BULE – die Möglichkeit, Vorhaben in der ländlichen Entwicklung mitzugestalten und auszuführen . Im aktuellen Entwurf zur Änderung des GAK-Geset- zes setzen wir uns zum Ziel: Zur Verbesserung der Agrarstruktur ist es zuneh- mend erforderlich, die ländlichen Räume im Rah- men eines integrierten Ansatzes als Lebens-, Wirt- schafts-, Erholungs- und Naturräume zu sichern und weiter zu entwickeln . Dieser Ansatz ist richtig und wichtig . Die Landwirt- schaft befindet sich seit geraumer Zeit in einer sehr prekären Situation . Russland-Embargo und gesättigte Märkte haben schwerwiegende Auswirkungen auf den gesamten Agrarsektor . Der Strukturwandel in landwirt- schaftlich geprägten Regionen wird dadurch weiter be- feuert . Veränderungen der Eigentumsstrukturen und we- niger Landwirtschaftsbetriebe sind die Folge . Zusätzlich besteht die Gefahr, dass ganze Landstriche durch den de- mografischen Wandel, Abwanderung, eine niedrige Ge- burtenrate und den Rückgang der Daseinsvorsorge noch weiter abgehängt werden . Die Landwirtschaft ist mit ihren vor- und nachgelager- ten Bereichen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor im länd- lichen Raum . Politik und Gesellschaft müssen auch in Zukunft ihr Augenmerk darauf richten . Schließlich lebt rund die Hälfte unserer Bevölkerung in ländlichen Regi- onen . Die Weiterentwicklung der GAK kann ihren Bei- trag dazu leisten . Nur eine zukunftsweisende Förderung setzt Signale für die Wirtschaft und Bevölkerung . Heute müssen wir entscheiden, wie wir die Weichen für eine nachhaltige Entwicklung der ländlichen Räume stellen . Wie im Grundgesetz verankert, bleibt das politi- sche Ziel weiterhin, gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen . Ungewiss ist, ob die derzeitige Förderung dafür genügt, dieser Anforderung im ländlichen Raum Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617170 (A) (C) (B) (D) wirkungsvoll Rechnung zu tragen . Der Agrarmarkt wird auch in Zukunft auf verlässliche politische Rahmenbe- dingungen angewiesen sein . Die Landwirtschaft entwickelt sich weiter . Neue Ver- marktungs- und Vertriebsmöglichkeiten sowie Touris- mus zeigen, dass es angesichts von Marktschwäche und Preisvolatilität längst nicht mehr nur um Nahrungsmittel- produktion geht . Landwirte sind Unternehmern des länd- lichen Raumes . Deshalb ist es von großer Bedeutung, einerseits der Landwirtschaft, andererseits aber auch der dort angesiedelten Wirtschaft in Zukunft zusätzliche Ein- kommensmöglichkeiten zu sichern . Die GAK mit ihrem derzeitigen Agrarbezug sollte weiterhin das primäre Förderinstrument für Land- und Forstwirte bleiben . Aufgrund ihrer räumlichen Bindung an Grund und Boden ist es besonders wichtig, das un- ternehmerische Engagement in der Landwirtschaft zu stärken . Gerade mit Blick auf die derzeitig schwierige Lage wollen wir die Landwirte ermutigen, sich neue unterneh- merische Einkommensquellen zu erschließen . Das steht für mich an erster Stelle . Gleiches gilt für Handwerk und Gewerbe in unseren Dörfern und Gemeinden . Zahlreiche klein- und mittelständische Unternehmen tragen bedeutend zur Vitalität unserer Dörfer bei . Sie schaffen Arbeitsplätze und stehen ähnlich wie die Land- wirtschaft für eine starke regionale Verankerung . Somit garantieren diese Betriebe Vielfalt und Stabilität . Außerdem sollte das Engagement im gemeinnützigen Bereich, wo sich Ehrenamtliche in sozialen, kulturellen und kirchlichen Projekten nachhaltig einsetzen, von der Öffnung der GAK profitieren. Sie leisten einen deutli- chen Anteil am langfristigen Erfolg und haben maßgeb- lichen Einfluss auf die sogenannten weichen Standort- faktoren . Gerade die ehrenamtlich Tätigen sind es, die über den Wert und somit die Attraktivität ihrer Heimat mitbestimmen . Zusammenfassend soll mit dem aktuellen Gesetz- entwurf die Möglichkeit geschaffen werden, dass auch Fördermöglichkeiten über die Landwirtschaft hinaus für Infrastruktur und Kleinstbetriebe in strukturschwachen Regionen entstehen . Kurzum: Basisdienstleistungen, die Umnutzung von landwirtschaftlichen Gebäuden, Investi- tionen in den Tourismus und zur Verbesserung des kultu- rellen und natürlichen Erbes von Dörfern . Die Erhöhung des Budgets zur Finanzierung der neu- en Förderaufgaben von bisher rund 650 Millionen Euro für das Jahr 2016 um 30 Millionen Euro kann jedoch nur ein Anfang sein . Wenn wir dem anhaltenden Struktur- wandel nachhaltig begegnen wollen, werden wir nicht umhinkommen, weitere Mittel zur Verfügung zu stellen . Willi Brase (SPD): Die ländlichen Räume in Deutsch- land haben vieles zu bieten: Sie sind gekennzeichnet durch eine besondere Dynamik und Vielfalt . Neben Landwirtschaft und Tourismus ist ebenfalls zu erwähnen, dass es auch starke wirtschaftliche Regionen sind . Etwa 90 Prozent der Gesamtfläche Deutschlands sind ländli- cher Raum . Rund die Hälfte aller Menschen leben auf dem Land . Ländliche Räume sichern die Lebens- und Arbeits- grundlagen vieler Menschen . Die deutsche Wirtschaft ist mittelständisch sowie dezentral aufgestellt . In zahl- reichen Bundesländern haben die ländlichen Regionen mittlerweile einen höheren Anteil an Industriebeschäf- tigten als die städtischen Ballungszentren . Sie sind ein bedeutender Ort der industriellen Wertschöpfung . Länd- liche Regionen leisten einen unverzichtbaren Beitrag zum gesamtwirtschaftlichen Ergebnis der Bundesrepu- blik Deutschland . Ländliche Räume sind traditionsreiche Standorte hunderttausender Unternehmen aus allen Ge- werken und Branchen . Darüber hinaus haben diese eine wichtige soziale Funktion für alle Regionen des Landes . Ihre Freizeit- und Umweltqualität sowie die landschaftliche Attraktivi- tät ermöglichen Erholung und Ausgleich . Sie tragen zur Regeneration der Arbeitskraft bei . Ländliche Räume sind Orte bürgerschaftlichen En- gagements, der Nachbarschaftshilfe, eines starken Ver- einslebens, der Tradition und des Brauchtums – kurz: eines besonderen Gemeinschaftsgefühls und regionaler Identität . Besonders positiv bewerten viele Menschen auf dem Land ihr Wohneigentum und die damit verbundenen Möglichkeiten zur Selbstversorgung und Unabhängig- keit, zum Beispiel durch einen eigenen Garten und die Versorgung mit eigenem Gemüse . Gleichzeitig stehen viele ländliche Räume sozialen, ökonomischen und demografischen Herausforderungen gegenüber . Sie kämpfen mit hoher Arbeitslosigkeit, Ab- wanderung und Überalterung . Die Regionen stellen sich diesen Herausforderungen und packen an . Die SPD-Bundestagsfraktion steht zum Grundsatz der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in allen Teilen Deutschlands . Wir wollen die Leistungsfähigkeit der ländlichen Räume stärken und die Heimat der Menschen lebenswert und attraktiv gestalten . Auch mit dem Blick auf die Integration von Men- schen, die vor Krieg, Not und Verfolgung fliehen und in Deutschland Asyl erhalten, muss die Integrationsfähig- keit ländlicher Räume insgesamt noch deutlich intensi- ver unterstützt werden . Ebenso ist die digitale Spaltung Deutschlands nicht länger hinzunehmen . Die nun eingeleitete Verstärkung des Breitbandaus- baus begrüße ich daher ausdrücklich . Ein schneller Breit- bandanschluss ist heute nicht nur für viele Menschen eine unabdingbare Voraussetzung für ihre private Kommuni- kation, sondern auch ein entscheidender Standortfaktor für etliche Unternehmen im ländlichen Raum . Die Entwicklung ländlicher Räume verläuft nicht gleichförmig . Das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung, BBSR, rechnet in seiner „Raumord- nungsprognose 2025“ für die meisten ländlich gepräg- ten Regionen Deutschlands bis 2025 mit einem Bevöl- kerungsrückgang von mindestens drei bis zehn Prozent gegenüber dem Jahr 2005 . In einigen östlichen Regionen sind sogar noch deutlich höhere Bevölkerungsrückgänge zu erwarten . Ebenso geht das BBSR vielerorts von einer Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17171 (A) (C) (B) (D) Zunahme des Anteils der über 60-Jährigen bis 2025 von 20 bis 40 Prozent aus . Die zukünftige Förder- und Strukturpolitik für die ländlichen Räume muss sich an diese Voraussetzungen anpassen . Die Herausforderungen können nur mit den Menschen vor Ort zu passgenauen Lösungen führen . Dabei sind die Antworten für die Zukunft genauso viel- fältig wie die Regionen selbst . Die Wettbewerbsfähigkeit ländlicher Räume muss erhalten bleiben, die bisher unge- nutzten Potenziale müssen aktiviert werden . Erforderlich ist eine regional differenzierte Struktur- und Raumord- nungspolitik, die auf die jeweiligen Stärken und Schwä- chen der Regionen angemessen reagiert . Die Heimat der Menschen in den ländlichen Räumen muss lebenswert und existenzsichernd erhalten werden . Deshalb kann der Schwerpunkt einer zukünftigen För- derung der ländlichen Räume nicht allein auf sektorale Maßnahmen der Agrarstruktur ausgerichtet sein, sondern muss sich auf alle Bereiche der Gesellschaft erstrecken . Kooperative und regional integrierte Handlungsansätze, die die Wertschöpfung, die Lebensqualität und die In- novationskraft fördern, sind das zukünftige Mittel zum Zweck . Diese Notwendigkeit untermauern auch die Ergeb- nisse des kürzlich erschienen Prognos Zukunftsatlasses 2016 . Dort heißt es unter anderem – ich zitiere –: Innerhalb Deutschlands bleibt die Schere zwischen armen und reichen Regionen weiterhin geöffnet . In der Langfristbetrachtung . . . 2004 – 2016 schrumpft der Anteil der Regionen mit ausgeglichenen Chan- cen und Risiken – und damit „die Mitte“ . 2004 waren es noch 206 Regionen und Städte, 2016 nur noch 163 . Weiterhin wird dort ausgeführt: Eine hohe Innovationsfähigkeit, Wirtschaftskraft und -dynamik sowie ein damit einhergehender at- traktiver Arbeitsmarkt sind entscheidend für den re- gionalen Wohlstand . Das von der Bundesregierung geplante System der Förderung strukturschwacher Regionen ab dem Jahr 2020 nimmt in diesem Zusammenhang eine entscheiden- de Rolle ein . Dabei müssen die Förderungen noch viel mehr als heute nach Bedarf anstatt nach Himmelsrich- tungen erteilt werden . Darüber hinaus ist eine deutlich effizientere Verzahnung mit anderen Programmen der regionalen Strukturentwicklung notwendig . Dazu zählen speziell die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der re- gionalen Wirtschaftsstruktur“, GRW, der Breitbandaus- bau und die Städtebauförderung . Darauf müssen Bund, Länder und Kommunen hinarbeiten . Ebenso ist der Küstenschutz eine lebenswichtige Aufgabe . Er muss verstetigt bzw . ausgeweitet werden . In dieses neue Fördersystem wird sich auch die weiter- entwickelte GAK einfügen, und sie wird abgestimmt mit weiteren Programmen von Bundesseite ihre vollständige Wirkung entfalten können . Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf zur Weiterent- wicklung der GAK gehen wir einen großen Schritt dahin . In diesem Zusammenhang möchte ich auch nicht verheh- len, dass sich meine Fraktion eine zügigere Erarbeitung durch die Bundesregierung gewünscht hätte . Durch die Änderung des GAK-Gesetzes werden wir die Möglichkeiten der Länder erweitern, ihre Maßnah- men zur ländlichen Entwicklung durch Mittel der GAK fördern zu lassen . Dies erreichen wir durch eine umfas- sende Anpassung an das Förderspektrum des Europä- ischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums, ELER . Ich möchte für uns Sozialdemokraten an dieser Stel- le auch noch einmal eines klarstellen: Das Zwei-Säu- len-Modell der Europäischen Agrarpolitik muss aufgelöst werden . Eine pauschale Subvention für bewirtschaftete Flächen ohne nennenswerte Gegenleistungen ist nicht mehr zeitgemäß . Nach unserer Ansicht sollen Landwir- te zukünftig bei ihren Bemühungen zur Entwicklung der ländlichen Räume, zur Umsetzung von Agrarumwelt- maßnahmen und zum Schutze des Klimas sowie der Bio- diversität finanziell unterstützt werden. Es bleibt dabei: Öffentliches Geld nur für öffentliche Leistungen! Wir sehen an der einen oder anderen Stelle im Ge- setzentwurf noch Änderungsbedarf und werden diesen in den nun anstehenden parlamentarischen Beratungen ansprechen. Die Definition einer neuen Förderkulisse mit dem unbestimmten Kriterium der geografischen Ab- gelegenheit halten wir für nicht zielführend . Ebenso sind wir der Meinung, dass die förderfähigen Maßnahmen zur Entwicklung der ländlichen Räume noch deutlicher im Gesetzestext beschrieben werden sollten, um deren Wichtigkeit herauszustellen . Darüber hinaus braucht es dringend eine Verwaltungsvereinfachung bei der Anmel- dung von Maßnahmen durch die Länder, um eine zügige Umsetzung von Projekten zu unterstützen . Auch die Bundesländer, welche diesem Gesetz zu- stimmen müssen, haben am vergangenen Dienstag im Ausschuss für Agrarpolitik und Verbraucherschutz des Bundesrates diverse Änderungswünsche formuliert . Da- her bin ich sehr zuversichtlich, dass uns am Ende ein ordentliches Gesetz gelingt, welches den großen Heraus- forderungen der ländlichen Regionen gerecht wird und die Menschen in den Regionen bei den Entwicklungen vor Ort mitnimmt . Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Ländliche Regionen prägen mit ihren Siedlungen und Kulturlandschaften das Bild unserer Heimat . Hier ist der überwiegende Anteil unserer dezentra- len mittelständischen Wirtschaft angesiedelt . Das ist eine besondere Stärke Deutschlands . Dieses Zitat stammt nicht aus meinem Poesiealbum, sondern es ist die Einleitung zur Selbstdarstellung der Bundesinitiative Ländliche Entwicklung auf der Websei- te des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirt- schaft . Angesichts dieser verbalen Wertschätzung ländlicher Regionen könnte man zu der Erwartung verleitet werden, die Bundesregierung meine es ernst mit ihrer Ankündi- gung im Koalitionsvertrag: „Die Gemeinschaftsaufgabe Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617172 (A) (C) (B) (D) Agrarstruktur und Küstenschutz wird zu einer Gemein- schaftsaufgabe ländliche Entwicklung weiterentwickelt“, wenn uns diese Bundesregierung nicht schon so oft ei- nes Besseren belehrt hätte und wenn nicht auch dieser Gesetzentwurf ein weiterer Beleg dafür wäre, dass bei dieser Bundesregierung Ankündigung und realer Gestal- tungswille meilenweit auseinanderklaffen . 90 Prozent der Fläche in Deutschland sind ländlicher Raum . Mehr als die Hälfte aller Einwohner Deutschlands leben hier . In Nordrhein-Westfalen sind es circa 43 Pro- zent, in Thüringen sind es rund 82 Prozent . Allein die- se wenigen Fakten machen deutlich, wie groß und wie differenziert die Aufgabe „Ländliche Entwicklung“ im richtigen Leben ist . Hier muss die Frage erlaubt sein: Glauben Sie von den Koalitionsparteien allen Ernstes, dieser hier vorgelegte Gesetzentwurf wird dieser Aufgabe gerecht? Ich jeden- falls glaube das nie und nimmer . Die Menschen, die im ländlichen Raum leben, arbei- ten und wohnen, dürfen nicht abgehängt werden, und sie dürfen sich auch nicht so fühlen . An dem Anspruch „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ müssen wir fest- halten . Dazu könnte eine weiterentwickelte GAK einen entscheidenden Beitrag leisten, wenn sie tatsächlich die integrierte ländliche Entwicklung als eine Hauptaufgabe definiert hätte. Hinter diesem Anspruch bleibt der vorliegende Ent- wurf aber weit zurück . Damit setzen Sie Ihren eigenen Koalitionsvertrag nicht um . Die Schaffung einer Ge- meinschaftsaufgabe „Ländliche Entwicklung“, wie es dort angekündigt wird, bleiben Sie schuldig . Lange wurden der große Wurf und eine Änderung des Grundgesetzes angekündigt, und diese Änderung wäre nötig . Nun begnügen Sie sich damit, ein paar Schönheits- korrekturen am GAK-Gesetz vorzunehmen . Doch diese werden den Bedarfen und Herausforderungen der länd- lichen Räume vor allem in strukturschwachen Regionen keineswegs gerecht . Wenn dazu eine Änderung des Grundgesetzes nötig ist: Bitte! An uns sollte das nicht scheitern . Die integrierte ländliche Entwicklung hätte in der Verfassung als Gemeinschaftsaufgabe definiert werden müssen, wie im Koalitionsvertrag angekündigt . Stattdes- sen baut der Gesetzentwurf Hilfskrücken, um Maßnah- men der ländlichen Entwicklung zukünftig stärker über die GAK fördern zu können und diese irgendwie als Teil der Agrarförderung zu definieren. Bedeutet die ländliche Entwicklung aber nicht viel mehr? Sind ländliche Räume nur ein weicher Standortfaktor für die Agrarindustrie? Der Entwurf zur Gesetzesänderung geht ja in die rich- tige Richtung . Leider bleibt er aber an den wesentlichen Punkten bisher unklar . Was ist förderfähig und in wel- chen Gebietskulissen? Diese sehr entscheidenden Fragen beantworten Sie nicht oder widersprüchlich . Sie, Herr Minister, können doch nicht allen Ernstes von Ihren Kollegen aus den Regierungsfraktionen ver- langen – von uns schon gar nicht –, dass sie ein Gesetz auf den Weg bringen, dessen konkrete Auswirkungen weder Sie noch wir überhaupt kennen . Die Linke sagt: Die ländlichen Räume sind mehr wert . Eine ernsthafte Reform der GAK, wie sie etwa der Deutsche Städte- und Gemeindebund und der Deutsche Landkreistag fordern, ist überfällig . Es ist zu begrüßen, dass Sie den § 1 um die Maßnah- men zur Förderung der Infrastruktur in ländlichen Gebie- ten erweitern . Doch was bedeutet das? Offenbar gibt es darüber selbst innerhalb des Ministeriums gegensätzliche Auffassungen . In der Regierungsbefragung redete der Minister noch von der zukünftigen Abdeckung des kom- pletten ELER-Bereiches, während das Ministerium auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/die Grünen unlängst antwortete: Maßnahmen, die gar keine Rückbindung auf den Agrarbegriff erkennen lassen, sind auch mit der neuen GAK nicht förderfähig . Unabhängig von der Widersprüchlichkeit in diesen Aussagen zeigt sich, dass es der entscheidende Fehler ist, die integrierte ländliche Entwicklung als Begrifflichkeit bei der Gesetzesnovelle nicht weitergehend zu berück- sichtigen, um einen weiteren Förderspielraum zu ermög- lichen . Stattdessen bleiben die Adressaten dieser Förde- rung im Ungewissen . Sind alle Infrastrukturmaßnahmen in den ländlichen Gemeinden förderfähig? Welche Betriebe können eine Förderung erhalten? Diese Fragen sind nach wie vor nicht wirklich geklärt oder werden mit einer schwam- migen Gesetzesbegründung und Auslegung beantwortet, wie das Zitat belegt . Eine verlässliche Aussage für Kommunen und Be- triebe – vor allem vor dem Hintergrund der anstehenden GAP-Reform – und eine klare und verlässliche Orien- tierung, was förderfähig sein wird und was nicht, bleibt der Änderungsentwurf schuldig . Das belegt einmal mehr, dass eine wirkliche Strategie fehlt, die die Entwicklung der ländlichen Räume in ihrer Gesamtheit erfasst . Es bedarf klarer Grenzen zu anderen Förderprogram- men . Wo endet das GAK-Förderspektrum? Wo beginnt beispielsweise die GRW? Ergänzungsfähigkeit zwischen den einzelnen Programmen muss hergestellt werden . Auch wenn wir als Linke fordern, dass die integrier- te ländliche Entwicklung eine Aufwertung durch diese Gesetzesänderung erfahren soll: Eine Gemeinschafts- aufgabe „Ländliche Entwicklung“ oder eine um diesen Aspekt mehr oder weniger konsequent erweiterte GAK darf nicht der alleinige Träger der Entwicklung ländli- cher Räume sein . Andere Ressorts dürfen sich nicht auf einer derartigen Qualifizierung der Gemeinschaftsaufga- be ausruhen und aus der Verantwortung ziehen . Auch Mittel der GRW, der Städtebauförderung, Regi- onalisierungsmittel, Mittel für den Breitbandausbau und weitere Initiativen des Bundes sind im ländlichen Raum dringend erforderlich . Außerdem dürfen bestehende Be- reiche innerhalb der GAK nicht benachteiligt werden . Deshalb fordern wir eine Mittelaufstockung um mindes- tens 200 Millionen Euro jährlich, so, wie viele Verbände und im Übrigen ebenso die Bundesländer . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17173 (A) (C) (B) (D) Der Versuch, den Ländern und Kommunen die Fähig- keit der Kofinanzierung abzusprechen, lassen wir des- halb nicht gelten; denn natürlich ist die Bundesregierung dafür zu kritisieren, dass den Ländern und Kommunen durch Ihre Finanzpolitik an vielen Stellen der Geldhahn zugedreht und ihnen damit der Spielraum für dringend notwendige Zukunftsinvestitionen genommen wird . Dass der Prozentsatz für Rückzahlung und Verzinsung gegenüber den Ländern vor diesem Hintergrund auch noch von drei auf fünf Prozent angehoben wird, scheint mindestens fragwürdig – besonders im Hinblick auf die aktuelle Niedrigzinsphase . Auch die zusätzliche Einengung auf den ELER und das Verstecken hinter der gemeinsamen Agrarpolitik der EU kritisieren wir . Wo ist hier ein eigener Gestaltungsan- spruch? Warum dieses künstliche Korsett? Überhaupt erscheint es wenig nachvollziehbar, dass das Bundesministerium seinen eigenen Gestaltungswil- len ohne Not von EU-Richtlinien und -Gesetzen abhän- gig macht und seine eigene Ohnmacht darüber definiert; denn hier ist die nationale Gestaltung gar nicht an sie ge- bunden . Mit dem Verweis auf EU- Bestimmungen soll hier augenscheinlich die eigene Gestaltungsunfähigkeit oder Unwilligkeit kaschiert werden . Die Einführung einer Gebietskulisse lehnen wir nicht grundsätzlich ab . Sie muss jedoch zu einem fairen und bedarfsgerechten Verteilungsschlüssel führen, bei dem tatsächlich auch jene Regionen von den Mitteln profi- tieren, die am stärksten von den strukturellen Verände- rungen aufgrund des demografischen Wandels betroffen sind . Solange keine konkreten Pläne für die Ausgestaltung einer Gebietskulisse und einer räumlichen Schwerpunkt- setzung vorliegen, können wir diesem Vorschlag nicht zustimmen; denn von einer konkreten Ausgestaltung der Gebietskulisse wird zwangsläufig abhängen, wie die Mit- tel der GAK zukünftig verteilt werden . Auch hier fordern wir die Bundesregierung auf, Klarheit zu schaffen . Einen letzten Punkt möchte ich ansprechen: Dass der Deutsche Bundestag sich lediglich auf das Abnicken von 650 Millionen Euro versteht, ohne jeden Einfluss auf den Inhalt auszuüben und ohne eine Kontrolle der Mittelver- wendung vorzunehmen, ist bemerkenswert . Sowohl die Länderparlamente als auch wir haben keinerlei Einfluss- möglichkeiten auf die interministeriellen Abstimmungen hinter verschlossener Tür . Die Linke kritisiert das schon lange . Wir fordern an dieser Stelle deutlich mehr Trans- parenz und die Einbindung des Parlamentes . Trotz dieses großzügigen Freifahrtscheins für das Mi- nisterium braucht dieses viel zu lange, um die Gelder den Ländern zur Verfügung zu stellen . Angesichts des Zeit- drucks bei Mittelvergabe und Ausschreibung, unter dem Kommunen und Länder stehen, ist eine Auszahlung im Mai jedes Jahres viel zu spät . Hier fordern wir ein schnel- leres Verfahren, das den Ländern mehr Flexibilität und Planungssicherheit ermöglicht . Engagement für eine nachhaltige Entwicklung des ländlichen Raums sieht anders aus . Mit diesem Gesetz- entwurf bringen Sie bestenfalls ein Reförmchen auf den Weg, das nur so tut, als steckte etwas Neues, Wirkungs- volles dahinter . Damit täuschen Sie nicht nur das Parla- ment; Sie enttäuschen ein weiteres Mal Millionen Men- schen in den ländlichen Regionen dieses Landes, und Sie sollten bedenken, wohin das führt . Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vorweg: Nicht alle ländlichen Räume brauchen unsere Fördergelder . Manche Regionen boomen geradezu . Hier treffen Arbeitsplätze in Industrie oder Gewerbe auf Fach- kräfte, attraktive Landschaften auf Touristen, günstiger Wohnraum auf junge Familien und regionale Produkte auf Abnehmer . Die Entwicklungsperspektive ist gut . Das ist das ideale Bild ländlicher Räume . Andere ländliche Regionen stehen aber vor großen Herausforderungen, und um die geht es heute: Regio- nen, die schlecht angebunden oder weit entfernt von der nächsten Stadt sind, die der demografische Wandel hart trifft und deren Kommunen kaum finanzielle Gestal- tungsspielräume haben . Diese Regionen schrumpfen: zum einen ihre Bevölkerungszahl und zum anderen auch ökonomisch . Der Strukturwandel in der Landwirtschaft hin zur Agro-Industrie führt dazu, dass hier immer weni- ger Menschen Arbeit finden. Die natürlichen Ressourcen der Regionen werden ausgenutzt, ohne dass die Wert- schöpfung in der Region stattfindet. So ist die Bedeutung der Landwirtschaft für die regionale Wirtschaft stark zu- rückgegangen . Genauso trifft der Strukturwandel aber auch andere periphere ländliche Regionen besonders hart, beispiels- weise die Kohleregionen oder die großindustriell gepräg- ten Regionen, wie das Saarland . Hier müssen wir den Menschen vor Ort neue Perspektiven eröffnen . Die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrar- struktur und des Küstenschutzes“ ist ein wichtiges För- derinstrument, das diesen Aufgaben derzeit nicht gerecht werden kann . Darum steht im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD auch die Weiterentwicklung hin zu einer Gemeinschaftsaufgabe „Ländliche Entwicklung“, für die eine Grundgesetzänderung nötig wäre . Genau hier liegt der Knackpunkt . Leider reden wir heute nämlich nicht über eine brandneue Gemeinschafts- aufgabe „Ländliche Entwicklung“, sondern immer noch über die alte Gemeinschaftsaufgabe . Sie vertut die gro- ße Chance, mit der satten Mehrheit hier im Bundestag die Förderpolitik für ländliche Räume neu aufzustellen . Mit diesem Reförmchen ist den ländlichen Räumen nicht wirklich geholfen . Das ist Symbolpolitik; denn viele Fragen bleiben nach der Erweiterung der GAK unbeantwortet, beispielswei- se, wie eigentlich ein förderfähiger ländlicher Raum de- finiert ist, inwieweit die GAK mit Instrumenten der re- gionalen Wirtschaftspolitik oder auch den europäischen Fördertöpfen kombinierbar ist oder wie die Chancen der Digitalisierung genutzt werden sollen . Ebenso unbeant- wortet bleibt die ganz zentrale Frage, welche Fördermaß- nahmen unter die ländliche Entwicklung fallen sollen . Viele neue Fördermaßnahmen können es nicht sein; denn eines steht für die Bundesregierung fest: Was nicht Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617174 (A) (C) (B) (D) unter den Agrarbegriff gepackt werden kann, ist auch mit der erweiterten GAK nicht förderfähig . Das bedeutet, dass Zukunftsaufgaben, von der Diver- sifizierung der Wirtschaft bis zu Fragen der Daseinsvor- sorge, immer noch nicht angepackt werden können . Jed- wede Förderung bleibt an die Landwirtschaft gekettet . Das entspricht nicht den realen Notwendigkeiten vor Ort . Das Land ist Lebens-, Arbeits- und Naturraum, nicht nur Arbeitsort für Agro-Großbetriebe . Auch wenn die Bundesregierung einen weiten Agrar- und Infrastruk- turbegriff voraussetzt, ist diese GAK-Erweiterung doch Zeugnis eines sehr engen Verständnisses von dem, was ländliche Räume heute ausmacht . Der Funktionswandel des Landlebens muss sich end- lich auch in unseren Förderinstrumenten widerspiegeln . Daher brauchen wir Zweierlei: eine komplette Neuaus- richtung landwirtschaftlicher Förderung mit dem Fokus auf ökologisch-regionale Wertschöpfungsketten und eine davon losgelöste, zukunftsorientierte Förderung struk- turschwacher ländlicher Räume . Der große Wurf ist die vorliegende Erweiterung daher ganz sicher nicht . Peter Bleser, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- nister für Ernährung und Landwirtschaft: Im Koaliti- onsvertrag wurde vereinbart, die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschut- zes“, GAK, zu einer Gemeinschaftsaufgabe „Ländliche Entwicklung“ weiterzuentwickeln . Zur Umsetzung die- ses Auftrages haben wir den Entwurf eines Vierten Ge- setzes zur Änderung des GAK-Gesetzes vorgelegt . Der Entwurf ist das Ergebnis intensiver Diskussionen mit den Bundesressorts . Der zunächst von uns favorisier- te Weg der Erweiterung des Artikel 91a Grundgesetz um Maßnahmen der ländlichen Entwicklung erwies sich als nicht gangbar . In der Diskussion mit den Verfassungs- ressorts zeigte sich, dass der Begriff „ländliche Entwick- lung“ zu unbestimmt ist, als dass eine Eingrenzung auf ein darunter zu subsumierendes Bündel von Maßnahmen möglich wäre . Das Feld der ländlichen Entwicklung ist so umfassend – Verkehrs-, Bildungs-, Gesundheits- und Infrastrukturpolitik, demografischer Wandel, Wirt- schaftskraft –, dass weder der Auftrag noch die Finan- zausstattung der GAK es zulassen, die Länder bei der Wahrnehmung dieser Aufgaben maßgeblich zu unterstüt- zen . Vor diesem Hintergrund haben wir uns innerhalb der Bundesregierung darauf verständigt, mit einer Änderung des GAK-Gesetzes das Förderspektrum der GAK an das- jenige der ELER-VO anzupassen . Erstens . Änderungen im Gesetz: Wichtigste Änderung ist die in § 1 GAKG eingefügte Förderung der Infrastruktur ländlicher Gebiete im Rah- men der Gemeinsamen Agrarpolitik . Damit können zu- künftig Investitionen in nichtlandwirtschaftliche Kleinstbe- triebe, Investitionen in kleine Infrastrukturen und Ba- sisdienstleistungen – zum Beispiel Nahversorgung mit Gütern und Dienstleistungen –, Investitionen zugunsten des ländlichen Tourismus, Investitionen zur Umnutzung auch nicht landwirtschaftlicher Bausubstanz sowie In- vestitionen zugunsten des kulturellen und natürlichen Er- bes von Dörfern und ländlichen Gebieten im Rahmen der neuen GAK gefördert werden . Mit der Bindung an den Förderkatalog der ELER-Ver- ordnung und damit an die EU-Agrarpolitik bleibt der Be- zug auch der neuen Fördermaßnahmen im Bereich der ländlichen Entwicklung zur Landwirtschaft erhalten . Es kann nur gefördert werden, wenn und wo Investitionen für die Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit ländli- cher Gebiete bedeutsam sind . Zudem sollen die Maßnahmen einer markt- und stand- ortangepassten Landbewirtschaftung um den Aspekt der Umweltgerechtheit ergänzt und aus dem Kontext der Verbesserung der Produktions- und Arbeitsbedingungen herausgelöst werden . Damit wird auch dieser Förderbe- reich erweitert und an die ELER-Verordnung angepasst . Zweitens . Bedeutung des Gesetzentwurfs: Alles in allem ist vor dem Hintergrund der teilwei- se stagnierenden Entwicklung im ländlichen Raum die geplante Änderung des GAK-Gesetzes ein wichtiger Schritt, mit dem viele Herausforderungen, vor denen ländliche Räume stehen, angegangen werden können . Insbesondere ist es das Ziel, unsere Dörfer attraktiver zu machen und jungen Menschen eine Bleibeperspektive zu bieten . Ich bin überzeugt, dass mit dem Gesetzentwurf einer- seits der Kern der jetzigen GAK gesichert werden kann und dass andererseits wichtige Infrastrukturmaßnahmen in ländlichen Gebieten angestoßen werden können . Drittens . Praktische Umsetzung: Parallel zu den Gesetzesberatungen sind wir dabei, für die neuen Fördermaßnahmen der weiterentwickel- ten GAK Förderungsgrundsätze zu entwickeln . Erste Besprechungen mit den Ländern haben bereits stattge- funden . Dabei geht es zum einen um ergänzende För- derungsgrundsätze für den laufenden Rahmenplan (RP) 2016, und zum anderen um neue Förderungsgrundsätze für den Rahmenplan 2017 . Die Fördermaßnahmen für den Rahmenplan 2016 sollen schnellstmöglich nach Inkrafttreten des neuen GAK-Gesetzes vom Planungsausschuss der GAK be- schlossen werden . Nur so können wir die Grundlage da- für schaffen, dass die vom Haushaltsausschuss für den Rahmenplan 2016 bereitgestellten Mittel in Höhe von 30 Millionen Euro zusätzlich für neue Maßnahmen auch in Anspruch genommen werden können . Viertens . Schlusswort: Die Änderung des GAK-Gesetzes bietet uns die Chan- ce, die GAK-Förderung entsprechend den künftigen An- forderungen auszugestalten . Der Bund unterstützt die Länder bei deren Aufgabe der ländlichen Entwicklung und der Verbesserung der Agrarstruktur und des Küsten- schutzes in erheblichem Maße . Ich bin der Meinung, dass dies notwendig und richtig ist und dass der Bund mit der Novellierung des GAK-Ge- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17175 (A) (C) (B) (D) setzes die Grundlage für eine Unterstützung legt, die zur Leistungsfähigkeit und der Lebensqualität in unseren ländlichen Regionen einen unverzichtbaren Beitrag leis- tet . Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung einge- brachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Än- derung des Direktzahlungen-Durchführungsgeset- zes (Tagesordnungspunkt 24) Artur Auernhammer (CDU/CSU): Landwirte sind Unternehmer mit einer besonderen Aufgabe: Wahrung und Schutz unserer Natur und Umwelt durch Bewirtschaf- tung von Flächen . Die Europäische Union unterstützt uns Landwirte dabei, dieser Aufgabe nachzukommen, indem sie klima- und umweltbewusste Landbewirtschaftungs- methoden durch Direktzahlungen fördert . Als wir im Juli 2014 das Direktzahlungen-Durchführungsgesetz verabschiedet haben, haben wir dabei auch im Hinter- kopf gehabt, dass sich die Flächennutzung auch bei geförderten Flächen aus betrieblichen Gründen ändern kann. Wir haben den Landwirten eine flexible Nutzung ihrer Flächen ermöglicht, indem wir im Direktzahlun- gen-Durchführungsgesetz die Regelungen zum Erhalt von Dauergrünland entsprechend festgelegt haben . Wir haben uns beim Beschluss des Gesetzes auf der Basis der bisherigen deutschen Auslegung der EU-Rege- lung entschieden, den rechtlichen Begriff der „Umwand- lung“ nur für die Nutzungsänderung des durch Direkt- zahlungen förderfähigen normalen Dauergrünlands in andere förderfähige landwirtschaftliche Nutzungsflächen vorzusehen . Eine Nutzungsänderung zu nichtlandwirt- schaftlichen Nutzungsflächen war bisher nach unserem Verständnis nicht unter den Begriff der „Umwandlung“ gefasst . Damit wurde ermöglicht, dass Landwirte eine Nutzungsänderung von Dauergrünland und speziell des umweltsensiblen Dauergrünlands in nichtlandwirtschaft- liche Nutzungsflächen, für die keine Direktzahlungen gewährt werden, ohne Genehmigungsverfahren, aber in engen umwelt- und klimaschutzrechtlichen Grenzen vor- nehmen und so die Flächennutzung an ihre betrieblichen Erfordernisse anpassen können . Am 17 . Juli 2015 hat die Europäische Kommission den Leitfaden zur Durchführung der Vorschriften über Dauergrünland veröffentlicht . Sie hat darin den Begriff der „Umwandlung“ weiter ausgelegt, als es die bisheri- ge deutsche Interpretation war . Jede Nutzungsänderung ist gemäß der europäischen Vorgabe eine Umwandlung, die nach der bisherigen Gesetzgebung genehmigt werden muss . Das heißt konkret: Landwirte werden in ihrer Flä- chennutzung und Flexibilität enorm eingeschränkt . So ist eine Nutzungsänderung von umweltsensiblem Dau- ergrünland in nichtlandwirtschaftliche Nutzungsflächen aufgrund des Leitfadens jetzt unmöglich, auch weil für dieses ein Umwandlungsverbot besteht . Für normales Dauergrünland wird dieser Vorgang erheblich erschwert . Zudem erhöht sich das Risiko von Anlastungen für Land- wirte enorm . Deshalb müssen wir die bisherigen nationa- len Regelungen zum Dauergrünland entsprechend anpas- sen, indem wir Ausnahmereglungen für uns nutzen . Wir wollen damit die geschaffene Flexibilität der Landwirte bei der Flächennutzung erhalten und Anlastungen ver- hindern . Deshalb ist diese Änderung für uns Landwirte wichtig . Für mich kann diese Maßnahme aber nur ein Anfang sein, die Landwirte zu entlasten und Flexibilität zu er- möglichen . Damit sie den steigenden Erwartungen der Gesellschaft und des Marktes und gleichzeitig dem Auf- trag des Natur- und Umweltschutzes gerecht werden können, müssen wir den Landwirten erlauben, betriebli- che Veränderungen noch flexibler vornehmen zu können. Dazu bedarf es noch mehr Vereinfachungen statt neuer Regeln . Lassen Sie uns jetzt mit diesem Gesetz einen ers- ten Schritt machen . Hermann Färber (CDU/CSU): Mit dem vorliegen- den Gesetzentwurf wollen wir eine Rechtslage wieder- herstellen, die durch eine Neuinterpretation geltender EU-Richtlinien durch die Kommission geändert worden ist . Es geht um die Umwandlung von Dauergrünland in eine nichtlandwirtschaftliche Fläche, die dann auch kei- ner Beihilfe mehr unterliegt . Wir hatten uns in der Koalition bei der Umsetzung der europäischen Agrarreform darauf geeinigt, dass solche Umwandlungen möglich sein sollen . Diese Rechtslage haben wir politisch gewollt und hier im Bundestag so beschlossen . Dabei sind wir davon ausgegangen, dass der Begriff „Umwandlung von Dauergrünland“ nur die Umwandlung in eine andere landwirtschaftliche Fläche umfasst, nicht aber die Umwandlung in eine nichtland- wirtschaftliche Fläche . Die EU-Kommission hat nun in einem Leitfaden festgelegt, dass auch Letzteres von dem Begriff „Umwandlung“ umfasst wird . Um nun die von uns in der Koalition gewünschte und im Bundestag be- reits beschlossene Rechtslage wiederherzustellen, benö- tigen wir den vorliegenden Gesetzentwurf . Dieser Gesetzentwurf stellt keinen Landwirt besser als vorher; er enthält auch keinerlei Eingriffe in den Um- weltschutz . Es wird lediglich die bisherige Rechtslage an die Neuinterpretation der EU-Kommission so angepasst, dass es für die Landwirte nicht zu erneuter Verschlechte- rung kommt . Zugleich werden schon erfolgte Umwand- lungen, die ohne eine solche Gesetzesanpassung plötz- lich im Nachhinein als illegal bewertet werden müssten, legalisiert . Die bisherige Rechtslage entspricht nur einer grund- sätzlichen Fairness: Wenn eine Fläche nicht mehr bei- hilfefähig ist, dann entspricht es nur dem Schutz des Eigentums, dem Eigentümer keine so weitgehende Nut- zungsbeschränkung aufzuerlegen, wie es beim Erhalt von Dauergrünland der Fall ist . Deshalb fordere ich alle Mitglieder dieses Hauses nachdrücklich auf, diesen Gesetzentwurf schnell zu ver- abschieden . Rechtssicherheit ist ein hohes Gut, und sie muss auch für Landwirte gelten . Die Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes, mit der auch politische Forde- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617176 (A) (C) (B) (D) rungen in ganz anderen Bereichen durchgesetzt werden sollen, darf nicht verzögert werden . Dieser Gesetzentwurf ist das absolute Minimum, was wir den Landwirten in den sowieso schweren Zeiten an Rechtssicherheit liefern müssen . Dringend notwendig wären eigentlich noch wesentlich weitere Vereinfachun- gen bei den Greening-Bestimmungen und den Baga- tell-Regelungen . Die letzte Agrarreform hat zu einem erheblichen Bü- rokratisierungsaufwand für Landwirte geführt . Wir müs- sen jede Möglichkeit nutzen, diesen Aufwand zu mini- mieren . Alles andere führt nur zu noch mehr Höfesterben und Abwanderung der Produktion . Wir diskutieren in diesen Wochen intensiv über die extrem schwierige Marktlage in der Agrarwirtschaft, und wir sind uns alle hier einig, dass Landwirte auskömm- liche Gewinne erzielen müssen . Wir müssen dabei aber klar sehen, dass das nicht nur eine Frage des Preises ist, sondern ebenso eine Frage des Aufwands: Jede weitere Bürokratisierung für die Bäuerinnen und Bauern und jede weitere Einschränkung ihrer Eigentumsnutzung be- deuten einen erhöhten Aufwand, für den eben niemand bereit ist, mehr zu bezahlen . Das wird auf Dauer nicht funktionieren . Auch wenn wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nur eine ganz winzige Erleichterung von neuen Be- schwernissen für die Landwirte schaffen, tun wir in der aktuellen Lage in jedem Fall das Richtige . Deshalb bitte ich um schnelle Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf . Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Bei dem vorliegen- den Gesetzentwurf geht es um eine Anpassung des na- tionalen Rechts an das EU-Recht . So soll es zukünftig möglich sein, in engen Grenzen eine Umwandlung von umweltsensiblem Dauergrünland in eine nichtlandwirt- schaftliche Fläche über eine Aufhebung der Bestim- mung einer Dauergrünlandfläche als umweltsensibel vorzunehmen . Ebenfalls soll eine Genehmigung für eine Umwandlung von anderem als umweltsensiblem Dau- ergrünland in eine nichtlandwirtschaftliche Fläche ohne Verpflichtung zur Neuanlage von Dauergrünland erteilt werden . Eine Vorschrift zur Heilung bereits erfolgter ent- sprechender Umwandlungen ist außerdem erforderlich, weil die weite Auslegung des Begriffs „Umwandlung“ für die Betroffenen nicht absehbar war . Zum Dauergrünland zählen alle Flächen, die fünf Jahre oder länger als Wiese oder Weide genutzt wurden . Typische Nutzungsformen des Grünlandes sind Wiesen und Mähweiden, Weiden, Almen sowie ertragarmes Dau- ergrünland, das auch als Hutung bezeichnet wird . Im Jahr 2015 wurden rund 4,7 Millionen Hektar in Deutschland als Dauergrünland genutzt . Damit bleibt der Grünlandanteil an der landwirtschaftlich genutzten Flä- che mit 28 Prozent im Vergleich zum Vorjahr konstant . Als zweitgrößte Flächenposition prägt das Grünland maßgeblich die Kulturlandschaft in Deutschland . Die typischen Nutzungsformen des Grünlandes sind Wiesen (39 Prozent des Dauergrünlandes) und Weiden (57 Prozent des Dauergrünlandes) . Beide sind in der Landwirtschaft eine hauptsächliche Futterbasis für die Milchviehwirtschaft, da das Raufutter von Wiesen und Weiden als kostengünstiges Futter in der Milchvieh- haltung gilt . Wiesen und Weiden prägen außerdem die vielfältigen Kulturlandschaften in Deutschland . Sie un- terstützen die Naherholungsfunktion ländlicher Gebiete und sind die Grundlage für einen erfolgreichen ländli- chen Tourismus . Grünland hat aber auch als Substratlie- ferant für die Erzeugung erneuerbarer Energien an Be- deutung gewonnen . Dauergrünland ist zudem eine sehr gewässerschonende Landnutzungsform und bietet einen hervorragenden Erosionsschutz . Auch die Klimawirkung ist beachtlich: So werden im Falle des Grünlandumbruches auf Mineralstandorten eine Tonne CO2-Äquivalent je Hektar und Jahr zusätzlich freigesetzt, auf Niedermooren sind es sogar mindestens 8 bis 15 Tonnen CO2-Äquivalent je Hektar und Jahr . Grünlandbiotope zählen zu den artenreichsten Biotop- typen Mitteleuropas . Auf mitteleuropäischem Grünland kommen circa 1 100 Pflanzenarten vor, das sind 28 Pro- zent des gesamten Pflanzenartenspektrums in Mitteleu- ropa . Dauergrünland ist somit aus mehrerlei Hinsicht von außerordentlicher Bedeutung . Dies hat auch die EU-Kommission erkannt und hat im Laufe der letzten großen Reform der gemeinsamen europäischen Agrar- politik das Dauergrünland gegenüber dem Ackerland gleichberechtigt, sodass die Flächenprämien nun ein- heitlich sind . Zudem ist Grünland auf die sogenannten Greening-Flächen, die 30 Prozent der Gesamtfläche aus- machen müssen, anrechenbar . Nur dann kann man über- haupt Flächenprämien aus Brüssel erhalten . Bei Erlass des Direktzahlungen-Durchführungsgeset- zes wurde davon ausgegangen, dass Landwirtschaftsbe- triebe ohne Konsequenzen für die Gewährung der Direkt- zahlungen landwirtschaftliche Flächen, und hier speziell Dauergrünland, in nichtlandwirtschaftliche Flächen um- wandeln können . Die im Gesetz getroffenen Vorschrif- ten zur Umwandlung von Dauergrünland sollten sich nur auf die Umwandlung in andere landwirtschaftliche Nutzungen wie Ackerkulturen oder Dauerkulturen be- ziehen . Ohne eine Gesetzesänderung wäre jedoch eine Umwandlung von umweltsensiblem Dauergrünland in eine nichtlandwirtschaftliche Fläche gänzlich unzulässig . Eine Genehmigung einer solchen Umwandlung bei ande- rem Dauergrünland würde in der Regel eine Neuanlage von Dauergrünland erfordern . Außerdem würde das An- lastungsrisiko bei etwaigen Kontrollen für die Betriebe weiter wachsen . Insofern wollen wir nur europäisches und nationales Recht harmonisieren und reduzieren damit gleichzeitig den Verwaltungsaufwand für die Betriebe . Etwaige wei- tere Anpassungen der gemeinsamen europäischen Agrar- politik werden wir bald auch hier im hohen Haus disku- tieren müssen . In dem von der niederländischen Ratspräsidentschaft beim informellen Agrarrat in Amsterdam am Anfang der Woche vorgelegten Diskussionspapier zur Ausrichtung der Gemeinsamen Agrarpolitik nach 2020 finden sich viele gute Ansätze . Genauso wie die Niederländer wollen Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17177 (A) (C) (B) (D) wir als SPD die Bürokratie im Agrarbereich abbauen und die Innovationsforschung intensivieren . Außerdem for- dern wir, dass die Steuergelder, welche die Landwirte für die Bewirtschaftung ihrer Flächen bekämen, zielgerich- teter eingesetzt werden . Schon seit Jahren plädieren wir dafür, dass öffentliches Geld für öffentliche Leistungen ausgegeben werden soll . Subventionen kann es im Agrarbereich nur noch ge- ben, wenn auch in den Klima-, Umwelt- oder Tierschutz bzw . in den Erhalt der ländlichen Räume investiert wird . Die Förderung von Dauergrünland ist vor diesem Hin- tergrund ein wichtiges Puzzleteil . Ich bitte daher, dem Gesetzentwurf zuzustimmen . Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Dauergrün- land ist wertvoll . In unserer Agrarlandschaft ist mir eine saftige, grüne Wiese mit weidenden Mutterkühen und Kälbern das Liebste . Außerdem sind Wiesen und Weiden gut für das Klima; denn wo Pflanzen permanent nach- wachsen, wird der Boden geschützt und gleichzeitig das CO2 aus der Luft in der Pflanze gebunden. Dauergrün- land ist Lebens- und Rückzugort, zum Beispiel für Bo- denbrüter oder seltene Pflanzengesellschaften. Das alles sind gute Gründe, mit Wiesen und Weiden besonders re- spektvoll umzugehen . Wir wissen aber: Gerade die Bestände von Pflanzen und Tieren der offenen Agrarlandschaft sind am häu- figsten gefährdet. Die Realität ist, dass Dauergrünland in Deutschland, aber auch in ganz Europa und weltweit Fläche verliert . Eine aktuelle Studie des Umweltbundes- amtes besagt, dass 1991 noch über 5,3 Millionen Hektar oder 31,3 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche als Dauergrünland bewirtschaftet wurden, während es 2014 nur noch rund 4,7 Millionen Hektar oder 27,8 Prozent waren . Viele Flächen mussten dem Straßen- oder Sied- lungsbau weichen, oder sie wurden zeitweise zu Äckern umgewandelt, weil der Anbau von Mais oder anderen Ackerbaukulturen profitabler ist. Zumindest diesem Treiben hat die EU ein Um- wandlungsverbot entgegengesetzt . Zur Umsetzung der Greening-Maßnahmen hat die EU-Kommission im Som- mer 2015 einen Leitfaden vorgelegt. Darin definiert sie Dauergrünland und legt Möglichkeiten einer Ausnahme vom Umwandlungsverbot dar . Unter Umwandlung von Dauergrünland versteht sie nicht nur die Umwandlung in Ackerland oder Dauerkulturen, sondern auch die Um- wandlung in nichtlandwirtschaftliche Nutzungen wie Aufforstung, natürliche Sukzession, Bebauung oder Nutzung als Infrastrukturfläche. Während solche Nut- zungsänderungen auf umweltsensiblem Dauergrünland in FFH-Gebieten ausgeschlossen sind, bedürfen sie auf sonstigem Dauergrünland der Genehmigung . Das EU-Recht sieht die Möglichkeit vor, dass die Mitgliedstaaten einzelne Flächen aus der Kulisse des umweltsensiblen Dauergrünlandes herausnehmen kön- nen . Daraus resultiert zum einen, dass Umwandlungen in nichtlandwirtschaftliche Nutzungen demselben strengen rechtlichen Rahmen unterliegen wie Umwandlungen in Ackerland und Dauerkulturen . Zum anderen wird be- stimmt, dass nationalstaatliche Ausnahmen, wenn dem keine anderen Rechtsvorschriften entgegenstehen, mög- lich sind . In Deutschland wurde das Umwandlungsverbot von Dauergrünland bisher lediglich auf die Umwandlung in andere landwirtschaftliche Nutzungen bezogen . Aus der Konkretisierung auf EU-Ebene ergibt sich, dass Landwirte nun von Sanktionen wegen Verstoßes gegen Greening-Maßnahmen betroffen sein können . Genau hier setzt der Gesetzentwurf an: Erstens soll eine Umwandlung von umweltsensiblem Dauergrünland in eine nichtlandwirtschaftliche Nutzung in Ausnahmefällen möglich werden . Zweitens sollen Landwirte bei der Umwandlung von sonstigem Dauergrünland in eine nichtlandwirtschaftli- che Nutzung keinen Grünlandersatz schaffen müssen . In beiden Fällen ist einem positiven Bescheid die Prü- fung nach Bundesnaturschutzgesetz und nach Bauord- nungsrecht vorgeschaltet . Hier geht es um die Herstellung von Rechtssicherheit für die Landwirtschaft, und die Linke geht nicht davon aus, dass dadurch neue Schlupflöcher für den weiteren Flächenfraß geschaffen werden sollen . Weil aber Intention und Wirkung so mancher Geset- ze weit auseinanderklaffen, möchte ich hier zumindest auf die Gefahr weiterer Flächenverluste hinweisen . Die immer noch viel zu hohen Flächenverluste, besonders bei Grünland, müssen reduziert werden . Die Linke wird deshalb darauf achten, dass mit dieser Regelung das be- stehende Umwandlungsverbot nicht durch die Hintertür unterlaufen wird . Wie ich vom Wissenschaftlichen Dienst erfuhr, basie- ren die geringen Schätzungen im Gesetzentwurf auf den Selbstauskünften der Landwirte und vagen Annahmen . Ob tatsächlich so wenige Anträge eingehen werden und die betroffene Umwandlungsfläche bei umweltsensiblem Dauergrünland jährlich 100 Hektar betragen wird, wis- sen wir heute nicht, und ob andere nichtlandwirtschaft- liche Nutzungen aus sozial-ökologischer Perspektive überhaupt sinnvoll sind, kann ebenfalls – wie im Fall der Fotovoltaik – bezweifelt werden; denn diese Anlagen ge- hören aus unserer Sicht vor allem auf Dächer oder andere versiegelte Flächen . Die Linke fordert vor allem, die Attraktivität der Nut- zung des Dauergrünlands zu verbessern, insbesondere bei Weidenutzung . Eine Weidetierprämie, wie in Frank- reich, wäre hier ein wichtiges Signal der Anerkennung der Arbeit, die in diesem Teil der Landwirtschaft geleis- tet wird . Er genießt die höchste Akzeptanz in der Gesell- schaft, bekommt aber wenig Geld für seine Leistung . Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Die vorliegende Gesetzesänderung ändert beste- hendes Recht hinsichtlich der Umwandlung von Dauer- grünland in eine nichtlandwirtschaftlich genutzte Fläche . Durch die Regelung wird die durch die Auslegung der Europäischen Kommission im Leitfaden zur Durchfüh- rung der Vorschriften für Dauergrünland entstandene Re- gelungslücke geschlossen . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617178 (A) (C) (B) (D) Wir können der Vorlage zustimmen . Bei aller Wichtig- keit des Grünlands für die Biodiversität, die Bodenstruk- tur und den Erhalt der Schönheit des ländlichen Raums geht es hier doch um Details: kleine bürokratische Um- setzungsbausteine, die Minister Schmidt in seiner beam- tenhaften Beflissenheit in seiner „Erledigt“-Mappe able- gen kann . Dazu ist er in der Lage . Doch abseits dieser Details geht es doch um mehr . Wie können wir den ländlichen Raum mit seinen kleinstruk- turierten bäuerlichen Landwirtschaftsbetrieben, mit den Milchkühen auf der Weide und den bäuerlichen Famili- en, die von ihrer Arbeit anständig leben können, erhal- ten? Das sind die ländlichen Räume, die wir alle wollen, die attraktiv sind für die dort lebenden Menschen und die von Städtern zur Erholung so gerne besucht werden . Doch wenn sich nicht bald etwas verändert, werden wir sie verlieren . Da hilft es nicht, kleine Gesetzesanpas- sungen vorzunehmen; denn in der deutschen Agrarpoli- tik hat sich ein erheblicher Problemstau entwickelt: Die Märkte für tierische Produkte, vor allem für Milch, sind praktisch zusammengebrochen, viele bäuerliche Betrie- be bangen um ihre Existenz oder haben bereits aufgege- ben, und die gesellschaftliche Akzeptanz der Tierhaltung schwindet von Tag zu Tag . Das millionenfache Schreddern frisch geschlüpfter Küken entspricht angeblich dem Tierschutzgesetz, und die Milch ist mittlerweile billiger als Wasser . So steht das System da . Dorthin hat uns die ewig gestrige Agrarpoli- tik von CDU und CSU geführt . Aber mit „Wachsen oder Weichen“ ist jetzt Schluss . Wir haben die Pflicht, den Bäuerinnen und Bauern Per- spektiven zu bieten . Wie können sie ihre Schweine halten, dass es Spaß macht, in den Stall zu gehen, und dennoch ein anständiges Einkommen damit erzielen? Was können wir den Milchbauern sagen, um sie zum Durchhalten zu ermutigen? Die Arbeit der Bäuerinnen und Bauern muss wieder mehr wert sein . Da hilft der Versuch nicht, die Milcherzeuger mit einer Finanzspritze ruhig zu stellen, wie Schmidt sich von der Lebensmittelindustrie und dem Bauernverband beim Milchgipfel hat diktieren lassen . Das ist Opium fürs Volk . Um wirklich etwas für die ländlichen Räume und die bäuerlichen Betriebe zu tun, braucht man Mut und Ideen . Wir brauchen eine Agrarwende – zum Wohle der Men- schen, der Tiere und der Umwelt . Doch dafür ist Schmidt nicht gemacht . Detailregelungen wie die vorliegende Gesetzesänderung traue ich ihm zu, für die wichtigen umfassenden Umstellungen fehlen ihm die Vorstellungs- kraft, der Mut und das Format . Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der Verbreitung neuer psychoaktiver Stoffe – des Antrags der Abgeordneten Frank Tempel, Kathrin Vogler, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für eine zeitgemäße Antwort auf neue psy- choaktive Substanzen (Tagesordnungspunkt 25 a und b) Marlene Mortler (CDU/CSU): Neue psychoaktive Substanzen gibt es nicht nur in Deutschland . Sie sind weltweit verbreitet, sie sind gefährlich, und sie werden auf tückische Weise vertrieben . Wer die Gesundheit der Menschen schützen will, der muss etwas gegen diese Substanzen tun – wohldurchdacht, fest entschlossen und mit einem breiten Ansatz aus Prävention, Schadensmini- mierung und – darum geht es heute – dem klaren Signal des Verbotes . NPS sind weltweit verbreitet . Nicht nur in Europa, sondern auch in den USA und in Kanada, Australien, China und vielen anderen Staaten werden NPS in erheb- lichem Maße konsumiert . Kaum ein Drogenmarkt ist so in Bewegung wie der NPS-Markt . Vorgestern wurde der „Europäische Drogenbe- richt 2016“ veröffentlicht . Nach Aussage der Europä- ischen Drogenbeobachtungsstelle in Lissabon wurden in der EU im letzten Jahr nicht nur 560 verschiedene Substanzen gezählt, die wir als NPS betrachten . Das Besondere daran ist, dass fast 100 dieser Substanzen im letzten Jahr zum ersten Mal auf dem europäischen Markt auftauchten . Eine kleine molekulare Veränderung – und schon war der Verordnungsgeber bei uns ausgetrickst und eine Substanz schon wieder erlaubt statt nach Betäu- bungsmittelrecht verboten . Das Perfide an NPS ist vor allem die Art ihrer Ver- marktung . NPS gaukeln als „Kräutermischungen“ oder „Badesalze“ eine Harmlosigkeit vor, die sie nicht haben . Zudem wirbt der mittlerweile hoch professionalisierte Vertrieb gerade mit der vermeintlichen Legalität der Sub- stanzen . Unter dem Oberbegriff „Legal Highs“, der sich in der Szene eingebürgert hat, wird für Substanzen geworben, deren Inhalt kaum ein Konsument kennt . Wie gefährlich der Konsum dieser „Black Boxes“ ist, habe ich schon vor einigen Wochen berichtet . Allein in Deutschland sind im vergangenen Jahr 39 Menschen nach dem Konsum von neuen psychoaktiven Stoffen ums Leben gekommen . Man muss sich das wirklich wie Russisches Roulette vorstellen . Man schluckt etwas, ohne jede Vorstellung über die Inhalte . Und manche gehen noch weiter und schlucken nicht nur . Von einigen Konsumenten werden NPS sogar gespritzt – mit allen damit verbundenen Ge- fahren . Das zeigt auch der Anstieg der HIV-Infektionen in Irland . Diesem Spiel mit dem Tod machen wir mit dem Neue-Psychoaktive-Stoffe-Gesetz ein Ende . Es ist uns gelungen, die juristisch hochkomplexe Materie in Hoch- geschwindigkeit in Gesetzesform zu bringen . Ich bin viel international unterwegs und weiß: Wir gehen hier einen Weg, der auch für andere Länder beispielgebend ist . Al- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17179 (A) (C) (B) (D) len Beteiligten in den Ministerien meine Anerkennung und meinen herzlichen Dank! Mit dem Verbot ganzer Stoffgruppen sorgen wir dafür, dass in Zukunft kein Zweifel mehr daran besteht: Legal Highs gibt es nicht . Was zu den gefährlichen Stoffgrup- pen gehört, darf nicht vertrieben werden . Werbung mit der vermeintlichen Legalität ist gesetzwidrig . Dagegen kann man vorgehen, und dagegen wird die Polizei auch vorgehen . Jedem ist klar, dass wir mit diesem Verbot allein das Problem NPS natürlich nicht lösen werden . Wir müssen auch über diese Drogen aufklären, müssen vermitteln, dass auch niemand etwas essen oder trinken würde, ohne zumindest einen prüfenden Blick darauf zu werfen . Ge- nauso klar ist aber auch, dass wir das NPS-Problem ohne dieses Verbot nicht lösen werden . Es ist ein notwendiger Schritt zur Bewältigung dieser Herausforderung . Wir bestrafen nicht die Konsumenten, sondern die skrupellosen Händler, die Profite machen auf Kosten der Gesundheit der Konsumenten . Wir werden es nicht zulassen, dass junge Konsumenten als menschliche Ver- suchskaninchen für Substanzen herhalten, deren poten- zielle Gesundheitsrisiken weitgehend unbekannt sind . Deshalb bitte ich um Unterstützung für unseren Ge- setzentwurf . Burkhard Blienert (SPD): Mit dem heute erstmalig zu beratenden Gesetzentwurf zu den neuen psychoakti- ven Substanzen, NPS, die landläufig als Legal Highs be- kannt sind, nehmen wir uns nunmehr einer immer größer werdenden Herausforderung an . Unter Legal Highs werden Substanzen wie beispiels- weise Badesalze und Kräutermischungen verstanden . Die Substanzen hören sich harmlos an; ihr Titel Legal Highs bewirkt zudem den Anschein der Legalität . Ihre Wirkungen sind aber keineswegs harmlos, und legaler Besitz soll nun verboten werden . Keiner kann nämlich wissen, welche Zusammensetzung er gerade konsumiert, und so liest man leider viel zu häufig, dass es infolge des Konsums zu Nieren- und Kreislaufversagen kommt, dass Wahnvorstellungen eintreten – leider vermehrt auch mit tödlichem Ausgang . Der Zugang zu den Substanzen ist simpel . Wenige Mausklicks im Internet genügen, und die Ware kommt per Post nach Hause . Das Bundesministerium hat bereits 2011 dank einer Studie Überblick über die Motive für den Konsum der NPS erhalten . Die leichte Verfügbarkeit und der legale Besitz waren hierfür ausschlaggebende Beweggründe . Die Kosten für den Konsumenten sind eher gering, wenn ein Päckchen von 3 Gramm dieser gefährlichen Stoffe circa 20 bis 35 Euro kostet und je nach Substanz eine Dosierung zwischen 5 Milligramm und 200 Milligramm angenommen wird . Das alles sind Aspekte, die das Anwachsen des Marktes fördern . Der Markt jedenfalls wächst seit 2008 stetig . Ich gehe davon aus, dass leider auch der nächste Drogenbericht der Bundesregierung, der ja nächste Woche vorgestellt werden wird, hier keine Entwarnung geben kann . Inner- halb von fünf Jahren – zwischen 2008 und 2013 – stieg die Zahl der Beschlagnahmungen dieser sogenannten NPS in Europa um das Siebenfache an . Im Vergleich zu den Drogentoten durch andere Substanzen erscheinen die absoluten Zahlen für die NPS-Konsumenten laut der neuesten Daten für 2015 zwar gering, schaut man aber auf die Zuwachszahlen, ist die Entwicklung absolut besorgniserregend . Die Zahlen weisen zudem aus, dass mittlerweile über 560 verschie- dene Substanzen bekannt sind . Wir kennen die Zielgruppen: 90 Prozent der Konsu- menten sind Männer – sie nehmen die NPS zusätzlich zu weiteren illegalen Substanzen –, und es gibt regionale Schwerpunkte in Deutschland beim Konsum der NPS . Gerade der rasante Anstieg neuer Substanzen prägt das Bild eines „Hase-und-Igel-Spiels“: Sobald der Ge- setzgeber die eine Substanz verboten hat, wird eine neue auf dem Markt angeboten . Hier besteht Handlungsbe- darf . Es muss daher dringend gelingen, diesen Wettlauf zu beenden . Hintergrund dieser Entwicklung ist das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 10 . Juli 2014, nach dem alle NPS nicht mehr als Arzneimittel im Sinne des Arzneimittelgesetzes betrachtet werden können . Für alle NPS, die nun noch nicht in die Anlagen des Betäubungs- mittelgesetzes aufgenommen worden sind, entsteht da- her eine Gesetzeslücke . Diese Gesetzeslücke gilt es zu schließen . Die Bundesregierung hat hierzu richtigerwei- se einen Gesetzentwurf vorgelegt . Er sieht nun den neuen Ansatz der Stoffgruppenstrafbarkeit vor . Deutschland würde damit Beispielen anderer europä- ischer Länder, wie Österreich, folgen . Kern des Gesetz- entwurfs ist die Definition der Stoffgruppen. Der Gesetz- entwurf sieht hierfür eine Fokussierung auf synthetische Cannabinoide, Phenylethylamine und Cathinone vor . Sie machen seit 2005 zwei Drittel aller neuen Stoffe aus . Die Variantenfülle dieser Stoffgruppen befördert die explo- sionsartige Vervielfältigung neuer Substanzen auf dem Markt . Es wird im parlamentarischen Verfahren nun zu erör- tern sein, ob dieser Ansatz der Stoffgruppenstrafbarkeit zielführend ist, ob es Alternativen gibt, ob er ergänzt und ob er modifiziert werden muss. Über allem stehen hierbei auch die Frage der grund- sätzlichen Strafbarkeit von Suchtmittelbesitz und die Wirkungen der Prohibition . Der Antrag der Linken greift genau diesen Aspekt auf und verweist auf sogenannte Nebenwirkungen der strikten Verbotspolitik bei Drogen . Wir müssen hier also die fachliche Diskussion führen und genau benennen, was wir wie erreichen wollen und erreichen können . Ich scheue diese Diskussion nicht . Bereits 2012 hatten wir als SPD-Bundestagsfraktion einen entsprechenden Antrag zur Herausforderung des Umgangs mit den Legal Highs mit einigen wichtigen und richtigen Maßnahmen hier im Bundestag eingebracht . Ich würde mich freuen, wenn wir in einer fachlich-sachlichen Befassung zu ge- meinsamen Lösungen kämen, um viele Menschen vor den gesundheitlichen Nebenwirkungen dieser alles ande- re als harmlosen Stoffe wirkungsvoll zu schützen . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617180 (A) (C) (B) (D) Martina Stamm-Fibich (SPD): Ich bin froh, dass die Bundesregierung mit dem 1 . Gesetz zur Bekämpfung der Verbreitung neuer psychoaktiver Stoffe ein Verbot für künstliche Drogen auf den Weg bringt . Seit einigen Jahren entwickeln sich Kräutermischun- gen, die sogenannten Legal Highs, zu einer Modedro- ge mit ungeahnten Folgen für Leib und Leben . Neue psychoaktive Substanzen – kurz: NPS – sind schnell zu einem gravierenden Problem geworden . So melden Rettungsdienste und die Polizei eine erhöhte Anzahl an Einsätzen mit Personen, die im Rauschzustand teilwei- se vollkommen orientierungslos umherschwanken, auf dem Boden liegen und schlafen oder teilweise auch im komatösen Zustand ins Krankenhaus gebracht werden müssen . Auch Lehrer und Suchtberatungsstellen schlagen Alarm; denn immer mehr Jugendliche bestellen sich im Internet synthetisch bedampfte Substanzen, die unter harmlosen Namen wie Kräutermischungen, Badesalze oder Lufterfrischer gehandelt werden . Diese Mischun- gen sind aber hochgefährlich; denn keiner weiß genau, was wirklich drin ist . Vielen Jugendlichen ist das nicht bewusst, und sie denken, dass sie harmlose Substanzen konsumieren . Auch in meinem Wahlkreis sind neue psychoaktive Substanzen leider ein sehr reales Problem . Ganz aktuell: Anfang Mai wurden drei Teenager bewusstlos aufgefun- den und ins Krankenhaus gebracht, die Kräutermischun- gen konsumiert hatten . Noch mehr beunruhigt hat mich aber ein Vorfall aus dem vergangenen Jahr . Damals ist ein junger Mann unter Drogeneinfluss in eine Grund- schule gestürmt . Der Konsum von Kräutermischungen hatte bei ihm starke Psychosen ausgelöst . Ein Sprung aus dem Fenster endete für ihn zwar im Krankenhaus, aber Gott sei Dank nicht tödlich . Alleine in Deutschland sind im vergangenen Jahr aber 25 Menschen an Drogen ge- storben . Harmlos ist etwas anderes! Kräutermischungen, Badesalze oder Lufterfrischer klingen wie Produkte aus dem Drogeriemarkt . Aber das sind sie nicht . Es sind Drogen, die wissenschaftlich voll- kommen unerforscht sind . Experimente mit nicht vorher- sehbaren Risiken machen vor allem die Konsumenten; denn sie wissen nicht, was sie zu sich nehmen . Die Zu- sammensetzung der synthetisch veränderten Pflanzen- teile oder Designerdrogen variiert ständig . Was gestern noch „bloß“ einen Rauschzustand verursacht hat, kann heute schlimme Nebenwirkungen hervorrufen . Die syn- thetisch veränderten Drogen sind vielfach stärker als nicht veränderte Wirkstoffe . Die Geschichte des jungen Mannes hätte auch ganz anders ausgehen können; denn die Liste der Nebenwir- kungen ist erschreckend und lang: Panikattacken, Kreis- laufprobleme, extreme Übelkeit, Orientierungsverlust bis hin zum Herzstillstand können die Folgen des Konsums sein . Keiner weiß, was er da zu sich nimmt . Nicht selten landen Konsumenten in der Psychiatrischen Abteilung einer Kinder- und Jugendklinik . Im Flash Eurobarometer, einer Telefonumfrage unter 13 000 jungen Erwachsenen zwischen 15 und 24 Jahren, gaben 2015 8 Prozent der Teilnehmer an, schon einmal neue psychoaktive Substanzen konsumiert zu haben . Meiner Meinung nach sind das 8 Prozent zu viel . Der Konsum von neuen psychoaktiven Substanzen hat sich in den letzten fünf Jahren erschreckend erhöht . Zwischen 2012 und 2014 wurden 255 neue Substanzen entdeckt . Das waren 2014 im Schnitt pro Woche zwei neue Substanzen . Das Problem ist nur: Drogenbehörden und der Gesetzgeber hinken weit hinterher . Kaum ist eine neue Substanz gelistet und damit als illegal gekennzeich- net, verändern die Hersteller die chemische Struktur . Eine neue Substanz ist kreiert, und die wird dann wieder nicht vom Betäubungsmittelgesetz und nicht vom Arz- neimittelgesetz erfasst – so lange, bis sie verboten und eine neue Substanz erschaffen wird . Deshalb ist der nun vorgelegte Gesetzentwurf zur Be- kämpfung der Verbreitung neuer psychoaktiver Stoffe ein wichtiger Schritt; denn erstmals lassen sich ganze Stoffgruppen listen . Mit diesen Stoffgruppen können wir zwei Drittel aller Substanzen erfassen . Eine Stoffgruppe sind zum Beispiel synthetische Cannabinoide . Darunter fallen viele Arten von Kräutermischungen . Eine weitere Stoffgruppe sind Cathinone, im Volksmund Badesalze genannt . Der Gesetzentwurf liest sich zwar wie ein Chemielehr- buch, aber mit diesem Chemielehrbuch decken wir eine ganze Reihe gefährlicher Substanzen ab, und wir been- den damit das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Drogen- herstellern und Drogenbehörden . Aber Stoffgruppen zu listen, macht wenig Sinn, wenn dann keine Konsequenzen folgen . Deshalb wird künftig auch geregelt, wer mit welchen Strafen rechnen muss . Verboten werden generell die Herstellung, das Inver- kehrbringen, der Handel und die Einführung der Drogen . Einzeltäter müssen mit einer Geldstrafe und mit bis zu drei Jahren Haft rechnen . Dealer und Banden müssen mit Haftstrafen von bis zu zehn Jahren rechnen . Der Gesetzentwurf ist ein erster und wichtiger Schritt im Kampf gegen neue psychoaktive Substanzen . Damit ist das Problem aber noch lange nicht gelöst . Ich arbeite in meinem Wahlkreis eng mit der regionalen Drogenhilfe zusammen . Besonders schockiert war ich, als mir eine Website gezeigt wurde, auf der man einfach und unkompliziert sämtliche Arten von Drogen bestel- len kann, und der Postbote bringt das vermeintliche Par- ty-Päckchen dann nach Hause . Noch harmloser können gefährliche Substanzen wie Legal Highs kaum daher- kommen . Hier müssen wir anpacken und die Vertriebs- wege besser überwachen . Ein weiterer wichtiger Schritt ist natürlich die Aufklä- rung . Solange neue psychoaktive Substanzen als harmlos gelten, wird sich wenig an ihrer Verbreitung ändern . Der Europäische Drogenbericht 2015 gibt an, dass immer mehr Drogenkonsumenten auf neue psychoaktive Sub- stanzen umsteigen, weil Kokain und MDMA in immer schlechterer Qualität verkauft werden . Andere wechseln die Droge, weil Legal Highs im Blut nicht so leicht nach- gewiesen werden können . Das müssen wir berücksich- tigen, und wir müssen künftige Kampagnen an diesen Problemen ausrichten . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17181 (A) (C) (B) (D) Ich habe in meinem Wahlkreis eine eigene Aufklä- rungskampagne gestartet . Gemeinsam mit der örtlichen Drogenhilfe mudra und dem größten Tee-Anbieter der Region gehe ich an Schulen und weise auf die Probleme hin . Im Gepäck habe ich die „echte Kräutermischung“, also Kräutertee; denn das ist das Einzige, was ich unter einer Kräutermischung verstehe . Ich möchte die jungen Menschen damit zum Nachdenken anregen . Die Mitar- beiter der Drogenhilfe klären in der Unterrichtsstunde über die Probleme und Gefahren des Drogenkonsums auf . Die Aktion kommt sehr gut an . Lehrer zeigen großes Interesse an der Unterstützung im Kampf gegen die ge- fährlichen Drogen, und Schüler gehen meist nachdenk- lich aus der besonderen Unterrichtsstunde heraus . Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, um den Gefahren der neuen psychoaktiven Substanzen angemes- sen begegnen zu können . Der Gesetzentwurf ist ein erster wichtiger Schritt, aber er wird und kann nicht der letzte sein . Frank Tempel (DIE LINKE): Der am Dienstag vor- gestellte EU-Drogenbericht von 2016 spricht es klar aus: 560 sogenannte neue psychoaktive Substanzen – kurz: NPS – werden EU-weit beobachtet . NPS haben verschie- dene Namen . Sie werden oftmals online als „Forschungs- chemikalien“, „Nahrungsergänzungsmittel“ oder „Legal Highs“ verkauft . Allein im Jahr 2015 kamen 100 Stoffe hinzu . Mittlerweile sind es im Schnitt jede Woche zwei weitere Substanzen . Das ist eine rasante Entwicklung, und es gibt kein An- zeichen für einen rückläufigen Trend. Deswegen ist es richtig, dass auch die Politik über die Verbreitung von psychoaktiven Substanzen debattiert und dann die rich- tigen Schlüsse zieht . Doch was ist ein geeignetes Mittel, um die Verbrei- tung von NPS zu stoppen? Hierfür müssen wir uns im Klaren sein, weshalb Konsumentinnen und Konsumen- ten auf NPS zurückgreifen . Schätzungsweise zwei Drittel der NPS sind syntheti- sche Cannabinoide . Sie sollen in irgendeiner Form den Rausch von Cannabis simulieren . Es sind insbesonde- re Konsumentinnen und Konsumenten von Cannabis, die auf NPS zurückgreifen, um das Verbot von Canna- bisprodukten zu umgehen . Sie fürchten die vielen ver- schiedenen Formen der Repression, mit denen Canna- bis-Konsumierende in diesem Land rechnen müssen: Polizeiermittlungen, Hausdurchsuchungen, Führerschei- nentzug – und das selbst, wenn sie nicht einmal berauscht am Steuer sitzen . Neue psychoaktive Substanzen werden geschaffen, um das Drogenverbot zu umgehen . Dies geschieht schon durch eine minimale Veränderung der chemischen Struk- tur . Für viele Cannabis-Konsumierenden erscheinen NPS daher als Alternative, wenn sie anderenfalls mit Stigma- tisierung oder Verfolgung rechnen müssen – sei es, weil sie schon wegen Besitzes von Cannabis vorbestraft sind, oder sei es, weil sie im Beruf mit Drogenkontrollen rech- nen müssen . Die Folgen sind verheerend: 39 Menschen starben im Jahr 2015 durch den Konsum von neuen psychoaktiven Substanzen . Das ist ein Anstieg um 56 Prozent zum Vor- jahr . Wäre Cannabis mit seinen bekannten Rauschwir- kungen und Gefahren legal und in kontrollierter Qualität erhältlich, würden sich wohl nur wenige Menschen für den erwünschten Rausch unbekannten – ja sogar tödli- chen – Gesundheitsrisiken aussetzen . Diese Drogentoten sind eine direkte Folge der Ver- botspolitik von Cannabis! Das belegen sowohl die Zah- len zur Verbreitung von NPS als auch die Zahlen der Todesfolgen durch NPS: Diese sind in den Regionen Deutschlands besonders hoch, wo die Verbote von Can- nabis besonders streng verfolgt werden . Das ist zum Beispiel im Bundesland Bayern der Fall, dem Herkunfts- land unserer Drogenbeauftragten Marlene Mortler von der CSU . In Bayern droht Cannabis-Konsumierenden selbst bei minimalen Mengen wie 0,1 Gramm schon die Strafverfolgung durch die Staatsanwaltschaft . Andere Bundesländer mit weniger Verfolgungsdruck auf Can- nabis-Konsumierende haben deutlich weniger Fälle von NPS-Konsum und Todesfolgen . Das sollte auch Frau Mortler zu denken geben . Anstatt aber die Verbotspolitik zu beenden, weitet die Bundesregierung ihre fehlgeleitete Politik noch aus, in- dem sie nun schon ganze Stoffgruppen verbieten will . Ich kann Ihnen aber jetzt schon prognostizieren, dass wir in den nächsten Jahren nicht weniger Legal Highs haben werden, sondern noch mehr . Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen der Entwicklung neuer Substanzen und dem Verbot von Substanzen wird in eine neue Runde gehen . Erst wenn Sie diese Spirale durchbrechen, wird auch die Entwicklung immer neuer Substanzen zurückgehen . Die Linke kommt ihrer Verantwortung als Oppositi- onsführerin nach . Dem Stoffgruppenverbot der Bundes- regierung setzen wir unseren Antrag entgegen . Unab- hängige Expertinnen und Experten sollen demnach das Betäubungsmittelrecht auf seine Geeignetheit überprü- fen, um das Ziel der öffentlichen Gesundheit zu fördern . Hierzu brauchen wir die gesamte Bandbreite an Fach- kenntnissen aus Rechtswissenschaft, Suchthilfe, Sozial- arbeit, Konsumierendenverbänden, Medizin, Kriminolo- gie, Public Health, Erziehungswissenschaft und Polizei . Daneben setzt sich die Linke für einen begrenzten und streng regulierten Zugang zu Cannabis für Volljährige ein, damit Cannabis-Konsumierende nicht mehr auf ge- fährliche neue psychoaktive Substanzen zurückgreifen . Die Verbreitung von NPS gibt der Politik aber noch ei- nige weitere Hausaufgaben auf: Wir müssen endlich auch bei anderen Rauschmitteln Optionen für regulierte und nichtkommerzielle Abgabemodelle prüfen und erproben . Dabei müssen wir stets das Ziel im Auge behalten, den organisierten illegalen Drogenhandel auszutrocknen, die Gesundheitsschäden durch Drogenkonsum so weit wie möglich zu minimieren und die Erreichbarkeit von Präventions-, Therapie- und Hilfeangeboten für Konsu- mierende zu verbessern . Erst durch ein solches Gesamt- konzept kann die Politik der Verbreitung von neuen psy- choaktiven Substanzen begegnen . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617182 (A) (C) (B) (D) Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das leitende Motto der Bundesregierung bei der Erarbei- tung des Gesetzentwurfs zur Bekämpfung der Verbrei- tung neuer psychoaktiver Stoffe war anscheinend „Au- ßergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen“ . Denn die von Ihnen vorgeschlagenen Lö- sungen zur Reduzierung des Konsums und der Verbrei- tung neuer psychoaktiver Substanzen sind die Krönung der gescheiterten Verbotspolitik . Was Ihnen offensichtlich immer noch nicht bewusst ist: Das Bedürfnis nach Rausch besteht unabhängig vom Angebot . Dieses Bedürfnis wird von unterschiedlichen Menschen in unterschiedlicher Weise befriedigt . Das Verbot und Strafverfolgung sind hier die falschen An- sätze . Eine drogenfreie Welt ist eine Illusion und nicht durchsetzbar . Anstatt die Auswirkungen des Betäubungsmittelge- setzes zu evaluieren, schaffen Sie neue Verbote . Diese Verbote tragen jedoch nicht dazu bei, dass die Schäden durch Drogenkonsum reduziert werden – im Gegenteil . Das jetzige Betäubungsmittelrecht ist einer der Gründe dafür, warum Substanzen wie neue psychoaktive Stoffe, umgangssprachlich oft als Legal Highs bezeichnet, über- haupt auf dem Markt sind: Es ist nicht immer der Kick und die Suche nach neuen Erfahrungen, die Konsumen- tinnen und Konsumenten zu diesen Mitteln greifen lässt . Vielmehr handelt es sich oft um ein Ausweichverhalten, das zum Beispiel durch das Cannabisverbot hervorgeru- fen wird . Konsumentinnen und Konsumenten versuchen, auf legale Alternativen auszuweichen . In mehreren Be- fragungen von Konsumentinnen und Konsumenten gab die Mehrheit der Befragten an, neue psychoaktive Sub- stanzen zu konsumieren, weil sie legal sind . Auch andere Konsumgründe stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Cannabisverbot, beispielsweise die Nichtnach- weisbarkeit von Legal Highs in Drogentests . Aber auch die Angst vor Verlust des Führerscheins oder ein Zu- rückscheuen vor der Beschaffung von Cannabis in der Drogenszene sind Gründe für das Ausweichen auf Legal Highs . In einer Studie des Kings College London geben zudem 93 Prozent der Legal-High-Konsumenten an, dass sie natürliches Cannabis aufgrund der geringeren Neben- wirkungen eigentlich bevorzugen . Das Stoffgruppenverbot wird weder die Verbreitung von Legal Highs verhindern noch den gesundheitlichen Schutz von Konsumenten stärken . Stattdessen servieren Sie der organisierten Kriminalität den Markt für Legal Highs auf dem Silbertablett . Das von Ihnen vorgeschlagene Stoffgruppenverbot wird das Katz-und-Maus-Spiel von Anbietern und Ge- setzgeber noch verschärfen . Angebot und Konsum neuer psychoaktiver Substanzen werden durch das Verbot nicht verhindert . Auf dem illegalen Drogenmarkt geht es um knallharte wirtschaftliche Interessen, die mit allen erfin- derischen Mitteln verfolgt werden . Bestes und wahrscheinlich bekanntestes Beispiel: die Räuchermischung Spice . Nach der Bestimmung des Wirkstoffes in Spice wurden die darin enthaltenen synthe- tischen Cannabinoide unter das Betäubungsmittelgesetz gestellt . Damit wurde zwar der Verkauf der Räuchermi- schung Spice illegal . Kurz darauf wurden auf dem Markt jedoch Nachfolgeprodukte angeboten, die eine ähnliche Wirkung und Risiken für die Gesundheit der Konsumen- tinnen und Konsumenten hatten . Die Nachfolgeprodukte enthielten andere synthetische Cannabinoide, von denen in den folgenden Jahren ebenfalls zahlreiche dem Betäu- bungsmittelgesetz unterstellt wurden . Auf Verbot folgte Verbot, doch der Markt schuf immer wieder neue legale Substanzen . Um die Dimensionen des Erfindergeistes der Drogen- industrie zu verdeutlichen: Allein im Jahr 2014 wurden von der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht 101 neue psychoaktive Substanzen ge- zählt . Seit 2005 wurden insgesamt 400 neue Stoffe ent- deckt . Das zeigt: Die Hersteller bestimmen den Markt und sind dem Gesetzgeber immer einen Schritt voraus . Das Stoffgruppenverbot wird diese Entwicklung nicht verhindern . Nur weil ganze Stoffgruppen verboten wer- den sollen, werden die Drogenköche ihrer Kreativität nicht weniger Lauf lassen . Es werden weiterhin neue Substanzen auftauchen, die von dem Stoffgruppenver- bot nicht erfasst sind und mitunter gefährlicher sind als „klassische“ Substanzen . Und das geben Sie sogar selbst zu . Denn Ihr Vorschlag sieht vor, dass das Gesundheits- ministerium bei Bedarf weitere Stoffe oder Stoffgruppen verbieten darf . Da beißt sich doch die Katze selbst in den Schwanz . Darüber hinaus: Jugend- und Verbraucherschutz so- wie glaubhafte Drogen- und Suchtprävention werden in diesem Rennen gnadenlos abgehängt . Und damit möchte ich an das von Ihnen angestrebte Ziel des Gesetzentwur- fes appellieren: den Schutz der Gesundheit der Bevölke- rung und des Einzelnen . Hier scheitert Ihr Entwurf auf ganzer Linie: Erstens wird das Verbot der neuen psychoaktiven Stoffe nicht vom Konsum abhalten . Ihr Grundverständ- nis, dass das Verbot und die mögliche Konsequenz der Strafverfolgung signifikant vom Konsum abhalten, hat sich, insbesondere bei Jugendlichen, nicht erwiesen . Ihre autoritäre Masche ist veraltet und zieht schon lange nicht mehr . Zweitens ersetzen Sie die konkrete Gefahr für die Ge- sundheit durch neue psychoaktive Stoffe argumentativ durch die reine Missbrauchsabsicht, das heißt den Kon- sum zu Rauschzwecken . Dies ist deshalb bedenklich, weil damit der Unrechtsgehalt der Vorschrift allein auf die Missbilligung des Sich-Berauschens reduziert wird . Eine solche rein moralische Missbilligung einer be- stimmten Absicht – ohne konkret dahinterstehende Ge- fahr – ist nicht zu rechtfertigen . Zudem entsteht dadurch eine klare Ungleichbehandlung mit anderen legalen Sub- stanzen wie Alkohol oder Medikamenten, die ebenfalls zu Rauschzwecken konsumiert werden und bei denen die gesundheitliche Gefahr eindeutig nachgewiesen ist . Die- se Grundlage, die wissenschaftliche Bewertung des Ri- sikos einer Substanz, fehlt dem Gesetzentwurf gänzlich . Die Legalität eines Stoffes hat zukünftig nichts mehr mit der Gesundheit der Gesellschaft oder des Einzelnen zu tun, sondern gründet nur darauf, ob ein Stoff auf einer Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17183 (A) (C) (B) (D) Liste steht oder eben nicht und damit verboten ist oder erlaubt . Drittens werden durch den Schwarzmarkt die gesund- heitlichen Risiken – beispielsweise durch Beimischun- gen oder Wirkstoffschwankungen – bedeutend größer im Vergleich zu einer Regulierung einer Substanz . Ver- hältnispräventive Maßnahmen wie Jugendschutz und be- grenzte Abgabezeiten und -orte, aber auch verpflichtende Information und Beratung am Abgabeort gibt es auf dem Schwarzmarkt nicht . Eine Regulierung von Substanzen mit Abhängigkeitspotenzial muss sich an ihrer Gefähr- lichkeit orientieren . Das gilt für neue psychoaktive Stoffe genauso wie für Alkohol, Cannabis oder Medikamente . Viertens werden die neuen psychoaktiven Stoffe wei- terhin über den Online-Verkauf aus dem Ausland auf dem deutschen Markt bereitgestellt werden können . Und gerade der Internethandel mit unkomplizierten Kaufab- wicklungen floriert. Hier werden der Zoll und die Straf- verfolgungsbehörden, auch wenn eine Substanz illegal ist, maximal einen Bruchteil der eingeführten Substanzen abschöpfen können, die Produzenten und Verkäufer im Ausland jedoch nicht an ihrem Handel hindern können . Fünftens fehlen in dem Gesetzentwurf Maßnahmen zur Suchtprävention . Der illegale Status der Substanzen erschwert grundsätzlich eine wirksame Prävention . Dro- gen- und Suchtprävention sind auch immer eine Frage der Glaubwürdigkeit . Insbesondere staatlich geförderte Suchtberatungsstellen werden an Glaubwürdigkeit ver- lieren, denn Jugendliche werden aufgrund des Verbots diese staatlichen oder staatlich geförderten Beratungs- stellen als voreingenommen einstufen . Zugleich werden durch das Verbot Möglichkeiten zur Schadensminderung wie beispielsweise das Drug Checking abgewendet . Da- bei ist gerade Drug Checking eine wichtige Maßnah- me der Schadensminderung, die Konsumentinnen und Konsumenten die Möglichkeit gibt, die Substanzen auf Wirkstoffgehalt und Reinheit zu überprüfen . Dies kann Konsumentinnen und Konsumenten auch dazu bewegen, sich gegen den Konsum zu entscheiden . Nicht nur, dass die Verteufelung von Drogen, in die- sem Fall von neuen psychoaktiven Substanzen, dazu führt, dass keine sachlichen, objektiven Informationen über Konsum- und Suchtrisiken für Verbraucherinnen und Verbraucher zur Verfügung gestellt werden, die auch eine Entscheidung gegen den Konsum fördern könnten . Das Erlernen eines verantwortungsvollen Umgangs mit Drogen wird für Konsumentinnen und Konsumenten damit gleichermaßen erschwert wie der barrierefreie Zu- gang zu Hilfs- und Unterstützungsangeboten . Das Verbot ist schlichtweg Antiaufklärung und Antiprävention . Neue psychoaktive Stoffe sind im Gegensatz zu tradi- tionellen Drogen in Deutschland eher gering verbreitet . Die Gesundheitsrisiken entstehen insbesondere aus der unbekannten Zusammensetzung der Produkte, variieren- den Wirkstoffkonzentrationen und Ungewissheit über die Dosierung sowie der Neuartigkeit der Stoffe, über die keine bis geringe Erforschung der konkreten Risiken . Daher kann der Konsum neuer psychoaktiver Stoffe mit hohen Risiken einhergehen . Das Anpreisen von neuen psychoaktiven Substanzen als scheinbar harmlose Ba- desalze, Dufterfrischer oder Kräutermischungen täuscht Konsumentinnen und Konsumenten die Ungefährlich- keit der Substanzen vor . Das muss sich ändern und kann nur in einem regulierten Markt mit strengen Vorschriften für Jugend- und Verbraucherschutz sowie Suchtpräventi- on stattfinden. Das Verbot und das Strafrecht sind jedoch der falsche Ansatz und tragen nicht dazu bei, dass die Schäden durch riskanten Drogenkonsum reduziert werden . Der von mir eingangs geschilderte Prozess, dass Konsumentinnen und Konsumenten auf neue psychoaktive Substanzen auswei- chen, weil sie leichter zu beschaffen sind, wird von der Bundesregierung ignoriert . Sie halten stur an dem Ver- bot fest . Doch wird auch in diesem Fall das Stoffgrup- penverbot die Situation nicht im Geringsten verbessern . Stattdessen werden durch das Verbot die potenzielle gesundheitliche Schädigung von Konsumentinnen und Konsumenten in Kauf genommen, die Stigmatisierung von Konsumentinnen und Konsumenten vorangetrieben . Die organisierte Kriminalität gewinnt an Einfluss und verkauft Drogen auch an Jugendliche, das heißt diejeni- gen, die wir am meisten schützen müssen . Neue psychoaktive Substanzen sind als Nebenprodukt der gescheiterten Verbotspolitik anzusehen . Deshalb ist es umso unverständlicher, wie man immer noch an dem gescheiterten Cannabisverbot festhalten kann, anstatt einen staatlich regulierten Cannabismarkt zu etablieren, der endlich Jugend- und Verbraucherschutz ermöglich würde, Konsumentinnen und Konsumenten nicht länger kriminalisiert und stigmatisiert, sowie eine legale Mög- lichkeit des Erwerbs von Cannabis mit geprüften Inhalts- und Wirkstoffen zu ermöglichen . Konsumentinnen und Konsumenten, die derzeit auf neue psychoaktive Sub- stanzen aufgrund des Cannabisverbots ausweichen, wür- den dieses Angebot nutzen . Das von Ihnen vorgeschlagene Stoffgruppenverbot unterstreicht noch einmal die naive Weltvorstellung der Bundesregierung, dass eine drogenfreie Welt mit Verbo- ten durchzusetzen sei . Ingrid Fischbach, Parl. Staatssekretärin beim Bun- desminister für Gesundheit: Die Bundesregierung will mit einem weitreichenden Verbot neuer psychoaktiver Stoffe – kurz: NPS – den Wettlauf zwischen dem Auftre- ten immer neuer chemischer Varianten bekannter Stoffe und daran angepassten Verbotsregelungen im Betäu- bungsmittelrecht durchbrechen . Deshalb hat die Bundes- regierung den Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Verbreitung neuer psychoaktiver Stoffe in den Bun- destag eingebracht . Was sind NPS? NPS sind meist synthetische Substan- zen, die gelegentlich auch als „Designerdrogen“, „Re- search Chemicals“ oder auch „Legal Highs“ bezeichnet werden . In den letzten Jahren ist eine ständig zunehmen- de Anzahl derartiger Stoffe aufgetaucht . In der Regel ist bei NPS die chemische Struktur von Stoffen, die bereits unter das Betäubungsmittelgesetz fallen, gezielt so ver- ändert worden, dass der neue Stoff nicht mehr den Ver- bots- und Strafvorschriften des BtMG unterliegt . Die für Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617184 (A) (C) (B) (D) Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de Missbrauchszwecke geeignete Wirkung auf die Psyche bleibt jedoch erhalten oder verstärkt sich sogar . Wöchentlich bringen die Akteure des Drogenmarktes einen neuen dieser Stoffe in Umlauf . Die entsprechenden betäubungsmittelrechtlichen Verbotsverfahren benötigen längere Zeit . Aus diesen Gründen ist es schwierig gewor- den, die sogenannten Legal Highs zeitnah dem BtMG zu unterstellen . Durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs im Jahr 2014 lassen sich NPS auch nicht länger als Arz- neimittel im Sinne des Arzneimittelgesetzes einordnen . Dadurch ist eine Regelungslücke bei diesen Stoffen ent- standen . Das fehlende Verbot kann gerade bei jungen Konsumenten den falschen Eindruck erwecken, die häu- fig professionell aufgemachten und gezielt junge Men- schen ansprechenden Produkte seien harmlos . Tatsächlich hat der NPS-Konsum mitunter schwere Folgen . Die Symptome reichen von Übelkeit, heftigem Erbrechen, Herzrasen und Orientierungsverlust über Kreislaufversagen, Ohnmacht, Lähmungserscheinungen und Wahnvorstellungen bis hin zum Versagen der Vital- funktionen . Es sind sogar Todesfälle bekannt, bei denen der Konsum von NPS nachgewiesen wurde . Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfs für ein eigen- ständiges Neue-Psychoaktive-Stoffe-Gesetz – NPSG – ist es, die Gesundheit der Bevölkerung und jeden Einzelnen, insbesondere die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, vor den häufig unkalkulierbaren und schwerwiegenden Gefahren, die mit dem Konsum von NPS verbunden sind, zu schützen . Die Verbreitung dieser Stoffe soll bekämpft, und ihre Verfügbarkeit soll eingeschränkt werden . Konkret sieht der Entwurf ein großflächiges Erwerbs-, Besitz- und Handelsverbot vor . Zudem soll die Weiter- gabe von NPS unter Strafe gestellt werden . Erstmals bezieht sich das Verbot auf ganze Stoffgruppen, um der Verbreitung immer neuer Varianten bekannter Betäu- bungsmittel und psychoaktiver Stoffe entgegenzuwirken . Es wird nicht mehr wie bisher möglich sein, durch kleine chemische Veränderungen Verbote zu umgehen und ge- fährliche Stoffe auf den Markt zu bringen . Damit wird den von NPS insbesondere für Jugendliche und junge Er- wachsene ausgehenden erheblichen Gesundheitsgefah- ren vorausschauend und effektiver begegnet . Mit der Regelung ganzer Stoffgruppen wird der ein- zelstoffliche Ansatz des Betäubungsmittelgesetzes er- gänzt . Erfasst sind Phenethylamine, Cathinone – das sind mit Amphetamin verwandte Stoffe – und synthetische Cannabinoide. Diese Verbindungen treten am häufigsten auf . Mit dem NPSG geben wir ein klares Signal an poten- zielle Händler und Konsumenten: Die sogenannten Legal Highs sind verbotene und hochgradig gesundheitsgefähr- dende Stoffe . 173. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 3 Regulierung des Prostitutionsgewerbes TOP 4 Gesetz zur Bekämpfung des Menschenhandels TOP 5 Gedenken an den Völkermord an den Armeniern TOP 6 Riester-Rente und gesetzliche Rentenversicherung TOP 31, ZP 2 Überweisungen im vereinfachten Verfahren TOP 32, ZP 3 Abschließende Beratungen ohne Aussprache TOP 7 Änderung des Telemediengesetzes TOP 8 Erweiterung des Arbeitslosenversicherungsschutzes TOP 13 Milchkrise TOP 10 Sicherung des Fachkräftepotenzials TOP 11 Sowjetische Kriegsgefangene als NS-Opfer TOP 12 Bundeswehreinsatz in Kosovo (KFOR) TOP 9 Rechtslage bei Samenspende TOP 14 Bundeswehreinsatz in Libanon (UNIFIL) TOP 15 Essensversorgung in Kitas und Schulen TOP 16 Änderung des Agrarmarktstrukturgesetzes TOP 17 Transparenz bei der Ministererlaubnis TOP 18 Dopingopfer-Hilfegesetz TOP 19 Verbraucherrechte bei Anlagepleiten TOP 20 Änderung bewachungsrechtlicher Vorschriften TOP 21 Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Dienst TOP 22 Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch TOP 23 Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küstenschutz TOP 24 Änderung des Direktzahlungen-Durchführungsgesetzes TOP 25 Bekämpfung der Verbreitung neuer psychoaktiver Stoffe Anlagen Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6 Anlage 7 Anlage 8 Anlage 9 Anlage 10 Anlage 11
Gesamtes Protokol
Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817300000

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Neh-

men Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet .

Vor Eintritt in die Tagesordnung gratuliere ich nach-
träglich dem Kollegen Dr. Egon Jüttner zu seinem
74 . Geburtstag, dem Kollegen Karl Schiewerling zu
seinem 65 . Geburtstag sowie dem Kollegen Bernhard
Daldrup, der gestern seinen 60 . Geburtstag gefeiert hat .


(Beifall)


Ihnen gelten alle guten Wünsche des gesamten Hauses .

Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesord-
nung um die in der Zusatzpunkteliste aufgeführten Punk-
te zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Haltung der Bundesregierung zur Zukunft
der erneuerbaren Energien in Deutschland
und Europa

(siehe 172 . Sitzung)


ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-
fahren

(Ergänzung zu TOP 31)

Beratung des Antrags der Abgeordneten Lisa
Paus, Christian Kühn (Tübingen), Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Spekulation mit Immobilien und Land been-
den – Keine Steuerbegünstigung für Übernah-
men durch Share Deals
Drucksache 18/8617
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-
heit

ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache

(Ergänzung zu TOP 32)


a) Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zu dem Abkommen vom 29. Juni 2015
zwischen der Regierung der Bundesrepublik
Deutschland und der Regierung der Republik
Kosovo über die justizielle Zusammenarbeit
in Strafsachen

Drucksache 18/8211

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(6 . Ausschuss)


Drucksache 18/8642

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (19 . Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz,
Dr . Frithjof Schmidt, Claudia Roth (Augsburg),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
tes über die Unterzeichnung und die vorläufi-
ge Anwendung des Wirtschaftspartnerschafts-
abkommens zwischen der Europäischen
Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits
und den SADC-WPA-Staaten andererseits
KOM(2016) 8 endg.; Ratsdok. 5608/16

und

zu dem Vorschlag für einen Beschluss des
Rates über die Unterzeichnung und die
vorläufige Anwendung des Wirtschafts-
partnerschaftsabkommens zwischen den
Partnerstaaten der Ostafrikanischen Ge-
meinschaft einerseits und der Europäischen
Union und ihren Mitgliedstaaten andererseits
KOM(2016) 63 endg.; Ratsdok. 6126/16

hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes






(A) (C)



(B) (D)


Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit der
Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afri-
ka und der ostafrikanischen Gemeinschaft ab-
lehnen

Drucksachen 18/8243, 18/8643

ZP 4 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines In-
tegrationsgesetzes

Drucksache 18/8615
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden .

Die Tagesordnungspunkte 9 und 13 tauschen ihre Plät-
ze und die vorgesehenen Redezeiten .

Der Tagesordnungspunkt 26 – Berufsbildungsbericht
2016 – soll abgesetzt und stattdessen der Entwurf eines
Integrationsgesetzes auf der Drucksache 18/8615 aufge-
rufen werden .

Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlos-
sen .

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regu-
lierung des Prostitutionsgewerbes sowie zum
Schutz von in der Prostitution tätigen Perso-
nen

Drucksache 18/8556
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe

b) Unterrichtung durch die Bundesregierung

Bericht der Bundesregierung zu den Auswir-
kungen des Gesetzes zur Regelung der Rechts-

(Prostitutionsgesetz – ProstG)


Drucksache 16/4146
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .

Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat die Bundes-
ministerin Manuela Schwesig .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend:

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren Abgeordnete! Der Bundesjustizminister und
ich legen Ihnen am heutigen Tage zwei Gesetzentwürfe
vor, mit denen wir dafür sorgen wollen, dass Schluss mit
Zwangsprostitution, Schluss mit Menschenhandel und
Gewalt in der Prostitution ist . Das sogenannte Prostitu-
iertenschutzgesetz soll dazu beitragen, dass die Frauen
und Männer, die in der Prostitution arbeiten, zukünftig
besser geschützt werden, und Sie werden den Parlamen-
tarischen Staatssekretär in der Debatte zum nächsten Ta-
gesordnungspunkt zum Thema Zwangsprostitution und
Menschenhandel hören .

Zugegebenermaßen haben wir es hier mit einem sehr
komplexen und schwierigen Thema zu tun . Warum? Vie-
le Frauen und auch Männer in der Prostitution befinden
sich in ganz unterschiedlichen Lebenslagen . Ich selbst
habe zum Beispiel mit Prostituierten gesprochen, die
ganz Verschiedenes erlebt haben .

Da waren die zwei jungen Frauen, die mir ganz selbst-
bewusst gesagt haben: Frau Schwesig, wir machen die-
sen Beruf gerne, wir machen ihn freiwillig . Wir haben in
unserem Bereich gute Arbeitsbedingungen . Wir möchten
auch, dass wir akzeptiert und respektiert werden . – Ich
konnte das diesen Frauen abnehmen . Das war glaubwür-
dig, das war verbindlich .

Aber im gleichen Gespräch hat mich eine junge Ost-
europäerin angesprochen und gesagt: Ich habe anderes
erlebt . Ich habe keine Freiwilligkeit erlebt . Ich habe auch
keine guten Arbeitsbedingungen erlebt . Ich habe Aus-
beutung und Gewalt erlebt . Ich war wie versteckt . Mich
hat niemand gesehen; ich musste ja nirgendwo hin, auch
zu keiner Beratung . Ich war sozusagen versteckt, und der
Zuhälter konnte machen, was er wollte .

Eine andere Prostituierte hat mir berichtet, dass sie
frühzeitig – schon als junges Mädchen, schon als Min-
derjährige – zur Prostitution getrieben wurde .

Sie sehen an diesen drei Beispielen, dass wir es mit
ganz unterschiedlichen Lebenslagen zu tun haben . Des-
halb möchte ich dafür werben, auch an dieses Gesetz
entsprechend heranzugehen . Wir müssen versuchen, den
verschiedenen Herausforderungen gerecht zu werden,
und dafür sorgen, dass die Frauen und Männer, die in der
Prostitution sind, gute Bedingungen haben . Gleichzeitig
müssen wir aber dafür sorgen, dass niemand Frauen und
Männer, Mädchen und Jungen in unserem Land benutzen
und zur Prostitution zwingen kann .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Zur Wahrheit gehört, dass in Deutschland viele Prosti-
tuierte unter menschenverachtenden Bedingungen arbei-
ten . Damit muss Schluss sein . Es wird künftig einfacher,
Menschenhändler zu verurteilen, und es kann besser ge-

Vizepräsidentin Petra Pau






(A) (C)



(B) (D)


gen Zwangsprostitution vorgegangen werden . Wir wol-
len aber auch dafür sorgen, dass Bordelle zukünftig klare
Regeln bekommen . Viele Frauen sind nicht in der Positi-
on, selbst bessere Bedingungen durchsetzen zu können .
Viele Frauen sind in der Macht von Bordellbesitzern und
ihnen schutzlos ausgeliefert, oft auch der Gewalt . Nie-
mand kontrolliert, unter welchen Bedingungen Bordelle
arbeiten . Es ist in Deutschland schwieriger, eine Pom-
mesbude zu eröffnen als ein Bordell . Damit muss Schluss
sein . Wir brauchen für Bordelle klare Regeln .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir wollen Frauen und Männer davor schützen, zur
Prostitution gezwungen zu werden . Wir wollen die Frau-
en und Männer, die freiwillig in der Prostitution arbeiten,
besser schützen: vor Gefährdungen ihrer Gesundheit und
ihrer sexuellen Selbstbestimmung, vor Ausbeutung und
vor Gewalt . Deshalb geben wir den Prostituierten klare
Rechte an die Hand und unterstützen sie bei der Wahrneh-
mung ihrer Rechte . Nur wer seine Rechte kennt, nur wer
Beratungsangebote bekommt und sie auch in Anspruch
nimmt, der ist wirklich geschützt . Deshalb ist es richtig,
dass wir zukünftig eine Anmeldepflicht vorsehen und
diese mit einer Beratungspflicht verbinden, um genau der
jungen Prostituierten, die bisher gar nicht rauskam, die
gar nicht sichtbar war, die Chance zu geben, gute Hilfe
zu bekommen . Das ist keine Gängelung, sondern Schutz
und Unterstützung für diese Prostituierten .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Die Einsicht kommt spät, aber sie kommt!)


Ein Punkt, der mir sehr wichtig ist: Wir werden den
Prostitutionsstätten, also den Bordellen, zukünftig Aufla-
gen erteilen . Bis jetzt ist es so, dass es kaum Regeln gibt .
Jeder kann so einen Betrieb anmelden; überprüft wird so
gut wie nichts . Damit muss Schluss sein . Zukünftig wird
das Gewerbe erlaubnispflichtig, und wir werden dafür
sorgen, dass geschaut wird: Wie sehen die Verträge mit
den Prostituierten aus? Wie gewährleistet der Betreiber,
dass dort keine Minderjährigen beschäftigt werden? –
Wenn die zuständige Behörde den Eindruck hat, dass et-
was nicht mit rechten Dingen zugeht, dann muss sie auch
handeln können .

Wir werden außerdem menschenunwürdige Betriebs-
konzepte verbieten, zum Beispiel die Flatrate-Bordelle .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Es kann nicht sein, dass eine Frau eine ganze Nacht zu
allem verkauft wird . Die Frau muss die Möglichkeit ha-
ben, selbst zu sagen, was sie kann und was sie will . Es
geht nicht, dass im wahrsten Sinne des Wortes auf dem
Rücken der Frauen Ausbeutung herrscht .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Zu der strengeren Regulierung dieses Gewerbes ge-
hören zukünftig auch bessere Arbeitsbedingungen für
Prostituierte . Das ist unser Ziel: Wir wollen Schutzstan-
dards, insbesondere räumliche, hygienische und sicher-

heitstechnische Mindestanforderungen . Ein konkretes
Beispiel ist, dass das Arbeitszimmer mit einem Notrufs-
ystem ausgestattet sein muss, damit die Frauen in Notsi-
tuationen auch wirklich Hilfe rufen können . Wir sorgen
auch dafür, dass Prostituierte besser beraten werden, und
wir legen hohe Anforderungen an diejenigen, die Bordel-
le betreiben, an .

Es gibt zukünftig klare Rechte und viel mehr Hand-
lungssicherheit für die Prostituierten . Deshalb bin ich
zuversichtlich, dass es uns einerseits mit dem Prostitu-
iertenschutzgesetz und andererseits mit dem Gesetz von
Herrn Maas zur Bekämpfung von Menschenhandel ge-
lingt, dafür zu sorgen, dass die legale Prostitution unter
fairen Bedingungen abläuft und dass wir zukünftig gegen
Zwangsprostitution, Ausbeutung und Gewalt besser vor-
gehen können .

Ich hätte mir gewünscht, dass diese Themen schon
in den vergangenen Legislaturperioden intensiver ange-
gangen worden wären . Wir haben hier seit vielen Jahren
Zustände, die unhaltbar sind . Ich habe selber erlebt, wie
schwierig es angesichts der verschiedenen Gemengela-
gen ist, die unterschiedlichen Positionen von „Lasst doch
alles so, wie es ist“ über „Freiwilligkeit über alles“ bis
hin zu „Verbietet Prostitution am besten ganz“ in einem
Gesetz zusammenzubekommen, das den Frauen und
Männern vor Ort wirklich gerecht wird .

Ich bedanke mich herzlich bei der Regierungskoaliti-
on . Wir haben intensiv beraten, auch gestritten . Ich bin
aber davon überzeugt, dass wir jetzt gute Regeln vorlie-
gen haben .

Ich freue mich auf die Beratung und wünsche mir,
dass wir nach vielen Jahren Stillstand dieses Gesetz jetzt
durchziehen, um endlich etwas gegen Ausbeutung in der
Prostitution und für einen besseren Schutz derjenigen,
die ihr freiwillig nachgehen, zu tun .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817300100

Das Wort hat die Kollegin Cornelia Möhring für die

Fraktion Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Cornelia Möhring (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817300200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Ministerin Schwesig, heute ist der Internationale
Hurentag, der Tag, an dem seit über 40 Jahren Sexarbei-
terinnen weltweit für ihre Selbstbestimmungsrechte und
für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen kämpfen .
Dass Sie ausgerechnet an diesem Tag Ihr Gesetz auf den
Weg bringen, mit dem Sie das Leben der meisten Sexar-
beiterinnen erschweren werden,


(Widerspruch des Abg . Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU])


ist ignorant, eine Provokation oder beides .


(Beifall bei der LINKEN)


Ihr Gesetz nennen Sie zwar Prostituiertenschutzge-
setz . Aber die Schutzmaßnahmen, die Frau Schwesig

Bundesministerin Manuela Schwesig






(A) (C)



(B) (D)


hier eben beschrieben hat, finden sich zumindest in ih-
rer Schutzwirkung darin überhaupt nicht . Sie werden mit
diesem Gesetz die Arbeit im Verborgenen fördern – ohne
Rechte und ohne Schutz .

Sexarbeiterinnen sollen sich mit Inkrafttreten des Ge-
setzes individuell und persönlich mit Familiennamen und
Adresse registrieren lassen . Sie bekommen dann eine
Anmeldebestätigung, so eine Art Hurenausweis . Diesen
müssen sie mit sich führen und bei Kontrollen vorlegen .
Die Anmeldung ist nicht etwa einmalig, und man meldet
sich wieder ab, wenn man mit dem Beruf aufhört – nein,
sie muss alle zwei Jahre erfolgen . „Was soll das?“, frage
ich Sie . Sie schützen damit nicht, Sie verbessern damit
nicht die Lebenssituation der Prostituierten, Sie stärken
damit nicht das sexuelle Selbstbestimmungsrecht, Sie
verbessern damit nicht die Überwachung des Prostitu-
tionsgewerbes, Sie bekämpfen damit nicht Kriminalität
oder Zuhälterei . Nichts davon tun Sie . Ihre angeblichen
Ziele sind alles Luftnummern .

Warum also? Die Registrierung ist ein Mittel der Ver-
drängung und Verhinderung statt des Schutzes, weil sich
eben viele Frauen gar nicht anmelden werden, weil sie
sich nicht anmelden können – aus verständlichen Grün-
den . Das gesellschaftliche Stigma ist noch viel zu groß .
Was passiert denn, wenn eine Prostituierte sich bei der
zuständigen Behörde in einer Kommune, in der man
sich kennt, registrieren lassen muss? Soll sie dort sagen:
„Schönen guten Tag! Ich will als Prostituierte arbeiten .
Aber wenn Sie mich beim Elternabend oder beim Ein-
kaufen treffen, dann schauen Sie mich bitte nicht ko-
misch von der Seite an“? Dieser Berufsstand ist nun
einmal noch in der Schmuddelecke . Wenn Sie wirklich
helfen und schützen wollen, dann müssen Sie genau ge-
gen dieses Stigma wirken . Das tun Sie aber nicht .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt viele Gründe, warum Frauen in der Prostitu-
tion ein Zwangsouting befürchten oder die behördliche
Registrierung nicht riskieren wollen . Ihre Familie, ihr
soziales Umfeld weiß vielleicht nichts und soll es auch
nicht wissen . Der Beruf wird vielleicht nur gelegentlich
ausgeübt . Ein Outing gefährdet den Teilzeitjob oder das
Sorgerecht im anstehenden Verfahren . Wie auch immer:
Es gibt viele Gründe .

Ein nicht unerheblicher Teil dieser Personen wird
weiterhin sexuelle Dienstleistungen anbieten . Sie tun es
dann bei Nichterfüllung der Anmeldepflicht aber eben
illegal und unter Bußgeldandrohung . Ihr Gesetzentwurf
bringt keinen Schutz . Dieses Gesetz fördert die Verdrän-
gung ins Verborgene . Es ist ein Gesetz der Kontrolle .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie werden die Stigmatisierung verschärfen, anstatt sie
zu mindern .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist doch völlig
absurd, zu glauben, dass sich ein in die Illegalität getrie-
benes Gewerbe besser überwachen ließe oder die Pros-
tituierte, die dann illegal tätig ist, behördlichen oder po-
lizeilichen Schutz in Anspruch nehmen würde . An wen
soll sich die Prostituierte denn wenden, wenn sie tatsäch-

lich Gewalt erfährt oder wenn sie wegen einer fehlenden
Anmeldung oder der Tätigkeit und der Angst vor dem
Outing erpresst wird? Sie wird eben nicht zur Polizei ge-
hen .

Sie haben eben die Anmeldepflicht auch damit begrün-
det, dass so eine Aufklärung über die Rechte von Prosti-
tuierten erfolgen kann oder Prostituierte sagen könnten,
sie bräuchten noch eine Beratung . Das ist eine schlech-
te Begründung . Information und Beratung können doch
viel besser freiwillig in Beratungsstellen erfolgen .


(Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: Natürlich!)


Wenn es Ihnen um Unterstützung und Beratung geht,
Herr Weinberg, dann nehmen Sie doch als Bund endlich
einmal Geld in die Hand und bauen das Hilfesystem aus .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Der zweite Teil des Gesetzentwurfs, den Frau
Schwesig hier vorgestellt hat – da geht es um die Regulie-
rung von Prostitutionsstätten –, legt Mindestanforderun-
gen für gute Arbeitsbedingungen fest . Das ist im Prinzip
zu begrüßen . Aber auch hier schießt die Große Koalition
gnadenlos am Ziel vorbei . Die Mindestanforderungen,
die Sie festlegen wollen, können von Großbordellen er-
füllt werden, aber nicht von kleinen Wohnungsbordel-
len . Getrennte Sanitärbereiche für Sexarbeiterinnen und
Sexarbeiter sowie Kunden und Kundinnen – auch Kun-
dinnen gibt es manchmal –, technische Notrufsysteme,
getrennte Schlaf- und Arbeitszimmer: Das ist für kleine
Wohnungsbordelle nicht drin . Aber das ist für sie auch
nicht erforderlich .

Worin besteht denn der Schutz, wenn die Sexarbei-
terin in einem anderen Zimmer schläft, als sie arbeitet?
Warum braucht es denn teure Technik, wenn sie bei Ge-
fahr rüberrufen kann? Gerade Wohnungsbordelle ermög-
lichen es den Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern, selbst-
bestimmter zu arbeiten, etwa mit drei, vier oder fünf
Frauen in einem kleinen Bordell, als in Laufhäusern oder
eben in Großbordellen . Aber kleinere Wohnungsbordelle
dieser Art, die das ermöglichen, werden verschwinden .
Sie werden Ihr Gesetz nicht überleben . Im Ergebnis för-
dern Sie Großbordelle, und das ist echter Mist .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe, ehrlich gestanden, den Eindruck, dass Sie
bei dem Thema vor allem intern gekreist sind und eben
nicht mit den entsprechenden Expertinnen und Experten
sowie Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern geredet haben .
Wenn Sie nur einmal den Berufsverbänden und Exper-
tinnen und Experten richtig zugehört hätten, wenn Sie
die Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter ernst nehmen wür-
den, wenn Sie einmal den Bericht des Runden Tisches in
NRW gelesen und dann dessen Erkenntnisse berücksich-
tigt hätten –


(Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: Sie müssen mal auf die Straße gehen, Frau Möhring!)


Cornelia Möhring






(A) (C)



(B) (D)


– da war ich, Herr Weinberg –, dann wüssten Sie, dass
die Prostitutionsstätten sehr unterschiedlich sind und na-
türlich auch unterschiedlich behandelt werden müssen .


(Karin Maag [CDU/CSU]: Waren Sie eigentlich mal auf der Straße?)


– Sie können mir ja eine Zwischenfrage stellen . Die be-
antworte ich gerne . – Ein Prostitutionsstättengesetz, in
dem auf unterschiedliche Modelle eingegangen wird, in
dem mit Betroffenen ausgehandelte Mindeststandards
festgelegt und diese gemeinsam ausgehandelten Min-
deststandards als Grundlage für die Konzessionierung
genommen werden, wäre sinnvoll und wird auch von
meiner Fraktion gefordert .


(Beifall bei der LINKEN)


Zum Abschluss habe ich noch eine Frage an Sie . Neh-
men wir einmal an, Sie würden es mit Ihrem Verhin-
derungs- und Kontrollgesetz tatsächlich schaffen, dass
Frauen nicht mehr in der Prostitution arbeiten wollen,


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Nein!)


auch nicht illegal: Was dann? Wo sind die guten Jobs für
sie? Wo sind die vielversprechenden Ausbildungschan-
cen? Wo sind die bezahlbaren Wohnungen?


(Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: Ich bitte Sie!)


Bevor Sie in der Art, wie Sie es vorhaben, gegen einen
legalen Beruf vorgehen, sollten Sie sich erst einmal über-
legen, wie Sie diese sozialen Fragen lösen, und zwar
nicht nur für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter, sondern
für alle .


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg . Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich muss ganz ehrlich sagen, Frau Schwesig: Ich ver-
stehe an dieser Stelle Ihr Tempo nicht . Nächsten Montag
gibt es im Bundestag eine Anhörung . Da haben Sie noch
einmal die Gelegenheit, tatsächlich mit Expertinnen und
Experten sowie Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern zu re-
den und richtig hinzuhören . Schon einen Monat später
soll hier die zweite und dritte Lesung erfolgen, obwohl
das Gesetz erst Mitte nächsten Jahres in Kraft treten soll .
Was soll denn das? Hat Ihnen die Union dafür verspro-
chen, dass dann das Entgeltgesetz kommt, was ja nach-
her doch immer nur eine Nullrunde bringt? Oder warum
diese Eile?

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Linke ist dabei,
wenn Menschenhändlern, wenn Zuhältern, wenn Aus-
beutern der Kampf angesagt wird .


(Beifall bei der LINKEN)


Wir sind dabei, wenn Armut bekämpft wird . Wir sind
dabei, wenn es darum geht, Selbstständige besser abzu-
sichern und sie an Sozial- und Rentenversicherung teil-
haben zu lassen . Wir sind dabei, wenn sexuelle Selbst-
bestimmung gestärkt werden soll und die Betreiber von
Bordellen für bestmögliche und sichere Arbeitsbedin-
gungen sorgen müssen . Wir sind dabei, wenn es um mehr
Schutz und um mehr Rechte geht . Aber all das tun Sie

eben nicht . Die Linke wird Ihren Gesetzentwurf ableh-
nen .

Vielen Dank .


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg . Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817300300

Der Kollege Marcus Weinberg hat für die CDU/

CSU-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1817300400

Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Liebe Frau Möhring, wenn es denn einen
Tag gibt, an dem man einen solchen Gesetzentwurf hier
im Deutschen Bundestag diskutieren muss, dann ist es
genau der heutige Tag; denn dieses Gesetz ist endlich
die richtige Antwort auf das, was wir seit 2002 erleben,
nämlich das Scheitern des Prostitutionsgesetzes von Rot-
Grün .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wenn Sie mir das nicht glauben, dann sprechen Sie
bitte mit denjenigen, die die Wirklichkeit bewerten . Ich
will zitieren, was ein Reporter von RISE Project in der
Sendung Die Story im Ersten: Ware Mädchen sagte: „Als
Deutschland und die Schweiz die Prostitution legalisiert
haben, war das eine gute Nachricht für die Menschen-
händler …“ – Das hat sich seit 2002 verändert . Ihr Bei-
trag gerade hat bewiesen, dass Sie anscheinend unter ei-
nem absoluten Realitätsverlust bei der Frage leiden: Wie
sieht es in der Prostitution aus?


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN)


Schauen wir uns einmal die Ergebnisse des rot-grü-
nen Prostitutionsgesetzes an: Sicherheit und Schutz?
Fehlanzeige! – Bessere Arbeitsbedingungen? Fehlanzei-
ge! – Selbstbestimmung der Prostituierten? Fehlanzeige!
Nein, weniger als 100 Prostituierte sind in Deutschland
sozialversicherungspflichtig angestellt. Stattdessen ha-
ben wir es mit Elend, Ausbeutung und Armut zu tun . Das
werden wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf endlich
angehen .

Ziel des Gesetzes – das hat die Ministerin dargestellt –
ist es, den Prostitutionsmarkt, die legale Prostitution,
endlich zu regeln mit dem Ziel, dass die organisierte
Kriminalität zurückgedrängt wird, dass wir Prostituierte
vor Fremdbestimmung schützen und auch die Arbeits-
bedingungen für die Prostituierten so gestalten, dass
sie in diesem Bereich in Würde arbeiten können . Jede
Form von Fremdbestimmung muss bekämpft werden,
von Zwangsprostitution und Menschenhandel ganz zu
schweigen . Denn – das ist unsere Überzeugung – jede
Art von Fremdbestimmung in der Prostitution ist mit der
Würde des Menschen unvereinbar . Dieser Leitsatz trägt
uns auch bei diesem Gesetzentwurf .

Deswegen teile ich das, was die Ministerin zu der Fra-
ge gesagt hat, welche Gruppe wir in den Fokus der Be-

Cornelia Möhring






(A) (C)



(B) (D)


trachtung nehmen sollten . Das sind, bei allem Respekt,
nicht die gut situierten Hausfrauen oder Studierenden,
die nebenbei als Prostituierte arbeiten, beispielsweise
ein Dominastudio betreiben und selbstbestimmt sind .
Vielmehr müssen die in unserem Fokus stehen, die nicht
sichtbar sind . Das sind die Tausenden von Prostituierten,
die in den letzten Jahren nach Deutschland gekommen
sind, die übrigens immer öfter an den Landstraßen stehen
und die keiner im Fokus hat . Das heißt, der Gesetzent-
wurf muss insbesondere diese Gruppe schützen; denn das
ist die Aufgabe des Staates: die Schwachen der Gesell-
schaft zu schützen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deswegen sei noch eine Bemerkung zu Ihrer Aussage
erlaubt, wir müssten mit den Sexdienstleisterinnen spre-
chen . Das tun wir . Ich spreche gerne mit einem Verband,
der 36 oder 72 Mitglieder hat . Wir reden hier aber über
Tausende, die in der Prostitution sind oder tätig sein müs-
sen .


(Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit denen sollten Sie auch mal reden! Gehen Sie mal auf die Straße!)


Das ist auch ein Appell an die gut organisierten Sex-
dienstleisterinnen, die sich jetzt auch durch den Verband
vertreten sehen . Es geht um die Solidarität der Betrof-
fenen mit den Schwächeren und die Bereitschaft, auch
für die Schwächeren einzustehen . Deshalb ist die fremd-
bestimmte Prostitution in dem Sinne zu verändern, dass
wir Hilfsangebote machen, Kontrollen vornehmen und
übrigens auch Möglichkeiten zum Ausstieg aus der Pros-
titution schaffen . Das sollte auch im Interesse derer sein,
die sich in Verbänden vertreten sehen . Der Staat hat je-
denfalls – ich wiederhole – die Aufgabe, gerade die zu
vertreten, die keine andere Möglichkeit haben .


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817300500

Kollege Weinberg, gestatten Sie eine Frage oder Be-

merkung der Kollegin Möhring?


Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1817300600

Von Frau Möhring doch immer .


Cornelia Möhring (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817300700

Vielen Dank, Herr Kollege Weinberg . – Herr Kollege

Weinberg, würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass in al-
len Stellungnahmen der Verbände, die bisher zu unserer
Anhörung am nächsten Montag eingegangen sind, und
auch bei den vergangenen Sexarbeiterinnen-Kongressen,
die nicht nur 35 Teilnehmerinnen hatten, sondern bei de-
nen ein breites Spektrum abgebildet war, von allen, wirk-
lich ausnahmslos allen darauf hingewiesen wurde, dass
die Registrierungs- und Anmeldepflicht mitnichten zu
mehr Schutz der Betroffenen führt, und dass auch die Be-
ratungsstellen, die sich mit Prostituierten auf dem Stra-
ßenstrich beschäftigen, darauf hingewiesen haben, dass
eine Registrierung mitnichten zu mehr Schutz führen,
sondern die Abdrängung in die Illegalität fördern wird?

Ich kann Ihnen natürlich nicht vorwerfen, wenn Sie
sich nicht vor Ort im Bordell kundig machen; das ist kei-

ne Frage. Aber heute findet um 11 Uhr vor dem Bundes-
tag eine Aktion zum Internationalen Hurentag statt . Da
haben alle Kolleginnen und Kollegen Gelegenheit, direkt
mit Betroffenen darüber zu reden und von ihnen zu hö-
ren, was sie von diesem Gesetzentwurf halten .


(Beifall bei der LINKEN)



Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1817300800

Liebe Frau Kollegin Möhring, das nehme ich schon

deshalb zur Kenntnis, weil der Sexdienstleisterin-
nen-Kongress in Hamburg stattgefunden hat, eröffnet
von der Senatorin für Gleichstellung, Frau Fegebank von
den Grünen .


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat sie gut gemacht, nicht?)


Sprechen Sie einmal mit denjenigen, die sich um die
Prostituierten kümmern, die gerade nicht vertreten wer-
den!


(Beifall bei der CDU/CSU – Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tun wir doch!)


Sprechen Sie mit Polizeibeamten vom LKA! Ich will
gerne zitieren, was eine verdeckte Ermittlerin im Zusam-
menhang mit der Fragestellung von Anmeldung und Be-
ratung gesagt hat:

Die Mädchen müssen halt das Gefühl haben, dass
sie eng betreut werden und dass wir ihre Sorgen
ernst nehmen . Haben sie das Gefühl, dass man
ernsthafte Hilfsangebote macht, wie zum Beispiel,
dass man NGOs einbindet, die eng an den Mädchen
dran sind, und das aufrechterhält, sagen sie aus .

Das heißt, das, was die Polizistinnen und Polizisten über
die, die sie täglich aufgreifen, über die, die an der Straße
stehen und sich für 20 Euro anbieten müssen, sagen, dem
vertraue ich . Das sind auch meine Adressaten in der Dis-
kussion über diesen Gesetzentwurf .

Sie werden bei den Stellungnahmen zur Anhörung
einiges erleben . Wir werden am Montag darüber debat-
tieren und darüber sprechen, wie die Realität aussieht .
Sie wird nicht bestimmt von den wenigen, die in großen
Edelbordellen arbeiten, sondern von der großen Masse,
die wir an der Landstraße finden. Deshalb, glaube ich,
muss bei allem Respekt vor der Arbeit der jeweiligen
Verbände – auch die nehmen wir gern zur Kenntnis;
auch mit denen führen wir Gespräche – angesichts von
300 000 Prostituierten unser Ansinnen sein, dass wir uns
Gedanken um diejenigen machen, die nicht durch die je-
weiligen Verbände vertreten werden .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Genau die Beschreibung der Auswirkungen des Pro-
stituiertengesetzes in Form von Elend, Armut und Aus-
beutung war es ja auch, was die Große Koalition in der
jetzigen Situation bewegt hat, zu handeln . Wir haben
dann ja auch sehr intensiv miteinander gerungen – das
ist auch gut so –, weil wir am Thema interessiert waren,
weil wir nicht weiter Ideologien aufbauen wollten . Die
Ministerin hat zu Recht gesagt, vielleicht kommt man

Marcus Weinberg (Hamburg)







(A) (C)



(B) (D)


mit diesem Gesetz zu spät . Richtig . Aber das Gute ist –
und das ist unser Ziel –, dass wir dieses Gesetz in dieser
Legislaturperiode auf den Weg bringen . Ich bin der SPD
sehr dankbar, dass wir bei den wesentlichen politischen
Themen auch Einigung erzielt haben . Es war ein langer,
streitbarer Weg, aber uns hat immer das Interesse gelei-
tet, dass wir die Frauen schützen, dass wir die Betrof-
fenen schützen . Ich glaube, das ist mit den Regelungen
auch gelungen .

Wir brauchen ein Anmeldeverfahren, wir brauchen
Angebote, und wir brauchen insbesondere den Schutz
der Prostituierten, die unter 21 sind . Auch wenn die Pro-
stitution weiter mit 18 zulässig ist, haben wir es zumin-
dest erreicht, dass besondere Schutzfunktionen, besonde-
re Beratungsfunktionen jetzt bei der Gruppe der 18- bis
21-Jährigen implementiert werden . Das ist gut – gerade
für die Gruppe, die wir auch mit Blick auf den Ausstieg
ansprechen wollen .

Im Übrigen, Frau Möhring, Ihre letzte Bemerkung
habe ich überhaupt nicht verstanden . Was ist denn das
bitte für ein Ansatz: „Ja, und wenn die Prostituierten dann
mit ihrer Arbeit aufhören, was ist denn dann mit ihnen?
Dann müssen wir sie ja qualifizieren und Ausbildungsan-
gebote schaffen“? Ja, ist denn der Umkehrschluss, dass
sie in der Prostitution bleiben sollen, weil sie möglicher-
weise keine Alternative haben? Das kann in dieser Frage
ja wohl nicht der richtige Weg der Politik sein .


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN)


Wir werden uns jetzt tatsächlich nach der Anhörung
am Montag Zeit nehmen, ebendiese auszuwerten . Wir
als Union haben noch einige Punkte, die wir diskutieren
wollen . Ich will ein paar davon ansprechen .

Das Erste ist das Thema der Einsichtsfähigkeit . Wir
halten es für falsch, dass sozusagen die Prüfung der Ein-
sichtsfähigkeit jetzt im Rahmen des Anmeldeverfahrens
wieder herausgenommen wurde . Denn gerade die Men-
schen mit kognitiven Schwierigkeiten, die Menschen mit
Behinderung müssen davor geschützt werden, dass sie
eine Anmeldebescheinigung ausgestellt bekommen, ohne
dass überprüft wird, ob sie über ausreichende Einsichts-
fähigkeit verfügen, um ihr sexuelles Selbstbestimmungs-
recht selbst schützen zu können . Gerade diese Menschen
brauchen ein Anmelderegime, das dazu geeignet ist, ihr
Selbstbestimmungsrecht sicherzustellen .

Das Zweite ist die Frage des Schutzes von schwange-
ren Prostituierten und hochschwangeren Prostituierten .
In diesem Bereich gibt es ja die Entwicklung – das ist ja
erbärmlich –, dass man mit Schwangeren und mit Hoch-
schwangeren mittlerweile gute Geschäfte macht . Da sa-
gen wir als Union ganz deutlich: Wir müssen schauen,
wie wir es rechtlich hinbekommen, dass wir diese Men-
schen schützen, weil das ungeborene Leben geschützt
werden muss . Das ist auch in der Frage der Prostitution
für uns ein Grundsatz .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Drittens werden wir auf das Thema Krankenversiche-
rung schauen . Wir wollen die Prostituierten beraten, wir
wollen aber auch, dass alle krankenversichert sind .

Der vierte Punkt betrifft die Auswüchse der Prostitu-
tion gerade in ländlichen Bereichen . Wenn Sie heute mit
Kolleginnen und Kollegen aus Wahlkreisen sprechen, die
aus einem ländlichen Bereich kommen, dann hören Sie,
dass sich dort mehr und mehr junge Mädchen aus Rumä-
nien, aus Bulgarien finden, die sich für billiges Geld an-
bieten müssen, die elf Stunden im Regen stehen müssen .
Und das Geld, das sie verdienen, wird ihnen auch noch
abgenommen . Das heißt, wir werden überprüfen müssen,
wie wir diese besondere Situation der Straßenprostitution
mit dem jetzigen Gesetzesvorhaben verändern können .


(Zurufe von der LINKEN)


Ich bin guter Dinge . Ich bedanke mich noch einmal für
diesen Gesetzentwurf . Wir haben hier und da noch Nach-
besserungsbedarf und müssen an Stellschrauben drehen .
Das werden wir gemeinschaftlich tun . Ich freue mich
sehr, dass SPD, CDU und CSU es gemeinsam in dieser
Legislaturperiode schaffen, ein solches Gesetz auf den
Weg zu bringen . Es ist ein gutes Zeichen für die Große
Koalition, dass wir, so weit auseinander wir auch waren,
jetzt eng zusammengekommen sind – im Sinne der Be-
troffenen . Und das ist unser Auftrag, nichts anderes .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817300900

Das Wort hat die Kollegin Katja Dörner für die Frakti-

on Bündnis 90/Die Grünen .


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1817301000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Man sagt ja: Was lange währt, wird end-
lich gut . – Auf diesen Gesetzentwurf trifft dieser schöne
Spruch leider nicht zu .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir sind uns ja alle einig, dass wir Regulierung im Be-
reich der Prostitution brauchen und dass wir die Situation
von Prostituierten verbessern wollen . Herr Weinberg hat
das Gesetz von 2002 angesprochen; es kommt ja auch
in der gesamten Debatte immer wieder zur Sprache . Ich
will einmal sagen: Durch dieses Gesetz wurde wirklich
eine zentrale Weichenstellung vorgenommen, insbeson-
dere deshalb, weil es die sogenannte Sittenwidrigkeit
zivilrechtlicher Verträge über sexuelle Dienstleistungen
beseitigt hat . Hinter diesen Schritt will niemand mehr
zurück. Ich finde das gut, und ich möchte das hier noch
einmal ausdrücklich festhalten .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aber es ist auch richtig, dass sich viele der mit diesem
Gesetz verbundenen Erwartungen und Hoffnungen nicht
erfüllt haben, beispielsweise im Bereich der sozialversi-
cherungspflichtigen Beschäftigung und im Hinblick auf

Marcus Weinberg (Hamburg)







(A) (C)



(B) (D)


den Schutz vor Zwangsprostitution . Deshalb sagen wir
als Grüne, dass wir neue Regelungen brauchen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was wir brauchen, ist eine Regulierung der Prostitu-
tionsstätten als Gewerbebetrieb . Den Betreibern müssen
Pflichten auferlegt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ihnen müssen klare Grenzen aufgezeigt werden . Dies-
bezüglich enthält der Gesetzentwurf einige Regelungen .
An dieser Stelle können wir durchaus mitgehen . Der
Webfehler des Gesetzentwurfs ist aber, dass Sie darüber
hinaus den in der Prostitution Tätigen sehr weitreichen-
de Pflichten auferlegen. Dieser Ansatz ist falsch. Das ist
Gängelung und fördert die Stigmatisierung . Das trägt
nicht dazu bei, Prostituierte besser zu schützen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wir bemerken immer wieder, dass Prostitution ein
sehr emotional besetztes Thema ist . Persönliche Wertvor-
stellungen spielen hier immer eine große Rolle . Gerade
wenn aber die Gesellschaft mit heißem Herzen über eine
Thematik diskutiert, müssen wir als Gesetzgeber umso
mehr mit kühlem Kopf die Sache angehen und uns fra-
gen, ob die Maßnahmen, die wir vorschlagen, tatsächlich
geeignet sind, unsere Ziele zu erreichen, gerade wenn es
um den Schutz der Prostituierten geht .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich will zwei Maßnahmen nennen, bei denen das nicht
der Fall ist bzw . mit denen das Gesetz das Gegenteil be-
wirken wird . Wie gesagt, Prostitution wird noch immer
stigmatisiert . Deshalb sind viele Prostituierte dringend
auf Anonymität angewiesen . Sie werden sich daher nicht
anmelden . Die vielleicht seitens der Koalitionsfraktio-
nen gut gemeinte Anmeldefrist wird in der Praxis dazu
führen, dass eine große Anzahl der Prostituierten in in-
transparente, illegale Bereiche ausweichen muss . Damit
steigt die Gefahr von Übergriffen . Die Möglichkeiten,
Maßnahmen des Rechtsstaats in Anspruch zu nehmen,
werden geschwächt . Auch der Zugang zu Beratungs- und
Unterstützungsmöglichkeiten wird erschwert . Deshalb
ist diese Anmeldefrist kontraproduktiv .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Zudem – das entnehmen wir auch einigen Stellung-
nahmen zur Anhörung –: Die Annahme, Opfer von
Menschenhandel könnten im Rahmen der Anmeldung
erkannt und unterstützt werden, ist völlig lebensfremd .
Vielmehr werden sich gerade Frauen in Abhängigkeits-
verhältnissen anmelden müssen, damit die Hintermänner
sie ungestört und ungefährdet weiterhin ausbeuten kön-
nen . Gerade das wollen wir nicht .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ein weiterer Punkt, den ich ansprechen möchte und
der eng mit der Anmeldepflicht verknüpft ist, ist die ge-
sundheitliche Pflichtberatung. Selbstverständlich ist ge-

sundheitliche Beratung immens wichtig . Deshalb ist es
unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es ausreichend
Beratungsangebote gibt . Aber alle Erfahrungen zeigen,
dass den Beratungsangeboten Freiwilligkeit, Niedrig-
schwelligkeit und die Möglichkeit der Anonymität zu-
grunde liegen müssen . Ich rate an, einen Blick in die
Stellungnahme der Bundesvereinigung der kommunalen
Spitzenverbände zu werfen . Diese sagt ausdrücklich,
dass die Beratungspflicht stigmatisierend und kontrapro-
duktiv wirkt und dass sich gerade marginalisierte Prosti-
tuierte dieser Pflicht entziehen und damit kriminalisiert
und noch vulnerabler werden . Deshalb meine ich: Die
Koalition sollte von dieser Regelung dringend Abstand
nehmen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der Gesetzentwurf trägt den Schutz der Prostituierten
im Titel. Aber man findet diesen Schutz leider nicht in
den Paragrafen . Deshalb sehen wir diesen Gesetzentwurf
sehr kritisch . Wir hoffen auf die Anhörung und den Bun-
desrat, der in dieser Frage offensichtlich sachorientierter
aufgestellt ist als die Koalitionsfraktionen .

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817301100

Die Kollegin Dr . Carola Reimann hat für die

SPD-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der SPD)



Dr. Carola Reimann (SPD):
Rede ID: ID1817301200

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Mit dem Prostitutionsschutzgesetz schaffen wir
das erste Mal klare Regeln für den Betrieb und die Er-
laubnis von Prostitutionsstätten . Das ist gut; denn damit
sorgen wir für bessere Arbeitsbedingungen für die in der
Prostitution tätigen Frauen und Männer . Für die SPD ist
das ein ganz entscheidender Punkt . Wir wollen nämlich,
dass dieses Gesetz hält, was sein Name verspricht: ein
höheres Schutzniveau und eine nachhaltige Verbesserung
der Situation von Prostituierten .

Es ist schon angesprochen worden: Die Erfahrungen
aus der Praxis haben gezeigt, dass auch nach dem im
Jahr 2002 unter Rot-Grün eingeführten Prostitutionsge-
setz Handlungsbedarf besteht . Leider, Kollege Weinberg,
hat aber ein schwarz-gelb dominierter Bundesrat in der
Vergangenheit immer notwendige Regulierungen verhin-
dert .


(Widerspruch bei der CDU/CSU)


Das Prostitutionsgesetz setzt jetzt an dieser Stelle an . Die
Erlaubnispflicht für Prostitutionsstätten ist hierbei der
zentrale Punkt . Mit ihr setzen wir wichtige Mindeststan-
dards bei den Arbeitsbedingungen durch .


(Beifall bei der SPD)


Erstens . Die Betreiber eines Prostitutionsgewerbes
müssen sich einer Zuverlässigkeitsprüfung unterziehen .
Zweitens. Diese Erlaubnispflicht wird an die Erfüllung

Katja Dörner






(A) (C)



(B) (D)


gesetzlicher Mindestanforderungen für die Betriebe ge-
knüpft. Bei Verstößen drohen empfindliche Strafen und
der Entzug der Erlaubnis . Drittens . Es stehen uns mit
dem Gesetz jetzt endlich neue Kontrollinstrumente zur
Verfügung,


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Jetzt endlich!)


um auch die Einhaltung der gesetzlichen Pflichten sicher-
zustellen .

Wir brauchen diese Maßnahmen; denn es geht hier um
nicht weniger als die Einhaltung von Grundrechten wie
der sexuellen Selbstbestimmung, der persönlichen Frei-
heit und auch der Gesundheit . Deshalb ist es richtig, dass
wir mit Geschäftsmodellen Schluss machen, die mit dem
Recht auf sexuelle Selbstbestimmung unvereinbar sind .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir regeln hier einen Bereich, der, wo immer man hin-
schaut, ganz unterschiedlich ist, ja sogar widersprüchlich
ausgeprägt ist . Zweifelsohne ist die Situation für viele in
der Prostitution Tätige nach wie vor schwierig . Sie wer-
den ausgegrenzt und stigmatisiert, nur wenige wagen es,
offen über ihre Tätigkeit zu sprechen . Viele fürchten Be-
nachteiligungen im eigenen sozialen Umfeld . Gleichzei-
tig gibt es aber auch Sexarbeiterinnen, die selbstbewusst
für ihre Rechte kämpfen können, die Freiwilligkeit und
Selbstbestimmtheit für sich reklamieren .

Die Ministerin hat in ihrer Rede auf diese ganz unter-
schiedlichen Lebenslagen hingewiesen . Unsere Aufgabe
als Gesetzgeber ist es, ein Gesetz auf den Weg zu brin-
gen, das dieses Spektrum berücksichtigt und dem gerecht
wird . Das ist eine besondere Herausforderung . Das ist
aber nicht die einzige Herausforderung und nicht der ein-
zige Widerspruch, mit denen man sich in diesem Gewer-
be konfrontiert sieht; denn wir sprechen hier über einen
Wirtschaftszweig, in dem Milliarden umgesetzt werden,
mit dem aber, wenn man sich umhört, niemand etwas zu
tun hat . Es ist die Tabuisierung, das Verschweigen und
zum Teil auch die Verlogenheit, die die Lage dieser Frau-
en und Männer so schwierig machen . Dieses Problem ist
wesentlich tief greifender, als dass wir es mit einem ein-
zigen Gesetz von heute auf morgen ändern könnten .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist aber wichtig, dass wir uns dessen bewusst sind
und verstehen, in welch unterschiedlichen Lagen sich
Prostituierte befinden. Das müssen wir auch als Gesetz-
geber vor Augen haben . Deshalb brauchen wir Regeln
mit Augenmaß, Regeln, die den Frauen ein sicheres Le-
ben ohne gesellschaftliche Ächtung möglich machen,
aber auch Regeln, die der Lebens- und Berufspraxis ge-
recht werden . Das ist das, was viele renommierte Ver-
bände, angefangen vom Deutschen Juristinnenbund und
dem Deutschen Frauenrat über die Diakonie bis hin zur
Deutschen AIDS-Hilfe, im vorparlamentarischen Bera-
tungsprozess immer wieder angemahnt haben .

Deshalb bin ich froh, dass es in langen Verhandlun-
gen gelungen ist, Forderungen abzuwehren, die die

Balance dieses Gesetzes gefährdet hätten . Dazu zählen
Forderungen nach Pflichtuntersuchungen oder nach dem
Mindestalter. Richtig war auch, die Anmeldepflicht pra-
xistauglicher zu machen . Unsere Marschrichtung ist klar:
Wir wollen mehr Schutz, und wir wollen mehr Rechte für
die Prostituierten . Wir wollen klare Standards für ordent-
liche Arbeitsbedingungen .

Was wir aber nicht wollen, ist Tabuisierung, Stigmati-
sierung und Regelungen, die diese für die Frauen schäd-
liche Entwicklung ohnehin verstärken; denn am Ende
schieben wir damit Probleme und auch Missstände in die
dunkle Ecke der Illegalität, obwohl wir eigentlich mehr
Licht und mehr Transparenz an dieser Stelle brauchen .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wir sind mit
dem Gesetz auf einem guten Weg, wenn wir diese Leit-
linien auch im parlamentarischen Verfahren beherzigen .
Das heißt: keine weiteren Verschärfungen, stattdessen
mehr Rechte, mehr Beratung und mehr Unterstützung .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817301300

Das Wort hat die Kollegin Ulle Schauws für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen .


Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1817301400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Wir reden hier im Bundestag in den letz-
ten Wochen viel und oft über das Thema der sexuellen
Selbstbestimmung . Gerade im Rahmen der Reform des
Sexualstrafrechts ist das ein sehr zentraler und wichtiger
Punkt . Da sind wir uns hier in diesem Parlament – vor
allem die Frauen – ziemlich einig . Umso mehr ist es für
mich unverständlich, dass im Falle der Prostituierten bei
der sexuellen Selbstbestimmung andere Maßstäbe ange-
legt werden . Warum stellen Sie die Selbstbestimmung
von Prostituierten infrage? Denn das machen Sie mit die-
sem Gesetzentwurf, Frau Ministerin .

Diesem Entwurf liegt eine bevormundende Haltung
zugrunde, die allen Frauen und Männern in der Prosti-
tution die Selbstbestimmung abspricht . Ich sage Ihnen:
Dieser Gesetzentwurf ist Ausdruck von Bevormundung
und Kontrolle . Sie verändern damit genau nicht, was Sie
vorgeben ändern zu wollen . Sie setzen die Stigmatisie-
rung der Stigmatisierten fort, Frau Schwesig . Sie ver-
säumen es, das wirklich Notwendige zu tun, nämlich die
Menschen, die in der Prostitution arbeiten, zu bestärken
und zu unterstützen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Frauen, die sexuelle Dienstleistungen anbieten und die
so zum Beispiel ihre Kinder ernähren oder die Pflege ei-
nes Familienmitglieds mit diesem Job vereinbaren, sind
nach Ihrem Gesetzentwurf gezwungen, sich zu outen,
oder sie können diese Tätigkeit nicht mehr legal ausüben .
Aber das ist doch, bitte schön, kein Schutzgesetz . Das ist
die Bevormundung einer ganzen Berufsgruppe . Genau

Dr. Carola Reimann






(A) (C)



(B) (D)


aus diesem Grund, liebe Kolleginnen und Kollegen, be-
stehen schwerwiegende Bedenken gegen die Punkte des
Gesetzentwurfs, mit denen Druck auf die Prostituierten
ausgeübt wird: die Anmeldepflicht – sie ist schon ge-
nannt worden –, die verpflichtende Gesundheitsberatung
und auch die behördlichen Anordnungen, die in diesem
Gesetzentwurf stehen .

Bei den Anhörungen im Bundesministerium haben et-
liche Fachleute – unter anderem der Diakonie, des Deut-
schen Frauenrates, des Deutschen Juristinnenbundes und
der Deutschen AIDS-Hilfe sowie Medizinerinnen und
Mediziner – früh davor gewarnt, den Zwang zum Ou-
ting in diesen Gesetzentwurf hineinzuschreiben, weil das
kontraproduktiv ist . Die Caritas hat den Gesetzentwurf –
ich zitiere – mit folgenden Worten konterkariert:

Das geht an der Lebensrealität von Prostituierten
vorbei . Expertenmeinungen und Erfahrungen aus
der praktischen Arbeit haben kaum bemerkbar Ein-
gang in den Gesetzentwurf gefunden .

Dem, was die Caritas sagt, schließe ich mich an . Ihr Ge-
setzentwurf ignoriert Fachwissen, und das ist unprofes-
sionell .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Frau Schwesig, bei der Anmeldepflicht ignorieren Sie,
dass sich die Prostituierten gerade aufgrund von Diskri-
minierungserfahrungen erstens häufig nicht als „Prosti-
tuierte“, sondern mit anderen Berufsbezeichnungen an-
melden und zweitens Misstrauen wegen des fehlenden
Datenschutzes haben . Und was machen Sie? Sie schaffen
eine eigene Datei für Prostituierte . Die Folge – das wurde
heute schon sehr oft gesagt – ist klar: Viele werden sich
nicht anmelden, und dann haben Sie nichts erreicht . Das
schützt Prostituierte nicht . Nein, es sind viele erst recht
gefährdet, wenn sie nicht legal arbeiten können .


(Zuruf des Abg . Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU])


– Ja, so ist es, Herr Weinberg .


(Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: Damit sie sichtbar sind!)


Die irrige Vorstellung, mit der verpflichtenden Gesund-
heitsberatung Opfer von Menschenhandel entdecken zu
können, kommt genau daher, dass Sie den vielen Exper-
tinnen nicht zugehört haben .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Armutsprostituierte, die in schwierigen Lebenslagen
stecken und besonders gefährdet sind, werden sich wäh-
rend eines Gesprächs in einer Behörde doch nicht einer
völlig fremden Person anvertrauen .


(Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: Was machen denn heute die, die gefährdet sind?)


Das braucht Zeit, und es funktioniert nur freiwillig . Es
geht nur freiwillig, Herr Kollege .


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: Der Cousin aus Belgrad ist mit dabei!)


Wie Ihnen bekannt sein sollte, äußert auch der Bun-
desrat in seiner Mehrheit deutlich Kritik . Er stellt die
Forderung auf, die §§ 3 bis 11 zu streichen . Und, ehrlich
gesagt, ich finde, das können Sie nicht so einfach ignorie-
ren. Auch bei der Erlaubnispflicht, die wir Grünen schon
im Januar gefordert hatten – wir halten sie grundsätzlich
für sinnvoll –, gibt es eine Einschränkung, die ich Ihnen
nennen will . Sie legen für kleine Wohnungsprostituierte
die gleichen Voraussetzungen an wie für große Laufhäu-
ser . Gerade dort, wo sich zwei bis drei Frauen zusammen-
tun, wo sie oft unter guten Arbeitsbedingungen arbeiten,
erschweren Sie die Existenz für diese Prostituierten . Aus
meiner Sicht macht das überhaupt keinen Sinn .


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Gesetz sollte
Menschen in der Prostitution in ihrer Selbstbestimmung
stärken . Wir Grüne fordern deutlich mehr Beratungs-
stellen . Wir fordern Unterstützung für die Prostituierten,
und zwar auf freiwilliger Basis . Runde Tische nach dem
Vorbild von NRW sind sinnvoll . Vor allem bringen sie
Erfahrungen und Kompetenzen von allen Beteiligten an
einem Tisch zusammen . Ich appelliere an Sie: Nutzen Sie
die Anhörung nächste Woche zum Gesetzentwurf . Nut-
zen Sie die Expertise, die vorhanden ist . Und: Bessern
Sie nach . Legen Sie einen Gesetzentwurf vor, der echte
Unterstützung und Schutz für Prostituierte beinhaltet .

Vielen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817301500

Die Kollegin Sylvia Pantel hat für die CDU/CSU-Frak-

tion das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Sylvia Pantel (CDU):
Rede ID: ID1817301600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eine
junge Frau – ich nenne sie einmal Nadia – ist erst 19 Jah-
re alt und kommt aus einem kleinen Ort in Rumänien .
Vor einem Jahr kam sie ins Ruhrgebiet, um eine Stelle als
Kellnerin anzutreten . Schnell landete sie in einem Lauf-
haus . Sie wird von Haus zu Haus gereicht und weiß kaum
noch, in welcher Stadt sie gerade ist . Nadias ganze Sorge
ist, dass sie nicht genug Geld für ihre Familie zu Hause in
ihrem Dorf zusammenbekommt . Geschichten wie diese
habe ich viel zu oft gehört, seit ich Berichterstatterin für
die Themen „Prostitution“ und „Gewalt gegen Frauen“
bin .

Das 2002 von der rot-grünen Bundesregierung ge-
schaffene Prostitutionsgesetz hat sein Ziel verfehlt; das

Ulle Schauws






(A) (C)



(B) (D)


haben wir auch hier mehrfach gehört . Deutschland wird
heute das Bordell Europas genannt . Tausende Frauen
werden jeden Tag zu Opfern . Es wurde ein Markt ohne
klare Regeln geschaffen . Die Situation für die meisten
Prostituierten ist alles andere als wirklich selbst gewählt .
Diesen Zustand müssen und werden wir ändern .

Seit zwei Jahren haben wir innerhalb der Großen Ko-
alition um die richtigen Wege gestritten . Das Prostituti-
onsgewerbe muss reguliert werden . Die Gegner klarer
Regeln, allen voran die Bordellbetreiber, haben immer
versucht, das Bild einer selbstbestimmten Studentin auf-
zuzeigen, die sich als Escortdame oder Edelprostituierte
etwas zu ihrem Studium hinzuverdient . Dieses Bild ist
für die Mehrheit der Prostituierten falsch .

Die überwältigende Mehrheit der Prostituierten in
Deutschland sind EU-Ausländerinnen, meist aus Südost-
europa . Sie arbeiten für einen Hungerlohn in schäbigen
Zimmern, in Wohnwagen und müssen auf der Straße an-
schaffen gehen . Diese Frauen sind meist nach Deutsch-
land gekommen, weil man ihnen zum Beispiel einen Job
als Haushälterin, Kellnerin oder Model in Aussicht ge-
stellt hat . Hier angekommen werden sie dann von ver-
meintlichen Liebhabern, den sogenannten Loverboys,
auf perfide Art und Weise an das Milieu herangeführt.
Danach bleiben viele bei der Prostitution, weil sie Geld
verdienen müssen und keinen Weg aus ihrer misslichen
Lage heraus kennen . Das alles ist keine Zwangsprosti-
tution im Sinne des Strafrechts; aber es ist alles andere
als das Bild einer selbstbestimmten Frau, das wir sehen
sollen oder sehen wollen .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Wenn wir von Expertinnen und Experten oder Hilfs-
organisationen das Gewerbe geschildert bekommen, sind
wir schnell in der Realität angekommen . Wir bekommen
eine andere Realität aufgezeigt, als Sie uns hier weisma-
chen wollen . Auch eine Handvoll Edelbordelle mit viel-
leicht guten Arbeitsbedingungen kann nicht darüber hin-
wegtäuschen, dass die Mehrheit der Prostituierten täglich
ausgebeutet und benutzt wird .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Beim Prostituiertenschutzgesetz ist der Name Pro-
gramm . Wir schützen Prostituierte, indem wir einen
völlig enthemmten Markt regulieren . Gerade die Damen
und Herren der Opposition sind doch sonst immer dafür,
Märkte zu regulieren . Warum nicht hier?


(Beifall bei der CDU/CSU)


Was sagen Sie denn zu Ausbeutung, Abhängigkeit von
Loverboys und einem Milieu, das Kriminalität im Be-
reich von Drogen und Waffen bis hin zum Menschenhan-
del befördert? Sollten wir hier nicht durchgreifen? Wir
sagen Ja . Wir müssen durchgreifen, um den Damen zu
helfen . Es besteht Handlungsbedarf .

Die Aufhebung der Sittenwidrigkeit der Prostitution
war ein Paradigmenwechsel; das ist klar . Ob man die-
sen Paradigmenwechsel nun gut findet oder nicht: Po-
litik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit, und
das haben wir bei diesem Gesetz getan . Die Wirklichkeit

ist derzeit leider die, dass es juristisch einfacher ist, ein
Bordell zu betreiben als einen Kiosk an der Ecke oder die
von Frau Schwesig angesprochene Pommesbude .

Prostituierte genießen in den Bordellen heute kaum
Schutz . Die Bordellbetreiberlobby versucht, den Begriff
„Sexarbeit“ zu etablieren und damit so zu tun, als sei
eine Arbeit in der Prostitution gleich jeder anderen Ar-
beit . Prostitution ist aber keine Tätigkeit wie jede andere .
Der direkte Körpereinsatz und das Milieu weisen viele
Gefahren auf .

Das Prostituiertenschutzgesetz setzt in zwei wesentli-
chen Bereichen an .

Prostituierte müssen in Zukunft, wie jeder andere ar-
beitende Mensch auch, angemeldet sein . Dazu gehört,
dass sie nicht nur Tätigkeitsort und Identität angeben,
sondern auch eine regelmäßige Gesundheitsberatung
nachweisen müssen . In diesen Beratungsgesprächen
werden die Prostituierten über die Möglichkeiten der
gesundheitlichen Versorgung sowie über Wege aus dem
Milieu informiert . Woher sollten sie es denn wissen? Sie
kennen unsere gesetzlichen Rahmenbedingungen und
die Arbeitsbedingungen in Deutschland nicht . Außerdem
können sie sich einer Fachberaterin anvertrauen, ohne
dass ihr Zuhälter dabei sein darf, um auf sie aufzupas-
sen . Prostituierte müssen jährlich ein solches Gespräch
nachweisen, unter 21-Jährige sogar alle sechs Monate .
So schaffen wir ein wirkliches Beratungsnetz .

Der zweite Schwerpunkt ist die Lizensierung von
Bordellen . Betreiber von Prostitutionsstätten und deren
ausführende Organe dürfen nicht einschlägig vorbestraft
sein . Die Prostitutionsstätten müssen baulichen Stan-
dards entsprechen . Der Bordellbetreiber hat umfangrei-
che Sorgfaltspflichten gegenüber seinen Angestellten
und den freischaffenden Prostituierten zu erfüllen und
muss den Arbeitsschutz beachten – und dies erstmalig .

Aus den Reihen einiger Bundesländer kam schon der
Einwand, wegen unseres Gesetzes müssten sich mehr
Polizisten um das Rotlichtmilieu kümmern . Ich kann nur
sagen: Das hoffe ich; es wird höchste Zeit .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir alle hier im Saal wissen, dass der Zustand derzeit
unerträglich ist und großer Handlungsbedarf besteht .
Wir beschließen nun ein gutes Gesetz . Daher können wir
auch von den Ländern erwarten, dass die notwenige Zahl
an Polizisten zur Durchsetzung des Gesetzes und damit
zur Kriminalitätsbekämpfung bereitgestellt wird .

Stellen Sie sich vor, wir würden Sicherheitsvorschrif-
ten bei der Lebensmittelproduktion oder im Straßenver-
kehr nicht mehr anwenden, weil wir nicht genug kon-
trollieren können . Stellen Sie sich vor, wir würden den
Arbeitsschutz außer Kraft setzen, weil Länder und Kom-
munen lautstark jammern, ihnen wäre der Aufwand zu
groß . Zu Recht würde ein Aufschrei durchs Land gehen .

Es ist besonders bitter, dass ich gerade in meinem Hei-
matbundesland NRW nicht davon ausgehen kann, dass

Sylvia Pantel






(A) (C)



(B) (D)


das Innenministerium die Zahl der Polizisten so erhöht,
wie es sein müsste .


(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Innenministerium hat in der Vergangenheit die Zahl der Polizisten erhöht!)


NRW setzt lieber auf einen Blitzmarathon, anstatt die
Kriminalität zu bekämpfen . Im vergangenen Frühjahr
war ich zu einem Termin in der Landespolizeischule . Die
Polizisten dort erzählten mir, wie schwierig die Situati-
on für sie wäre . Sie sollen nicht mehr in gewisse Ecken
schauen, weil für die sich daraus ergebenden Ermittlun-
gen das Personal fehle . Es ist ja nett, wenn man an run-
den Tischen darüber redet, aber man braucht klare Re-
geln und auch Polizisten, die hinschauen .


(Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben ja keine Ahnung! – Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist wirklich unverschämt!)


– Das ist die Aussage der Polizisten .


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817301700

Kollegin Pantel .


Sylvia Pantel (CDU):
Rede ID: ID1817301800

Wenn es unser aller Ziel ist, die von Ausbeutung und

Gewalterfahrung betroffenen Frauen zu schützen, dann
erwarte ich von den Ländern, dass sie nicht wegschauen,
sondern handeln . Ich erwarte, dass die Bundesländer mit
uns an einem Strang ziehen und das Gesetz vollumfäng-
lich unterstützen .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU – Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie ignorieren die Realitäten!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817301900

Der Kollege Sönke Rix hat für die SPD-Fraktion das

Wort .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Sönke Rix (SPD):
Rede ID: ID1817302000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer Veranstaltung –
eine Familienfeier, ein größeres Fest, wie auch immer –
und lernen eine Frau kennen . Im Laufe des Gesprächs
stellt sich heraus, dass sie als Prostituierte arbeitet . Ma-
chen wir uns nichts vor, dass das für uns alle irgendwie
eine sehr merkwürdige Situation wäre . Stellen Sie sich
weiterhin vor, Sie sind auf einer Familienfeier und eine
Frau erklärt, dass sie als Krankenschwester arbeitet . Kein
Mensch würde dann schlucken und sagen: Oh, was ist
das denn? – Aber bei dem anderen Beruf würden wir es
machen .

Warum sage ich das? Weil es in diesem Bereich – un-
abhängig davon, ob Frauen, die der Prostitution nachge-
hen, dies selbstbestimmt oder aus Nöten und Zwängen

heraus tun – immer eine Stigmatisierung gibt . Das trifft
auch für die Frauen zu, bei denen wir sagen: Das ist doch
eine ganz selbstbewusste, toughe Frau; das ist doch gar
nicht schlimm . – Wir, die wir uns jetzt zwei Jahre lang
intensiv mit diesem Thema beschäftigt haben, würden
wahrscheinlich sogar erst recht sagen: Alles nicht so
wild . – Aber es ist und bleibt eine Stigmatisierung .

Die Situation ist immer noch so – auch am Internatio-
nalen Hurentag muss man darauf aufmerksam machen –,
dass wir dieses Thema – Frau Reimann hat es vorhin ge-
sagt – ein Stück weit verlogen, verdeckt und mit schrä-
gen moralischen Vorstellungen angehen . Das macht die
ganze Debatte um diesen Bereich ja auch so schwierig .
Wenn wir wirklich darüber diskutieren würden, wie wir
den Menschenhandel bekämpfen können, dann würden
wir nicht nur über Prostituierte reden; denn der Men-
schenhandel betrifft nicht nur den Bereich der Prostituti-
on, in dem die Situation zugegebenermaßen sehr gravie-
rend ist . Auch Menschen in anderen Bereichen werden
ausgebeutet und müssen beispielsweise auf Baustellen,
im Reinigungsgewerbe und wo auch immer arbeiten .
Menschenhandel und Ausbeutung betreffen also nicht
nur den Bereich der Prostitution, auch wenn die Situation
in diesem Bereich am gravierendsten und schlimmsten
ist, sondern Menschenhandel umfasst noch mehr .

Genau aus diesem Grund haben wir die beiden Berei-
che getrennt . Wir haben gesagt: Das eine ist die Regu-
lierung der Prostitution und der Schutz von Prostituier-
ten insgesamt, und das andere ist die Bekämpfung des
Menschenhandels . Das sollten wir in dieser Debatte un-
terscheiden; den zweiten Teil dieses Komplexes beraten
wir getrennt, gleich im Anschluss an diese Debatte . Das
wollte ich vorweg einmal sagen .

Nachdem wir zwei Jahre verhandelt haben, kann ich
feststellen, dass wir in dieser Koalition von sehr unter-
schiedlichen Seiten gekommen sind . Es ist mitnichten so,
dass das rot-grüne Prostitutionsgesetz dazu beigetragen
hat, dass wir angeblich der Puff Europas sind .


(Sylvia Pantel [CDU/CSU]: Doch! – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Natürlich! Schauen Sie sich mal das Saarland an, wie die da aus Frankreich kommen! Wovon träumen Sie denn nachts?)


– Frau Kollegin, die massive Ausbeutung von Arbeits-
kräften findet auch in anderen Bereichen statt. Das habe
ich Ihnen gerade gesagt . Damit hat das Prostitutionsge-
setz nichts zu tun; es hat etwas mit anderen internationa-
len Rahmenbedingungen zu tun . Das muss man an dieser
Stelle einmal unterstreichen .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben zwei Jahre lang intensiv verhandelt, wobei
wir aus sehr unterschiedlichen Richtungen gekommen
sind . Natürlich haben auch unterschiedliche Wertevor-
stellungen eine Rolle gespielt . Ich weiß, dass auch in-
nerhalb der Fraktionen und der Parteien die Wertevor-
stellungen auseinandergehen . Es ist ja nicht so, dass
nur in einer Fraktion gesagt wird, dass man Prostitution
verbieten muss, und in einer anderen Fraktion niemand

Sylvia Pantel






(A) (C)



(B) (D)


das sagt . Die Wertevorstellung, dass man Prostitution am
besten verbieten müsste, gibt es – wie ich es zumindest
den Äußerungen der Kolleginnen und Kollegen entneh-
me, mit denen ich gesprochen habe – in allen Fraktio-
nen . Aber wir dürfen nicht zulassen, dass wir im Zusam-
menhang mit der Regulierung von Prostitution aufgrund
der Tatsache, dass wir uns unter Druck gesetzt fühlen,
Schaufenstergeschichten machen . Deshalb ist es gut und
richtig, dass wir sinnlose Sachen wie die Einführung der
Altersgrenze von 21 abgewendet haben; sie hätte dazu
geführt, dass die Frauen unter 21 Jahren in die Illegalität
gegangen wären . Bei der Einführung dieser Altersgrenze
haben wir nicht mitgemacht .


(Beifall der Abg . Petra Crone [SPD])


Ein weiterer Punkt ist, dass wir den sogenannten
Bockschein nicht wieder eingeführt haben . Denn sämt-
liche Untersuchungen und Aussagen aus der Fachwelt
haben gezeigt, dass er nichts gebracht hat . Auch wenn
der Bockschein in dieser Debatte gefordert wurde – bei
sinnlosen Schaufenstergeschichten macht die SPD-Frak-
tion nicht mit .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich möchte den zweiten großen Bestandteil dieses
Gesetzes erwähnen . Wir haben eine große Einigkeit da-
rüber – das haben auch die Kolleginnen der Grünen ge-
sagt –, dass der größte Bestandteil dieses Gesetzes gar
nicht das Anmeldewesen für die Prostituierten ist . Wir
müssen das Anmeldewesen so ausgestalten, dass es ein
Andockpunkt für Hilfe und Beratung ist und nicht zur
Stigmatisierung beiträgt . Wir müssen also sagen: Das ist
der Punkt, an dem ihr euch in der Behörde anmeldet, und
wir zeigen euch Wege zur Hilfe, Beratung und Unterstüt-
zung auf . – Das ist der Sinn der Anmeldung; es geht nicht
um eine Registrierung zum Zwecke der Demütigung und
Stigmatisierung .


(Beifall bei der SPD sowie der Abg . Karin Maag [CDU/CSU])


Der viel größere Teil dieses Gesetzes – über 70 Pro-
zent – befasst sich mit der Regulierung der Bordelle und
der Prostitutionsstätten . Wir legen endlich einmal fest,
dass nicht jeder – auf gut Deutsch – einen Puff aufma-
chen kann, sondern dass er vorstrafenfrei sein muss, also
keine relevanten Strafen begangen haben darf . Wir setzen
fest, dass das Bordell entsprechende Standards vorwei-
sen muss und dass auch die freiberuflich Beschäftigten
gewisse Regeln einzuhalten haben . Sie müssen allerdings
auch entsprechend geschützt werden .


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817302100

Herr Kollege Rix, ich bitte Sie, zum Schluss zu kom-

men .


Sönke Rix (SPD):
Rede ID: ID1817302200

Deswegen verdient das Gesetz auch den Namen, den

es bekommt .

Schönen Dank .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817302300

Der Kollege Paul Lehrieder hat für die CDU/

CSU-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1817302400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich
weiß nicht, was es zu bedeuten hat, dass sich die Medien-
wand rechts, auf der die Redner angezeigt werden, gera-
de während dieser Debatte mit einem roten Aufflackern,
mit einem Rotlicht, verabschiedet hat .


(Sönke Rix [SPD]: Jetzt ist es schwarz! – Bärbel Bas [SPD]: Ich sehe nur schwarz!)


Laut Schätzungen der EU-Kommission arbeiten in
Europa circa 200 000 Zwangsprostituierte . Die OSZE
spricht von jährlich 120 000 bis 500 000 Frauen, die als
Prostituierte aus Mittel- und Osteuropa in westeuropäi-
sche Länder kommen, ungefähr 27 Prozent davon sind
Kinder und Jugendliche . Menschenhändler verdienen
pro Jahr circa 150 Milliarden Dollar, so die Internatio-
nale Arbeitsorganisation, ILO . Daher liegt es in der Ver-
antwortung der Politik, den in der Prostitution tätigen
Menschen einen besseren Schutz zu gewähren, deren
Selbstbestimmungsrecht zu stärken und dieses Gewerbe
stärker zu kontrollieren .

Das derzeit noch geltende Prostitutionsgesetz, das
die damalige rot-grüne Regierung 2002 auf den Weg
gebracht hat, konnte die Erwartungen nicht erfüllen .
Frau Dörner, Sie haben völlig zu Recht darauf hingewie-
sen: Gut gemeint bedeutet nicht immer automatisch gut
gemacht . Deshalb hätte ich es begrüßt, wenn die Grü-
nen – Sie haben eine gewisse Verantwortung vor dem
Hintergrund dessen, was Sie vor 14 Jahren auf den Weg
gebracht haben – konstruktiv an der Verbesserung des
vorliegenden Gesetzentwurfs mitarbeiten würden .


(Abg . Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Frau Pau, Frau Dörner hätte eine Zwischenfrage . – Frau
Pau? Frau Dörner möchte mich etwas fragen .


(Heiterkeit)


Ich lasse die Frage zu .


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817302500

Gut, dann lassen Sie also eine Frage oder Bemerkung

zu . Wir waren gerade mit der Lösung technischer Pro-
bleme beschäftigt . Entschuldigung . – Bitte, Frau Dörner .


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1817302600

Vielen Dank, dass Sie so überschwänglich meine Fra-

ge zugelassen haben .


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1817302700

Ich habe darauf gewartet . – Halt! Meine Zeit läuft

noch .


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sönke Rix






(A) (C)



(B) (D)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817302800

Kollege Lehrieder, Sie kennen sich aus, aber die Zeit

ist längst angehalten .


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1817302900

Die Antwortzeit wurde offenbar schon in Ihre Rede-

zeit einkalkuliert .

Ich möchte Sie fragen, ob Sie zur Kenntnis genommen
haben, dass wir uns schon vor einem halben Jahr sehr
konstruktiv in diese Debatte eingebracht haben, indem
wir einen eigenen Vorschlag zu einem Gesetz zur Re-
gulierung von Prostitutionsstätten vorgelegt haben . Ich
habe in meinem Beitrag deutlich gemacht, dass wir über
Regulierungsmöglichkeiten für das Gewerbe sehr wohl
auch eigene Vorstellungen haben, die sich in Teilen mit
dem decken, was im vorliegenden Gesetzentwurf enthal-
ten ist, auch wenn wir in Bezug auf einige Details Kritik
üben .

Meine Frage lautet: Nehmen Sie zur Kenntnis, dass
wir uns, gerade was die Regulierung von Betriebsstät-
ten angeht, sehr konstruktiv eingebracht haben, dass sich
unsere Kritik darauf bezieht, dass Sie in der Prostitution
Tätige mit zusätzlichen Pflichten belegen wollen? Das ist
der Punkt, an dem wir Kritik üben, die übrigens, wenn
man die Stellungnahmen, die für die Anhörung am kom-
menden Montag eingegangen sind, liest, von der Breite
der Expertinnen und Experten aus unterschiedlichsten
Bereichen geteilt wird .


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1817303000

Frau Kollegin Dörner, Sie dürfen versichert sein, dass

ich als Ausschussvorsitzender Ihre Anträge und Vorlagen
sehr wohl kenne und zur Kenntnis nehme . Ich begrüße
ausdrücklich, dass Sie schon zu diesem frühen Zeitpunkt
mitgewirkt haben . Umso mehr hat es mich enttäuscht,
dass Sie vorhin in Ihrer Rede ausdrücklich gesagt ha-
ben – dabei ist die Anhörung erst am Montag –: Wir leh-
nen diesen Gesetzentwurf ab .


(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Habe ich nicht gesagt!)


Hören wir uns doch erst einmal an, was die Sachverstän-
digen am Montag sagen . Sie lehnen das Gesetz bereits
jetzt ab; das können wir im Protokoll nachlesen . – Blei-
ben Sie stehen, ich bin noch nicht fertig .

Wir werden am Montag in der Anhörung über die
Stellungnahmen der Sachverständigen diskutieren . Dar-
aus können wir dann Konsequenzen ziehen, Frau Dörner .
Es kann doch nicht darum gehen, reflexartig abzulehnen,
was die Große Koalition sinnvollerweise auf den Weg
bringt . Arbeiten Sie konstruktiv mit . Ich hoffe, dass Ih-
nen der Schutz gerade der jungen Frauen in diesem Ge-
werbe genauso am Herzen liegt wie uns von der SPD und
von der CDU/CSU .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Unterstellung!)


– Ich muss Ihnen das unterstellen .

Das 2002 verabschiedete Gesetz und die damit ver-
bundene Liberalisierung des Prostitutionsgewerbes hat
nicht nur zu einer massiven Ausweitung der Prostituti-
on, sondern auch zu einer zunehmenden Ausbeutung der
in der Prostitution Beschäftigten und zu einer massiven
Verschlechterung ihrer sozialen Lage geführt . Men-
schenunwürdige und ausbeuterische Geschäftsmodelle
sind entstanden, und Zwangsprostitution, Menschenhan-
del sowie die damit verbundene Begleitkriminalität ha-
ben massiv zugenommen und stellen mittlerweile einen
Kriminalitätsschwerpunkt in unserem Land dar .

Deutschland wurde zeitweise sogar als Bordell Euro-
pas bezeichnet; darauf wurde bereits hingewiesen . Die
derzeit noch geltenden Regelungen schützen schon seit
geraumer Zeit nicht mehr die in der Prostitution Täti-
gen . Kriminelle und zahlreiche Bordellbetreiber haben
die geltende Rechtslage ausgenutzt und hieraus Profit
geschlagen . Durch die fehlenden Kontrollmöglichkeiten
ist der Raum für Missbrauch und Ausbeutung geöffnet
worden .

Frau Dörner, genau deshalb müssen wir die Bordelle
überprüfen bzw . die Möglichkeit haben, dass die Polizei
in den Bordellen nach dem Rechten schauen kann . Nicht
mehr und nicht weniger wollen wir tun, und das völlig zu
Recht . Frau Ministerin Schwesig hat auf die Pommesbu-
de hingewiesen . Jedes andere Gewerbe in Deutschland
ist mehr Regulierungen unterworfen als der Betrieb eines
Bordells, und das kann es nicht sein .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, der CDU/
CSU-Fraktion ist es ein wichtiges Anliegen, ein Prosti-
tuiertenschutzgesetz auf den Weg zu bringen . Ich muss
ganz bewusst auf den Namen eingehen . Es heißt nicht
Prostitutionsschutzgesetz, sondern es ist ein Prostituier-
tenschutzgesetz, weil die Prostitution keines Schutzes
bedarf . Sie wird nicht zu Unrecht oft als ältestes Gewer-
be der Welt bezeichnet . Wir müssen die Frauen und auch
die Männer, die in der Prostitution tätig sind, schützen
vor ausbeuterischen Geschäftsmodellen, vor einer Aus-
nutzung ihrer persönlichen Lage . Genau dies bringt die-
ser Gesetzentwurf erstmalig richtig auf den Weg, meine
Damen und Herren .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich denke, dies ist uns mit dem jetzt vorliegenden Ge-
setzentwurf, den wir von Juli 2017 an sukzessive umset-
zen werden, gelungen .

Es wurde von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern
bereits darauf hingewiesen: Wir haben uns die Beratun-
gen nicht leicht gemacht . Wir sind von unterschiedlichen
Ausgangspunkten aus an dieses Gesetz herangegangen .
Es gibt in der Prostitution nicht die Prostituierte, es gibt
vielmehr ganz unterschiedliche Beweggründe, warum
Menschen der Prostitution nachgehen . Es gibt die selbst-
bewusste 22- bis 24-jährige Studentin, die sich etwas hin-
zuverdienen will, die mit diesem Gesetz sehr wohl wird
leben können . Es gibt aber auch sehr viele – man schätzt
75 bis 80 Prozent – junge, heranwachsende Mädchen,
die zum Teil der deutschen Sprache nicht mächtig sind






(A) (C)



(B) (D)


und aus dem osteuropäischen Ausland kommen . Dies
sind vulnerable Heranwachsende, die mit Loverboy-Me-
thoden nach Deutschland gelockt wurden . Sie wurden
zunächst für Putzjobs angeheuert und dann tatsächlich
in die Prostitution geschickt . Auch diese müssen wir im
Fokus haben, auch die müssen wir schützen .

Auch hier ist es natürlich wichtig, zu sagen: Ja, du
bekommst ein Beratungsangebot außerhalb des Milieus .
Deshalb die Gesundheitsberatung . Wir haben über den
Begriff „Gesundheitsuntersuchung“ diskutiert, aber wir
haben gesagt: Nein, wir machen eine Gesundheitsbera-
tung . Die Betroffenen müssen die Möglichkeit haben,
jedes halbe Jahr einen Kontakt außerhalb des Milieus
zu haben, um im Falle eines Übergriffs oder einer Ver-
letzung ihrer eigenen Rechte tatsächlich jemanden zu
haben, an den sie sich vertrauensvoll wenden können .
Deshalb erfolgt die Gesundheitsberatung natürlich ohne
den Zuhälter; denn es macht keinen Sinn, wenn die Be-
troffenen mit ihrer Begleitperson erscheinen, die entspre-
chend Druck ausübt . Sie wären dann nicht in der Lage,
ehrlich und offen zu sagen, was sie bedrückt bzw . wo die
Probleme liegen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . Petra Crone [SPD])


Wir hätten uns auch vorstellen können, das Mindestal-
ter für die Prostitution auf 21 Jahre heraufzusetzen, aber
das war hier im Gesetzgebungsverfahren nicht durch-
setzbar . Deshalb gibt es zumindest die Verdoppelung der
Anzahl der medizinischen Beratung; denn in vielen Be-
reichen unseres Rechtssystems sind die Heranwachsen-
den, die 18- bis 21-Jährigen, besonders geschützt, zum
Beispiel beim Betreten einer Spielhalle oder im straf-
rechtlichen Bereich . Es gilt, besonders diese Heranwach-
senden davor zu schützen, einen Fehler zu machen .

Es gibt eine Schweizer Expertise, die besagt: 97 bis
98 Prozent der in der Prostitution Tätigen leiden auch
nach Beendigung dieser Tätigkeit . Diese Tätigkeit zieht
man nicht mit der Kleidung aus . Man verletzt sich selbst:
psychisch und ein Stück weit auch physisch . Deshalb
müssen wir aufpassen, dass wir gerade die vulnerablen,
die verletzlichen jungen Frauen, aber auch die Männer
in dem Alter von 18 bis 21 Jahren besonders schützen .
Hoffentlich gelingt dies mit diesem Gesetz . Wir werden
darüber diskutieren . Wir hätten hier noch etwas weiterge-
hen wollen, das war aber nicht machbar .

Meine Damen und Herren, die umfassende Verände-
rung der Regulierung der Prostitution und der Prostitu-
tionsstätten in unserem Land durch ein neues Gesetz ist
längst überfällig . Durch ein neues Prostituiertenschutz-
gesetz wollen wir – in Abstimmung mit den strafrechtli-
chen Erfordernissen bei der Verfolgung von Zwangspro-
stitution und Menschenhandel – die Fremdbestimmung
in der Prostitution wirksam bekämpfen . Bereits im ge-
meinsamen Koalitionsvertrag hatten wir vereinbart,
Frauen besser vor Menschenhandel und Zwangsprosti-
tution zu schützen, Täter konsequenter zu bestrafen und
das Prostitutionsgesetz im Hinblick auf die Regulierung
der Prostitution sowie die gesetzliche Verbesserung der
ordnungsbehördlichen Kontrollmöglichkeiten umfas-
send zu überarbeiten .

Weil vorhin darauf hingewiesen wurde, möchte ich
noch zwei Sätze zur Anmeldung sagen . Die Anmeldung
ist erforderlich, weil uns die Kriminalpolizei sagt: Wir
können nur die schützen, die wir kennen . Die Person kann
auch mit einem Alibinamen registriert sein . Im Ausweis
kann auch „Domina 2000“ stehen, um die Identität dieser
Person auf der Straße zu verschleiern; aber sie muss bei
der Meldebehörde registriert sein, damit man weiß, wie
viele Prostituierte in welchem Alter wo tätig sind . Nur
dann kann man als Polizei nach dem Rechten schauen .

Dies wollen wir, wie schon gesagt, erstmalig ermögli-
chen . Es geht nicht um Gängelung, es geht nicht um Stig-
matisierung, es geht nicht um Bevormundung, sondern
es geht um den Schutz der Frauen . Allen Fraktionen in
diesem Hohen Haus würde es gut anstehen, konstruktiv
daran mitzuarbeiten .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817303100

Das Wort hat die Kollegin Karin Maag für die CDU/

CSU-Fraktion .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Karin Maag (CDU):
Rede ID: ID1817303200

Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Wir haben es gehört: Das Prostitutions-
gesetz von 2002 war gut gemeint – das gestehe ich zu –;
im Zuge der Osterweiterung der Europäischen Union hat
sich aber so viel verändert, da sind so viele Themen neu
hinzugekommen, dass es längst überfällig ist, ein neues
Prostitutionsschutzgesetz auf den Weg zu bringen .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Viel Zeit wurde vertan, in der nur darüber diskutiert
wurde, wer vermeintlich schutzbedürftig ist und wer tat-
sächlich schutzbedürftig ist . Liebe SPD, ja, es gibt sie,
die freien Sexarbeiterinnen, die zufriedenen, die sich in
Verbänden – zum Teil auch sehr kleinen Verbänden mit
nur etwa 34 Mitgliedern – organisieren . Man sieht sie im
Fernsehen in den Talkrunden . Sie waren auch in der An-
hörung vertreten .


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Absolute Minderzahl!)


Es gibt die selbstständigen Sexarbeiterinnen – auch ich
habe mit einer gesprochen –, die in Voll- oder Teilzeit
arbeiten . Das sind unter anderem Studentinnen, die sich
durch den Escortservice etwas hinzuverdienen wollen .
Das ist aber nicht das Berufsleitbild, wie man uns weis-
machen will .


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Genau!)


Wir in der Union haben auch die vielen Zwangsprosti-
tuierten bei ihrer täglichen Arbeit im Blick .

Die Würde des Menschen ist unantastbar .

Paul Lehrieder






(A) (C)



(B) (D)


So steht es im Grundgesetz . Das umfasst auch und vor al-
lem das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung . Trotzdem
wird in Deutschland jeden Tag diese Würde, insbesonde-
re die von Frauen, mit Füßen getreten .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Realität ist doch: Prostitution in Deutschland ist im We-
sentlichen Armutsprostitution . Wir reden von Frauen und
Mädchen in totaler Abhängigkeit .


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben überhaupt keine Zahlen dazu! Was reden Sie da?)


Der Anteil der ausländischen Frauen steigt zum Beispiel
in Stuttgart seit Jahren kontinuierlich an . Er liegt derzeit
bei 90 Prozent . Diese Frauen kommen aus Osteuropa,
aus Rumänien, aus Bulgarien, aus Ungarn . Der größte
Teil entstammt der Volksgruppe der Roma und den türki-
schen Minderheiten in Bulgarien und Rumänien . Ein Teil
kommt aus Afrika . Die Frauen sprechen kaum Deutsch,
können weder lesen noch schreiben . Viele sind sogar gar
nicht alleine hier . Sie bringen ihre Brüder, Ehemänner
und Väter mit . Es ist fürchterlich, aber manchmal sind
es auch die Mütter, die ihre Töchter zur Prostitution
nach Deutschland bringen . Die Prostituierte erwirtschaf-
tet dann nicht nur das Geld für die Familie zu Hause,
sondern auch den Unterhalt für die sie begleitenden Per-
sonen . Fürchterlich ist: Je besser diese Frauen „funktio-
nieren“, so will ich es bezeichnen, je versorgter die Fa-
milien zu Hause sind, umso größer ist der Anreiz für alle
anderen, ebenfalls ihre Töchter, Schwestern, Frauen zur
Prostitution nach Deutschland zu schicken .

Meine Damen und Herren, Realität sind auch soge-
nannte Gang-Bang-Partys, der Flatratesex: Prostituierte,
die morgens um 2 Uhr für 8 Euro Geschlechtsverkehr
anbieten müssen, der sie schmerzt, weil sie noch nicht
genügend verdient haben, um die 130 Euro pro Nacht für
ihr Zimmer zahlen zu können .

Realität sind die Großbordelle . 2012 wurde in der
Region Stuttgart, aus der ich komme, Flatratesex für
100 Euro angeboten . Dafür durfte man eine Frau belie-
big oft in Anspruch nehmen . Die Prostituierte erhielt pro
Kundenkontakt 5 Euro . Arbeitszeit: 14 Stunden täglich
an sechs Tagen in der Woche .

Um diese sich unfreiwillig prostituierenden Frauen
geht es uns in der Union . Die wollen wir schützen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . Sönke Rix [SPD])


Wenn Deutschland als Bordell Europas bezeichnet wird –
dieser Begriff ist heute mehrfach gefallen –,


(Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur von CDU und CSU!)


dann ist das ein erbärmliches Etikett . Das werden wir mit
diesem Gesetz beenden .

Frau Möhring, Sie haben vorhin den Internationalen
Hurentag erwähnt . Er erinnert an die Diskriminierung

von Prostituierten und deren oftmals ausbeuterische Ar-
beitsbedingungen .


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Genau! Diskriminierung! Ausbeutung!)


Ich glaube, wir sind auf gutem Wege, diese ausbeuteri-
schen Arbeitsbedingungen und diese Diskriminierung zu
beenden .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Maßnahmen dazu wurden dargestellt . Richtig ist:
Freiwillige Ausübung der Prostitution in Deutschland
durch Erwachsene und die entsprechende Nachfrage
bleiben in Deutschland zulässig, auch wenn ich persön-
lich sehr viel Verständnis für das schwedische Modell
habe, je länger ich mich mit Prostitution beschäftige .
Aber es wird künftig wenigstens eine persönliche An-
meldepflicht geben, die die bisher weitgehend unsichtba-
ren Frauen aus Osteuropa, die sogenannten importierten
Frauen, überhaupt erst sichtbar macht . Uns geht es vor
allem um die Gelegenheit zur persönlichen Kontaktauf-
nahme, um die Gelegenheit zur Beratung . Mit dieser per-
sönlichen Anmeldepflicht können die Frauen zum ersten
Mal über elementare Rechte in Deutschland aufgeklärt
und informiert werden .

Liebe Frau Schauws, ohne diese Anmeldung dürfen
die Frauen zum Beispiel im Bordell gar nicht arbeiten .
Das heißt, der Zuhälter hat sogar ein großes Interesse da-
ran, dass sie sich anmelden . Ich glaube nicht, dass sie
dadurch in irgendeiner Form in der Illegalität verschwin-
den .

Nächstes Thema . Prostituierte sind oft sehr junge
Menschen, die zwar auf dem Papier volljährig sind, aber
mit 18 bis 21 Jahren – ich will es einmal vorsichtig aus-
drücken – noch sehr beeinflussbar sind und vielleicht so-
gar – das sage ich in Anführungszeichen – formbar im
Sinne ihrer Zuhälter und der sogenannten Loverboys . Die
Polizei berichtet, dass diese Gruppe sehr junger Frauen
seit der EU-Osterweiterung deutlich zugenommen hat .
Sie brauchen unseren Schutz am allermeisten . Deswegen
ist es gut, dass wir für die unter 21-Jährigen mit der jähr-
lichen Anmeldung und einer Gesundheitsberatung alle
sechs Monate ein erhöhtes Schutzniveau eingeführt ha-
ben . Ich persönlich ärgere mich, dass wir das Verbot der
Prostitution mit Ihnen nicht erreichen konnten . Vielleicht
schaffen wir es noch in der Anhörung .


(Sönke Rix [SPD]: Was?)


Prostitution ist kein Beruf wie jeder andere . Die
Frauen und Männer sind erheblichen psychischen und
physischen Gefahren ausgesetzt . Lebensumstände und
Gesundheitsrisiken können sich schnell verändern . Ich
nenne den Suchtmittelmissbrauch . Ich nenne das Schutz-
verhalten bei sexuell übertragbaren Krankheiten . Durch
den wiederholten Kontakt mit der Anmeldebehörde, mit
der Beratungsstelle kann sich durchaus eine Vertrauens-
beziehung entwickeln .


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann denn? Im Viertelstundentakt?)


Sie ist Voraussetzung dafür, dass Gewalt, Drogenkonsum
und Zwang überhaupt angesprochen werden können .

Karin Maag






(A) (C)



(B) (D)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817303300

Kollegin Maag, die anderen Punkte müssen Sie bitte

in die Anhörung verschieben; denn Sie müssen jetzt zum
Schluss kommen .


Karin Maag (CDU):
Rede ID: ID1817303400

Ich komme zum Schluss . – Ich bin der Überzeugung,

dass wir mit dem Prostituiertenschutzgesetz, mit der Um-
setzung der Richtlinie zur Verhütung und Bekämpfung
des Menschenhandels, über die wir im Anschluss disku-
tieren, und mit den geplanten Änderungen im Strafrecht
zum Schutz des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung
nochmals sehr viel für die Frauen in Deutschland errei-
chen . Darauf bin ich als Unionsmitglied stolz . Wir blei-
ben dran .

Danke schön .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817303500

Ich schließe die Aussprache .

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/8556 und 16/4146 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall . Dann
sind die Überweisungen so beschlossen .

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Richtlinie 2011/36/EU des Europäi-
schen Parlaments und des Rates vom 5. April
2011 zur Verhütung und Bekämpfung des
Menschenhandels und zum Schutz seiner Op-
fer sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlus-
ses 2002/629/JI des Rates

Drucksache 18/4613
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .

Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Christian Lange .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


C
Christian Lange (SPD):
Rede ID: ID1817303600


Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die erste Lesung des Gesetzentwurfes der Bun-
desregierung hat sich geraume Zeit verzögert . Sowohl
der Regierung als auch den Koalitionsfraktionen war es
nämlich ein Anliegen, im Rahmen dieses Gesetzgebungs-
verfahrens dem gesetzgeberischen Handlungsbedarf zur

Bekämpfung des Menschenhandels besser Rechnung zu
tragen . Denn schon der Koalitionsvertrag enthält Vorga-
ben für eine umfassende Neuregelung der Strafvorschrif-
ten zum Menschenhandel . Insbesondere soll die überra-
gende Bedeutung der Opferaussage darüber, ob es zur
Ausbeutung gebracht worden ist, abgemildert werden,
und die Ausbeutung der Arbeitskraft soll stärker in den
Mittelpunkt gerückt werden .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Es liegt nunmehr ein Änderungsantrag der Koalitions-
fraktionen vor, mit dem diesem weiter gehenden gesetz-
geberischen Handlungsbedarf entsprochen werden soll .
Ich möchte mich bei den Koalitionsfraktionen für die
intensiven Fachgespräche ausdrücklich bedanken . Ich
habe es mittlerweile aufgegeben, zu zählen, wie viele es
waren; aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir
haben es geschafft . Das ist die gute Botschaft des heuti-
gen Tages .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Dieser Änderungsantrag enthält einen Vorschlag zur
Neufassung der strafrechtlichen Vorschriften zum Men-
schenhandel . Ergänzend schlägt er neue Straftatbestän-
de der Ausbeutung der Arbeitskraft und der Ausbeutung
unter Ausnutzung einer Freiheitsberaubung sowie eine
Regelung zur Strafbarkeit von Kunden sexueller Dienst-
leistungen von Menschenhandelsopfern oder Zwangs-
prostituierten vor . Die bisherigen Vorschriften der §§ 232
und 233 Strafgesetzbuch bleiben als Zwangsprostitution
und Zwangsarbeit zur Vermeidung von Strafbarkeitslü-
cken im Wesentlichen unverändert . Diese Vorschläge
entsprechen auch einer Formulierungshilfe unseres Hau-
ses, die das Kabinett im April dieses Jahres beschlossen
hat .

Der Aufbau der neu gefassten §§ 232 ff . Strafgesetz-
buch folgt der zeitlichen Reihenfolge strafbarer Handlun-
gen in diesem Deliktsbereich, nämlich: Menschenhandel
als der Prozess von der Anwerbung des Opfers bis zu
dessen Ankunft am Bestimmungsort der Ausbeutung, das
Veranlassen des Opfers zur Aufnahme ausbeuterischer
Tätigkeiten – seien es Prostitution, Arbeitsausbeutung
oder sonstige Formen der Ausbeutung – und schließlich
die Ausbeutung des Opfers selbst .

Meine Damen und Herren, wie sehen nun die prakti-
schen Folgen dieser neuen Tatbestände aus? Stellen wir
uns einen Menschen vor, der aus dem Ausland gekom-
men ist, nur unzureichende Sprachkenntnisse und nur
vage Kenntnisse der hiesigen Lebens- und Arbeitsbe-
dingungen hat, wegen fehlender Aufenthaltspapiere aber
Angst hat – Angst vor der Polizei und Angst vor Behör-
den – und nun auf einen Landsmann trifft . Dieser betreibt
eine Gaststätte, und er bittet ihn, ihn bei sich arbeiten zu
lassen . Dieser lässt ihn in der Küche unentgeltlich an
sieben Tagen in der Woche je zwölf Stunden arbeiten .
Veranlasst, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat er diesen
Entschluss nicht . Ausgebeutet hat er das Opfer aber sehr
wohl und dabei dessen Zwangslage und Hilflosigkeit in
einem ihm fremden Land ausgenutzt . In Zukunft wird






(A) (C)



(B) (D)


dies nach dem neuen § 233 Strafgesetzbuch – Ausbeu-
tung der Arbeitskraft – strafbar sein . Das ist überfällig .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Stellen wir uns weiter vor, das Opfer aus dem vor-
herigen Beispiel erkennt, dass ihm dieses Leben keine
Perspektive bietet, und er möchte in sein Heimatland zu-
rückkehren . Sein Arbeitgeber möchte aber auf diese billi-
ge und auch praktische Arbeitskraft jetzt nicht mehr ver-
zichten . Er sperrt sein Opfer deshalb ein und überwacht
es während der Arbeitszeit . Dann macht sich dieser nach
dem neuen § 233a Strafgesetzbuch der Ausbeutung unter
Ausnutzung einer Freiheitsberaubung strafbar . Auch das
ist überfällig .

Stellen wir uns schließlich ein entsprechendes Aus-
beutungsverhältnis in der Prostitution vor, in dem eine
Prostituierte an sieben Tagen die Woche vom frühen
Abend bis in die späte Nacht in einem Bordell der Pro-
stitution nachgehen und den überwiegenden Teil ihrer
Einkünfte abgeben muss . Damit sie sich dieser Situation
nicht entzieht, darf sie den täglichen Weg von der Unter-
kunft bis zum Bordell nur begleitet zurücklegen; in der
übrigen Zeit wird sie eingeschlossen . Wir haben uns in
unseren Gesprächen und Anhörungen viele solcher Fäl-
le schildern lassen . Auch in diesen Fällen ist der neue
§ 233a Strafgesetzbuch anwendbar . Das ist gut und rich-
tig so . Hier schließt sich der Kreis zum Prostituierten-
schutzgesetz bzw . zu der Debatte von soeben über den
Gesetzentwurf von Bundesministerin Schwesig .

Es ist richtig, dass wir endlich der Zwangsprostitution
zu Leibe rücken . Das tun wir mit dieser neuen Regelung,
meine Damen und Herren .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wir haben nämlich im Koalitionsvertrag vereinbart – ich
will das hier ausdrücklich noch einmal zitieren –:

Wir werden nicht nur gegen die Menschenhändler,
sondern auch gegen diejenigen, die wissentlich und
willentlich die Zwangslage der Opfer von Men-
schenhandel und Zwangsprostitution ausnutzen und
diese zu sexuellen Handlungen missbrauchen, vor-
gehen .

Dies haben wir nun umgesetzt . Das ist gut für den Kampf
gegen Menschenhandel und den Kampf gegen Zwangs-
prostitution .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, ich hoffe, dass wir dieses
Gesetzgebungsverfahren nunmehr zeitnah abschließen
können . Das sage ich nicht nur im Hinblick auf die Frist
zur Umsetzung der EU-Richtlinie und das Vertragsver-
letzungsverfahren der EU-Kommission . Ich meine, dass
wir eine umfassende, durchdachte Gesamtlösung für ei-
nen Regelungsbereich gefunden haben, den der Gesetz-
geber – auch das gehört zur Wahrheit – in der Vergangen-
heit etwas vernachlässigt hat .

Deshalb bitte ich um konstruktive Beratungen und
schließlich um Ihre Zustimmung .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817303700

Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion

Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817303800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für die

Linke ist völlig klar: Menschenhandel ist ein schweres
Verbrechen . Er gehört bekämpft . Alle Maßnahmen, die
dazu führen, dass er bekämpft werden kann, wird die
Linke unterstützen .


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg . Dr . Matthias Bartke [SPD])


Aber ich sage auch: Bedauerlicherweise geht der Ge-
setzentwurf bei weitem nicht weit genug; denn die Opfer
werden so gut wie gar nicht berücksichtigt . Uns ist min-
destens genauso wichtig, dass in diesem Land die Opfer
geschützt werden .


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, vor wenigen Tagen hat
eine australische Stiftung den sogenannten Sklaverei-In-
dex veröffentlicht . Demzufolge gibt es in Deutschland
14 500 Menschen, die als Opfer von Menschenhandel in
sklavereiähnlichen Verhältnissen leben . Die Dunkelziffer
dürfte weit höher liegen .

Die meisten von ihnen sind in der Tat junge Frauen .
Ihnen werden Versprechungen gemacht . Sie werden hier-
hergelockt, indem sie glauben gemacht werden, dass sie
gutbezahlte Arbeit bekommen . Aber kaum sind sie hier,
nehmen ihre Peiniger ihnen ihre Pässe ab, damit sie sie
finanziell ausbeuten können. Das sind häufig Schleuser,
aber auch Zuhälter .

Tatorte können Großbordelle, aber auch Privathaus-
halte, Baustellen oder sonstige Betriebe sein . Menschen
werden regelrecht eingekauft und danach ausgebeutet,
etwa als Zwangsprostituierte, Haushaltshilfen, Pflege-
kräfte oder Handwerker .

Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregie-
rung hat vor Kurzem darauf hingewiesen, dass an der
deutsch-tschechischen Grenze Babys von Prostituierten
zum Zweck ihrer späteren sexuellen Ausbeutung ver-
kauft werden . Rund 4 000 Euro ist ein Menschenleben
dort wert . Es ist doch ein unglaublicher Skandal, dass so
etwas mitten in Europa stattfinden kann.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg . Dr . Silke Launert [CDU/CSU])


Meine Damen und Herren, gegenwärtig besteht die
Gefahr, dass zunehmend Flüchtlinge in die Fänge von
Menschenhändlern geraten . Vor allem unbegleitete Kin-
der und Jugendliche laufen Gefahr, von Verbrechern zum

Parl. Staatssekretär Christian Lange






(A) (C)



(B) (D)


Drogenhandel oder zur Prostitution gezwungen zu wer-
den .

Diese Menschen befinden sich in einer schier auswe-
glosen Lage, aus der sie sich oft alleine nicht befreien
können . Selbst wenn sie eine Fluchtmöglichkeit hätten,
müssten sie damit rechnen, dass ihre Familien zu Hause
bedroht werden . Sie können auch nicht einfach zur Poli-
zei gehen, weil sie oftmals keinen Aufenthaltstitel haben
und fürchten müssen, selbst bestraft oder abgeschoben
zu werden .

Wir dürfen nicht hinnehmen, dass es so etwas wie
Sklaverei und Menschenhandel in unserem Land gibt .
Deshalb sind wir moralisch und politisch verpflichtet,
diesem Unrecht entgegenzutreten .

Die Bundesregierung zeigt dazu leider nur wenig
Bereitschaft . Die Europäische Union hat schon vor Jah-
ren eine Richtlinie zur Bekämpfung des Menschenhan-
dels erlassen . Die Frist zur Umsetzung ist bereits im
April 2013 abgelaufen .

Das, was die Regierung jetzt vorlegt, ist wirklich eine
peinliche Schmalspurlösung . Der Gesetzentwurf be-
schränkt sich auf strafrechtliche Aspekte und lässt den
Schutz von Opfern völlig außen vor . Menschenhändlern
werden darin höhere Strafen – zwischen sechs Monaten
und zehn Jahren – angedroht . Neue Straftatbestände wie
erzwungene Bettelei und die zwangsweise Organentnah-
me werden im Gesetzentwurf benannt . Außerdem soll
der Kreis von Zwangsprostituierten erweitert werden:
Minderjährige zwischen 14 und 18 Jahren sollen dazu-
gehören . All diese Verschärfungen tragen wir mit, weil
es richtig ist, hier mit harten Strafen zu drohen . Der Ge-
setzentwurf greift aber zu kurz . Als Beispiel nenne ich
die Vorschläge des Koordinierungskreises gegen Men-
schenhandel . Danach sollen der Missbrauch von Macht
oder auch List und Täuschung in den Straftatbestand
aufgenommen werden. Nichts davon finden wir im Ge-
setzentwurf .

Meine Damen und Herren, überhaupt kein Verständ-
nis haben wir dafür, dass der Gesetzentwurf den wich-
tigsten Punkt der EU-Richtlinie völlig ignoriert, nämlich
den Schutz und die Unterstützung der Opfer von Men-
schenhandel . Die meisten Betroffenen arbeiten weit über
zehn Stunden am Tag und verdienen dabei so gut wie gar
nichts . Sie arbeiten faktisch ohne Rechte . Sie haben kei-
ne Perspektive . Vor allen Dingen kommen sie aus diesem
Elend nicht heraus, weil sie ständig unter dem Druck
von irgendwelchen Zuhältern oder Schleusern stehen .
Deswegen verdienen sie unsere Solidarität, nicht nur mit
Worten, sondern vor allen Dingen auch mit Taten . Das
muss sich im Gesetzentwurf niederschlagen, meine Da-
men und Herren .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In der EU-Richtlinie wird eindeutig gefordert, den
Menschen, denen Gewalt angetan wird, die verschleppt,
ausgebeutet und ausgenutzt werden, weitreichende Un-
terstützung zukommen zu lassen . Es geht um den Aufbau
von Beratungsstrukturen, um kostenlose Rechtshilfe, um
Unterstützung bei medizinischer und psychologischer

Betreuung, bei der Unterbringung und bei der Sicher-
stellung ihres Lebensunterhalts . Insbesondere wird in
der Richtlinie der Schutz von Kindern gefordert, die dem
Menschenhandel unterworfen sind. Aber auch davon fin-
det sich nichts in Ihrem Gesetzentwurf . Der Schutz der
Opfer wird von der Bundesregierung einfach hintange-
stellt und auf den Sankt-Nimmerleins-Tag mit der Be-
gründung verschoben: Irgendwann werden wir dazu et-
was machen . – Das ist wirklich nicht hinnehmbar, meine
Damen und Herren .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Für uns ist das ein ganz klares Versagen; hier werden
wir unserer politischen und humanitären Verantwortung
nicht gerecht .

Die Linke hat in den letzten Jahren in zahlreichen An-
trägen und interfraktionellen Gesprächen immer wieder
eingebracht, dass zu den überfälligen Verbesserungen
beim Opferschutz die Gewährung eines Bleiberechts ge-
hört, und zwar unabhängig von der Aussagebereitschaft
in einem Strafverfahren . Erst dann haben die betroffenen
Menschen überhaupt die Möglichkeit, sich aus der Ab-
hängigkeit zu befreien und sich ihren Peinigern öffent-
lich und juristisch entgegenzustellen .

Bislang hängt das Bleiberecht jedoch in aller Regel
davon ab, ob die Betroffenen bei der Polizei oder vor Ge-
richt eine Aussage machen . Viele Opfer schweigen aber,
weil sie Angst haben, dass sie selber oder ihre Famili-
en bedroht werden oder sogar Gewalt erleiden . Es kann
also nicht sein, dass wir diese Menschen einfach in ihre
Herkunftsländer zurückschicken, wo sie erneut ins Visier
dieser Menschenhändler geraten . Es gibt diverse Beispie-
le, dass Frauen, die abgeschoben wurden, immer wieder
in Deutschland aufgetaucht sind . Die Linke fordert des-
wegen: Opfer von Menschenhandel und moderner Skla-
verei müssen in Deutschland bleiben dürfen, ohne Wenn
und Aber .


(Beifall bei der LINKEN)


Der Schutz der Menschenrechte muss gewährleistet wer-
den .

Meine Damen und Herren, ich kann nur hoffen, dass
dieser Gesetzentwurf in den Beratungen in den Aus-
schüssen verbessert wird; denn ohne Opferschutz können
wir ihm wirklich nicht zustimmen .

Ich danke Ihnen .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817303900

Nächste Rednerin ist die Kollegin Elisabeth

Winkelmeier-Becker .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU):
Rede ID: ID1817304000

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Es geht in der heutigen Debatte um Menschenhan-
del und Ausbeutung . Es geht um Menschen, die als Ware

Ulla Jelpke






(A) (C)



(B) (D)


gehandelt und aufgrund einer Notlage oder von Hilfslo-
sigkeit skrupellos ausgebeutet werden . Damit wird nicht
nur ihre Menschenwürde verletzt; sie werden auch um
ihre Lebenschancen – die Chance auf ein selbstbestimm-
tes Leben und ein gerechtes Einkommen – gebracht . Das
sind ganz schlimme Verbrechen .

Wer einen Beweis für die Aktualität unserer heutigen
Debatte braucht, der braucht nur einen Blick in die aktu-
elle Presse zu werfen . Bild berichtete am Dienstag über
bettelnde Kinder in Berlin, die mit ihren Müttern oder an-
deren Erwachsenen beim Betteln ausharren müssen, um
Mitleid zu erregen und dabei auch ganz gezielt Touristen
anzusprechen .

Das Bundeskriminalamt schreibt in seinem Lagebe-
richt, dass aufgrund von Erfahrungen in anderen Ländern
davon auszugehen ist, dass auch in unseren Großstädten
Strukturen organisierter Bettelei bestehen . Um das zu
wissen, muss man aber nicht den BKA-Bericht lesen:
Das zeigt sich auch auf unseren Straßen .

Der Express berichtet am 25 . Mai über den Arbeiter-
strich in Köln, auf dem sich Arbeiter als Tagelöhner ver-
dingen, zu einem Stundenlohn, der deutlich unter dem
Mindestlohn liegt . Sie haben keine andere Wahl . Das
nutzen ihre Arbeitgeber aus .

Die Welt schrieb über die Razzia im größten Bordell
Berlins, in dem laut Polizeibericht die Prostituierten ohne
eigene Entscheidungsgewalt arbeiten . Die Südwest Pres-
se schrieb am 25 . Mai aus dem Blick einer Aussteigerin
aus der Prostitution Folgendes:

Zehn Freier am Tag, fünf Jahre lang – danach war
Vivian … fertig . Als sie mit dem Entschluss zum
Ausstieg in der Stuttgarter Beratungsstelle Café La
Strada stand, hatte sie ein paar Klamotten und eine
Handtasche dabei, aber keinen einzigen Euro . Ihr
Traum vom großen Geld, mit dem Bekannte sie im
Alter von 19 Jahren von Rumänien nach Deutsch-
land gelockt hatten, wurde im Stuttgarter Leon-
hardsviertel zum Alptraum .

Meine Damen und Herren, das sind keine Einzelfäl-
le, sondern Beispiele für viele Schicksale in Europa, wo
Menschen als Ware gehandelt und durch organisierte
Bettelei, Arbeitsausbeutung und Zwangsprostitution aus-
gebeutet werden . Etwas viel Schlimmeres kann es nicht
geben .

Es gibt naturgemäß keine exakten Zahlen . Die im
Raum stehende Zahl von 400 000 Prostituierten ist viel-
leicht etwas zu hoch, aber sechsstellig ist sie mit Sicher-
heit . Wir haben Zigtausende ausgebeutete Arbeiter . Wir
sind Durchgangs- und vor allem Zielland von Menschen-
handel, bei uns vor allem mit dem Schwerpunkt Prosti-
tution . Wir haben auch im Ausland einen sehr schlechten
Ruf . Das hat seinen Grund . Wir sind für Menschenhänd-
ler besonders lukrativ, bei geschätzt 1 Million Freiern pro
Tag und einem Umsatz von 14 Milliarden Euro im Jahr
mit dem liberalsten Gesetz, das man sich vorstellen kann,
mit der geringsten Kontrolldichte und umgeben von Län-
dern, in denen das alles viel restriktiver ist . Das merken
vor allem die Regionen an den Grenzen zu Frankreich

oder zu den nordischen Ländern . Überall dort zeigt sich,
dass wir für Menschenhändler besonders lukrativ sind .

Diese Zahlen sind schon schlimm genug . Aber vergli-
chen mit den tatsächlichen Opferzahlen zeigt sich vor al-
lem eins: Die Verfolgung und Verurteilung der Täter sind
völlig unzureichend . Man kann auch sagen: Der Staat
versagt in seiner Aufgabe, die Opfer zu schützen und die
Täter zu verurteilen . Er lässt die Opfer im Stich . Dabei
dürfen wir es nicht bewenden lassen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Über einen Punkt haben wir heute Morgen schon ge-
sprochen: das ungeregelte Prostitutionswesen, dem wir
jetzt ein Prostituiertenschutzgesetz entgegensetzen . Der
BKA-Bericht nennt dafür eine weitere Ursache . Darin
heißt es:

Vielmehr ist zu vermuten, dass Probleme im Be-
reich der Verfahrensführung in Verbindung mit dem
in der Praxis schwierig anzuwendenden Straftatbe-
stand für diese niedrigen Zahlen ursächlich sind und
daher auf einfacher anzuwendende Straftatbestände
ausgewichen wird .

Das heißt, dass wir dringend eine konsequente Be-
kämpfung des Menschenhandels und dafür auch Än-
derungen im Strafgesetz brauchen . Deshalb setzen wir
nicht nur die Richtlinie zur Verhütung und Bekämpfung
des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer um .
Schon dazu müssen wir die Tatbestände des Menschen-
handels zum Zwecke der Ausnutzung durch Bettelei,
durch strafbare Handlungen und zum Zweck der Organ-
entnahme neu unter Strafe stellen .

Wir gehen darüber hinaus weiter und überarbeiten
außerdem die einschlägigen Strafvorschriften zum Men-
schenhandel, um die Täter besser belangen zu können .

Es wird in Zukunft klarer definiert, was Ausbeutung
bedeutet . Dieses Merkmal ist von der Rechtsprechung
sehr eng ausgelegt worden . Hier regeln wir ausdrücklich,
dass der Prostituierten wenigstens der überwiegende Teil
der Einnahmen verbleibt . Es darf nicht alles auf angebli-
che Kosten für Reise, für Kleidung, für Essen, für über-
teuertes Wohnen in Rechnung gestellt werden, sodass am
Ende kaum etwas übrig bleibt . Außerdem gehen wir an
die subjektiven Voraussetzungen . Bisher war nachzuwei-
sen, dass das Opfer zur Prostitution durch den Täter be-
stimmt wurde . Das ist im Sinne einer Conditio sine qua
non zu verstehen . Oft wird dem Opfer aber erfolgreich
eingeredet: Wenn du mit der Polizei sprichst, dann sagst
du, dass du das hier alles freiwillig machst . – Das ist
nicht immer glaubwürdig, aber zumeist ist es jedenfalls
nicht möglich, das Gericht vom Gegenteil zu überzeu-
gen . Deshalb heißt es in Zukunft: wer veranlasst . Das
bedeutet dann nur eine Mitursächlichkeit, die leichter zu
beweisen ist .

Ganz wichtig: Wir werden in Zukunft die Freier aus-
drücklich in die Verantwortung nehmen . Denn solche
Erfahrungsberichte, wie eingangs geschildert, gibt es
zuhauf . Fangen Sie bei SOLWODI an, gucken Sie Do-
kumentationen im Fernsehen – davon war vorhin auch
schon die Rede –, fragen Sie die Sachverständige Sabine
Constabel, die in der nächsten Woche auch in der Sach-

Elisabeth Winkelmeier-Becker






(A) (C)



(B) (D)


verständigenanhörung dabei sein wird . Das, was dort
geschildert wird, ist Realität und nicht nur Kulisse für
gelegentliche Tatort-Zweiteiler . Und es wäre eigentlich
auch Grund genug, die Prostitution gänzlich zu verbie-
ten – für die Freier, nicht für die Prostituierten –, sie unter
Strafe zu stellen, wie es Schweden und neuerdings auch
Frankreich tun .

Es gibt durchaus auch Gegenargumente; das will ich
nicht in Abrede stellen . Vor allem gibt es, nachdem Rot-
Grün in 2002 das Prostitutionsgesetz verabschiedet hat,
keine Mehrheit in der Koalition für ein Verbot . Deshalb
halten wir am Konzept der legalen Prostitution fest,
auch wenn mir die Begründung, die in Schweden und in
Frankreich für ein komplettes Verbot genannt wird, sehr
gut gefällt . Dort wird nämlich die Sache beim Namen
genannt . Es wird gesagt, dass Prostitution Gewalt gegen
Frauen ist und dass sie mit dem Grundsatz der Gleichheit
von Mann und Frau und mit der Menschenwürde unver-
einbar ist .

Wir werden hier, wie im Koalitionsvertrag vereinbart,
ein anderes Konzept weiterverfolgen, das gerade auch in
den Niederlanden eingeführt worden ist . Wir wollen, dass
die Freier nicht generell, sondern nur dann unter Strafe
gestellt werden, wenn sie erkennen, dass die Prostituier-
te nicht selbstständig tätig ist, sondern dass es sich um
Zwangsprostitution handelt . Dafür gibt es klar erkenn-
bare Anzeichen: wenn zum Beispiel keine Sprachkom-
petenz da ist, wenn Spuren von Gewalt da sind, wenn
sich die ganze Abwicklung nicht mit der Frau vollzieht,
sondern über ihren Zuhälter abläuft . Da müssen wir die
Freier in die Verantwortung nehmen . Der Freier muss ein
eigenes Risiko tragen . Der Gedanke: „Ich bezahle doch,
alles andere geht mich nichts an“, darf da nicht mehr wei-
terhelfen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Für den Freier, der sich dann eines Besseren besinnt
und dazu beiträgt, dass Dinge aufgeklärt werden, wollen
wir eine goldene Brücke bauen . Er hat die Möglichkeit,
zur Straffreiheit zu kommen . Das ist, denke ich, wichtig .
Dann ist uns der Strafanspruch nicht so wichtig wie die
Verhinderung weiterer Straftaten .

Wir müssen außerdem bei den Gewinnen ansetzen .
Denn es geht letztlich ums Geld . Wenn wir dieses Geld
besser abschöpfen können, ist das Geschäftsmodell ge-
stört, dann ist der Anreiz weg . Das trifft die Hintermän-
ner am besten .

Ich muss sagen: Der Entwurf ist gut, aber noch nicht
perfekt . Wir hätten uns dringend gewünscht, dass auch
die §§ 180a und 181a des Strafgesetzbuches miteinbe-
zogen worden wären . Wir haben hier aus meiner Sicht
eine Unwucht im Vergleich zu der sicherlich wichtigen
und richtigen Verschärfung der Strafbarkeit bei der Ar-
beitsausbeutung. Hier haben wir weitere Qualifikati-
onen . Wenn die Tat mit einer schweren Misshandlung
oder Todesgefahr verbunden ist oder wenn das Opfer in
materielle Not gerät, dann haben wir hier ganz andere
Strafrahmen, als es bei der Zwangsprostitution, bei der
Ausnutzung durch Prostitution der Fall ist . Ich muss sa-
gen: Das ist eine Unwucht .

Beide Formen der Ausbeutung bedeuten sicherlich
schwere Schicksale, sowohl die Ausbeutung der Arbeits-
kraft als auch die Ausbeutung durch Zwangsprostitution .
Aber aus meiner Sicht macht es noch immer einen Un-
terschied, ob man zur Arbeit am Bau oder zur saisonalen
Erntearbeit auf einem Bauernhof eingesetzt wird oder ob
man jeden Tag zehn Freier zufriedenstellen muss . Letzte-
res ist deutlich übergriffiger und verletzt die Menschen-
würde . Das Verhältnis in der Strafbarkeit dieser Ausbeu-
tungsformen ist nach meiner Meinung noch nicht richtig
ausgewogen .


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817304100

Frau Kollegin .


Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU):
Rede ID: ID1817304200

Noch ein Wort . – Ich vermisse bei den Redebeiträgen

der Oppositionsfraktionen


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich hab doch noch gar nicht geredet!)


vor allem die Frage, wer eigentlich von dem Ganzen pro-
fitiert. Angeblich prostituieren sich die meisten Frauen
freiwillig . Seltsamerweise sind viele Frauen später thera-
piebedürftig, und so gut wie keine der Frauen hat in ma-
terieller Hinsicht etwas auf die Seite legen können . Für
alle Frauen verschlechtert sich die ohnehin prekäre Aus-
gangssituation durch jahrelange Arbeit in der Zwangs-
prostitution erheblich. Wer hier verdient und profitiert,
sind die Freier, die sich für wenig Geld tabulosen Sex
einkaufen, den sie in einer anstrengenden Beziehung mit
einer ernstzunehmenden Partnerin nicht bekommen . Die
finanziellen Einnahmen ziehen die Hintermänner ab. Da-
für müssten uns allen doch Frauen zu schade sein . Des-
halb lassen Sie uns gemeinsam den Opfern helfen .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817304300

Das Wort erhält nun die Kollegin Katja Keul für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .


Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1817304400

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich will mit dem Positiven anfangen . Die
Überarbeitung der §§ 232 ff . Strafgesetzbuch ist in der
Tat überfällig, da die einschlägige EU-Richtlinie zur Ver-
hütung und Bekämpfung von Menschenhandel bereits im
April 2013 hätte umgesetzt werden müssen . Deutschland
ist das einzige Land von 27 Ländern, das die Richtlinie
bislang nicht umgesetzt hat . Es besteht also Handlungs-
bedarf . Soweit sind wir uns einig . Einig sind wir uns
auch, dass der Gesetzentwurf vom 15 . April 2015 diesen
Zweck nicht erfüllt . Damit sollte lediglich § 233 – der
sogenannte Menschenhandel zum Zweck der Ausbeu-
tung der Arbeitskraft – ergänzt werden um die Bettelei,
die Begehung von Straftaten und die Organentnahme .
Diese Ergänzung geht die eigentlichen Defizite der be-
stehenden Tatbestände allerdings überhaupt nicht an . An

Elisabeth Winkelmeier-Becker






(A) (C)



(B) (D)


dieser Stelle möchte ich die Bemerkung machen, Herr
Lange, dass dieser Gesetzentwurf, an dem wir alle nicht
mehr festhalten wollen, das Einzige ist, was heute formal
Gegenstand dieser Debatte sein kann, weil nur er einge-
bracht ist .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der angekündigte Änderungsantrag der Koalitionsfrak-
tionen, auf dessen Basis wir nun diskutieren, ist formal
noch nicht in den Bundestag eingebracht .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zurück zum Inhalt . Menschenhandel im Sinne der
EU-Richtlinie ist nicht nur die Ausbeutung, sondern es
sind auch die Nachschub- und die Logistikebene . Hier
besteht im deutschen Recht eine Lücke, die wir schließen
wollen . In den §§ 232 und 233 StGB wird Menschen-
handel bislang fälschlicherweise gleichgesetzt mit sexu-
eller Ausbeutung bzw . mit Ausbeutung der Arbeitskraft .
Erst in § 232a geht es dann am Rande um Anwerben,
Befördern, Weitergeben und Beherbergen . Es ist insofern
konsequent, dass Sie nun in Ihrem angekündigten Ände-
rungsantrag die Nachschubebene mit dem neuen § 232
zum Grundtatbestand machen und darin auch alle Arten
der Ausbeutung erfassen, sowohl die Prostitution als
auch sonstige Beschäftigung . Absatz 1 enthält außerdem
eine Legaldefinition von Ausbeutung. Danach kommt es
künftig auf das auffällige Missverhältnis der Arbeitsbe-
dingungen und das Gewinnstreben des Täters an . Das
ist sicherlich hilfreich . Unklar bleibt aber, warum dieses
Gewinnstreben zusätzlich rücksichtslos sein muss, wenn
schon das objektive Missverhältnis der Arbeitsbedingun-
gen feststeht . Diese zusätzliche Einengung scheint mir
überflüssig zu sein. Insgesamt ist der neue Grundtatbe-
stand des § 232 trotz einigem Änderungsbedarf zumin-
dest eine geeignete Diskussionsgrundlage . Aber danach
wird es chaotisch .

Nachdem § 232 den eigentlichen Menschenhandel un-
ter Strafe stellt, regelt § 232a das Veranlassen zur Pros-
titution und § 232b das Veranlassen zur ausbeuterischen
Beschäftigung . Sie nennen die Tatbestände in diesen
Vorschriften Zwangsprostitution und Zwangsarbeit . Da-
bei soll es aber laut Begründung vielmehr um die Beein-
flussung des Willens gehen. Sogar eine einfache Auffor-
derung zu ausbeuterischer Tätigkeit soll schon genügen .
Damit erfassen Sie auch Jugendliche, Nachbarn oder
Freunde . Das geht zu weit und muss in geeigneter Form
begrenzt werden .

Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, ob der
Begriff „veranlassen“ jetzt irgendetwas anderes bedeu-
tet als „jemanden dazu bringen“, wie es bisher im Ge-
setz stand . Die Ermittlungsbehörden hatten immer die
Beweisbarkeit dieses Tatbestandsmerkmals als schwer
überwindbare Hürde kritisiert . Ich sehe aber nicht, wo
der Unterschied zwischen „jemanden veranlassen“ und
„jemanden dazu bringen“ liegen soll . Im Übrigen wie-
derholen §§ 232a und b sämtliche Voraussetzungen und
Varianten, die schon in § 232 genannt sind . Das ist nicht
nur unübersichtlich, sondern widerspricht auch dem
Grundsatz der Rechtsklarheit .

Mit dem Tatbestand der Zwangsprostitution vermen-
gen Sie außerdem zwei unterschiedliche Schutzgüter .
Schutzgut des Menschenhandels ist vor allem die berufli-
che und wirtschaftliche Betätigungsfreiheit und nicht die
sexuelle Selbstbestimmung . Soweit es um die Verletzung
der sexuellen Selbstbestimmung geht, gehört der Tatbe-
stand in den Dreizehnten Abschnitt des Strafgesetzbu-
ches und sollte von der dort angestrebten Reform erfasst
werden .

Daneben gibt es weiterhin die §§ 180a und 181a, in
denen die Zuhälterei bzw . die Ausbeutung der Prostitu-
tion unter Strafe gestellt werden . Dort ist von persönli-
cher und wirtschaftlicher Abhängigkeit die Rede, in Ih-
rem neuen § 232a von persönlicher und wirtschaftlicher
Zwangslage . Dieses Wirrwarr an Überschneidungen und
unterschiedlichen Begrifflichkeiten ist weder geeignet,
den Strafverfolgungsbehörden ihre Arbeit zu erleichtern,
noch entspricht es rechtsstaatlichen Anforderungen an
ein Strafgesetz .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mir scheint es deutlich sinnvoller, die Veranlassung
zu einer ausbeuterischen Tätigkeit in einem einzigen Tat-
bestand zu erfassen und damit die ausbeuterische Pros-
titution als einen besonderen Fall der ausbeuterischen
Beschäftigung zu behandeln . Dann müssten Sie nämlich
auch folgerichtig einheitlich entscheiden, ob und wie der
Kunde, der eine ausbeuterische Dienst- oder Arbeitsleis-
tung in Anspruch nimmt, bestraft werden soll .

Mit Ihrem neuen § 232a Absatz 6 wollen Sie die Frei-
erstrafbarkeit bei der Ausnutzung der Zwangslage unter
Strafe stellen, während das bei der Inanspruchnahme von
anderen Dienstleistungen nach § 232b nicht gelten soll .
Dieser Widerspruch entsteht dadurch, dass es Ihnen in
Wirklichkeit um etwas anderes geht, nämlich die sexuel-
le Selbstbestimmung zu schützen . Das erreichen Sie aber
nur auf anderem Wege . Schaffen Sie im Sexualstrafrecht
einen Grundtatbestand, bei dem es auf den erkennba-
ren entgegenstehenden Willen ankommt, und Sie haben
mehrere Probleme auf einmal gelöst .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Beweisbarkeit wird in einer solchen Konstellation
immer schwierig bleiben . Aber die von Ihnen hier vor-
geschlagenen umfangreichen objektiven und subjektiven
Tatbestandsmerkmale machen es nun wirklich auch nicht
einfacher . So reicht es danach nicht aus, dass der Freier
die Zwangslage bzw. die Hilflosigkeit erkennt und für
den Sexualkontakt ein Entgelt bezahlt; darüber hinaus
muss er die Zwangslage auch noch bewusst ausgenutzt
haben . Das ist dann doch wohl eher Symbolgesetzge-
bung als praxistauglich .

Es geht noch weiter . Mit dem ebenfalls neuen § 233
stellen Sie unter Strafe, wenn jemand eine Person durch
eine ausbeuterische Beschäftigung ausbeutet . Auch hier
holen Sie Ihre systematischen Mängel wieder ein . Die
Absicht, die Ausbeutung unter Strafe zu stellen, auch
wenn die Beeinflussung, also das Veranlassen, von dritter
Seite erfolgt, ist grundsätzlich lobenswert .

Als Niedersächsin sind mir die Konstellationen gerade
in der Fleischindustrie nur zu gut bekannt, wo sogenann-

Katja Keul






(A) (C)



(B) (D)


te Werkvertragsunternehmen und ihre Unterhändler die
Menschen aus Rumänien und Bulgarien unter Vorspiege-
lung falscher Tatsachen in die hiesigen Schlachthöfe von
Wiesenhof, Tönnies, VION und Westfleisch verbringen,
wo sie ausgebeutet werden . Die Ausbeutung soll aber
nach wie vor nicht reichen, sondern erst bei bewusster
Ausnutzung der Zwangslage strafbar sein . Wie soll denn
da jemals beim Hauptunternehmen ein Vorsatz nachweis-
bar sein? Den Auftraggeber eines ausbeuterischen Werk-
vertragsunternehmens werden Sie nur erfassen, wenn
Sie ihn als Dienstleistungsnehmer, der die Ausbeutung
mindestens billigend in Kauf genommen hat, unter Strafe
stellen, also im Prinzip genau so, wie Sie es bei der sexu-
ellen Ausbeutung vorhaben .

Fazit: Ihre Strafrechtsänderungen sind insgesamt un-
systematisch, voller Überschneidungen, und Sie schaf-
fen damit weder Rechtsklarheit noch eine Hilfe für die
Ermittler . Das Wichtigste für die Opfer haben Sie dabei
ganz vergessen: den Schutz vor der eigenen Kriminali-
sierung und vor aufenthaltsbeendenden Maßnahmen .
Zeigt ein Opfer von Menschenhandel eine Tat an, so kann
nun von der Verfolgung wegen der eigenen Tat abgese-
hen werden . Die Einstellung steht aber nach wie vor im
Ermessen der Staatsanwaltschaft . Bei Ihrem Vorschlag
zur Freierstrafbarkeit hingegen tritt die Straflosigkeit für
den Freier quasi automatisch mit der Anzeige ein . Was
für den Freier recht und billig ist, sollte doch mindestens
auch für die Opfer gelten .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Fraktion hat außerdem einen eigenen Gesetz-
entwurf vorgelegt, mit dem die Opfer von Menschenhan-
del einen eigenen Anspruch auf einen Aufenthaltstitel
nach § 25 Absatz 4 Aufenthaltsgesetz erhalten sollen . Wir
schlagen weiter die Einrichtung eines Ausgleichsfonds
für Opfer von Menschenhandel sowie einer „Berichter-
statterstelle Menschenhandel“ beim Bundesministerium
für Arbeit und Soziales vor .

Verengen Sie Ihren Blick also nicht wieder nur auf die
strafrechtlichen Aspekte, sondern lassen Sie uns für einen
umfassenden Schutz der Menschenhandelsopfer sorgen .

Vielen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817304500

Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Eva

Högl .


(Beifall bei der SPD)



Dr. Eva Högl (SPD):
Rede ID: ID1817304600

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Sowohl die Debatte heute Morgen über
den Entwurf eines Gesetzes zur Regulierung des Pros-
titutionsgewerbes als auch die jetzige Debatte über den
Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Menschen-
handel und Zwangsprostitution sind eine ganz wichtige
Etappe bei der Bekämpfung von Zwangsprostitution
und Menschenhandel . Ich bin sehr froh, dass wir heute

Morgen hier zusammengekommen sind, um diese beiden
wichtigen Gesetzesvorhaben zu beraten .

Staatssekretär Christian Lange hat vorhin den Koali-
tionsfraktionen für die konstruktive Arbeit an den ver-
änderten Formulierungen gedankt . Ich möchte dieses
Dankeschön ganz herzlich zurückgeben; denn die Ver-
handlungen waren nicht ganz einfach . Das Bundesmi-
nisterium der Justiz und für Verbraucherschutz hat uns
hervorragend unterstützt . Vor allen Dingen hat es jetzt
etwas ganz Hervorragendes vorgelegt . Dafür ein ganz
herzliches Dankeschön!


(Beifall bei der SPD)


Liebe Frau Keul, Ihren Äußerungen habe ich entnom-
men, dass Sie sehr wohl die Änderungsanträge, die im
Übrigen Anfang April im Kabinett beschlossen worden
sind, sehr gut studiert haben; denn Sie haben sich ja sehr
sachkundig und sehr detailliert damit auseinandergesetzt,
sodass ich auch auf diese geänderten Vorschläge hier Be-
zug nehme .

Zunächst einmal möchte ich aber das deutlich ma-
chen, was uns hier alle eint und woran wir gemeinsam
arbeiten . Der Menschenhandel ist eines der schlimmsten
Verbrechen, die es überhaupt gibt . Menschenhandel trau-
matisiert Opfer lebenslang, und es wird viel Geld damit
verdient. Denn die Täter profitieren hiervon – ganz an-
ders als bei anderen Verbrechen – ganz außerordentlich .
Deswegen lohnt sich unser gesamtes Engagement, Men-
schenhandel zu bekämpfen .

Die Europäische Kommission hat in diesen Tagen ei-
nen Bericht vorgelegt und noch einmal deutlich gemacht,
dass wir gegen Menschenhandel viel mehr tun müssen,
als das bisher der Fall war . Auch mich hat die Nachricht
sehr schockiert, die Frau Jelpke schon erwähnte, dass
nämlich 46 Millionen Menschen weltweit in der Skla-
verei leben – allein 14 500 davon in Deutschland . Das
ist eine schockierende Zahl und Anlass genug, dagegen
etwas mit großem Engagement zu tun .

Ich möchte auch kurz hervorheben, dass es einen Zu-
sammenhang zwischen Migration und Menschenhandel
gibt . Denn Menschen, die in großer Not sind, verfolgt
werden und sich aus ihren Heimatländern auf den Weg
machen, sind natürlich ganz anders davon bedroht, Opfer
von Schleppern und Menschenhändlern zu werden . Sie
sind leicht empfänglich für Versprechungen . Auch daran
sollten wir anlässlich der Situation, vor der wir im Mo-
ment stehen – die enormen Fluchtbewegungen aus unter-
schiedlichen Teilen der Welt –, immer denken .


(Beifall bei der SPD)


Menschenhandel ist ein Phänomen bzw . Verbrechen,
das hauptsächlich Frauen betrifft . Die Zahlen schwan-
ken; aber zwischen zwei Drittel und drei Viertel der Op-
fer sind Frauen. Es ist häufig – manchmal ist das auch
ausschließlich der Fall – mit sexueller Ausbeutung ge-
paart . Mich erschreckt auch besonders, dass die Zahlen
beim Kinderhandel zunehmen und dass es uns immer
noch nicht gelungen ist, Kinderhandel wirksam zu un-
tersagen und zu bekämpfen . Deswegen müssen wir auch
international tätig werden . Von daher ist es gut, dass es
schon seit 2005 eine Konvention des Europarates und

Katja Keul






(A) (C)



(B) (D)


seit 2011 eine europäische Richtlinie dazu gibt . Ich will
auch noch einmal ganz deutlich sagen, dass es durchaus
peinlich ist, dass wir hier in Deutschland erst jetzt die
entsprechenden Maßnahmen ergreifen . Es ist allerhöchs-
te Zeit, dass wir unsere Gesetze verbessern .


(Beifall bei der SPD)


Wir wollen das Strafrecht auf diesem Gebiet deutlich
verschärfen; denn wir haben festgestellt, dass es in der
Praxis nicht ausreichend angewendet werden kann . Wir
haben uns mit Praktikerinnen und Praktikern unterhal-
ten . Sie haben uns erläutert, woran die Anwendung der
Strafvorschriften scheitert . Das haben wir uns genau
angesehen . Jetzt haben wir einen guten Vorschlag dafür
gemacht, wie wir die Strafrechtsvorschriften verschärfen
können, damit Täter wirksamer bestraft werden können .
Denn es ist auch wichtig, Täter wirksamer zu bestrafen .
Damit verbessern wir gleichzeitig die Sicherheit der
Opfer, und wir schützen sie . Das sind unsere beiden Ge-
sichtspunkte .

Ich will noch kurz einen weiteren Gesichtspunkt
hervorheben, der der SPD-Bundestagsfraktion und mir
ebenfalls sehr am Herzen liegt – es ist für uns ein wich-
tiger Baustein –: das Thema Arbeitsausbeutung . Wir ha-
ben im Koalitionsvertrag vereinbart, den Fokus stärker
auf Arbeitsausbeutung zu richten . Liebe Frau Kollegin
Winkelmeier-Becker, ich glaube, es hilft nicht weiter,
wenn wir sexuelle Ausbeutung gegen Arbeitsausbeutung
stellen . Vielmehr wissen wir, dass Arbeitsausbeutung ein
verbreitetes Phänomen ist, bei dem es sich lohnt, dass wir
uns dagegen engagieren .

Die Arbeitsausbeutung ist mitten unter uns: in den
Gaststätten, bei den Reinigungsbetrieben, bei haushalts-
nahen Dienstleistungen, hier in Berlin, in den Botschaf-
ten und auf den Baustellen . Zum Beispiel Mall of Berlin
oder auch Bundesbauten: Dort werden häufig Arbeits-
leistungen von Menschen erbracht, die sich in der Ar-
beitsausbeutung befinden. Das ist ein Grund dafür, dass
wir in diesem Gesetzentwurf ganz stark die Bekämpfung
von Arbeitsausbeutung thematisiert haben .


(Beifall bei der SPD)


Noch ein letztes Stichwort . Meine Damen und Her-
ren, wir verschärfen das Strafrecht . Wir verbessern den
Opferschutz . Aber das wird noch nicht ausreichen . Wir
brauchen mehr Beratungsstellen . Wir brauchen Sensibi-
lisierungskampagnen . Wir müssen die Öffentlichkeit bei
der Bekämpfung von Menschenhandel und Arbeitsaus-
beutung viel stärker an unsere Seite holen . Deswegen
müssen wir über das Strafrecht und über die Verbesse-
rung im Prostitutionsgesetz hinaus viel mehr tun, um die
Opfer wirksam zu schützen . Daran werden wir weiter
arbeiten .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817304700

Nächste Rednerin ist die Kollegin Silke Launert für

die CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Silke Launert (CSU):
Rede ID: ID1817304800

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren!

Es ist sowohl moralisch als auch rechtlich inakzep-
tabel, dass . . . Menschen wie Waren gekauft, ver-
kauft und ausgebeutet werden .

Zitat Ende .

Man möchte meinen, dieser Satz sei vor etwa 150 oder
200 Jahren gefallen, auf jeden Fall nicht im 21 . Jahrhun-
dert und erst recht nicht in Europa . Doch wer das glaubt,
der liegt falsch .

Der zuständige EU-Kommissar kommentierte mit die-
ser Äußerung den genau heute vor zwei Wochen von der
Europäischen Kommission erstatteten Bericht über die
Fortschritte bei der Bekämpfung des Menschenhandels .
In diesem Bericht wird festgestellt, dass 2013 bis 2014
insgesamt 15 846 Männer und Frauen, Jungen und Mäd-
chen als Opfer von Menschenhandel in der EU registriert
wurden . Allein 2 375, also etwa 16 Prozent davon, waren
Kinder, wobei – das wurde schon gesagt – die Zahl der
betroffenen Kinder erschreckend stark zugenommen hat .
Nach dem Bericht ist zudem die tatsächliche Zahl der
Opfer wahrscheinlich wesentlich höher . Das entspricht
dann auch den Erfahrungen der Praxis und den Schät-
zungen, die hier in der Debatte schon genannt wurden .

Angesichts der aktuellen Migrations- und Flücht-
lingsbewegungen ist uns allen bewusst, dass die Händ-
ler gerade in diesen Zeiten leichtes Spiel haben . Mehr
und mehr Kriminelle finden hier neue Betätigungsfelder
und nutzen das Chaos der Flucht, um Menschen in ihre
Gewalt zu bringen . Auch der Bericht der Kommission
weist auf diese Verbindung zwischen Menschenhandel
und der Ausbeutung der Schutzbedürftigsten vor dem
Hintergrund der aktuellen Migrationsbewegung hin . Ins-
besondere Frauen und Kinder – auch das wurde schon
mehrfach betont – sind leichte Beute . Wenn ich an die
unbegleiteten Minderjährigen denke und daran, wie viele
seit ihrer Ankunft in der EU 2015 – laut Europol sollen
es 10 000 sein – verschwunden sind, dann wird mir angst
und bange .

Machen wir uns also keine falschen Illusionen: Die
bei den Behörden zahlenmäßig erfassten Opfer sind
nur die Spitze des Eisberges . Illusorisch wäre es auch,
zu glauben, dass der Menschenhandel mit all seinen
kriminellen Auswüchsen haltmacht vor Deutschland .
Durch Entführung, Drohung oder Zwang in die Gewalt
gebracht, werden die Opfer mithilfe von professionellen
Schleuserbanden auf der berüchtigten Balkanroute über
Italien oder direkt aus Russland, der Ukraine oder Weiß-
russland nach Deutschland gebracht . In manchen Fällen
kommt es aber auch zur Einreise, weil man den Opfern
einen Job verspricht, ein besseres Leben, die große Lie-
be . Das Elend und die Not oder auch die Träume und die
Naivität scheinen groß genug zu sein, sodass ausreichend

Dr. Eva Högl






(A) (C)



(B) (D)


viele Menschen immer wieder darauf hereinfallen . Wenn
sie dann hier angekommen sind, hält man sie unter bruta-
len, menschenunwürdigen Bedingungen gefangen, beu-
tet sie aus: in der Prostitution – das betrifft, wie gesagt,
zwei Drittel der registrierten Fälle, also mit Abstand die
Mehrheit der Fälle –, als Arbeitssklaven, zur Begehung
von Straftaten wie Drogenschmuggel oder Diebstahl, zur
Bettelei oder zur Organentnahme .

„Wie kann all das möglich sein, mitten in Europa?“,
fragt man sich . Die Antwort liegt auf der Hand: weil die
Grundlage jedes Geschäfts, dass die Nachfrage das An-
gebot bestimmt, auch hier greift, und zwar insbesonde-
re deshalb, weil es keine ausreichenden und effektiven
Bekämpfungsmaßnahmen gibt . Die Nachfrage nach Sex-
sklaven, nach Arbeitssklaven scheint ja sehr groß zu sein
und steigt, und die Ware Mensch – Wahnsinn, dass dieser
Begriff so gebraucht werden kann – scheint unerschöpf-
lich zu sein . Es handelt sich offensichtlich um einen lu-
krativen Markt . Dem können wir eine im Moment noch
nicht einmal ansatzweise effektive Gesetzeslage entge-
genhalten . Das aktuelle Recht ist unsystematisch, nur
punktuell regelt es Einzelfälle . Die Praktiker erzählen
uns, dass es schwierig anzuwenden ist . Opfer sind nicht
bereit, auszusagen, es kommt kaum zu Verurteilungen .
Schwierig wird es insbesondere beim Auslandsbezug .

Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein Versuch, hieran
etwas zu verbessern, so wie man es im Koalitionsvertrag
auch vereinbart hat . Wir werden die Tatbestände refor-
mieren und verschärfen . Wir haben – das ist etwas, was
ich betonen möchte – nun sichergestellt, dass wirklich
jeder, der sich an diesem schmutzigen Geschäft beteiligt,
auch strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden
kann, und zwar auch dann, wenn er nur einen kleinen
Beitrag geleistet hat . Erfasst werden alle, angefangen von
dem, der die Opfer anwirbt, transportiert oder auch nur
beherbergt, über den, der das Opfer dazu veranlasst, die
Prostitution oder die Zwangsarbeit aufzunehmen, bis hin
zu dem, der es dann letztlich ausbeutet . Das Geschäft des
Menschenhandels, das typischerweise arbeitsteilig ist,
wird also von diesem Gesetz ganz genau mit all seinen
Einzelheiten erfasst .

Neu ist, dass wir ab sofort auch die Fälle des Men-
schenhandels zum Zwecke der Begehung von strafbaren
Handlungen erfassen . Ich denke da an Diebesbanden,
in denen überwiegend Kinder eingespannt sind . Erfasst
werden aber nun auch die Fälle des Menschenhandels
zum Zwecke der Bettelei . Es wurde bereits angespro-
chen, dass auch hierfür überwiegend Kinder missbraucht
werden . Neu aufgenommen ins Strafgesetzbuch wird
auch der Straftatbestand des Menschenhandels zum
Zwecke der Organentnahme, was bisher lediglich als
Beihilfe zu Straftaten nach dem Transplantationsgesetz
bestraft werden konnte .

Wichtig für die Union war aber auch – ich habe es
vorhin betont: Was macht diesen Markt so lukrativ? –,
dass man bei der Ursache ansetzt . Und das ist die Nach-
frage . Deshalb wollen wir die bestrafen, die im Wissen,
dass die Menschen in Not sind, diese bewusst ausbeuten
und davon profitieren. Das heißt in dem Fall auch: die
Bestrafung der Freier, die das wissen .

Ich freue mich sehr, dass es uns gelungen ist, die Frei-
erstrafbarkeit ins Gesetz zu schreiben . Dazu möchte ich
klarstellen: Natürlich bestrafen wir nicht jeden Freier .
Die vielen „selbstbestimmten Prostituierten“, wie ich es
hier von den Grünen und von den Linken immer höre,
die im Escortservice so viel Geld verdienen und das lie-
bend gerne machen, dürfen weiterhin ihre Freier haben .
Diese Freier haben nichts zu befürchten . Aber die Freier,
die sehen, dass es sich um ein Opfer des Menschenhan-
dels handelt, um eine Frau, die kein Deutsch spricht, die
vielleicht verwundet ist, zum Teil regungslos daliegt,
die sehen, dass die Frau keine Wahl hat, sich im hoch-
schwangeren Zustand prostituiert, die also damit rechnen
müssen und dies billigend in Kauf nehmen, dass es sich
um ein Opfer des Menschenhandels handelt, die können
nun bestraft werden .

Ich gebe zu: Die Fassung ist eng . Frau Keul hat da
völlig recht . Mir wäre eine weitere Fassung auch lieber
gewesen . Die Frage ist: Wie viele Fälle wird man damit
in der Praxis erreichen? Aber es ist auf jeden Fall ein
ganz klares Signal an die Freier: Schaut hin! Wer ist euer
Gegenüber? Ist das vielleicht ein Opfer in Not? Nutzt ihr
diese Not anderer aus? – Dieses Signal geht davon auf
jeden Fall aus . Ich denke, auch das ist schon ein Schritt
in die richtige Richtung .

Ich gebe zu, dass ich mir sowohl beim Prostituierten-
schutzgesetz als auch bei diesem Gesetz noch viel mehr
Maßnahmen zum Schutz der Opfer gewünscht hätte . Die
Diskussion ging ja dahin: Verbieten wir es wieder? Denn
das Prostitutionsgesetz hat ja genau das Gegenteil von
dem bewirkt, was es erreichen sollte . Es hat die Prosti-
tuierten nicht geschützt, sondern in vielen Fällen in eine
viel prekärere Situation gebracht hat . Also: Verbieten wir
es, oder machen wir Einzelmaßnahmen?

Der Kompromiss waren die Einzelmaßnahmen . Aber
was mich schon enttäuscht hat, ist, dass wir selbst bei
den Einzelmaßnahmen so kämpfen mussten . Es ist für
mich nach wie vor unverständlich, wieso es mit der SPD
nicht möglich war, eine Gesundheitsuntersuchung ein-
zuführen . Wenn ich hier höre, mit welchen Argumenten
man dabei arbeitet: Man spricht von „Bockschein“ und
meint, das wäre Symbolpolitik . Wissen Sie was? Die
Untersuchung zeigt, ob die Frau Geschlechtskrankheiten
hat, ob sie verwundet wird . Gerade eine solche Untersu-
chung dient der Gesundheit der Prostituierten, aber auch
der Freier und der Personen im familiären Umfeld . Denn
Krankheiten könnten über sexuellen Kontakt oder durch
Bluttransfusionen übertragen werden . Ich muss schon
sagen: Es hat mich sehr enttäuscht, dass wir da so sehr
kämpfen mussten .

Frau Keul hat auch völlig zu Recht § 180a und § 181a
StGB angesprochen . Diese Vorschriften hätten nach un-
serer Meinung auch geändert werden sollen; wir hätten
es gerne gemacht . Wir hätten gerne etwas Effektiveres
geschaffen, etwas, was für die Praxis noch besser ist . Lei-
der hat die SPD das blockiert . Ich gebe zu: Das ist für
mich völlig unverständlich .


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817304900

Frau Kollegin .

Dr. Silke Launert






(A) (C)



(B) (D)



Dr. Silke Launert (CSU):
Rede ID: ID1817305000

Ich komme gleich zum letzten Satz . – Vielleicht

kommt ja bis zum Ende der Legislaturperiode noch et-
was zustande .

Zuletzt möchte ich zusammenfassend sagen: Das Ge-
setz ist kein Heilsbringer, aber ein Schritt in die richtige
Richtung . Hoffen wir, dass im weiteren Gesetzgebungs-
verfahren, vielleicht auch durch die Anwendung in der
Praxis, aus diesem Schritt doch noch ein richtiger Sprung
wird .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817305100

Matthias Bartke ist der nächste Redner für die

SPD-Fraktion .


(Beifall bei der SPD sowie der Abg . Elisabeth Winkelmeier-Becker [CDU/CSU])



Dr. Matthias Bartke (SPD):
Rede ID: ID1817305200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor sechs

Wochen gingen Polizei, Staatsanwaltschaft und Zoll hier
in Berlin mit insgesamt 900 Beamten bei einer Razzia
gegen das Artemis vor . Das Artemis ist eines der größ-
ten Bordelle Deutschlands . Die Staatsanwaltschaft wirft
den Festgenommenen Menschenhandel vor . Die Razzia
war überregional in den Nachrichten und hat uns wieder
eines deutlich gemacht: Menschenhandel findet auch in
Deutschland statt .

Das Bundeslagebild des BKA berichtet für 2014 von
insgesamt 403 abgeschlossenen Verfahren beim Delikt
Menschenhandel . Das ist eine relativ geringe Zahl, aber
leider kein Grund zum Aufatmen: Beim Menschenhan-
del zum Zweck der sexuellen Ausbeutung und auch zum
Zweck der Arbeitsausbeutung müssen wir von einem
enormen Dunkelfeld ausgehen; es ist bereits gesagt wor-
den . Es ist vor allem die schwierige Verfahrensführung,
die zu so geringen Ermittlungs- und Verurteilungszahlen
führt . Bisher kann Menschenhandel fast nur nachgewie-
sen werden, wenn das Opfer eine Aussage macht . Das
liegt vor allem an der Gesetzesformulierung „dazu brin-
gen“ in § 232 StGB . Der Täter muss beim Opfer also den
Entschluss herbeiführen, ein ausbeuterisches Arbeits-
verhältnis einzugehen, es also „dazu bringen“ . Ein Ent-
schluss ist aber höchstpersönlich . Im Ergebnis sind wir
daher auf die Aussage des Opfers angewiesen . Das Opfer
muss bestätigen: Ja, der Täter hat mich dazu gebracht . –
Diese Aussage ist erfahrungsgemäß sehr, sehr schwer zu
bekommen . Durch unsere Änderungsvorschläge werden
daher nun auch Fälle erfasst, in denen das Opfer selbst
die ausbeuterische Tätigkeit aufnimmt . Die Bedingung
ist nur, dass der Täter die Zwangslage des Opfers erkennt
und diese Gelegenheit zur Ausbeutung nutzt .

Darüber hinaus sollen sich künftig auch Freier von
Zwangsprostituierten strafbar machen . Das ist dann
der Fall, wenn sie die persönliche oder wirtschaftliche
Zwangslage oder auch die auslandsspezifische Hilf-
losigkeit der Prostituierten ausnutzen . Grund für eine
Strafaufhebung kann allerdings die freiwillige Anzeige

des Freiers sein . Wir wollen damit für die Freier einen
Anreiz setzen, an der Aufklärung von Zwangsprostituti-
on und Menschenhandel mitzuwirken .

Meine Damen und Herren, ich bin sehr froh, dass wir
es endlich geschafft haben, mit unserem Änderungsan-
trag umfassende Regelungen zur Bekämpfung des Men-
schenhandels vorzulegen . Die Umsetzung der EU-Richt-
linie ist überaus wichtig und längst überfällig; meine
Vorredner haben es bereits ausgeführt . Der Gesetzent-
wurf unserer schwarz-gelben Vorgängerregierung hat uns
aber eines mehr als deutlich gezeigt: Die Umsetzung der
Richtlinie allein ist nicht ausreichend . Mit unseren Än-
derungsvorschlägen fokussieren wir den strafrechtlichen
Schutz auf die Ausbeutung als solche und damit auf die
objektiven Tatumstände . Wir haben damit die Chance,
die bisher geringe Anzahl der Verurteilungen an das tat-
sächliche Ausmaß der Kriminalitätsform des Menschen-
handels anzupassen .

Ich danke Ihnen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817305300

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der

Kollege Hans-Peter Uhl für die CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hans-Peter Uhl (CSU):
Rede ID: ID1817305400

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und

Kollegen! Es war 2002, also vor 14 Jahren, als Rot-Grün
das Prostitutionsgesetz mit großem Brimborium verab-
schiedet hat . Es ging damals darum – zu Recht, würde
ich sagen –, dieses Milieu vom Verdikt der Sittenwid-
rigkeit zu befreien; und das ist ja auch richtig . Man hat
dabei nur eines übersehen: dass es sich um einen Lebens-
sachverhalt handelt, bei dem schwache, häufiger aus dem
Ausland kommende, nicht Deutsch sprechende, hilflose
Frauen starken, mit krimineller Energie ausgestatte-
ten Männern gegenüberstehen, die alles tun, um diese
schwachen Frauen auszubeuten und damit Geld zu ma-
chen . Das ist der Lebenssachverhalt: Es handelt sich hier
um ein kriminogenes Milieu .

Was muss der Staat tun, wenn sich ein extrem Schwa-
cher und ein extrem Starker gegenüberstehen? Der Staat
muss kontrollieren, regeln und zum Schutz der Schwa-
chen eingreifen . Das ist die Aufgabe des Staates, nicht
nur in diesem, sondern auch in allen anderen Lebens-
sachverhalten, wo sich Schwache und Starke gegenüber-
stehen; eigentlich eine Banalität . Aber diesem Umstand
wurde mit dem Gesetz, das vor 14 Jahren beschlossen
wurde, nicht Rechnung getragen . Nein, man hat jede Re-
gelung unterlassen . Das Ergebnis ist mehrfach beschrie-
ben worden – ich will das nicht mehr wiederholen –: Die
Starken haben sich auf Kosten der schwachen Frauen
ausgetobt . Damit haben wir einen Zustand in Deutsch-
land erreicht, der eine Schande für unseren Rechtsstaat
ist, nämlich „Bordell Europas“ geworden zu sein .


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Die Frauen kommen hierher, naiv, zum Teil gelockt
von dem Versprechen, dass sie in kurzer Zeit viel Geld
verdienen können . In Wahrheit werden ihnen sofort die
Pässe abgenommen, sie werden behandelt wie Ware, sie
werden von einem Bordell ins nächste geschickt, sie wis-
sen gar nicht, in welcher Stadt sie sind, und sie müssen
irgendwelche Reisekosten oder sonstige Auslagen zu-
rückbezahlen . Das heißt – ich will das nicht weiter be-
schreiben; es ist zum Teil auch beschrieben worden –, es
ist alles sehr schlimm .

Die Verbrecher – und Menschenhändler sind Verbre-
cher – sind zu allem bereit . Der jetzige Paragraf zum
Menschenhandel baut darauf auf – leider; auch das ist
schon zu Recht gesagt worden –, dass der Menschen-
händler das Opfer dazu gebracht hat, sich der Prostitution
hinzugeben . Das heißt, es muss im Kopf des Opfers et-
was passiert sein, was vor Gericht üblicherweise kaum zu
beweisen ist; es sei denn, es kommt zu der Aussage des
Opfers: Dieser Menschenhändler war es . – Wir erleben
aber fortlaufend, dass eine solche Aussage entweder nie
zustande kam oder, wenn sie einmal zustande kam, recht-
zeitig vor der Gerichtsverhandlung vom Opfer widerru-
fen wurde . Das ist typisch für dieses Milieu . Verbrecher,
die mit Menschen handeln, die Frauen ausbeuten und zur
Prostitution zwingen, haben natürlich auch die kriminelle
Energie, ihr Opfer zum Schweigen zu bringen . Das ist
der Sachverhalt, um den es hier geht .

Die EU-Richtlinie zeigt uns den richtigen Weg, wenn
sie uns, den Mitgliedstaaten, vorgibt, zu sagen: Wir müs-
sen die Menschenhandelsparagrafen so formulieren, dass
es auf die Opferaussage nicht ankommt . Selbst wenn das
Opfer seine Aussage zurückzieht, muss der Menschen-
händler verurteilt werden können . Aber davon sind wir
weit entfernt . Wir haben Hunderte tatverdächtige Men-
schenhändler, aber von diesen Hunderten wurden im
Jahr 2013 in Deutschland ganze 79 verurteilt . Auch im
Jahr 2014 gab es Hunderte Verdächtige, aber es wurden
nur 82 verurteilt; ich sage das, damit Sie ein Gespür für
den Umfang der kriminellen Energie und für die tatsäch-
lich kleine Zahl von Verurteilten bekommen . Im Koaliti-
onsvertrag haben wir deswegen, zu Recht, das Problem
beschrieben und dazu aufgefordert, ein besseres Gesetz
zu machen .

Der Wahrheit zuliebe möchte ich noch auf eines hin-
weisen: Wir waren schon einmal so weit wie heute, am
Ende der letzten Koalition mit der FDP . Da haben wir
einen Gesetzentwurf vorgelegt, der diese Probleme be-
handelte . Es war eben nicht so, wie die stellvertretende
Fraktionsvorsitzende der SPD, Frau Reimann, es vorhin
in der Debatte gesagt hat, dass dieser im Bundesrat mit
den Stimmen von CDU und CSU gestoppt worden ist .
Nein, ich bitte darum, zum Beispiel bei Spiegel Online
vom 20 . September 2013 nachzulesen . Es war der Bun-
desrat mit der Mehrheit der Stimmen von SPD, Grünen
und Linken, der diesen Gesetzentwurf der letzten Koa-
lition gestoppt hat . Das muss man der Wahrheit zuliebe
hier doch noch sagen dürfen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir wollen diese Verbrecher hinter Schloss und Rie-
gel bringen, das ist unser Ziel . Da ist es schon etwas ir-

ritierend, wenn jetzt der Bundesjustizminister Maas sagt,
auf die Opferaussage werde es auch in Zukunft immer
noch schwerpunktmäßig ankommen . Das ist bedauerlich .
Das ist genau das, was wir nicht wollen, nämlich dass es
auf die Opferaussage ankommt . Also bitte ich alle Betei-
ligten an der Debatte, die jetzt in den Ausschüssen und in
der Anhörung beginnt, darum, offen zu sein für Nachbes-
serungen dieses Gesetzentwurfs . Wir brauchen den Rat
der Praktiker, der Polizei, der Staatsanwälte, die in die-
sem Milieu unterwegs sind; denn bei uns kann nicht die
Sach- und Fachkunde in der Frage sein, wie man diese
Verbrecher hinter Schloss und Riegel bringt . Das müssen
wir von den anzuhörenden Personen in Erfahrung brin-
gen .

Wir bringen diese Offenheit mit . Frau Högl, die SPD
hat uns zugesagt, dass sie die Anhörung sehr ernst nimmt
und bereit ist, noch nachzubessern; denn ein Ziel haben
wir doch wohl hoffentlich alle gemeinsam, nämlich dass
wir den jetzigen Zustand beenden, dass Deutschland das
„Bordell Europas“ ist .

Sie von der Opposition können sich nicht darauf be-
schränken, dies zu beklagen, dann aber zu sagen, dass
man Prostituierte mit den neuen Regelungen dazu zwingt,
sich anzumelden und sich regelmäßig einer Gesundheits-
untersuchung zu unterziehen, das heißt, dass man ihnen
Pflichten auferlegt. Das beklagen Sie ja. Dagegen sagen
Kenner: Genau diese Pflichten wünschen sich die Betrof-
fenen, weil sie dadurch aus den Klauen des Zuhälters he-
rauskommen. Sie unterwerfen sich diesen Pflichten gern,
um von diesen Menschenhändlern freizukommen, die
sie auf schändliche Weise malträtieren . Das ist die Logik
dieser Verpflichtungen, die eigentlich keine Verpflichtun-
gen zulasten der Betroffenen sind, sondern zugunsten der
Betroffenen . Das muss man verstanden haben, wenn man
über dieses Milieu redet .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817305500

Ich schließe die Aussprache .

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfes auf der Drucksache 18/4613 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt
es dazu andere Vorschläge? – Das ist offensichtlich nicht
der Fall . Dann ist die Überweisung so beschlossen .

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:

a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Erinnerung und Gedenken an den Völker-
mord an den Armeniern und anderen christ-
lichen Minderheiten in den Jahren 1915 und
1916

Drucksache 18/8613

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des

(3 . Ausschuss)

Jelpke, Katrin Kunert, Wolfgang Gehrcke, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Dr. Hans-Peter Uhl






(A) (C)



(B) (D)


100. Jahresgedenken des Völkermords an den
Armenierinnen und Armeniern 1915/1916 –
Deutschland muss zur Aufarbeitung und Ver-
söhnung beitragen

Drucksachen 18/4335, 18/7909

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . Dazu höre und
sehe ich keinen Widerspruch . Also können wir so ver-
fahren .

Meine Damen und Herren, zu dieser Debatte begrüße
ich auf der Ehrentribüne besonders herzlich die Vertre-
ter der Botschaften Armeniens und der Türkei.


(Beifall)


Ich freue mich, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind
und sich ein persönliches Bild davon machen, wie ernst-
haft und differenziert der Deutsche Bundestag mit die-
sem Thema umgeht .

Ein Parlament ist keine Historikerkommission und
ganz gewiss kein Gericht . Der Deutsche Bundestag kann
und will jedoch unbequemen Fragen und Antworten
nicht aus dem Weg gehen, zumal dann, wenn – wie bei
dem Völkermord an den Armeniern und anderen christ-
lichen Minderheiten vor 100 Jahren im Osmanischen
Reich – das Deutsche Reich selbst Mitschuld auf sich
geladen hat .

Wir Deutsche wissen aufgrund der dunklen Kapitel
unserer eigenen Geschichte vielleicht noch mehr als an-
dere, dass der Umgang mit historischen Geschehnissen
außerordentlich schmerzhaft sein kann . Wir haben aber
auch erfahren dürfen, dass eine ehrliche und selbstkri-
tische Aufarbeitung der Vergangenheit nicht die Bezie-
hungen zu anderen Ländern gefährdet; sie ist vielmehr
Voraussetzung für Verständigung, Versöhnung und Zu-
sammenarbeit .


(Beifall im ganzen Hause)


Ich habe bei gleicher Gelegenheit schon vor einem
Jahr darauf hingewiesen, dass wir die türkische Bereit-
schaft, heute, in der Gegenwart, Verantwortung insbeson-
dere für das Schicksal von Flüchtlingen zu übernehmen,
ausdrücklich würdigen, wenn wir an das Bewusstsein
und auch die Verantwortung für die eigene Vergangen-
heit appellieren . Die heutige Regierung in der Türkei ist
nicht verantwortlich für das, was vor 100 Jahren geschah,
aber sie ist mitverantwortlich für das, was daraus in Zu-
kunft wird .


(Beifall im ganzen Hause)


Meine Damen und Herren, im Vorfeld der heutigen
Debatte kam es neben Protesten und Demonstrationen
auch zu zahlreichen Drohungen, insbesondere gegenüber
Kolleginnen und Kollegen mit einem türkischen Famili-
enhintergrund – bis hin zu Morddrohungen . So selbstver-
ständlich wir jede Kritik akzeptieren, auch unsachliche,
polemische und aggressiv vorgetragene Kritik, so klar
muss auf der anderen Seite sein: Drohungen mit dem
Ziel, die freie Meinungsbildung des Deutschen Bundes-
tages zu verhindern, sind inakzeptabel .


(Beifall im ganzen Hause)


Wir werden sie nicht hinnehmen und uns ganz gewiss
von ihnen nicht einschüchtern lassen . Wir nehmen unsere
Verantwortung wahr .


(Beifall im ganzen Hause)


Ich eröffne die Aussprache und erteile als Erstes das
Wort dem Kollegen Rolf Mützenich für die SPD-Frak-
tion .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Rede ID: ID1817305600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer

alles gelesen hat, weiß, dass der heutige Antrag auf Bun-
destagsdebatten aus dem Jahr 2005, aus dem letzten Jahr
und aus diesem Jahr basiert . Ich bin froh, dass wir einen
gemeinsamen Antrag formuliert haben . Persönlich sage
ich: Ich hätte mir einen Antrag aller Bundestagsfraktio-
nen gewünscht . Aber anscheinend schwingt in dieser De-
batte nicht nur ein Tabu mit, sondern noch ein weiteres .
Deswegen sage ich: Ich hoffe nicht, dass dem erneut ein
Handschlag vorausgehen muss, aber irgendwann wird es
so sein, dass wir zumindest bei diesen Themen einen ge-
meinsamen Antrag formulieren .


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, der Antrag ist keine Kla-
geschrift . Ich sage sehr deutlich für meine Fraktion: De-
monstrationen sind zulässig, aber genauso zulässig ist,
dass der Deutsche Bundestag aus den Debatten über den
Völkermord politische Schlussfolgerungen zieht . Das
steht einem selbstbewussten Parlament gut zu Gesicht,
und deswegen sage ich sehr eindeutig: Wir als Abgeord-
nete lassen uns nicht einschüchtern, und zwar – das sage
ich gleichzeitig – egal von welcher Seite .


(Beifall im ganzen Hause)


Dieser Antrag ist in der Tat auch ein Appell zur Auf-
arbeitung und zur Selbstverantwortung der Türkei . Letzt-
lich gehört aber eben auch die armenische Seite mit
dazu – ich finde, auch das wird in diesem Antrag sehr
deutlich –; denn wir wollen zukünftig in der Region des
größeren Kaukasus keine weiteren Spannungen sehen .
Deswegen bieten wir als Deutscher Bundestag gemein-
sam mit der Bundesregierung Unterstützung an, damit
dort, wo der Versuch unternommen wird, Schritte zur
Entspannung zu gehen, dies auch geschehen kann . Das
halte ich für legitim . Ich glaube, dazu muss auch der
Deutsche Bundestag etwas sagen dürfen und können,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


insbesondere weil Deutschland zurzeit den Vorsitz bei
der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa hat . Im Grunde genommen ist der Kern der Ent-
spannungspolitik, die auch den Kalten Krieg überwun-
den hat, dass viele Länder versuchen, über ihre Streit-
punkte hinaus internationale und regionale Institutionen
zu nutzen, um Versöhnung zu schaffen .

Präsident Dr. Norbert Lammert






(A) (C)



(B) (D)


Zweiter Punkt . Wir wollen, dass gerade junge Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftler – ich sage ganz offen,
dass ich große Hoffnung in die junge Generation habe,
die oft viel bereiter ist, in diese Richtung zu gehen – zum
Beispiel mit Stipendien unterstützt werden, um die ge-
meinsame historische Aufarbeitung voranzubringen .

Dritter Punkt . Dies möchte ich auch an die Repräsen-
tanten der beiden Länder sagen: Im Jahre 2009 sind unter
Schweizer Vermittlung die Zürcher Protokolle zustande
gekommen, wo es eben diesen Aussöhnungsprozess ge-
geben hat . Ich bitte darum, dass beide Parlamente dem-
nächst versuchen, endlich eine Ratifikation dieser Proto-
kolle vorzunehmen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Letzter Punkt . Der Deutsche Bundestag stellt sich
der Verantwortung und hat auch das Recht, die deutsche
Mitschuld zu betonen . Auch deswegen reden wir heute
darüber . Wir erinnern daran, dass es mutige Diplomaten
waren, Krankenschwestern, aber eben auch Politiker wie
Eduard Bernstein und Karl Liebknecht, die auf die Ver-
folgungen hingewiesen haben. Deswegen, finde ich, ist
es das Recht und auch die Pflicht des Deutschen Bundes-
tages, über dieses Thema zu reden .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Vertreibung der armenischen Volksgruppe wäh-
rend des Ersten Weltkrieges wurde „in der Absicht began-
gen . . ., eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse
Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“ . Das
ist ein Zitat aus der Völkermordkonvention, die – das ist
richtig; dies wird uns oft vorgehalten – eben nicht gilt,
weil sie erst 35 Jahre später in Kraft getreten ist und erst
1954 durch den Deutschen Bundestag ratifiziert worden
ist . Aber sie hat Relevanz, weil der maßgebliche Autor
Raphael Lemkin gerade vor dem Hintergrund der Verfol-
gung der Armenier zu der Schlussfolgerung gekommen
ist: Internationale Institutionen wie die Vereinten Nati-
onen müssen gegen Völkermord aufstehen . Deswegen,
glaube ich, ist es legitim, auf diese Relevanz hinzuwei-
sen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein weiterer Punkt. Die Konvention definiert Völ-
kermord unabhängig davon, ob es „im Frieden oder im
Krieg begangen“ wurde . Auch das greift eine Diskussion
auf, die uns oft begegnet, wenn wir über den Völkermord
sprechen und gesagt wird: Das ist im Krieg passiert . –
Ich sage sehr eindeutig: Krieg relativiert nichts, wenn
die Menschenrechte verletzt werden . Das hat auch einen
aktuellen Bezug . Wie sollten wir in Zukunft gegen die-
jenigen vorgehen, die schwerste Menschenrechtsverlet-
zungen zum Beispiel in Syrien begehen, wenn der Krieg
relativieren würde?


(Beifall im ganzen Hause)


Deswegen sage ich sehr eindeutig: Wenn wir heute Völ-
kermord mit den Mitteln des internationalen Rechts be-
strafen wollen, so spricht nichts dagegen, die Konvention
aus ihrer Entstehung heraus zu würdigen .

Ich würde gerne eine weitere grundsätzliche Bemer-
kung machen . Gegenstand der Debatte ist der Völker-
mord an den Armeniern und nicht die Beurteilung Prä-
sident Erdogans .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich denke, in dieser Debatte sollte man das auseinan-
derhalten . Ich weiß, Max Weber würde ihn vielleicht
als Prototypen des autoritären Herrschers sehen, aber
das sei dahingestellt . Ich glaube, diese Debatte hilft so
nicht weiter . Sie hilft nicht weiter, weil man Außenpo-
litik nicht mit Schaum vor dem Mund machen darf . Ich
gebe insbesondere zu bedenken, dass dies vielleicht die
Allmachtsfantasien von geglaubten Alleinherrschern be-
fördert . Deswegen sage ich sehr deutlich: Wir müssen
aufpassen, nicht nur eine Person verantwortlich zu ma-
chen . Es gibt mehrere, die willfährig sind . Wir brauchen
deshalb eine differenzierte Debatte, insbesondere wenn
wir versuchen, mit der türkischen Republik auf gleicher
Augenhöhe manches aufzuarbeiten, was in dieser Zeit
geschehen ist . Nur die Widersprüche, die es in diesem
Land gibt, machen einen Präsidenten Erdogan erst mög-
lich . Deswegen sage ich als Demokrat sehr deutlich: Wir
dürfen nicht vergessen – egal, wie wir das beurteilen –,
dass er immerhin die Mehrheit der Wählerstimmen be-
kommen hat . Dennoch gibt es manche Bedenken, die wir
offen genug formuliert haben .

Ich will eine Sorge, die im Hinblick auf die Außenpo-
litik nicht ganz uninteressant ist, hinzufügen: Präsident
Erdogan und seine AKP repräsentieren den politischen
Islam . Der politische Islam wird in der Türkei teilweise
als Vorbild gesehen . Deswegen appelliere ich sehr deut-
lich an die AKP: Wenn sie irgendwann einmal nicht mehr
die Mehrheit in der Türkei hat, muss sie andere politi-
sche Kräfte an die Regierung lassen. Ich finde, das ist der
Auftrag, der von dieser Seite zumindest angesprochen
werden muss .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Dennoch, glaube ich, sind Veränderungen möglich .
Sie kommen natürlich insbesondere aus der türkischen
Gesellschaft. Wir können von außen wenig beeinflussen,
aber ich bin zuversichtlich; denn das, was ich vonseiten
der Zivilgesellschaft, in den Medien und in vielen Ge-
sprächen erlebe, zeigt eine viel größere Differenzierung .
Als Sozialdemokrat sage ich: Natürlich irritiert es mich,
wenn auch die Partei, zu der wir in der Vergangenheit
enge Kontakte gehalten haben, im Parlament der Aufhe-
bung der Immunität zustimmt .


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ja, das stimmt!)


Auch deswegen müssen wir das eine oder andere hier
durchaus ehrlich benennen .


(Beifall im ganzen Hause)


Dr. Rolf Mützenich






(A) (C)



(B) (D)


Wenn wir nur wenige Möglichkeiten haben, dann müs-
sen wir sie nutzen . Ich bin der Bundeskanzlerin dankbar,
dass sie bei ihrem letzten Besuch endlich mit Vertretern
der Zivilgesellschaft zusammengetroffen ist . Aber ich
hätte mir viel mehr gewünscht, dass sie – genauso wie
bereits der deutsche Außenminister – frühzeitig auch mit
der Opposition und insbesondere mit Mitgliedern der
HDP-Fraktion zusammengetroffen wäre . Das wäre mög-
lich gewesen .


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube, sie sollte sich überlegen, ob sie das nicht
nachholen kann .

Ich finde, umso mehr müssen wir auf die Regeln der
Zusammenarbeit achten . Es ist unsere Aufgabe – das ist
genauso wichtig –, uns frühzeitig gegen autoritäre An-
sprüche in der Europäischen Union zu wehren . Nur das
ist nach meinem Dafürhalten das richtige Signal an die
Türkei .

Meine Damen und Herren, wir wissen aus Erfahrung,
wie mühevoll und schmerzlich die Aufarbeitung der ei-
genen Geschichte sein kann . Dennoch sollten auch die
politisch Verantwortlichen in Ankara und Eriwan wissen:
Ein solches gemeinsames Vorhaben ist kein Zeichen von
Schwäche . Im Gegenteil: Nur so können neues Vertrauen
und menschliche Stärke wachsen . Die Türkei hat Juden
vor dem von Deutschland entfachten Holocaust gerettet .
Wir Sozialdemokraten erinnern uns mit Dankbarkeit an
die Aufnahme politisch Verfolgter; ich denke etwa an
Ernst Reuter . Heute wünschen wir uns eine Türkei, die in
vergleichbarer Offenheit und Größe einem dunklen Ka-
pitel ihrer Geschichte gerecht wird .

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817305700

Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion

Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817305800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Kollege Kauder, ich hatte so sehr gehofft, dass Sie
eine Krankheit überwinden, wenn ich als Fraktionsvor-
sitzender aufhöre; aber Sie leiden immer noch schwer
darunter . Ich muss es der Bevölkerung erklären: Es gibt
eine pathologische, also krankheitsbedingte Ausschließe-
ritis . Diese Krankheit führt dazu, dass sie mit den Linken
zusammen keinen Antrag einbringen .


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Sehr anständig ist das! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Furchtbar schade!)


Glauben Sie mir: Sie müssen sich einen Ruck geben .
Es ist ganz einfach, sich therapieren zu lassen: Sie müs-
sen ein paar demokratische Grundsätze akzeptieren .


(Zuruf von der CDU/CSU: Das sagen ausgerechnet Sie!)


Sie müssen akzeptieren, dass ein Parlament Ausdruck
unterschiedlicher Interessen ist . Sie müssen Toleranz
entwickeln,


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Dr . Moral Gysi!)


und Sie sollten nicht vergessen, dass im September die-
ses Jahres in Berlin Wahlen sind . Vielleicht – ich weiß es
ja nicht – kommt meine Partei an die Regierung;


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


dann brauchen Sie uns . Das ist mit krankhaften Leuten
immer schwer hinzubekommen .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Nun zum Inhalt . Nach Frankreich, der Schweiz, Zy-
pern, der Slowakei, Litauen, den Niederlanden, Schwe-
den, Italien, Belgien, Russland, dem Vatikan, Kanada,
Chile, Argentinien, Venezuela und Uruguay gedenkt nun
auch der Bundestag der Opfer der Deportationen und
Massaker im Osmanischen Reich, der fast vollständigen
Vernichtung der armenischen Bevölkerung in Anatolien
vor genau 100 Jahren . Endlich müssen auch wir es als
das benennen, was es war: ein Völkermord an 1,5 Millio-
nen Armenierinnen und Armeniern . Auch aramäisch-as-
syrische und chaldäische Christinnen und Christen sowie
Pontosgriechinnen und -griechen wurden gejagt und um-
gebracht .

Es gibt eine historische Mitverantwortung Deutsch-
lands; darauf hat der Bundestagspräsident zu Recht hin-
gewiesen . Das Deutsche Reich als Verbündeter des Os-
manischen Reiches im Ersten Weltkrieg leistete Beihilfe
zum Völkermord . Wir müssen deshalb sehr aktiv an der
Aufklärung der Hintergründe und der Beteiligung mit-
wirken .


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg . Ulli Nissen [SPD])


Allerdings müssen wir, das heißt der Bundestag, uns
auch noch klar und unmissverständlich zu den Ermor-
dungen und Grausamkeiten gegenüber den Herero und
Nama zwischen 1904 und 1908 in der damaligen Kolonie
Deutsch-Südwestafrika erklären . Das steht noch aus .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir wissen aus eigener Geschichte über die Schwie-
rigkeiten, sich den Verbrechen aus der eigenen Bevölke-
rung zu stellen . Im Westen – nicht im Osten – dauerte es
bis 1968, also 23 Jahre, bis sich die jüngere Generation
gegen das Verschweigen der Naziverbrechen auflehn-
te . Es dauerte sogar 40 Jahre, bis sich Bundespräsident
Richard von Weizsäcker 1985 endlich klar zu den Ver-
brechen der Nazidiktatur bekannte, für das gesamte deut-
sche Volk die historische Verantwortung dafür übernahm

Dr. Rolf Mützenich






(A) (C)



(B) (D)


und das Ende des Krieges als Tag der Befreiung auch für
das deutsche Volk deklarierte .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Heute ist das kein Problem mehr, von der Union bis zur
Linken . Wir können gemeinsam die Naziverbrechen ver-
urteilen . Das geschieht ja auch .

Ich weiß, dass Flüchtlinge damals auch über die Tür-
kei gerettet wurden . Dafür gebührt der Türkei nach wie
vor unser Dank .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte aber hinzufügen, dass die Verbrechen der
Nazidiktatur einzigartig sind und nicht mit anderen ge-
schichtlichen Vorgängen verglichen werden sollten, auch
nicht mit den Verbrechen des Osmanischen Reiches .
Gerade deshalb frage ich mich, warum es der türkischen
Regierung 100 Jahre nach dem Völkermord an den Ar-
menierinnen und Armeniern immer noch nicht möglich
erscheint, dies ehrlich einzuräumen und aufzuarbeiten,


(Beifall der Abg . Ulli Nissen [SPD])


und stattdessen Regierungen und Ländern, die das Ver-
brechen des Völkermordes benennen, droht .

Es ist auch nicht hinnehmbar, wenn unsere Abgeord-
nete Sevim Dağdelen – ich nehme an, Cem Özdemir,
dem Kollegen der Grünen, geht es genauso – in den so-
zialen Netzwerken und im Internet mit Hassmeldungen
bedroht wird und Morddrohungen erhält . Der Bundestag
muss diese Angriffe auf unsere Abgeordneten entschie-
den zurückweisen . Ich danke dem Bundestagspräsiden-
ten dafür, dass er das schon getan hat .


(Beifall im ganzen Hause)


Wenn der Bundestag dies zurückweist und sich von den
Drohungen durch Präsident Erdogan nicht einschüchtern
lässt, dann beweist er Souveränität und setzt ein spätes,
aber wichtiges Signal .

Auch aktuell ist dieses Signal wichtig . Die Problema-
tik der hohen Zahl an Flüchtlingen über ein finanziell und
wirtschaftlich schwaches Griechenland und die Türkei
lösen zu wollen, scheint mehr als absurd . Natürlich muss
man helfen, auch und gerade der Türkei . Man muss dann
aber auch dafür sorgen, dass das Geld wirklich bei den
Flüchtlingen ankommt .

In der Türkei werden Menschenrechtsverletzungen
begangen . Eine Regierung ist nur dann souverän und auf-
richtig, wenn sie diese klar benennt und verurteilt – nicht
nur, wenn es ihr politisch passt, sondern immer –


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


und wenn sie sich von keiner anderen Regierung nötigen
oder gar erpressen lässt .

Was erleben wir jetzt in der Türkei? Wir erleben das
Verbot der größten Oppositionszeitung . Wir erleben, dass
138 Abgeordneten der Opposition nach einer Verfas-

sungsänderung Verfolgung droht; überwiegend sind es
die Mitglieder der kurdischen Demokratischen Partei der
Völker, der HDP . Wir erleben darüber hinaus eine Ver-
folgung von Kurdinnen und Kurden in der Türkei . Wir
erleben die Bombardierung der Kurdinnen und Kurden
durch die Türkei in Syrien . Das sind aber jene Menschen,
die den aktivsten Kampf gegen die schlimmste Terroror-
ganisation, den „Islamischen Staat“, am Boden führen .
Die Türkei hat alle Grenzübergänge zu Syrien dort ge-
schlossen, wo die Kurdinnen und Kurden herrschen, lässt
aber im Interesse des Nachschubs alle Übergänge offen,
wo der „Islamische Staat“ herrscht .

Es demütigt uns alle, dass die Bundeskanzlerin zu all
diesen Menschenrechtsverletzungen mehr schweigt als
spricht und sich bei Präsident Erdogan eher anbiedert . So
bewältigt sie die Flüchtlingsfrage nie .


(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt wissen Sie, wieso Sie mit uns keinen Antrag stellen können!)


Heute fehlt sie, ebenso Vizekanzler Gabriel . Der Außenmi-
nister fehlt ebenfalls . Das ist auch nicht besonders mutig .

Wir müssen aber auch der Menschen im Osmanischen
Reich gedenken, die Widerstand leisteten und sich gegen
den Völkermord stellten . Darunter waren auch ranghohe
osmanische Staatsbeamte und Gouverneure . Ich nen-
ne Faik Ali Bey, Mechmet Celal Bey, Mustafa Aga
Azizoglu und Hüseyin Nesimi Bey . Sie alle stehen für
den Widerstand . Sie haben sich den Deportationsbefeh-
len widersetzt und mussten das zum Teil mit ihrem Leben
bezahlen . – Ich kann heute nicht über das Verhältnis von
Armenien und Aserbaidschan sprechen, bei dem wir die
Rolle Armeniens kritisch sehen . Das ist nicht das Thema;
das machen wir ein anderes Mal .

Liebe Türkinnen und Türken, liebe deutsche Staatsan-
gehörige türkischer Herkunft, bitte glauben Sie mir: Nur
wenn man die historische Verantwortung für begangene
Verbrechen übernimmt,


(Zuruf von der CDU/CSU: Das sagt der Richtige!)


wird der Weg der Aussöhnung mit den Armenierinnen
und Armeniern und anderen frei . Ich kenne viele, die
diesen Weg gehen . Aber es müssen noch mehr werden,
bis hin zur türkischen Regierung, zum türkischen Präsi-
denten und irgendwann vor allem auch zum türkischen
Parlament .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817305900

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege

Franz Josef Jung .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1817306000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mei-

ne sehr verehrten Damen und Herren! Wir beenden heute
eine Debatte, die wir am 100 . Jahrestag der Vertreibung

Dr. Gregor Gysi






(A) (C)



(B) (D)


und des Massakers an den Armeniern sowie den assyri-
schen, aramäischen und chaldäischen Christen und eben-
so den Pontosgriechen und anderen christlichen Minder-
heiten begonnen haben . Ich bin froh darüber, dass es uns
gelungen ist, diesen gemeinsamen Antrag mit der Über-
schrift „Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an
den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in
den Jahren 1915 und 1916“ zu entwickeln . Ich will auch
daran erinnern, dass in der Debatte am 24 . April letzten
Jahres bereits der Bundestagspräsident sehr deutlich von
„Völkermord“ gesprochen hat und ebenso unsere Redner
und einen Tag zuvor unser Staatsoberhaupt, der Bundes-
präsident, diese Formulierung gewählt haben .

Meine Damen und Herren, der historische Anlass ge-
bietet das gemeinsame Gedenken . Es ist auch Ausdruck
des tiefen Respekts und des Mitgefühls gegenüber den
Opfern und gegenüber den Armeniern als eine der äl-
testen christlichen Nationen . Bis zu 1,5 Millionen Men-
schen haben bei diesem Massaker ihr Leben verloren . Es
war die fast vollständige Vernichtung der Armenier im
Osmanischen Reich .

Wir bezeichnen das Massaker in Übereinstimmung
mit der Definition der Vereinten Nationen nicht nur als
das, was es war, nämlich Völkermord, sondern machen
auch die Mitverantwortlichkeit des Deutschen Reiches
deutlich, des damaligen militärischen Hauptverbündeten
des Osmanischen Reiches, das trotz entsprechender In-
formationen nicht versucht hat, dieses Verbrechen gegen
die Menschlichkeit zu stoppen .


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg . Stefan Liebich [DIE LINKE])


Wir Deutsche wissen sehr genau, wie schwierig die
Aussöhnung mit den Nachbarn bzw . den Völkern ist, de-
nen man unzähliges Leid zugefügt hat . Wir verkennen
hierbei nicht die Einzigartigkeit des Holocaust; dieser
nimmt in der Geschichte eine schreckliche Sonderstel-
lung ein . Aber ich will insbesondere auch gegenüber der
türkischen Regierung und der Bevölkerung zum Aus-
druck bringen: Man muss zwischen der Schuld der dama-
ligen jungtürkischen Regierung und der Verantwortung
für die Gegenwart und die Zukunft deutlich unterschei-
den . Uns geht es nicht darum, die Türkei an den Pranger
zu stellen oder auf die Anklagebank zu setzen . Uns geht
es darum, deutlich zu machen, dass zur Aussöhnung die
Verantwortung für die gemeinsame Vergangenheit unab-
dingbar ist .


(Beifall im ganzen Hause)


Nur wer sich zur Vergangenheit bekennt, kann Versöh-
nung und somit die Zukunft gestalten .

Uns verbindet mit der heutigen Türkei sehr viel . Sie
ist für uns ein wichtiger Partner . Wir sind gemeinsam in
der NATO, in der OSZE und im Europarat . Zwischen un-
seren Ländern bestehen gute wirtschaftliche, kulturelle
und zivilgesellschaftliche Beziehungen . 3 Millionen Mit-
bürgerinnen und Mitbürger türkischer Herkunft sind ein
Teil unseres Landes . Gerade deshalb ist es uns besonders
wichtig, den Weg der Aufarbeitung der Vergangenheit zu

beschreiten, um Fortschritte für die Zukunft und damit
für die Aussöhnung zu erreichen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, der Versöhnungsprozess
ist gestoppt worden . Wir wollen einen neuen Impuls zur
Versöhnung setzen . Wir fordern deshalb in unserem An-
trag die Bundesregierung auf, Projekte, die sich der Auf-
arbeitung der Geschichte und der Annäherung der Men-
schen in beiden Ländern widmen, zu fördern: Stipendien
für Wissenschaftler und die Unterstützung zivilgesell-
schaftlicher Kräfte, die sich für Versöhnung einsetzen .

Es hat übrigens 2014 von dem damaligen Minister-
präsidenten und heutigen Staatspräsidenten Erdogan eine
Beileidskundgebung gegenüber den Armeniern zu ihrem
Gedenktag gegeben . 2009 – darauf wurde schon hinge-
wiesen – ist in den Zürcher Protokollen zwischen der
türkischen und armenischen Regierung vereinbart wor-
den, dass eine Kommission zur wissenschaftlichen Auf-
arbeitung und Untersuchung der geschichtlichen Ereig-
nisse eingesetzt wird . Vereinbart wurde, diplomatische
Beziehungen aufzunehmen und die Grenze zu öffnen .
Aber diese Vereinbarungen sind nicht ratifiziert worden.
Meine Damen und Herren, es ist unsere Auffassung, dass
die Ratifizierung dieser Protokolle für beide Seiten ein
Gewinn wäre, und wir wollen einen Impuls setzen, dass
dies in Zukunft möglich wird .


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir wollen mit unserem gemeinsamen Antrag deut-
lich machen, dass wir die Aufarbeitung der Vergangen-
heit und die Aussöhnung und Annäherung zwischen der
heutigen Türkei und Armenien unterstützen . In Erinne-
rung an das Unrecht wächst die Aussicht, dass sich dies
nicht wiederholt . Wir sind gemeinsam aufgefordert, alles
zu tun, damit Menschen und Völker nicht Opfer von Hass
und Vernichtung in der Gegenwart und in der Zukunft
werden . Deshalb bitte ich Sie herzlich um Unterstützung
unseres gemeinsamen Antrags .

Ich danke Ihnen .


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817306100

Das Wort erhält nun der Kollege Cem Özdemir für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .


Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1817306200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Exzellenzen und Eminenzen! Viele Vertreterinnen und
Vertreter der Aramäer, der Assyrer, der Armenier, der
Chaldäer, der Pontosgriechen und übrigens auch der tür-
kischen Zivilgesellschaft sitzen heute auf der Besucher-
tribüne . Seien Sie uns alle herzlich willkommen!


(Beifall)


Dr. Franz Josef Jung






(A) (C)



(B) (D)


Der Zeitpunkt, um über etwas so unvorstellbar Grau-
sames wie einen Völkermord zu sprechen, ist nie günstig .
Nach einem langen und mühsamen Hin und Her stim-
men wir heute über einen Antrag ab, der von Völker-
mord spricht, klar die deutsche Mitschuld benennt und
feststellt, dass daraus geradezu eine Verpflichtung für
Deutschland erwächst, sich dafür einzusetzen, dass das
Verhältnis zwischen der Türkei und Armenien normali-
siert wird und es zu einer Wiederannäherung kommt .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ich will zunächst die Gelegenheit nutzen, der Großen
Koalition dafür zu danken, dass sie mit dem gemeinsa-
men Antrag Wort gehalten hat . Ich will aber auch einen
Dank an die Kirchen für ihre Unterstützung in der Sache
und an unseren Bundespräsidenten und an unseren Bun-
destagspräsidenten für ihre klaren Worte richten . Ohne
sie hätte es diesen gemeinsamen Antrag heute so nicht
gegeben .

Unseren türkischen Freunden möchte ich sagen: Es
geht nicht um Fingerzeigen, es geht nicht darum, dass
wir moralische Hoheit für uns beanspruchen . Denn wir
bringen diesen Antrag ja gerade nicht ein, weil wir uns
moralisch überlegen fühlen oder uns in fremde Angele-
genheiten einmischen wollen, sondern weil es hier eben
auch um ein Stück deutscher Geschichte geht . Ich darf
zitieren . Reichskanzler Bethmann Hollweg sagte:

Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des
Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob
darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht .

Das Ergebnis berichtete Graf von Lüttichau, Gesandt-
schaftsprediger der Deutschen Botschaft in Konstantino-
pel, dann 1918 nach Berlin:

In den östlichen Provinzen, also mit Ausschluss von
Konstantinopel und Smyrna und anderen Plätzen in
der westlichen Türkei, sind von der Gesamtbevöl-
kerung 80–90 %, von der männlichen Bevölkerung
98 % nicht mehr am Leben . . . .

Was die Geistlichen anlangt, so sind sie fast völlig
ausgerottet .

Genau deswegen haben wir geradezu eine historische
Verpflichtung, Armenier und Türken aus Freundschaft
zur Versöhnung zu ermuntern .


(Beifall im ganzen Hause)


Mit Blick auf die in Deutschland lebenden Armenier sage
ich: Das gilt ausdrücklich auch für die in Deutschland
lebenden Armenier .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir in der Ver-
gangenheit Komplizen dieses furchtbaren Verbrechens
geworden sind, darf nicht heißen, dass wir heute zu Kom-
plizen der Leugner werden . Die Aufarbeitung der Schoah
ist die Grundlage unseres demokratischen Deutschlands .
Deshalb ist es Zeit, dass wir nun auch andere Verbre-
chen von früheren Vorläuferstaaten der Bundesrepublik
Deutschland aufarbeiten . Darum will auch ich ausdrück-
lich den Völkermord an den Herero und Nama erwähnen .

Auch dieser Völkermord wartet darauf, aufgearbeitet zu
werden .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Als der Statthalter von Kütahya 1915 den Befehl zur
Verschleppung der armenischen Bevölkerung in seinem
Bezirk empfing, gab er öffentlich bekannt, dass er die-
sem Befehl nicht Folge leisten werde . Der Gouverneur
von Konya, die Anhänger des Mevlevi-Derwisch-Ordens
in Konya haben genau dasselbe gemacht . Sie haben auf
ihr Herz gehört . Ihr menschlicher Kompass hat nicht ver-
sagt . Bei vielen war es der muslimische Glaube oder ihr
Menschenbild, das es nicht zuließ, dass sie diesem nie-
derträchtigen Befehl aus Istanbul Folge leisteten . Vor ih-
nen und all den mutigen Helden, die es auch in der Türkei
gab, die den Befehl nicht umgesetzt haben, verneigen wir
uns in Hochachtung .


(Beifall im ganzen Hause)


Auf diese türkischen Schindlers, und nicht auf die Mör-
der Talat Pascha und Enver Pascha, haben die Menschen
in der Türkei, aber auch die Menschen aus der Türkei, die
in der Bundesrepublik Deutschland leben, allen Grund,
stolz zu sein .

Indem wir den Völkermord anerkennen, die deutsche
Mitverantwortung daran bekennen und die Aufarbeitung
vorantreiben, möchten wir aber auch den Bürgerinnen
und Bürgern in Deutschland mit türkischem Hintergrund
die Möglichkeit geben, Antworten auf die Fragen zu fin-
den, auf die sie in den türkischen Geschichtsbüchern kei-
ne Antwort finden. Ich weiß, wovon ich spreche. Wie un-
ser Bundespräsident letztes Jahr in seiner Rede deutlich
gemacht hat: Die heute Lebenden tragen keine Schuld –
das gilt im Übrigen für uns auch im Zusammenhang mit
der Schoah –, aber eine Verantwortung . Diese Verant-
wortung tragen wir Deutsche genauso wie die Menschen
in der Türkei .


(Beifall im ganzen Hause)


Wir wollen niemanden stigmatisieren . Im Gegenteil:
Wir wollen die ermutigen, die Fragen stellen . Ich will
die Gelegenheit nutzen, auch an das Leid der aus dem
Balkan vertriebenen Muslime zu erinnern . Ich will an
das Leid der Tscherkessen erinnern – darunter die Vor-
fahren meines Vaters –, von denen manche Experten sa-
gen, dass das, was ihnen widerfuhr, auch als Völkermord
beschrieben werden kann . Auch ihre Geschichten warten
darauf, erzählt zu werden, damit künftige Generationen
ein Bild der türkischen Geschichte vermittelt bekommen,
das eben nicht schwarz und weiß ist, sondern bunt und
komplex .

Wenn wir heute in die Region schauen, dann sehen
wir, dass wieder Christen verfolgt werden – im Irak, in
Syrien und auch in der Türkei . Die Orte, in denen die-
jenigen Armenier angekommen sind, die die Trecks der
Vertreibung überlebt haben, liegen mitten im syrischen
Kriegsgebiet, beispielsweise Aleppo und Deir al-Sor .
Nachdem wir uns alle hier im Haus jahrelang über die
Sanierung von Kirchen in der Türkei freuen durften, wer-
den nun wieder Kirchen verstaatlicht und geschlossen .

Cem Özdemir






(A) (C)



(B) (D)


Priester dürfen faktisch ihre Ausbildung in der Türkei
nicht mehr machen . Was vielleicht am bittersten ist: „Du
Armenier“ ist schon immer ein Schimpfwort in der Tür-
kei gewesen . Aber es ist heute mehr denn je ein Schimpf-
wort . Auch ich werde als „Du Armenier“ bezeichnet . Ich
empfinde es nicht als Beleidigung, als Armenier bezeich-
net zu werden .

Als jemand, der aus einer sunnitisch-muslimischen
Familie stammt, bin ich in großer Sorge, wenn ich an das
Ostchristentum denke . Christliche Gemeinschaften sind
ausgerechnet an der Geburtsstätte des Christentums von
der Ausrottung bedroht .

„Wenn die Armenier heute noch leben würden, wäre
Van das Paris des Ostens .“ Der dies gesagt hat, war mein
ermordeter türkisch-armenischer Freund Hrant Dink, ein
Journalist, der sich wie kein anderer für die Versöhnung
von Türken und Armeniern in der Türkei eingesetzt und
dafür mit seinem Leben bezahlt hat .

Ich bin dem Bundestagspräsidenten dankbar dafür,
dass er angesprochen hat, dass Bundestagsabgeordnete
für ihre Meinung nicht bedroht werden dürfen . Aber ich
tue mich ein bisschen schwer damit, liebe Kolleginnen
und Kollegen, hier darüber zu reden, weil ich weiß, dass
ich, wenn ich nachher den Bundestag verlasse, nicht ver-
haftet werde, dass meine Immunität, wenn ich heute nach
Hause gehe, vermutlich nicht aufgehoben wird, dass ich
nicht zusammengeschlagen oder umgebracht werde . Das
gilt nicht für alle unsere Kollegen in der Türkei . Das gilt
nicht für diejenigen, die sich in der Türkei für die Aufar-
beitung dieser Verbrechen einsetzen . Deshalb gilt unsere
Solidarität diesen Menschen . Sie haben wirklich etwas
zu befürchten . Sie zahlen einen hohen Preis .

Herzlichen Dank .


(Beifall im ganzen Hause)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817306300

Das Wort hat der Kollege Christoph Bergner für die

CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Christoph Bergner (CDU):
Rede ID: ID1817306400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Hochverehrte Gäste! Als wir am 24 . April vergange-
nen Jahres hier anlässlich des 100 . Jahrestages der Ver-
nichtung der osmanischen Armenier zusammenkamen,
standen Erinnern und Gedenken im Vordergrund unse-
rer Debatte . Aber es ist in dieser Sitzung etwas deutlich
geworden, was zumindest in den Koalitionsfraktionen
zuvor als umstritten galt, nämlich der Umstand, dass
wir nur dann angemessen der Ereignisse von damals ge-
denken können, wenn wir den Begriff „Völkermord“ zu
ihrer Kennzeichnung gebrauchen . Deshalb kann ich es
nur begrüßen, dass wir heute einen gemeinsamen Antrag
einbringen, der aus wohlerwogenen Gründen den Begriff
„Völkermord“ bereits in der Überschrift verwendet . Ich
weiß: Es wäre sachlich fragwürdig, das Anliegen dieses
Antrags auf diesen Begriff zu reduzieren . Aber da sich
die Vorwürfe und die Kritik der letzten Wochen vor al-

len Dingen auf diesen Begriff konzentrierten, möchte ich
Verschiedenes klarstellen .

Erstens . Wir verwenden diesen Begriff nicht im Sinne
einer juristischen Anklageerhebung; das wurde bereits
gesagt . Es ist auch mir wichtig, das zu betonen .

Zweitens . Wir fühlen uns genötigt, von Völkermord
zu sprechen, um die Dimension der Tragödie angemes-
sen zu beschreiben, die sich vor 101 Jahren im Osmani-
schen Reich ereignet hat . Um den Opfern das besondere
Gedenken zu widmen, das ihnen als Opfer einer syste-
matischen und massenhaften Verfolgung und Tötung zu-
kommt, und auch um unsere Mitverantwortung als Deut-
sche nicht zu bagatellisieren, ist es wichtig, den Begriff
„Völkermord“ unzweideutig zu verwenden .

Meine Damen und Herren, wir verwenden den Be-
griff „Völkermord“ aber auch, weil wir ihn für unver-
zichtbar halten und weil nur dieser Begriff die exemp-
larische Bedeutung der Ereignisse vor über 100 Jahren
verdeutlichen kann . Mir ist ein Satz in unserem Antrag
wichtig – den möchte ich kurz zitieren –, der besagt, dass
die Vernichtung von über 1 Million ethnischer Armenier
„beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtun-
gen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja
der Völkermorde, von denen das 20 . Jahrhundert auf ab-
solut schreckliche Weise gezeichnet ist“, steht .

Das kennzeichnet die exemplarische Bedeutung . Herr
Mützenich hat darauf hingewiesen, dass für Raphael
Lemkin der Völkermord an den Armeniern gewisser-
maßen das erste Lehrstück für die Formulierung der
UN-Konvention gegen Völkermord wurde, die heute
Grundbestandteil des modernen Völkerrechts ist .

Aber wenn ich von der exemplarischen Bedeutung der
Ereignisse von damals spreche, dann möchte ich auch an
die Gedenkrede unseres Bundespräsidenten am 23 . April
2015 erinnern, in der er herausgearbeitet hat, dass das
Streben der Jungtürken, die jungtürkische Ideologie, die
einen ethnisch homogenen, religiös einheitlichen Natio-
nalstaat suchte, das eigentliche Motiv für die Massaker
an den Armeniern und anderen christlichen Gruppen war .
Ich darf auch den Bundespräsidenten kurz zitieren:

Trennung nach Volksgruppen, ethnische Säube-
rungen und Vertreibungen bildeten Anfang des
20 . Jahrhunderts oftmals die düstere Seite der Ent-
stehung von Nationalstaaten .

Es gehört auch aus meiner Sicht zu den bedrücken-
den Erfahrungen der Moderne, dass die Entwicklung zur
Volkssouveränität oft mit der Herausbildung ethnischer
Reinheitsideologien verbunden ist . Der britische Sozio-
loge Michael Mann spricht von der „Dunklen Seite der
Demokratie“ und davon, dass mit der Volkssouveränität
Minderheiten in der Sorge leben müssen, dass sie majo-
risiert werden und ihre Identität unterdrückt wird . Auch
dies macht die exemplarische Bedeutung des Völker-
mords an den Armeniern aus und bezieht sich nicht nur
auf die Genozide des vergangenen, des 20 . Jahrhunderts;
ich denke in diesem Zusammenhang auch an die bitteren
Erfahrungen beim Scheitern des Arabischen Frühlings,
als mit aufblühender Demokratisierung ethnische, religi-
öse und konfessionelle Konflikte aufgebrochen sind, als

Cem Özdemir






(A) (C)



(B) (D)


Staatengebilde in Bürgerkriegen versanken und versin-
ken, wie wir es heute noch in Syrien erleben .


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817306500

Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Zeit .


Dr. Christoph Bergner (CDU):
Rede ID: ID1817306600

Deshalb sollte – damit schließe ich, Herr Präsident –

der Völkermord an den Armeniern für uns nicht nur ein
Anlass zum fortwährenden Gedenken an die Opfer sein,
sondern er gibt auch Stoff, über die Entwicklung moder-
ner Staaten und Nationen und über die Bedingungen der
Entstehung souveräner Völker nachzudenken .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg . Dr . Petra Sitte [DIE LINKE])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817306700

Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Dietmar Nietan

für die SPD-Fraktion .


(Beifall bei der SPD)



Dietmar Nietan (SPD):
Rede ID: ID1817306800

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Vor über 101 Jahren nahm eines der großen
Menschheitsverbrechen des 20 . Jahrhunderts seinen
Lauf . Die Regierung des Landes, welches damals seinem
Verbündeten hätte in den Arm fallen können, ja hätte in
den Arm fallen müssen, ließ die Barbarei in zynischer
Menschenverachtung einfach geschehen . Das Land, von
dem ich hier spreche, heißt Deutschland .

Im damaligen Osmanischen Großreich mussten in
den Jahren 1915 und 1916 Hunderttausende unschuldige
Männer – insbesondere aber auch Frauen und Kinder –
erleben, dass sie nachts aus ihren Häusern gerissen und,
ohne genügend Essen und Wasser zu haben, auf Todes-
märsche in die Wüste geschickt wurden, um sie jämmer-
lich – man muss es so hart sagen – verrecken zu lassen .
Als ob das nicht schon schlimm genug gewesen wäre,
wurden sie auf diesem Weg Räuberbanden anheimge-
geben, die massenhaft Frauen vergewaltigten und ihnen
noch das Letzte nahmen, was sie vielleicht auf der Flucht
hatten mitnehmen können .

Aghet, die große Katastrophe, ist – das ist hier schon
betont worden – eben kein Kollateralschaden der Kriegs-
wirren der damaligen Zeit . Die systematische Vertrei-
bung und Vernichtung der anatolischen Armenier wie
auch der Aramäer, Assyrer, Pontosgriechen und chaldä-
ischen Christen war von staatlichen Stellen auf Befehl
des damaligen jungtürkischen Regimes systematisch
geplant, und sie wurde auch systematisch durchgeführt .
Dieses Verbrechen hatte ein klares Ziel . Es hatte das Ziel,
diese Volksgruppen im damaligen Osmanischen Reich zu
eliminieren . Sicherlich auch dank der Bemühungen von
Raphael Lemkin haben wir mittlerweile in der internati-
onalen Staatengemeinschaft – auch das wurde hier ge-

sagt – einen Begriff für ein so unbegreifliches Verbrechen
gefunden: Völkermord .

Angesichts bestimmter Debatten, die jetzt gerade au-
ßerhalb dieses Hohen Hauses stattfinden, möchte ich an
dieser Stelle noch einmal klarstellen: Wir sitzen hier nicht
zu Gericht . Niemand sitzt auf der Anklagebank – weder
Mitglieder der Bundesregierung, die heute nicht auf der
Regierungsbank sitzen, und schon gar nicht das türkische
Volk, dem wir, glaube ich, alle in großer Freundschaft
verbunden sind .


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg . Dr . Petra Sitte [DIE LINKE])


Ich finde, dass nur derjenige, der unredliche Absich-
ten im Sinn hat, den Text unseres gemeinsamen Antrages
in eine Anklageschrift uminterpretieren kann . Denn die
Überschrift und auch der erste Satz dieses Textes zeigen:
Dies ist keine Anklageschrift, sondern das ist eine Ver-
neigung vor den Opfern .


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg . Dr . Petra Sitte [DIE LINKE])


Nein, es wird heute keine Anklageschrift und auch kei-
nen donnernden Urteilsspruch geben .

Nun könnte man sich ja fragen: Warum das Ganze?
Die Antwort ist vielleicht so banal wie wegweisend .
Heute wollen wir als Parlament, als die demokratisch
gewählten Vertreterinnen und Vertreter des Souveräns –
wir, die die Nachfahren derer sind, die damals wegge-
schaut haben –, uns vor den Opfern verneigen . Wir wol-
len das in aller Demut und ohne Selbstgerechtigkeit tun .
Wir wollen den Opfern dieses Menschheitsverbrechens
unseren aufrichtigen Respekt zollen . Wenn es darum
geht, aufrichtig zu sein, muss man auch sagen, was war .
Und dann gilt: Ein Völkermord bleibt ein Völkermord
bleibt ein Völkermord .


(Beifall im ganzen Hause)


Auf diese Klarheit haben die Opfer und ihre Nachfah-
ren schon viel zu lange gewartet . Deshalb kann ich die
Debatten um den Zeitpunkt der heutigen Behandlung
des Themas, die wir in der Öffentlichkeit erleben, nicht
verstehen . Ich glaube, wir müssen nicht kritisieren, dass
wir das heute hier machen, sondern wir müssten uns eher
fragen, ob man nicht kritisieren muss, dass wir es erst
heute, nach 101 Jahren machen .


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn ich sage, dass es gilt, den Respekt vor den Op-
fern in den Vordergrund zu stellen, dann sollten wir auch
nicht vergessen, dass sich die Opfer nicht mehr wehren
können . Sie können nicht mehr mitdiskutieren . Sie konn-
ten sich auch damals nicht wehren . Auch ihre Nachfah-
ren konnten das nicht, wenn sie von denen, die ihnen das
Leid angetan hatten, im Nachhinein noch verunglimpft
und verleugnet wurden, wenn die Verbrechen relativiert
wurden .

Dr. Christoph Bergner






(A) (C)



(B) (D)


Sie können sich aber auch nicht wehren, wenn heuti-
ge Politikerinnen und Politiker, egal auf welcher Seite,
glauben, den Völkermord an den Armeniern zur Keule in
tagespolitischen Auseinandersetzungen machen zu müs-
sen . Wenn man das tut, wird man dem Respekt vor den
Opfern auch nicht gerecht .


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Ich bin auch der festen Überzeugung – ich konnte Ent-
sprechendes in einer Zeitung lesen –, dass das deutsche
Parlament heute hier nicht Rechthaberei betreibt, son-
dern ich sehe die heutige Debatte auch als eine Selbst-
behauptung des Parlaments, das – unabhängig davon,
wie bestimmte Dinge, die wir heute beschließen, von der
Regierung gesehen werden – das Heft des Handelns in
die Hand genommen hat und sich selbst eine Meinung
gebildet hat und sie zum Ausdruck bringt. Ich finde, das
ist keine Schwäche, sondern eine Stärke unserer Demo-
kratie .


(Beifall im ganzen Hause)


Erlauben Sie mir zum Abschluss, darauf hinzuwei-
sen – Staatsminister Michael Roth hat das vor ein paar
Tagen in der Presse geäußert –: Wir sollten unseren Be-
schluss nicht überhöhen; denn – da hat der Staatsminister
recht – Versöhnung kann man nicht beschließen .

Deshalb möchte ich zum Schluss meiner Ausführun-
gen einen Appell an alle jungen Menschen, ob sie tür-
kischer, armenischer, deutscher oder welcher Herkunft
auch immer sind, richten: Bitte glauben Sie nicht alles,
was man Ihnen sagt, was in Ihren Schulbüchern steht,
möglicherweise auch das nicht, was wir Ihnen hier heu-
te im Bundestag sagen . Ich bitte Sie darum: Machen Sie
sich selber ein Bild . Schauen Sie sich die Dokumente an,
die im Auswärtigen Amt einsehbar sind, die zu einem
großen Teil ja auf Deutsch sind, weil sie von deutschen
Diplomaten stammen . Bilden Sie sich selber ein Urteil .
Lassen Sie Ihr Herz sprechen, wenn Sie sich diese Do-
kumente anschauen, und lassen Sie sich nicht, von wem
auch immer, einreden, dass diejenigen, die das Wort
„Völkermord“ in den Mund nehmen, das türkische Volk
beleidigen wollen . Nein, das türkische Volk ist ein gro-
ßes und starkes Volk, und es hat es nicht nötig, sich vor
seiner Vergangenheit zu verstecken, sondern es kann sich
ihr selbstbewusst und mit Demut stellen . Kämpfen Sie
dafür, dass das geschieht; denn das ist der richtige Weg,
der Verantwortung gerecht zu werden, die uns allen aus
unserer Geschichte auferlegt ist .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817306900

Herr Kollege .


Dietmar Nietan (SPD):
Rede ID: ID1817307000

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Elie Wiesel hat am

27 . Januar 2000 an dieser Stelle gesagt:

Wer sich dazu herbeilässt, Erinnerungen an die Op-
fer zu verdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal .

Ich bin der festen Überzeugung, dass dieser Appell
von Elie Wiesel von immer mehr Menschen, auch von
immer mehr jungen Menschen in der Türkei, gehört
wird . Sie hören auf ihr Herz . Sie haben ein Herz für die
Opfer . Sie werden sich in Zukunft nicht mehr von staatli-
chen Stellen ein Geschichtsbild vorschreiben lassen . Das
gibt mir die Hoffnung, dass es Versöhnung geben wird .
In diesem Sinne danke ich Ihnen allen für Ihre Aufmerk-
samkeit .


(Beifall im ganzen Hause)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817307100

Der Kollege Hans-Peter Uhl spricht nun für die CDU/

CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hans-Peter Uhl (CSU):
Rede ID: ID1817307200

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und

Kollegen! „In jeder Geschichte“, sagt Goethe, „selbst
einer diplomatisch vorgetragenen, sieht man immer die
Nation, die Partei durchscheinen, wozu der Schreibende
gehörte .“ Wenn also ein Deutscher über den – ich zitiere
eine 100 Jahre alte Formulierung des deutschen Pfarrers
Johannes Lepsius – „Todesgang des armenischen Vol-
kes“ spricht, wird die persönliche Betroffenheit zu spü-
ren sein .

Wie sehr ein Völkermord, geschehen im Namen des
eigenen Volkes, der eigenen Nation diese Nation belastet,
wissen gerade wir nur zu gut . Der Verleger der Allge-
meinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland, Karl
Marx, beschrieb im November 1952, wie er alleine mit
dem damaligen ersten Bundespräsidenten der Bundesre-
publik Deutschland, Theodor Heuss, nach dessen Rede
zur Weihe des Gedächtnismales in Bergen-Belsen zu ei-
nem Gedenkstein ging, der von den überlebenden Juden
unmittelbar nach der Befreiung errichtet worden war . Er
schrieb:

Wir mußten einen schmalen Pfad zwischen den
Massengräbern passieren . Plötzlich verfärbte sich
Heuss und stützte sich auf mich . Er brachte nur die
Wörter hervor: „Schrecklich, schrecklich“, und zit-
terte am ganzen Körper .

So der erste Bundespräsident der Bundesrepublik
Deutschland .

In Kenntnis dieses Schrecklichen kam Charles de
Gaulle nach Deutschland und sprach bei seinem ersten
Staatsbesuch 1962 von dem Vertrauen, das er „für Ihr
großes Volk, jawohl! – für das große deutsche Volk,
hege“ .

Genauso sind auch wir bei der heutigen Erinnerung
und dem heutigen Gedenken an den Völkermord an den
Armeniern und anderen christlichen Minderheiten auf-
gerufen, etwas, auch wenn selbstverständlich, nochmals
auszusprechen: unsere Achtung vor dem bedeutenden
Osmanischen Reich und unseren Respekt vor dem gro-
ßen türkischen Volk .

Dietmar Nietan






(A) (C)



(B) (D)


Wir sind zuversichtlich, dass auch die türkische Re-
gierung zunehmend verstehen wird, dass es unser nach
dem Zweiten Weltkrieg gewachsenes europäisches Be-
wusstsein ist, dass man Opfer gedenkt, ohne damit an-
dere in eine Schuldrolle drängen zu wollen . Wir kennen
Albert Schweitzers kulturethische Lehre „Ehrfurcht vor
dem Leben“ . In diesem Sinne und aus keinem anderen
Grunde führen wir die heutige Aussprache .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es wird vielfach gesagt: Ist es nicht ungerecht und
in gewisser Weise auch willkürlich, sich in diesem Zu-
sammenhang nur mit dem Osmanischen Reich und den
Armeniern zu beschäftigen? Ich nehme diese Fragen
sehr ernst; denn das, worüber wir heute reden, liegt ja
nun über 100 Jahre zurück . In Abwandlung eines Satzes
von Bundespräsident Gauck kann man darauf antworten,
das Schicksal der Armenier stehe beispielhaft für die Ge-
schichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säu-
berungen, der Vertreibungen im 20 . Jahrhundert . Mit den
Pogromen an den Armeniern begann es im 20 . Jahrhun-
dert, Massenmord als legitime Antwort auf staatliche und
gesellschaftliche Probleme zu sehen . Natürlich hatte das
Osmanische Reich Probleme mit den Armeniern; das ist
unbestritten . Das Erschrecken darüber war so groß, dass
selbst der als humanistisches Vorbild allseits anerkannte
Reichstagsabgeordnete Friedrich Naumann die Massaker
damals als eine Art Notwehr der Türken bezeichnete .
Die Antwort des Osmanischen Reiches war aber die ers-
te zahlreicher staatsterroristischer Aktionen, mit denen
Staatenlenker auf Massenmord und Völkermord setzten .
Mit Stalins Sowjetunion und ihrem Massenmord an den
Kulaken, dem Genozid an den Ukrainern, den innersow-
jetischen Säuberungsaktionen und vor allem mit der
durch ihre bürokratisch-perfektionistische Durchführung
unvergleichbaren Vernichtungsaktion der Deutschen an
den Juden nahm das Fürchterliche seinen Verlauf .

In engem Zusammenhang mit dem Heutigen habe ich
im Juni 2000 auf die innere Einheit von Erinnerung und
Zukunft hingewiesen . Ich habe damals gesagt:

… denn ohne Erinnerung und Übernahme der Ver-
antwortung für das Geschehene kann es keine ge-
deihliche Zukunft geben, kein friedliches Miteinan-
der unter Nachbarn .

Das gilt auch für das heutige Miteinander von Türken
und Armeniern . Das ist in diesem Hause unser heutiges
Anliegen: mit dem Blick der Wahrheit zurückzuschauen,
um mit dem Blick des Friedens nach vorne schauen zu
können .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817307300

Albert Weiler erhält nun das Wort für die CDU/

CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Albert Weiler (CDU):
Rede ID: ID1817307400

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Arme-
nierinnen und Armenier! Liebe Türkinnen und Türken!
Sireli Hayer! Sevgili Türkler! Danke vorab an den Bun-
despräsidenten, danke an Norbert Lammert, den Bundes-
tagspräsidenten, aber auch danke an die Kanzlerin und
die Fraktionen, die konstruktiv dazu beigetragen haben,
dass diese Abstimmung heute stattfindet. Vielen Dank!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


„Was hat der Mensch dem Menschen Größeres zu ge-
ben als Wahrheit?“ Weise Worte Friedrich Schillers, wie
ich meine .

Als Bundestagsabgeordneter und Präsident des
Deutsch-Armenischen Forums sowie bekennender Christ
liegt mir das Thema Völkermord an den Armeniern und
anderen christlichen Minderheiten, wie zum Beispiel
Aramäern oder Pontosgriechen, im Osmanischen Reich
sehr am Herzen .

Deutschland als damaliger Hauptverbündeter des Os-
manischen Reiches darf in Europa auf keinen Fall eine
Ausnahme machen. Wir haben die historische Verpflich-
tung, die jungtürkischen Gräueltaten beim Namen zu
nennen und als Völkermord zu bezeichnen . Es ist beson-
ders erfreulich, dass sich dabei unsere Koalition und die
Grünen auf einen gemeinsamen, fraktionsübergreifenden
Antrag geeinigt haben .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das heißt, an dieser historischen Tatsache gibt es für uns
keinen Zweifel, und es gibt keinen Zweifel daran, wer
Opfer und wer Täter war . Die größte Herausforderung
ist und bleibt weiterhin die schonungslose, kritische und
ehrliche Aufarbeitung und Anerkennung dieser Tatsache
seitens der Türkei . Es fehlt bis heute ein eindeutiges Be-
kenntnis der türkischen Regierung zu dem Unrecht, das
damals geschehen ist, jenem schrecklichen Unrecht, das
den Armeniern widerfahren ist .

Meine Damen und Herren, mit diesem Antrag wol-
len wir vor allem diesen schweren Weg bereiten, indem
wir uns auch zu unserer Mitschuld und unserer Mitver-
antwortung bekennen, weil es ohne Anerkennung keine
Versöhnung und keine Annäherung geben kann . Die An-
erkennung des Völkermords ist ein wichtiger Schritt auf
dem Weg zur Verhinderung weiterer Genozide und ein
Weg, den vielen Millionen armenischen Nachkommen
unser Mitgefühl zu erweisen .

Meine Damen und Herren, das Leid kennt keine Zeit-
grenzen; der Genozid an den Armeniern gerät nie in
Vergessenheit . Auch nach einem Jahrhundert ist er uns
bewusst . Er ist auch ein Teil unserer gemeinsamen euro-
päischen Vergangenheit . Er beschäftigt uns alle; er geht
uns alle an . Aber wir wollen vorankommen . Wir wollen
auch bei dem schwierigen Verhältnis zwischen der Türkei
und Armenien das erleben, was wir Deutsche erlebt ha-
ben, nämlich Vergebung und Versöhnung . Das wäre nicht

Dr. Hans-Peter Uhl






(A) (C)



(B) (D)


geschehen, wenn wir uns nicht der Vergangenheit gestellt
hätten, sie nicht aufgearbeitet hätten – kritisch aufgear-
beitet, wissenschaftlich aufgearbeitet, gesellschaftlich
aufgearbeitet . Das war nicht einfach . Das war anstren-
gend . Meine Damen und Herren, das war schmerzhaft .
Doch ohne die Aufarbeitung wäre uns niemals das Maß
an Vergebung und Versöhnung mit Israel begegnet, das
wir Deutsche seit 1945 erleben durften und erleben dür-
fen . Mit unserer Anerkennung im Parlament ermutigen
wir auch die türkische Regierung, dass sie diesen ersten
mutigen Schritt zur Anerkennung, Aufarbeitung und Ver-
söhnung unternimmt, der die beiden Länder näher zu-
sammenbringen wird .

Es ist erfreulich, dass es gerade in der heutigen Tür-
kei Menschen gibt, die eine ehrliche Aufarbeitung und
Versöhnung mit Armenien anstreben – Menschen, die an
einer gemeinsamen Zukunft bauen . Mit unserem Antrag
wollen wir auch diese ehrwürdigen Frauen und Männer
bestärken, die bereits mutige Schritte unternehmen, jene
türkischen Intellektuellen, die sich kritisch mit diesem
Teil ihrer Geschichte auseinandersetzen . Wir werden
gemeinsam mit diesen Menschen daran arbeiten, dass
der Genozid von der türkischen Regierung aufgearbeitet
wird zum Wohl der Türkei und Armeniens . Wir wollen
aber keine Schuldzuweisungen . Unser Ziel ist, durch
Anerkennung, Aufarbeitung und Versöhnung zu einer
gemeinsamen Zukunft, zu einem friedlichen Miteinan-
derleben in dieser Region beizutragen . Genau dieses Ziel
wollen wir gemeinsam erreichen .

Vielen Dank. Çok teşekkürler. Shat shnorhakalutyun.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817307500

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der

Kollege Martin Pätzold für die CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Martin Pätzold (CDU):
Rede ID: ID1817307600

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Der heute dem Deutschen Bundestag vor-
liegende Antrag soll einen Beitrag zur Versöhnung der
Völker leisten . Eine Aussöhnung zwischen Armenien
und der Türkei ist nur möglich, wenn eine Aufarbeitung
der Geschehnisse von 1915 und 1916 erfolgt .

Ich bin Ihnen, Herr Kauder, sehr dankbar dafür, dass
Sie am 25 . Februar dieses Jahres die ausgestreckte Hand
von Herrn Özdemir angenommen haben und dieses
wichtige moralisch-historische Thema, bei dem wir als
Bundesrepublik Deutschland eine Mitverantwortung tra-
gen, eben nicht zum Parteiengeplänkel gemacht haben,
sondern die Möglichkeit gegeben haben, es interfrakti-
onell zu diskutieren . Noch einmal vielen Dank dafür an
dieser Stelle .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie, Herr Özdemir, haben deutlich gemacht, dass es
Ihnen um das Thema geht, um die Aufarbeitung und auch
um die Fragestellung, wie unterschiedliche Völker in ei-

ner friedlichen Welt leben können . Sie haben Ihren per-
sönlichen Hintergrund dargestellt . Bei mir ist es so, dass
ich als Deutscher eine Mutter habe – sie sitzt heute auf
der Besuchertribüne –, die in Armenien geboren ist . Ich
habe zur Kenntnis genommen, lieber Albert, dass du heu-
te etwas Armenisch gesprochen hast, die Sprache habe
ich als Kind gelernt . So bin ich als Deutscher mit armeni-
schen Wurzeln aufgewachsen in dem Bewusstsein, dass
es bei der Fragestellung des Genozids nicht darum geht,
mit dem Finger auf andere zu zeigen und über Schuld
zu diskutieren . Vielmehr geht es darum, Versöhnung und
Aussöhnung zu ermöglichen . Das ist tief in meinem Be-
wusstsein verankert .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Und weil das so ist, stellen wir dieses Thema eben nicht
in den aktuellen Kontext . Wir sehen und bewerten, was
die Türkei heutzutage für Flüchtlinge tut . 2,5 bis 3 Mil-
lionen Syrer bekommen dort Schutz und werden unter-
stützt . Die moralische Aufarbeitung des Genozids darf
aber nicht in diesen Kontext gestellt werden .

Mit dem vorgelegten Antrag, den wir heute im Deut-
schen Bundestag verabschieden werden, machen wir
der Bundesregierung gegenüber erstens deutlich, dass
wir den Versöhnungsprozess unterstützen möchten, und
zweitens, dass wir zivilgesellschaftliche, kulturelle und
wissenschaftliche Aufarbeitung in Armenien und in der
Türkei mit Projekten unterstützen wollen . Wir wollen,
dass man sich in der Türkei, aber auch in Armenien mit
wissenschaftlichen und kulturellen Fragestellungen be-
schäftigt, sich an die gemeinsame Geschichte und Kultur
erinnert .

Das dritte Thema in unserem Antrag – für mich übri-
gens vielleicht das wesentliche Thema in Bezug auf die
Fragestellung einer friedlichen Zukunft – ist der Umgang
mit dem Zürcher Protokoll, das – es wurde schon ange-
sprochen – 2009 auf den Weg gebracht wurde, aber nun
ins Stocken geraten ist . In dem Zürcher Protokoll geht es
gerade darum, dass die Grenzen zwischen der Türkei und
Armenien geöffnet werden . In diesem heutigen Europa,
wo Mauern hochgezogen werden, wo Grenzen geschlos-
sen werden, wäre es, auch von dieser Debatte ausgehend,
ein starkes Zeichen, wenn es gelingt, dass die Grenzen
zwischen der Türkei und Armenien geöffnet werden und
dass die Armenier von mehr Handel und von mehr Mög-
lichkeiten einer freien Grenzöffnung profitieren würden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und vielen
Dank dafür, dass sich der Deutsche Bundestag entschie-
den hat, den Völkermord in dieser Form anzuerkennen .


(Beifall im ganzen Hause)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817307700

Ich schließe die Aussprache .

Wir kommen zur Abstimmung über den gemeinsamen
Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/
Die Grünen auf der Drucksache 18/8613 mit dem Titel
„Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den
Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in den

Albert Weiler






(A) (C)



(B) (D)


Jahren 1915 und 1916“ . Zu dieser Abstimmung liegen
mir eine Reihe von persönlichen Erklärungen zur Ab-
stimmung vor, die wir wie immer dem Protokoll beifü-
gen werden .1)

Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich der Stimme? – Dann ist bei einer
Gegenstimme und einer Enthaltung diese Entschließung
mit einer bemerkenswerten Mehrheit des Deutschen
Bundestages angenommen .


(Beifall im ganzen Hause)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1817307800

Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 5 b: Be-

schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum
Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „100 . Jah-
resgedenken des Völkermords an den Armenierinnen
und Armeniern 1915/1916 – Deutschland muss zur Auf-
arbeitung und Versöhnung beitragen“ . Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 18/7909, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/4335 abzulehnen . Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der
Fraktion der Grünen und bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke angenommen .


(Unruhe – Glocke des Präsidenten)


– Es kommt ein spannender Tagesordnungspunkt . Aber
wer ihn nicht verfolgen möchte, möge bitte allfällige Ge-
spräche draußen führen .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W . Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE

Die Riester-Rente in die gesetzliche Renten-
versicherung überführen

Drucksache 18/8610
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss

Erster Redner ist der Abgeordnete Matthias W .
Birkwald, Fraktion Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817307900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Carsten

Maschmeyer, ein enger Freund von Gerhard Schröder
und Chef eines Finanzvertriebs, schwärmte nach der Ein-
führung der Riester-Rente:

1) Anlage 2

Es ist so, als wenn wir auf einer Ölquelle sitzen . Sie
ist angebohrt, sie ist riesig groß, und sie wird spru-
deln .

Aha .

Wie kam es zu Riester? Erstens wollten die Arbeitge-
ber sich um das Jahr 2000 herum nicht mehr zur Hälfte an
der Finanzierung einer Lebensstandard sichernden Rente
beteiligen . Sie wollten schlicht geringere Rentenbeiträge
zahlen . Zweitens wollte die Versicherungswirtschaft Pro-
visionen mit privater Altersvorsorge kassieren .

Bundeskanzler Schröder und Arbeitsminister Walter
Riester, SPD und Grüne haben die Rente aktiv teilpriva-
tisiert, und das war schlecht .


(Beifall bei der LINKEN)


So mussten fortan die Arbeitgeberinnen und Arbeitge-
ber weniger in die Rentenkassen einzahlen, als für eine
gute Rente nötig gewesen wäre, und das war ein politisch
willkürlich in die Rentenkassen gerissenes Loch . Diesem
Loch sollen die Beschäftigen allein mit der Riester-Ren-
te und steuerlichen Zulagen hinterhersparen . Die Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer wurden belastet, und die
Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber wurden entlastet . Die
Linke sagt dazu: Diese Entscheidung war grottenfalsch,
und sie ist grottenfalsch .


(Beifall bei der LINKEN)


Heute müssen die Arbeitgeber nur 9,35 Prozent des
Lohnes für die Altersvorsorge ihrer Beschäftigten zah-
len . So viel zahlen die Beschäftigten ebenfalls . Dazu
kommen aber noch 4 Prozent ihres Lohnes für die Ries-
ter-Rente und 1,4 Prozent für die betriebliche Altersver-
sorgung . Die Beschäftigten müssen also 14,75 Prozent
ihres Bruttolohns in die drei Säulen der Altersvorsorge
stecken, um eine Lebensstandard sichernde Alterssiche-
rung zu erhalten .

Durchschnittlich verdienende Beschäftigte mit
3 022 Euro brutto zahlen heute also 163 Euro mehr im
Monat für ihre Altersvorsorge als ihre Chefs . Und weil
die Arbeitgeber zu wenig zahlen, wird das Rentenniveau
von Lebensstandard sichernden 53 Prozent im Jahr 2000
auf bis zu 43 Prozent im Jahr 2030 sinken, und das darf
nicht so bleiben .


(Beifall bei der LINKEN)


Für die Menschen ist das brutal; denn die Kaufkraft
der gesetzlichen Rente ist massiv geschrumpft . Ein Bei-
spiel: Eine durchschnittliche Rente für langjährig Ver-
sicherte mit mindestens 35 Beitragsjahren ist zwischen
2000 und 2014 von 1 021 Euro auf 916 Euro gesunken .
Wenn man die Preissteigerungen seit dem Jahr 2000 be-
rücksichtigt, hätte eine durchschnittliche Rente für lang-
jährig Versicherte 1 284 Euro und nicht nur 916 Euro
betragen müssen . SPD, Grüne und CDU/CSU haben mit
der Riester-Rente und der Absenkung des Rentenniveaus
also dafür gesorgt, dass denen, die Jahrzehnte gearbei-
tet haben und in die Rentenkasse eingezahlt haben, nun
jeden Monat 368 Euro Rente im Portemonnaie fehlen .
Meine Damen und Herren, das ist unverantwortlich .


(Beifall bei der LINKEN)


Präsident Dr. Norbert Lammert






(A) (C)



(B) (D)


Die Rentnerinnen und Rentner werden nicht mehr
vollständig am steigenden Wohlstand in unserem Land
beteiligt . Im Gegenteil: Es gibt immer mehr arme Rent-
nerinnen und Rentner . Schon heute sind es 3 Millionen .
Das darf nicht so bleiben .


(Beifall bei der LINKEN)


Es geht auch anders . In unseren Nachbarländern
Dänemark, Schweden, Niederlande, Schweiz und Ös-
terreich leben viele Rentnerinnen und Rentner deutlich
besser . In Österreich ist der Beitragssatz seit 1988 stabil .
Er ist etwas höher als bei uns, aber dafür zahlen die Ar-
beitgeber in Österreich auch mehr in die Rentenkasse ein
als die Beschäftigten . Österreich hat deshalb eine star-
ke gesetzliche Rente . Ein österreichischer Beschäftigter
erhält nach 35 bis 45 Beitragsjahren sage und schreibe
1 820 Euro Rente . Der vergleichbare Beschäftigte in
Deutschland erhält nur 1 050 Euro Rente . 770 Euro mehr,
ganz ohne Riester, dazu sage ich: Das muss drin sein,
auch bei uns .


(Beifall bei der LINKEN)


Die Riester-Rente kann die Rentenlücke nicht ausglei-
chen, und die Menschen wissen das . Seit fünf Jahren sta-
gniert die Zahl der Riester-Verträge . Es werden einfach
nicht mehr . Im Gegenteil: Im vergangenen Jahr ging die
Zahl der Neuverträge erneut zurück . Nach 15 Jahren ha-
ben nun der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschafts-
bundes, Reiner Hoffmann, CSU-Chef Seehofer, der Wirt-
schaftsweise Professor Peter Bofinger und viele andere
die Notbremse gezogen . Sie sagen: Schluss mit der steu-
erlichen Riester-Förderung . – Sie haben recht .


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, die Riester-Rente ist in-
effizient wegen der hohen Verwaltungskosten, die Ries-
ter-Rente ist intransparent, weil die hohen Kosten und
die schmalen Renditen für die Verbraucherinnen und
Verbraucher nicht erkennbar sind, die Riester-Rente ist
ineffektiv, weil das Ziel, die Versorgungslücke zu schlie-
ßen, nicht erreicht wird, und die Riester-Rente ist sozial
ungerecht, weil die staatlichen Subventionen von bisher
35 Milliarden Euro nahezu ausschließlich in die Taschen
der Versicherungsunternehmen geflossen sind. Aus all
diesen Gründen fordert die Linke: Die milliardenschwere
Riester-Förderung muss jetzt gestoppt werden .


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke legt Ihnen heute eine machbare Alternative
zu dem Riester-Unsinn auf den Tisch .

Erstens . Riester-Sparerinnen und Riester-Sparer sollen
ab sofort das Recht erhalten, das bisher in Riester-Versi-
cherungen angesparte Kapital freiwillig in die umlagefi-
nanzierte gesetzliche Rentenversicherung zu überführen .

Zweitens . Damit entstehen eins zu eins Anwartschaf-
ten auf ihrem persönlichen Rentenkonto bei der gesetzli-
chen deutschen Rentenversicherung .

Drittens . Die Wechselkosten für den Riester-Vertrag
werden auf ein absolutes Minimum begrenzt . Für die be-
reits eingezahlten Eigenbeiträge und die erhaltenen Zu-
lagen wird selbstverständlich Vertrauensschutz gewährt .

Viertens . Gleichzeitig wird die steuerliche Förderung
der privaten Altersvorsorge eingestellt . Die freiwerden-
den Finanzmittel in Höhe von jährlich über 3 Milliarden
Euro fließen direkt in die gesetzliche Rentenversiche-
rung .

Fünftens . Dann werden wieder die Ziele der Lebens-
standardsicherung und der strukturellen Armutsvermei-
dung in der gesetzlichen Rentenversicherung verankert .

Sechstens . Die Kürzungsfaktoren in der Rentenanpas-
sungsformel werden gestrichen .


(Beifall bei der LINKEN)


Als rentenpolitisches Sicherungsziel wird dann für
die sogenannte Standarderwerbsbiografie – 45 Versiche-
rungsjahre mit einem Durchschnittsgehalt – ein Siche-
rungsniveau von 53 Prozent vor Steuern festgeschrieben,
also genau so, wie es war, bevor Schröder, Riester und
Fischer das Rentenniveau in den Sinkflug schickten.

Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen: Dieses
Rettungsprogramm für die gesetzliche Rente ist verfas-
sungskonform, und es ist finanzierbar. Wir haben den
Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages
gefragt, ob eine Überführung von Riester-Guthaben in
die gesetzliche Rente mit dem Grundgesetz vereinbar
sei . Die klare Antwort lautet: Solange die Überführung
freiwillig bliebe, gebe es keine verfassungsrechtlichen
Bedenken .

Was würde ein Rentenniveau von 53 Prozent die Bei-
tragszahler und Beitragszahlerinnen sowie die Arbeitge-
ber und die Arbeitgeberinnen kosten? Der aktuelle Ren-
tenwert müsste ab 1 . Juli von 30,45 Euro auf 33,83 Euro
steigen . Das wäre eine Rentenanpassung von gut 11 Pro-
zent . Sie würde im kommenden Jahr 29,11 Milliarden
Euro kosten . Das klingt viel, ist aber nur eine Beitrags-
satzerhöhung um 2,3 Prozentpunkte auf 21 Prozent . Be-
schäftigte mit einem durchschnittlichen Bruttomonats-
einkommen von zurzeit 3 022 Euro müssten im Monat
gerade einmal knapp 35 Euro mehr an Beitrag in die ge-
setzliche Rentenversicherung zahlen und eben nicht die
für Riester-Renten geforderten 4 Prozent vom Bruttoein-
kommen . 35 Euro statt 108 Euro – das ist gerecht, und
das ist ein Schnäppchen .


(Beifall bei der LINKEN – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was zahlen die 2040?)


Denn damit würde eine sogenannte Standardrente nach
45 Berufsjahren von aktuell 1 370 auf 1 522 Euro stei-
gen . Monatlich wären das 152 Euro mehr Rente . Das ist
die linke Alternative zu Riester . Es ist eine gute Alterna-
tive, finde ich. Das muss drin sein.

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der LINKEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1817308000

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Matthias W. Birkwald






(A) (C)



(B) (D)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1817308100

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Jeder deutsche Erstklässler weiß: Wenn er sich spätes-
tens zum Beginn der Europameisterschaft im Fußball ein
neues Trikot von seinem Taschengeld kaufen will, dann
kann er das ihm am Monatsanfang von seinen Eltern
ausgezahlte Taschengeld nicht gleich für mehrere große
Eisbecher zu 100 Prozent verausgaben, sondern er muss
etwas davon zurücklegen . Das, was jeder deutsche Erst-
klässler weiß, wissen, glaube ich, die meisten Menschen
in Deutschland, aber nach dieser Rede muss ich feststel-
len: Die Linke weiß das nicht .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Aber auch die Österreicher wissen es, und da funktioniert es, Herr Kollege! – Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Herr Weiß!)


Aus dem Bundeshaushalt fließen über 80 Milliarden
Euro jährlich in die gesetzliche Rentenversicherung, die
umlagefinanziert ist.


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Das sind schon ein paar mehr!)


Das ist eine großartige Leistung, mit der wir aus Steuer-
mitteln die Renten mit unterstützen . Herr Birkwald hat
von 3 Milliarden Euro gesprochen . Es ist sicherlich noch
mehr, wenn man sich anschaut, was der Staat denjenigen
an Unterstützung gibt, die für die Zukunft noch zusätz-
lich etwas ansparen wollen, einmal über die Zulage zur
kapitalgedeckten privaten Altersvorsorge, sprich Ries-
ter-Sparen,


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Sagen Sie doch einmal etwas zu meinem Argument!)


und durch den Verzicht auf Steuern auf die sogenannte
Entgeltumwandlung zur Finanzierung einer betriebli-
chen Altersvorsorge . Aber wenn man auch dieses Geld,
das für das Ansparen für die Zukunft vorgesehen ist, jetzt
einfach eins zu eins nimmt und als zusätzlichen Bundes-
zuschuss in die Rentenkasse einzahlt, passiert Folgendes:
Der Rentenversicherungsbeitrag sinkt, übrigens auch für
den Arbeitgeber,


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Das muss ja nicht so bleiben! Wir sind ja der Gesetzgeber!)


also er spart etwas – das steht im Gegensatz zu dem, was
die Linken wollen –, aber für die Zukunft fehlt das Geld
aus der zusätzlichen Altersvorsorge . Das ist der Effekt
von dem, was die Linken hier vorschlagen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Nun hat die Linke gehofft, dass sie mit einem Gutach-
ten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bun-
destages, das sie in Auftrag gegeben hat, ihre Position
untermauert bekommt . Leider hat Kollege Birkwald uns
die letzten Sätze dieses Gutachtens vorenthalten .


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Das machen Sie jetzt!)


Deswegen lese ich sie Ihnen wortwörtlich vor:

Würden nun in größerem Ausmaß aufgrund der
Übertragung von Altersvorsorgevermögen in die
gesetzliche Rentenversicherung höhere Beitragsein-
nahmen zu verzeichnen sein, würden die heutigen
Beitragszahler und Rentenberechtigten von einem
niedrigeren Beitragssatz und höheren Renten pro-
fitieren. Wenn dann später aus der Übertragung
Rentenleistungen zu gewähren sind, hat dies wie-
derum Auswirkungen auf den Beitragssatz und die
Rentenhöhe . Durch die höheren Ausgaben ergäben
sich dann ein höherer Beitragssatz und niedrigere
Renten . Benachteiligt wäre insbesondere die spätere
Generation der Beitragszahler .

Das ist das Resümee der Stellungnahme des Wissen-
schaftlichen Dienstes . Genau so ist es auch .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1817308200

Herr Kollege, der Kollege Matthias W . Birkwald wür-

de gerne eine Zwischenfrage stellen . Wollen Sie sie zu-
lassen?


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1817308300

Bitte schön .


Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817308400

Vielen Dank, Herr Weiß . – Herr Weiß, unser Ziel war,

erst einmal herauszubekommen, ob es verfassungsgemäß
wäre, die Riester-Guthaben in die gesetzliche Rentenver-
sicherung zu übertragen . Da hat das Gutachten gesagt:
Ja, wenn das freiwillig erfolgt, ist das so . – Das halte ich
erst einmal fest .

Darüber hinaus hat das Gutachten Ceteris-paribus-Be-
dingungen genannt . Das bedeutet: Wir sind der Gesetz-
geber, uns obliegt es, die Rentenanpassungsformel und
auch die Rentenformel zu ändern, wenn es hier die ent-
sprechende Mehrheit und die politische Einsicht gäbe .
Uns obliegt es, beispielsweise dafür zu sorgen, dass die
Nachhaltigkeitsrücklage stärker wachsen kann und der
Deckel, den es heute gibt, wegfällt . Das heißt, es gibt
zahlreiche Möglichkeiten, dafür zu sorgen, dass das, was
im Gutachten drinsteht, nicht passiert .

Ich will Ihnen noch einmal sagen: In Österreich wird
es genau so gemacht . Dort gibt es eine deutlich höhere
Rente – ich habe Ihnen die Zahlen vorgetragen –, und
alles ist stabil . Deswegen bitte ich Sie: Sagen Sie doch
einmal etwas dazu, dass jemand nach den heutigen Re-
gelungen 108 Euro in Riester stecken muss, wenn er
oder sie durchschnittlich verdient, und dass das mit ei-
ner Stärkung der gesetzlichen Rentenversicherung mit
35 Euro für den Arbeitnehmer bzw . die Arbeitnehmerin
und 35 Euro für den Arbeitgeber bzw . die Arbeitgeberin
zu erledigen wäre . Man bräuchte also, wenn man die Zu-
lagen nicht mitrechnet, insgesamt 38 Euro weniger . Der
Punkt ist nämlich, dass wir den Versicherungsunterneh-
men dieses Geld wegnehmen wollen . Für die Beschäf-






(A) (C)



(B) (D)


tigten wäre das deutlich besser . Was sagen Sie zu diesem
Argument?


(Beifall bei der LINKEN)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1817308500

Herr Kollege Birkwald, Sie machen es nicht besser .

Erstens . Natürlich – da haben die Gutachter recht –:
Wir als Deutscher Bundestag können die Rentengesetz-
gebung verändern; gar keine Frage . Das machen wir auch
hin und wieder .

Zweitens . Ihre schlichte Behauptung ist: Wenn man
das Geld, das der Staat denjenigen, die für die Zukunft
sparen wollen, wegnimmt und es in die Rentenkasse ein-
zahlt, wird eine höhere Rente herauskommen . – Genau
das ist falsch . Es wäre ein Vorteil für die heutigen Bei-
tragszahler, weil der Beitragssatz sinken würde . Aber es
wäre eine Belastung für die künftigen Generationen, die
auch noch eine Rente bekommen wollen .


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Nur wenn wir nichts ändern!)


Das ist das Ergebnis der Untersuchung des Wissenschaft-
lichen Dienstes . Genau das habe ich Ihnen eben vorge-
halten, und dem haben Sie auch nicht widersprochen .


(Zuruf von der LINKEN: Die wollen es nicht verstehen!)


Da Sie auf Österreich und die Schweiz hinweisen,
muss ich Ihnen übrigens sagen: Die Deutsche Rentenver-
sicherung bzw . die gesetzliche Rente steht hervorragend
da . Sie verfügt über eine hervorragende Rücklage .


(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: So ist es!)


Die Österreicher und die Schweizer haben mit der Finan-
zierung ihrer Rentensysteme schwer zu kämpfen; das ist
leider die Wahrheit .


(Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Aber den Rentnerinnen und Rentnern geht es da besser!)


Nun will ich ja nicht bestreiten, dass es Reformbedarf
gibt . Wir wollen die Reformen aber nicht so durchfüh-
ren, wie Sie es machen wollen . Es gibt einen Reform-
bedarf bei der gesetzlichen Rente, die Gott sei Dank gut
dasteht . So sieht die Gesetzgebung von 2001 zum Bei-
spiel vor, dass es nach dem Jahr 2030 kein Mindestsiche-
rungsniveau mehr gibt . Ich glaube, gerade an die junge
Generation muss es eine klare Ansage geben: Auch für
die Zukunft wollen wir, dass die starke erste Säule der
Altersversorgung in Deutschland, nämlich die gesetzli-
che Rentenversicherung, stabil bleibt und dass sie eine
Mindestsicherungszusage für die junge Generation bein-
haltet . Das ist, glaube ich, eine Reformaufgabe, die vor
uns liegt, eine Aufgabe, die die Bundesregierung im Ren-
tendialog jetzt übrigens auch anpacken will .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . Katja Mast [SPD])


Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutsch-
land haben schon vor der Rentenreform 2001 gewusst,
dass es sinnvoll ist, die Altersvorsorge nicht nur auf ein

Bein, sondern zumindest auf zwei Beine zu stellen . Die
meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben
zum Beispiel die vermögenswirksamen Leistungen, von
denen heute kaum noch jemand spricht, genutzt, um ei-
nen Bausparvertrag oder eine Lebensversicherung abzu-
schließen, oder sie haben sich angestrengt, ein eigenes
Häuschen zu erwerben, auch als Rücklage für die eigene
Altersversorgung . 2001 wurde mit Blick auf das, was die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland
ohnehin wissen, lediglich ein zusätzlicher Anreiz gesetzt
bzw. eine zusätzliche finanzielle Unterstützung durch
den Staat geschaffen .

Meine sehr geehrten Damen und Herren, das ist eine
Lebensweisheit, die jeder kennt . Wenn ich meine Al-
tersversorgung nicht nur auf ein Bein stelle, sondern sie
auf zwei Beine stelle, ist das mit Sicherheit besser .

Genau darum geht es . Sie betreiben eine Politik, mit
der Sie die Bereitschaft der deutschen Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer, ihre Altersversorgung nicht nur
auf die umlagefinanzierte Rente abzustellen, sondern für
sich selber auch noch etwas Zusätzliches anzusparen,


(Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist gar nicht zusätzlich!)


kaputtmachen . Wir wollen das Gegenteil . Wir wollen
diese Bereitschaft stärken .


(Beifall bei der CDU/CSU – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht mit Riester! Das macht doch keiner! – Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Und wir wollen die gesetzliche Rente stärken! Das ist viel besser!)


Viel Kritik an der Riester-Rente ist berechtigt . Deswe-
gen ist sie auch reformbedürftig . Ich würde aber niemals
die öffentliche Förderung abschaffen .

Übrigens kommt Folgendes hinzu: Die öffentliche
Förderung der privaten Altersvorsorge ist die einzi-
ge Form, bei der auch konkret etwas für Familien mit
Kindern geleistet wird . Für jedes Kind gibt es nämlich
300 Euro jährlich .


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Führen Sie lieber den dritten Entgeltpunkt bei der Mütterrente ein!)


Diese 300 Euro will Herr Birkwald ebenfalls in den gro-
ßen Topf schmeißen – mit dem Ergebnis, dass die Fami-
lien nichts von dem Geld sehen, das man ihnen geben
wollte, damit sie trotz der hohen Aufwendungen für die
Familie ein bisschen finanziellen Spielraum haben, um
zusätzliche Altersvorsorge zu betreiben . Dieses Geld will
Herr Birkwald ihnen wegnehmen und es in den großen
allgemeinen Rententopf schmeißen .


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Nein!)


Damit begehen Sie ein Verbrechen an den Familien
in unserem Land, deren Leistung schlichtweg nicht mehr
anerkannt wird .


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Schalten Sie mal einen Gang runter!)


Matthias W. Birkwald






(A) (C)



(B) (D)


Die Linken wollen die Familien enteignen und dieses
Geld in den großen allgemeinen Rententopf schmeißen .
Das ist die Wahrheit .


(Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Merken Sie, dass Sie sich damit lächerlich machen, Herr Kollege?)


– Das ist so .


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Sie machen sich lächerlich!)


– Es ist so .


(Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]: Albern! – Weiterer Zuruf von der LINKEN: Quatsch!)


Zweitens . Wir wissen, dass wir für die zusätzliche Al-
tersvorsorge etwas tun müssen . Deswegen sind wir zur-
zeit in sehr engen Gesprächen und Verhandlungen darü-
ber, die betriebliche Altersvorsorge als eine Möglichkeit
einer kapitalgedeckten Altersvorsorge zu stärken .

Die Gutachten, die von Arbeitsministerium und Fi-
nanzministerium in Auftrag gegeben worden sind, liegen
vor . Darin wird uns zum Beispiel empfohlen, dass wir
für Geringverdiener zusätzlich ein eigenes Förderinstru-
mentarium schaffen . Ja, das ist richtig . Geringverdiener
haben die größten Schwierigkeiten, zusätzlich etwas zu
machen . Deswegen brauchen sie auch zusätzliche Unter-
stützung . Das wollen wir umsetzen .

In dieser Rentendebatte, die die Linke wieder einmal
angesetzt hat, komme ich auf die Erstklässler zurück .
Wäre das, was da vorgeschlagen worden ist, das Resultat
eines Erstklässlers, das im Zeugnis benotet werden müss-
te, stünden bei Lesen eine Fünf, bei Rechnen eine Sechs,
bei Märchenerzählen eine Eins .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1817308600

Als nächster Redner erhält das Wort Markus Kurth,

Bündnis 90/Die Grünen .


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1817308700

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Meine Damen und Herren! Nachdem wir hier eben
etwas von Enteignung und Verbrechern gehört haben,
sollten wir jetzt verbal wieder einen Gang zurückschal-
ten . Ich habe immer noch das Gefühl, dass ich auch ohne
Polizeischutz noch ganz gut hier vorne stehen kann .

Kaum ein Satz ist an diesem Pult häufiger gefallen als
der Ausspruch: „Politik beginnt mit dem Betrachten der
Wirklichkeit“,


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Von Volker Kauder!)


und selten war es so einfach wie heute bei diesem The-
ma . Man muss sich nämlich nur einmal die gesammel-
ten schriftlichen Fragen und mündlichen Anfragen von
Bündnis 90/Die Grünen zum Thema Riester-Rente aus

den letzten anderthalb Jahren angucken, um ein ziemlich
genaues Bild von der Lage zu bekommen .

Wem das zu viel Arbeit ist, dem empfehle ich die Do-
kumentation unseres Fachgesprächs „Ist Riester noch zu
retten?“ vom März 2015 .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dort kann man alles sehr gut nachlesen .

Die nackten Zahlen sind ebenso einfach wie leider
zum Teil auch erschreckend . Wir sehen, dass die Zahl der
Verträge seit einigen Jahren bei über 16 Millionen sta-
gniert . Besorgter stimmen muss allerdings, dass längst
nicht alle Verträge bespart werden . Voll bespart werden
ausweislich der jüngsten Kleinen Anfrage nur noch ins-
gesamt 6 Millionen dieser Verträge .


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Das war eine von mir!)


Wir müssen sehen, dass die Grundannahmen, die 2001
in einem zugegebenermaßen sehr optimistischen Klima
der Finanzmärkte getroffen worden sind – 4 Prozent
durchschnittliche Rendite, 10 Prozent Verwaltungskos-
tenbegrenzung –, so nicht eingetreten sind .

Letztlich müssen wir uns auch noch einmal anschau-
en, wie sich die Förderung zwischen den besonders von
Altersarmut bedrohten Geringverdienenden und den
Besserverdienenden verteilt . Da sehen wir eben ganz
klar, dass Geringverdienenden nur ein sehr kleiner Teil
der staatlichen Förderung im Rahmen der Riester-Rente
zufließt und sie überwiegend zur Gruppe derjenigen ge-
hören, die ihre Verträge im Moment beitragsfrei stellen .

Angesichts dieses Gesamtbildes muss man sich also
die Frage stellen: Ist die Riester-Rente geeignet, das Ab-
sinken des Rentenniveaus, das mit dem Aufbau der För-
derung einherging, auszugleichen? Nein, das ist sie leider
nicht . Insofern kann und muss man zunächst einmal die
Aussage treffen: Als systematische Lösung ist die soge-
nannte Riester-Rente gescheitert .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Das bedeutet nicht – das will ich ausdrücklich dazu-
sagen –, dass individuell jeder Vertrag gescheitert ist . Ich
finde, da muss man schon, um die Menschen in diesem
Land nicht zu verunsichern, genau argumentieren . Wer
beispielsweise aufgrund von vielen Kindern eine höhe-
re Zulage bekommt, für denjenigen oder diejenige – das
sind insbesondere die Frauen – wird es sich auch in Zu-
kunft lohnen, den Riester-Vertrag weiterzuführen . Für
diese Personen kommt auch eine angemessene Rendite
heraus . Hier muss man zwischen systematischer und in-
dividueller Sicht unterscheiden .


(Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]: Richtig! – Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Richtig!)


Peter Weiß (Emmendingen)







(A) (C)



(B) (D)


Was aber die Gesamtlösung anbelangt – das hat in-
zwischen sogar Herr Weiß von der Union zugegeben –,
besteht dringender Reformbedarf .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Frage ist jetzt: Was tun? Die Lösung, die die Frak-
tion Die Linke hier vorgeschlagen hat, basiert auf einer
Rechnung, die die langfristigen Kosten vollständig außer
Acht lässt . Sie sagen, dass jetzt, um das Rentenniveau
zu erreichen, wenn man die Riester-Rente abschaffte,
durchschnittlich ein um 70 Euro höherer Beitragssatz
notwendig ist . Sie sagen aber nicht, was das denn in der
Fortschreibung für das Jahr 2030 und darüber hinaus
bedeutet . Sie sagen, dass jetzt eine Beitragssatzerhö-
hung um 2,3 Prozent notwendig ist . Das bedeutet aber,
dass wir noch die steigenden Beitragssätze ab den Jah-
ren 2025 mit in Rechnung stellen müssen . Ich bitte Sie
also, sozusagen das Gesamtbild zu zeichnen .


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1817308800

Herr Kollege Kurth, Herr Birkwald möchte gern etwas

zum Gesamtbild sagen . Möchten Sie das zulassen?


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1817308900

Ja, ich lasse das zu .


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1817309000

Bitte schön .


Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817309100

Vielen Dank . – Ich habe mit der Kritik gerechnet . Des-

wegen haben wir auch ausgerechnet, was das Ganze im
Jahr 2029 kosten würde . Dazu muss man aber wissen,
dass das Durchschnittseinkommen nach den Annah-
men der Bundesregierung im Jahr 2029 bei 4 400 Euro
und nicht wie heute bei 3 000 Euro liegen würde . Dann
würde das, was ich eben vorgetragen habe, nämlich ein
lebensstandardsicherndes Rentenniveau in der gesetzli-
chen Rente, 99 Euro mehr im Monat kosten, wäre also im
Jahr 2029 für durchschnittlich verdienende Beschäftigte
sogar immer noch 9 Euro günstiger als heute, also in ei-
ner Zeit, in der sie 1 400 Euro weniger an Einkommen
haben . Das kann man nachlesen . Man muss auch beden-
ken, dass nach dem jetzigen Riester-Gesetz die Men-
schen in 2029 mit dem dann höheren Gehalt 164 Euro
für die Riester-Rente bezahlen müssten, wenn sie durch-
schnittlich verdienten .

Ich halte fest: Auch im Jahr 2029 sind nach den jetzi-
gen Daten und Annahmen der Bundesregierung 65 Euro
weniger zu bezahlen, wenn wir die gesetzliche Rente
stärkten und nicht bei Riester blieben . – Ich hoffe, ich
konnte mit diesen Hinweisen helfen .


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1817309200

Sie haben aber, Herr Birkwald, nicht gesagt, bei wel-

chen Beitragssätzen wir dann am Ende im Jahr 2030 lan-
den . Das haben Sie in anderen Debatten gesagt . Da sind
Werte von bis zu 28 Prozent gefallen . – Ja, Sie nicken
und bestätigen das hiermit .

Ich möchte, wenn man den Grundsatz, dass Politik mit
dem Betrachten der Realität anfängt, ernst nimmt, doch
sagen, was dies im Gesamtbild der Sozialversicherungs-
beiträge bedeutet .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Wir wissen ja, dass wir auch in der Kranken- und Pfle-
geversicherung mit Sicherheit – eine vernünftige Kran-
ken- und Pflegeversorgung wollen ja alle haben – höhere
Beiträge zu gewärtigen haben .


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Nein, bei der Bürgerversicherung nicht!)


Der Punkt ist, dass wir uns an dieser Stelle über syste-
matische Lösungen Gedanken machen . Die Lösung, die
Bündnis 90/Die Grünen schon seit Jahren vorschlagen,
ist die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage und bei-
spielsweise die Verbreiterung des Sozialschutzes mit der
Bürgerversicherung .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch der Blick ins Ausland, den Sie bemühen, be-
darf einer vollständigen Betrachtung . Sie haben eben das
Beispiel Dänemark angeführt . Wir waren gerade letzte
Woche in Dänemark, um uns das dortige System anzu-
sehen . Das Versorgungsniveau ist dort in der Tat deut-
lich höher . Aber dabei handelt es sich nicht allein um
das gesetzlich garantierte Versorgungsniveau; denn ein
Großteil davon ist auf eine kapitalgedeckte betriebliche
Altersversorgung zurückzuführen, die, weil tariflich breit
abgestützt, nahezu verpflichtend ist. Sie wissen genauso
wie ich – wir waren ja beide dort –, dass das betriebliche
Kapitalvermögen und das in Pensionsfonds gesammelte
Vermögen 200 Prozent des Bruttoinlandsprodukts von
Dänemark entspricht . Das ist für ein Land mit 5,6 Milli-
onen Einwohnern, das das Vermögen seit über 50 Jahren
aufgebaut hat, eine zurzeit noch interessante Perspekti-
ve . Auf Deutschland übertragen bedeutete das, dass wir
6 Billionen Euro Kapital ansparen müssten . Allein diese
Größenordnungen zeigen, dass derjenige, der einfach nur
mit dem Finger auf das Ausland zeigt, Äpfel mit Birnen
vergleicht .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie der Abg . Gabriele Hiller-Ohm [SPD])


Das Gleiche gilt in anderer Weise für Österreich .
Man darf auch die dortige Rentenversicherung nicht
isoliert betrachten, sondern muss – hören Sie zu, Herr
Birkwald! – auch die Krankenversicherung berücksich-
tigen, die bei weitaus niedrigeren Beitragssätzen we-
sentlich stärker steuermitfinanziert ist, sodass sich der
Gesamtsozialversicherungsbeitrag für die Arbeitgeber
anders darstellt .

Ich bitte darum, dass wir, wenn wir internationale Ver-
gleiche ziehen, nicht immer nur sozusagen Scheuklappen
anlegen und einen ganz kleinen Ausschnitt betrachten .
Damit trägt man nichts zur Klärung der Wirklichkeit bei .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Markus Kurth der SPD – Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Aber unterm Strich geht es den Rentnern dort deutlich besser!)





(A) (C)


(B) (D)


Was wir jetzt vorschlagen, geht allerdings deutlich
über die vagen Andeutungen von Herrn Weiß hinaus . Wir
haben unseren Antrag zur Reform der Riester-Rente ein-
gebracht . Wir werden auch in unserer Partei – das sage
ich offen – noch Diskussionen über Sinn und Unsinn von
Förderung führen . Stand ist, dass diese unsere Fraktion
hier in der Mitte des Hauses vorschlägt, die Förderung
neu zu justieren und sie durch eine Anhebung der Grund-
zulage, die seit Jahren nicht mehr gestiegen ist, auf Ge-
ringverdiener zu konzentrieren .

Gleichzeitig wollen wir ein sogenanntes Basisprodukt
in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft einführen . Das
heißt, die Versicherten würden künftig nicht mehr mit
Vertriebskosten, Provisionen und anderem belastet . Das
würde deutlich attraktiver und transparenter für die Ver-
sicherten . Es soll ein gutes Angebot mit Wahlmöglichkei-
ten sein . Versicherte sollen ebenfalls die Möglichkeit ha-
ben, geförderte Beiträge in eine Betriebsrente oder auch
in die gesetzliche Rentenversicherung einzuzahlen, die
eine gar nicht so schlechte Rendite aufweist . Das wäre
also echte Wahlfreiheit .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Hört! Hört!)


Das sind, glaube ich, Punkte, die es verdienen, bera-
ten zu werden . Ich sage auch ganz offen: Wir werden si-
cherlich nicht mit einer reformierten Riester-Rente oder
einem Basisprodukt alleine das 4-Prozent-Rendite-Ziel
erreichen . Darum – auch das sagen wir klar – müssen
wir uns im Zusammenhang mit dem Rentenniveau drin-
gend über eine Mindestsicherung Gedanken machen . Wir
werden dazu Vorschläge machen . Wir wollen das Niveau
stärken . Aber wir wollen kein Wolkenkuckucksheim à la
Linke und auch keine Vorschläge aus dem Bauch heraus
wie die von Sigmar Gabriel, sondern wir wollen finan-
zierbare Vorschläge machen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Außerdem sagen wir: Für jahrzehntelang versicher-
te Personen muss es eine garantierte Mindestsicherung
geben; das ist die Garantierente . Wenn man die private
Vorsorge attraktiv halten will, dann heißt das auch, dass
private Sparbeträge nicht auf diese Garantierente ange-
rechnet werden dürfen .

Nur durch ein Konzert dieser Gesamtmaßnahmen
kommt man zu einer nachhaltigen Rente, die den Men-
schen ein verlässliches Niveau verspricht, statt ihnen nur
Sand in die Augen zu streuen .

Vielen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1817309300

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Ralf Kapschack, SPD-Fraktion .


(Beifall bei der SPD)



Ralf Kapschack (SPD):
Rede ID: ID1817309400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ver-

ehrte Zuschauerinnen und Zuschauer! Eine ausreichende
Absicherung im Alter ist eines der zentralen Versprechen
des Sozialstaats . Wer jahrelang gearbeitet hat und trotz-
dem mit der Angst lebt, im Alter in Armut zu fallen, der
hat wenig Vertrauen in diesen Sozialstaat, und er hat auch
wenig Vertrauen in diejenigen, die politische Entschei-
dungen treffen . Deshalb geht es in dieser Debatte längst
nicht nur um Zahlen .

Für uns steht ohne Frage die gesetzliche Rente im Mit-
telpunkt der Alterssicherung . Sie muss gestärkt werden .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN und des Abg . Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die weitere Absenkung des Rentenniveaus ist aus unse-
rer Sicht nicht vernünftig .

Natürlich müssen wir auch – deswegen diskutieren
wir heute über dieses Thema – Konsequenzen aus den
Erfahrungen mit der Riester-Rente ziehen . Der Vorwurf
allerdings: „Riester lohnt nicht, ein Sparstrumpf bringt
mehr“ – den haben wir ja immer wieder gehört –, trifft
so nicht zu . Das sage nicht ich, sondern die Zeitschrift
Finanztest. Ich zitiere:

Wer einen guten Vertrag abschließt, erreicht durch
die staatliche Förderung eine ganz ordentliche Ren-
dite auf seine Riester-Beiträge . Sie ist jedenfalls
höher als bei anderen vergleichbaren Produkten,
beispielsweise einer privaten Rentenversicherung .


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Darum soll die Überführung ja auch freiwillig sein!)


Deshalb macht es wenig Sinn, denjenigen, die einen ent-
sprechenden Vertrag abgeschlossen haben, einzureden,
sie hätten ihr Geld zum Fenster herausgeschmissen .


(Beifall bei der SPD – Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Freiwillig!)


Unstrittig – das sage ich hier auch ganz klar – ist: Die
Riester-Rente hat die Erwartungen nicht erfüllt . Da sind
wir uns einig . Sie war und ist zu kompliziert und zu teu-
er . Und vor allem: Diese Form der zusätzlichen Alters-
vorsorge nutzen viel zu wenige Frauen und Männer . Mit
rund 16 Millionen Verträgen ist das Ziel längst nicht er-
reicht, die Riester-Rente als Vorsorge für alle zu etablie-
ren, um die Einbußen bei der gesetzlichen Rente auszu-
gleichen . Gerade die, die es besonders nötig hätten, wie
zum Beispiel Geringverdiener, haben von diesem Ange-
bot kaum Gebrauch gemacht . Viele hatten und haben of-
fenbar nicht das Geld, um etwas auf die Seite zu legen .
Manche haben es vielleicht, tun es aber trotzdem nicht .
Nur, wenn in der Rentenformel unterstellt wird, alle tun
es, aber maximal die Hälfte es tatsächlich tut, kann man
davor die Augen nicht verschließen .


(Abg . Matthias W . Birkwald [DIE LINKE], an die SPD gewandt: Warum klatscht denn bei euch keiner?)


Markus Kurth






(A) (C)



(B) (D)


– Moment! Matthias Birkwald, hören Sie doch einmal
zu!


(Beifall bei der SPD)


Sie kommen jetzt mit der Idee: Lasst uns doch die
Riester-Guthaben in die gesetzliche Rentenversicherung
überführen . Das hört sich plausibel an – ich habe grund-
sätzlich auch kein Problem damit –, aber ganz so einfach
ist es nicht . Ich hatte mir auch das Zitat aus dem Gut-
achten des Wissenschaftlichen Dienstes herausgesucht;
daraus zu zitieren, kann ich mir jetzt sparen . Das Ergeb-
nis dieses Gutachtens ist: Rechtlich ist das machbar; die
heutigen Rentner und Beitragszahler würden profitieren;
für die Zukunft hätte das aber negative Auswirkungen –
unter sonst gleichen Voraussetzungen .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Das ist das Problem!)


Die Riester-Rente hat die Erwartungen nicht erfüllt,
ja, aber wir ziehen daraus andere Konsequenzen als Sie .
Klar ist, alle laufenden Riester-Verträge müssen ge-
schützt und weiterhin gefördert werden . Künftig wollen
wir aber die betriebliche Altersversorgung ausbauen .
Denn die betriebliche Altersversorgung ist für uns die
beste Ergänzung zur gesetzlichen Rente . Wir wollen des-
halb eine flächendeckende, obligatorische Betriebsrente
mit klarem und verbindlichem Rahmen und einem Vor-
rang für tarifliche Lösungen.


(Beifall bei der SPD)


Wir wollen kollektive Lösungen, die Verwaltungskosten
minimieren und die Übertragbarkeit bei einem Jobwech-
sel garantieren .

Riester hat auch deshalb nicht funktioniert, weil es
nicht obligatorisch war .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Diesen Konstruktionsfehler müssen wir bei einer betrieb-
lichen Altersversorgung vermeiden . Jeder Arbeitsvertrag
sollte künftig ein Angebot für eine betriebliche Altersver-
sorgung erhalten – möglichst mit finanzieller Beteiligung
des Arbeitgebers .


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Angebot ist aber etwas anderes als ein Obligatorium!)


Da ist noch reichlich Luft nach oben . In der privaten
Wirtschaft haben gerade einmal 50 Prozent der Beschäf-
tigten einen Anspruch auf eine Betriebsrente . Es geht
auch anders: In Dänemark – das ist ja eben schon genannt
worden – sind es deutlich über 80 Prozent .

Und Luft nach oben ist auch bei der Absicherung von
Geringverdienern im Alter . International stehen wir da
nicht so richtig gut da . Deshalb wollen wir vor allem Ge-
ringverdienern den Zugang zur betrieblichen Altersver-
sorgung erleichtern . Entsprechende Vorschläge, wie man
das mit Zulagen erreichen kann, werden gerade im Fi-
nanz- und im Arbeitsministerium erarbeitet .

Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Betrieb-
liche Altersversorgung ist für uns kein Nice-to-have, be-
triebliche Altersversorgung ist für uns ein Must-have .


(Beifall bei der SPD)


Sie ist ein sinnvolles Instrument der Sozialpolitik . Des-
halb wollen wir sie stärken . Betriebliche Altersversor-
gung muss auch in kleinen und mittleren Betrieben
selbstverständlich werden .

Und noch einmal: Das hat auch etwas mit Gerechtig-
keit zu tun . Denn wir wollen nicht, dass weiterhin nur
Beschäftigte in Großbetrieben und in gut organisierten
Branchen Zugang zur betrieblichen Altersversorgung ha-
ben .


(Beifall bei der SPD)


Es gibt noch ein paar andere Stellschrauben, die für
die Verbreitung von betrieblicher Altersversorgung wich-
tig sind . Als Allererstes muss sich Sparen lohnen . Wer
wegen einer Minirente im Alter auf Grundsicherung an-
gewiesen ist, sollte zumindest einen Teil seiner Betriebs-
rente behalten dürfen, ohne dass diese mit der staatlichen
Hilfe verrechnet wird . Auch über den Krankenkassenbei-
trag müssen wir sicherlich noch einmal reden .

Im Herbst wird Andrea Nahles ein Konzept zur Alters-
sicherung vorlegen . Das ist ein hartes Stück Arbeit . Die
SPD-Fraktion steht ihr dabei mit Rat und Tat zur Seite .

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der SPD – Bernd Siebert [CDU/ CSU]: Das wird helfen!)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1817309500

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-

ordneten Susanna Karawanskij, Fraktion Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Susanna Karawanskij (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817309600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie

kommen nicht darum herum: Die Riester-Rente war und
bleibt ein Rohrkrepierer .


(Beifall bei der LINKEN)


Sehen Sie endlich den Realitäten ins Auge: Sie konnte
nie die politisch herbeigeführte Sicherungslücke in der
gesetzlichen Rente schließen . Nicht einmal die Hälfte der
Förderberechtigten hat überhaupt einen Riester-Vertrag
abgeschlossen . 20 Prozent der Verträge sind beitragsfrei
gestellt . Von der Riester-Förderung und den Steuernach-
lässen profitieren – das haben wir schon gehört – eher
die Einkommensstarken als die Geringverdiener . Die
hohen Provisions- und Verwaltungskosten zehren dann
noch die theoretische Rendite auf . Um sein eingezahltes
Entgelt noch herauszubekommen, muss man fast so alt
werden wie Methusalem . Die Riester-Rente ist für die
Versicherten letztendlich teurer als die gesetzliche Rente .
Verkaufen Sie die Leute draußen nicht für dumm! Sagen
Sie klipp und klar: Die Riester-Rente war ein Schuss in
den Ofen .


(Beifall bei der LINKEN)


Ralf Kapschack






(A) (C)



(B) (D)


Legen Sie den Rückwärtsgang ein, und stärken Sie die
gesetzliche Rente!


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Beenden Sie die Förderung der privaten Altersvorsorge,
und schaffen Sie für die Sparerinnen und Sparer eine
Möglichkeit, ihre Riester-Rente freiwillig in die gesetzli-
che Rente zu überführen .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Das Grundproblem der dritten Säule, also der priva-
ten und kapitalgedeckten Vorsorge, besteht ja eben da-
rin, dass die Renditen von den Launen der Finanzmärkte
abhängig sind . Das sehen wir doch auch bei den kapital-
basierten Lebensversicherungen, die schon immer sehr
teure Produkte waren: In Zeiten niedriger Zinsen wie
jetzt wurden die Versicherungskonzerne gepäppelt, die
Versicherten weiter geschröpft . Die Bewertungsreserven
wurden gekürzt . Die Überschüsse, die mit dem Geld der
Kunden erwirtschaftet wurden, werden einbehalten und
nicht an die Versicherten ausgeschüttet . Der Garantiezins
ist im freien Fall . Gleichzeitig liest man, dass die Versi-
cherungsunternehmen weiterhin Gewinne einfahren, von
denen vor allen Dingen die Aktionäre profitieren. Le-
bensversicherungen sind der Goldesel für die Versiche-
rungen – zulasten der Versicherten . Um es noch einmal
deutlich zu sagen: Ob Riester-Rente oder Lebensversi-
cherung, die dritte Säule der Altersvorsorge zerfällt nach
und nach . Hier darf man den Bürgerinnen und Bürgern
nicht länger Sand in die Augen streuen .


(Beifall bei der LINKEN)


Weil das gerade betont wurde: Auch die zweite Säule,
die betriebliche Altersvorsorge, zerbröselt zunehmend .
Dr . Frank Grund, Exekutivdirektor der Versicherungs-
aufsicht bei der BaFin, sagte Mitte Mai:

Möglicherweise können daher bald einzelne Pensi-
onskassen nicht mehr aus eigener Kraft ihre Leis-
tungen in voller Höhe erbringen .

Das klang schon wie eine Warnung . Wenig überraschend
konnte man dann vergangenen Dienstag im Internetauf-
tritt der Süddeutschen Zeitung lesen: „Erste Pensionskas-
se senkt Betriebsrenten“ . Im Schnitt gibt es dort 16 Pro-
zent weniger Betriebsrente .

Ob nun bei der privaten oder der betrieblichen Vorsor-
ge, die Bürgerinnen und Bürger erfahren hautnah, dass
sie später kaum noch das Geld, das sie eingezahlt haben,
herausbekommen, geschweige denn, dass die Rendite
zur Armutsvermeidung im Alter reicht . Aus Angst vor
Altersarmut und in Zeiten niedriger Zinsen folgen Ver-
braucherinnen und Verbraucher verlockenden Verspre-
chungen der Finanzbranche . Diese vermeintlich sicheren
und renditestarken Geldanlagen entpuppen sich allzu
oft als hoch riskant und vor allen Dingen als gänzlich
ungeeignet für die Altersvorsorge . Um hier Verbraucher
zu schützen, muss man dafür sorgen, dass dieser ganze
Finanzschrott erst gar nicht auf den Markt kommt und
Anleger schädigen kann .


(Beifall bei der LINKEN)


Daher fordern wir eine verpflichtende Zulassungsprüfung
sowohl für Geldanlagen als auch für Finanzpraktiken .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir brauchen einen Neuaufbau in der Altersvorsor-
ge . Statt der vorhandenen drei dürren Ästchen, die wir
da jetzt haben, brauchen wir wieder einen festen Stamm .
Das ist die gesetzliche Rente . Dabei müssen Sie auch, um
das hier noch einmal deutlich zu sagen, die Lebensleis-
tungen der Menschen in Ostdeutschland anerkennen und
für eine umfassende bzw . gerechte Rentenüberleitung
Ost sorgen .


(Beifall bei der LINKEN)


Wir haben das Konzept einer solidarischen Rentenver-
sicherung mit einer gerechten Mindestrente vorgelegt . Es
ist jetzt an der Zeit, dass Sie Riester in Rente schicken .

Vielen Dank .


(Beifall bei der LINKEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1817309700

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-

ordneten Jana Schimke, CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Jana Schimke (CDU):
Rede ID: ID1817309800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eines kann

man den Linken nicht unterstellen: Sie hätten keinen
Sinn für Kreativität . – Nur schade, dass Ihre Ideen we-
der zukunftsorientiert noch gerecht sind . Ich habe selten
einen Antrag gelesen, der in letzter Konsequenz so viel
Ungerechtigkeit in sich barg .


(Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Was?)


So möchte ich Sie fragen: Ist es gerecht, Politik für die
einen zu machen und die anderen dafür zur Kasse zu bit-
ten? Ist es also gerecht, das Rentenniveau dauerhaft auf
53 Prozent festzuschreiben und dafür die Rentenbeiträge
der Arbeitnehmer in der Zukunft auf bis zu 28 Prozent
zu erhöhen?


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Die zahlen weniger, weil sie den Riester-Quatsch nicht mehr haben!)


Sicher nicht, denn jeder zusätzliche Prozentpunkt für
die Sozialversicherung nimmt den Beschäftigten etwas
vom monatlichen Netto . Für andere notwendige Dinge
des Alltags steht dieses Einkommen dann nicht mehr zur
Verfügung .


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Die zahlen weniger!)


Das kann die Miete sein, das kann die Autoreparatur sein
oder der jährliche Familienurlaub .

Wenn die Kaufkraft verloren geht, spüren wir das alle
durch eine schwächere Konjunktur . Und das Einkommen
fehlt am Ende auch in einem ganz entscheidenden Be-
reich unserer Altersvorsorge: bei der Finanzierung des
Eigenheims . Jeder zusätzliche Prozentpunkt geht auf

Susanna Karawanskij






(A) (C)



(B) (D)


Kosten unserer wirtschaftlichen Entwicklung . Höhere
Sozialbeiträge machen Arbeit noch teurer und kosten
schließlich Arbeitsplätze in Deutschland . Das können
wir nicht wollen, meine Damen und Herren .

Die derzeitige Lage am Arbeitsmarkt war noch nie so
gut wie heute . Das belegen auch die aktuellen Zahlen der
Bundesagentur für Arbeit . Die Arbeitslosenquote liegt
bei 6 Prozent, und mit 43,4 Millionen Menschen können
wir derzeit von einer Rekordbeschäftigung in Deutsch-
land sprechen . Dies sind alles Belege unserer guten Ar-
beitsmarkt- und Wirtschaftspolitik der letzten Jahre . Da-
rauf können wir stolz sein .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Diese Entwicklung aber setzt die Linke durch die Forde-
rung nach höheren Beiträgen in der Rentenversicherung
aufs Spiel .


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Höhere Leistungen!)


Natürlich geraten unsere sozialen Sicherungssysteme,
insbesondere die gesetzliche Rentenversicherung, zuneh-
mend unter Druck . Weniger Kinder in Deutschland, eine
immer älter werdende Gesellschaft, die steigende Le-
benserwartung und damit auch steigende Rentenlaufzei-
ten führen dazu, dass das Sicherungsniveau der gesetzli-
chen Rente sinkt . Aber gerade deshalb kann doch nicht
die Konsequenz sein, andere Formen der Altersvorsorge
infrage zu stellen oder gar abzuschaffen . Ziel unserer Po-
litik kann doch nicht sein, Dinge, die sich auch bewährt
haben, abzuschaffen; vielmehr müssen wir versuchen,
Hemmnisse und Hürden zu überwinden und für Verbes-
serungen zu sorgen .


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Riester hat sich aber nicht bewährt, Frau Kollegin!)


Warum ist das so sinnvoll? Weil die private und die be-
triebliche Altersvorsorge eben zwingende Voraussetzun-
gen sind, um Vorsorge individuell und auch krisensicher
auszugestalten . Dazu zählt natürlich auch die staatliche
Förderung .


(Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie sicher die Kapitaldeckung ist, haben wir in den letzten Jahren gesehen!)


Die staatliche Förderung ist ein ganz entscheidender
Anreiz für die zweite und dritte Säule der Altersvorsor-
ge, und beide dienen letztendlich dazu, Vorsorge für die
Menschen allumfassend auszugestalten . Deshalb, meine
Damen und Herren, ist es wichtig, den Menschen mehr
Netto vom Brutto zu lassen . So weit zum Grundsatz .


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Das macht unser Vorschlag! – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die letzte Fraktion, die das gefordert hat, ist jetzt nicht mehr da!)


Jetzt fordern die Kollegen von der Linken, dass die
Förderung der privaten Altersvorsorge, also Riester, ab-
geschafft wird und Sparvermögen freiwillig in die ge-
setzliche Rente überführt wird . Die gesetzliche Rente ist

aber kein Versicherungssystem, liebe Kolleginnen und
Kollegen, in das jeder wie ihm beliebt einfach einmal
einzahlen kann und seine Rentenansprüche damit indivi-
duell ausbauen kann .


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Freiwillige Beiträge! Sehr gut!)


Unser Rentensystem ist solidarisch und umlagefinan-
ziert . Es fußt auf dem gesamten Erwerbsleben, in dem
jeder Beschäftigte seinen prozentualen Beitrag zu zahlen
hat . Das heißt, heutige Arbeitnehmer zahlen die Renten
heutiger Rentner, und künftige Arbeitnehmer zahlen die
Renten künftiger Rentner . Wenn die Linke also fordert,
dass Beschäftigte ihr Sparvermögen in die gesetzliche
Rente einzahlen, dann sind es die künftigen Generatio-
nen, die diesen höheren Rentenanspruch mit deutlich hö-
heren Rentenbeiträgen zu finanzieren haben.


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Dafür gibt es keine Riester-Rente!)


Das, meine Damen und Herren, ist nicht gerecht und
kann nicht die Lösung sein .


(Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Dafür fällt Riester weg! Ist billiger!)


Jetzt sind wir uns dessen, was sich auf den Finanz-
märkten abspielt, bewusst . Wir wissen auch, dass wir die
Folgen der EZB-Niedrigzinspolitik, die sich natürlich
auch auf die privaten und die betrieblichen Rentenan-
wartschaften auswirkt,


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Davon profitiert Herr Schäuble ja!)


schwerlich im Deutschen Bundestag überwinden können .
Was wir aber tun können und auch tun werden, ist, die
private und die betriebliche Altersvorsorge – dazu zählt
natürlich auch Riester – wieder attraktiver zu machen .


(Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja, machen Sie mal!)


Dazu müssen Mehrfachbelastungen und Bürokratie ab-
gebaut werden . Das muss das Ziel unserer Politik sein .

Wir alle hier in diesem Hause tragen Verantwortung
für eine gute und vor allem eine generationengerechte
Alterssicherung . Weil das so ist, werden wir den Antrag
der Linken heute ablehnen .


(Zuruf von der LINKEN: Überraschung!)


Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1817309900

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-

ordneten Cansel Kiziltepe, SPD-Fraktion .


(Beifall bei der SPD)



Cansel Kiziltepe (SPD):
Rede ID: ID1817310000

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Frau Schimke, ich habe den Ein-

Jana Schimke






(A) (C)



(B) (D)


druck, dass nicht nur Sie, sondern Ihre gesamte Fraktion
die volkswirtschaftlichen Gesamtkosten der Alterssiche-
rung in Deutschland verkennen .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Wenn man die Zahlen für 2020 zugrunde legt – da soll
der Beitragssatz für die Arbeitgeber und auch für die Ar-
beitnehmer 11 Prozent nicht übersteigen; zugleich soll
das Sicherungsniveau in der ersten Säule konstant blei-
ben –, dann darf man nicht vergessen, dass die Arbeitneh-
mer mit 4 Prozent privat vorsorgen sollen .


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Richtig!)


Wenn ich diese Gesamtkosten addiere – 11 Prozent plus
11 Prozent und 4 Prozent, welche die Arbeitnehmer allei-
ne tragen –, komme ich auf 26 Prozent .


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: So ist es!)


Ich möchte damit nur zeigen, dass die volkswirtschaftli-
chen Gesamtkosten nicht anders sein würden . Es reicht
also nicht aus, hier nur anzuprangern, dass die Renten-
versicherungsbeiträge zu hoch stiegen .


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: So geht Rechnen, Frau Schimke!)


– Das sollte keine volkswirtschaftliche Nachhilfestunde
sein .


(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Es war vor allen Dingen auch falsch und unvollständig, Frau Kollegin!)


Ich gebe aber zu bedenken, dass Sie auch das berücksich-
tigen sollten .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Teilprivati-
sierung der Rente war von Anfang an umstritten . Nach
15 Jahren sehen wir, dass die Riester-Rente ihr Ziel nicht
erreicht hat . Die Rentenniveauabsenkung konnte nicht
ausgeglichen werden . Im Jahr 2015 gab es 16 Millionen
Riester-Verträge, aber nur noch in 12 Millionen wird
aktiv eingezahlt – und das bei einer Arbeitnehmerinnen-
und Arbeitnehmerzahl von 38,5 Millionen . Das war nicht
unser Ziel, und das ist auch nicht unser Ziel, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen .


(Dr . Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Ja was ist denn schiefgelaufen?)


Die Erwartungen, die mit der Riester-Rente verbunden
waren, haben sich nicht erfüllt . Vielen Menschen gelingt
es immer weniger, die Rentenlücke zu schließen . Aber
generell davon zu sprechen, die Riester-Rente sei ge-
scheitert, ist auch nicht ganz richtig .

Wenn wir ernsthaft über die Probleme der Ries-
ter-Rente sprechen, dann kommen wir um einen Punkt
nicht herum . Es sind nämlich gerade die Haushalte mit
niedrigem Einkommen, die zwar in der Theorie stark
davon profitieren – das war auch unser Ziel –, aber bei
denen es in der Realität ganz anders aussieht . Die Zahlen

des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zeigen,
dass nur 7 Prozent der Angehörigen des untersten Ein-
kommensdezils, also der untersten Einkommensgruppe,
aktuell mit Riester sparen und, wenn man die Gesamt-
förderung betrachtet, der Anteil noch viel niedriger liegt .


(Dr . Matthias Zimmer [CDU/CSU]: In der Theorie war die SPD immer gut, in der Praxis nie! – Heiterkeit des Abg . Matthias W . Birkwald [DIE LINKE])


Was bedeutet das, liebe Kolleginnen und Kollegen? Die,
die es gerade brauchen, erreichen wir mit diesem Instru-
ment nicht . Und das geht nicht .

Die Defizite der Riester-Rente sind ja vielfach benannt
worden . Die Bürgerinnen und Bürger erwarten auch Ver-
besserungen . Die staatliche Förderung in diesem Bereich
ist nicht gerade klein . Sie umfasst etwa 3 Milliarden Euro
pro Jahr . Wir müssen schauen, ob der Fokus verlagert
werden kann . Aus meiner bzw . unserer Sicht müssen wir
die Riester-Produkte transparenter, einfacher und ren-
diteträchtiger machen . Wir müssen aber auch schauen,
ob wir Fördermittel und staatliche Subventionen auch
anders nutzen können, zum Beispiel, um stärker in die
betriebliche Altersversorgung zu gehen .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir möchten die zweite Säule der Alterssicherung
stärken . Hier muss es vorrangig darum gehen, gezielt
Geringverdienerinnen und Geringverdiener zu stärken .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das kann durch ein Obligatorium – dies wurde schon
genannt – geschehen, aber auch dadurch, dass man die
Arbeitgeber mit ins Boot holt .

Ein weiterer Fokus muss – wie zum Beispiel in Däne-
mark oder Schweden – auf ein Basisprodukt gelegt wer-
den, das staatlich organisiert ist .

Eines sollten wir nicht tun, nämlich, wie im Antrag der
Linken gefordert, die bisher für Riester gezahlten Beiträ-
ge in die gesetzliche Rentenversicherung zu überführen .


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Freiwillig!)


Damit würden wir weder Vertrauen in die gesetzliche
noch in die private Rentenversicherung schaffen .


(Beifall des Abg . Dr . Martin Rosemann [SPD])


Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die Riester-För-
derung im Rahmen der betrieblichen Altersvorsorge
heutzutage kaum genutzt wird, hängt unter anderem mit
der doppelten Verbeitragung zusammen .


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Sehr gut!)


Das kann nicht so bleiben, liebe Kolleginnen und Kol-
legen .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir diskutieren das in unserer Fraktion, und unsere Ar-
beitsministerin arbeitet daran in ihrem Ministerium .

Cansel Kiziltepe






(A) (C)



(B) (D)


Die bestehenden steuerlichen Regelungen, die be-
darfsgerechte Zulagenförderung und der Sonderausga-
benabzug für Riester-Rentenbeiträge in der bAV müssen
ausgeweitet werden . Dazu liegen schon Vorschläge vor .
Geringverdiener sollen auch in diesem Bereich gezielter
gefördert werden . Das halte ich für eine sinnvolle Refor-
moption .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Geringverdie-
ner in dieser Debatte zielgenauer gefördert werden müs-
sen, darüber sind wir uns einig . Daran arbeiten wir . Das
Bundesarbeitsministerium wird im Herbst dazu, auch
in Zusammenarbeit mit dem Bundesfinanzministerium,
Vorschläge erarbeiten . Aber eines möchte ich an dieser
Stelle noch einmal sagen: Wir dürfen nicht verkennen,
dass sich das Umlageverfahren im Vergleich zum kapi-
talgedeckten System als stabiler und krisenfester bewährt
hat; das hat die Finanzkrise gezeigt .


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1817310100

Frau Kollegin .


Cansel Kiziltepe (SPD):
Rede ID: ID1817310200

Ich komme zum Ende, Herr Präsident .


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1817310300

Dazu hätten Sie schon längst kommen müssen .


Cansel Kiziltepe (SPD):
Rede ID: ID1817310400

Deshalb möchten wir als SPD-Bundestagsfraktion

eine starke erste Säule in der Alterssicherung, die für
eine lebensstandardorientierte Rente sorgt . Unsere Prio-
rität liegt hier .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1817310500

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Matthäus Strebl, CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Matthäus Strebl (CSU):
Rede ID: ID1817310600

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und

Kollegen! Frau Kollegin vom geschätzten Koalitions-
partner SPD, die gerade gesprochen hat, zeitweise dach-
te ich, Sie sprächen über die Riester-Rente und Walter
Riester habe ehemals der CDU/CSU-Fraktion angehört .
So ist es aber nicht . Ich kann mich noch gut daran erin-
nern, dass hier in diesem Haus 2001 – ich gehörte schon
damals dem Deutschen Bundestag an – über die Ries-
ter-Rente in zweiter und dritter Lesung debattiert worden
ist . Walter Riester saß damals auf der Regierungsbank,
und für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sprach hier
Horst Seehofer . Er wies damals auf die Schwierigkeiten
hin . Heute wissen wir, dass wir in der Breite nicht das
erreicht haben, was wir erreichen wollten . Deswegen

müssen wir bei der Riester-Rente reformieren, wie von
Rednern schon mehrmals gesagt worden ist .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist das derselbe Horst Seehofer, der von Neoliberalisierung gesprochen hat?)


„Die Riester-Rente in die gesetzliche Rentenversiche-
rung überführen“ lautet der Titel des Antrags der Links-
fraktion . Lassen Sie mich zu Beginn einige Schlagzeilen
der letzten Tage zitieren . Da hieß es: „Sackgasse Ries-
ter-Rente?“, „Rettung für Riester-Sparer gesucht“, „Die
Riester-Rente muss bleiben“ . Damit wird deutlich, dass
wir es mit einem Thema zu tun haben, das kontrovers
betrachtet werden kann . Diese Pressemitteilungen lassen
für jeden erkennen: Es gibt keine einfache Lösung .

Wichtig ist hierbei: Wir müssen die Alterssicherung
aufgrund der demografischen, gesellschaftlichen und
ökonomischen Veränderungen anpassen . Gleichwohl
darf dies nicht zulasten jüngerer Generationen gehen .
Die gesetzliche Rente im Umlageverfahren ist und bleibt
für uns die wichtigste Säule . Dennoch dürfen wir die ka-
pitalgedeckte Vorsorge als zweite und dritte Säule nicht
vernachlässigen .

Aufgrund des demografischen Wandels werden je-
doch immer weniger Beitragszahler für die Finanzierung
der Rente aufkommen . Deshalb ist es unausweichlich,
dass die Altersvorsorge auf drei Säulen gestützt wird;
Vorredner haben das schon gesagt . Nach Angaben des
Statistischen Bundesamtes wurden in den Jahren 2001
bis 2015 – darauf möchte ich hinweisen – 16 Millionen
Riester-Verträge geschlossen . Diese Zahl könnte durch-
aus höher sein . Dennoch spricht sie gegen eine Abschaf-
fung der Riester-Rente .

Natürlich gibt es auch eine hohe Anzahl von ruhenden
Verträgen . Auch das muss bei einer ehrlichen Diskussion
erwähnt werden . Es gehört aber auch zur Wahrheit, dass
die Riester-Rente kein Wundermittel ist . Die Idee der
damaligen Regierung war vielmehr die Schaffung einer
weiteren Vorsorge und nicht eine unschlagbare Rendi-
teoptimierung . Es war vor allem die Intention, neben ein-
kommensschwachen Steuerpflichtigen auch kinderreiche
Familien zu unterstützen . So lautete die Aussage 2001,
wenn ich mich richtig erinnere .

Seit der Einführung der Riester-Rente haben – um
auch das einmal zu erwähnen – über 2 000 Anbieter rund
4 300 Produkte entwickelt . Zweifelsfrei gibt es dabei
auch Probleme: Die Riester-Rente ist, wie viele Kri-
tiker bemängeln, ein sehr komplexes System mit einer
Vielzahl von unterschiedlichen Möglichkeiten, für das
Alter vorzusorgen . Da müssen wir ansetzen . Seit der
Wirtschafts- und Finanzkrise ist das Vertrauen in Finanz-
dienstleistungen erheblich gesunken . Auch die mitunter
hohen Abschluss- und Verwaltungskosten lassen den
Unmut über Riester-Sparverträge noch steigen . Viele
Kunden bemängeln besonders die fehlende Transparenz
über die tatsächlichen Kosten, und durch die seit Jahren
andauernde Niedrigzinsphase ist die kapitalgedeckte Al-
tersvorsorge natürlich weniger attraktiv als noch bei der
Einführung 2002 .

Cansel Kiziltepe






(A) (C)



(B) (D)


Diese Einwände kann ich ohne Zweifel nachvollzie-
hen . Vergessen dürfen wir aber bei dieser Diskussion
nicht, dass Renditen langfristig betrachtet werden müs-
sen . Die Riester-Rente ist – da stimme ich den Antrag-
stellern ausnahmsweise zu – umstritten; aber die Ab-
schaffung der Riester-Rente, werter Kollege Birkwald,
halte ich für falsch . Allerdings stimme ich zu, wenn For-
derungen nach der Vereinfachung der Riester-Rente und
den Förderungsbedingungen laut werden, so wie es der
Kollege Peter Weiß bereits gesagt hat . Eine Optimierung
halte ich deshalb für geboten und unausweichlich .

Werte Kolleginnen und Kollegen von der Linksfrak-
tion, bei aller berechtigten Kritik an der Riester-Rente
halte ich Ihren Antrag für falsch . Sie fordern die Mög-
lichkeit einer freiwilligen Überführung der Riester-Pro-
dukte in die gesetzliche Rentenversicherung . Zunächst
stellt sich die Frage: Wie wollen Sie die Abschaffung den
Menschen erklären, die auf die Einhaltung der Verträge
vertrauen, genau den Menschen, die im Vertrauen auf die
staatliche Förderung die Riester-Verträge geschlossen
haben?


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Die können sie ja weiterführen!)


Diese Menschen sollen also dann keine staatliche Förde-
rung für ihre Verträge mehr erhalten .


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Dann kriegen sie eine höhere gesetzliche Rente!)


Neben dem Vertrauensschutz auf staatliche Förderung
der Riester-Sparer spricht die Vermischung zweier unter-
schiedlicher System gegen Ihren Antrag . Die heutigen
Beschäftigten zahlen im Laufe ihres Erwerbslebens regel-
mäßig Beiträge ein . Durch das Umlageverfahren werden
die Beitragsleistungen, wie wir wissen, für die Renten-
zahlungen an die Rentnerinnen und Rentner verwendet .
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erhalten im
Gegenzug für ihre Beiträge einen Anspruch auf Rente
im Alter, der dann von der nachfolgenden Beitragszahl-
ergeneration finanziert wird. Wenn die Riester-Rente in
die gesetzliche Rentenversicherung überführt wird, dann
werden die heutigen Rentnerinnen und Rentner durch
die höheren Beitragseinnahmen erheblich profitieren, die
nachfolgenden Generationen jedoch benachteiligt . Ihren
Vorschlag bewerte ich deshalb als systemwidrig . Ebenso
widerspricht er der Generationengerechtigkeit .

Ich bin davon überzeugt, dass die Riester-Rente blei-
ben muss; denn sie hat Potenzial . Dieses Potenzial, mei-
ne sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, sollten wir
nutzen . Wir lehnen daher den Antrag der Linksfraktion
ab .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1817310700

Nächster Redner ist für die SPD der Kollege Dr . Martin

Rosemann .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Martin Rosemann (SPD):
Rede ID: ID1817310800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will in die-
ser Debatte noch einmal vier Punkte deutlich machen .

Erster Punkt . Es ist ja mehrfach der Blick in andere
Länder angesprochen worden . Ich bin immer sehr da-
für, dass wir uns anschauen, was in anderen Ländern gut
läuft, dass wir etwas von anderen Ländern lernen, dass
wir über den Tellerrand hinausschauen . Aber wir sollten
dann auch sehr genau hinschauen und fragen, was viel-
leicht nicht so leicht übertragbar ist und was da passiert .

Insofern will ich gerne etwas zu Österreich sagen .
Wenn Sie sich das österreichische System genau an-
schauen, Herr Birkwald, dann werden Sie feststellen: Die
Österreicher zahlen – das hat Herr Kurth vorhin schon
gesagt – deutlich höhere Beiträge zur Rentenversiche-
rung, sie zahlen gleichzeitig deutlich geringere Beiträge
in die Krankenversicherung . Dafür gibt es einen höheren
Steuerzuschuss . Der Hauptpunkt aus meiner Sicht ist,
dass die Österreicher vor etwas mehr als zehn Jahren die
Selbstständigen und Beamten in die Rentenversicherung
einbezogen haben. Das finde ich auch richtig.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Aber sie haben es so gemacht, dass die zusätzlich ein-
genommenen Beiträge jetzt unmittelbar in Form höherer
Leistungen ausgezahlt werden . Es gibt also zusätzliche
Beitragszahler, denen im Moment aber keine zusätzli-
chen Empfänger gegenüberstehen . Das nutzen die Ös-
terreicher, um damit das System im Moment stabil zu
halten, und verschieben damit aber die Lasten auf die
Zukunft . Das halte ich für falsch .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zweiter Punkt . Ich will auch einmal ganz deutlich ma-
chen: Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra-
ten ist die gesetzliche Rente die zentrale Säule unseres
Alterssicherungssystems. Ich finde, da müssen wir uns
überhaupt nicht verstecken . Gerade in diesem Jahr haben
wir Rentensteigerungen von 5 Prozent im Osten und über
4 Prozent im Westen .


(Beifall bei der SPD)


Ich finde, da kann man erst einmal sagen: Die Rentenver-
sicherung in Deutschland steht gut da .


(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: So ist es!)


Natürlich müssen wir die gesetzliche Rente für die Zu-
kunft stärken . Das Wichtigste ist dabei aus meiner Sicht,
dass wir eine gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt,
vor allem eine gute Entwicklung bei der sozialversiche-
rungspflichtigen Beschäftigung in Deutschland haben.
Deswegen ist Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik
die wichtigste Rentenpolitik, meine Damen und Herren .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deswegen arbeiten wir an Baustellen wie der Stärkung
der Tarifbindung, Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von

Matthäus Strebl






(A) (C)



(B) (D)


Frauen, Integration von Flüchtlingen in den Arbeits-
markt, Förderung von Langzeitarbeitslosen und Gering-
qualifizierten.

Es kommt aus meiner Sicht ein zweiter Punkt hinzu .
Wenn wir das System der gesetzlichen Rente stärken
wollen – und wir wollen das –, dann müssen wir gesamt-
gesellschaftliche Aufgaben – dazu gehört für mich auch
die Mütterrente – konsequent über Steuern finanzieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!)


– Ja . Ich sage das in Richtung des Koalitionspartners,
und das weiß er auch .

Zur Stärkung der ersten Säule gehört aber auch eines
ganz klar: Wer sein Leben lang gearbeitet hat und Leis-
tungen erbracht hat, der darf am Ende des Erwerbslebens
nicht weniger als die Grundsicherung haben .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Da bin ich auch für!)


Dritter Punkt . Wir brauchen natürlich Antworten auf
die Herausforderungen des demografischen Wandels –
die niedrige Geburtenrate und vor allem die ständig stei-
gende Lebenserwartung . Dazu gehört aus meiner Sicht,
dass wir die Lasten gerecht zwischen den Generationen
verteilen und dass wir die Finanzierung der Alterssiche-
rung tatsächlich auf mehrere Säulen stützen . Auch ein
internationaler Vergleich, wie ihn viele hier gezogen ha-
ben, zeigt, dass das Sicherungsniveau in den Ländern am
höchsten ist, die einerseits eine starke erste gesetzliche
Säule haben und andererseits mindestens eine zweite ka-
pitalgedeckte Säule . Das war ja auch der Grund für die
Einführung der Riester-Rente . Meine Damen und Her-
ren, diese Überlegung bleibt auch richtig .


(Beifall der Abg . Anja Karliczek [CDU/ CSU])


Ich will an der Stelle deutlich sagen: Alle, die Ries-
ter-Verträge abgeschlossen haben, haben richtig gehan-
delt . Es gilt das, was Bundesarbeitsministerin Andrea
Nahles gesagt hat – ich zitiere –:

Der Staat garantiert, dass alle Riester-Inhaber ihr
Geld ausgezahlt bekommen . Auch für die staatli-
chen Zulagen gibt es Vertrauensschutz, die zahlt der
Staat weiterhin .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Vierter und letzter Punkt . Natürlich ist die Kritik –
mehrere Vorrednerinnen und Vorredner haben es ange-
sprochen – nicht von der Hand zu weisen: Wir haben
Probleme bei der Ausgestaltung der Riester-Rente, mit
Intransparenz, mit hohen Vertriebs- und Verwaltungskos-
ten, mit in der Regel wenig rentablen Anlagestrategien .
Daran müssen wir arbeiten . Wir müssen die kapitalge-
deckte Altersvorsorge in Deutschland weiterentwickeln .
Unser Ansatzpunkt ist – das hat Ralf Kapschack gesagt,
das hat Cansel Kiziltepe gesagt –, dass wir die betriebli-

che Altersvorsorge stärken wollen, dass wir einen deut-
lich höheren Verbreitungsgrad erreichen wollen und dass
wir die Sozialpartner stärken wollen .


(Beifall bei der SPD)


Damit erhöhen wir die Verbindlichkeit . Damit erreichen
wir mehr Beschäftigte, vor allem auch in kleinen und
mittleren Betrieben, dadurch reduzieren wir Vertriebs-
und Verwaltungskosten, damit ermöglichen wir optima-
lere Anlagestrategien .

Ich sage auch: Wir Sozialdemokraten setzen dabei we-
niger auf Entgeltumwandlung und mehr auf arbeitgeber-
finanzierte Betriebsrentenmodelle.


(Beifall bei der SPD)


Wir halten nach den Erfahrungen der vergangenen zehn
Jahre eine gesetzliche Verpflichtung für sinnvoll.

Mein Fazit: Ich finde, wir sollten uns dieser histori-
schen Aufgabe gemeinsam annehmen und gemeinsam
dafür sorgen, dass sich die Altersvorsorge weiterentwi-
ckelt und dass sich die betriebliche Altersvorsorge von
einem Instrument der betrieblichen Personalpolitik zu
einem Instrument der Sozialpolitik weiterentwickelt .

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1817310900

Abschließende Rednerin in dieser Aussprache ist die

Kollegin Anja Karliczek für die CDU/CSU .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Anja Karliczek (CDU):
Rede ID: ID1817311000

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Kolleginnen und Kollegen! Liebe Linke! Den Antrag,
den Sie uns heute vorlegen, können Sie nicht wirklich
ernst meinen .


(Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]: Doch!)


– Nein . – Die Linke will ein Instrument, das ganz gezielt
Kleinstverdienern und auch Kleinstverdienern mit Kin-
dern überproportional unter die Arme greift, nicht refor-
mieren – eine Reform kann ich mir ja noch vorstellen –,
sondern abschaffen . Ihr Antrag zeugt entweder von blin-
der Ideologie oder von Unkenntnis in der Sache . Alles,
was Sie vortragen, blendet den demografischen Wandel
aus . Auch von der Tatsache, dass zwei Drittel der Zu-
lagenempfänger ein Bruttoeinkommen von weniger als
30 000 Euro haben, habe ich hier noch nichts gehört .


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Die hätten alle mehr von einer höheren gesetzlichen Rente!)


Sie verunsichern die Menschen in unserem Land immer
wieder mit unausgereiften Ideen, ohne eine nachhaltige
Lösung, wie wir der Herausforderung des demografi-
schen Wandels begegnen können, zu nennen .


(Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Wir haben es Ihnen Dr. Martin Rosemann vorgerechnet! Deutlich günstiger als Riester! Haben Sie nicht zugehört?)





(A) (C)


(B) (D)


– Ich habe gut zugehört .

Unsere umlagefinanzierte Rente, der Sie alle Heraus-
forderungen der Zukunft aufs Auge drücken wollen,
kommt aus einem Dilemma nicht heraus: Spätestens ab
dem Jahr 2029 gehen die Babyboomer in Rente . Das ist
die Zeit, in der auf anderthalb Beitragszahler ein Rentner
kommt. Umlagefinanziert bedeutet das, dass anderthalb
Beitragszahler einen Rentner finanzieren müssen.


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Anderthalb stimmt nicht! Es sind zwei!)


Dass es unserer umlagefinanzierten Rente heute gera-
de gut geht, das bestreitet niemand . Aber woran liegt das
denn? Es liegt daran, dass wir erstens in unserem schö-
nen Land so viele sozialversicherungspflichtige Arbeits-
plätze wie noch nie haben


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Zu wenig!)


und dass zweitens die Lohnsteigerungen in der letzten
Zeit so hoch waren .

Die Wirtschaft floriert, und daran sollen alle teilhaben.
Deshalb bekommen unsere Rentner ab 1 . Juli eine saftige
Rentenerhöhung .


(Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Tut die gesetzliche Rente ja nicht mehr! Das ist ja das Problem! Das Rentenniveau sinkt!)


So hat es sich schon Ludwig Erhard vorgestellt, und so
funktioniert es bis heute .


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Sie erzählen hier Unsinn! – Gegenruf der Abg . Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Das ist kein Unsinn! Das passt doch!)


Dank umfangreicher Rentenreformen in den vergan-
genen Jahren steht die soziale Absicherung, die umla-
gefinanzierte Rente, auf soliden Füßen. Wir können uns
darauf verlassen, dass das System funktioniert . Darauf
können wir sehr stolz sein .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Sorgen, über die wir heute reden, liegen in der
Zeit nach 2030 . Dann gehen 1,3 Millionen Menschen in
den Ruhestand; Gott sei Dank oft recht fitte Menschen,
die dann noch auf einige Jahre erfüllten Ruhestand hof-
fen dürfen . In den Arbeitsmarkt hinein kommen aber nur
knapp halb so viele junge Menschen . Eine immer kleiner
werdende Gruppe von Beitragszahlern muss dann die
Rente für immer mehr Rentner erwirtschaften . Das ist
die Perspektive. So funktioniert unsere umlagefinanzier-
te gesetzliche Rente .


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Haben Sie schon etwas von Produktivitätssteigerung gehört?)


Eine lebensstandardsichernde Rente aber würde unse-
re Kinder überfordern .


(Zuruf der Abg . Kathrin Vogler [DIE LINKE])


– Sie sind ganz schön aufgeregt . – Deswegen haben wir
vor 15 Jahren begonnen, eine zusätzliche kapitalgedeck-
te Vorsorge zu unterstützen . Diesen Zusammenhang end-
lich einmal zur Kenntnis zu nehmen, ist die Basis für eine
ehrliche Diskussion darüber, wie es weitergehen soll .
Dann kommen wir auch ganz schnell zu der Erkenntnis,
dass wir den Aufbau einer kapitalgedeckten Vorsorge in-
tensiver unterstützen müssen . Es geht nicht um das Ent-
weder-oder – umlagefinanziert oder kapitalgedeckt? –,
sondern um das Sowohl-als-auch . Das ist hier das Thema .


(Beifall bei der CDU/CSU – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Wie soll man bei 17 000 Euro Jahresverdienst noch was zurücklegen?)


Wir brauchen die umlagefinanzierte Rente als Basis
unserer Altersabsicherung und mindestens eine kapital-
gedeckte Säule . Den immer weniger werdenden jungen
Menschen dürfen wir nicht die Finanzierung der Rente
der immer größer werdenden Zahl von Rentnern auf-
bürden . Deshalb wollen wir gerade den Menschen mit
kleinen Einkommen dabei helfen – das ist unser obers-
tes Ziel –, dass auch sie eine anständige Rente erreichen
können .

Ich könnte gut verstehen, wenn Sie heute sagen wür-
den: Lassen Sie uns darüber reden, wie wir das Ries-
ter-Sparen in Zeiten niedriger Zinsen attraktiver machen
können . Wie können wir Vertrauen zurückgewinnen, das
im Zuge der Finanzkrise und durch das Verhalten man-
cher Anbieter verloren gegangen ist? Das sind die rich-
tigen Fragen .


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1817311100

Frau Kollegin Karliczek, gestatten Sie eine Zwischen-

frage?


Anja Karliczek (CDU):
Rede ID: ID1817311200

Nein, ich rede erst zu Ende . Die Kollegin kann gleich

etwas sagen .

Eigene Vorsorge für das Alter muss selbstverständli-
cher werden; nur so können wir dauerhaft und langfristig
steigende Altersarmut verhindern . Das muss sich eben
auch für Geringverdiener lohnen . Wer vorsorgt, muss
mehr haben als der, der es nicht tut . Das muss das Maß
unserer Bemühungen sein .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb kann es zum Beispiel eine Möglichkeit sein,
einen Freibetrag auf die Grundsicherung einzurichten für
alle diejenigen, die kapitalgedeckt Eigenvorsorge leisten .
Dann schaffen wir Mehrwert gerade für die Menschen in
unserer Gesellschaft, die die Hilfe am nötigsten haben .

Eine weitere richtige Frage ist die nach dem Umgang
mit den niedrigen Zinsen . Wenn Zinsen keine Ertrags-
quelle mehr sind, weil sie so niedrig sind, dann ist zu
fragen: Wie können wir Menschen über die Altersvorsor-

Anja Karliczek






(A) (C)



(B) (D)


ge einen Anteil an der wirtschaftlichen Entwicklung in
unserem Land zukommen lassen, ohne dem Einzelnen
ein hohes Risiko zumuten zu müssen?

Das, was Sie machen, ist billig . Es verunsichert gera-
de die Menschen, die eine kapitalgedeckte Vorsorge am
nötigsten haben . Es ist in der aktuellen Situation sogar
brandgefährlich .


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Sie führen doch die Leute hinter die Fichte!)


Noch eine Bemerkung am Rande . Sie beziehen sich in
Ihrem Antrag auf eine Aussage des bayerischen Minister-

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1817311300
Wir sind alle Men-
schen . Menschen sind nicht unfehlbar, Menschen können
irren . Deswegen werden wir diesen Antrag ablehnen .


(Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Seehofer irrt sich! Das haben wir jetzt amtlich! Dann hat die Rede doch noch etwas gebracht!)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1817311400

Damit schließe ich die Aussprache .

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/8610 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? – Widerspruch sehe ich keinen . Dann ist die
Überweisung so beschlossen .

Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 31 a bis 31 g
sowie den Zusatzpunkt 2 auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-
derung des Umweltstatistikgesetzes und des
Hochbaustatistikgesetzes

Drucksache 18/8341
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-
heit (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 17. Dezember 2015 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und Japan
zur Beseitigung der Doppelbesteuerung auf
dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und
bestimmter anderer Steuern sowie zur Verhin-
derung der Steuerverkürzung und -umgehung

Drucksache 18/8516
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Richtlinien (EU) 2015/566 und (EU)
2015/565 zur Einfuhr und zur Kodierung
menschlicher Gewebe und Gewebezuberei-
tungen

Drucksache 18/8580

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung

d) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Fi-
nanzhilfen des Bundes zum Ausbau der Ta-
gesbetreuung für Kinder und des Kinderbe-
treuungsfinanzierungsgesetzes

Drucksache 18/8616
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Finanzausschuss
Haushaltsausschuss

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr . Alexander S . Neu, Wolfgang Gehrcke, Jan
van Aken, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE

Keine Verlegung von Bundeswehr-Einheiten
nach Litauen

Drucksache 18/8608
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss

f) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Nationaler Implementierungsplan zur Umset-
zung der EU-Jugendgarantie in Deutschland

Drucksache 18/1108
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

g) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

(18 . Ausschuss) gemäß § 56a der Geschäftsord-

nung

Technikfolgenabschätzung (TA)


Bilanz der Sommerzeit

Drucksache 18/8000
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-
heit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Lisa Paus,
Christian Kühn (Tübingen), Kerstin Andreae,

Anja Karliczek






(A) (C)



(B) (D)


weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Spekulation mit Immobilien und Land been-
den – Keine Steuerbegünstigung für Übernah-
men durch Share Deals

Drucksache 18/8617
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-
heit

Dabei handelt es sich um Überweisungen im verein-
fachten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen . Die Vorlage auf der Drucksache 18/8608
zu Tagesordnungspunkt 31 e soll federführend im Ver-
teidigungsausschuss beraten werden . Gibt es dagegen
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall . Dann sind diese
Überweisungen so beschlossen .

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 i sowie
die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf . Es handelt sich dabei
um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine
Aussprache vorgesehen ist .

Tagesordnungspunkt 32 a:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-
gie (9 . Ausschuss) zu der Verordnung der Bun-
desregierung

Sechste Verordnung zur Änderung der Au-
ßenwirtschaftsverordnung

Drucksachen 18/7992, 18/8129 Nr. 2, 18/8276

Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8276,
die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 18/7992
nicht zu verlangen . Wer für diese Beschlussempfehlung
des Ausschusses stimmt, den bitte ich um ein Handzei-
chen . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist damit angenommen mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD sowie Bündnis 90/Die
Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke .

Wir kommen jetzt zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses .

Tagesordnungspunkt 32 b:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses (2 . Ausschuss)


Sammelübersicht 313 zu Petitionen

Drucksache 18/8411

Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammel-
übersicht 313 ist damit mit den Stimmen des gesamten
Hohen Hauses angenommen .

Tagesordnungspunkt 32 c:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses (2 . Ausschuss)


Sammelübersicht 314 zu Petitionen

Drucksache 18/8412

Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammel-
übersicht 314 ist damit angenommen mit den Stimmen
von CDU/CSU und SPD sowie Bündnis 90/Die Grünen
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke .

Tagesordnungspunkt 32 d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses (2 . Ausschuss)


Sammelübersicht 315 zu Petitionen

Drucksache 18/8413

Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammel-
übersicht 315 ist mit allen Stimmen des Hohen Hauses
angenommen .

Tagesordnungspunkt 32 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses (2 . Ausschuss)


Sammelübersicht 316 zu Petitionen

Drucksache 18/8414

Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammel-
übersicht 316 ist mit den Stimmen von CDU/CSU und
SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Ent-
haltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen .

Tagesordnungspunkt 32 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses (2 . Ausschuss)


Sammelübersicht 317 zu Petitionen

Drucksache 18/8415

Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammel-
übersicht 317 ist mit allen Stimmen des Hohen Hauses
angenommen .

Tagesordnungspunkt 32 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses (2 . Ausschuss)


Sammelübersicht 318 zu Petitionen

Drucksache 18/8416

Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammel-
übersicht 318 ist mit den Stimmen von CDU/CSU und
SPD sowie der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen
von Bündnis 90/Die Grünen angenommen .

Vizepräsident Johannes Singhammer






(A) (C)



(B) (D)


Tagesordnungspunkt 32 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses (2 . Ausschuss)


Sammelübersicht 319 zu Petitionen

Drucksache 18/8417

Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammel-
übersicht 319 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD
und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke angenommen .

Tagesordnungspunkt 32 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses (2 . Ausschuss)


Sammelübersicht 320 zu Petitionen

Drucksache 18/8418

Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammel-
übersicht 320 ist mit den Stimmen von CDU/CSU und
SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen .

Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 3 auf:

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zu dem Abkommen vom 29. Juni 2015
zwischen der Regierung der Bundesrepublik
Deutschland und der Regierung der Republik
Kosovo über die justizielle Zusammenarbeit
in Strafsachen

Drucksache 18/8211

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(6 . Ausschuss)


Drucksache 18/8642

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (19 . Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz,
Dr . Frithjof Schmidt, Claudia Roth (Augsburg),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
tes über die Unterzeichnung und die vorläufi-
ge Anwendung des Wirtschaftspartnerschafts-
abkommens zwischen der Europäischen
Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits
und den SADC-WPA-Staaten andererseits
KOM(2016) 8 endg.; Ratsdok. 5608/16

und

zu dem Vorschlag für einen Beschluss des
Rates über die Unterzeichnung und die
vorläufige Anwendung des Wirtschafts-
partnerschaftsabkommens zwischen den
Partnerstaaten der Ostafrikanischen Ge-
meinschaft einerseits und der Europäischen

Union und ihren Mitgliedstaaten andererseits
KOM(2016) 63 endg.; Ratsdok. 6126/16

hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes

Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit der
Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afri-
ka und der ostafrikanischen Gemeinschaft ab-
lehnen

Drucksachen 18/8243, 18/8643

Zusatzpunkt 3 a . Der Ausschuss für Recht und Ver-
braucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 18/8642, den Gesetzentwurf der Bun-
desregierung auf Drucksache 18/8211 anzunehmen . Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, um das Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke und von Bündnis 90/
Die Grünen angenommen .

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ge-
setzentwurf ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU
und SPD bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und von
Bündnis 90/Die Grünen angenommen .

Wir kommen jetzt zum Zusatzpunkt 3 b . Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/8643, den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/8243 abzulehnen .
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen von
CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke und von Bündnis 90/Die Grünen angenommen .

Damit kommen wir jetzt zu den Tagesordnungspunk-
ten 7 a und 7 b, die ich hiermit aufrufe:

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Telemediengeset-
zes

Drucksache 18/6745

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Energie (9 . Ausschuss)


Drucksache 18/8645

b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Dr . Konstantin von Notz, Luise Amtsberg,
Volker Beck (Köln), weiteren Abgeordneten und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
den Abgeordneten Halina Wawzyniak, Herbert
Behrens, Dr . Petra Sitte, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Tele-
mediengesetzes – Störerhaftung

Drucksache 18/3047

Vizepräsident Johannes Singhammer






(A) (C)



(B) (D)


Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Energie (9 . Ausschuss)


Drucksache 18/3861

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Widerspruch
höre ich keinen . Dann ist das somit beschlossen .

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Marcus Held für die SPD .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Marcus Held (SPD):
Rede ID: ID1817311500

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! In dieser Woche hatte ich eine Schü-
lergruppe hier im Bundestag in Berlin zu Gast, so wie
hier heute sicherlich auch einige zugegen sind . Sie ka-
men aus Polen, genauer gesagt aus Koscian, dem Part-
nerlandkreis des Landkreises Alzey-Worms in meinem
Wahlkreis .


(Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und hatten kein WLAN!)


Als ich versucht habe, meine aktuellen Tätigkeitsfelder
im Bundestag zu beschreiben, scheiterte es an der Über-
setzung des Begriffs der WLAN-Störerhaftung . Ich ver-
suchte es dann ein bisschen anders und habe gefragt: Wie
sieht es aus, kennt ihr es, dass ihr auf eurem Smartphone
ein Kennwort eingeben müsst, wenn ihr euch über einen
Hotspot ins Internet einwählen wollt? Da rief dann die
Lehrerin gleich: Nein, das kennen wir in Polen nicht,
aber wenn wir in Alzey in Deutschland sind, dann müs-
sen wir das regelmäßig tun .


(Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Diesen Zustand wollen wir mit der heutigen Gesetzesän-
derung beenden .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mit der Änderung des Telemediengesetzes sorgen wir
heute dafür, dass in Deutschland endlich gleiche Mög-
lichkeiten und gleiche Chancen bestehen wie in anderen
europäischen Ländern schon seit vielen Jahren . Denn wir
sind das einzige Land in Europa und vielleicht sogar in
der Welt, das über eine solche längst überholte Regelung
verfügt .


(Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unfassbar!)


Heute machen wir hier im Deutschen Bundestag endlich
den Weg frei für offene WLAN-Netze und – das ist rich-
tig und wichtig – für eine moderne digitale Infrastruktur
in unserem Land .


(Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Leider nicht!)


Künftig haben Private die Möglichkeit, ihre
WLAN-Router zu öffnen und sie so zu echten Hotspots
zu machen, und das ohne die Gefahr, für Rechtsverlet-

zungen Dritter in Haftung genommen zu werden, so wie
dies bisher leider der Fall gewesen ist . Wir brauchen die-
se Hotspots auch in Cafés, in Bibliotheken, in Schulen,
auf den Marktplätzen dieser Republik und überall dort,
wo sich Tourismus in Deutschland entwickelt und sich
Gäste mithilfe des Internets über ihr jeweiliges Umfeld
informieren wollen, beispielsweise wenn sie hier in Ber-
lin unterwegs sind . Wir schaffen Rechtssicherheit, meine
Damen und Herren, die alle Betreiber brauchen, egal ob
Freifunk-Initiativen, Handelsverbände oder unsere Kom-
munen, die sich ja seit vielen Wochen und Monaten mit
dem Ziel befassen, öffentliche Hotspots intensiver auszu-
bauen und zu installieren .

Die rheinland-pfälzische Landesregierung unter
Malu Dreyer beispielsweise hat sich zum Ziel gesetzt,
1 000 Hotspots in Rheinland-Pfalz zu installieren und
dafür zu sorgen, dass alle öffentlichen Gebäude, die ei-
nen Internetanschluss haben, auch einen öffentlichen
WLAN-Zugang um- bzw . einbauen müssen . Das ist vor-
bildlich . Ich möchte an dieser Stelle, auch wenn auf der
Bundesratsbank niemand sitzt, alle Bundesländer auffor-
dern, diesem positiven Beispiel – dieses Ziel kann auf-
grund unserer Gesetzesänderung nämlich noch leichter
umgesetzt werden – nachzueifern .

Wir haben in der Koalition sehr lange über dieses The-
ma diskutiert . Wir, die SPD, hätten es gerne schon viel
früher abgeschlossen . Aber wir können heute im Ergeb-
nis sagen: Es gibt keine Zwischenlösungen; sie alle sind
vom Tisch . Es wird keine Vorschaltseiten und keine Pass-
wortpflicht geben. Die heutige Gesetzesänderung fördert
echtes freies WLAN .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Neben dem WLAN möchte ich noch kurz auf § 10
unseres Entschließungsantrages eingehen . Unser Ziel
ist es, gegenüber Internetplattformen, deren Geschäfts-
modell im Wesentlichen auf der Verletzung von Urhe-
berrechten beruht, wirksam vorgehen zu können und das
Recht durchzusetzen . Diese Diensteanbieter sollen sich
nicht länger auf das Haftungsprivileg, welches sie als
Host-Provider genießen, zurückziehen können und ins-
besondere keine Werbeeinnahmen mehr erhalten .

Jetzt hoffen wir gemeinsam, dass das Gesetz auch for-
mell schnell wirksam wird . Denn am dritten Wochenende
im September ist in Alzey Winzerfest; dann kommen die
Schüler aus Koscian wieder . Spätestens dann sollen sie
kein Passwort mehr eingeben müssen .

Danke schön .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1817311600

Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin

Dr . Petra Sitte .


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Petra Sitte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817311700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich

hatte die Hoffnung, dass wir uns heute zum letzten Mal

Vizepräsident Johannes Singhammer






(A) (C)



(B) (D)


mit dem Problem der Störerhaftung bei offenen WLANs
beschäftigen .


(Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schön wäre es!)


Was Sie heute vorschlagen, geht zum Teil in die richtige
Richtung . Aber den entscheidenden Knoten, von dem Sie
gerade selbst gesprochen haben, lösen Sie leider nicht .


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg . Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ja, es gibt Verbesserungen gegenüber dem, was ur-
sprünglich geplant war . Zum Glück verzichten Sie bei-
spielsweise auf irgendwelche Pflichten für WLAN-An-
bieter wie nutzlose Vorschaltseiten . Vernünftigerweise
verzichten Sie auch darauf, die Haftungsprivilegien für
Host-Provider zu schleifen . Die heftige Kritik, die an den
ursprünglichen Plänen geäußert wurde, scheint also – zu-
mindest teilweise – angekommen zu sein . Aber Ihr Vor-
schlag – da muss ich Ihnen widersprechen – ändert de
facto nichts am heutigen Problem der Störerhaftung .


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Was?)


Der entscheidende Knackpunkt ist nämlich der soge-
nannte Unterlassungsanspruch .


(Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist das!)


Bisher können Rechteinhaber bzw . deren Anwaltskanz-
leien vom Rechteverletzer eine Erklärung verlangen,
dass eine angeblich getätigte rechtswidrige Handlung
künftig ausbleibt . Bei Zuwiderhandlung wird dann nicht
selten eine saftige Geldstrafe fällig .


(Christian Flisek [SPD]: „Vertragsstrafe“ heißt das!)


Nach derzeitiger Rechtsprechung können solche An-
sprüche auch gegen WLAN-Anbieter erhoben werden .
Es kann also von einer WLAN-Anbieterin verlangt
werden, eine mögliche rechtswidrige Handlung eines
WLAN-Nutzers zu unterbinden . Dies ist insbesondere
für private WLAN-Anbieter, wie wir alle wissen, kaum
zu kontrollieren . Die Experten raten deshalb, die Haf-
tungsfreistellung von WLAN-Betreibern explizit auf die
Unterlassungsansprüche auszuweiten .


(Marcus Held [SPD]: Was? Das stimmt doch alles gar nicht!)


Im ursprünglichen Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung war das auch noch vorgesehen . An genau dieser
Stelle haben die Kolleginnen und Kollegen der Koali-
tionsfraktionen aber gegen den Gesetzentwurf der Bun-
desregierung gearbeitet; Sie haben das nämlich wieder
gestrichen . So werden nach Ihrem Vorschlag weiterhin
WLAN-Anbieter für die Handlungen ihrer Nutzer haft-
bar gemacht werden .


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Völlig falsches Rechtsverständnis! – Marcus Held [SPD]: Warum das denn?)


Sie wollen zwar klarstellen, dass die Haftungsprivile-
gierung nach § 8 des Telemediengesetzes grundsätzlich

auch für WLAN-Anbieter gilt . Nur ist das leider auch
schon nach jetzigem Recht so .


(Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Dumm nur, dass nach der Rechtsprechung des Bundes-
gerichtshofes die Haftungsprivilegierung des § 8 Teleme-
diengesetz gerade nicht für Unterlassungsansprüche gilt .

Was wäre wirklich nötig? Wir Linken und die Bünd-
nisgrünen haben einen Gesetzentwurf eingebracht, der
umfassende Rechtssicherheit garantieren würde .


(Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wegweisend!)


Er basiert auf einem Vorschlag des Vereins Digitale Ge-
sellschaft .

Wenn Sie meinen – so verbreiten Sie es ja auch in
den sozialen Netzwerken –, dass die Erwähnung dieses
Themas in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs aus-
reicht, kann ich Ihnen nur entgegnen, dass der für Ur-
heberrechtsfragen zuständige I . Zivilsenat des Bundes-
gerichtshofs immer wieder ausdrücklich erklärt hat, dass
eine Erwähnung in der Begründung nicht genügt, wenn
dies keinen hinreichenden Niederschlag im Gesetzestext
findet.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Linke hat einen solchen Gesetzentwurf sogar
schon in der letzten Legislaturperiode eingebracht . Wir
hätten also bereits seit drei Jahren Rechtssicherheit haben
können – aber das nur einmal nebenbei .

Wir wollen ganz explizit die Haftungsfreistellung
auch für gewerbliche und nichtgewerbliche WLAN-An-
bieter festschreiben und sie insbesondere auf Ansprüche
auf Unterlassung ausweiten . Dann kann kein Gericht die-
ses Landes mehr auf die Idee kommen, hier anders zu ur-
teilen – und es wird weitere Rechtsstreite geben . Das ist
für diejenigen, die auf die offenen WLANs warten, ex-
trem wichtig . Auch für die Anbieter ist es extrem wichtig .

Dazu müssten Sie allerdings dem von den Grünen und
uns vorgelegten Vorschlag Ihre Stimme geben . Ich hoffe,
dass das bei Ihnen auch in irgendeiner Weise seinen Nie-
derschlag findet; denn wir müssen davon ausgehen, wie
ich anfangs gesagt habe, dass wir uns weiter mit diesem
Thema beschäftigen werden, weil weitere Rechtsstreite
folgen – was sehr schade ist, da man die Chance hatte,
hier etwas zu ändern .

Besten Dank .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1817311800

Das Wort hat jetzt für die CDU/CSU-Fraktion der

Kollege Axel Knoerig .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Petra Sitte






(A) (C)



(B) (D)



Axel Knoerig (CDU):
Rede ID: ID1817311900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die-
se Abstimmung heute hat schon eine gewisse – in Anfüh-
rungsstrichen – „historische“ Bedeutung; denn wir ebnen
den Weg für freies WLAN in der Bundesrepublik .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


In ganz Deutschland soll es künftig offene Netze ge-
ben. Damit wird der flächendeckende Internetausbau
weiter beschleunigt . Gerade für die ländlichen Regionen
ist das besonders wichtig . Als jemand, der aus dem länd-
lichen Raum kommt, sage ich das bewusst immer wieder .
Wir haben immer noch viel zu viele Gemeinden, in denen
die insbesondere für Downloads entscheidenden Bitraten
nur sehr gering sind und in weiten Teilen sogar das Mo-
bilfunknetz nur sehr unzureichend ausgebaut ist .

Wir ergänzen dies durch eine bundesweite Breit-
bandförderung, insbesondere durch das geplante Digi-
Netz-Gesetz zur Beschleunigung des Glasfaserausbaus .
Wir müssen nämlich die weißen Flecken auf unserer
Landkarte bis 2018 ausradieren . Das wird auch gelingen,
und zwar auch durch das WLAN .

Damit ist eine gute Nachricht für alle Hoteliers und
Besitzer von Gastronomiebetrieben verbunden: Sie müs-
sen nicht mehr dafür haften, wenn ihre Gäste Rechtsver-
stöße im Internet begehen . Wir alle kennen aus unseren
Wahlkreisen das Dilemma, von dem uns Hoteliers und
Cafébetreiber berichten . Es gehört heute dazu, dass man
den Kunden ein funktionsfähiges WLAN anbietet; denn
man möchte konkurrenzfähig sein . Illegale Downloads
seitens der Nutzer haben den Hoteliers und Cafébetrei-
bern in den vergangenen Jahren aber teure Abmahnungen
beschert .


(Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ja! Sie haben das jahrelang blockiert! – Gegenruf des Abg . Marcus Held [SPD]: Das stimmt leider!)


Doch damit ist nun Schluss . Wir geben den WLAN-Be-
treibern Rechtssicherheit . Dazu werden sie mit den Net-
zanbietern gleichgestellt. Das bedeutet: Sie profitieren
vom Haftungsausschluss . Den Regierungsentwurf haben
wir gerade auch dahin gehend verbessert . Dabei orientie-
ren wir uns sehr wohl inhaltlich an dem, was der Gene-
ralanwalt am Europäischen Gerichtshof vorgegeben hat .
Schließlich ist es nötig und wichtig, zu schauen, wie es
auf EU-Ebene geregelt ist . Er hat ganz klar ausgeführt,
dass es keine völlige Haftungsfreistellung geben kann .
Das heißt: Wenn in einem Netz eindeutig Rechtsverstöße
erfolgt sind, muss ein Unterbinden weiterer Vergehen per
Gerichtsbeschluss möglich sein .

Dieser Punkt wird bei den Linken sowie bei den Grü-
nen und leider in Teilen auch von der SPD vernachläs-
sigt . Wir können doch nicht den Schutz von WLAN-Be-
treibern über den Schutz geistigen Eigentums stellen .
Das sagt der Generalanwalt am EuGH .

Vielmehr brauchen wir ein Gleichgewicht zwischen
der Informations- und der unternehmerischen Freiheit
einerseits sowie dem Urheberrecht andererseits . Mit un-

serer Regelung haben wir eine ausgewogene Balance
dieser Grundrechte erzielt . WLAN-Betreiber, Nutzer und
Rechteinhaber werden gleichermaßen berücksichtigt,
und das bei einer praktikablen Handhabung .

Meine Damen und Herren, damit erfüllen wir den
Koalitionsvertrag . Darin steht auch, dass wir die Bür-
ger über die Risiken, die mit der Nutzung offener Netze
verbunden sind, aufklären . Ich möchte darauf hinweisen,
dass man sensible Daten, etwa beim Onlinebanking, nur
in privaten Netzen abrufen sollte . Ebenso sind E-Mails
zu verschlüsseln . Wir müssen – auch das haben wir im
Koalitionsvertrag festgehalten – diese grundlegenden
IT-Kompetenzen in der Zukunft noch stärker vermitteln .

Im Regierungsentwurf war vorgesehen, die Haftung
von Plattformbetreibern zu regeln . Da haben wir ganz
klar gesagt: Das muss auf europäischer Ebene geregelt
werden . Das betrifft besonders Geschäftsmodelle, die im
Wesentlichen auf Verletzung von Urheberrechten beru-
hen . Diesen Plattformen muss schlichtweg der Geldhahn
zugedreht werden . Sie dürfen keine Werbeeinnahmen
mehr kassieren .

Meine Damen und Herren, diese Änderungen beim
Telemediengesetz werden gewiss nicht die letzten sein .
Der digitale Wandel wird weiterhin rechtliche Anpassun-
gen erfordern . Wir als Union setzen dabei auf eine ver-
antwortungsvolle Digitalpolitik .

Mit diesem WLAN-Gesetz legen wir das Fundament
für neue Geschäftsmodelle . Wir geben heute innovativen
Diensten die Möglichkeit, sich freier und leichter zu ent-
wickeln .


(Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wovon träumen Sie nachts, fragt man sich!)


Ich rufe insbesondere die Kommunen und die Landkrei-
se, aber auch die Bibliotheken, dazu auf, WLAN-Netze
einzurichten und anzubieten; denn sie sind sehr wohl –
das hat auch Kollege Held treffend gesagt – ein wichtiger
Faktor für Bildung, Tourismus und Wirtschaft .

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1817312000

Nächster Redner ist der Kollege Dr . Konstantin von

Notz, Bündnis 90/Die Grünen .


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Mai 2010 gibt
es die Entscheidung des BGH zum Musiktitel Sommer
unseres Lebens. Seitdem gibt es diese Rechtsunsicher-
heit, über die wir heute reden . Aus dem Sommer unseres
Lebens sind sechs Jahre unseres Lebens geworden – was
für ein Wahnsinn! –: sechs Jahre Unklarheit, welche
Pflichten man erfüllen muss, um aus der Haftung genom-
men zu werden, wenn man seine Netze für Dritte öffnet;
sechs Jahre, in denen die Digitalisierung Deutschlands






(A) (C)



(B) (D)


eines der Topthemen war, und zwar gesellschaftlich wie
wirtschaftlich; sechs Jahre Regierungsverantwortung der
CDU/CSU, die bei einer ganz entscheidenden Grundlage
der Digitalisierung voll auf der Bremse stand und nicht
aus dem Quark gekommen ist .

Trotz Forderungen von allen Seiten, diese Rechtsun-
sicherheit durch gesetzliche Klarstellung zu beseitigen,
hat erst, Dorothee Bär, Schwarz-Gelb nichts unternom-
men . Auch danach ist trotz Appellen aus der wegwei-
senden Enquete-Kommission „Internet und digitale
Gesellschaft“ und trotz der Zusage im Koalitionsvertrag
der Großen Koalition, als Gesetzgeber endlich Rechtssi-
cherheit herzustellen, lange, viel zu lange, nichts passiert .
Das ist und bleibt ein Armutszeugnis, meine Damen und
Herren .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Dabei ist es gar nicht so schwer: Die Opposition, Lin-
ke und wir, haben direkt zu Beginn dieser Wahlperiode
einen Gesetzentwurf vorgelegt . Sie haben mit einigen
Jahren Verzögerung einen Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung nachgeschoben, der in die völlig falsche Rich-
tung ging: weitreichende Verpflichtungen für WLAN-Be-
treiber, ihre Netze zu schützen, die so abwegig waren,
dass sich peinlicherweise selbst die eigenen Ministerien,
Frau Bär, bis heute nicht daran halten; fernliegende, dem
TMG fremde Unterscheidungen zwischen privaten und
kommerziellen Anbieterinnen und Anbietern; namentli-
che Registrierungen, die man sonst nur aus autoritären
Staaten kennt . Auch § 10 TMG war von vornherein völ-
lig abwegig .

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung war insge-
samt gänzlich untauglich und hätte zu mehr Rechtsunsi-
cherheit und zu weniger offenen Netzen geführt . Da fragt
man sich: Wie kann es eigentlich nach Jahren zu einem
solchen Gesetzentwurf der Bundesregierung kommen?
Wenn sich solche Fragen stellen, meine Damen und Her-
ren, dann macht man etwas grundsätzlich falsch, liebe
Regierung .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Ist das jetzt ein Lob für das Parlament? Habe ich das richtig verstanden?)


– Zum Parlament komme ich noch, Thomas . – Der Ge-
setzentwurf wurde zu Recht von allen Seiten, selbst von
den eigenen Sachverständigen in der Bundestagsanhö-
rung und von den eigenen Ministerien, zerrissen . Es war
klar: Es musste etwas Neues her . Aber statt sich auf un-
seren lichtvollen und wegweisenden Entwurf der Oppo-
sition zu beziehen,


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – Lachen bei der CDU/CSU – Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Den hat die Opposition doch abgeschrieben! Das ist ein Plagiat! Das haben Sie vorhin gelernt bei der Netzpolitik!)


brauchte es erst ein Machtwort der Kanzlerin, um das
mittlerweile maximal peinliche Nicht-aus-dem-Quark-
Kommen der Koalition zu beenden . Verhindert werden

sollte vor allen Dingen auch die nächste Klatsche vom
EuGH .

Seit vorgestern Abend wissen wir, dass Sie die zwei
zentralen Versprechen, die Sie gemacht haben,


(Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Beide halten!)


nicht erfüllen, nämlich erstens Rechtssicherheit herzu-
stellen und zweitens die Störerhaftung zu beseitigen .
Verstehen Sie es nicht falsch: Ich sehe durchaus auch,
dass es in manchen Bereichen im Hinblick auf den Vor-
schlag der Bundesregierung Verbesserungen gibt . So-
wohl die Klarstellung in § 8 TMG als auch der komplette
Wegfall des § 10 und des absurden Konstrukts – auch
das muss man sich vor Augen führen – der „besonders
gefahrgeneigten Dienste“ ist eine Verbesserung .

Aber während der Entwurf der Bundesregierung die
Notwendigkeit erkannt hatte, eine saubere Klarstellung
im Gesetzestext selbst vorzunehmen, fehlt diese bei Ih-
nen . Stattdessen überlassen Sie es den überlasteten Ge-
richten erneut, nach Ihrer Begründung eines Änderungs-
antrags im Bundestag zu googeln, um das Gesetz, das
Sie vorgelegt haben, auslegen zu können . Was für ein
Wahnsinn! Sie beziehen sich dabei auf das Argument des
Generalanwalts am EuGH . Was machen Sie eigentlich,
wenn der EuGH anders entscheidet? Sollen dann die
Menschen weitere sechs Jahre auf freies WLAN warten,
nur weil Sie es nicht schaffen, dies direkt ins Gesetz zu
schreiben? Es ist unfassbar, meine Damen und Herren .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Den einzigen guten Punkt in dem Entwurf der Bun-
desregierung haben Sie herausgestrichen . Herr Knoerig
hat eben ziemlich unverhohlen die Motive dafür genannt .
Deswegen sage ich voraus, dass sich Frau Merkel heu-
te Abend auf der CDU-MediaNight gerade nicht dafür
feiern lassen kann, die Störerhaftung beseitigt zu haben .
Jegliche Siegerpose ist fehl am Platz . Sie sind den ent-
scheidenden Schritt eben leider nicht gegangen .


(Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja!)


Sie haben keine Rechtssicherheit hergestellt, sondern das
erneut an die Gerichte delegiert . Das ist für dieses Parla-
ment ein Armutszeugnis und leider zu wenig . Ich bedau-
ere das hochgradig .

Herzlichen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1817312100

Für die SPD spricht jetzt der Kollege Lars Klingbeil .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Lars Klingbeil (SPD):
Rede ID: ID1817312200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der Bundestag macht heute den Weg für mehr offenes
WLAN in Deutschland frei . Das ist das Ergebnis einer
langen Diskussion, die wir hatten, und es ist das Ergebnis

Dr. Konstantin von Notz






(A) (C)



(B) (D)


eines Gesetzentwurfs, den Sigmar Gabriel mit dem Wirt-
schaftsministerium auf den Weg gebracht hat .

Wir als Koalition haben in den letzten Wochen um
den richtigen Weg gerungen . Aber es ist klar: Wir verab-
schieden heute einen Gesetzentwurf in zweiter und drit-
ter Lesung, der endlich den Weg für offenes WLAN in
Deutschland frei machen wird . Es ist gut, dass wir heute
im Parlament endlich diese Entscheidung treffen .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Ergebnis einer
langen Diskussion ist ein Paradigmenwechsel, den wir
erreicht haben . Ich erinnere daran, dass wir noch vor ei-
nem Jahr – ich glaube, das kann jeder, der sich mit dem
Thema beschäftigt hat, bestätigen – immer zuerst zu der
Frage kamen, was es bedeutet, wenn wir in Deutschland
WLAN-Netze öffnen . Es war von Urheberrechtsver-
letzungen, die massenhaft zunehmen würden, und von
Straftaten die Rede, die vielleicht in Cafés und Restau-
rants geplant würden . Das waren doch die Argumente,
gegen die wir immer wieder anargumentieren mussten .

Ich glaube, mit dem Gesetzentwurf gelingt es wirk-
lich, den Paradigmenwechsel zu schaffen: weg von den
Gefahren, die immer wieder gesehen werden, wenn es
um offene Netze geht, und hin zu den Chancen, die wir
sehen und definieren. Ich finde, das ist ein großer Erfolg
des Parlaments . Das haben wir auch gemeinsam mit den
Oppositionsfraktionen in der Diskussion erreicht . Dafür
ein großer Dank an alle, die daran mitgewirkt haben!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist aber bei Weitem nicht nur das Verdienst der
Politik . In den letzten Jahren hat es immer wieder Akteu-
re gegeben, beispielsweise vorneweg die Freifunker, die
darum gerungen haben, dass wir eine solche Gesetzes-
änderung auf den Weg bringen . Internetvereine wie D64
oder die Digitale Gesellschaft, Akteure wie der Deutsche
Städte- und Gemeindebund, der Deutsche Handelsver-
band, aber auch rot-grüne Landesregierungen haben be-
grüßt, was wir jetzt auf den Weg bringen, und sagen, dass
das, was die Große Koalition verabschiedet, der richtige
Weg ist . Alle diese Akteure haben ein großes Verdienst
daran, dass wir endlich freie und offene WLANs in
Deutschland schaffen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Gesetzentwurf zeigt also, dass Politik lernfähig
ist . Wir schaffen mit offenen WLAN-Netzen einen wei-
teren Teil einer modernen digitalen Infrastruktur . Das Di-
giNetz-Gesetz ist angesprochen worden . Der Breitband-
ausbau ist auch erwähnt worden . Wir sorgen also dafür,
dass es eine gute digitale Infrastruktur in Deutschland
gibt .

Wir alle wissen aus unseren Erfahrungen, dass heute
häufig eine der ersten Fragen in Hotels oder Restaurants
die nach einem WLAN ist . WLAN ist Innovationstreiber .
Viele Geschäftsmodelle werden entstehen . Wir werden
eine Modernisierung der Innenstädte erleben . Ich selber
komme aus dem ländlichen Raum . Dort spielt der Tou-
rismus eine große Rolle . Es ist ein wichtiger Wirtschafts-

faktor auch für den Tourismus, dass wir dort freie und
offene WLAN-Netze bekommen werden .

Dieses Gesetz, das wir heute auf den Weg bringen,
steht in einer Reihe mit vielen anderen Prozessen, die
wir erleben – etwa hier in der Stadt Berlin, wo 600 Hot-
spots geschaffen werden . Die Kirche in Brandenburg und
Berlin hat sich auf den Weg gemacht, zunächst 300, bald
3 000 Hotspots zu schaffen .


(Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Gottspots“!)


Und wir sehen, dass erste Städte – etwa Erlangen – in ih-
ren Innenbereichen eine komplett offene WLAN-Struk-
tur schaffen . Unser Gesetz kann dann dafür sorgen, dass
auch Private künftig nicht mehr vor ihrer Haftung für
Rechtsverletzungen Dritter Angst haben müssen .

Weil ich in den letzten Tagen auch etwas über eine
„Mogelpackung“ gelesen habe, die wir hier angeblich
auf den Weg bringen, will ich noch einmal vorlesen, was
im Gesetz und in der Gesetzesbegründung explizit steht .
Dort steht:

Die Haftungsprivilegierung

– die dank der gesetzlichen Änderungen zweifelsfrei
auch für WLAN-Anbieter gilt –,

umfasst … auch die verschuldensunabhängige Haf-
tung im Zivilrecht nach der sog . Störerhaftung und
steht daher nicht nur einer Verurteilung des Vermitt-
lers zur Zahlung von Schadenersatz, sondern auch
seiner Verurteilung zur Tragung der Abmahnkosten
und der gerichtlichen Kosten … entgegen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf des Abg . Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will sagen: Wer
diese Begründung nicht versteht, und wer diesen aus-
drücklichen Wunsch des Gesetzgebers an dieser Stelle
nicht versteht, der ignoriert bewusst das, was wir hier auf
den Weg bringen,


(Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie das einmal dem Kollegen Knoerig!)


der ignoriert bewusst das Mehr an Rechtssicherheit, das
wir hier schaffen . Und dem kann ich leider keine guten
Absichten unterstellen .

Herzlichen Dank fürs Zuhören .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1817312300

Der Kollege Hansjörg Durz spricht jetzt für die Frak-

tion der CDU/CSU .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Hansjörg Durz (CSU):
Rede ID: ID1817312400

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die
Gleichstellung von WLAN-Anbietern – auch von Priva-

Lars Klingbeil






(A) (C)



(B) (D)


ten mit klassischen Zugangsprovidern – ist ein riesiger
Schritt nach vorn . Wir schaffen damit Rechtssicherheit,
und zwar insbesondere für diejenigen, die sich bislang
aus Sorge etwa vor teuren Abmahnungen dagegen ent-
schieden haben, WLAN anzubieten . Wir erfüllen damit
unseren eigenen, im Koalitionsvertrag formulierten An-
spruch, der da lautete:

Die Potenziale von lokalen Funknetzen . . . als Zu-
gang zum Internet im öffentlichen Raum müssen
ausgeschöpft werden .

Ich denke hier vor allem an die riesigen Potenziale,
die etwa im Einzelhandel, in der Gastronomie, im Touris-
mus oder auch im Verkehrsbereich stecken . Überall dort
werden digitale Anwendungen den Nutzern in Zukunft
weit einfacher zugänglich gemacht werden . Insofern ist
der heutige Tag ein richtig guter für den Digitalstandort
Deutschland .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Im Laufe des parlamentarischen Verfahrens stand für
uns neben den Potenzialen, die es zu heben gilt, auch das
Thema Sicherheit im Mittelpunkt . Das in dreierlei Hin-
sicht:

Zum einen ging es uns um Rechtssicherheit für die
WLAN-Anbieter und damit die Gewähr, vor teuren
Abmahnkosten und vor Schadensersatzansprüchen ge-
schützt zu werden .

Zweitens ging es um die Sicherheit für Rechteinha-
ber, die auch weiterhin die Möglichkeit haben, Urheber-
rechtsverletzungen durch gerichtliche Anordnungen wir-
kungsvoll entgegenzutreten .

Und drittens ging es um die Sicherheit für Nutzer von
offenen WLAN-Verbindungen . Dabei ist sehr interessant,
dass bereits wenige Stunden nachdem die Einigung der
Koalitionsfraktionen bekannt wurde, eine große deutsche
Tageszeitung sofort einen Artikel mit der Überschrift „So
schützen Sie sich in öffentlichen WLAN-Netzen“ veröf-
fentlichte . Sie schrieb darüber, welche Gefahren und Ri-
siken mit dem Surfen in öffentlichen Netzen verbunden
sind . Hier werden wir weiter Aufklärungsarbeit betreiben
und die Nutzer sensibilisieren müssen, potenziell betrü-
gerische Netzwerke zu erkennen, sichere Verschlüsselun-
gen zu nutzen und sensible Daten nicht arglos zu kom-
munizieren .

Darüber hinaus haben wir in einer Protokollerklärung
die Bundesregierung aufgefordert, uns nach zwei Jahren
zu berichten, wie sich die WLAN-Ausbreitung entwi-
ckelt hat und wie es in dieser Zeit mit Rechtsverletzun-
gen ausgesehen hat .

Auch wenn es in der öffentlichen Diskussion also
ausschließlich um das Thema WLAN geht, so regelt das
Telemediengesetz aber nicht nur die Haftung von diesen
Zugangsanbietern, sondern auch von Diensteanbietern,
die zur Datenspeicherung Dritten eine technische Infra-
struktur zur Verfügung stellen . Diese sogenannten Host
Provider genießen für die Ausübung ihrer Tätigkeiten
Haftungsprivilegierungen, die jedoch bei Geschäftsmo-
dellen, die sich im Wesentlichen auf Rechtsverletzungen

stützen, in der Praxis zu gravierenden Problemen führen
können . Hier versuchte der Gesetzentwurf, durch die
Charakterisierung eines gefahrengeneigten Dienstes ei-
nen Weg zu finden, um Rechtsverstöße einfacher ahnden
zu können . Wir haben die geplanten Maßnahmen und
deren Auswirkungen im parlamentarischen Verfahren
intensiv unter die Lupe genommen . Die Konsultation so-
wohl der Rechteinhaber als auch der Internetwirtschaft
hat ergeben, dass mit den geplanten Maßnahmen des
§ 10 TMG weder der einen noch der anderen Seite ge-
holfen gewesen wäre . Deswegen haben wir uns dazu ent-
schieden, es beim Status quo zu belassen . Mit dem Koali-
tionspartner haben wir uns stattdessen darauf verständigt,
die Bundesregierung aufzufordern, sich auf europäischer
Ebene für eine Überarbeitung des Haftungsregimes für
Plattformbetreiber einzusetzen . Ein einheitliches Haf-
tungsregime für Rechtsverletzungen im Internet ist eine
vorrangig europäische Aufgabe . Gerade die aktuellen
Konsultationsprozesse der Europäischen Kommission
zur Haftung von Plattformbetreibern und Intermediären
sind eine gute Gelegenheit, sich hier aktiv einzubringen .

Klar ist, dass wir in Zukunft innovative und wirksame
Ansätze brauchen, um auf die rasante Entwicklung un-
terschiedlicher Dienste und Geschäftsmodelle reagieren
zu können . Wie die Bekämpfung illegaler Plattformen
gelingen kann, dazu listen wir im Entschließungsantrag
sieben für uns wichtige Punkte auf . Exemplarisch möch-
te ich auf das Prinzip „Follow the money“ hinweisen .
Wenn wir es schaffen, Geldströme auszutrocknen, indem
solche Plattformen legal keine Werbeeinnahmen generie-
ren können, gehen wir direkt an die Wurzel der illegalen
Geschäftsmodelle .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Noch zu einem dritten Themenkomplex . Der Bundes-
rat hat in einer Stellungnahme zum Gesetzentwurf eine
Ergänzung zum § 14 TMG angeregt, um die Durchsetz-
barkeit von Persönlichkeitsrechten zu verbessern . Wir
teilen die Position des Bundesrats ausdrücklich . Daher
fordern wir die Bundesregierung in unserem Entschlie-
ßungsantrag auf, bis Ende des Jahres eine umfassende
Erhebung zu Verletzungen des Persönlichkeitsrechts und
des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbe-
betrieb durchzuführen und Ergebnisse vorzulegen . Falls
sich aus den Ergebnissen der Erhebung ein Rechtsset-
zungsbedarf ergibt, soll dieser noch in dieser Legislatur-
periode gedeckt werden .

Zum Schluss möchte ich auf Folgendes hinweisen:
Mit dem geänderten Telemediengesetz entwickeln wir
den Digitalstandort Deutschland ein enormes Stück wei-
ter . Wir werden die positiven Auswirkungen in Bälde se-
hen . Ich bitte Sie daher um Zustimmung .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Hansjörg Durz






(A) (C)



(B) (D)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1817312500

Nächster Redner ist der Kollege Christian Flisek für

die SPD .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Christian Flisek (SPD):
Rede ID: ID1817312600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollegin-

nen und Kollegen! Nach dem ehemaligen Vorsitzenden
der SPD-Bundestagsfraktion ist ein Gesetz benannt, nach
dem kein Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es von
der Regierung eingebracht wurde . Für dieses sogenann-
te Struck’sche Gesetz ist die heute debattierte Änderung
des Telemediengesetzes geradezu ein Musterbeispiel .
Der Gesetzentwurf hat uns parlamentarisch sehr intensiv
und lange beschäftigt . Aber im Ergebnis beschließen wir
heute ein Gesetz, das an ganz erheblichen Stellen vom
Regierungsentwurf abweicht . Herr Kollege von Notz,
deswegen sollten Sie sich in zweiter und dritter Lesung
nicht am Regierungsentwurf abarbeiten . Vielmehr sollten
Sie sich mit der heutigen Beschlussvorlage befassen .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Verschlimmbessert!)


Wir schaffen Rechtssicherheit in Deutschland für öf-
fentliche WLANs; darauf wurde schon hingewiesen . Wir
leisten damit einen ganz erheblichen Beitrag dazu, dass
Deutschland aus der WLAN-Wüste geführt wird . Das ist
allerhöchste Zeit . Die bisher geltende Störerhaftung bei
der Bereitstellung von öffentlichen WLAN-Netzen traf
allzu oft die falschen Personen: den Familienvater, der
oft erst mit der Abmahnung erfahren hat, was alles über
seinen Anschluss möglich ist, oder die Kaffeehausbetrei-
berin, die die Handlungen ihrer Gäste nicht kontrollie-
ren konnte und die Gäste auch nicht persönlich kannte .
Eine ganze Abmahnindustrie konzentrierte sich auf die-
se Menschen, um Profite zu machen, ohne irgendeinen
volkswirtschaftlichen Nutzen dabei zu erzielen . Die Be-
reitsteller von WLAN-Netzen wie etwa der Familienva-
ter oder die Gastronomin waren und sind aus zwei Grün-
den die falschen Adressaten einer Haftung . Erstens . Sie
wollten sich in den allermeisten Fällen immer rechtstreu
verhalten . Zweitens fehlten ihnen schlicht die Mittel, um
die Nutzer ihrer W-LAN-Netze zu kontrollieren .

Die bisherige Störerhaftung war aus Sicht der Rechte-
inhaber ein effektives und vielleicht auch ein lukratives
Instrument, aber es war in höchstem Maße unfair . Dieser
Situation schieben wir heute gemeinsam einen Riegel
vor . Deshalb ist es auch richtig, sie abzuschaffen . Um
jede rechtliche Unsicherheit zu beseitigen, haben wir –
darauf hat der Kollege Klingbeil ausdrücklich hingewie-
sen – auch klargestellt, dass die Haftungsprivilegierung
jede Art der Haftung umfasst .

Lassen Sie mich aber auch klarstellen, dass die Rechte-
inhaber nach wie vor nicht schutzlos zu stellen sind .
Das Gegenteil ist der Fall . Wir müssen die Inhaber von
immateriellen Schutzgütern auch im digitalen Zeitalter
schützen; sie brauchen genauso viel Rechte, wie es im
analogen Zeitalter notwendig war und ist . Deswegen ist
es auch ganz wichtig – der Kollege Durz hat darauf völ-

lig zu Recht hingewiesen –, dass wir nicht so tun, als ob
wir in einer globalen digitalen Welt mit nationalem Recht
und nationalen Gesetzen alles lösen könnten .

Die Plattformen, die es im Wesentlichen auf Urheber-
rechtsverletzungen abgesehen haben und darauf abzie-
len, die Profite einzufahren, sitzen eben nicht in Deutsch-
land . Sie sitzen nicht in Tuttlingen, sondern sie sitzen in
Timbuktu . Deswegen ist der Ansatz, den wir mit unserem
Entschließungsantrag gehen, nämlich dass wir den Geld-
strömen folgen wollen oder, besser formuliert, dass wir
solchen illegalen Plattformen nachhaltig den Geldhahn
zudrehen wollen, der richtige Ansatz . Mit dem Entschlie-
ßungsantrag haben wir genau das in das Hausaufgaben-
heft unserer Bundesregierung hineingeschrieben .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich glaube, wir können heute gemeinsam diesen Ge-
setzentwurf guten Gewissens beschließen . Ich würde
mich wirklich darüber freuen; ich sage das ausdrücklich
zu den Kolleginnen und Kollegen der Opposition . Ich
weiß, in der Stellenbeschreibung des Oppositionspoliti-
kers steht Lob für die Regierung nicht drin, das ist nicht
ausdrücklich erwähnt .


(Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]: Aber wir können eigene Vorschläge haben, und die haben wir!)


Aber vielleicht können auch Sie irgendwann einmal über
Ihren Schatten springen . Heute wäre dazu die Gelegen-
heit .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1817312700

Abschließender Redner in dieser Debatte ist der Kol-

lege Thomas Jarzombek für die CDU/CSU .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Thomas Jarzombek (CDU):
Rede ID: ID1817312800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist heu-

te ein guter Tag für das digitale Deutschland . Wir haben
lange daran gearbeitet und heute einen Gesetzentwurf
vorgelegt, den wir auch beschließen werden . Dieses
Gesetz ist vielleicht von seiner Bedeutung her nicht das
größte Gesetz dieser Legislaturperiode, aber vielleicht
eines, das die meisten Menschen zum Aufbruch bringt
und eine ähnliche Dynamik freisetzt wie das Gesetz, mit
dem wir es in der letzten Legislaturperiode erlaubt ha-
ben, dass Fernbusse wieder Menschen zwischen Städten
kommerziell transportieren dürfen . Da ist ein richtiger
Boom entstanden, und ich glaube, wir werden jetzt auch
einen WLAN-Boom in Deutschland erleben . Das ist das
Ziel dieses Gesetzes . Deshalb bin ich froh, dass wir den
Gesetzentwurf heute hier beraten und gleich beschließen
werden .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Der Deutsche Bundestag hat nach dem Struck’schen
Gesetz immer alles zu verändern . In meinen sieben Jah-
ren als Bundestagsabgeordneter habe ich allerdings auch
Gesetze gesehen, die der Bundestag nicht mehr so durch-
einandergeschüttelt hat, wie Herr Struck es damals so
plastisch zum Ausdruck gebracht hat . Hier hat das Par-
lament – da nehme ich den Kollegen von Notz als Kron-
zeugen – doch wirklich einmal richtige Arbeit geleistet
und das, was die Regierung uns vorgelegt hat, nicht nur
ein bisschen überarbeitet und ein Stückchen verändert;
das Parlament hat vielmehr etwas Neues gebaut, was
wirklich gut ist und von dem ich überzeugt bin, dass es
eine effektive und endgültige Problemlösung ist .


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Verbessert und verschlimmert!)


Zu der Frage der Rechte wurde schon vieles gesagt .
Ich glaube, es ist richtig, mit dem heutigen Tag einen Pa-
radigmenwechsel einzuleiten . Würde man von der Post
reden, würde man sagen: Jetzt ist wieder derjenige dran,
der den Brief verschickt, und nicht der Postbote . – Jetzt
kann man auf das Internet bezogen sagen: Wir fokussie-
ren unser Engagement auf diejenigen, die wirklich große
illegale Plattformen betreiben . Das sind diejenigen, die
damit Geld verdienen und massiv den Urhebern schaden .
Wir gehen nicht mehr gegen Familien mit 14-jährigen
Teenagern vor . Ich glaube, das ist die richtige Ausrich-
tung für die Rechtsdurchsetzung in Deutschland .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Es wurde in den letzten Tagen sehr viel darüber disku-
tiert, ob die Störerhaftung jetzt wirklich abgeschafft wird
oder nicht . Ich verstehe die Rolle der Opposition, und ich
verstehe auch die Eitelkeiten derjenigen, die selber einen
Gesetzentwurf eingebracht haben, den sie übrigens eins
zu eins abgeschrieben haben . Das wurde vorhin schon
einmal gesagt . Wegen Plagiaten mussten manche hier
schon zurücktreten .


(Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben draufgeschrieben, von wem er ist!)


Dass alle diejenigen jetzt enttäuscht sind, kann ich
verstehen . Aber mit der Störerhaftung ist jetzt endgültig
Schluss . Das ist ganz einfach zu erklären: Als hier vorhin
jemand sagte, in einem Bundesland würden jetzt massiv
Hotspots gebaut, raunte mir der Kollege von Notz zu:
Hoffentlich gibt es auch eine ausreichende Prozesskos-
tenkasse . – Lieber Kollege von Notz, wir stellen hier klar,
dass das Providerprivileg, das für die Deutsche Telekom
und andere gilt, künftig für jeden gilt, der in diesem Land
ein WLAN betreibt . Sie können ja einmal fragen, welche
Prozesskostenkasse die Deutsche Telekom hat oder wel-
che Prozesskostenkassen andere haben .


(Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr hättet es in das Gesetz schreiben müssen!)


Auch können Sie fragen, wie viele Abmahnungen sie be-
kommen haben .

Sie haben auch gelesen, dass es einen Streit unter
Juristen gibt . Sie wissen, dass beispielsweise Professor
Härting zu Recht gesagt hat, vor Abmahnungen – –


(Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Euer Sachverständiger!)


– Frage stellen, nicht Zwischenrufe machen, bitte!


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Das muss er selber entscheiden!)


– Ja, eben!


(Abg . Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Ich wollte Sie nicht provozieren, aber ich gehe der Dis-
kussion natürlich nicht aus dem Weg .


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1817312900

Ich vermute nach Ihrer Reaktion, dass Sie mit einer

Zwischenfrage des Kollegen Dr . von Notz einverstanden
sind .


Thomas Jarzombek (CDU):
Rede ID: ID1817313000

Ja, sehr gerne .


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Lieber Thomas Jarzombek, erst einmal vielen Dank
für die Aufforderung und das Zulassen der Frage . – Ich
habe die eilige Stellungnahme Ihres Sachverständigen,
Herrn Härting, nach der Diskussion gelesen . Er stellte –
ich hoffe, Sie glauben es mir jetzt einfach – in der Anhö-
rung zu Punkt 8 auf Seite 2 seiner Stellungnahme – ich
zitiere – mit Bezug auf die Regelung des Regierungsent-
wurfs selbst und die Änderung des Bundesrates fest:

Im Ergebnis teile ich vollumfänglich die Kritik des
Bundesrates an § 8 Abs . 4 TMG-E . Nur durch eine
vorbehaltlose Abschaffung jedweder Störerhaftung
des Betreibers wird man das erklärte Ziel erreichen,
die WLAN-Abdeckung des öffentlichen Raums
nachhaltig zu fördern .


(Christian Flisek [SPD]: Das ist doch der Regierungsentwurf! Wir behandeln etwas anderes!)


Jedwede Abschaffung! Sie haben diesen Unterlassungs-
anspruch, der auch heute noch beklagt werden kann,
eben nicht herausgenommen . Das haben Sie nicht hin-
bekommen . Herr Knoerig hat auch gesagt, warum: weil
man ihn eben nicht heraus haben will . Man will diese
Unsicherheit bewusst so belassen .


(Christian Flisek [SPD]: Das ist doch Quatsch!)


Sie vielleicht nicht; aber das war ja der Kompromiss .
Und zu dem sollten Sie sich bekennen .


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Thomas Jarzombek






(A) (C)



(B) (D)



Thomas Jarzombek (CDU):
Rede ID: ID1817313100

Lieber Kollege von Notz, ich kann mich gut an die

Anhörung erinnern . Interessanterweise habe ich gerade
noch nachgelesen, was Professor Härting geschrieben
hat . Die Kritik bezog sich ja auf den Regierungsentwurf,
den wir vollständig gestrichen haben . Genau den Satz,
den er kritisiert hat, haben wir gestrichen . Seine Äuße-
rungen bezogen sich darauf, dass im Regierungsentwurf
zwei Konditionen für das Entfallen der Störerhaftung
enthalten waren . Die erste Kondition betraf die Ver-
schlüsselung, die zweite bezog sich auf die Vorschaltsei-
te . Deshalb glaube ich, dass das ein Zeichen ist, dass wir
aus dieser Anhörung gelernt haben . Wir haben gelernt,
diese Dinge – was richtig ist – herauszunehmen . Insofern
sehe ich hier überhaupt keinen Gegensatz . Ich lese viel-
leicht einmal § 8 so vor, wie er jetzt eben besteht . – So,
jetzt ist er auf meinem iPad verschwunden .


(Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wahrscheinlich kein WLAN!)


– Das ist nicht so schlimm, ich habe auch eine mobile
Datenverbindung . Ich empfehle, das einmal nachzulesen .
§ 8 Telemediengesetz, der jetzt für alle gilt, stellt den Be-
treiber ausdrücklich frei . Das Einzige, was übrig bleibt,
ist der Unterlassungsanspruch .


(Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Das ist auch richtig, weil wir sonst nicht mehr europa-
rechtskonform wären . Dann stünden wir wieder vor dem
EuGH .

Der Unterlassungsanspruch – das erklären wir auch
noch einmal in der Begründung – gilt dann, wenn es eine
gerichtliche Anordnung gibt . Härting schrieb heute oder
gestern dazu, dass man natürlich keinen Schutz vor einer
Abmahnung bekommen kann, weil eine Abmahnung ja
ungerechtfertigt sein kann . Wir können nur vor Urtei-
len – und damit gerechtfertigten Abmahnungen – schüt-
zen . Genau das ist es, was wir hier tun . Deswegen darf
sich hier keiner mehr hinter die Fichte führen lassen . Es
gibt keinen berechtigten Abmahnanspruch mehr . Punkt .
Aus . Ende .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich beziehe mich jetzt noch einmal auf einen Blogger,
der ansonsten noch viel härter mit allen ins Gericht geht .
Ich finde, dass Markus Beckedahl relativ milde war. Er
schrieb, diese ganze Debatte sei ein gutes Sinnbild für
den Zustand der Digitalen Agenda in der Großen Koa-
lition . Meine Damen und Herren, deshalb sage ich zum
Schluss: Es gibt diejenigen, die im Internet und in den
neuen Technologien viele Chancen sehen . Auch ich zäh-
le mich dazu . Es gibt aber auch viele, die sich fragen,
ob all diese Veränderungen, die jetzt mit solch einer Ge-
schwindigkeit kommen, richtig und gut sind . Sie meinen,
dass man das alles erst einmal durchdenken muss . Wir
müssen uns davor hüten, zuzulassen, dass diejenigen, die
den Weg vorangehen, eine Arroganz entwickeln gegen-
über denjenigen, die sagen: Wir müssen darüber noch
einmal einen Tag nachdenken und diskutieren . – Das be-
zieht sich auf die gesamte Bundesrepublik und nicht nur
auf den Deutschen Bundestag oder auf diese Koalition .

Ich glaube, das muss man bei jeder dieser Abwägungen
immer mit einbeziehen; sonst macht man einen großen
Fehler .

Jetzt sind alle gefordert, sich auf den Weg zu machen .
Ich erwarte, dass jetzt, wo die WLAN-Störerhaftung
abgeschafft ist, mehr WLANs geschaffen werden . Da-
mit meine ich die Städte . Ich appelliere jetzt an meinen
eigenen Oberbürgermeister: In Düsseldorf gibt es zwar
trotz der Störerhaftung schon WLANs – aber nur da,
wo zufällig schon Sendestationen eines großen Netzbe-
treibers sind . Ich erwarte, dass die Städte jetzt losgehen
und flächendeckende Zonen mit WLANs schaffen, das,
was wir als Voraussetzung geschaffen haben, nutzen, um
den Menschen ein wirklich tolles WLAN-Ergebnis zu
präsentieren . Ich fange selber damit in meinem eigenen
Wahlkreisbüro an . Ich lade alle ein, da zu surfen . Auf
die Abmahnungen, die nicht kommen werden, freue ich
mich schon heute .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1817313200

Damit schließe ich die Aussprache .

Tagesordnungspunkt 7 a . Wir kommen jetzt zur Ab-
stimmung über den von der Bundesregierung eingebrach-
ten Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des
Telemediengesetzes . Der Ausschuss für Wirtschaft und
Energie empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/8645, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/6745 in
der Ausschussfassung anzunehmen . Ich bitte jetzt dieje-
nigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen . – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist da-
mit in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen
von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .

Wir kommen jetzt zur

dritten Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit angenommen mit den Stimmen von CDU/CSU
und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .

Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/8645 empfiehlt der Ausschuss, eine Ent-
schließung anzunehmen . Wer für diese Beschlussemp-
fehlung stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU,
SPD, Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Frakti-
on Die Linke angenommen .1)

Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 7 b .
Abstimmung über den von den Fraktionen Bündnis 90/

1) Anlage 3






(A) (C)



(B) (D)


Die Grünen und Die Linke eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zur Änderung des Telemediengesetzes – Stö-
rerhaftung . Der Ausschuss für Wirtschaft und Ener-
gie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der
Drucksache 18/3861, den Gesetzentwurf der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke auf Drucksa-
che 18/3047 abzulehnen . Ich bitte jetzt diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen . Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD ge-
gen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bünd-
nis 90/Die Grünen abgelehnt . Damit entfällt nach unserer
Geschäftsordnung die weitere Beratung .

Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Stärkung der beruflichen
Weiterbildung und des Versicherungs-
schutzes in der Arbeitslosenversicherung

(Arbeitslosenversicherungsschutzund Weiterbildungsstärkungsgesetz – AWStG)


Drucksache 18/8042

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-

(11 . Ausschuss)


Drucksache 18/8647


(8 . Ausschuss)


Drucksache 18/8648

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11 . Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Zimmermann (Zwickau), Matthias W .
Birkwald, Susanna Karawanskij, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Schutzfunktion der Arbeitslosenversiche-
rung stärken

– zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Kerstin Andreae, Markus Kurth,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Arbeitslosenversicherung gerechter gestal-
ten und Zugänge verbessern

Drucksachen 18/7425, 18/5386, 18/8647

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11 . Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten

Brigitte Pothmer, Markus Kurth, Beate Müller-
Gemmeke, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Arbeitsförderung neu ausrichten – Nachhalti-
ge Integration und Teilhabe statt Ausgrenzung

Drucksachen 18/3918, 18/5119

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Widerspruch
erhebt sich dagegen keiner . Dann ist die Redezeit so be-
schlossen .

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin
Anette Kramme für die Bundesregierung .


(Beifall bei der SPD sowie der Abg . Dr . Astrid Freudenstein [CDU/CSU])


A
Anette Kramme (SPD):
Rede ID: ID1817313300


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Unter dem etwas kompliziert lautenden Titel
„Gesetz zur Stärkung der beruflichen Weiterbildung und
des Versicherungsschutzes in der Arbeitslosenversiche-
rung“, kurz: AWStG, setzen wir ein weiteres Vorhaben
aus dem Koalitionsvertrag um . Wir leisten mit diesem
Gesetz einen Beitrag zu einer präventiven und aktivie-
renden Arbeitsmarktpolitik . Ich freue mich sehr, dass
unser Gesetzentwurf bei den Sachverständigen überwie-
gend auf positive Resonanz stößt . So begrüßen Arbeit-
geber- und Gewerkschaftsseite sowie die Bildungs- und
Wohlfahrtsverbände, dass wir mit dem AWStG bei der
Förderung der Grundkompetenzen, die für das Nachho-
len eines Berufsabschlusses notwendig sind, bei Wei-
terbildungsmaßnahmen für Geringqualifizierte und in
kleinen und mittleren Unternehmen ein gutes Stück vor-
ankommen . Außerdem führen wir Weiterbildungsprämi-
en ein, die das Durchhalten bis zum Ende einer Ausbil-
dung belohnen sollen .

Wir haben über dieses Instrument lange Zeit disku-
tiert . Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
hat noch einmal unterstrichen, dass unser Modell mit
abschlussbezogenen Prämien einen deutlich besseren
Anreiz setzt als etwa ein Modell mit monatlichen Prä-
mien . Die Betroffenen werden besser motiviert . Wir
eröffnen damit Menschen, denen bislang ganz grundle-
gende Voraussetzungen fehlen, bessere Chancen auf dem
Arbeitsmarkt. Es profitieren aber auch diejenigen, für
die Weiterbildung bisher ohne Anreize oder schlichtweg
verschlossen war, zum Beispiel in kleinen Handwerks-
betrieben .

Ein Wort auch zur Finanzierung der Weiterbildungs-
förderung: Für das Jahr 2016 planen die Agenturen für
Arbeit und die Jobcenter immerhin mit Ausgaben von
insgesamt fast 3 Milliarden Euro für die berufliche Wei-
terbildungsförderung . Mit mehr Mitteln ist es aber nicht
an jeder Stelle getan, wenn es an Kompetenzen zum Er-
reichen eines Berufsabschlusses fehlt . Mit dem Gesetz
geben wir deshalb den Agenturen und Jobcentern künftig
Instrumente an die Hand, um Kompetenzen aufzubau-
en – gerade im niedrigqualifizierten Bereich –, Motiva-
tionshemmnisse abzubauen und während der Weiterbil-
dung noch besser zu unterstützen . Schließlich geht es
nicht darum, was gut und teuer klingt, sondern darum,
das zu tun, was hilft und was wirkt . Und am Ende geht
es darum, das umzusetzen, was geht und was wir hier im
Haus auch durchbekommen .

Vizepräsident Johannes Singhammer






(A) (C)



(B) (D)


Ja, wir als Bundesministerium für Arbeit und Sozia-
les haben vorgeschlagen, den Zugang zum Anspruch auf
Arbeitslosengeld, insbesondere nach einer befristeten
Beschäftigung, auszuweiten, zu erleichtern und die so-
genannte Rahmenfrist des Arbeitslosengeldbezuges ge-
nerell auf drei Jahre zu erweitern . Das hätte bestimmten
Erwerbsbiografien, die durch viele kurzzeitige Beschäf-
tigungen geprägt sind, etwa im Kulturbereich, besser
Rechnung getragen .


(Beifall bei der SPD)


Allerdings war dies innerhalb der Bundesregierung
nicht durchsetzbar . Aber angesichts dessen, was wir er-
reicht haben, was an Verbesserungen kommt, bin ich,
sind wir durchaus zufrieden . Auch weil wir Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmern, die von Restrukturierung
betroffen sind, künftig schneller Zugang zu beruflicher
Weiterbildung verschaffen . So können notwendige Qua-
lifizierungen von Älteren und von geringqualifizierten
Beschäftigten bereits während der Zeit in einer Trans-
fergesellschaft gefördert werden, wenn der Arbeitgeber
mindestens die Hälfte der Kosten trägt, auch bei Maß-
nahmen, die zu einem Abschluss im Ausbildungsberuf
führen. Ich finde, dass wir damit das Instrumentarium
der Transfergesellschaften in durchaus sinnvoller Weise
weiterentwickeln .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, beim AWStG geht
es auch darum, möglichst allen Menschen lebenslanges
Lernen zu ermöglichen . Weiterbildung darf kein Luxus
für wenige sein, Weiterbildung muss für alle möglich
sein, egal welche Voraussetzungen sie mitbringen und
egal wie groß der Betrieb ist, in dem sie arbeiten .

Am Ende wollen wir ein Recht auf Weiterbildung
erreichen – in der Praxis, nicht auf dem Papier . Ich bin
der festen Überzeugung, dass wir mit dem AWStG einen
weiteren Schritt in die richtige Richtung gehen . Ich bitte
deshalb um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1817313400

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Zimmermann

für die Fraktion Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817313500

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Sehr geehrte Frau Staatssekretärin! Wis-
sen Sie, dieser Gesetzentwurf ärgert mich eigentlich so
richtig . Sie haben davon gesprochen, dass das Gesetz so
einen schönen, schwierigen Namen hat . Ich sage, es ist
ein vielversprechender Name: Gesetz zur Stärkung der
beruflichen Weiterbildung und des Versicherungsschut-
zes in der Arbeitslosenversicherung . Eine tatsächliche
Stärkung habe ich aber leider in Ihrem Gesetzentwurf
vergeblich gesucht .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie reden davon, dass Sie Langzeiterwerbslose ver-
stärkt für eine berufliche Weiterbildung gewinnen und
ihre Motivation und ihr Durchhaltevermögen durch
Prämien stärken möchten . Mal wieder tun Sie so, als
ob die Menschen selber ganz alleine daran schuld wä-
ren, in welcher Situation sie sich befinden, weil sie wohl
nicht motiviert seien . Fragt sich nur: Wofür motiviert?
In Wahrheit gibt es kaum Weiterbildungsangebote . Statt
dies einzugestehen, bedienen Sie sich immer wieder der
Legende vom unmotivierten Erwerbslosen . Das ist schä-
big, meine Damen und Herren . Ich denke, damit muss in
diesem Hause endlich mal Schluss sein .


(Beifall bei der LINKEN)


Im Jahr 2010 gab es im Bereich des SGB II noch rund
220 000 Zugänge zur beruflichen Weiterbildung, im
letzten Jahr gab es nur noch rund 130 000 – ein Rück-
gang um über 40 Prozent . Die Zahl der Erwerbslosen im
Rechtskreis des SGB II ging aber im selben Zeitraum um
nur 10 Prozent zurück . Wenn Sie also behaupten wollen,
dass der Rückgang der Weiterbildung den sinkenden Er-
werbslosenzahlen folgt, verkaufen Sie die Menschen für
dumm . Da sagen wir: Das kann nicht sein .


(Beifall bei der LINKEN)


Viele wollen sich weiterbilden, doch Sie lassen sie
nicht . Ich kenne genügend Beispiele aus den Bürger-
sprechstunden in meinem Wahlkreisbüro oder aber auch
aus meiner Gewerkschaftsarbeit . Anstatt die Weitbil-
dungsinteressierten zu unterstützen, speisen Sie sie mit
Almosen ab, und selbst die kürzen Sie noch über Sankti-
onen . So sieht Ihre Arbeitsmarktpolitik aus .

Die Bundesregierung wollte einen besonderen
Schwerpunkt beim Abbau der verfestigten Langzeitar-
beitslosigkeit setzen . Jetzt sind bald drei Jahre vergan-
gen, und es hat sich nichts getan . Hier haben Sie grandios
versagt .


(Beifall bei der LINKEN)


Das können Sie nicht schönreden, so wie Herr
Schiewerling immer alles schönredet . Er guckt gar nicht
hoch, er liest ganz verbissen, wahrscheinlich in den neu-
esten Zahlen, die er wieder nicht versteht .


(Widerspruch bei der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Unter der Gürtellinie!)


Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache, Herr
Schiewerling: Es gibt immer noch über 1 Million lang-
zeiterwerbslose Menschen in diesem Land . Aber Sie tun
an dieser Stelle nichts .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Wenn Sie mehr Weiterbildungsangebote möchten, dann
müssen Sie einfach auch Geld in die Hand nehmen, dann
müssen Sie dafür sorgen, dass mehr Bildungsmaßnah-
men stattfinden. Denn Bildung ist das A und O, um auf
dem Arbeitsmarkt bestehen zu können .

Das Verhältnis muss sich umkehren: Anstatt den
Menschen zu misstrauen oder sie zu verfolgen, sorgen
Sie lieber dafür, dass Langzeiterwerbslose ein Recht auf

Parl. Staatssekretärin Anette Kramme






(A) (C)



(B) (D)


Weiterbildung bekommen! Dieses Recht fordern wir als
Fraktion Die Linke ein .


(Beifall bei der LINKEN)


Alles kann man aber nicht mit Weiterbildung lösen;
denn nicht immer sind es fehlende Qualifikationen, die
einer Arbeitsaufnahme im Weg stehen . Viele Menschen
sind sogar überqualifiziert, weil sie zwei, drei oder vier
Berufsabschlüsse haben . In vielen Regionen gibt es
reichlich qualifizierte Erwerbslose, aber viel zu wenige
Arbeitsplätze . Das ist leider Realität, zum Beispiel in
Ostsachsen: Erst gingen die Betriebe, dann gingen die
Beschäftigten, die Arbeitskräfte; heute ist diese Region
fast ausgeblutet . Wir brauchen hier Perspektiven . Des-
halb fordern wir schon lange die Einführung eines öffent-
lich geförderten Beschäftigungssektors .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nun zur Arbeitslosenversicherung . Dazu gibt es in Ih-
rem Gesetzentwurf ja wirklich überhaupt nichts zu fin-
den . Über zwei Drittel der Erwerbslosen werden nicht im
Bereich der Arbeitslosenversicherung betreut, sondern
im Hartz-IV-System . Fast ein Viertel der Beschäftigten,
die erwerbslos werden, fallen direkt in Hartz IV . Das ist
Ihre Arbeitsmarktpolitik der letzten 15 Jahre .

Die Arbeitslosenversicherung muss wieder der Regel-
fall bei der Absicherung von Erwerbslosigkeit sein . Dies
betrifft auch im besonderen Maße die kurzzeitig Be-
schäftigten wie Filmschaffende, aber auch etliche Leih-
arbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer gehören dazu .
Für diese bieten Sie ein völlig unzureichendes Angebot .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Eine wirkliche Antwort wäre, die Rahmenfrist wieder
von zwei auf drei Jahre zu erweitern


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Sehr gute Idee!)


und einen Anspruch auf das Arbeitslosengeld bereits
nach vier Monaten Beitragszeit zu gewähren .


(Beifall bei der LINKEN)


Ich komme zum Schluss . Diesen Fehler sozialdemo-
kratischer Regierungsverantwortung zu korrigieren, soll-
te eigentlich auch Anliegen der Genossinnen und Genos-
sen der SPD sein . Ich weiß natürlich, dass Sie das nicht
wollen . Für eine tatsächliche Umsetzung scheinen Sie im
Moment saft- und kraftlos zu sein .

Danke schön .


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817313600

Vielen Dank . – Als nächsten Redner rufe ich jetzt den

Kollegen Albert Weiler, CDU/CSU-Fraktion, auf .


(Beifall bei der CDU/CSU – Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Jetzt kommt der Zahlenversteher!)



Albert Weiler (CDU):
Rede ID: ID1817313700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe
mir sagen lassen, Herr Schiewerling kann keine Zahlen
lesen, die SPD kann auch nichts;


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


es geht also ganz schön unter die Gürtellinie hier . Lassen
Sie uns demgegenüber darauf zu sprechen kommen, was
das Gesetz wirklich kann .

Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung das
von uns eingebrachte Gesetz zur Stärkung der beruflichen
Weiterbildung und des Versicherungsschutzes in der Ar-
beitslosenversicherung . Mit diesem Gesetz nehmen wir
vor allem Geringqualifizierte, Ungelernte und Langzeit-
arbeitslose in den direkten Fokus, um diese verstärkt in
existenzsichernde Arbeit zu vermitteln, sie passgenau zu
qualifizieren und zu begleiten.

Das ist wichtig und richtig . Das IAB bestätigt, dass
Geringqualifizierte, die an einer abschlussbezogenen
Weiterbildung teilgenommen haben, eine 20 Prozent hö-
here Beschäftigungswahrscheinlichkeit aufweisen, und
das auch noch nach sieben oder acht Jahren . Dr . Kruppe
vom IAB spricht von sehr hohen und sehr deutlichen Ef-
fekten .

Unser Gesetz enthält einen ganzen Blumenstrauß
sinnvoller Maßnahmen, mit denen wir den Zugang zur
beruflichen Weiterbildung für Geringqualifizierte, Lang-
zeitarbeitslose und Ältere verbessern und die berufliche
Qualifikation enorm erhöhen. Auf einige will ich kurz
eingehen .

Wir werden die Grundkompetenzen für Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer stärker fördern . Daher för-
dern wir zur Vorbereitung auf eine abschlussbezogene
berufliche Weiterbildung notwendige Grundkompeten-
zen in den Bereichen Lesen, Schreiben, Mathematik und
Informations- und Kommunikationstechnologien .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


– Danke . – Lese- und Rechenfähigkeit sind unabdingbare
Voraussetzungen, um die berufliche Handlungsfähigkeit
zu erwerben, um schlussendlich auch einen Berufsab-
schluss erfolgreich nachholen zu können .

Wir werden Weiterbildungsabbrüchen vorbeugen,
indem wir zur Stärkung von Motivation und Durchhal-
tevermögen Teilnehmerinnen und Teilnehmern einer
abschlussbezogenen Weiterbildung beim Bestehen der
Zwischenprüfung eine Prämie von 1 000 Euro zahlen .
Bei Bestehen der Abschlussprüfung kommen noch ein-
mal 1 500 Euro dazu . Derzeit bricht jeder Vierte vorzei-
tig seine Weiterbildung ab . Wenn wir es schaffen, diese
Quote zu verringern, dann ist das gut investiertes Geld .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Weiterbildungs-
förderung für Beschäftigte in kleinen und mittleren Un-
ternehmen. Diese wird weiter flexibilisiert und in Betrie-

Sabine Zimmermann (Zwickau)







(A) (C)



(B) (D)


ben mit weniger als 250 Beschäftigten künftig gefördert .
Wir stärken in diesem Zusammenhang die Möglichkeiten
der Kofinanzierung von beruflicher Weiterbildung durch
die Agenturen für Arbeit und die Arbeitgeber .

Das Gesetz verbessert zudem den Schutz für berufli-
che Unterbrechungen bei Weiterbildung oder Kinderer-
ziehung nach dem dritten Lebensjahr . Wir schaffen hier
die Möglichkeit zur freiwilligen Weiterversicherung, um
Lücken im Versicherungsschutz zu vermeiden .

Wir entfristen die bis zum 31 . Dezember 2016 befris-
tete Leistung, nach der innovative Ansätze in der Arbeits-
marktpolitik erprobt werden können . Damit stellen wir
der Bundesagentur für Arbeit künftig dauerhaft innovati-
onsfördernde Instrumente zur Verfügung . Das bietet die
Chance, neue Handlungsansätze in der Arbeitsmarktpo-
litik zu erproben sowie flexibel auf Entwicklungen am
Arbeitsmarkt zu reagieren . Wir fördern somit gezielt die
Kooperation der BA mit verschiedenen Partnern auf re-
gionaler Ebene . Daraus werden sich Synergieeffekte für
die verstärkte Netzwerkarbeit der Agenturen für Arbeit
ergeben .

Ich will es einmal auf den Punkt bringen: Wir stärken
mit unserem Gesetz erstens eine breitere und stärkere
Partizipation von Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mern an Fort- und Weiterbildung . Zweitens erhöhen wir
die Durchlässigkeit für einen beruflichen Aufstieg. Wir
verbessern drittens die Teilhabe am Arbeitsleben und in
der Gesellschaft . Wir leisten viertens einen wichtigen
Beitrag zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, und
fünftens geben wir der BA dauerhaft flexible innovative
Instrumente an die Hand, mit denen sie für die Situation
und die Region passende Maßnahmen stricken kann, um
Arbeitslose innovativ in den Arbeitsmarkt zu bringen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


– Vielen Dank .

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit diesem
Gesetz große Chancen bei der Bekämpfung der Lang-
zeitarbeitslosigkeit eröffnen, und danke denen, die daran
gearbeitet haben . Ich freue mich darauf, dass Sie dem
Gesetz zustimmen .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817313800

Vielen Dank . – Für Bündnis 90/Die Grünen spricht

jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer .


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1817313900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Peter

Struck hat bekanntermaßen einmal gesagt: Kein Gesetz
verlässt den Bundestag so, wie es eingebracht worden
ist . – Formal trifft das auch auf dieses Gesetz zu, in-
haltlich leider nicht, obwohl die Koalition in der Aus-
schussanhörung, wie ich finde, mit substanzieller Kritik
bedacht worden ist . Frau Kramme, da waren wir offen-
sichtlich in zwei unterschiedlichen Veranstaltungen . Ich

finde es schade, dass Sie sich trotz dieser Kritik so bera-
tungsresistent gezeigt haben .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dabei wissen Sie es doch selbst; denn die Zahlen ha-
ben wir von Ihnen: Über 1 Million Menschen sind neun
Jahre und länger im Hartz-IV-Bezug . Das ist wirklich ein
grandioses Versagen der Arbeitsmarktpolitik . Das liegt
an den Kürzungen, die im Bereich der aktiven Arbeits-
marktpolitik vorgenommen wurden . Das liegt daran, dass
Sie jahrelang nur Kurzfristmaßnahmen gemacht haben,
die eben nicht zu einer besseren Qualifizierung geführt
haben, und das liegt vor allen Dingen daran, dass Sie
nach dem Motto gehandelt haben: Vermittlung um jeden
Preis, ganz unabhängig davon, ob es in irgendeiner Weise
nachhaltig ist . Diese Strategie ist wirklich gescheitert .


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist unmenschlich!)


Ihre Analyse, die Sie in den Gesetzentwurf hineinge-
schrieben haben, ist ja durchaus richtig . Sie sagen: Wir
haben in Deutschland einen Fachkräftearbeitsmarkt, und
für einen solchen Fachkräftearbeitsmarkt braucht man
bekanntlich Fachkräfte; die muss man qualifizieren, und
in die muss man investieren . Jetzt behaupten Sie, dass
Sie dies mit genau diesem Gesetzentwurf tun würden .


(Zuruf von der SPD: Das stimmt ja auch!)


Das machen Sie in begrenztem Umfang tatsächlich für
die Arbeitslosengeld-I-Bezieherinnen und -Bezieher .
Aber, liebe Frau Kramme, lieber Herr Weiler – Sie haben
hier das große Loblied auf die Bedeutung der Weiterbil-
dung gesungen –: Warum gilt dies bitte schön nicht für
SGB-II-Bezieher, also für diejenigen, die Hartz IV be-
ziehen? Warum gilt für die nicht, dass Weiterbildung vor
Vermittlung steht? Das, was Arbeitslosengeld-I-Bezie-
her kriegen, kriegen die SGB-II-Bezieher nicht . Warum
nicht? Erläutern Sie uns das mal!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Für die gibt es keinen einzigen Cent zusätzlich für die
Weiterbildung .

Die Jobcenter stehen vor der Wahl zwischen Pest und
Cholera: Entweder sie fördern einige wenige etwas bes-
ser, oder sie fördern viele ganz schlecht . Meine Damen
und Herren, so kann das nicht weitergehen . Mit diesem
Gesetzentwurf zeigen Sie zum x-ten Mal, dass Sie die
SGB-II-Bezieher vollständig abgeschrieben haben . Das
werden wir nicht hinnehmen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Kapituliert haben Sie offensichtlich auch vor der Auf-
gabe, die Arbeitslosenversicherung für die veränderte
Arbeitswelt fit zu machen. Angesichts dessen, dass Sie
mit Ihrer Sonderregelung nur 0,6 Prozent derjenigen er-
reichen, die Sie erreichen wollten, können Sie doch selbst
nur sagen: Die ist vollständig wirkungslos . – Da Sie die-
se wirkungslose Regelung jetzt noch einmal verlängern
und damit vor der Aufgabe, in dieser Legislaturperiode
Veränderungen vorzunehmen, kapitulieren: Bitte, sagen

Albert Weiler






(A) (C)



(B) (D)


Sie nie wieder: Eine Große Koalition ist dafür da, große
Aufgaben zu lösen . – Das hier ist Pipifax .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kleines Karo!)


Wenn dieser Gesetzentwurf, wenn diese Regelung die
Blaupause dafür sein soll, wie Sie zukünftig mit den An-
forderungen von Arbeit 4 .0 umgehen wollen, kann ich
nur sagen: Gute Nacht, Marie! Arbeit 4 .0 ist nicht irgend-
etwas, was in der Zukunft stattfindet. Das hat bereits be-
gonnen, und deswegen müssen wir die Regelungen jetzt
anpassen . Das dürfen wir nicht auf den Sankt-Nimmer-
leins-Tag verschieben .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber, meine Damen und Herren, ich bin ja fair .


(Lachen bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Hart, aber fair!)


Deswegen sage ich an dieser Stelle auch: Ja, der Gesetz-
entwurf enthält auch einige wenige positive Elemente .


(Katja Mast [SPD]: Hört! Hört!)


Wir finden es gut, dass es jetzt möglich wird, auch die
Ausbildung von Grundqualifikationen zu fördern. Wir
finden es gut, dass es eine Verbesserung der präventiven
Qualifizierung gibt. Deswegen werden wir – schweren
Herzens – diesen Gesetzentwurf nicht ablehnen, sondern
uns enthalten . Aber, meine Damen und Herren, verstehen
Sie das nicht falsch . Das ist wirklich ein großes Zuge-
ständnis . Nehmen Sie zur Kenntnis: Dieser Gesetzent-
wurf löst die Herausforderungen, vor denen wir stehen,
wirklich nicht .

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817314000

Vielen Dank . – Als Nächstes hat jetzt der Kollege

Michael Gerdes, SPD-Fraktion, das Wort .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Michael Gerdes (SPD):
Rede ID: ID1817314100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die ver-

schiedenen Maßnahmen des AWStG wurden nun schon
mehrfach zitiert . Sie sind bekannt . Ich möchte deshalb
noch einmal unsere Zielrichtung in den Mittelpunkt stel-
len .

Dieser Gesetzentwurf, Frau Pothmer, ist kein Pipifax .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herzlichen Dank, dass Sie sich kraftvoll enthalten wer-
den! Wir verabschieden diesen Gesetzentwurf, damit
mehr Menschen in unserem Land Zugang zu berufli-
cher Weiterbildung und Ausbildung haben . Wir wollen
möglichst vielen die Chance geben, so qualifiziert wie
möglich zu arbeiten . Wir wollen denjenigen, die bisher

von Arbeit und Ausbildung ausgeschlossen waren, neue
Wege eröffnen .


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es könnten noch mehr sein!)


Es ist aus sozialen sowie aus gesellschaftlichen Gründen
nicht hinnehmbar, dass die Mehrheit der Menschen im
SGB-II-Bezug keinen Berufsabschluss nachweisen kann .

Warum wir das AWStG so begrüßen, liegt auf der
Hand: Je geringer die Qualifikation, desto schlechter die
Chancen, desto weniger Teilhabe . Wir Sozialdemokra-
ten wollen selbstverständlich das Gegenteil: Wir wollen
mehr Menschen durch gute Arbeit teilhaben lassen am
gesellschaftlichen Leben. Die Fragen der beruflichen
Weiterbildung werden nicht zuletzt auch aufgrund von
Globalisierung und Digitalisierung immer dringender .
Einerseits wird immer schneller neues Wissen abgefor-
dert, andererseits müssen aber auch die Grundlagen stim-
men . Deshalb ist es uns so wichtig, sprachliche sowie
mathematische Grundkompetenzen zu fördern .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Arbeitsförderung mit Zukunft heißt für uns, die Be-
schäftigungsfähigkeit zu sichern, und das geht nicht ohne
Bildung . Das geht auch nicht ohne stetige Auffrischung
und Erweiterung des eigenen Könnens . Die Verantwor-
tung für die berufliche Weiterbildung ruht auf mehreren
Schultern: Staat, Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen
ihren Beitrag leisten .

In der gestrigen Ausschusssitzung hieß es, die Regie-
rungsfraktionen vertrauten ihrem eigenen Gesetzentwurf
nicht . Doch, das tun wir . Ich bin überzeugt, dass Ideen
und Ziele richtig sind . Das haben im Übrigen auch die
Experten in der Anhörung bestätigt . Ich war übrigens bei
der gleichen Veranstaltung wie Frau Kramme .

Gleichwohl werden nicht alle Probleme des Arbeits-
markts mit dem AWStG allein gelöst; das ist richtig .
Liebe Frau Zimmermann, ja, wir haben es zum Beispiel
nicht geschafft, im Rahmen dieses Gesetzentwurfs den
Zugang zum Arbeitslosengeld I so zu regeln, dass kurz-
zeitig Beschäftigte, insbesondere im Kulturbereich, bes-
ser abgesichert sind . Das bleibt für die SPD aber auf der
Tagesordnung; das kann ich Ihnen versprechen .


(Beifall bei der SPD)


Für mich als Abgeordneter aus dem Ruhrgebiet bleibt
ebenso auf der Agenda, dass wir mit Blick auf Langzeit-
arbeitslose eine Doppelstrategie fordern . Wir müssen
gleichzeitig auch alternative Wege ebnen, wir müssen
die Bildung der Menschen fördern, und wir wollen bei-
spielsweise auch den sozialen Arbeitsmarkt auf den Weg
bringen . Es ist besser, Beschäftigung statt Arbeitslosig-
keit zu finanzieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Für Betroffene bedeutet der soziale Arbeitsmarkt ge-
sellschaftliche Teilhabe . Er bedeutet Minimierung mate-
rieller und kultureller Teilhabedefizite sowie verbesserte
Chancen auf Reintegration in den ersten Arbeitsmarkt .

Brigitte Pothmer






(A) (C)



(B) (D)


Nebenbei werden auch eigenständige Ansprüche in den
sozialen Sicherungssystemen geschaffen . Ich glaube, das
ist einer der Wege, den wir gehen werden .

Herzlichen Dank, Glück auf!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817314200

Vielen Dank . – Als Nächstes spricht der Kollege Uwe

Lagosky, CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . Dr . Ernst Dieter Rossmann [SPD])



Uwe Lagosky (CDU):
Rede ID: ID1817314300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Frau
Pothmer, wir haben es eben gerade noch einmal klären
lassen . Es kam auch im Ausschuss zur Sprache, ist dort
aber nicht geklärt worden . Es ist so: Der Instrumenten-
kasten des SGB III gilt über die Verweisklausel auch
für das SGB II . Insofern ist das, was Sie gesagt haben,
scheinbar – scheinbar; das sage ich ganz bewusst an der
Stelle – nicht richtig .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, aber nicht in diesem Fall! – Gegenruf von der CDU/CSU: Doch!)


Die Arbeitslosenquote von Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern mit einem qualifizierten Berufsab-
schluss entwickelt sich in Richtung Vollbeschäfti-
gung .

Das ist ein Zitat aus der Begründung des Gesetzentwurfs
und bringt zum Ausdruck, dass wir in Deutschland auf
dem richtigen Weg sind . Doch trotz der guten Konjunk-
tur und der vielen unterschiedlichen Unterstützungspro-
gramme und der immensen Arbeit, die die Jobcenter und
Arbeitsagenturen leisten, hat sich an der Zahl von 1 Mil-
lion Langzeitarbeitslosen in den letzten Jahren nicht viel
geändert .


(Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Genau!)


Es kommen Menschen aus der Langzeitarbeitslosigkeit
heraus . Dafür kommen andere wieder hinein .


(Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Neun von zehn!)


Daher ist es von besonderer Bedeutung, sich mit den
Wurzeln des Problems auseinanderzusetzen . Das wollen
wir vor dem Hintergrund dieser Zahlen bei der Langzeit-
arbeitslosigkeit tun .


(Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Wann? Wann?)


Der vorliegende Gesetzentwurf setzt bei der Stärkung
der beruflichen Weiterbildung an und enthält eine Rei-
he von Schritten, um die von Langzeitarbeitslosigkeit
betroffenen Menschen besser vermittelbar zu machen .
Mindestens genauso wichtig in dem Gesetzentwurf, den

wir heute verabschieden, ist aber die Tatsache, dass wir
Beschäftigten mit einer geringen Qualifikation, die im
Beruf stehen, über die berufliche Weiterbildung in der
Zukunft eine entsprechende Förderung zukommen las-
sen können . Damit kann präventiv erreicht werden, dass
eine mögliche Langzeitarbeitslosigkeit dieser Menschen
verhindert wird .

Wir helfen Beschäftigten, Grundkompetenzen zu er-
werben, um einen Berufsabschluss nachzuholen . Sie
haben künftig Anspruch auf Förderleistungen in den
Bereichen Lesen, Schreiben, Mathematik, Informations-
und Kommunikationstechnologien . Das haben wir heute
schon gehört .


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817314400

Herr Kollege Lagosky, gestatten Sie eine Zwischen-

frage der Kollegin Pothmer?


Uwe Lagosky (CDU):
Rede ID: ID1817314500

Ich würde das gerne auf das Ende verschieben . Jetzt

nicht .


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, nein! – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können Stellung beziehen!)


Wir gehen davon aus, dass die Digitalisierung der Ar-
beitswelt und die Veränderung, die damit einhergeht, ein
lebenslanges Lernen erfordern . Insbesondere vor dem
Hintergrund der Arbeitswelt 4 .0 steigen die Ansprüche
an die Beschäftigten in allen Bereichen . Dies ist schon
heute zu erkennen . Deshalb ist es umso wichtiger, dass
wir diese Menschen, die eine geringe Qualifikationsstu-
fe haben, im Beruf so fördern und fordern, dass sie den
Anschluss an den Arbeitsmarkt in der Zukunft nicht ver-
lieren .

Die bereits vorhandene Weiterbildungsförderung für
Beschäftigte in kleinen und mittelständischen Unterneh-
men hat zu einer wachsenden Nachfrage nach Weiter-
bildungsmaßnahmen geführt . Daher führen wir eine zu-
sätzliche altersunabhängige Förderung von beruflichen
Weiterbildungen außerhalb der Arbeitszeit ein, die an die
Bedingung geknüpft ist, dass die Arbeitgeber 50 Prozent
der Kosten übernehmen .

In der gesamten deutschen Wirtschaft ist die berufli-
che Weiterbildung von absolut großer Bedeutung . Die
Weiterbildungsförderung insbesondere in kleinen und
mittelständischen Unternehmen ist ganz besonders wich-
tig, weil man hiermit denjenigen, die in diesem Bereich
arbeiten und eine geringe Qualifizierung haben, zusätzli-
che Weiterbildungen ermöglicht . Der Regierungsentwurf
enthält eine ganze Reihe von Schritten, um langzeitar-
beitslose Menschen effektiver und nachhaltiger zu unter-
stützen .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz all dieser Maß-
nahmen ist aber nicht außer Acht zu lassen, dass es ex-
trem schwierig ist, Langzeitarbeitslose zu vermitteln,
weil es eine ganze Reihe von Vermittlungshemmnissen
gibt, die nicht nur mit Qualifizierung zu tun haben. Das
zeigt auch die Eingliederungsquote nach arbeitsmarktpo-

Michael Gerdes






(A) (C)



(B) (D)


litischen Maßnahmen von etwa 23 Prozent im Jahr 2014,
wie dem Bericht der BA zur Arbeitsmarktsituation von
langzeitarbeitslosen Menschen zu entnehmen ist . Das ist
aus meiner Sicht einfach zu wenig .

Die Gründe für Langzeitarbeitslosigkeit – ich sagte es
schon – sind vielschichtig, und sie lassen sich nicht in-
nerhalb kurzer Zeit beseitigen . Unterschiedliche Vermitt-
lungshemmnisse beeinflussen die Arbeitsvermittlung.
Neben der Frage der Qualifikation sind es unter anderem
gesundheitliche Einschränkungen, aber auch Suchtpro-
bleme und die Umstände, dass man älter als 55 Jahre ist
oder in nicht gefestigten Familienstrukturen lebt . All die-
se Dinge spielen dabei durchaus eine Rolle und führen zu
Vermittlungshemmnissen .

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich komme
zum Schluss . Unser Ziel bleibt es, den Menschen eine
Perspektive zu geben und ihnen die Integration in den
Arbeitsmarkt zu ermöglichen . Der beste Schlüssel dafür
ist der Zugang zu beruflicher Weiterbildung.

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817314600


Vielen Dank . – Jetzt hat die Kollegin Pothmer zu einer
Kurzintervention das Wort .


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1817314700


Herr Lagosky, es nützt nichts, meine Frage nicht zuzu-
lassen; ich lasse mich nicht mundtot machen .


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Na, na! – „Mundtot“?)


Frau Präsidentin, ich danke Ihnen, dass Sie mir die-
se Möglichkeit eröffnen, weil meine Aussage, das gelte
für das SGB II nicht, infrage gestanden hat . Ich will hier
ausdrücklich betonen, dass diese Aussage richtig ist . Der
Vorrang der Weiterbildung vor der Vermittlung gilt nur
für das SGB III . Aus diesem Grund hat die Bundesagen-
tur für Arbeit in der Anhörung ausdrücklich eine korre-
spondierende Regelung für das SGB II gefordert . Auch
der Paritätische Wohlfahrtsverband hat in der Anhörung
stark kritisiert, dass diese Möglichkeit eben nicht im Hin-
blick auf das SGB II gilt . Meine Damen und Herren, ich
habe doch den Eindruck, dass wir bei sehr unterschiedli-
chen Veranstaltungen waren .

Ich danke Ihnen .


(Zuruf von der CDU/CSU: Das glaube ich auch, Frau Pothmer!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817314800


Herr Kollege Lagosky, möchten Sie darauf antwor-
ten? – Dann haben Sie jetzt das Wort .


Uwe Lagosky (CDU):
Rede ID: ID1817314900

Frau Pothmer, zunächst einmal hat es sich so ange-

hört, als ob Sie Ihre Aussage auf den gesamten Instru-
mentenkasten bezogen haben .


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, habe ich nicht!)


– So hat es sich in Ihrer Rede angehört; insofern mag an
dieser Stelle durchaus noch eine Differenz zwischen uns
bestehen . Wie ich höre, ist das aber nicht der Fall . Ich
kann das an dieser Stelle nicht endgültig aufklären; wir
sollten das aber machen . Gemeinsam mit dem Bundes-
ministerium für Arbeit und Soziales sollten wir das, was
Sie eben gesagt haben, klären .

Trotzdem kann ich Ihre Auffassung nicht verstehen .
Wenn Sie diesen Gesetzentwurf hier und heute mögli-
cherweise ablehnen, was Sie an anderer Stelle ja schon
einmal geäußert haben,


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Enthaltung!)


dann verstehe ich nicht, warum Sie das tun . Wir haben
mit Blick auf das SGB III den Vorrang der Vermittlung
vor der Weiterbildung, also den Vermittlungsvorrang,
aufgehoben . Ich verstehe nicht, warum Sie dem nicht
zustimmen wollen . Das ist eine ureigene Forderung von
Ihnen, die Sie in einem Antrag erhoben haben . Auch Sie
hätten an dieser Stelle etwas erreicht, wenn Sie heute zu-
stimmen würden . Ich bitte darum, dass Sie das auch tun .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir enthalten uns! Hören Sie doch mal richtig zu!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817315000

Frau Kollegin Pothmer, ich kann Ihnen jetzt nicht

noch einmal das Wort geben, weil wir hier keine Zwie-
gespräche führen . Der einzelne Abgeordnete hat nur die
Gelegenheit, kurz etwas zu einem Sachverhalt zu sagen .

Als Nächster darf der Kollege Dr . Ernst Dieter
Rossmann, SPD-Fraktion, das Wort ergreifen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1817315100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn meine Fraktion mir die Möglichkeit gibt, hier als
Bildungspolitiker etwas zu sagen, dann tut sie das, weil
drei Zahlen uns ja wohl alle bewegen: Es gibt 7,5 Milli-
onen funktionale Analphabeten in Deutschland und über
5 Millionen Menschen, die sich ohne abgeschlossene
Berufsausbildung im Erwerbsstatus befinden, von denen
über 1 Million unter 30 Jahre alt ist .

Wenn man diese Zahlen auf sich wirken lässt, kann
man nur für jeden Baustein dankbar sein, den wir einset-
zen können, um mehr Chancen für diese verschiedenen
Gruppen von Menschen zu ermöglichen – für jeden ein-
zelnen Baustein .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Uwe Lagosky






(A) (C)



(B) (D)


Ich will das jetzt nicht zu emotional machen, es aber
auch in Relation dazu setzen, wie diese Koalition hier
ressortübergreifend arbeitet . Wir haben uns gefreut, dass
Staatssekretär Rachel für das BMBF sagen konnte: Die
Kommunen und die Länder engagieren sich in der Alpha-
betisierungsdekade, und das BMBF gibt 100 Millionen
Euro über zehn Jahre dazu .

Jetzt kommen in der Solidargemeinschaft der Arbeits-
losenversicherung noch 230 Millionen Euro für zehn
Jahre obendrauf, um die Grundkompetenzen von Lesen,
Schreiben und Rechnen zu vermitteln und so einen Ein-
stieg in Arbeit zu ermöglichen . Welch ein Erfolg! Welch
ein Schritt, auf dem man aufbauen kann!


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Es geht um die Menschen, die keine abgeschlossene
Berufsausbildung haben, bis zum Alter von 30 Jahren
oder darüber hinaus . Dort schaffen wir jetzt ein Instru-
mentarium, das neu ist und dem manche auch nicht un-
eingeschränkt zugestimmt haben, nämlich die sogenann-
te Weiterbildungsprämie .

Die Weiterbildungsprämie hat ja eine Vorgeschichte .
Mit ihr hat man unter anderem in England gute Erfahrun-
gen gemacht . Sie hat in Teilen eine positive Evaluation in
einem nicht unbedeutenden Land wie Thüringen erfah-
ren . Vielleicht können sich auch die Vertreter der Links-
fraktion in Bezug auf Thüringen sachkundig machen und
sich einmal anschauen, welche ersten Erfolge sich dort
schon abzeichnen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Im Übrigen ist es doch nur gut, wenn Menschen, die
mit 25 oder 30 Jahren, also in einem Alter, in dem manche
resignieren, ihre zweite Chance ergreifen, in eine Berufs-
ausbildung einsteigen und über eine Zwischenprüfung
und eine Abschlussprüfung einen Abschluss bekommen,
das auch als Erfolg in der Form erleben, dass es für sie
nicht ein Schulterklopfen nach dem Motto „Jetzt hast du
es auch geschafft“ oder eine Urkunde in Goldschnitt gibt,
sondern etwas sehr Handfestes, etwas, was sie begreifen,
was ihnen nützt, mit dem sie renommieren können und
aufgrund dessen sie sich etwas leisten können . So ist die
Weiterbildungsprämie doch gemeint – als Anstoß, als
Motivation, als Aufforderung, durchzuhalten .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Frau Zimmermann, ich verstehe überhaupt nicht, dass
Sie das so abtun, als sei es diskriminierend gemeint .
Nein, Diskriminierung findet im deutschen humanis-
tischen Bildungswesen bisher an einer anderen Stelle
statt . Zum Beispiel diejenigen, die die High Potentials
in der Wissenschaft sind, oder diejenigen, die ein ganz
tolles Abitur machen, bekommen selbstverständlich ihre
Prämien, nämlich als spezielles Stipendium oder als be-
sonderen Gutschein oder anderes . Aber denjenigen, die
sich verdammt anstrengen, um von ganz unten mit müh-
samsten Möglichkeiten Schritt für Schritt nach oben zu
kommen, verwehrt man das .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817315200

Herr Kollege Rossmann, gestatten Sie eine Zwischen-

frage der Kollegin Pothmer?


Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1817315300

Das brechen wir jetzt auf .

Umgekehrt ist das, was die Arbeitsmarktpolitiker, die
Bildungspolitiker und andere jetzt hier zusammen tun,
auch eine Art und Weise, die Gleichwertigkeit von be-
ruflicher und akademischer Bildung im Grundverständ-
nis mit umzusetzen . Zwar kann man immer noch mehr
machen . Das wird auch geschehen, wenn es denn jetzt
wirksam wird . Aber man soll die ersten Bausteine nicht
kleinreden . Das ist ein Wunsch, den wir zusammen ha-
ben .

Danke schön .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817315400

Vielen Dank . – Als letzte Rednerin zu diesem Ta-

gesordnungspunkt hat jetzt die Kollegin Dr . Astrid
Freudenstein, CDU/CSU-Fraktion, das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Astrid Freudenstein (CSU):
Rede ID: ID1817315500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Wir befinden uns im Jahre 2016. Ganz Europa leidet
noch unter den Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise,
der Staatsschulden- und der Bankenkrise .


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Staatsschuldenkrise gibt es nicht! Bankenkrise!)


Ganz Europa? Nein, ein von unbeugsamen Deutschen
bevölkertes Land stellt sich dieser Krise wacker entge-
gen und vermeldet einen Arbeitsmarktrekord nach dem
anderen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das Leben ist deshalb tatsächlich nicht leicht für die
deutsche Opposition, die offenbar mit ihrer Politik diese
Blütezeit beenden will .


(Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Jetzt kommt wieder die Schönrederei!)


Liebe Opposition, Frau Zimmermann, Sie kommen
mir wirklich vor wie die Römer bei „Asterix“ .


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)


Sie versuchen es immer wieder . Aber ich sage Ihnen: So
wird das nichts; denn die Zahlen, die nicht nur der Kol-
lege Schiewerling sehr gut lesen kann, sondern die wir
von der Union alle ganz gut lesen können, sprechen eine
andere Sprache .


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Aber die Römer hatten ganz Gallien besetzt, bis auf ein Dorf!)


– Ein schlaues Dorf . – Als Angela Merkel 2005 Bun-
deskanzlerin wurde, lag die Arbeitslosenquote bei fast

Dr. Ernst Dieter Rossmann






(A) (C)



(B) (D)


12 Prozent . Erst vorgestern kamen die aktuellen Zahlen
heraus . Jetzt liegen wir bei 6 Prozent . Das heißt: Unter
Unionsregierung hat sich die Zahl der Arbeitslosen in-
nerhalb eines Jahrzehnts halbiert .


(Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Weil Sie so viele herausgenommen haben!)


Dazu gehört natürlich eine gute Konjunktur . Dazu
gehören natürlich Fleiß und Leistungsbereitschaft der
Arbeitnehmer . Dazu gehören natürlich die Risikobereit-
schaft und die Innovationskraft deutscher Unternehmer .
Aber natürlich haben wir dafür auch mit unserer Politik
die Weichen richtig gestellt . Die Kosten der Arbeit zum
Beispiel sind ein wichtiger Faktor . Wenn wir es weiterhin
schaffen, die Lohnnebenkosten niedrig zu halten, dann
bleibt Deutschland weiter attraktiv, und zwar für Arbeit-
nehmer wie für Arbeitgeber .

Nicht umsonst hat Rot-Grün damals die Rahmenfrist
in der Arbeitslosenversicherung auf zwei Jahre gesenkt
und die Anwartschaftszeit bei zwölf Monaten belassen .
Das hat Wirkung gezeigt . Seit fast fünf Jahren ist der
Beitragssatz stabil . Das hilft den Arbeitnehmern, denen
damit mehr Netto vom Brutto bleibt .

Natürlich hat sich der deutsche Arbeitsmarkt in den
vergangenen Jahren verändert; Sie haben das in Ihren
Anträgen etwas überspitzt beschrieben . Es gibt tatsäch-
lich eine Flexibilisierung in den Arbeitsverhältnissen . Es
gibt mehr Befristungen, mehr Teilzeit, mehr Jobwechsel .
Aber all das verhindert nicht, dass man innerhalb von
24 Monaten 12 Monate Anwartschaft erwerben kann .
Das ist auch möglich, wenn man in Teilzeit arbeitet oder
wenn man befristet beschäftigt ist . Was im Prinzip ganz
gut funktioniert, das sollte man nicht einfach über den
Haufen werfen . Wir sollten Änderungen an den Stellen
beschließen, an denen wir das System noch weiter ver-
bessern können . Genau das tun wir mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir wissen, dass Weiterbildung in unserem speziali-
sierten Arbeitsleben immer wichtiger wird . Deswegen
wollen wir genau jene unterstützen, die sich weiter qua-
lifizieren. Dazu werden wir beispielsweise die Weiter-
bildungsförderung flexibilisieren oder Förderleistungen
zum Erwerb von Lesen, Schreiben und Rechnen schaf-
fen .

Auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird
immer wichtiger . Wenn wir das Fachkräftepotenzial von
Frauen heben wollen, dann müssen wir zum Beispiel den
Arbeitslosenversicherungsschutz bei der Kindererzie-
hung erweitern .

Auch den speziellen Erwerbsbiografien wird Rech-
nung getragen . Die Sonderregelung für überwiegend
kurzfristig Beschäftigte zum Beispiel macht genau dort
Ausnahmen, wo es strukturelle Nachteile auszugleichen
gilt, zum Beispiel bei Kulturschaffenden, die immer
wieder kurze Arrangements haben . Sie haben einen An-
spruch, wenn sie innerhalb von zwei Jahren sechs statt
der üblichen zwölf Monate Anwartschaftszeit erfüllen .
Diese Sonderregelung wird jetzt verlängert . Das ist erst

einmal in Ordnung so . Danach werden wir uns überlegen
müssen, mit welchen dauerhaften und systemkonformen
Instrumenten wir den Zugang von Kulturschaffenden zur
Arbeitslosenversicherung noch weiter verbessern kön-
nen .


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817315600

Frau Kollegin Freudenstein, gestatten Sie eine Zwi-

schenfrage der Kollegin Pothmer?


Dr. Astrid Freudenstein (CSU):
Rede ID: ID1817315700

Nein, die gestatte ich jetzt nicht mehr .


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir bleiben dabei: Wir wollen nur dort Ausnahmen
machen, wo es strukturelle branchenspezifische Nach-
teile auszugleichen gilt, und nicht generell mit neuen
Pauschalregelungen die Stabilität der Arbeitslosenversi-
cherung gefährden . Ihre Vorschläge würden aber genau
dazu führen . Das mag in guten Zeiten noch recht ordent-
lich funktionieren . Aber wir dürfen gerade jetzt, in dieser
schwierigen Phase, in der wir mit steigender Arbeitslo-
sigkeit rechnen müssen, weil wir sehr viele Flüchtlinge
im Land haben, die nicht ausreichend qualifiziert sind,
nicht an den Säulen des Sozialstaates bohren, meine Da-
men und Herren .

Liebe Opposition, um noch einmal auf das Bild zu Be-
ginn meiner Rede zurückzukommen: Sie brauchen, um
unser gallisches Dorf zu besiegen, einen Zaubertrank .
Dafür brauchen Sie mindestens drei Zutaten, die ich Ih-
nen verraten kann, nämlich Eigenverantwortung, Reali-
tätssinn und Nachhaltigkeit .


(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Haben wir alles!)


Ich danke Ihnen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817315800

Vielen Dank . – Damit ist die Aussprache beendet .

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Stärkung
der beruflichen Weiterbildung und des Versicherungs-
schutzes in der Arbeitslosenversicherung . Zu Tagesord-
nungspunkt 8 a liegen drei schriftliche Erklärungen nach
§ 31 der Geschäftsordnung vor .1)

Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/8647, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 18/8042 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen . Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen . – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der
Opposition angenommen .

1) Anlage 4

Dr. Astrid Freudenstein






(A) (C)



(B) (D)


Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis ange-
nommen .

Tagesordnungspunkt 8 b . Wir setzen die Abstimmung
zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit
und Soziales auf Drucksache 18/8647 fort . Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung
die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/7425 mit dem Titel „Schutzfunktion der
Arbeitslosenversicherung stärken“ . Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen
die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen .

Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 18/5386 mit dem Titel „Arbeitslosenver-
sicherung gerechter gestalten und Zugänge verbessern“ .
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen .

Tagesordnungspunkt 8 c . Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Arbeits-
förderung neu ausrichten – Nachhaltige Integration und
Teilhabe statt Ausgrenzung“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/5119,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/3918 abzulehnen . Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke angenommen .

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Friedrich
Ostendorff, Dr . Anton Hofreiter, Oliver Krischer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Bäuerlicher Milchviehhaltung eine Zukunft
geben – Milchmenge jetzt begrenzen
Drucksache 18/8618
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-
heit

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Ernährung und
Landwirtschaft (10 . Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Dr . Kirsten Tackmann, Karin
Binder, Heidrun Bluhm, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE sowie der Abge-
ordneten Friedrich Ostendorff, Harald Ebner,

Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Milchmarkt stabilisieren – Milchkrise beenden

Drucksachen 18/6206, 18/8641

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .

Wenn Sie die Plätze etwas zügiger einnehmen könn-
ten, könnte ich die Aussprache eröffnen .

Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege
Friedrich Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen .


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bevor ich mit meiner Rede beginne: Herzli-
chen Glückwunsch, Frau Staatssekretärin, zu Ihrem Ge-
burtstag heute!


(Beifall)


Was für Zeiten haben wir eigentlich? 300 Bauernver-
bandsmitglieder demonstrieren in Schleswig-Holstein
gegen den Bauernverband mit seinem äußerst hilflosen
Präsidenten Schwarz .


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig so!)


Sie fordern, dass der Bauernverband sich endlich für eine
sofortige europaweite Milchmengenreduzierung einsetzt .
Meine Damen und Herren, das ist nicht die Position von
Bauernverband und Union . Das sind grüne Forderungen .
Auch wir Grünen sind dafür, denen zu helfen, die sich
verantwortlich verhalten und die Milchmengen nicht
steigern .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bäuerliche Politik wird heute von Grünen formuliert .

Ich bin seit 48 Jahren Bauer . 20 Cent, teilweise
15 Cent pro Liter Milch – solch ein Milchpreiszusam-
menbruch und so lange, das ist der totale Strukturbruch .
Das Schlimmste: Es gibt kein Licht am Ende des Tun-
nels . Minister Schmidt erklärt – ehrlich, wie er ist –,
2025 werde der Preis für Milch wieder bei 37 Cent pro
Liter liegen . Bekommt der Minister denn überhaupt noch
mit, was in den Betrieben los ist? Milchbäuerinnen und
Milchbauern auf 2025 zu vertrösten, ist ein Schlag ins
Gesicht derjenigen, die nicht mehr ein noch aus wissen,
die nicht mehr an morgen glauben können, weil sie nicht
mehr wissen, wie sie heute die Rechnungen von gestern
und vorgestern bezahlen sollen, meine Damen und Her-
ren .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Ihr Milchgipfel am Montag, was war das denn?


(Dr . Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das war der Gipfel!)


Vizepräsidentin Ulla Schmidt






(A) (C)



(B) (D)


Was hat der denn verändert? – Ja, das war der Gipfel . Es
war der Gipfel der Verantwortungs- und Hilflosigkeit. So
kann man es zusammenfassen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Milchbäuerinnen und Milchbauern wurden nicht einmal
eingeladen . Dann, nach unserem massiven Druck von-
seiten der Opposition, durften sie letzten Freitag an den
Katzentisch von Staatssekretär Bleser rücken . Und die
Länderagrarminister? Die werden erst eingeladen, dann
werden sie wieder ausgeladen . Welche Arroganz! Welche
Selbstherrlichkeit! Was ist das für eine Kultur, miteinan-
der umzugehen!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Minister Schmidt hat es anscheinend nicht mehr nötig,
mit Bäuerinnen und Bauern zu reden . Was ist das für ein
Politikverständnis? Es ist eine Politik über die Köpfe der
Betroffenen hinweg . Rückzug ins dunkle Kämmerlein,
Zugbrücke hoch . In der Wagenburg, die der Deutsche
Bauernverband einrichtet, ist für Sie sicherlich noch ein
einsames warmes Plätzchen, Herr Minister Schmidt .


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja peinlich!)


Was haben Sie denn mit diesem Gipfel erreicht? An-
gekündigt hatten Sie unter anderem den Kampf, einen
Fonds des Handels aufzulegen . 500 Millionen Euro soll-
te der Handel in einem Solidaritätsfonds bereitstellen .
Nichts, null, gar nichts ist dabei herausgekommen . Der
Handel hat die kalte Schulter gezeigt – wie nicht anders
zu erwarten –, und das war’s . Nur, die 75 000 Milch-
viehbetriebe haben im letzten Jahr 5 Milliarden Euro
Milchgeld verloren . „Schmidt fehlt eine Strategie“, titelt
top agrar, das Leitmagazin der Landwirtschaft . Schmidt
fehlt eine Strategie – stimmt, das finden wir auch. Wie
wahr! Wir unterstützen die These „Schmidt fehlt eine
Strategie“ ausdrücklich .


(Zuruf von der CDU/CSU: Wie ist denn Ihre Strategie?)


Es ist aber noch viel schlimmer: Minister Schmidt
schafft mit seiner Politik die bäuerliche Landwirtschaft
ab .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wer von uns hätte das gedacht, dass ein CSU-Landwirt-
schaftsminister die bäuerliche Landwirtschaft auf dem
Altar des liberalen Weltmarktes der Agrarindustrie op-
fert?


(Dr . Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Leider alle!)


Frau Merkel, Herr Kauder, Herr Seehofer, Sie haben ja
schon am Montag Gelegenheit dazu: Stoppen Sie endlich
diesen irrlichternden Totengräber!

Schauen wir uns die Vorschläge, die Sie gemacht ha-
ben, diese Gießkannenvorschläge, einmal an:


(Dr . Johann Wadephul [CDU/CSU]: Kommen Sie doch einmal zu Ihren Vorschlägen!)


Unfallversicherungszuschüsse wollen Sie geben . Unfall-
versicherungszuschüsse helfen allen, aber nicht speziell
den Milchbauern . Sie bringen sie im Durchschnitt höchs-
tens einen Tag weiter; denn der durchschnittliche Betrieb
bekommt ungefähr 350 Euro Zuschuss, und das ist das,
was er im Moment jeden Tag im Stall verliert . Klasse
Vorschlag, oder doch nicht?

Steuererleichterungen und Steuerrückstellungen hel-
fen wieder nur den Betrieben, die eh schon Gewinne ma-
chen, nicht den Betrieben in der Krise, die keine Gewin-
ne machen; denn es ist bisher nicht bekannt, dass Steuern
auf Verluste erhoben werden . Toller Vorschlag, oder?

Bürgschaften sind sicherlich gut für Volksbanken und
Sparkassen, die den Wahnsinn gefördert haben . Das ist
nichts als weiße Salbe .

Aber die Krönung ist der einzig neue Vorschlag, der
am Montag kam, nämlich Flächenverkäufe steuerfrei zu
stellen .


(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Skandal!)


Das kann doch wohl nicht wahr sein . Das ist der pure
Skandal .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, CDU/CSU und Minis-
ter Schmidt setzen sich dafür ein, Bauernfamilien schnel-
ler um ihr Eigentum zu bringen . Kalte Enteignung ist
das, nichts anderes . Wer hätte das für möglich gehalten?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Was wir jetzt endlich brauchen, ist eine Politik für die
Erhaltung der bäuerlichen Landwirtschaft . Wir brauchen
die Erhaltung der Milcherzeugung in der Fläche . Wir
brauchen sie besonders mit Weidehaltung . Eine Politik
für die bäuerliche Landwirtschaft bedeutet für uns Grüne
eine Politik für die Umwelt, die Tiere sowie die Bäuerin-
nen und Bauern . Das alles wollen wir zusammen denken .
Dafür setzen wir uns ein .

Was wir endlich brauchen, ist eine wirksame Men-
genreduzierung . Herr Staatssekretär, Sie müssen den
Milchbäuerinnen und -bauern helfen, die Mengen zu re-
duzieren . Alles andere hilft nicht . Setzen Sie endlich die
vorgeschlagenen Maßnahmen, den einstimmig gefassten
Beschluss der Agrarministerkonferenz um .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817315900

Sie kommen bitte zum Schluss .


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sofort, Frau Präsidentin . – Selbst Bundeskartellamts-
präsident Mundt, nicht verdächtig, Grünen-nah zu sein,
bezeichnet das Molkereigeschäft als das risikoloseste .
Nehmen Sie die Molkereien stärker in die Pflicht, wenn
es darum geht, wirksame Mengenreduzierungen anzu-

Friedrich Ostendorff






(A) (C)



(B) (D)


gehen und ihren Lieferanten zu helfen . Wir Grüne for-
dern Minister Schmidt auf, endlich zu handeln oder sein
Scheitern hier zu erklären .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817316000

Vielen Dank . – Nun hat für die Bundesregierung der

Parlamentarische Staatssekretär Peter Bleser das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)


P
Peter Bleser (CDU):
Rede ID: ID1817316100


Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! In der Tat liegen die Agrarmärkte am Boden . Die
Getreidepreise sind im Vergleich zu 2008 um ein Drittel
bis zur Hälfte geringer . Die Schweinepreise liegen eben-
falls am Boden . Der Milchmarkt ist am schlimmsten be-
troffen . Dort haben wir Preise zu verzeichnen, die sich
in der Nähe von 20 Cent bewegen . Das alles hat seine
Gründe .


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zu viel Milch!)


Der Ukraine-Krieg und die Sanktionen gegen Russland
zeigen Wirkung . Der Markt in China ist aufgrund eines
Konjunktureinbruchs zurückgegangen . Nordafrika und
der arabische Raum sind durch Terrorismus und Krieg
geprägt . Das Ganze ist auf eine Produktion gestoßen, die
aufgrund hoher Preise auf einem hohen Niveau war . Pa-
rallel ist die Milchquotenregelung, die seit 1983 bestand,
ausgelaufen . Das Problem ist nun, dass die Märkte auf
diese Veränderungen nicht ausreichend schnell reagieren
konnten .

Lieber Kollege Ostendorff, wenn man in einer sol-
chen Situation einen befristeten Festpreis für Milch ein-
führt, wie das Ihre Fraktion in ihrem Antrag fordert, dann
schimmert das sozialistische Rot in Ihrem grünen Partei-
buch wieder einmal sehr deutlich durch .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das funktioniert auf den Märkten nicht . Auch eine Steu-
erung ist nicht mehr zu etablieren . Wer rückzahlbare So-
forthilfen fordert, leistet keine Hilfe . Wer dann noch wie
die Linke einen Festpreis mit einer Abgabenbonus- bzw .
-malusregelung durchsetzen will,


(Dr . Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Mit den Grünen gemeinsam!)


dem kann man nur sagen: Das funktioniert ebenfalls
nicht . Das ist vorbei . Es gibt keine Quote mehr . Wir wol-
len genauso wie die Bauern keine Quote mehr, weil sie
nicht funktioniert hat .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dass sie nicht funktioniert hat, beweisen die Jahre 2007
und 2008 . Damals war der Milchpreis genauso im Keller .


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!)


Deswegen sage ich hier ganz klar: Die Verantwor-
tung liegt bei den Marktbeteiligten – dorthin gehört sie
auch –, beim Lebensmitteleinzelhandel genauso wie bei
den Molkereien . Kollege Ostendorff, an diesem Punkt
stimmen wir überein . Wir haben beim Milchgipfel am
vergangenen Montag darüber gesprochen, warum die
Molkereien hinnehmen, dass Milch, die nicht auf den
regulären Märkten verkauft und nicht für Produkte ver-
wendet werden kann, für 17 oder 18 Cent auf dem Spot-
markt vertickt wird . Das macht keinen Sinn . Da müssen
wir eingreifen . Wir müssen mit den Erzeugern sprechen;
denn so, wie es bisher läuft, wird der Milchpreis der Pro-
dukte reduziert, die einen Markt gefunden haben .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Herr Kollege Ostendorff, Sie haben den Rückgang der
Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe angesprochen . Zu
Beginn der Milchquote 1983 gab es noch 394 000 milch-
erzeugende Betriebe . Nun gibt es noch rund 74 000 . Trotz
Quote hat der Strukturwandel durchschnittlich 5 Prozent
der Betriebe jährlich zur Aufgabe bewegt; das muss man
zur Kenntnis nehmen .


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben 10 Prozent! 10 Prozent ist ein Strukturbruch!)


Daran wird sich durch Fortschritt und Effizienzsteige-
rung auch in Zukunft nichts wesentlich ändern, egal wer
regiert . Das ist die Realität, und die können Sie nicht aus-
blenden .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wie ich dargelegt habe, ist die Marktsituation drama-
tisch . Weil es außenpolitische Wirkungen gibt und weil
wir eine Kulturlandschaft und eine sichere Lebensmittel-
produktion in Deutschland haben wollen, haben wir eine
gesellschaftliche Verantwortung . Diese wollen wir auch
wahrnehmen . Deswegen haben wir am Ende des letz-
ten Jahres und zu Beginn dieses Jahres ein Liquiditäts-
hilfeprogramm aufgelegt . Wir sprechen von 69,2 Mil-
lionen Euro; rund 10 000 Betriebe haben die Mittel in
Anspruch genommen . Es konnten Liquiditätshilfen von
100 000 Euro mit einer Verzinsung von 1 Prozent und
10 000 Euro als direkte Hilfe an die Höfe ausgereicht
werden . An der Stelle möchte ich einmal ein Lob an
unser Haus aussprechen . Das BLE hat zwischen Weih-
nachten und Neujahr durchgearbeitet und die Anträge
beschieden, die in einer ersten Tranche bis Mitte März
ausgezahlt worden sind . Die letzte ist in diesem Monat
bei den Höfen angekommen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir haben uns auch sozial engagiert . Wir haben ge-
meinsam in der Großen Koalition die Mittel der landwirt-
schaftlichen Berufsgenossenschaft mit zusätzlich 78 Mil-
lionen Euro aufgestockt . Das bringt Beitragssenkungen
von 16 Prozent . Das ist ein Beitrag zur Solidarität . Das
muss man einfach sehen . Andere Branchen achten dies-
bezüglich argwöhnisch auf uns .

Auch die Europäische Union hat reagiert . Wir haben
einen Auffangpreis, nämlich den, bei dem die Interventi-
on bei Magermilchpulver und Butter greift . Die Menge

Friedrich Ostendorff






(A) (C)



(B) (D)


wurde jetzt noch einmal auf 350 000 Tonnen aufgestockt,
um den Druck aus dem Markt zu nehmen . Mehr kann
man nicht tun .

Heute gegen Abend wird das Agrarmarktstruktur-
gesetz beraten . Nach diesem Gesetz werden erstmals,
kartellrechtlich abgedeckt, freiwillige Mengenabspra-
chen zwischen Erzeugergemeinschaften und Molkereien
möglich werden . Wir setzen noch eins drauf – ich bin
sehr dankbar, dass uns das gelungen ist –, indem wir die
Möglichkeit der Allgemeinverbindlichkeitserklärung
aufnehmen . Das ist etwas ganz Neues, das eine Lang-
fristwirkung hat . Damit beenden wir die Ohnmacht der
Milcherzeuger auf dem Markt; denn wir geben ihnen die
Chance, sich zu organisieren und, wenn einige nicht mit-
machen wollen, sie mit einer Allgemeinverbindlichkeits-
erklärung dazu zu bringen . Damit können Marketing-
maßnahmen organisiert werden . Herr Minister Schmidt
ist in Brüssel vorstellig geworden, um damit unter Um-
ständen auch eine Mengensteuerung zu erreichen . Das ist
sinnvoll . Ich bin dem Koalitionspartner dankbar, dass wir
das zum Schluss doch noch zusammen hinbekommen ha-
ben .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Nun zum Milchgipfel . Man kann einen Milchgipfel
mit 50 Leuten einberufen . Ich kann Ihnen sagen, wie
das dann abläuft . Es werden Statements abgegeben;
die Pressemeldungen sind schon vorher verschickt . Es
kommt nichts dabei heraus . Wir haben die Erzeuger, die
Milchindustrie und auch den LEH zusammengeführt und
über drei Stunden sehr intensiv diskutiert . Ich kann nur
eines sagen: Nachdem man sich zunächst gegenseitig die
Schuld zugewiesen hat, ist man dann doch zu der Mei-
nung gekommen, man müsse einen Branchendialog be-
ginnen . Den haben wir begonnen . Unter Beachtung der
kartellrechtlichen Bestimmungen kann in Zukunft mit-
einander besprochen werden, was getan werden kann,
um Markteinbrüche wie den, den wir jetzt haben, abzu-
federn . Ich bin sehr optimistisch, dass das eine Langfrist-
wirkung entfaltet .

Wir sind auch staatlicherseits noch nicht am Ende .
Wir hoffen, dass das Parlament bei der nächsten Haus-
haltsberatung wieder eine zusätzliche Hilfe für die Un-
fallversicherungsbeiträge gewährleistet . Wir haben dem
Finanzminister dafür zu danken, dass er uns angeboten
hat – das alles muss hier noch beschlossen werden –, dass
wir eine Gewinnglättung von drei Wirtschaftsjahren vor-
sehen können . Das hört sich banal an; aber damit können
wir erstmals entsprechend der Volatilität der Märkte und
auch der Witterung landwirtschaftliche Gewinne stre-
cken, sodass Gewinne, die in einem Jahr, das ein gutes
Wirtschaftsjahr war, anfallen, nicht versteuert werden
müssen, wenn im folgenden Jahr, das vielleicht schlecht
war, keine Gewinne erzielt worden sind . Das hilft und
wird schon im laufenden Steuerjahr Wirkung entfalten
können .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Herr Ostendorff, Sie haben die Veräußerungsgewinne
angesprochen . Wir wollen nicht, dass Landwirte Grund
und Boden verkaufen . Aber wenn der eine oder ande-
re die Chance hat, einen Bauplatz zu vermarkten, dann

sollte man ihm die Chance geben, diese Gewinne zur
Schuldentilgung steuerfrei zu verwenden . Mehr ist das
nicht . Das ist eine Hilfe, die in Anspruch zu nehmen wir
ermöglichen sollten .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will noch einmal sagen: Die Bundesregierung
steht hinter den bäuerlichen Familien . Wir sorgen uns um
deren Zukunft . Ich hätte eine herzliche Bitte an die Grü-
nen und auch an die Linken, und auch unser Koalitions-
partner kann da nicht ungeschoren bleiben:


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So eine Unverschämtheit!)


Versuchen wir zumindest in der jetzigen Zeit, unsere
Bauern und unsere bäuerlichen Familien nicht weiter
zu belasten, indem wir neue bürokratische Auflagen be-
schließen, die nur zu Kosten und zur Verringerung der
Motivation der Bauern führen . Das wollen wir nicht .


(Dr . Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie lenken nur von Ihrem eigenen Versagen ab!)


Wir haben eine Politik gemacht, die eine Perspektive für
die Landwirtschaft bedeutet .


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind Verursacher der Krise!)


Dazu stehen wir, und dabei bleiben wir .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817316200

Vielen Dank . – Als Nächstes spricht die Kollegin

Dr . Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817316300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Gäste auf den Tribünen! Worum geht es denn ei-
gentlich bei der Milchkrise? Es geht darum, dass man
seit vielen Monaten sehr früh am Morgen aufsteht, und
zwar auch am Wochenende, um Kühe zu melken, und
an jedem einzelnen Tag genau weiß, dass der Erlös so
gering sein wird, dass man eigentlich noch Geld mitbrin-
gen muss . Warum ist das so? Weil Handels- und Mol-
kereikonzerne Milch zur Ramschware gemacht haben
und weil sie selbst vom Dumpingpreis erst einmal ihre
Gewinne abziehen, sodass die Milcherzeuger nur das
bekommen, was übrig bleibt . Im Klartext: Almosen statt
faire Bezahlung. Ich finde das sittenwidrig. Dass das ge-
duldet wird, finde ich nicht akzeptabel.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In den Betrieben herrscht Verzweiflung, Frust und
blanke Existenzangst, und zwar überall . Ich verstehe das
sehr gut – erst recht, weil sie in eine Falle gelaufen sind .
Was haben EU, Bundesregierung und Bauernverband
nicht alles für die Zeit nach dem Ausstieg aus der Quote

Parl. Staatssekretär Peter Bleser






(A) (C)



(B) (D)


im April 2015 versprochen? Es wurde ein gelobtes Land
ohne die Fesseln der Mengenbegrenzung mit unerschöpf-
licher Nachfrage auf dem Weltmarkt gepriesen . Schon
Jahre zuvor durfte pro Jahr 1 Prozent Milch mehr pro-
duziert werden . In Deutschland wurde sogar noch mehr
gemolken, weil der Markt angeblich auf diese Milch
wartete . Die dafür fälligen Strafzahlungen würde man in
Brüssel schon wegverhandeln, wurde versprochen . Des
Weiteren gab es Fördermittel für eine Erweiterung der
Produktion . „Sanfte Landung“ nach dem Quotenaus-
stieg hieß der Plan . Daraus geworden ist ein Absturz von
Butterbergen und ein Ertrinken in Milchseen . Dass die-
se auch noch selbst erarbeitet wurden, zeigt auf, dass es
sich um ein perverses System handelt, dessen Fehler auf
Kosten von Natur, Mensch und auch Tieren gehen .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben aber neben der Menge durchaus noch ein
ganz anderes Problem . Das Überangebot macht die Dik-
tatur der Handels- und Molkereikonzerne noch mächti-
ger . Erpresserische Ladenpreise von 47 Cent pro Liter
sind doch die Folge . Was haben Bundesagrarminister und
Koalition in dieser zugespitzten Krise getan? Sie blieben
über ein Jahr lang im Hoffnungsmodus und griffen zu
Krisenzeiten in die Mottenkiste der Interventionen, ge-
folgt von Schockstarre, weil das nicht geholfen hatte, und
jetzt kommt der hektische Aktionismus . Verantwortungs-
volle Krisenpolitik sieht wirklich anders aus .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dabei gab es frühzeitig Warnungen und Vorschläge,
wie dieser Albtraum verhindert werden kann, zum Bei-
spiel auch im gemeinsamen Antrag der Linken und Grü-
nen, über den heute abgestimmt wird . Dieser Antrag liegt
dem Bundestag bereits seit September 2015 vor und wur-
de im Oktober 2015 erstmals beraten . Wir wollten schon
damals ernsthaft über Mengenregulierungen diskutieren .
Aber das war ja Teufelszeug . Wir wollten schon damals
über das Vertragsrecht diskutieren, damit die Produkti-
onsrisiken nicht allein bei den Erzeugern hängen bleiben .
Wir wollten schon damals darüber diskutieren, ob nicht
wenigstens in Krisenzeiten ein Mindestpreis notwen-
dig ist oder ob überhaupt ein Preis in die Lieferverträge
gehört . Wir wollten schon damals über das Kartellrecht
diskutieren, weil Handels- und Molkereikonzerne ihre
Marktübermacht missbrauchen; das wissen wir doch . Es
ist die Realitätsverweigerung des Bundesministeriums,
der Koalition und des Bauernverbands, die den Betrieben
jetzt zum Verhängnis wird .

Recht zu behalten – das sage ich ganz ehrlich –, ist
manchmal wirklich bitter . Leider wird es nicht besser .
Zum Beispiel macht ein Branchendialog doch nur Sinn,
wenn man zuvor Milcherzeuger auf Augenhöhe mit Mol-
kereien und Handel bringt . Was soll denn sonst daraus
werden?


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was soll denn das unmoralische Angebot von Steuerfrei-
beträgen für Gewinne aus Landverkäufen? Ich überset-

ze das einmal: Durch Bundespolitik kommen Betriebe
in Existenznot, und wenn sie deshalb die Produktions-
grundlage Boden verkaufen müssen, verzichtet der Bund
großzügig auf Gewinnbeteiligung . Scheinheilig ist noch
das netteste Wort, das mir dabei einfällt .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Im Subtext bedeutet das doch eine Ermutigung der Heu-
schrecken, die längst unterwegs sind, um die Leichen des
Wettbewerbs bzw . die fette Beute einzusammeln .


(Beifall der Abg . Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE] – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das heißt es! Das macht CDU/CSU!)


Auch auf diese Gefahr habe ich schon lange hingewie-
sen . Auch dazu sage ich: Es ist bitter, dass man manch-
mal recht behält .


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Leider!)


Abschließend noch eines: Dass es noch nicht einmal
in Genossenschaftsmolkereien gelungen ist, einen so-
lidarischen Ausweg aus dieser Krise zu finden, besagt,
dass eben auch der Genossenschaftsgedanke nicht mehr
die Solidarität bietet, die er eigentlich ursprünglich ein-
mal beinhaltete . Es bedeutet, dass es – unter dem Druck
dieses sogenannten Wettbewerbs – zu einer Vereinzelung
und Entsolidarisierung in der gesamten Branche gekom-
men ist . Wir Linke sagen schon lange, dass wir über das
Genossenschaftsrecht reden und auch hier wieder zu den
Wurzeln zurück müssen . Deswegen muss ich sagen: Es
geht auf das Versagen der Koalition und der Bundesre-
gierung zurück, dass das alles nicht passiert ist und die
Betriebe jetzt die Zeche zahlen .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817316400

Vielen Dank . – Das Wort hat jetzt der Kollege

Dr . Wilhelm Priesmeier für die SPD-Fraktion .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD):
Rede ID: ID1817316500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, es
ist einmal an der Zeit, in der Debatte abzurüsten, auch
was gegenseitige Schuldzuweisungen angeht . Begrif-
fe wie „irrlichternder Totengräber“ oder „kalte Enteig-
nung“ mögen zwar die parlamentarische Debatte beflü-
geln, tragen aber in gar keiner Weise zur Lösung des
wirklich ernsten Problems bei, das wir im Bereich des
Milchmarktes haben .


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie kennzeichnest du das denn, was da passiert? Hast du da auch eine Kennzeichnung dafür?)


Dr. Kirsten Tackmann






(A) (C)



(B) (D)


– Friedrich, ich glaube, dass die Provokation allein das
Problem nicht löst .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Das ist, wie ich finde, eine Art von Politik, die unehrlich
ist gegenüber den Betroffenen . Denn die Lösungsvor-
schläge, die von eurer Seite auf den Tisch gelegt werden,
sind nicht ausreichend .


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Du bist damit einverstanden, dass den Bauern das Eigentum genommen wird?)


Ich erinnere mich noch an die Debatte, die wir 2009 –
sie begann ebenfalls im Frühjahr und ging bis zum Som-
mer – geführt haben . Da hatten wir die gleiche Situation .
Da hatten wir ebenfalls Probleme mit dem Milchmarkt,
allerdings aufgrund anderer Ursachen: wegen der dama-
ligen Wirtschafts- und Währungskrise . Aber die Preise
waren genauso weit unten wie heute. Damals fing die
Diskussion mit der Frage an: Ausstieg aus der Quote oder
nicht? Alles wurde hinterfragt . Der BDM und andere Or-
ganisationen haben dazu beigetragen, dass Milch auf den
Acker gefahren und mit dem Güllefass verteilt wurde,
dass Molkereien blockiert wurden . Damals ist die Situ-
ation noch viel weiter eskaliert, als es heute der Fall ist .


(Dr . Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Weil die einfach verzweifelt sind!)


Auch damals war dieser Weg keine Lösung des Pro blems .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Es reicht doch weiß Gott nicht aus, die Welt in Gut
und Böse zu unterteilen . Wir sollten uns konkret daran-
machen, dass wir tragfähige Lösungen für das Problem
erarbeiten


(Dr . Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dafür wird es langsam Zeit!)


und auch den gesetzlichen Rahmen dafür schaffen .


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sag doch mal eine Lösung!)


Nationale Politik kann nun einmal nicht den interna-
tionalen Markt lenken . Das ist die Erkenntnis aus den
vielen Jahren Quotierung . Wir hatten auch vorher schon
einmal einen Mindestpreis . Er hieß Interventionspreis;
das war lange vor der Quote . Er hat bei der damaligen
Ausrichtung von Produktion dazu beigetragen, dass wir
Anfang der 80er-Jahre Mengen hatten, die wir nicht
mehr in den Griff bekommen haben, was hinterher das
staatlich zwangsverwaltete Quotensystem hervorgerufen
hat – mit allen seinen Folgewirkungen, etwa der Bindung
an die Fläche und dem, was wir beide kennen .

Mich hat diese Thematik „Strukturwandel des
Milchmarkts“ mein ganzes Berufsleben begleitet . Ich
habe 1982 eine Tierarztpraxis übernommen, also vor
Einführung der Quote . Ich habe den gesamten Struktur-
wandel erlebt . Ich habe erlebt, dass in dieser ganzen Zeit
in Dörfern, wo früher noch viel Vieh war, hinterher kein
einziger Betrieb mehr war und dass Betriebe immer grö-
ßer geworden sind: Ein Betrieb, der mit 25 Kühen an-
gefangen hat, hat heute 350 Kühe . So what? Was ist an

dieser Entwicklung denn negativ? Hätten wir denn die-
se Entwicklung mit anderen Methoden, anderen Ansät-
zen, anderen Möglichkeiten und direkter Förderung aus
Haushaltsmitteln und anderen Zusammenhängen aufhal-
ten können? Das hätten wir nicht! Da muss man einmal
ehrlich sein, was die Möglichkeiten von Politik betrifft,
und man darf keine Illusionen wecken, wir könnten be-
stimmte Dinge erreichen . Wir können nicht rückwärts
marschieren; wir können nur vorwärts marschieren . Wir
können uns nur an die Bedingungen anpassen .

Aber richtig ist natürlich, dass wir ein Marktversagen
in dem gesamten Bereich haben . Das ist so lange nicht
richtig zum Tragen gekommen, wie wir eine quotierte
Menge hatten . Aber jetzt sehen wir, dass wir die recht-
lichen Rahmenbedingungen dringend ändern müssen,
auch die Rahmenbedingungen und die vertraglichen Vor-
gaben für den Bereich der Lieferbeziehungen zwischen
Produzenten und verarbeitendem Gewerbe . Es kann
nicht sein, dass Landwirte Milch produzieren und ohne
vertragliche Regelung über Menge, Zeit und Preis blei-
ben . Diese Punkte sind immer der Gegenstand von Ver-
trägen . Mit Satzungen allein kann man dieses Problem
nicht lösen .

Insofern erwarte ich in diesem Zusammenhang, dass
sich vor allen Dingen der größte Bereich der Milchver-
arbeitung, die genossenschaftlichen Molkereien, dort
bewegen . Wie soll man denn Mengenabsprachen oder
Mengenregulierungen vornehmen, wenn ein Landwirt
alles vor die Tür stellen kann, wenn die Molkereien alles
abholen und irgendwie verarbeiten müssen? Wenn man
in diesen Mechanismus nicht eingreift, braucht man sich
über Mengenregulationen oder Marktanpassungen über-
haupt keine Gedanken zu machen .

Das, was wir kennen – Angebot, Nachfrage und
Preis –, sind die zentralen Elemente des Marktes . Deren
Zusammenspiel funktioniert in diesem Bereich nicht .
Dieses Zusammenspiel müssen wir wiederherstellen . Wir
müssen zumindest dafür sorgen, dass die entsprechenden
Voraussetzungen geschaffen werden können . Das soll
nicht durch staatliche Eingriffe passieren, sondern indem
wir den Beteiligten ein Instrument an die Hand geben,
um vorübergehend entsprechende Absprachen zu tref-
fen, damit das ganze System wieder ins Gleichgewicht
kommt . Das soll genutzt werden . Das werden wir heute
Abend beschließen . Aber es ist illusorisch, zu glauben,
wir könnten mit Steuermitteln, so wie in Ihrem Antrag
vorgeschlagen, mit verlorenen Zuschüssen oder mit an-
deren Instrumenten wie beispielsweise Bonuszahlungen
letztendlich Mengen in entscheidender Weise beeinflus-
sen . Das geht nicht; denn wir haben ja erlebt, wie büro-
kratisch die Umsetzung in diesem System war und wie
wir versucht haben, das immer weiter anzupassen . Aber
letztendlich hat es nicht funktioniert .

Ich glaube, es ist vernünftig, wenn wir gemeinsam mit
den Landwirten und der Branche nicht nur zu Einschät-
zungen, sondern auch zur Umsetzung von Konzepten
kommen . Kurzfristige Liquiditätshilfen sind nach meiner
Einschätzung vollkommen akzeptabel . Man sollte sich
darauf konzentrieren, den Betrieben, die in Schwierig-
keiten sind, zumindest für den Zeitraum, in dem die Kri-
se anhält, so viel Liquidität zukommen zu lassen, dass

Dr. Wilhelm Priesmeier






(A) (C)



(B) (D)


sie nicht allein aus dem Grund, weil sie Kredite zu tilgen
haben, die Hoftür abschließen müssen . Aber auf die ei-
gentlichen betriebswirtschaftlichen Entscheidungen, die
zu treffen sind, können wir mit politischen Entscheidun-
gen keinen Einfluss nehmen; das sollte uns klar sein.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir brauchen strukturelle Veränderungen im Markt-
sektor; das ist jedem klar . Wir müssen uns auch Gedan-
ken machen, wie wir bestimmte Bereiche der Produk-
tion fördern wollen . Ein Beispiel ist das Unternehmen
Hemme Milch, das regionale Märkte bedient und dort
natürlich eine höhere Wertschöpfung erzielt . Die Wert-
schöpfung ist das zentrale Element, auch in der Milch-
produktion . In Deutschland haben wir eine Wertschöp-
fung von 85 Cent, in Frankreich von über 1,10 Euro und
in Italien von 1,50 Euro . Warum ist das so? Das ist die
Folge der Strukturen, die sich entwickelt haben, weil bei
Interventionspreisen über viele Jahre für die Intervention
produziert wurde und die Unternehmen nicht gezwun-
gen waren, sich auf die Marktnachfrage einzustellen und
Markenprodukte zu produzieren . Die Privaten haben das
anders angefangen . Deshalb haben sie natürlich auch
eine größere Gewinnspanne . Aber die Genossenschafts-
molkereien bestimmen mit der Menge, die sie für den
Markt verarbeiten, den Preis, und die privaten Molkerei-
en orientieren sich daran .

Der Landwirt ist letztendlich derjenige, der betriebs-
wirtschaftliche und sonstige Fehlentscheidungen sowie
Marktentwicklungen zu tragen hat . Der Landwirt trägt
zum gegenwärtigen Zeitpunkt fast das vollständige
Marktrisiko . Das ist das Problem . Ich habe noch nicht
gehört, dass irgendeine Molkerei davor steht, Insolvenz
anzumelden . Das heißt also: In diesem Bereich wird im-
mer noch verdient . Solange aber in diesem Bereich kein
unternehmerisches Risiko getragen wird, so lange kann
dieser Markt auch nicht funktionieren . Dafür, dass das
nicht mehr so ist, wollen wir sorgen .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817316600

Vielen Dank . – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht

jetzt der Kollege Alois Gerig .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Alois Gerig (CDU):
Rede ID: ID1817316700

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-

legen! Meine Damen und Herren! Ich begrüße es, dass
wir hier heute zu einer guten Debattenzeit eine Plenarde-
batte zur Milchkrise führen .


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie den Grünen zu verdanken! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Vielen Dank!)


Ich freue mich, dass wir alle ein Ziel haben: Wir wollen
der Landwirtschaft, insbesondere den Milchviehhaltern,
zu Hilfe kommen . Und: Ja, wir haben zwei Anträge, die
wir als Koalitionsfraktionen wegen des Inhalts und der

Ausrichtung nicht teilen können . Aber, lieber Friedrich
Ostendorff, Beschimpfungen helfen uns hier gar nicht .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir sollten gemeinsam nach einem Weg suchen, um
den Bauern zu helfen, damit die Bauern Vertrauen in die
Politik haben und wissen, dass sie sich auf uns verlas-
sen können . Alle Ebenen müssen jetzt zusammenhalten,
alle müssen sich bewegen, alle können etwas dafür tun .
Ich bin dem Minister dankbar, dass er den Milchgipfel
einberufen hat, und ich bin ihm dankbar dafür, dass er
europa- und weltweit um Freunde wirbt, die mit ihm ge-
meinsam an dem Problem der globalen Überproduktion
von Milch arbeiten . Was können wir machen? 32 Jahre
lang hat die EU-Milchquote nicht dazu gedient, dass wir
eine ordentliche Marktregel bei der Milchmenge hinbe-
kommen haben . Das hat die melkenden Bauern sehr viel
Geld gekostet und Preistiefs nicht verhindert . Es hat aber
sehr viel Bürokratie geschaffen . Das hat uns auch nicht
geholfen .

Das erste Liquiditätshilfeprogramm war kein Allheil-
mittel, aber es hat geholfen; ein weiteres wird folgen . Da
geht es um Zuschüsse für die landwirtschaftliche Un-
fallversicherung, um Bürgschaften, um Kredite und um
Steuerglättung, wie es der Herr Staatssekretär gesagt hat .
Mit der Novelle des Agrarmarktstrukturgesetzes, die wir
heute später debattieren, sorgen wir dafür, dass die Rah-
menbedingungen für die Marktpartner verändert werden
können . Darin liegt für mich auch ein Teil der Lösung .
Wir dürfen das Problem nicht den Milchbauern alleine
überlassen .

Ich kann mir vorstellen, dass man mit Lieferverein-
barungen, zum Beispiel mit Zu- und Abschlägen bei den
Branchenquoten, bei den Milchbauern eine Motivation
schaffen kann, die Überproduktion von Milch zu been-
den . Dadurch könnte eine Win-win-Situation entstehen .
Handel und Verarbeiter haben keinen Grund, den aktu-
ellen Milchmarkt auszunutzen . Es braucht aktuell am
deutschen Markt doch auch keine ausländische Milch . Es
braucht kein Preisdumping, das überwiegend durch die
Eigenmarken des Lebensmitteleinzelhandels verursacht
wird .

Im Übrigen können die Verbraucher jetzt schon mit
dem richtigen Griff ins Regal dafür Sorge tragen, dass
mehr Wertschöpfung bei den Milchbauern ankommt . Das
muss man auch immer wieder in der Öffentlichkeit sa-
gen . Ich spüre eine große Solidarität . Aber die Menschen
müssen da auch mitgehen; sie müssen etwas machen .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ja, die Politik muss den Milchbauern helfen . Es geht
hier um keine Branche wie die übrige Wirtschaft . Die
Bauern produzieren keine Waschmaschinen .


(Dr . Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Können auch keine Kurzarbeit machen!)


Die Bauern produzieren Lebensmittel von allerhöchster
Qualität . Die Lebensmittel, die in Deutschland produ-
ziert werden, erfüllen die höchsten Standards . Unsere
Bauern erhalten die geliebte vielfältige Kulturlandschaft .

Dr. Wilhelm Priesmeier






(A) (C)



(B) (D)


Da ist mir wichtig, dass wir weiterhin flächendeckend in
ganz Deutschland Milchkühe und Milchbauern haben .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Unsere Bauern sind das Rückgrat in den Dörfern, das
Rückgrat in den ländlichen Regionen . Klar, es hat schon
immer den Strukturwandel gegeben, aber im Moment
geht es wie im freien Fall . Auch die der Landwirtschaft
vor- und nachgelagerten Gewerke und Branchen sind ak-
tuell schon betroffen; auch sie leiden .

Deswegen: Lassen Sie uns die Leistungen der Bauern
in den Fokus nehmen . Lassen Sie uns mit den Bürgern
und den Verantwortlichen einen Dialog führen . Es geht
um Wertschöpfung; das ist richtig . Es geht aber auch
um Wertschätzung der Lebensmittel und einer ganzen
Branche . Lassen Sie uns deshalb alle gemeinsam daran
arbeiten, die schwierige Situation unserer Bauern zu ent-
schärfen . Lassen Sie uns dafür Sorge tragen, dass unse-
re Bauern Freude an der Arbeit und eine wirtschaftliche
Perspektive haben . Dann haben die ländlichen Regionen
eine Chance .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817316800

Vielen Dank . – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der

Kollege Rainer Spiering .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Rainer Spiering (SPD):
Rede ID: ID1817316900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol-

legen! Sehr geehrte Gäste! Ich möchte mich dem an-
schließen, was Wilhelm Priesmeier gesagt hat: Es wäre
ganz gut, wenn wir verbal ein bisschen abrüsteten .

Die Frage der Milchpreisentwicklung ist nicht erst
heute entstanden . Ich habe mir die Zahlen kommen las-
sen . Deutschland hat gemäß den Zahlen, die ich habe,
seit 2007 einen sehr hohen Überschuss an Milch im Au-
ßenhandel . Ist das mit oder ohne Quote passiert? Es ist
mit Quote passiert .


(Dr . Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das ist der Ausstiegspfad aus der Quote!)


Das haben wir gewähren lassen, und wir hatten durch die
Quote einen Effekt, von dem wir alle wissen, dass wir ihn
auch nicht wollten . Ich würde den Fokus darauf legen:
Wie gehen wir mit den Landwirten um, was können wir
tun?

Ich sage ganz deutlich: Die 100 Millionen Euro, die
wir jetzt geben, werden keinen großen Effekt erzielen,
und das wissen wir alle .


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist wenigstens ehrlich!)


Da müssen wir uns ehrlich genug machen . Das wird die
Strukturveränderung in der Landwirtschaft nicht aufhal-
ten .

Ich sage gleichwohl – wir waren vorgestern Abend
beim Sozialverband Deutschland, SoVD –: Es ist eine
erstaunliche Leistung – ich finde, da kann sich die bäu-
erliche Gemeinschaft auch glücklich schätzen –, dass
die Bundesrepublik Deutschland in diesen Sozialver-
band 4 Milliarden Euro, das entspricht 50 Prozent aller
Leistungen, hineingibt . Ich kenne keinen Sozialversiche-
rungszweig in Deutschland, in den so viele Bundesmittel
fließen. Ich finde, das ist wirklich eine richtige Hilfe für
die Landwirtschaft, und das ist auch in Ordnung .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wenn wir uns jetzt aber mit den Strukturen auseinan-
dersetzen wollen und wenn wir wirklich helfen wollen,
dann hilft es uns übrigens nicht, wenn wir uns nur auf die
Milchpreiskrise konzentrieren .


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Richtig!)


Vielmehr hat sich etwas verändert . Unser Land hat sich
auf den Weg gemacht, eine Exportnation in der Land-
wirtschaft zu sein . Das birgt große Risiken, sehr große
Risiken .


(Artur Auernhammer [CDU/CSU]: Aber auch Chancen!)


Jetzt kann man überlegen, wie man dort mit nationalen
Mitteln etwas ändern kann .

Mir stellt sich die Frage – und ich bitte, dass der Bun-
desminister sie beantwortet –: Wie kommt es eigent-
lich zu dem Unterschied bei der Entlohnung bayrischer
Landwirte gegenüber niedersächsischen Landwirten? Es
gibt fast kontinuierlich 5 Cent Ertragsunterschied zwi-
schen Milchbauern in Niedersachsen und in Bayern . Ich
möchte gerne einmal wissen: Woran liegt das? Hat das
mit Strukturen zu tun, die dort entstanden sind? Ist das
Zufall? Das möchte ich wissen; denn ich halte es für aus-
gesprochen ungewöhnlich, dass das so ist .

Zur nächsten Frage, die mir zu beantworten ist . In
vielen Bereichen der landwirtschaftlichen Produktion
gibt es durchaus Wertschöpfung . Das betrifft aber Pro-
dukte, die aus Milch hergestellt werden . Angesichts der
Milchmengen, die wir produzieren, würde mich interes-
sieren: Wie stark sind wir eigentlich bei der Produktion
neuwertiger Produkte? Wie viel lassen wir uns das kos-
ten, neue Produkte zu entwickeln? Kann es nicht sein,
dass wir in einem Bereich, in dem wir deutlich höhere
Wertschöpfung erzielen können, viel zu schwach sind?
Diese Frage müssen wir uns auch einmal stellen . Wir
müssen in Forschung und Entwicklung gehen und sagen:
So, Landwirte, das ist ein Angebot, das wir euch machen
können . Wir offerieren euch ein Produkt, mit dem ihr
Geld verdienen könnt . – Es kann übrigens sein, dass das
mehr als 100 Millionen Euro kostet . Aber das ist eine In-
vestition in die Zukunft, die helfen kann .

Der nächste Punkt . Da vorne sitzt mein Freund Johann
Saathoff . Er ist einer der am stärksten Betroffenen hier,
weil er in einer reinen Milchviehwirtschaft lebt und ar-
beitet. Ich finde, viel zu dünn kommt die Argumentation
von „Grünland als CO2-Senke“ daher . Wir alle wissen um
die segensreiche Wirkung von Grünland, und zwar ge-
wachsenem Grünland, nicht umgebrochenem Grünland .

Alois Gerig






(A) (C)



(B) (D)


Ich finde, es ist den Schweiß der Edlen wert, darüber
nachzudenken, ob ich diese natürliche CO2-Senke nicht
schütze . Das bedeutet aber auch, dass ich Umbruchmög-
lichkeiten reduziere oder abschaffe . Das bedeutet auch,
dass ich mich als Staat dazu bekennen muss, in Grünland
richtig Geld zu investieren, und zwar so, dass es für den
Milchbauern attraktiv wird, von einer intensiven auf eine
extensive Landwirtschaft umzusteigen . Wenn ich höre,
dass die heutige Milchkuh, wenn ich ihr das Kraftfutter
entziehe, gar nicht mehr lebensfähig ist, dann muss ich
mit Verlaub sagen: So ganz richtig kann das auch nicht
sein .


(Artur Auernhammer [CDU/CSU]: Nein, nein, nein!)


Ich finde, hier sollten wir ansetzen und umsteuern. Wir
sollten Bundesmittel in die Hand nehmen und nachhaltig
in die CO2-Senke investieren; ob wir das über Umschich-
tung der Säulen machen oder auf anderen Wegen, das sei
einmal dahingestellt . Aber das sind Wege, die wir gehen
können .

Zur Preisentwicklung . Man muss ganz nüchtern sa-
gen: Für die Milchviehwirtschaft hat es im Novem-
ber 2013 eine sehr ertragreiche Zeit gegeben . Damals
wurden Preise von 42 Cent pro Liter gezahlt . Aber wenn
man sich die Kurven genau anschaut, dann stellt man
fest, dass mit dem Anstieg des Preises die Milchproduk-
tion stieg .


(Dr . Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das war doch politisch gewollt!)


An dieser Stelle muss ich an alle Beteiligten appellieren,
sich sehr sorgfältig zu überlegen: Auf was für ein Spiel
lasse ich mich ein? Jetzt komme ich zu einem zentralen
Punkt . Es gibt in der Landwirtschaft eine Vereinigung,
die für die Interessen der Landwirtschaft tätig ist, und
das ist der Bauernverband . Ich kann vom Bauernverband
doch erwarten, dass er eine schlüssige Antwort darauf
gibt . Ich muss mit dieser Antwort nicht einverstanden
sein, aber ich kann eine schlüssige Antwort erwarten, und
die bekomme ich im Moment nicht .

Wenn ich mir den Bereich anschaue, aus dem ich
komme – das ist der Zentralverband des Deutschen
Handwerks –: Die Vielfältigkeit des deutschen Hand-
werks ist mindestens so groß wie die der deutschen
Landwirtschaft . Aber der Zentralverband des Deutschen
Handwerks spricht mit einer Stimme . Das kann ich von
einer Standesorganisation wie dem Bauernverband auch
erwarten .

Danke schön fürs Zuhören .


(Beifall bei der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817317000

Vielen Dank . – Zum Abschluss der Debatte erhält jetzt

der Kollege Artur Auernhammer, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Artur Auernhammer (CSU):
Rede ID: ID1817317100

Vielen Dank, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Wenn bei einer Milchdebatte ein
Glas Milch hier stehen würde, würden wir der deutschen
Landwirtschaft mehr dienen als mit dem vorliegenden
Antrag .


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817317200

Wir können das mit in den Haushaltsausschuss neh-

men .


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)



Artur Auernhammer (CSU):
Rede ID: ID1817317300

Ist der da zuständig? – Die Debatte der letzten Tage

und Wochen hat wieder einmal die Landwirtschaft in
die Mitte der Berichterstattung geholt . Der Milchpreis
hat die Landwirtschaft wieder in die Schlagzeilen und in
die Nachrichtensendungen der großen Medien gebracht,
aber ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass
es auch andere landwirtschaftliche Betriebe gibt, die hal-
ten Schweine oder bauen Getreide an . Wenn ich heute
Morgen in der WhatsApp-Gruppe meiner Jungbauern
lese, dass der Schlachtschweinepreis in der nächsten
Woche wieder um 5 Cent sinkt, dann müssen wir grund-
sätzlich über die Einkommenslage in der Landwirtschaft
diskutieren und nicht nur über die Milcherzeuger .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, die
Milch hat eine hohe Bedeutung für unser Land, gerade
für Süddeutschland, aber auch für andere Regionen . Ich
denke hier an Ostfriesland . Lieber Rainer Spiering, wenn
man einer Kuh das Kraftfutter entzieht, dann verhungert
sie deswegen nicht . Die Kuh hat einen Wiederkäuerma-
gen, und sie ist eine der wenigen lebensfähigen Kreatu-
ren in unserem Land, die es schaffen, aus Gras Milch zu
produzieren . Deshalb ist es wichtig – das hast du voll-
kommen richtig gesagt –: Zum Grünlanderhalt ist eine
leistungsfähige Milchviehhaltung notwendig .

Wie sieht die Realität aus? Im November 2007 lag
der Preis meiner Anlieferungsmilch bei der Molkerei bei
44 Cent . Im Juli 2009 lag er bei 22 Cent . In dieser Zeit
hatten wir eine Milchquote . Wir hatten auch die Kosten
für Bodenkauf, für Bodenpacht, für Überlieferung, für
Leasing und für die ganzen Finanzmittel zu tragen, die
aus der aktiven Landwirtschaft in andere Bereiche abge-
wandert sind . Die müssen wir hier auch einmal erwäh-
nen . Deshalb kann es keine staatliche Mengenregulie-
rung mehr geben .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . Dr . Wilhelm Priesmeier [SPD])


Wir wussten alle, die Quote läuft aus . Viele haben sich
auf das Auslaufen der Quote eingestellt, in erster Linie
die Milchbauern in Europa . In Irland stieg die Milchan-
lieferung um 18 Prozent, in den Niederlanden um 12 Pro-
zent . In Deutschland „nur“ um 3,8 Prozent, aber von der
Menge war dies natürlich wesentlich mehr . Ich möchte

Rainer Spiering






(A) (C)



(B) (D)


nicht wissen, wie viel Milch die deutschen Milchbau-
ern geliefert hätten, wenn wir in unserem Land keine so
große Trockenheit gehabt hätten . Aber, wie gesagt, die
Milchbauern haben sich darauf eingestellt . Sie haben Gas
gegeben .

Wer sich meiner Meinung nach nicht darauf einge-
stellt hat, ist die Molkereiwirtschaft . Wir haben hohe
Defizite in der Vermarktung, und es wurde gerade ange-
sprochen, dass wir im Milchpreis einen Unterschied von
5 Cent zwischen Nord- und Süddeutschland haben . Das
hat vielleicht damit etwas zu tun, dass wir in Süddeutsch-
land innovative Produkte haben .


(Dr . Wilhelm Priesmeier [SPD]: So ist es!)


Die Frage ist aber, ob diese Produkte auch weltmarktfä-
hig sind . Wir haben in Süddeutschland auch einen besse-
ren Zugang zum italienischen Markt, und wir haben – ich
nenne das Stichwort „Bergbauernmilch“ – ein gutes Ab-
satzimage beim Verbraucher .

Zum Thema Absatzimage muss ich aber auch be-
richten, was ich in den letzten Tagen in einem Berliner
Discountladen gesehen habe . Dort stand ein Milchre-
gal für Frischmilch . Der Liter Milch, 1,5 Prozent Fett,
zu einem Verkaufspreis von 42 Cent . Leider konnte ich
keine Milch mitnehmen, weil das Regal leergefegt war .
Der Verbraucher trifft seine eigenen Entscheidungen . Er
greift nach den billigen Produkten und will diese nutzen .

Frau Präsidentin, die Kollegin Bulling-Schröter will
eine Zwischenfrage stellen .


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817317400

Das haben wir schon gesehen . Ich wollte Sie nur zu

Ende reden lassen . Jetzt frage ich Sie aber . Sie gestatten
die Frage der Kollegin Bulling-Schröter?


Artur Auernhammer (CSU):
Rede ID: ID1817317500

Von der Kollegin Bulling-Schröter, gerne .


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817317600

Bitte schön .


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817317700

Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie mir die Möglich-

keit geben, Ihnen eine Frage zu stellen . Sie sprechen von
Wettbewerbsfähigkeit . Das heißt, dass die Milch überall-
hin verkauft wird, auch in die USA und in andere Länder
und umgekehrt . So sollen wir ja jetzt im Rahmen von
TTIP frische Eier aus den USA bekommen .


(Zurufe von der CDU/CSU: Unsinn!)


– Lasst mich doch meine Frage stellen . Warum regt ihr
euch jetzt so auf?

Jetzt meine Frage an Sie: Wir kommen beide aus Bay-
ern, und wir wissen, dass die Bayerinnen und Bayern gern
regionale Kreisläufe haben . Wir sind gemeinsam in eini-
gen Gremien, in denen wir auch dafür eintreten, regiona-
le Produkte vor Ort zu kaufen . Warum organisieren wir
nicht mehr regionale Kreisläufe, damit das, was bei uns
produziert wird, auch vor Ort vermarktet und zu einem

fairen Preis verkauft wird? Warum sagen wir nicht: „Wir
wollen mehr tiergerechte Haltung“? Man kann sich zwar
darüber streiten, aber im Prinzip sind wir uns doch einig,
dass da noch viele Zugaben notwendig sind, damit in der
Region so viel produziert wird, wie gebraucht wird, und
die Bäuerinnen und Bauern davon leben können .


(Beifall bei der LINKEN)



Artur Auernhammer (CSU):
Rede ID: ID1817317800

Verehrte Frau Kollegin! Wenn Sie gerade aufgepasst

hätten, wüssten Sie, dass auch ich ein Freund der regio-
nalen Vermarktung bin .


(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Ich habe aufgepasst!)


Auch ich bin dafür, die regionale Bergbauernmilch so zu
vermarkten, dass der Verbraucher nachvollziehen kann,
wo das Produkt herkommt .


(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Genau!)


Aber die Realität sieht doch ganz anders aus: Im Dis-
counter wird das billigste Produkt genommen und nicht
das regionale . Das ist doch das Problem . Wenn man dem
Verbraucher eine Keule, also ein Mikrofon, vor die Nase
hält und ihn fragt, was er alles einkaufen will, sagt er:
Regionale Produkte und Bio . – Die Realität sieht aber
ganz anders aus: hauptsächlich billige Lebensmittel, da-
mit noch genügend Geld für den Urlaub übrig bleibt .


(Dr . Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Weil sie Lidl und Aldi nicht noch reicher machen wollen!)


Ein Hinweis sei mir noch gestattet: Sie kommen aus
Ingolstadt . In Ingolstadt gibt es eine Autowerkstatt, die
Produkte herstellt . Wenn diese Autowerkstatt nicht auf
dem Weltmarkt tätig wäre, dann wäre der Arbeitsmarkt
in Ihrer Region ganz anders aufgestellt .


(Dr . Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Autos und Lebensmittel zu vergleichen, ist ganz schlecht!)


Warum soll die deutsche Land- und Ernährungswirt-
schaft die Potenziale des Weltmarktes nicht nutzen dür-
fen? Darf das nur ein Autohersteller? Darf das nur eine
gewerkschaftlich organisierte Fabrik?


(Dr . Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Darum sollten Sie sie auch nicht mit Autoherstellern vergleichen!)


Nein, das müssen auch unsere Bäuerinnen und Bauern
machen dürfen . – Danke .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir debat-
tieren das Thema Milch hier teilweise hochemotional
und mit großer Leidenschaft, viele liefern gute Beiträ-
ge, aber es geht auch um die Rahmenbedingungen für
unsere Landwirtschaft . Wenn ich mit Landwirtinnen und
Landwirten rede und sie frage: „Was bewegt euch am
meisten?“, dann werde ich als Erstes gefragt: Wie geht
es weiter mit der Düngeverordnung? Wann kommt ein

Artur Auernhammer






(A) (C)



(B) (D)


Düngegesetz? Ich möchte hier alle Akteure, die sich heu-
te und in den letzten Tagen so hervorragend für die deut-
sche Landwirtschaft eingesetzt haben, einladen, auch ein
vernünftiges, praxisgerechtes Düngegesetz zu machen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das Gleiche gilt, wenn es darum geht, dafür zu sor-
gen, dass unsere Bauern auch in Zukunft noch verant-
wortungsbewusst Pflanzenschutzmittel einsetzen dürfen,
auch wenn es darum geht, einen Ampfer in der Wiese zu
bekämpfen. Dafür ist ein bestimmtes Pflanzenschutzmit-
tel notwendig .

Noch einen Satz zum Schluss: Im Bundesrat wurde
neulich eine Abstimmung herbeigeführt, in der es darum
ging, die Anbindehaltung zu verbieten . Meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren, ein Drittel der bayerischen
Betriebe hat noch eine Anbindehaltung . Wenn Sie diese
Anbindehaltung verbieten wollen, müssen Sie zu einem
Drittel der bayerischen Milchbauern sagen: Sperrt eure
Höfe zu . – Das will ich vermeiden . Darum stelle ich zum
Schluss –


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817317900

Aber wirklich zum Schluss .


Artur Auernhammer (CSU):
Rede ID: ID1817318000

– die gleiche Frage, die Fritz Ostendorff eingangs ge-

stellt hat: In welchen Zeiten leben wir eigentlich?

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817318100

Vielen Dank . – Zwischen den Fraktionen wurde ver-

einbart, dass die Vorlage auf Drucksache 18/8618 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwie-
sen wird . – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden . Dann
ist das so der Fall . Die Überweisung ist beschlossen .

Wir kommen damit zur Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft zu dem
Antrag der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Milchmarkt stabilisieren – Milch-
krise beenden“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 18/8641, den Antrag
der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 18/6206 abzulehnen . Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Opposition angenommen .

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD

Das Fachkräftepotenzial ausschöpfen – Zu-
kunftschancen der deutschen Wirtschaft si-
chern

Drucksache 18/8614

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .

Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege
Axel Knoerig, CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Axel Knoerig (CDU):
Rede ID: ID1817318200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es
gibt zwei wesentliche Faktoren bei dem Thema Fach-
kräftesicherung . Das ist zum einen die Digitalisierung .
Sie birgt für die Wirtschaft, für die Arbeit große Wachs-
tumspotenziale . Es reicht aber nicht, nur allein auf Inno-
vation und Forschung zu setzen . Im Mittelpunkt unserer
Unionspolitik steht der Mensch und nicht die Technik .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg . Josip Juratovic [SPD])


Das Wissen unserer Fachkräfte ist eigentlich der Roh-
stoff für Innovationen von morgen . Darauf muss sich die
Personalpolitik der Unternehmen entsprechend einstel-
len . Wir müssen den Arbeitnehmern Perspektiven geben,
die neuen Technologien als Chance zu begreifen .

Der zweite wichtige Faktor in diesem Zusammenhang
ist der demografische Wandel. Schon in den nächsten
15 Jahren wird die Zahl der Erwerbstätigen um 5 bis
6 Millionen Menschen sinken . Das Institut für Arbeits-
markt- und Berufsforschung sieht sogar einen Rück-
gang um eine halbe Million pro Jahr bis 2035 . Das sind
alarmierende Zahlen .

Der vorliegende Antrag macht deutlich, dass das Bun-
desministerium für Wirtschaft und Energie eigene Instru-
mente zur Fachkräftesicherung entwickelt hat . Deswe-
gen ist dieser Antrag hier gerechtfertigt . Das grenzt ihn
auch von den sozial-, bildungs- und familienpolitischen
Zielsetzungen ab .

Über die Mitberatung dieser Ressorts sind alle Quer-
schnittsaufgaben zur Fachkräfterekrutierung enthalten .
Ich möchte meinen Dank für die konstruktive Zusam-
menarbeit in den Arbeitsgruppen von SPD und CDU/
CSU hier noch einmal deutlich formulieren . Insbesonde-
re gilt der Dank meiner Kollegin Lena Strothmann und
meinem Kollegen Herrn Dr . Hans-Joachim Schabedoth
von der SPD .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben zurzeit noch keinen flächendeckenden
Fachkräftemangel, aber es gibt sehr wohl regionale
Engpässe . Diese sind vor allem im Süden und im Os-
ten unseres Landes erkennbar . Dazu haben wir mit dem
Bundeswirtschaftsministerium eine Studie in Auftrag ge-
geben . Diese wurde vom Kompetenzzentrum für Fach-
kräftesicherung konzipiert . Zum Jahresanfang 2016 sind
685 Berufe untersucht worden . Es gibt bereits in 148 Be-
rufen Engpässe . Dazu zählen der Maschinenbau, die Me-
tall- und Elektronikbranche, Sanitär, Heizungs- und Kli-
matechnik sowie die Gesundheits- und die Pflegeberufe.

Artur Auernhammer






(A) (C)



(B) (D)


Sowohl der demografische als auch der digitale Wan-
del fordern ein Umdenken bei der Fachkräfterekrutie-
rung . Wir müssen uns fragen: Was kann ein Unterneh-
men tun, um einen Arbeitnehmer über Jahre, Jahrzehnte
oder gar bis zur Rente an sich zu binden? Auch dazu hat
das Bundeswirtschaftsministerium eine Studie in Auftrag
gegeben . Diese wurde vom Institut der deutschen Wirt-
schaft in Köln in 2015 durchgeführt und trägt den Titel
„Lebensphasenorientierte Personalpolitik“ . Das ist eine
ganzheitlich ausgerichtete Personalpolitik . Sie reicht von
der Anwerbung über Weiterbildungsangebote bis hin zu
Strategien zur langfristigen Bindung von Beschäftigten .
Da diese Personalpolitik demografiefester ist, können
Fachkräfte erfolgreich im Unternehmen gebunden wer-
den .

Um das zu erreichen, sind die betrieblichen Anfor-
derungen mit den Bedürfnissen der Beschäftigten in
Einklang zu bringen . Hier sind vor allen Dingen die Le-
bensphasen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
wie Elternschaft, Ehrenamt, Familienpflegezeit oder
auch Krankheit und deren Folgen hinzuzunehmen . Ana-
log dazu gibt es die Berufsphasen wie Einstieg, Orientie-
rung, Reife, Führung und Ausstieg aus dem Beruf . Diese
kreuzen sich miteinander und stellen auch unterschied-
liche Ansprüche an die Arbeitszeiten . Unternehmen
sollten flexibler Angebote wie Teilzeit und Heimarbeit
ermöglichen. Auch finanzielle Anreize wie betriebliche
Altersvorsorge oder variable Gehaltsbestandteile sind in
eine solche Personalpolitik einzubeziehen .

Wenn man diese Ansätze zusammenführt, dann kann
man sehr wohl von einer lebensphasenorientierten Perso-
nalpolitik sprechen . Doch wenn wir in die Betriebe hin-
einschauen, dann stellen wir fest, dass diese Politik erst
von 8 Prozent der Unternehmen praktiziert wird . Meine
Damen und Herren, man kann schlichtweg sagen: Hier
besteht dringender Aufholbedarf . Obwohl ich einen sehr
ländlichen, kleinstädtisch strukturierten Wahlkreis mit
sehr vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen
mit 20 bis 50 Arbeitnehmern habe, höre ich von immer
mehr Unternehmern: „Ich brauche einen Personaler, der
sich um die Arbeitnehmer kümmert“, sodass man wirk-
lich von einer lebensphasenorientierten Personalpolitik
sprechen darf .

Geschäftsführungen und Personalabteilungen müssen
also viel weiter denken und sich darüber im Klaren sein,
dass die Bindung von Fachkräften langfristig zu einem
Wettbewerbs-, wenn nicht sogar zu einem Standortfak-
tor für das Unternehmen wird . Der wirtschaftliche Er-
folg baut also immer mehr auf den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern auf . Deswegen habe ich hier und heute die
lebensphasenorientierte Personalpolitik als solche in den
Mittelpunkt meiner Rede gestellt .

Es ist gut, sich um die Arbeitnehmer nicht nur im Hin-
blick auf Technologie, Innovation und Lerninhalte zu
kümmern . Vielmehr sollte man auch in den Blick neh-
men, wie sich ein Arbeitnehmer in der Bildungsphase
entwickelt, also von der Ausbildung bis hin zum Studi-
um, und was er in den einzelnen Lebensphasen – auch in
der Elternzeit und selbst dann, wenn er ehrenamtlich tätig
ist – leistet . Dies muss dann vernünftig zusammengefügt

werden . Man muss den Arbeitnehmer im Rahmen einer
vernünftigen Personalpolitik ganzheitlich betrachten .

Danke schön .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817318300

Vielen Dank . – Das Wort hat jetzt Sabine Zimmermann,

Fraktion Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817318400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wie immer, wenn es sich um dieses Thema
dreht, haben Forschung und Wissenschaft – zumindest
außerhalb der arbeitgebernahen Institute – eine ziemlich
einheitliche Meinung . Ich zitiere einmal aus dem aktuel-
len Bericht der Bundesagentur für Arbeit:

Aktuell zeigt sich nach der Analyse der Bundes-
agentur für Arbeit kein flächendeckender Fachkräf-
temangel in Deutschland .

Dass überhaupt über einen Fachkräftemangel gespro-
chen wird, führt die Bundesagentur für Arbeit auf den
Beschäftigungszuwachs zurück . So ist das eben: Wenn
die Beschäftigung zunimmt, heißt das, dass die Nachfra-
ge nach Arbeitskräften steigt . Da fühlt sich die Bundesre-
gierung anscheinend berufen, die Unternehmen vor den
Gesetzen des freien Marktes zu schützen . Denn bekann-
termaßen steigt mit der Nachfrage auch der Preis für die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer . Die Linke sagt:
Das ist gut so .


(Beifall bei der LINKEN)


Nach Untersuchungen der Bundesagentur für Arbeit
gibt es einen Fachkräftemangel im Wesentlichen in ein-
zelnen technischen Berufsfeldern sowie im Pflege- und
Gesundheitsbereich. Der Pflege- und Gesundheitsbereich
ist ein Musterbeispiel dafür, warum die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter dort ständig wechseln . Die Arbeitsbelas-
tung ist enorm, die Arbeitszeiten sind familienfeindlich
und gesundheitsschädigend, und die Entlohnung ist völ-
lig unangemessen niedrig .


(Dr . Thomas Feist [CDU/CSU]: Arbeit ist sowieso ganz schlimm!)


Der Pflegenotstand ist hausgemacht. Vor allen Dingen
aufgrund der Unterfinanzierung des Gesundheitssystems,
die Sie verschärft haben, wird er sich für die Beschäftig-
ten in Zukunft verschärfen . Das, meine Damen und Her-
ren, war bis jetzt Ihre Politik .

In den technischen Berufen – im Maschinenbau und
bei den Metall-, Sanitär- und Klempnerberufen – haben
wir einen sogenannten Fachkräfteengpass; das sind die
klassischen Ausbildungsbranchen . Aber der Anteil der
Betriebe, der ausbildet, liegt bei gerade mal 20 Prozent .
Nur jeder fünfte Betrieb bildet den Nachwuchs aus . Den
Unternehmen, die nun einen Fachkräftemangel fürchten,
kann man da eigentlich nur raten: Wer Fachkräfte will,

Axel Knoerig






(A) (C)



(B) (D)


muss Fachkräfte ausbilden und sie ordentlich bezahlen .
So einfach ist das .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dabei könnten wir sie politisch unterstützen, zum
Beispiel durch eine Ausbildungsplatzumlage . Wer nicht
ausbildet, zahlt ein; wer ausbildet, bekommt Unterstüt-
zung . Gerade kleineren Betrieben würden wir helfen,
wenn wir die Ausbildungsverbünde, die ja lange Zeit ge-
fördert worden sind, wieder stärker fördern würden . Über
die Ausbildungsplatzumlage reden wir in diesem Haus
eigentlich schon seit Jahrzehnten .

Einmal abgesehen davon, dass die Lobesarien, die im
Antrag für Maßnahmen der Wirtschaft gesungen werden,
die in deren ureigenem Interesse liegen, in unseren Au-
gen ebenso überflüssig sind wie Ihr fast schon peinliches
Selbstlob, könnten wir Linke viele Punkte unterschrei-
ben . Um hier nur einmal einige zu nennen: die Anreize
für die Erwerbstätigkeit von Frauen, die bessere Ver-
einbarkeit von Familie, Pflege und Beruf, die Nutzung
der Potenziale von Migrantinnen und Migranten und die
Integrations- und Qualifizierungsinitiative für Langzei-
terwerbslose . Was die Linke natürlich besonders freut,
ist die Integration von Menschen mit Behinderung auf
dem ersten Arbeitsmarkt . Ja, das alles könnten wir un-
terschreiben .

Leider stützen Sie aber seit Jahren eine Politik, die auf
das Gegenteil Ihrer Forderungen hinausläuft . Das wissen
die Antragsteller natürlich nur zu genau; denn sie fordern
in ihrem Antrag selbst, dass diese Forderungen im Rah-
men der verfügbaren Haushaltsmittel umgesetzt werden
sollen . Es soll also nicht mehr Geld geben . Schwupp!
Und schon sind die ganzen Träume in Bezug auf die
32 Punkte in Ihrem Antrag ausgeträumt .

Schauen wir uns einmal die Forderungen für die Lang-
zeiterwerbslosen an . Zum Beispiel wollen Sie die Wei-
terbildung für Langzeiterwerbslose stärken . Ja, klar; da
machen wir mit . Aber was haben Sie denn in den letz-
ten Jahren getan? Sie haben doch die Mittel in diesem
Bereich massiv gekürzt . Jetzt wollen Sie die Aktivitäten
wieder ausweiten – im Rahmen der verfügbaren Haus-
haltsmittel . Wie soll das denn gehen?

Zusammengefasst: Die Worte hör ich wohl, die Worte
hör ich auch gern, allein mir fehlt der Glaube .


(Dr . Thomas Feist [CDU/CSU]: Die Linke hat mit dem Glauben immer Schwierigkeiten gehabt!)


Die Linke wird natürlich weiterhin kritisch hinterfragen,
wie Sie Ihre 32 Forderungen in Ihrem schönen Antrag
denn umsetzen wollen .

Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Für einen solchen
Schaufensterantrag steht die Linke nicht zur Verfügung .

Danke schön .


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817318500

Vielen Dank . – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der

Kollege Dr . Hans-Joachim Schabedoth .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD):
Rede ID: ID1817318600

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Der deutschen Wirtschaft geht es doch eigent-
lich gut . Das BIP wächst, die Arbeitslosigkeit wird wei-
ter sinken, die Einkommen steigen . Das ist allerdings nur
möglich, weil es in Deutschland ein wunderbar funktio-
nierendes System der Fachkräfteausbildung gibt . Dafür
bewundert man uns weltweit – mit Recht .

Aber auch was schon gut ist, muss ständig an neue
Herausforderungen angepasst werden – nicht zuletzt in
unserer Gesellschaft des demografischen Wandels. Wir
haben das im vorliegenden Antrag ausführlich darge-
stellt . Ich will deshalb nur einzelne Aspekte hervorheben .

Zum Beispiel muss die Facharbeiterausbildung in
Konkurrenz mit der akademischen Bildung immer wie-
der neu profiliert werden. Es gibt in Deutschland rund
2,8 Millionen Studierende, Tendenz steigend, während
die Zahl der Auszubildenden stetig sinkt . Derzeit sind
1,4 Millionen junge Menschen in Ausbildung . Es müss-
ten erheblich mehr sein .

Etwa 50 000 Stellen sind derzeit unbesetzt . Viele wis-
sen gar nicht, dass man unter 330 Ausbildungsberufen
wählen könnte . So verwundert es uns nicht, dass viele
Ausbildungsgänge unbekannt bleiben .

Zudem weichen viele Menschen lieber auf eine akade-
mische Ausbildung aus . Es gibt über 18 000 Studiengän-
ge . Wir freuen uns über jeden Studienabschluss; verste-
hen Sie mich bitte nicht falsch . Aber ohne die Basis von
Facharbeit würden wir als Industrieland an Bedeutung
verlieren .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Viele Menschen, die das berühmte IMM studiert ha-
ben, also „Irgendwas mit Medien“, wären vielleicht als
Mechatroniker oder als Schreinerin glücklicher . Mehr
Geld verdienen könnten sie damit, glaube ich, allemal .
Viel zu sorglos sind wir lange davon ausgegangen, in
der Berufswelt stünden Nachwuchskräfte immer ausrei-
chend zur Verfügung . Doch sie sind nie auf den Bäumen
gewachsen . Jetzt mehren sich die Engpassfälle, wo der
Nachwuchs mit der Lupe gesucht wird .

Wir können heute eine ganze Menge dafür tun – das
haben wir ja aufgeschrieben –, damit die Kluft zwischen
Angebot und Nachfrage geschlossen oder zumindest
nicht größer wird . Vielleicht ist es schlichtweg auch nicht
lukrativ genug, zum Beispiel als Metzger oder als Bäcker
zu arbeiten . Aber da stellt sich doch die Frage: Müsste
unattraktivere Arbeit nicht deutlich besser bezahlt wer-
den, auch schon während der Ausbildung?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Es darf auch nicht unerwähnt bleiben, dass Frauen
nach wie vor erheblich weniger verdienen als Männer .

Sabine Zimmermann (Zwickau)







(A) (C)



(B) (D)


Die bestausgebildeten Frauen aller Zeiten und auch viele
Männer fehlen dem Arbeitsmarkt, weil wir ihre Probleme
mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf noch nicht
lösen konnten .


(Beifall bei der SPD)


Selbstverständlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, ha-
ben alle Frauen einen legitimen Anspruch, auch an den
von Männern präferierten Segmenten der Arbeitswelt
teilzuhaben .

Frauen sind nicht der Rest, sondern leider vielfach
gegen ihren eigenen Wunsch die noch unterbeschäftig-
te Hälfte der Gesellschaft . Das kann man ändern . Auf
Arbeitsfeldern, in denen heute überwiegend Frauen be-
schäftigt sind, wird im Übrigen am schlechtesten ent-
lohnt . Auch das ist kein Naturgesetz, sondern das hat
schon etwas Männerbündisches . Das darf so nicht blei-
ben .


(Beifall des Abg . Dr . Wolfgang StrengmannKuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es ist doch irre, dass der Dienst am Menschen schlechter
bezahlt wird als der Dienst am Auto .

Auch junge Menschen, die sich vielleicht nur für die
Dauer ihres Flüchtlingsstatus bei uns aufhalten, müs-
sen wir jetzt ausbilden, und zwar so gut und so schnell
es geht. Davon profitieren wir alle; mein Kollege Josip
Juratovic wird Ihnen das noch ausführlicher erklären .
Heutige Versäumnisse bei der Ausbildung von Flüchtlin-
gen würden sich bitter rächen . Das ist die eine Seite . Die
andere Seite ist es, im Ausland gezielt um Fachkräfte zu
werben . Kluges Einwanderungsmanagement gehört des-
halb zur Palette aller Maßnahmen, mit denen wir dem
Fachkräftemangel vorbeugen . Das wäre moderne Politik .

Während viele Industrieländer eine Einladung an die
Fähigsten aussprechen, machen wir was genau? Das
morgen zu diskutierende Integrationsgesetz ist ein erster
Schritt; denn es nutzt die Potenziale derer, die schon da
sind und die wir glücklicherweise schon haben . Es gibt
viele Menschen mit einer Behinderung, die nur durch ge-
zielte und begleitete Maßnahmen einen willkommenen
Platz in der Berufswelt finden können. Das sollten wir
fortan systematischer berücksichtigen .

Wir brauchen auch eine Perspektive für Studienabbre-
cher und die Unterstützung für die allzu vielen, die ihre
Ausbildung ohne Abschluss beenden . Es ist und bleibt
eine Lüge, Kolleginnen und Kollegen, dass Hans nicht
mehr lernen könnte, was Hänschen versäumt hat . Auch in
der beruflichen Ausbildung darf es nie ein Zu-spät geben.
Lassen Sie uns jetzt die vielen, die heute resigniert haben
oder sich als Langzeitarbeitslose ausgegrenzt fühlen, er-
mutigen, die Fachkräfte von morgen zu werden .


(Beifall bei der SPD)


Eine solide Ausbildung ist niemals eine Sackgasse, son-
dern die Startrampe für ein gelingendes Leben .

Unser Antrag zeigt auf, was bereits passiert, aber
es muss auch noch viel getan werden . Haben wir viel-
leicht etwas vergessen? Frau Kollegin, reichen Ihnen die
32 Punkte nicht? Das mag sein, ja. Das Qualifizieren von

Fachkräften ist eine Dauerbaustelle . Was wir jetzt ange-
hen wollen und müssen, um unser Fachkräftepotenzial zu
mehren und besser auszuschöpfen, haben wir in vielen
Gesprächen ermittelt und aufgezeigt .

Danke an alle, die daran mitgewirkt haben, vor allen
Dingen auch an Sie, Herr Knoerig, aber auch an viele
Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Arbeitskrei-
sen . Jetzt muss es getan werden . Danke an alle, die dabei
mithelfen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817318700

Vielen Dank . – Als Nächster spricht der Kollege

Dieter Janecek, Bündnis 90/Die Grünen .


Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1817318800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr

Knoerig! Herr Schabedoth, es ist löblich, dass Sie die
32 Maßnahmen, die wir derzeit haben, in Ihrem Antrag
auflisten und damit etwas beschreiben, das bereits statt-
findet. Das kann man nicht kritisieren. Es ist sinnvoll,
aber das ergibt noch keine Gesamtstrategie .

Sie haben zum Beispiel das Thema Integration und
Einwanderungsgesetz angesprochen . Wir haben das
Jahr 2016 . Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass wir uns
gezielt um Einwanderung und um die Integration von
Ausländern in den Arbeitsmarkt kümmern müssen, und
jetzt diskutieren wir erst darüber, ob wir vielleicht im
nächsten Jahr ein Einwanderungsgesetz bekommen . Das
zeigt doch die ganze Misere, dass wir bei den Grundlini-
en eben nicht vorankommen, was die Fachkräfte angeht;
dort sind wir im Hintertreffen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir können das fortsetzen, zum Beispiel beim Thema
Frauenförderung . Sie haben in Ihrem Antrag die vorhan-
denen Maßnahmen genannt . Auch die Linke hat es ange-
sprochen. Wir haben an dieser Stelle ein Defizit, aber die
Bundesregierung gibt auch die falschen Signale .

Sie haben das Betreuungsgeld ermöglicht . Gestern hat
die Bayerische Staatsregierung das erneut beschlossen .
Das Geld dafür fließt aus dem Bundeshaushalt. Das sind
doch keine Signale, um mehr Frauen in den Arbeitsmarkt
zu bringen . Das sind Signale dafür, dass Frauen zu Hause
bleiben sollen . Also auch das ist von der großen Linie her
nicht der richtige Ansatz .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Der nächste Punkt: Sie schreiben in Ihrem Antrag: Äl-
tere Erwerbspersonen müssen länger in das Arbeitsleben
eingebunden werden . Auch das begrüßen wir . Die skan-
dinavischen Modelle zeigen, was damit möglich ist .

Aber was haben Sie gemacht? Sie haben die Rente mit
63 eingeführt . Auch das ist ein Signal, zu dem ich nicht

Dr. Hans-Joachim Schabedoth






(A) (C)



(B) (D)


sagen kann: Das ist konsistent . Sie haben 32 Einzelmaß-
nahmen, aber die großen Linien funktionieren eben nicht .


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe als bayerischer Abgeordneter der Grünen,
auch wenn es uns noch nicht gelungen ist, alle Wahlkrei-
se in Bayern zu erobern, die Ehre, nicht nur München
als dynamische bayerische Hochleistungsregion zu ver-
treten, sondern auch die ländliche Oberpfalz und Unter-
franken . Die Frage, ob es einen Fachkräftemangel gibt,
ist sehr unterschiedlich zu beantworten . Per se kann man
nicht sagen, dass es einen Fachkräftemangel gibt, schon
gar nicht in Bayern, aber vielleicht in Teilen Ostdeutsch-
lands .

Aber es gibt natürlich Herausforderungen . Die He-
rausforderung, eine Erzieherin in München zu halten, ist
bei den Mietpreisen, die man dort zu bezahlen hat, eine
andere Herausforderung, als sich in der Oberpfalz um
eine Industrieregion zu kümmern, die dringend Ansied-
lungen sucht, oder in Unterfranken die Weiterentwick-
lung der Industrie vor Ort zum Beispiel mit erneuerbaren
Energien zu gewährleisten .

Um diese Rahmenbedingungen muss man sich küm-
mern . Denn wenn man zum Beispiel beim DIHK nach-
fragt, dann erfährt man, dass Unternehmer sagen – das
zeigt sich auch immer wieder, wenn man Unternehmen
vor Ort besucht –: Wir können freie Stellen nicht beset-
zen .

Das wird sich bei Nachfragen bestätigen . Auch das
Mittelstandsbarometer zeigt das: 62 Prozent der Betriebe
können freie Stellen nicht besetzen . Man muss hinter-
fragen, woran genau das liegt . Liegt es daran, dass kein
qualifiziertes Personal vorhanden ist, oder liegt es viel-
leicht auch daran – Sie sagen es –, dass die Bezahlung
zum Teil nicht stimmt? Vielleicht liegt es daran, dass wir
im Bereich der Löhne das Problem haben, dass sich die
Menschen in die Zentren orientieren, wo entsprechen-
de Löhne gezahlt werden, und wenn zu wenig gezahlt
wird und der Wettbewerb so hart ist, dass die Löhne nicht
hoch genug sind, dann gehen sie nicht dorthin . Auch das
gehört zur Situation: Wenn man den Fachkräftemangel
beseitigen will, dann muss man gerechte Löhne in einer
gerechten Industrie und einem gerechten Mittelstand
schaffen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Dann komme ich zu dem Thema, das uns sehr lange
bewegt hat, nämlich die Integration der Flüchtlinge . Ich
gehöre nicht zu denen, die der Meinung sind, dass der
Zuzug von Flüchtlingen – der ja nicht erfolgt ist, weil
diese Menschen aus wirtschaftlichen Gründen kommen
wollten, sondern weil sie aufgrund von Krieg und Ver-
treibung kommen mussten – die wirtschaftliche Chance
per se ist . Das halte ich für überhöht . Aber Sie müssen
darüber nachdenken, dass wir heute mit Sprachkursen
und Angeboten in diese Menschen investieren müssen,
damit sich morgen etwas daraus ergibt . Das geht; denn
die Menschen, die hierhergekommen sind, wollen etwas
tun . Denen müssen wir etwas geben, und auf einem Ar-

beitsmarkt wie unserem mit einer Rekordbeschäftigung
von 43,4 Millionen sozialversicherungspflichtig Be-
schäftigten gibt es die Chancen .

Wir können das schaffen . Lassen Sie uns in die Zu-
kunft denken und vielleicht einmal den Blick darauf
richten, wie andere Länder, beispielsweise die USA, ihr
Wachstum über die Jahrzehnte geschaffen haben . Durch-
aus auch mit Einwanderung und Zuwanderung, leider
aber in dem Fall – damit sind wir wieder bei sozialen
Gesichtspunkten – wieder nur in den unteren Lohnberei-
chen . Das ist nämlich genau der Punkt .

Wir brauchen stabile Löhne, ein gutes Umfeld für die
Wirtschaft und eine offene Volkswirtschaft statt der Si-
gnale, die in den letzten Wochen und Monaten gegeben
wurden: geschlossene Grenzen bis hin zu den wirklich
schlimmen Beleidigungen eines Nationalspielers . Das
schafft ein Klima im Land, das uns allen nicht dienen
wird .

Deswegen bitte ich Sie einfach, eine offene, vielfältige
Volkswirtschaft zu schaffen – das ist auch eine Voraus-
setzung dafür, dass wir gute Fachkräfte haben werden –,
Frauenförderung zu machen, die Flüchtlinge zu integrie-
ren und einfach darauf zu schauen, dass wir bei den Löh-
nen auch stabil sind, damit die Menschen ein Auskom-
men haben . Dann kommt das alles zusammen, und dann
werden wir das auch schaffen .

Vielen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817318900

Vielen Dank . – Das Wort hat jetzt Jana Schimke,

CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Jana Schimke (CDU):
Rede ID: ID1817319000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Indus-

trie 4 .0, Arbeit 4 .0 oder die Digitalisierung der Arbeits-
welt, der digitale Wandel der Arbeitswelt, das alles ist
nicht nur politisch, sondern auch öffentlich in aller Mun-
de . Sowohl die Tages- als auch die Fachpresse widmen
sich regelmäßig diesen Themen . Studien und Untersu-
chungen werden bemüht, um den technischen Wandel
und dessen Auswirkungen auf die Arbeitswelt zu prog-
nostizieren .

Bei den Experten aber ist man sich uneinig darüber,
was das für einzelne Berufsfelder bedeutet . Weitestge-
hend einig ist man sich in der Wissenschaft nur darüber,
dass die Digitalisierung ganz neue Anforderungen an Ar-
beitnehmer stellen wird und Qualifikation immer wich-
tiger wird .

Fachkräfte sind also ein entscheidender Fakt, wenn es
um die erfolgreiche Umsetzung der Digitalisierung in der
Arbeitswelt geht . Deshalb kann es uns auch nicht egal
sein, wie sich die Fachkräftesituation in den Betrieben
darstellt . Unser wirtschaftlicher Erfolg basiert auf guten
Ideen und klugen Köpfen .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dieter Janecek






(A) (C)



(B) (D)


Zwar ist der Fachkräftemangel noch keine flächen-
deckende Erscheinung, doch er tritt schon seit längerer
Zeit in bestimmten Branchen und Berufen, aber auch in
Regionen auf . Beispielsweise bei den MINT-Berufen lag
die Arbeitskräftelücke im April dieses Jahres schon bei
knapp unter 172 000 Personen . Wenn ich eben gesagt
habe, dass sich das inzwischen auch in verschiedenen
Regionen abbildet, so muss man leider sagen, dass es
Unternehmen in Deutschland gibt – mitunter auch sehr
große Unternehmen –, die sehr, sehr große Schwierigkei-
ten haben, qualifizierte Fachkräfte zu ihrem Stammsitz
zu bekommen und für eine Beschäftigung im Unterneh-
men zu gewinnen .

Diese Regionen sind nicht nur in weit entfernten länd-
lichen Räumen zu finden oder in Ostdeutschland ganz
allgemein, sondern das fängt manchmal schon hinter
der Berliner Stadtgrenze an . Mein Wahlkreis reicht vom
Spreewald bis an die Berliner Stadtgrenze, und mir be-
richten mitunter sogar Unternehmen, die in relativ Ber-
lin-nahen Regionen ihren Sitz haben, wie schwierig es
ist, mit den Konzernen, die auf Berliner Stadtgebiet ihren
Sitz haben, zu konkurrieren .

Fest steht, dass wir es den Unternehmen aber auch
nicht abnehmen können, attraktiv für Fachkräfte zu sein .
Hier ist die Eigeninitiative der Betriebe gefragt . Fest
steht aber auch, dass größere Unternehmen bei der Fach-
kräftegewinnung mitunter andere Möglichkeiten haben
als kleine und mittelständische Betriebe . Unsere Aufgabe
ist es deshalb, dieses Engagement mit klugen Initiativen,
Gesetzen und Fördermöglichkeiten zu unterstützen . Die-
sem Ziel, meine Damen und Herren, tragen wir mit dem
vorliegenden Antrag Rechnung .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In diesem Antrag wird deutlich, wie viele Politikfelder
von der klassischen Wirtschaftspolitik über die Sozialpo-
litik bis hin zur Bildungspolitik und sogar zur Asylpolitik
inzwischen in diesem Themengebiet involviert sind . Ein
ganz entscheidendes Ziel dieses Antrags ist die Stärkung
der dualen Berufsausbildung . Wir müssen deshalb alles
daransetzen, der dualen Berufsausbildung dieselbe Wert-
schätzung zukommen zu lassen wie anderen Bildungs-
wegen .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ich erlebe in meinem Wahlkreis tagtäglich, wie Hand-
werksbetriebe um ihre Existenz kämpfen, weil der Nach-
wuchs und mitunter auch die Unternehmensnachfolge
fehlen . Stattdessen gibt es einen Run der jungen Men-
schen auf die Universitäten . Dabei werden wir weltweit
um unsere gute berufliche Ausbildung beneidet. Auch die
mehr als 350 Ausbildungsberufe, die es in Deutschland
gibt, haben sich verändert . Auch dank der Digitalisierung
haben sie sich mitunter zu hochkomplexen technologi-
schen und perspektivenreichen Aufgabengebieten ent-
wickelt . Das müssen wir den Schülerinnen und Schülern
verdeutlichen, meine Damen und Herren .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Weiterhin ist es richtig, dass wir bereits frühzeitig auf
digitale Bildungsangebote setzen . Dafür braucht es einen
ganzheitlichen Ansatz: von der Kita bis zur beruflichen
Bildung. Das setzt entsprechende Qualifikationsangebote
für die Lehrenden sowie natürlich auch eine gute techni-
sche Ausstattung voraus . Schaffen wir das, wird uns der
digitale Wandel in der Arbeitswelt gut gelingen . Hierbei
kann man an bereits bestehende Initiativen – zum Bei-
spiel an die Initiative „erlebe IT“ – anknüpfen, die sich
insbesondere mit der Stärkung der Medienkompetenz
der Schülerinnen und Schüler, aber auch mit Themen
wie „Sicherheit im Internet“ und „Datenschutz“ befas-
sen . Der Bundesverband BITKOM bietet diese Initiative
an . Sie ist kostenfrei . Es wurde allen Abgeordneten an-
geboten, an den Schulen im Wahlkreis mit dieser Initia-
tive zu werben . Ich habe das gemacht . Ich war erstaunt .
Ich wurde von der Nachfrage und der großen Resonanz
in meinem Wahlkreis förmlich überrannt . Viele Schulen
haben sich daran beteiligt, und ich weiß auch, dass diese
Initiative deutschlandweit großen Anklang gefunden hat .

Nicht nur Schüler werden durch diese Initiative so-
zusagen fortgebildet, sondern auch Lehrer und Eltern .
Wir alle wissen, dass wir auf die Bildungspolitik der
Länder nur wenig Einfluss haben; denn wir sitzen ja hier
im Deutschen Bundestag . Aber ich bin sehr dankbar für
solche Initiativen vonseiten der Wirtschaft und der Ver-
bände, weil sie uns die Möglichkeit geben, ein Stück weit
Fehlentwicklungen in der Bildungspolitik auf Landese-
bene zu korrigieren und auch ein Stück weit auf die Lan-
desbildungspolitik einzuwirken .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Schließlich liegt mir auch die Stärkung der Berufsori-
entierung am Herzen . Zu oft sitzen mir Schüler im Alter
von 14 bis 18 Jahren gegenüber ohne jedwede Vorstel-
lung über ihre berufliche Zukunft. Zu oft habe ich ge-
hört, dass beispielsweise eine Friseurin lieber Tischlerin
geworden wäre, wenn der Vater es erlaubt hätte, oder
eine junge Frau, die ihren Alltag mit Gelegenheitsjobs
bestreitet, lieber Kfz-Mechatronikerin geworden wäre,
ihr dafür aber der Mut fehlte . Ähnliche Beispiele gibt es
selbstverständlich auch bei den Männern .

Es kommt also darauf an, gerade im Bereich der Be-
rufsorientierung über den Tellerrand hinauszuschauen
und den jungen Menschen in unserem Land angesichts
der Vielzahl der Möglichkeiten, die das Leben heutzuta-
ge bietet, ein Stück weit einen Leitfaden an die Hand zu
geben . Ich bin sehr dankbar für die gute Arbeit, die die
Bundesagentur für Arbeit in diesem Bereich leistet, aber
vor allen Dingen auch unsere Wirtschaftsverbände, die
dabei mit interessanten und spritzigen Initiativen auf sich
aufmerksam machen .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Unsere Aufgabe, meine Damen und Herren, ist es,
beim jährlich stattfindenden Girls’ Day und Boys’ Day
bzw . beim Zukunftstag, wie auch immer man ihn nennen
mag, mitzuhelfen, mitzuwirken und für das zu werben,
worum es uns in der Bildungs- und insbesondere in der
Ausbildungspolitik im weitesten Sinne geht .

Jana Schimke






(A) (C)



(B) (D)


Das sind nur wenige Punkte aus unserem sehr umfas-
senden Antrag, die ich soeben nannte . Sie zeigen aber,
dass Bildung, Ausbildung, Weiterbildung und Integration
zentrale Zukunftsaufgaben für uns sind, um im globalen
Wettbewerb Schritt halten zu können .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1817319100

Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Josip Juratovic

von der SPD-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der SPD)



Josip Juratovic (SPD):
Rede ID: ID1817319200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Erlauben Sie mir zu Beginn, zu betonen: Ers-
tens . Es ist ein Fakt: Zur Fachkräftesicherung in unse-
rem Land gehört Einwanderung . Zweitens . Dabei dürfen
Menschen nicht gegeneinander ausgespielt werden .

Ich bin Integrationsbeauftragter meiner Fraktion . Für
uns ist es wichtig, in unserem Handeln die gesamte Ge-
sellschaft zu berücksichtigen . Deswegen heißt es bei uns
nicht: „Frau gegen Mann“, „Alt gegen Jung“, „Gesund
gegen Beeinträchtigt“, und eben auch nicht: „Migrant
gegen Deutschstämmig“ . Unsere Politik ist für alle Men-
schen da . Nur so kann der Zusammenhalt in unserer Ge-
sellschaft gesichert werden .

Ich freue mich darüber, dass es uns gelungen ist, in un-
serem Antrag die Vielschichtigkeit der Fachkräftesiche-
rung darzulegen . Er zeigt auf, welche Bedarfe es gibt und
welche Angebote unsere Politik macht . Mit der Vielfalt
der Programme zur Fachkräftesicherung zeigen wir, dass
wir bedarfsgerecht zuschneiden können . Und warum?
Jeder in unserem Land soll so gefördert und gefordert
werden, dass er seine Chancen optimal nutzen kann . Kol-
leginnen und Kollegen, was brauchen wir dazu?

Erstens . Wir müssen die Potenziale im Inland optimal
nutzen . Wir wollen alle unterstützen, die Vermittlungs-
hindernisse haben . Wir wollen uns um sie kümmern, ob
deutschstämmig oder Migrant, ob ein Langzeitarbeitslo-
ser gut Deutsch spricht oder nicht . Jedes Programm zur
Heranführung an den Arbeitsmarkt ist gut für diese Men-
schen und für unser Land .

Zweitens . Viele Menschen sind aus humanitären Grün-
den nach Deutschland gekommen . Wir müssen möglichst
viele für unseren Arbeitsmarkt gewinnen . Gerade den
Geflüchteten stehen viele Hürden im Weg. Dabei ist es
mir wichtig: Wir brauchen keine Angst vor Niedrigqua-
lifikation zu haben. Ich als ehemaliger Fließbandarbeiter
und nun als Abgeordneter im Deutschen Bundestag bin
nicht als Fachkraft in unser Land gekommen . Ich bin hier
zur Fachkraft geworden, nicht zuletzt dank der optimalen
Bedingungen, die mir unser Land geboten hat .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg . Dieter Janecek [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Deshalb ist es uns wichtig, dass wir Qualifikation fördern,
zum Beispiel ganz aktuell durch Rechtssicherheit wäh-
rend der Ausbildung oder durch die Bereitstellung von
100 000 Arbeitsgelegenheiten für Geflüchtete. Gleich-
zeitig vereinfachen wir die Anerkennungsverfahren zum
Beispiel mit dem deutschen IQ-Netzwerk . Kolleginnen
und Kollegen, es wird sich lohnen, Neuankömmlingen
eine Chance auf Arbeit zu geben; denn der Arbeitsplatz
ist der beste Ort zur Integration .


(Beifall des Abg . Dr . Hans-Joachim Schabedoth [SPD])


Drittens . Trotzdem wird die bisherige Zuwanderung
nicht reichen, um den Fachkräftebedarf langfristig opti-
mal zu decken . Wir brauchen Einwanderung, wenn wir
unsere alternde Gesellschaft für die Zukunft absichern
wollen . Doch Wirtschaft und Gesellschaft verlangen für
die Einwanderung Planbarkeit . Um diesen gesellschaft-
lichen Prozess planen und steuern zu können, brauchen
wir ein Einwanderungsgesetz . Dazu gehört auch, im
Ausland für den deutschen Arbeitsmarkt zu werben, vor
allem in Ländern mit besonders hohem Migrationsdruck .

Ein gutes Beispiel ist der Westbalkan . Seit Novem-
ber 2015 dürfen Menschen aus dem Westbalkan in
Deutschland arbeiten, wenn sie einen Vertrag über ei-
nen Arbeitsplatz mit fairer Bezahlung nachweisen und
die Vorrangprüfung bestehen . Seitdem gewinnen wir
Menschen, die der deutsche Arbeitsmarkt offensichtlich
braucht; gleichzeitig sinkt die Zahl von Asylbewerbern
aus diesen Ländern .

Kolleginnen und Kollegen, in letzter Zeit ist die Fach-
kraftgewinnung auf dem europäischen Binnenmarkt lei-
der aus dem Blickwinkel geraten . Europas Arbeiter sind
mobil . Sie sollen es zu fairen Bedingungen sein . Die Pro-
jekte MobiPro und „Faire Mobilität“ gehen zum Beispiel
Hand in Hand, wenn es darum geht, dass EU-Bürger in
Deutschland lernen und arbeiten können . Ausbildung in
Deutschland ist ein wichtiger Aspekt . Wenn wir Men-
schen schon zur Ausbildung nach Deutschland locken
können, werden sie unserem Land für lange Zeit als gute
Facharbeiter zur Verfügung stehen .

Als Fließbandarbeiter und Gewerkschafter appelliere
ich aber auch an die Redlichkeit unserer Unternehmen .
Mischkalkulationen, in denen Menschen gegeneinander
ausgespielt werden, dürfen nicht Bestandteil von Ge-
schäftsmodellen sein . Sie sind Betrug an der gesamtge-
sellschaftlichen Verantwortung . Es darf nicht sein, dass
Ältere nicht beschäftigt werden, weil man den Jüngeren
weniger bezahlen muss und sie obendrein noch leich-
ter mit Befristung knechten kann . Genauso wenig darf
es sein, dass Ausländer angeworben werden, weil sie in
ihrer Not bereit sind, an der unteren Grenze, die das Ar-
beitsrecht noch erlaubt, zu arbeiten, und somit Deutsche
gegen Ausländer ausgespielt werden .

Kolleginnen und Kollegen, Wettbewerb hat Grenzen,


(Beifall der Abg . Kathrin Vogler [DIE LINKE])


nicht nur entlang der Gesetze, sondern vor allem entlang
des Anstands und der Redlichkeit . Nur wenn es uns ge-
lingt, dass jeder und jede sein bzw . ihr Bestes gibt, nicht

Jana Schimke






(A) (C)



(B) (D)


nur für den eigenen Profit, sondern auch für das Gemein-
wohl, dann sind Frieden und gesellschaftlicher Zusam-
menhalt gesichert . Die Wirtschaft muss hier mit gutem
Beispiel vorangehen .

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1817319300

Vielen Dank . – Als letzter Redner hat Dr . Thomas

Feist von der CDU/CSU-Fraktion in dieser Debatte das
Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Thomas Feist (CDU):
Rede ID: ID1817319400

Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Meine lieben Kolle-

ginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren!
Ich freue mich, dass ich als Bildungspolitiker zu dieser
Debatte auch noch etwas beitragen darf; denn ohne Bil-
dung keine Fachkräfte . Darin sind wir uns ja einig .

Ich möchte auf der einen Seite etwas dazu sagen, was
wir tun müssen, um Fachkräften Qualifizierung, Per-
spektiven und Karrierechancen zu ermöglichen . Auf der
anderen Seite möchte ich etwas dazu sagen, wie wir den-
jenigen, die bisher keinen Berufs- oder Schulabschluss
haben, etwas an die Hand geben können; denn es geht
nicht nur darum, dass wir Fachkräfte brauchen, sondern
wir müssen auch Möglichkeiten eröffnen, damit sich
Leute in diesem Land für dieses Land engagieren und
das Gefühl bekommen, gebraucht zu werden . Auch das
ist eine wichtige Botschaft .

Ich möchte mit einem Punkt anfangen, der auch im
Antrag erwähnt worden ist und den ich für ganz zen-
tral halte . Es geht um Berufsorientierung, und zwar an
allen Schulformen für alle Schüler . Es ist schon gesagt
worden: Wir haben 330 Ausbildungsberufe . Einige da-
von kennt man, zum Beispiel den Klempner oder den
Zimmermann . Aber wenn ein junger Mensch – und da
schaue ich die jungen Leute an, die hier oben auf der
Zuschauertribüne sitzen – nach Hause kommt und sei-
nen Eltern sagt, er bzw . sie würde gerne Verfahrenstech-
niker werden, dann werden einen die Eltern erst einmal
komisch anschauen; denn es gibt einfach zu wenige In-
formationen darüber, welche Berufe es gibt und welche
Möglichkeiten es auch gibt, sich im Beruf fort- und wei-
terzubilden . 330 Ausbildungsberufe sind also schon eine
ganze Menge . Weiterhin gibt es – das haben wir auch
schon gehört – 18 000 grundständige Bachelorstudien-
gänge .

Mir geht es nun um Folgendes: Weil natürlich auch die
Eltern in die Entscheidung wesentlich mit eingebunden
sind, brauchen wir eine Berufs- und Studienorientierung
für alle Schüler . Dabei hat allerdings die akademische
Bildung in diesem Bereich einfach wegen des besseren
Marketings einen Vorteil; denn bei 18 000 Studiengängen
wird nicht gefragt: „Was studiert denn deine Tochter oder
dein Sohn?“, sondern da sagt man: „Die oder der macht
einen Bachelor .“ Das ist natürlich eine tolle Sache, aber
darunter kann sich überhaupt niemand etwas vorstellen .
Außerdem hat man, wenn man mit einem Bachelor eine

Hochschule verlässt, eigentlich eine Employability, also
eine Einstellungsfähigkeit, die sich zwar nicht gerade bei
null befindet, aber vergleichsweise gering ist.

Wichtig ist es deswegen, dass wir in einem zweiten
Schritt zwischen der akademischen und der beruflichen
Bildung Übergänge schaffen, sodass gesagt wird: Eine
berufliche Bildung ist ein guter Anfang. Dann kann man
auch denjenigen, die das Abitur haben, aber merken, dass
ihnen eine berufliche Bildung eigentlich viel besser liegt,
zeigen: Es geht nicht nur darum, einen guten Gesellenab-
schluss zu machen, sondern auch darum, dass man sich
spezialisiert und vielleicht ein Meisterstudium aufnimmt .
Wir haben in dieser Legislaturperiode ja dafür gesorgt,
dass die Förderbedingungen – ich will das jetzt hier nicht
noch einmal wiederholen – für das Meister-BAföG we-
sentlich besser geworden sind . Genau das sind die richti-
gen Signale, die wir aussenden . Und es ist wichtig, dass
wir diese Punkte – es gab ja Kritik daran – auch einmal
zusammenführen .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg . Dr . Hans-Joachim Schabedoth [SPD])


Dass wir das im Bereich des Wirtschaftsministeriums
zusammenführen, hängt auch damit zusammen, dass die
Allianz für Aus- und Weiterbildung auch im Wirtschafts-
ministerium angesiedelt ist . Natürlich kann es nicht ge-
lingen, Aus- und Weiterbildung allein im Wirtschaftsmi-
nisterium zu organisieren, sondern wir brauchen dabei
auch die Bereiche Arbeit und Soziales sowie natürlich
Bildung .

Ich möchte auch noch einmal kurz darstellen, warum
das so wichtig für diejenigen ist, die bisher keinen Be-
rufs- oder Schulabschluss haben . Es geht darum, dass
wir Netzwerke schaffen, in denen aus den verschiede-
nen Rechtskreisen – zum Beispiel des Sozialgesetzbu-
ches – Leistungen zusammengeführt werden . Ein ganz
wichtiges Mittel dafür ist zum Beispiel die Jugendbe-
rufsagentur, die den jungen Leuten, die die Schule ver-
lassen, passgenaue Angebote macht und dafür sorgt, dass
man sie nicht aus dem Blick verliert . Denn je länger man
mit einer Ausbildung wartet, umso schwerer wird es . Sie
haben gesagt, auch Hans kann das noch lernen; das ist
richtig . Aber es fällt ihm natürlich wesentlich schwerer .
Deswegen müssen wir dafür sorgen, dass wir möglichst
gute Übergänge von der Schule in den Beruf schaffen .

Es gehört auch dazu, dass wir denjenigen, die im über-
betrieblichen Bereich Bildungsangebote bereitstellen,
sagen: Wir brauchen Kriterien, die sich auf die Beruf-
lichkeit – das heißt auf die Anschlussfähigkeit von Be-
rufen – fokussieren . In den Arbeitsagenturen haben wir
jetzt natürlich Kriterien eingeführt, nach denen man die
Qualität und die Qualifikation derer, die solche Lehrgän-
ge anbieten, besser beurteilen kann . Wenn man sich aber
einmal die Ausschreibungspraxis anschaut, stellt man
fest, dass es sich so verhält: Wenn jemand ein beson-
ders günstiges Angebot macht, wird man dieses nehmen
müssen . Deswegen habe ich gestern auch in meinem Ge-
spräch mit der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische
Jugendsozialarbeit – sie hat im Verbund jahrzehntelang
viel gute Arbeit gemacht – gesagt: Wir sollten vor allem

Josip Juratovic






(A) (C)



(B) (D)


gemeinsam Verbünde mit den Unternehmen vor Ort – das
heißt auch mit den Kammern vor Ort – schaffen; denn je
praxisnäher solch eine Ausbildung für diejenigen von-
stattengeht, die eine zweite oder dritte Chance brauchen,
umso besser ist das für die jungen Menschen in unserem
Land und damit auch für die Fachkräfte .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1817319500

Ganz herzlichen Dank . – Damit schließe ich die De-

batte über diesen Tagesordnungspunkt, und wir kommen
zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/8614 mit dem
Titel „Das Fachkräftepotenzial ausschöpfen – Zukunfts-
chancen der deutschen Wirtschaft sichern“ . Wer stimmt
für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Damit ist dieser Antrag mit den Stimmen der Ko-
alition gegen die Stimmen der Opposition angenommen
worden .

Wir kommen zum nächsten Tagesordnungspunkt, zu
TOP 11:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Herbert Behrens, Sevim Dağdelen, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Anerkennung der sowjetischen Kriegsgefan-
genen als NS-Opfer

Drucksache 18/8422

Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre dazu
keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .

Wenn sich die Kolleginnen und Kollegen zügig auf
ihre Plätze begeben würden, könnten wir auch mit der
Debatte beginnen .

Ich eröffne die Aussprache . Als erster Redner in der
Debatte hat Jan Korte von der Fraktion Die Linke das
Wort .


(Beifall bei der LINKEN)



Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817319600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Fast genau vor 75 Jahren begann der Angriffs- und Ver-
nichtungskrieg Nazideutschlands gegen die damalige
Sowjetunion . Die Folge waren 27 Millionen tote Sow-
jetbürger . Heute, einige Tage vor diesem bewegenden
Jahrestag, gilt unser Dank selbstverständlich denjenigen
Menschen in der Sowjetunion, die mit oder ohne Uni-
form durchgehalten haben und den wesentlichen Anteil

an der Befreiung Europas vom Joch des Hakenkreuzes
geleistet haben .


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg . Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Der Krieg gegen die Sowjetunion war halt nicht ir-
gendein Krieg, sondern es war ein Krieg, der alle bis da-
hin von der Menschheit entwickelten Rechts- und Zivi-
lisationsregeln außer Kraft setzte . Jan Philipp Reemtsma
sagte zur Eröffnung der ersten Wehrmachtsausstellung
1995 in München – ich darf ihn zitieren –:

Der Krieg der deutschen Wehrmacht im – pauschal
gesprochen – „Osten“ ist kein Krieg einer Armee
gegen eine andere Armee gewesen, sondern er sollte
der Krieg gegen eine Bevölkerung sein, von der ein
Teil – die Juden – ausgerottet, der andere dezimiert
und versklavt werden sollte . Kriegsverbrechen wa-
ren in diesem Kriege nicht Grenzüberschreitungen,
die erklärungsbedürftig sind, sondern das Gesicht
dieses Krieges selbst . Der Terminus „Kriegsver-
brechen“ ist aus einer Ordnung entliehen, die von
Deutschland außer Kraft gesetzt worden war, als
dieser Krieg begann .

Heute geht es nun darum, endlich einer der größten
Opfergruppen Nazideutschlands würdig zu gedenken .
5,7 Millionen Angehörige der Roten Armee sind damals
in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten . Von diesen
5,7 Millionen starben 3,3 Millionen an Hunger, Kälte,
Krankheiten und massenhaften Hinrichtungen . Das ist
übersetzt eine Sterblichkeitsquote von 60 Prozent . Im
Vergleich – um ein wenig einzuordnen, worum es hier
geht –: Die Sterblichkeitsquote bei anderen alliierten
Kriegsgefangenen lag bei 3,5 Prozent . Ich denke, das
macht die Systematik des Mordens unter der Regie der
deutschen Wehrmacht deutlich . Deswegen, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, hat Bundespräsident Gauck natür-
lich recht mit seiner Aufforderung an die Politik, endlich
diese Opfergruppe aus dem Erinnerungsschatten heraus-
zuholen, wie er es treffend formuliert hat .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Man muss logischerweise darüber nachdenken, wa-
rum diese Opfergruppe so lange keinen adäquaten Wert
in unserer Erinnerungskultur hatte . Ich will einige Stich-
worte nennen .

Das hatte natürlich etwas mit dem schier wahnwitzi-
gen Antikommunismus der 50er- und 60er-Jahre zu tun,
in dessen Gesamtklima der Krieg gegen die Sowjetunion
als fast legitim galt .

Es hatte etwas mit der verheerenden Lüge von der sau-
beren Wehrmacht zu tun, die noch bis Mitte der 90er-Jah-
re die Debatte dominierte .

Zum Dritten hatte es natürlich etwas mit der „Unfähig-
keit zu trauern“ zu tun, wie es Alexander und Margarete
Mitscherlich richtigerweise gesagt haben: Die Gesell-
schaft war geprägt vom Verschweigen, Verdrängen und
davon, sich zu dem eigentlichen Opfer zu machen und
keinerlei Empathie mit den wirklichen Opfern zu haben .

Dr. Thomas Feist






(A) (C)



(B) (D)


Natürlich hatte es etwas – das wollen wir bei so einem
Thema auch nicht verschweigen – mit der Rückkehr der
alten Eliten in Bundeswehr, Justiz, Wirtschaft und letzt-
endlich Politik zu tun .

Ein weiterer Grund, warum diese Opfergruppe so
vergessen worden ist, hatte etwas mit der Politik der
Stalin’schen Sowjetunion zu tun; denn auch dort gab es
kein adäquates Gedenken an die Kriegsgefangenen . Sie
galten bis in die 90er-Jahre als Verräter . Auch das ist ein
Punkt, der erwähnt werden muss, wenn wir über dieses
Thema sprechen, liebe Kolleginnen und Kollegen .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mein Dank gilt heute natürlich auch den vielen Wis-
senschaftlern, kritischen Journalisten und vor allem den
vielen lokalen Geschichts- und Gedenkinitiativen, die
immer wieder auf dieses Schicksal aufmerksam gemacht
haben . Deswegen war es eine gute, überfällige Entschei-
dung, dass der Haushaltsausschuss im Mai 2015 endlich,
zumindest symbolisch, 10 Millionen Euro zur Entschä-
digung der noch wenigen überlebenden sowjetischen
Kriegsgefangenen bereitgestellt hat .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich freue mich ausdrücklich – wir haben das überprüft
und entsprechende Auskunft erhalten –, dass bereits da-
mit begonnen wurde, pauschal 2 500 Euro an diese Men-
schen – die sind Mitte 90 – auszuzahlen . Das ist richtig
und gut so, aber es ist zu spät .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Heute geht es aber um eine mindestens genauso wich-
tige Frage, nämlich die, ob der Deutsche Bundestag ne-
ben der finanziellen Anerkennung des Leids dieser Opfer
in der Lage und willens ist, anlässlich des 75 . Jahrestages
des Überfalls auf die Sowjetunion endlich ein politisches
Zeichen zu senden . Deswegen formulieren wir in unse-
rem Antrag:

Der Deutsche Bundestag bittet die Überlebenden
um Verzeihung für das, was ihnen durch das NS-Re-
gime angetan wurde, und dafür, dass Deutschland
so lange brauchte, dieses Unrecht beim Namen zu
nennen .

Darum geht es heute . Ich würde mich freuen, wenn wir
dies konsensual und interfraktionell hier so beschließen
könnten, um dieses wichtige Zeichen auszusenden, liebe
Kolleginnen und Kollegen .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Neben dieser politischen Geste sollte es natürlich auch
darum gehen, dass wir uns aus der Mitte des Bundesta-
ges daranmachen, endlich ein adäquates Mahnmal oder
einen Gedenkort, wie man heute sagt, in der Mitte Ber-
lins für diese riesige Opfergruppe zu schaffen . Ich danke
insbesondere der Initiative „Gedenkort für die Opfer der
NS-Lebensraumpolitik“, die ja bereits mit allen Frakti-
onen Gespräche geführt hat . Mir wurde heute berichtet,

dass alle Fraktionen offen für die Schaffung solch eines
Gedenkortes gewesen sind .

Langer Rede kurzer Sinn: Wann, wenn nicht im
75 . Jahr des Überfalls Nazideutschlands auf die Sowjet-
union, wäre es an der Zeit, diese Leerstelle zu füllen?
Ich lade Sie herzlich ein, dass wir gemeinsam, gegebe-
nenfalls auch interfraktionell – unsere Fraktion ist dazu
bereit –, einen Antrag einbringen, der die politische Ges-
te der Entschuldigung beinhaltet und mit dem wir ein
Mahnmal bzw . einen Erinnerungsort hier in Berlin auf
den Weg bringen . Es ist an der Zeit . Es leben nur noch
ganz wenige . Deswegen müssen wir uns beeilen .

Vielen Dank .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1817319700

Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Dr . André

Berghegger von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. André Berghegger (CDU):
Rede ID: ID1817319800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir bera-
ten heute einen Antrag der Fraktion Die Linke . Ich würde
aus meiner Sicht gerne zwei Kernpunkte dieses Antra-
ges herausgreifen . Der erste Kernpunkt ist die Frage, ob
die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen als
nationalsozialistisches Unrecht und die Betroffenen als
NS-Opfer anerkannt werden können . Der zweite Kern-
punkt ist der Wunsch, dass der Deutsche Bundestag, so
wie es Herr Korte gerade gesagt hat, die Überlebenden
um Verzeihung bittet . Ich würde sagen: Gerade vor dem
Hintergrund unserer Geschichte ist das ein Thema von
großer Tragweite und Bedeutung . Wir sollten damit an-
gemessen und sensibel umgehen, ohne zu polarisieren .
Ich glaube, das werden wir auch hinbekommen .

Allein in der laufenden Legislaturperiode haben wir
uns mit dem Thema „Würdigung des Schicksals sowje-
tischer Kriegsgefangener in der NS-Zeit“ mehrfach be-
schäftigt . Dieses Thema war Gegenstand von Beratungen
und Debatten im Plenum und im Ausschuss . Zur Chro-
nologie noch einmal einige Stichworte: Ende 2014 gab
es hierzu Anträge der Linken und der Grünen . Wir haben
über beide Anträge verbunden im Frühjahr 2015 hier im
Plenum debattiert . Nach der Überweisung in den Haus-
haltsausschuss haben wir im Mai 2015 eine öffentliche
Anhörung durchgeführt und viele der dort gestellten Fra-
gen intensiv erörtert .

Insbesondere spielte die Fragestellung eine Rolle:
Wurden sowjetische Kriegsgefangene im Vergleich zu
anderen Betroffenen, zu anderen Personengruppen au-
ßerordentlich menschenunwürdig und unbarmherzig be-
handelt? Nachdem diese Frage bejaht wurde, haben wir
auf Initiative der Koalition im Nachtragshaushalt 2015
einen Beschluss gefasst . Wir haben unter der Titelgruppe
„Leistungen im Zusammenhang mit Kriegsfolgen“ die
erwähnten 10 Millionen Euro als symbolische Anerken-
nung in Würdigung des Schicksals als ehemalige sowje-

Jan Korte






(A) (C)



(B) (D)


tische Kriegsgefangene bereitgestellt . Dann hat das Bun-
desfinanzministerium hierzu Richtlinien ausgearbeitet,
der Haushaltsausschuss hat die Mittel freigegeben . Mit
der Durchführung der Aufgabe der Auszahlung wurde
das Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermö-
gensfragen, das BADV, beauftragt . Im Kern geht es da-
rum, dass auf Antrag hin 2 500 Euro pro Fall ausgezahlt
werden . Die Anträge können bis Ende September des
kommenden Jahres gestellt werden .

Um den vorhin angesprochenen angemessenen und
würdigen Umgang darzustellen, wurde vieles Weitere
initiiert, um pragmatisch und unbürokratisch Wege auf-
zuzeigen . Formulare und Unterlagen wurden online ge-
stellt . Die Verbreitung der Informationen über Massen-
medien wurde angestrebt . Es gab Hinweise im In- und
Ausland auf dieses Thema, auch über die deutschen Bot-
schaften und andere Netzwerke . Die Dokumente wurden
mehrsprachig erstellt . Zusammenfassend wurde viel un-
ternommen, um die Informationen wirksam an die Be-
troffenen herausgeben zu können .

Aktuell liegen rund 1 200 Anträge auf Auszahlung die-
ser Mittel vor, aus 16 verschiedenen Ländern . 50 Prozent
der Anträge kommen aus Russland, und in der Reihen-
folge der Anzahl der Anträge folgen die Staaten Ukraine,
Armenien, Belarus und Georgien . Angesichts der damals
angenommenen noch rund 4 000 lebenden Betroffenen
halte ich die Zahl der eingegangenen Anträge für beacht-
lich . Ungefähr ein Drittel der eingegangenen Anträge
wurde bearbeitet, und die Mittel sind ausgezahlt worden .
Ich denke, das ist schon eine intensive Abarbeitung . Ich
hoffe, dass noch viele Anträge folgen werden .

Der vorliegende Antrag der Linken ist aus meiner
Sicht allerdings so formuliert, dass die Grenzen zwischen
moralischen, historischen und juristischen Aussagen ver-
schwinden . Ob das bewusst oder unbewusst geschehen
ist, sei dahingestellt; aber ich glaube, dass diese Aussa-
gen sauber getrennt werden sollten .

Zum ersten Kernpunkt dieses Antrages, zur Frage der
Anerkennung der Behandlung der sowjetischen Kriegs-
gefangenen als nationalsozialistisches Unrecht bzw . die
Anerkennung der Betroffenen als NS-Opfer: Nach stän-
diger Rechtsprechung in diesem Land werden Angehöri-
ge der im Zweiten Weltkrieg von Deutschland besetzten
Staaten und damit insbesondere auch Kriegsgefangene
nicht als Verfolgte im Sinne der Entschädigungsgesetze
angesehen . Damit sind Kriegsopfer nicht Opfer national-
sozialistischen Unrechts im Sinne der Entschädigungs-
gesetze – mit den entsprechenden rechtlichen Folgen . So
ist es eben auch hier: Im Sinne der Wiedergutmachungs-
gesetze sind sowjetische Kriegsgefangene nicht NS-Op-
fer und ihre Behandlung nicht nationalsozialistisches
Unrecht. Ich denke, es ist wichtig, die Begrifflichkeiten
auseinanderzuhalten, und das ist in diesem Antrag nicht
deutlich herausgearbeitet worden . Wir müssen die Be-
grifflichkeiten unterscheiden.

Die unstreitig grausame Behandlung der ehemaligen
sowjetischen Kriegsgefangenen stellt rechtlich gesehen
sonstiges Staatsunrecht dar, das zur Verletzung des Le-
bens, des Körpers, der Gesundheit oder der Freiheit ge-

führt hat . Für diese Situation gilt das allgemeine Kriegs-
folgenrecht .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Diese Unterscheidung zwischen AKG und BEG ist historisch noch nie gelungen!)


Deshalb ist die entsprechende Darstellung in der Titel-
gruppe „Leistungen im Zusammenhang mit Kriegsfol-
gen“ im Nachtragshaushalt nachzuvollziehen . Es fällt
eben nicht in den Bereich NS-Unrecht .

Der zweite Kernpunkt ist der Wunsch, dass der Deut-
sche Bundestag die Überlebenden um Verzeihung bitten
möge . Aus meiner Sicht bedeutet „jemanden um Verzei-
hung bitten“, dass man jemanden von etwas freispricht,
jemandem vergibt . Man kann auch synonym sagen: sich
entschuldigen . Gemeinsam ist diesen Begriffen jedoch,
dass auf einen persönlichen Schuldvorwurf verzichtet
werden soll . Vergeben, verzeihen, entschuldigen kann
man aber nur den Tätern bzw . die Täter, nicht aber die
Taten . Es trifft die Mitglieder des Parlaments und den
Deutschen Bundestag kein persönlicher Schuldvorwurf .
Wir haben aber eine große moralische und ethische Ver-
antwortung . Wir müssen dafür sorgen, dass so grausames
Unrecht nie wieder passieren kann . Aber die Unterschei-
dung zwischen Schuld und Verantwortung ist aus meiner
Sicht sehr wichtig . Deswegen könnte ich nachvollziehen,
wenn der Deutsche Bundestag diesem Antrag nicht statt-
geben würde .

Ich möchte noch einige Anmerkungen in moralischer,
ethischer und politischer Hinsicht machen . Wir werden
natürlich nie vergessen oder nachsichtig sein, also die
Verantwortung relativieren . Wir werden nie dieses Un-
recht akzeptieren oder billigen . Wir werden dieses Un-
recht nie leugnen oder gar rechtfertigen . Wir müssen und
werden dauerhaft eine angemessene Erinnerungskultur
pflegen.

Ich glaube, dass wir als Deutscher Bundestag mit dem
Beschluss, einen symbolischen Anerkennungsbetrag an
sowjetische Kriegsgefangene auszuzahlen, den wir im
Haushaltsausschuss vorbereitet haben, einen wichtigen
Schritt gemacht haben und ein deutliches Zeichen im
Lichte unserer Verantwortung gesetzt haben . Der Voll-
ständigkeit halber möchte ich an dieser Stelle noch er-
wähnen, dass wir, im Haushaltsjahr 2016 startend, einen
weiteren symbolischen Anerkennungsbetrag bewilligt
haben . Es werden 50 Millionen Euro symbolische An-
erkennung für ehemalige deutsche zivile Zwangsarbei-
ter bewilligt . Auch das ist in diesem Zusammenhang ein
wichtiges Signal .

In diesem Sinne schließe ich mit folgendem Gedan-
ken: Wo es keine Erinnerung gibt, gewinnt das Boshafte,
das schreckliche Unrecht die Oberhand . Aus dieser not-
wendigen Erinnerung heraus wächst unsere Verantwor-
tung, dafür zu sorgen, dass derartiges Unrecht nie wieder
geschehen kann .

Vielen Dank fürs freundliche Zuhören .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Dr. André Berghegger






(A) (C)



(B) (D)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1817319900

Vielen Dank . – Als nächster Redner spricht Volker

Beck von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1817320000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will

ausdrücklich würdigen, dass wir uns im Haushaltsaus-
schuss zusammengefunden haben, um gemeinsam eine
Lösung für die Entschädigung der sowjetischen Kriegs-
gefangenen hinzubekommen . Das ist ein wichtiger und
nicht gering zu schätzender Schritt der moralischen An-
erkennung des Unrechts, das von Deutschen gegenüber
sowjetischen Kriegsgefangenen begangen wurde . Bitter
bleibt, dass es Jahrzehnte zu spät kam und viele der Be-
troffenen das nicht mehr erlebt haben .

Ich finde, wir als Bundestag sollten zu diesem The-
ma nicht schweigen; denn: „Nur durch die Erinnerung an
ein solches Unrecht wächst die Aussicht, dass sich die-
ses nicht wiederholt, in welcher Form und auf welchem
Erdteil auch immer .“ „Der Deutsche Bundestag darf dazu
nicht schweigen .“


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Die Ereignisse mögen lange zurückliegen . Die
Wunden

– der Opfer und –

bei den Nachfahren der Opfer sind aber geblieben,
und daher ist es an der Zeit, dass auch das deutsche
Parlament dazu klar Stellung nimmt .

Das sind Worte des Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder
aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu der bedeu-
tenden Entscheidung des heutigen Tages: Wir haben den
Völkermord an den Armeniern anerkannt . Wir sagen zu
Recht dem türkischen Volk, dass die Grundlage für Ver-
söhnung und die Grundlage für eine gemeinsame gute
Zukunft unter den Völkern die Anerkennung der histo-
rischen Wahrheit ist . Das, was wir gegenüber der Türkei
richtigerweise sagen, das sollten wir auch uns selbst bei
der Aufarbeitung unserer Geschichte in diesem Fall zu
Herzen nehmen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wenn Sie, Herr Berghegger, darauf rekurrieren, es
gebe im Entschädigungsrecht eine Unterscheidung zwi-
schen dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz und dem
Bundesentschädigungsgesetz, dann will ich Ihnen sagen,
weil ich dieses Thema jetzt schon mehr als 20 Jahre im
Parlament betreue und vorher auch daran gearbeitet habe:
Wir haben uns in den 80er- und 90er-Jahren entschieden,
die historisch falsche Entscheidung nicht wieder aufzu-
machen und mit den zu diesen beiden Gesetzen einge-
richteten Härtefonds weiter zu verfahren . Aber selbst-
verständlich war die Verfolgung der Homosexuellen, der
Euthanasiegeschädigten und Zwangssterilisierten und
der Wehrmachtsdeserteure auch nationalsozialistisches

Unrecht . Das hat der Deutsche Bundestag in mehreren
Resolutionen eindeutig festgestellt .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Trotzdem bekommen die Betroffenen Leistungen aus
dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz wegen der fal-
schen Entscheidung des historischen Gesetzgebers .

Man sollte an falschen Entscheidungen nicht fest-
halten und versuchen, ein System darin zu erkennen,
sondern man sollte den Mut haben, bei der historischen
Würdigung die historische Wahrheit zugrunde zu legen,
und die historische Wahrheit ist – das haben wir uns in
der Anhörung, die wir im Haushaltsausschuss hatten, von
den Fachleuten, von den Historikern sagen lassen –: Der
Mord und das Verhungernlassen von 3 Millionen sow-
jetischen Kriegsgefangenen in Russenlagern hatte nichts
mit Staatsunrecht und mit überbordender Gewalt im Rah-
men von Kriegshandlungen zu tun, sondern es war der
erklärte Wille des nationalsozialistischen Regimes, auf-
grund seiner Rasseideologie die Völker der Sowjetuni-
on zu dezimieren . Dazu gehörte das kriegssinnwidrige
Aushungernlassen der Kriegsgefangenen in den Lagern,
die eigentlich dafür bestimmt waren, in der deutschen
Rüstungsindustrie die deutschen Soldaten zu ersetzen .
Aber man hat sie lieber sterben lassen, als ihre Arbeits-
kraft auszubeuten, weil man der Ansicht war, dass die
Völker der Sowjetunion rassisch minderwertig sind . Das
war nationalsozialistische Ideologie, und das war natio-
nalsozialistisches Unrecht . Wir sollten die Kraft haben,
das auch zu sagen .

Daraus folgt entschädigungsrechtlich überhaupt
nichts . Das Bundesentschädigungsgesetz hat sein
Schlussgesetz 1969 gehabt . Seitdem sind keine Neuan-
träge mehr möglich . Es geht um die historische Wahrhaf-
tigkeit, um nicht mehr und nicht weniger .

Ich weiß, dass die Koalition am Ende keinem Antrag
der Linken zustimmen wird, schon aus Prinzip nicht . Wir
haben einen Antrag eingebracht . Er liegt im Haushalts-
ausschuss, und er ist noch nicht beschieden . Er ist be-
wusst noch nicht beschieden, weil wir mit Ihnen zusam-
menkommen wollen . Lassen Sie uns mit allen Fraktionen
einen gemeinsamen Text finden, den wir fraktionsüber-
greifend hier im Hohen Hause tragen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Lassen Sie uns die Rede des Bundespräsidenten Gauck
vom 8 . Mai letzten Jahres zugrunde legen, der dafür
würdige Worte gefunden hat, und lassen Sie uns mit den
klaren Worten schließen: Die Verbrechen, die an den so-
wjetischen Kriegsgefangenen begangen wurden, waren
nationalsozialistisches Unrecht . – Punkt . Dann ist Frie-
den in dieser Frage .

Ich finde, gerade angesichts der schwierigen außenpo-
litischen Situation, die wir mit der Ukraine und Russland
haben, wäre es ein gutes Signal der Versöhnung, dass
wir zu unserer historischen Verantwortung stehen und
trotz aller Differenzen mit der russischen Staatsführung
Freunde des russischen, des ukrainischen, des weißrus-
sischen Volkes und der anderen Völker der ehemaligen






(A) (C)



(B) (D)


Sowjetunion sind und hier keine Abstriche machen, auch
wenn wir politische Auseinandersetzungen haben . Inso-
fern könnte das außenpolitisch noch eine gute Geste der
Entspannung sein, bei der wir uns nichts vergeben, außer
dass wir unsere Geschichte mit klarerem Blick und mit
größerer Wahrhaftigkeit betrachten .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1817320100

Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Matthias

Schmidt von der SPD-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der SPD)



Matthias Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817320200

Vielen Dank, Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren auf den Zuschauertribünen! Lie-
be Kolleginnen und Kollegen! Mehr als 70 Jahre nach
Ende des Zweiten Weltkriegs leben in Deutschland ganz
überwiegend Menschen, die diesen Krieg nur aus Erzäh-
lungen kennen . Sie tragen an den in deutschem Namen
verübten Gräueln keine persönliche Schuld . Aber die
Nachkriegsgenerationen, wir alle, haben die Pflicht, die
Erinnerung zu bewahren . Das ist unsere Verantwortung,
und diese Forderung ist leider aktueller denn je .

Hierzu leistet der Antrag der Linken einen Beitrag,
wofür ich Ihnen danken möchte . Weiterhin möchte ich
mich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie uns die Gele-
genheit geben, die Leistungen der Koalition und der sie
tragenden Fraktionen zu würdigen . Bereits im letzten
Jahr hat die Koalition einen namhaften und zugleich
doch nur symbolischen Betrag für die ehemaligen sow-
jetischen Kriegsgefangenen zur Verfügung gestellt . Wir
taten dies nicht mit stolzgeschwellter Brust, sondern mit
demütiger Geste und Dankbarkeit, dass wir das nun end-
lich auf den Weg bringen konnten .

Die Linke will im Vorfeld des 75 . Jahrestages des
Überfalls auf die Sowjetunion am 22 . Juni 1941 durch
die deutsche Wehrmacht erneut auf die Opfergruppe der
sowjetischen Kriegsgefangenen hinweisen . Ja, dieser
historische Tag gibt uns natürlich allen Anlass, der vielen
Opfer, die dieser Angriffskrieg gefordert hat, zu geden-
ken . Dieser Krieg hat 60 bis 70 Millionen Menschen das
Leben gekostet, und noch viel mehr haben gelitten .

Ja, die sowjetischen Kriegsgefangenen gehören dazu .
Rund 5,7 Millionen waren es, die unter unmenschlichen
Bedingungen interniert wurden und Zwangsarbeit leis-
ten mussten . An die 3 Millionen von ihnen – die Zah-
len gehen bei Historikern etwas auseinander – wurden
direkt oder indirekt ermordet durch Hunger, Krankheit,
Erschöpfung oder auch durch direkte Gewalt und Peini-
gung durch die Nationalsozialisten . Ihr Leid und ihr Op-
fer sind unbestritten .

2013, am Ende der letzten Legislaturperiode, gab es
einen gemeinsamen Antrag von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen, der eine Entschädigung für diese Opfer-
gruppe forderte . Dieser wurde von den damaligen Ko-
alitionsfraktionen [CDU/CSU] und FDP abgelehnt . Nur
ein Jahr später, also schon in dieser Legislaturperiode,

wurde unsere Absicht von den Oppositionsfraktionen in
zwei Anträgen mit unterschiedlichen Entschädigungs-
summen erneut aufgegriffen . Wir haben darüber hier im
Februar 2015 diskutiert . Ich kann mich noch sehr lebhaft
an die Debatte erinnern .

Nach dieser Debatte gelang es uns, mit der Union eine
Einigung herbeizuführen . 10 Millionen Euro wurden im
Haushalt eingestellt, um den wenigen Überlebenden we-
nigstens eine symbolische Anerkennung zukommen zu
lassen . Sie beträgt 2 500 Euro . Auch das Antragsverfah-
ren ist hinsichtlich der Fragen noch einmal überarbeitet
worden, was ich sehr begrüße .

Kollege Beck, ich kann Ihre Aussage, dass der Bun-
destag geschwiegen hätte, nicht bestätigen. Ich finde
sogar, er hat an dieser Stelle sehr intensiv und würdig
diskutiert und auch ebenso entschieden .


(Beifall bei der SPD – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber er hat noch nicht beschlossen!)


Nun komme ich zum heutigen Antrag . Ich muss sagen,
dass mich der Antrag ein kleines bisschen ärgert; denn
Sie schieben jetzt einen Antrag hinterher, der hinsicht-
lich seiner Sinnhaftigkeit zumindest Fragen aufwirft . Sie
fordern, dass die Mitglieder des Deutschen Bundestages
in einer Feststellung den sowjetischen Kriegsgefange-
nen, ihren Angehörigen und Nachkommen Achtung und
Mitgefühl bezeugen . Ja, aber das ist doch mit Blick auf
die Geschichte selbstverständlich . Das wurde in jeder
Debatte hier im Bundestag hervorgehoben . Es gab in der
Vergangenheit diverse Gründe, warum die Anträge dazu
abgelehnt wurden, auch unser eigener Antrag . Doch nie-
mals war mangelnde Achtung oder mangelndes Mitge-
fühl der Grund . Es wäre ja geradezu unmenschlich, das
zu verweigern .

Dann fordern Sie, dass es der Deutsche Bundestag in
Anerkennung des Unrechts begrüßt, dass ein finanzieller
Anerkennungsbetrag aus dem Bundeshaushalt bereitge-
stellt wurde . Dies hat der Deutsche Bundestag bereits
dadurch getan, dass er die Bereitstellung der Mittel be-
schlossen hat – im Haushaltsausschuss und im Plenum,
und zwar im Mai 2015 . Zuvor hat der Haushaltsaus-
schuss eine Anhörung dazu durchgeführt, die letztendlich
mit dazu geführt hat, dass wir diesen Beschluss fassen
konnten .


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1817320300

Herr Kollege Schmidt, lassen Sie eine Zwischenfrage

von Herrn Korte zu?


Matthias Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817320400

Aber gerne .


Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817320500

Danke, dass Sie die Zwischenfrage zulassen . – Sie

haben eben gesagt, dass das eine Selbstverständlich-
keit sei . Wenn wir uns die Geschichte der Bundesrepu-
blik anschauen, stellen wir fest, dass zum Beispiel das
Gedenken an die Schoah in den 50er- und 60er-Jahren
mitnichten eine Selbstverständlichkeit gewesen ist, son-

Volker Beck (Köln)







(A) (C)



(B) (D)


dern das musste erkämpft werden, übrigens insbesondere
von denjenigen, die selber Opfer waren . Denken Sie an
die Rehabilitierung der Deserteure, die erst im Jahr 2002
erfolgte – das war eben keine Selbstverständlichkeit .
Denken wir an die Rehabilitierung der sogenannten
Kriegsverräter im Jahr 2009 – das war ebenfalls keine
Selbstverständlichkeit . Ich würde gerne Ihre Einschät-
zung dazu hören .

Im Rahmen der Erinnerungskultur war die Erinnerung
an die Opfer des NS-Regimes und der damit verbunde-
ne Blick auf die Täter eben keine Selbstverständlichkeit,
sondern das musste bitter erkämpft werden, übrigens ins-
besondere auch von Sozialdemokraten wie Fritz Bauer,
Willy Brandt und anderen . Im Falle der sowjetischen
Kriegsgefangenen ist das historisch erklärbar, aber den-
noch inakzeptabel . Deswegen kann man nicht von einer
Selbstverständlichkeit reden .

Mein zweiter Punkt . Wenn Sie mit Vertretern der Op-
ferverbände reden, zum Beispiel von Kontakte-Kontakty
e . V ., dann haben Sie natürlich vernommen, dass diese
Einmalzahlung in Höhe von 2 500 Euro mit großer Ge-
nugtuung und Freude begrüßt wurde . Alle haben aber ge-
sagt, dass ein politisches Zeichen für sie genauso wichtig
ist, weil das eben keine Selbstverständlichkeit ist . Das
müssten Sie als Sozialdemokrat doch nachvollziehen
können .


(Beifall bei der LINKEN)



Matthias Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817320600

Herr Kollege Korte, historisch gesehen haben Sie völ-

lig recht . Die Beispiele, die Sie angeführt haben, zeigen,
dass das über einen langen Zeitraum erkämpft werden
musste . Die besondere Situation der sowjetischen Kriegs-
gefangenen haben Sie in Ihrer Rede sehr gut beschrieben .

Ich beziehe mich mit meinen Aussagen auf diese Le-
gislaturperiode, in der wir schon mehrfach über dieses
Thema gesprochen haben. Dabei ist es, wie ich finde,
eine Selbstverständlichkeit, dass wir das Leid der Opfer
anerkennen . Wir als Bundestag haben das getan . Wir ha-
ben in würdigen Debatten darauf hingewiesen, und wir
haben im Nachgang zu der Debatte, wie schon mehrfach
erwähnt wurde, gemeinsam mit der Union dafür gesorgt,
dass die finanzielle Anerkennungsleistung geregelt wer-
den konnte . Die Vertreter des Vereins Kontakte-Kontakty
haben unseren finanziellen Beitrag als unsere Anerken-
nung des Leids gewürdigt .


(Jan Korte [DIE LINKE]: Finanziell!)


– Finanziell, und damit natürlich auch darüber hinaus .
Das finde ich eindeutig.


(Beifall bei der SPD)


Herr Kollege Korte, der Punkt, den ich inhaltlich
mit Ihnen teilen kann, verfolgt das Ziel, den Opfern ein
ehrendes Andenken zu bewahren und sie stärker in der
deutschen Erinnerungskultur zu verankern. Ja, ich finde,
das ist ein guter Ansatz . Hier gibt es viele Möglichkei-
ten, diese Leerstelle, wie sie die Wissenschaftlerin Beate
Fieseler nannte, zu schließen .

In Berlin gibt es zahlreiche Orte, wo Zivilisten und
Kriegsgefangene Zwangsarbeit leisten musste . Einer
dieser Orte befindet sich in meinem Wahlkreis. Das Do-
kumentationszentrum NS-Zwangsarbeit erinnert am au-
thentischen Ort in Berlin-Schöneweide an die Geschich-
te und das Leid der vielen Zwangsarbeiterinnen und
Zwangsarbeiter . Das ist so eine Stätte, wo mit großem
persönlichem Einsatz Erinnerungskultur gepflegt wird.
Im letzten Haushalt ist es gelungen, diesen Lern-, Erin-
nerungs- und Begegnungsort mit Bundesmitteln stärker
zu fördern, worüber ich mich sehr freue . Ich kann Ih-
nen allen einen Besuch des Dokumentationszentrums in
Schöneweide mit Ihren Besuchergruppen nur empfehlen .
Es ist nicht weit vom Bundestag entfernt .

Für uns ist es wichtig, dass wir die Erinnerung an die
Verbrechen und an die Opfer des Nationalsozialismus
wachhalten . Das schließt die sowjetischen Kriegsgefan-
genen ausdrücklich mit ein . Ich bin vollkommen damit
einverstanden, dass diese in Zukunft eine stärkere Be-
rücksichtigung finden sollen.

Ich freue mich auf die Beratungen in den Ausschüs-
sen . Wir bleiben sicher gesprächsbereit . Wir werden uns
keinesfalls eines überfraktionellen Antrags verschließen .
Da müsste dann aber das eine oder andere in den Aus-
schüssen noch geklärt und besprochen werden .

Vielen herzlichen Dank .


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1817320700

Als nächste Rednerin spricht Barbara Woltmann für

die CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Barbara Woltmann (CDU):
Rede ID: ID1817320800

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren!

Wir werden nicht durch die Erinnerung an unsere
Vergangenheit weise, sondern durch die Verantwor-
tung für unsere Zukunft .

Das stellte schon der irische Schriftsteller, Politiker und
Pazifist George Bernard Shaw fest.

Die unfassbaren Verbrechen Hitlers haben sich un-
löschbar in die deutsche Geschichte eingebrannt . Es
ist und muss uns Erinnerung und Mahnung für die Zu-
kunft sein . Viele Menschen leiden noch immer unter den
schrecklichen Ereignissen des Zweiten Weltkrieges . Die-
ser Krieg hat Elend und Verderben über Millionen von
Menschen in Europa und darüber hinaus gebracht .

Das Gedenken an Verdun, an den Ersten Weltkrieg
100 Jahre zurück, oder auch an den Völkermord an den
Armeniern – heute Morgen hier in diesem Hause bera-
ten – erinnert uns daran, mahnend wachsam zu sein ge-
gen jeden Aggressor gegen die Menschlichkeit . Die sow-
jetischen Truppen und die anderen Siegermächte waren
es, die ein Deutschland befreiten, in dem Menschen plan-
mäßig und in nie dagewesenem Umfang vernichtet und

Jan Korte






(A) (C)



(B) (D)


Andersdenkende gnadenlos verfolgt wurden . Der Zweite
Weltkrieg hat Europa weitgehend verwüstet .

Auch das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefange-
nen in der NS-Zeit war ein menschenverachtendes Kapi-
tel der Naziherrschaft . Das wissen wir alle und bestreitet
niemand . Sämtliche Regierungen der Bundesrepublik
Deutschland haben der moralischen und finanziellen
Wiedergutmachung des vom NS-Regime verübten Un-
rechts stets eine besondere Priorität eingeräumt . Dieser
Aufgabe stellt sie sich, wie wir sehen, noch heute .

Ihre Forderung, liebe Kollegen und Kolleginnen von
den Linken, der Deutsche Bundestag solle die Überleben-
den um Verzeihung bitten und ihren Angehörigen Ach-
tung und Mitgefühl bezeugen, finde ich allerdings – wie
schon teilweise meine Vorredner – sehr missverständlich .
Das klingt nämlich so, als wenn Sie der deutschen Be-
völkerung damit jedwedes Mitgefühl absprechen – in der
Vergangenheit und in der Gegenwart . Das können Sie
nicht wirklich ernsthaft meinen .

Was hat Sie im Grunde dazu bewogen, nach der Dis-
kussion um die Anerkennungsleistung an ehemalige
sowjetische Kriegsgefangene im Jahre 2015 – meine
Vorredner haben schon darauf hingewiesen – und den da-
raus erfolgten Regelungen jetzt wieder diese Diskussion
auf die Tagesordnung zu heben und Ihren Antrag vorzu-
legen?


(Zuruf des Abg . Jan Korte [DIE LINKE])


Mir erschließt sich das nicht wirklich .

Letztes Jahr ist auf Antrag der Grünen sowie der
Linken über eine finanzielle Anerkennung von NS-Un-
recht für sowjetische Kriegsgefangene im Plenum ein-
gehend diskutiert und eine entsprechende Vorlage an
den Haushaltsausschuss überwiesen worden . Nach einer
Sachverständigenanhörung hat der Haushaltsausschuss
im Mai 2015 einen Beschluss zum Nachtragshaushalt
gefasst und einen symbolischen finanziellen Anerken-
nungsbetrag von 10 Millionen Euro bereitgestellt; denn
das Bundesentschädigungsgesetz greift für Kriegsgefan-
gene nicht .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es greift überhaupt nicht mehr für Neuanträge!)


Der Bundestag hat den Nachtragshaushalt dann auch
beschlossen . Das heißt, das Leid dieser Menschen ist –
auch darüber ist hier damals diskutiert worden – durch
diesen Betrag zumindest symbolisch anerkannt worden .

Ehemalige sowjetische Kriegsgefangene erhalten
demnach eine Einmalzahlung in Höhe von 2 500 Euro .
Wir gehen von bis zu 4 000 noch lebenden Berechtigten
aus . Bisher sind 1 233 Anträge eingegangen . In 391 Fäl-
len wurden Leistungen ausgezahlt, etwas mehr sind er-
ledigt, und nicht alle konnten anerkannt werden . Diese
Regelung halte ich ausdrücklich für richtig; denn eine
Entschädigung von Kriegsgefangenen durch die Stiftung
„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ ist auch aus-
geschlossen . Bei den internationalen Verhandlungen, die
der Errichtung dieser Stiftung vorausgegangen sind, wur-
de dies einvernehmlich so geregelt . Die Begründung war

damals, man wolle keine neuen Reparationszahlungen
zum Ausgleich von Kriegsschäden ehemaliger Kriegsge-
fangener justiziabel machen . Die Stiftung wurde bereits
2000 gegründet, um vor allen Dingen Zahlungen an ehe-
malige Zwangsarbeiter zu leisten .

Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik
Deutschland hat auf dem Gebiet der Entschädigung für
NS-Unrecht bis heute rund 70 Milliarden Euro erbracht .
Deutschland war dabei immer darauf bedacht, dass die
Entschädigungsleistungen nicht einseitig – das heißt nur
für eine Gruppierung – gewährt werden, sondern dass
alle Betroffenen und alle Verfolgten zumindest eine spä-
te Wiedergutmachung bekommen . Allerdings muss auch
ich sagen: Mit Geld allein kann man das, was dort pas-
siert ist, nie wiedergutmachen .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb sollten wir eine Resolution verabschieden!)


Da stehen wir zu unserer historischen Verantwortung .

Festzuhalten bleibt: Krieg ist immer eine furchtbare
Geißel für alle davon Betroffenen, insbesondere dann,
wenn man es mit solch menschenverachtenden Regimen
wie dem Naziregime zu tun hat . Wir sollten und müssen
uns daher – auch im Interesse unserer Kinder und der
nachfolgenden Generationen – immer unserer Geschich-
te bewusst sein, damit ein solches Verbrechen niemals
wieder geschieht . Aber man sollte niemandem, der den
Krieg nicht erlebt hat, Schuldgefühle einreden . Die meis-
ten von uns sind nach Kriegsende geboren .

Ich möchte ganz ausdrücklich betonen: Wir haben
die Schuld unserer Vorfahren von Beginn an auf unsere
Schultern genommen und die Verantwortung übernom-
men . Wenn wir es aber nach über 70 Jahren nicht lang-
sam schaffen, uns von dem Gedanken zu emanzipieren,
dass das alles immer noch nicht reicht und wir nicht ge-
nug tun, habe ich die Sorge, dass sich dieses Pflichtgefühl
irgendwann ins Gegenteil verkehren wird .

Wir sehen uns heute von kriegerischen Auseinander-
setzungen umgeben, die entsetzliche Gräueltaten, die wir
in unserem friedlich vereinten Europa seit über 70 Jahren
durch unsere gemeinsame Politik erfolgreich abgewen-
det haben, zutage bringen .


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1817320900

Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kol-

legen Beck zu?


Barbara Woltmann (CDU):
Rede ID: ID1817321000

Diesmal nicht, nein . – Ich trete dafür ein, dass wir un-

seren Blick auf die Gegenwart und die Zukunft richten,
ohne die Vergangenheit zu vergessen . Wir sollten dafür
Sorge tragen, dass unser Friedensmodell für andere Regi-
onen in der Welt beispielhaft sein kann . Wir sollten daher
voller Zuversicht in die Zukunft schauen . Es sind 70 Jah-
re Frieden, die uns das europäische Haus beschert hat .
Das müssen wir heute mehr denn je vermitteln . Da halte
ich Ihren Antrag für nicht zielführend .

Barbara Woltmann






(A) (C)



(B) (D)


Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1817321100

Vielen Dank . – Jetzt erhält der Kollege Beck das Wort

für eine Kurzintervention .


(Zuruf von der CDU/CSU: Die Betonung liegt auf „kurz“!)



Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1817321200

Frau Kollegin, Ihre Ausführungen haben mich an zwei

Punkten etwas erstaunt . Zu Beginn Ihrer Rede haben Sie
gesagt, dass die Erinnerung nicht so wichtig ist wie das
In-die-Zukunft-Schauen . Das hat mich insbesondere des-
halb gewundert, weil ich vorhin in meiner Rede Ihren
Fraktionsvorsitzenden zitiert habe, der am 2 . Juni dieses
Jahres in der FAZ geschrieben hat:

Nur durch die Erinnerung an ein solches Unrecht
wächst die Aussicht, dass sich dieses nicht wieder-
holt – in welcher Form und auf welchem Erdteil
auch immer .

Was bei der Anerkennung des Völkermords an den
Armeniern richtig ist, kann bei der Anerkennung des
NS-Unrechts gegenüber den sowjetischen Kriegsgefan-
genen nicht falsch sein .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie der Abg . Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Aus der Erinnerung, aus der Vergangenheit, wächst die
Zukunft in Verantwortung, weil man daraus die Lehren
zieht .

Noch mehr berührt und auch ein bisschen erschüttert
hat mich, dass Sie darüber gesprochen haben, dass im
Krieg eben schlimme Dinge passieren . Die Kriegsgefan-
genen wurden aber in zwei Klassen eingeteilt . Für die
westalliierten Kriegsgefangenen galt auch im National-
sozialismus die Genfer Konvention, und sie wurde bei
allem Elend, das es auch dort gab, grundsätzlich auch
respektiert und angewandt . Für die sowjetischen Kriegs-
gefangenen wurde sie dagegen durch Führerbefehl aus-
drücklich außer Kraft gesetzt . Deshalb hat man sie sys-
tematisch ausgehungert . Ich habe den Eindruck, dass Sie
das nicht zur Kenntnis nehmen wollen, obwohl wir das in
der Anhörung diskutiert haben .

Ich möchte hier wirklich keine Schärfe in die Debatte
bringen, sondern ich möchte im Sinne der Würdigung der
Geschichte und auch mit Blick auf die Menschen, die un-
sere Debatte in den Gebieten der ehemaligen Sowjetuni-
on – in Russland, in der Ukraine, in Belarus – verfolgen,
einfach versuchen, zu erreichen, dass wir uns in einem
Berichterstattergespräch noch einmal gemeinsam der
Frage annehmen, wo die entscheidende Differenz war .

War es nicht so, wie uns alle Historiker in der Anhö-
rung gesagt haben, dass die entscheidende Differenz da-
rin bestand, dass es nicht um ein Kriegsziel ging, und
dass der Grund, weshalb man die Leute verhungern ließ,

nicht ein Mangel an Ressourcen zur Versorgung der
Kriegsgefangenen war, sondern der Wille, sie aus rasse-
biologischen Gründen umzubringen? Das Unrecht, das
auf rassebiologischen Gründen fußt, ist klassischerweise
nationalsozialistisches Unrecht .

Lassen Sie uns diese Frage noch einmal ohne Schärfe
und jenseits von Partei- und Fraktionsgrenzen bespre-
chen, damit wir hier als Hohes Haus gemeinsam zur his-
torischen Wahrheit finden. Ich bitte Sie: Gewähren Sie
uns diese Diskussion .


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1817321300

Frau Woltmann, Sie haben das Wort zur Erwiderung .


Barbara Woltmann (CDU):
Rede ID: ID1817321400

Kollege Beck, ich glaube, Sie wollen mich missver-

stehen; denn ich weiß nicht, warum auch immer Sie die-
sen Beitrag jetzt gemacht haben .

Ich habe in keiner Weise gesagt, dass die Vergan-
genheit und die Erinnerung an die Vergangenheit nicht
wichtig sind . Ganz im Gegenteil: Die Erinnerung an die
Vergangenheit – ich habe das in meiner Rede mehrfach
gesagt – ist zwingend notwendig; denn sonst kann ein
Volk keine Zukunft haben . Das steht für mich überhaupt
nicht zur Disposition . Ich muss die Vergangenheit ken-
nen, um dann auch in die Zukunft schauen zu können .
Beides gehört zusammen .

Ich habe an George Bernard Shaw erinnert, der ge-
sagt hat, dass wir uns auch der Verantwortung für unsere
Zukunft stellen müssen . Das heißt, beides gehört zusam-
men .

In keiner Weise habe ich an irgendeiner Stelle das
Unrecht, das den russischen Soldaten damals widerfah-
ren ist, kleinreden wollen . Ganz im Gegenteil: Es gab
ein großes Unrecht gegenüber dieser Gruppe . Insofern
verstehe ich Ihre jetzigen Bemerkungen nicht . Ich glau-
be, dass ich in meiner Rede ausdrücklich angesprochen
habe, dass es ein furchtbares, schreckliches, menschen-
verachtendes Regime war – nicht nur russischen Solda-
ten, sondern auch vielen anderen Gruppen gegenüber,
wie zum Beispiel den Juden .

Ich habe mir heute Morgen auch noch einmal ganz
ausführlich die Ausstellung im Paul-Löbe-Haus zum Di-
alog zwischen Deutschland und Polen angeschaut . Auch
in Polen sind sehr viele Menschen durch das Unrechtsre-
gime umgekommen .

Insofern sage ich: Die Vergangenheit gehört dazu,
aber auch die Zukunft, und ich glaube, das ist in meiner
Rede mehr als deutlich geworden .


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1817321500

Vielen Dank . – Jetzt hat Dennis Rohde von der

SPD-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Barbara Woltmann






(A) (C)



(B) (D)



Dennis Rohde (SPD):
Rede ID: ID1817321600

Sehr geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Am 3 . Mai dieses Jahres durfte ich, übri-
gens gemeinsam mit meiner Vorrednerin, in meiner Hei-
mat in Oldenburg der Kranzniederlegung zum Gedenken
an die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsar-
beiter der NS-Zeit beiwohnen . Ich kann heute sagen, dass
es ein Ereignis war, das mich sehr berührt hat, viel mehr,
als ich es im Vorfeld erwartet hatte . Ich war zum ersten
Mal an diesem Mahnmal in meiner Stadt . Das, was mich
so sehr berührt hat, waren die Schicksale, die auf einmal
transparent wurden . Es waren die Namen und insbeson-
dere die Geburts- und Todesdaten, die auf dem Mahnmal
vermerkt sind .

Ich selbst bin in einer Zeit aufgewachsen, in der ich
nie Angst vor Krieg oder Angst um mein Leben haben
musste . Ich weiß, dass das ein großes Glück ist . Viel
mehr noch: Ich darf heute mit 29 Jahren meine Heimat
im Deutschen Bundestag vertreten . Aber viele der Men-
schen, derer an diesem Mahnmal gedacht wird, hätten
sich gefreut, das 29 . Lebensjahr überhaupt erreichen zu
dürfen . Es sind die Schicksale wie das von Jakow Suscht-
schenko, der im Alter von 25 Jahren zu Tode kam, oder
das von Anna Bogutschenko, die lediglich 18 Jahre alt
werden durfte . Beide fanden ihre letzte Ruhestätte in ei-
nem Massengrab in Oldenburg, mit ihnen übrigens auch
111 Kinder, zu großen Teilen Kleinkinder .

Noch bedrückender wird das Gefühl, wenn man sich
mit dem Leid der – zum großen Teil sowjetischen –
Kriegsgefangenen in der eigenen Heimat intensiver be-
schäftigt . So wurden diese damals zum Bau der Umge-
hungsstraße eingesetzt, die wir auch heute noch nutzen
und tagtäglich befahren . Nicht nur das: Die Gefangenen
haben auch den Sand hierfür abtragen müssen . Aus die-
sem Abtrag ist, wie vielerorts auch, ein Baggersee ent-
standen . Er ist heute ein beliebter Rückzugsort in unserer
Stadt .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir halten es uns
wahrscheinlich nicht jeden Tag vor Augen und machen
es uns auch nicht jeden Tag aufs Neue bewusst: Aber die
Spuren der NS-Zeit, die Spuren des Leidens der Gefan-
genen sind nach wie vor Bestandteil unseres täglichen
Lebens . Wir wissen, dass die sowjetischen Kriegsgefan-
genen hierbei in unserer Region wie in ganz Deutschland
zu den größten Opfergruppen nationalsozialistischer Ver-
brechen im Zweiten Weltkrieg zählen .

Bis 1945 starben in deutschem Gewahrsam mehr als
60 Prozent – die Zahl ist bereits gefallen – der insgesamt
bis zu 6 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen . Die
Ursachen für den Tod so vieler Menschen waren nicht al-
lein die allgemeinen Kriegsumstände oder die mangelnde
Versorgung . Tod und Vernichtung in den Lagern wurden
vom NS-Regime mehr als billigend in Kauf genommen .
Sie waren Folge der nationalsozialistischen, der men-
schenverachtenden Ideologie . Wir wissen auch: Diejeni-
gen, die trotz der tödlichen Bedingungen überlebt haben,
wurden nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion oftmals
der Kollaboration verdächtigt . Nicht selten kamen sie in
Lagerhaft . Sie wurden gesellschaftlich diskriminiert und
staatlicherseits erst 1995 vollständig rehabilitiert .

Unsere Geschichte gibt uns eine Verantwortung für
unser heutiges Handeln, eine Verantwortung, wie ich fin-
de, im doppelten Sinne . Zum einen tragen wir als Mit-
glieder des Deutschen Bundestages, aber viel mehr noch
als Mitglieder unserer Gesellschaft die Verantwortung
dafür, dass sich das dunkelste Kapitel der europäischen
Geschichte niemals wiederholt .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir wollen gute Nachbarn sein . Und wir werden uns je-
dem standhaft und entschieden entgegenstellen, der Frie-
den, Freiheit und Demokratie in diesem Land bedroht,
ganz egal, wie er sich nennt, ganz egal, wie er sich tarnt .
Nie wieder Faschismus – dieser Aufgabe haben wir uns
tagtäglich zu stellen .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zum anderen haben wir als Parlamentarier auch
eine politische Verantwortung, die wir Sozialdemokra-
ten wahrgenommen haben und wahrnehmen . Es war
die damalige rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard
Schröder, die im Jahr 2000, 55 Jahre nach Ende des
Zweiten Weltkrieges, mit dem Gesetz zur Errichtung ei-
ner Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“
dafür gesorgt hat, dass NS-Zwangsarbeiter Entschädi-
gungszahlungen erhielten .


(Beifall des Abg . Gerold Reichenbach [SPD])


Hierfür stellten der Bund und die Wirtschaft damals im-
merhin 5,2 Milliarden Euro zur Verfügung .

Doch eine Lücke gab es auch in diesem Gesetz noch:
Sowjetische Kriegsgefangene blieben unberücksichtigt;
denn Tatbestandsvoraussetzung war die Zwangsarbeit .
In der letzten Legislaturperiode wurden die Anträge zur
Erweiterung des Kreises der Anspruchsberechtigten lei-
der noch regelmäßig abgelehnt . Aber im Nachtragshaus-
halt 2015 haben wir endlich das durchgesetzt, was wir
bereits zuvor gefordert hatten: Nunmehr 70 Jahre nach
Ende des Zweiten Weltkrieges haben auch die noch le-
benden sowjetischen Kriegsgefangenen einen Entschä-
digungsanspruch bekommen, zwar spät, aber wir sind
unserer historischen Verantwortung in diesem Punkt ge-
recht geworden .


(Beifall bei der SPD)


Egal ob im Jahr 2000 für die Zwangsarbeiter oder im
letzten Jahr für die sowjetischen Kriegsgefangenen, ich
sage ganz klar: Kein Geld der Welt kann die Taten und
Grausamkeiten des nationalsozialistischen Unrechtsre-
gimes ungeschehen machen . Die Entschädigungsleis-
tungen sind Symbol unserer Verantwortung und unseres
Willens, diejenigen niemals zu vergessen, denen in den
Zeiten des Zweiten Weltkrieges die Freiheit geraubt und
das Leben genommen wurde . Sie sind Symbol für unsere
Verantwortung und unseren entschlossenen Willen, nicht
zu vergessen . Nie wieder Faschismus – das ist und bleibt
unsere wichtigste Aufgabe .






(A) (C)



(B) (D)


Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg . Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1817321700

Vielen Dank . – Damit schließe ich die Aussprache .

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/8422 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federfüh-
rung beim Haushaltsausschuss liegen soll . Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
ordnungspunkt 12 auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
internationalen Sicherheitspräsenz in Kosovo
auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999)

des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Tech-
nischen Abkommens zwischen der internati-
onalen Sicherheitspräsenz (KFOR) und den
Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien

(jetzt: Republik Serbien) und der Republik

Serbien vom 9. Juni 1999

Drucksache 18/8623
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre dazu
keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .

Ich eröffne die Aussprache . Als erster Redner in der
Debatte hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr . Ralf
Brauksiepe das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


D
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1817321800


Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Die Bundeswehr leistet nicht nur
im Kosovo, sondern in der Region insgesamt seit dem
Beginn der NATO-Mission KFOR im Jahr 1999 einen
wichtigen Beitrag zu deren Stabilisierung . Wir haben
unter dramatischen Umständen begonnen, um ein grau-
sames Abschlachten und Morden dort in der Region zu
beenden, wie wir es in Europa seit Ende des Zweiten
Weltkrieges nicht mehr erlebt haben und uns auch nicht
vorstellen konnten . Es waren dramatische Umstände, un-

ter denen wir damit unseren Beitrag zur Stabilisierung
und zum Beenden des Mordens geleistet haben .

Auf dem Balkan haben die Bemühungen der interna-
tionalen Gemeinschaft Früchte getragen . Auch das letzte
Jahr hat durchaus positive Entwicklungen im Kosovo so-
wohl für die allgemeine Sicherheitslage als auch für den
Weg zur Normalisierung der Beziehungen zwischen den
Konfliktparteien Serbien und Kosovo gezeigt.

Ich finde es wichtig, nicht nur auf die Fortschritte die-
ses letzten Jahres zu blicken, sondern uns, wenn wir über
das Kosovo reden, immer wieder vor Augen zu führen,
wie dramatisch die Lage damals war, als wir angefangen
haben, uns dort zu engagieren . Natürlich sind 17 Jahre
eine lange Zeit, aber wir sind aus einer ganz grausamen
Situation gekommen, von der unbestreitbar ist, dass er-
hebliche humanitäre Fortschritte für die Menschen er-
zielt worden sind, liebe Kolleginnen und Kollegen . Das
hat etwas mit diesem Mandat zu tun .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Im Jahr 2013 wurde ein Normalisierungsabkommen
vereinbart, das auf die Eingliederung der kosovo-serbi-
schen Parallelstrukturen abzielt und somit nicht nur eine
einheitliche staatliche Struktur schafft, sondern auch zu
einer Annäherung zwischen Kosovo-Serben und Koso-
vo-Albanern beiträgt . Hier konnten bereits umfassende
Fortschritte erreicht werden, zum Beispiel im Polizei-
bereich oder bei der Einbindung der kosovarisch-serbi-
schen Bevölkerungsteile in die politische Repräsentanz .

Es konnten auch erste Annäherungen bei der Überfüh-
rung der Justiz- und Kommunalverwaltungsstrukturen in
einheitliche kosovarische Strukturen erwirkt werden .

Diese positiven Entwicklungen gilt es nun zu stärken
und weiter zu begleiten, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Die erreichten Fortschritte sind maßgeblich dem profes-
sionellen Engagement aller beteiligten Kräfte und Ak-
teure zuzuschreiben . Daher gilt ihnen und insbesondere
allen im Rahmen von KFOR agierenden Soldatinnen und
Soldaten an dieser Stelle mein ganz besonderer Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Trotz der positiven Entwicklungen gibt es auch wei-
terhin Herausforderungen und Mängel, deren Lösung wir
künftig verstärkt angehen müssen . Wir wissen auch alle,
dass ein rein militärisches Begleiten nicht die Lösung ist .
Daher wird Deutschland auch weiterhin umfassend die
zivile Mission EULEX unterstützen, um die Entwicklung
der Rechtsstaatlichkeit im Kosovo zu stärken .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern haben das
Auswärtige Amt, das Bundesministerium des Innern und
das Bundesministerium der Verteidigung zum vierten
Mal den Tag des Peacekeepers begangen. Ich finde, es ist
eine sehr wichtige Einrichtung, dass die Ministerien, die
den Einsatz von Polizeibeamtinnen und -beamten, von
zivilen Helfern und auch von Soldatinnen und Soldaten
verantworten, gemeinsam den Einsatz dieser Menschen,
dieser Peacekeeper, würdigen . Das war gestern, was das

Dennis Rohde






(A) (C)



(B) (D)


Kosovo angeht, geradezu symbolhaft . Es wurde ein Sol-
dat für seinen Einsatz bei KFOR geehrt, und es wurde
ein ziviler Peacekeeper für seinen Einsatz geehrt . Beides
gehört eben zusammen, und wir tun gut daran, dieses En-
gagement unserer Peacekeeper im Allgemeinen und auch
im Kosovo stärker zu würdigen, als das bisher der Fall
war, liebe Kolleginnen und Kollegen .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein Ziel der KFOR-Mission konnte bereits durch den
deutlich zu verzeichnenden Anstieg der Fähigkeiten der
begleiteten lokalen Sicherheitskräfte umgesetzt werden .
Die kosovarische Polizei ist mittlerweile imstande, die
Lage im Land zu kontrollieren . Nun gilt es, nach und
nach alle Kompetenzen an solche lokalen Kräfte abzuge-
ben und KFOR als einen stillen Begleiter und Vermittler
mehr und mehr in den Hintergrund treten zu lassen .

Der NATO-Rat hat Anfang Januar der Umsetzung ei-
nes Konzepts zur flexibleren Anpassung der Truppenstär-
ke in Abhängigkeit von der Sicherheitslage zugestimmt,
und der NATO-Oberbefehlshaber hat im April die fort-
schreitende Stabilisierung der Sicherheitslage bestätigt .

Vor diesem Hintergrund, liebe Kolleginnen und Kol-
legen, ist es konsequent und gut vertretbar, die Man-
datsobergrenze auch für uns von 1 850 auf 1 350 Sol-
datinnen und Soldaten herabzusetzen . Dies erlaubt uns
weiterhin, alle übertragenen Aufgaben vollständig zu er-
füllen, auf Lageänderungen – wenn nötig – angemessen
zu reagieren und gleichzeitig den Handlungsspielraum
für lokale Sicherheitskräfte nach und nach zu erweitern .

Das deutsche Engagement bei KFOR, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, ist weiterhin der richtige Weg .
Deswegen bitte ich Sie im Namen der Bundesregierung
um Unterstützung für diesen Weg . Die Bekämpfung von
Korruption, organisierter Kriminalität und die Unterbin-
dung des Zulaufs zu radikalen Kräften müssen Hand in
Hand gehen mit der Stärkung der Zivilgesellschaft und
der Schaffung einer ökonomischen Perspektive . Dazu
zählt unser Engagement bei KFOR als ein wichtiger Bei-
trag . Ich bitte Sie um Zustimmung zu unserem Antrag,
dieses reduzierte militärische Engagement um ein Jahr
zu verlängern .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1817321900

Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Herr Dr . Neu

von der Linken das Wort .


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817322000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Im Februar 2001 hatte die ARD eine Do-
kumentation mit dem Titel veröffentlicht: Es begann mit
einer Lüge – Deutschlands Weg in den Kosovo-Krieg. Ei-
gentlich hätte ein zweiter Teil mit dem Titel Kosovo – die

Fortsetzung einer Lüge und westliche Doppelstandards
produziert werden müssen .

Welches sind die wesentlichsten Lügen, die diesen
Krieg begleitet haben? Einmal der angebliche Genozid,
der Völkermord, der gegen die Albaner stattfindet. Als
das nicht mehr beweisbar war, sprach man von einem
drohenden Genozid . Spätestens seit heute Morgen sollten
wir mit Blick auf die Armenien-Debatte eines begriffen
haben: Dort, wo Völkermord stattfindet, muss er benannt
werden und müssen Konsequenzen gezogen werden .
Dort, wo er nicht stattfindet, darf er auch nicht herbeifa-
buliert werden, um politische Gegner zu dämonisieren .


(Beifall bei der LINKEN – Florian Hahn [CDU/CSU]: Und dort, wo er droht, muss er verhindert werden!)


Die tatsächliche Motivation war nämlich, letztendlich
Rest-Jugoslawien komplett zu zerschlagen . Das hat man
bis heute geschafft . Der KFOR-Einsatz selbst basiert auf
Lügen und Rechtsbrüchen – bis heute .

Die Lüge ist, KFOR sei eine neutrale Friedenstrup-
pe . Tatsache ist doch, dass die NATO, die den Kern von
KFOR ausmacht, Kriegspartei aufseiten der terroristi-
schen UCK gegen Serbien war; sie war sozusagen die
Luftwaffe der Albaner . Über Nacht, vom 10 . auf den
11 . Juni 1999, wurde dann die NATO-Kriegspartei zur
KFOR-Friedenstruppe .

Eine weitere wesentliche Lüge: Wir, KFOR, stabi-
lisieren das Kosovo als ein multiethnisches Gebiet . So
wurde es auch in der UN-Sicherheitsratsresolution 1244
festgehalten: Aufrechterhaltung der Souveränität Serbi-
ens etc . Aber diese Resolution wurde von Anfang an von
den NATO-Staaten, die in KFOR organisiert waren, nicht
eingehalten . Im Gegenteil: Die Resolution 1244 wurde
selektiv interpretiert und missbraucht .

Statt Sicherheit für die Menschen und eine multiethni-
sche Gesellschaft zu schaffen, flohen über 230 000 Men-
schen oder wurden vertrieben, zumeist Serben und an-
dere Nicht-Albaner . Bis heute konnten diese Menschen
nicht zurückkehren, und das zumindest unter Duldung
der NATO . Statt Wahrung der Souveränität und territo-
rialen Integrität Serbiens, die Sie nun für die Ukraine
einfordern, hat die NATO die territoriale Abspaltung des
Kosovo im Jahre 2008 militärisch abgesichert . Hierzu
zählen auch die Androhung und Anwendung militäri-
scher Gewalt gegen die Serben, die den Verfassungs-
bruch der albanischen Minderheit und den Völkerrechts-
bruch der NATO nicht akzeptieren wollen . Das heißt in
Ihrer Sprache etwa Aufrechterhaltung des sicheren und
stabilen Umfeldes insbesondere im Norden, also dort, wo
Serben noch konzentriert leben .

Fazit: Jede Mandatsverlängerung setzt die Lügen fort .
Jede Mandatsverlängerung dient einer fortgesetzten mi-
litärischen Absicherung eines massiven Völkerrechts-
bruchs. Aber bis heute ist nicht wirklich reflektiert wor-
den, wen man unterstützt hat und noch immer unterstützt .
Ich habe kürzlich einen Bericht gelesen, in dem es darum
geht, wen man unterstützt . Die Essenz des Berichts ist:
Man unterstützt ein Mafiagebilde. Der Westen und die
Bundesregierung unterstützen seit 1989/99 militärisch,

Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe






(A) (C)



(B) (D)


finanziell und anderweitig ein Mafiagebilde. Der Steu-
erzahler bezahlt das . Was war das für ein Bericht? Es
war – dank WikiLeaks – ein Bericht des Bundesnach-
richtendienstes aus dem Jahre 2005 . Er ist heute genauso
aktuell wie damals . Aber ähnlich wie bei dem kürzlich
erschienenen Bericht über den Verteidigungsminister
von Saudi-Arabien wollen Sie das nicht wahrhaben . Sie
halten weiterhin an den sogenannten Alliierten fest .

Die meisten MdBs, die heute hier sitzen, waren
1998/99 noch nicht Mitglied des Bundestages . Sie haben
also nicht diesen Vorratsbeschluss zum Krieg im Okto-
ber 1998 mitgetragen . Deshalb: Machen Sie jetzt Schluss
mit den Lügen, und beenden Sie KFOR . Machen Sie
Schluss mit Doppelstandards . Sorgen Sie dafür, dass die
völkerrechtswidrige Anerkennung des Kosovo seitens
der Bundesregierung zurückgezogen wird .


(Peter Beyer [CDU/CSU]: Sicher nicht!)


Sorgen Sie dafür, dass Deutschland wieder zum Völ-
kerrecht zurückkehrt; denn nur dann haben wir auch die
moralische Autorität, andere Staaten, die das Völkerrecht
brechen, zu kritisieren .


(Beifall bei der LINKEN)


Lügen und Doppelstandards haben eines gemeinsam:
kurze Beine .

Ich danke Ihnen .


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CSU/CSU: Die haben Sie auch!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1817322100

Als nächster Redner hat der Kollege Dirk Vöpel von

der SPD-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ingo Gädechens [CDU/ CSU]: Der Kollege hat lange Beine!)



Dirk Vöpel (SPD):
Rede ID: ID1817322200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Wenn der Bundestag dieser Mandatsver-
längerung zustimmt, geht der Kosovo-Einsatz der Bun-
deswehr bereits in das achtzehnte Jahr . Leider müssen
wir auch heute, fast zwei Jahrzehnte nach der Beendi-
gung des Kosovo-Krieges, nüchtern feststellen: Noch ist
die Zeit für einen endgültigen Abzug der KFOR-Trup-
pen nicht reif . Eine direkte Einsatzunterstützung durch
NATO-Verbände wurde im derzeitigen Mandatszeitraum
nicht angefordert . Der Aufbau selbsttragender kosovari-
scher Sicherheitsstrukturen schreitet erkennbar gut vo-
ran . Aber als alleinige Ordnungsmacht wären sie zurzeit
noch überfordert .

Außerdem steht der für die zukünftige Entwicklung so
wichtige Normalisierungsprozess zwischen dem Kosovo
und Serbien vor einer entscheidenden Phase . Die dies-
bezüglichen Verhandlungen sind mit ihren unvermeidli-
chen Kompromissen und Zugeständnissen innenpolitisch
heftig umstritten und treffen auf den teilweise gewaltsa-
men Widerstand einer kleinen, aber aggressiven Opposi-
tion . Wenn das Spannendste in den Parlamentssitzungen

in Pristina über Monate die Frage war, wann die Oppo-
sition den nächsten Tränengasangriff startet, dann ist
das kaum als Indiz für einen schnellen demokratischen
Reifeprozess zu werten, ebenso wenig übrigens wie die
rechtsstaatlich fragwürdige Inhaftierung mehrerer Oppo-
sitionspolitiker .

Die ethnischen Auseinandersetzungen zwischen
Kosovo-Albanern und Kosovo-Serben sind seit der Un-
abhängigkeitserklärung seltener geworden . Dennoch gab
es auch 2015 über 250 gewalttätige Übergriffe, vor allem
gegen Angehörige der serbischen Minderheit und serbi-
sche Rückkehrer .

Der „Islamische Staat“ hat seine Rekrutierungsbemü-
hungen unter radikalisierten Muslimen im Kosovo deut-
lich verstärkt . Sorgen bereiten nach wie vor die vielen
Spielarten der organisierten Kriminalität . Darüber hinaus
drohen die innenpolitischen Konflikte in Mazedonien
und Bosnien-Herzegowina die Region weiter zu desta-
bilisieren .

In der aufgepeitschten See politischer Auseinander-
setzungen auf dem Westbalkan dient die KFOR-Missi-
on als wichtiger Stabilisierungsanker, notfalls auch, um
die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten der UNO und der
EU-Rechtsstaatlichkeitsmission EULEX militärisch zu
unterstützen . Deshalb möchte ich um Ihre Unterstützung
für eine Verlängerung des Mandats werben .

Der vorliegende Antrag der Bundesregierung be-
schränkt sich nicht auf die zeitliche Fortschreibung des
bestehenden Mandats, er markiert vielmehr eine Zwi-
schenetappe im Auslaufprozess der bisher längsten Aus-
landsmission der Bundeswehr . Es ist auch dem Einsatz
deutscher Soldatinnen und Soldaten zu verdanken, dass
sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren deutlich
verbessert hat . Aufgrund der Abnahme interethnischer
Konflikte erscheint es deshalb vertretbar, den deutschen
Beitrag zu KFOR im neuen Mandat kleiner anzusetzen .

Die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Proble-
me des Kosovo als schwierig zu bezeichnen, wäre eine
Untertreibung . Korruption und Energienotstand – so
heißen die beiden ökonomischen Vogelscheuchen, die
ausländische Investoren nachhaltig abschrecken, obwohl
sie angesichts der desolaten wirtschaftlichen Lage im
Kosovo dringend gebraucht würden . Mit dem geringsten
Pro-Kopf-Einkommen, der höchsten Armutsquote, einer
Gesamtarbeitslosigkeit zwischen 35 und 45 Prozent und
einer der weltweit höchsten Quoten im Bereich der Ju-
gendarbeitslosigkeit ist das Kosovo das Armenhaus Eu-
ropas .


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Daraus können Sie kein militärisches Mandat ableiten!)


Sicher, die Hoffnung stirbt zuletzt . Aber was ge-
schieht, wenn der letzte Hoffnungsfunken verglüht ist,
haben wir in den ersten Monaten des letzten Jahres er-
lebt . Zehntausende überwiegend junge Leute kehrten ih-
rer Heimat den Rücken und eröffneten mit dieser ersten
großen Wanderungsbewegung in den Schengen-Raum

Dr. Alexander S. Neu






(A) (C)



(B) (D)


letztlich den Flüchtlingskorridor der Balkanroute . Viele
von ihnen sind mittlerweile wieder zurückgekehrt,


(Niema Movassat [DIE LINKE]: Mit toller Perspektive!)


nach wie vor ohne ausreichende Erwerbs- und Lebens-
perspektive im eigenen Land, dafür oft reicher nur an
Schleuserschulden und der frustrierenden Erfahrung des
Scheiterns .

Vor diesem Hintergrund kann es, glaube ich, keinen
passenderen Zeitpunkt und kein stärkeres Signal der
Hoffnung geben als den von der EU-Kommission am
4 . Mai auf den Weg gebrachten Vorschlag der Visalibe-
ralisierung für Staatsangehörige des Kosovo . Der Vor-
schlag der Kommission sieht vor, dass Kosovaren für
Kurzaufenthalte bis zu 90 Tagen endlich visumfrei in fast
alle EU-Mitgliedstaaten reisen können . Ich begrüße die-
sen Schritt ganz ausdrücklich, nicht nur weil er eine von
den Kosovaren seit Jahren zu Recht kritisierte Diskrimi-
nierung im Vergleich zur Behandlung anderer Balkan-
staaten beseitigt, sondern vor allem, weil er vielen Men-
schen im Kosovo das oft beklagte Gefühl der Isolation
nehmen wird .

Es gibt keine echte Freiheit ohne Reisefreiheit . Wir
in Deutschland haben damit unsere eigenen Erfahrun-
gen gemacht . Jetzt liegt es an den Kosovaren, zügig die
letzten Hausaufgaben zu erledigen und vor allem den
Grenzvertrag mit Montenegro zu ratifizieren, damit Rat
und Europäisches Parlament dem Vorschlag der Kom-
mission endgültig zustimmen können . Die Visaliberali-
sierung wird die Menschen im Kosovo näher an Europa
heranrücken . Das ist ein kräftiger Hoffnungsfunken . Sie
belegt, dass die europäische Perspektive real und kein
leeres Versprechen ist .

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1817322300

Vielen Dank . – Als nächster Redner spricht Tobias

Lindner von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .


Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1817322400

Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Als dieses Hohe Haus zum ersten Mal ein
Mandat für KFOR erteilt hat – das war 1999 –, war ich –
das ist mir vorhin erst wieder aufgefallen – 17 Jahre alt .
Das ist normalerweise das Alter, in dem viele junge Men-
schen richtig politisch aktiv werden . Heute bin ich 34 .


(Dr . Alexander S . Neu [DIE LINKE]: Siehst aber älter aus! – Henning Otte [CDU/CSU]: Ich dachte älter!)


Mich hat dieses Mandat also quasi über die Hälfte meines
Lebens hinweg begleitet. Es zeigt: Krisen und Konflikte
können plötzlich und für viele von uns unvorhergesehen
kommen . Aber wenn sie einmal da sind, braucht es ei-
nen ziemlich langen Atem, um sie wirklich dauerhaft und
nachhaltig zu lösen . So ist es auch bei diesem Mandat .

Dabei müssen wir uns – ich bin dem Staatssekretär
durchaus dankbar, dass er das angesprochen hat – immer
wieder klarmachen: Das Militär, liebe Kolleginnen und
Kollegen, kann diesen Konflikt nicht lösen. Es kann aber
einen Rahmen bieten, in dem zivile Instrumente bzw . po-
litische Lösungen dabei helfen können, Entwicklungen
im Kosovo anzustoßen, welche die Probleme, die in die-
ser Debatte schon angesprochen worden sind, lösen oder
zumindest abmildern können . Deswegen, meine sehr ge-
ehrten Damen und Herren, wird meine Fraktion auch in
die Beratungen über dieses Mandat mit der Einstellung
hineingehen, es wohlwollend zu unterstützen .

Wir müssen uns, wenn wir uns zivil und politisch en-
gagieren wollen, vor allem aber auch klarmachen: Eine
Lösung für den Konflikt im Kosovo wird es nur geben
können, wenn der Westbalkan insgesamt eine politische
Perspektive erhält .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es braucht ein außerordentliches Engagement dieser
Bundesregierung vor dem Hintergrund dessen, dass es
in Mazedonien gerade eine Vertrauenskrise gibt, dass
in Bosnien-Herzegowina nationalistische Kräfte mit der
Abspaltung der Republika Srpska liebäugeln und dass in
Montenegro die Zivilgesellschaft und die Presse unter er-
heblichem Druck stehen . Wir brauchen zur Lösung die-
ser Probleme eine Lösung für den gesamten Westbalkan,
liebe Kolleginnen und Kollegen .

Herr Kollege Vöpel, Sie haben es dankenswerterweise
angesprochen: Es geht um den Weg in das Haus Euro-
pa und um ein näheres Heranrücken an Europa . Ich bin
fest davon überzeugt – das gilt auch für meine Frakti-
on –, dass es für Serbien und das Kosovo am Ende des
Tages nur einen gemeinsamen Weg in das Haus Europa
wird geben können . Es braucht eine Aussöhnung, und
es braucht eine Verständigung zwischen beiden Staaten,
wenn wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht noch in
17 Jahren hier stehen wollen, um über dieses Mandat zu
beraten .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


1999 hat die damalige Bundesregierung – auch das
wurde schon erwähnt, und auch das sollten wir uns in der
jetzigen Debatte vergegenwärtigen – eine Mandatsober-
grenze von 8 500 Soldatinnen und Soldaten beantragt .
Seitdem hat die Präsenz des Militärs stetig abgenom-
men . Das ist ein guter und wichtiger Schritt . Deswegen
begrüßen wir es auch, dass mit dem neuen Mandat die
Mandatsobergrenze weiter gesenkt werden soll . Das ist
ein Weg dahin, dass man dieses Mandat hoffentlich in
wenigen Jahren wird beenden können, liebe Kolleginnen
und Kollegen .

Die 17 Jahre, die dieser Einsatz andauert, sollten uns
bei allem Streit darüber – der Kollege Neu hat es ja ge-
rade vorgeführt –, ob Mandate sinnvoll oder weniger
sinnvoll sind bzw . ob wir dafür oder dagegen sein soll-
ten, alle gemeinsam dazu mahnen oder motivieren, bei
Mandaten frühzeitig zu fragen, wie man da auch wieder
herauskommt . Sind die Ziele, die wir uns gesetzt haben,

Dirk Vöpel






(A) (C)



(B) (D)


erreicht worden? Was läuft sinnvoll? Und wo gibt es
Rückschläge?

Wir sollten uns gemeinsam darüber im Klaren sein,
was wir in den kommenden Monaten bzw . noch in dieser
Legislaturperiode in den Ausschussberatungen werden
leisten müssen, damit es uns gelingen kann, die Mandats-
grenze weiter abzuschmelzen und KFOR vorerst auf eine
Rolle zu reduzieren, bei der sie quasi nur noch als letzte
Versicherung vor Ort steht, damit wir dann – hoffentlich
in wenigen Jahren und nicht erst nach weiteren 17 Jah-
ren – auch dieses Mandat beenden und damit in eine Zu-
kunft blicken können, in der das Kosovo insgesamt einen
Weg in das Haus Europa und in eine gute Zukunft finden
kann .

Ich danke Ihnen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg . Peter Beyer [CDU/CSU])



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1817322500

Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Florian Hahn

von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1817322600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der KFOR-Einsatz im Kosovo steht beispielhaft für den
langen Atem, den man für eine erfolgreiche Stabilisie-
rungsmission benötigt . Er besteht seit 1999 und ist damit
der längste und weiterhin zweitgrößte Auslandseinsatz
der Bundeswehr . Wenn wir mittlerweile verstärkt auf
andere Krisenregionen blicken, dann liegt das vor allem
daran, wie effektiv die bei KFOR eingesetzten Soldatin-
nen und Soldaten zur Normalisierung und Stabilität im
Kosovo beitragen .

Oberst von Keyserlingk, der 2004 das erste Mal Kom-
mandeur des deutschen Einsatzkontingents im Kosovo
war und am 26 . dieses Monats nach rund zwei Jahren
die Truppenfahne im Feldlager Prizren zum zweiten Mal
wieder abgab, hat die Fortschritte in einem Interview
ganz plastisch beschrieben . Den Soldaten sei es anfangs
nicht möglich gewesen, das Lager ohne Waffen zu ver-
lassen . Mittlerweile brauche man den Gefechtshelm und
die Weste nur noch bei sich in der Nähe zu haben; man
müsse sie nicht mehr tragen . – Das Resümee des letzten
Mandatszeitraums unterstreicht sein Urteil: Es war kein
Eingreifen seitens KFOR notwendig .

Auch die Zahlen spiegeln die positive Entwicklung wi-
der . 1999 waren noch 50 000 KFOR-Soldaten im Land;
heute sind es rund 5 000 . Am 20 . April bestätigte der
NATO-Oberbefehlshaber in Europa zudem die geplante
Reduzierung der Einsatzkompagnien von 14 auf 12 . Noch
Anfang des Jahres allerdings spielten sich im Kosovo
Szenen ab, die für alles andere als für eine Stabilisierung
sprachen: Tränengasschwaden im Parlament, Abgeord-
nete mit Gasmasken, Angriffe militanter Demonstranten
im Zentrum der Hauptstadt, Polizisten, die Abgeordne-
te der Opposition gewaltsam aus dem Saal entfernten .
Die Opposition versuchte, durch gewaltsame Störungen

Neuwahlen zu erringen . Diese scharfen innenpolitischen
Auseinandersetzungen sind besorgniserregend .

Ich betone dies, um uns eine Wahrheit noch einmal vor
Augen zu führen: So viel wir auch im Kosovo erreicht
haben, noch immer ist der Staat, der mittlerweile von
111 Ländern weltweit völkerrechtlich anerkannt wird,
ein fragiles Gebilde . Obwohl die kosovarische Polizei
bei den Großdemonstrationen Anfang des Jahres keine
Unterstützung benötigte – dies zeugt im Übrigen von
der guten Ausbildung der Polizei und der kosovarischen
Sicherheitskräfte durch KFOR –, bleibt die internationa-
le Präsenz als Garant für eine Grundsicherheit notwen-
dig . Auch wenn KFOR nicht eingreifen musste, wurde
doch alles für einen möglichen Einsatz des deutschen
Sicherungszuges vorbereitet . Während Demonstranten
den Niedergang der Regierung skandierten, blieben die
Soldatinnen und Soldaten in Bereitschaft . So richtig die
Absenkung der Personalobergrenze ist, so wichtig bleibt
die Möglichkeit, auf Krisensituationen zu reagieren . Um
es nochmals mit den Worten von Oberst von Keyserlingk
zu sagen:

Gut, dass nichts passiert ist, und gut, dass wir hätten
eingreifen können .

Trotz der zum Teil gewaltsamen innenpolitischen
Auseinandersetzungen, die sich vor allem gegen den
Status der serbischen Gemeinden im Kosovo richten, hat
der Normalisierungsprozess zwischen den beiden Akteu-
ren, Pristina und Belgrad, einen großen Sprung gemacht .
Das im vergangenen August beschlossene Abkommen
zwischen Ministerpräsident Aleksandar Vucic und dem
kosovarischen Regierungschef Isa Mustafa wurde zu
Recht als historischer Meilenstein bezeichnet . Der vorge-
sehene Rückzug serbischer Institutionen aus dem Nord-
kosovo könnte dazu dienen, die ethnischen Spannungen
im Norden langfristig zu mindern . Im Gegenzug sollten
den serbischen Gemeinden weitgehende Selbstbestim-
mungsrechte gewährt werden .

Es ist jetzt wichtig, zu verhindern, dass die Annähe-
rung Opfer politischer Instrumentalisierung wird . Die
Integration und der Schutz der serbischen Minderheit –
rund 50 000 Serben leben noch im Norden Kosovos –,
die Toleranz und Aussöhnung innerhalb der Gemeinden
und der Schutz von Minderheiten bleiben wichtige Bau-
steine in diesem Prozess . Es gilt daher, Präsident Thaci
und Ministerpräsident Vucic bei ihrer mutigen Stabilisie-
rungspolitik zu unterstützen .

Für die Entwicklung des Kosovos bleibt der
KFOR-Einsatz, flankiert durch unser entwicklungspo-
litisches Engagement, weiterhin wichtig . Er schafft ein
stabiles Umfeld, das für die Entwicklung des Landes und
den Weg in die Europäische Union notwendig ist . Unser
Einsatz wird daher auch in Zukunft nicht zeitgebunden
sein, sondern immer ergebnisorientiert die Kräftekontin-
gente an die Lage im Land anpassen .

Noch eine Bemerkung zum Kollegen Neu: Es ist rich-
tig, man muss Völkermord Völkermord nennen, wenn er
Völkermord ist . Genauso richtig ist es aber auch, drohen-
den Völkermord zu verhindern . Mit Blick auf die Diskus-
sion, die wir heute in diesem Plenum geführt haben, mit
Blick auf die Rolle des Kaiserreichs beim Völkermord an

Dr. Tobias Lindner






(A) (C)



(B) (D)


den Armeniern ist es gerade für uns Auftrag, drohenden
Völkermord zu verhindern .

Danke schön .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1817322700

Der Kollege Neu erhält die Möglichkeit zu einer

Kurzintervention .


Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817322800

Sehr geehrter Kollege, es gab keinen drohenden Völ-

kermord . Ich beziehe mich damit auf Aussagen des Aus-
wärtigen Amts aus dem Jahre 1998 bis in den März 1999
hinein . Entsprechende Informationen zur Abschiebung
von Kosovo-Albanern kurz vor Beginn des Krieges
durch die NATO wurden von den verschiedenen Verwal-
tungsgerichten angefragt . Ich kann Ihnen gerne vier Fälle
vorlesen, um das einmal zu verdeutlichen .

Auskunft des Auswärtigen Amts, 12 . Januar 1999, an
das Verwaltungsgericht Trier:

Eine explizit an die albanische Volkszugehörig-
keit anknüpfende politische Verfolgung ist auch im
Kosovo nicht festzustellen . Der Osten des Kosovo
ist von den bewaffneten Konflikten bislang nicht er-
faßt, das öffentliche Leben in Städten wie Pristina,
Urosevac, Gnjilan usw . verlief im gesamten Kon-
fliktzeitraum in relativ normalen Bahnen.

Das Vorgehen der Sicherheitskräfte war

… nicht gegen die Kosovo-Albaner als ethnisch de-
finierte Gruppe gerichtet, sondern gegen den militä-
rischen Gegner und dessen tatsächliche oder vermu-
tete Unterstützer .

Sprich: die UCK .

Auskunft des Auswärtigen Amts, 15 . März 1999, an
das Verwaltungsgericht Mainz:

Wie im Lagebericht vom 18 .11 .1998 ausgeführt,
hat die UCK seit dem Teilabzug der … Sicher-
heitskräfte im Oktober 1998 ihre Stellungen wieder
eingenommen, so daß sie wieder weite Gebiete im
Konfliktgebiet kontrolliert. Auch vor Beginn des
Frühjahrs 1999 kam es weiterhin zu Zusammenstö-
ßen …

Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs – das
dürfte Sie jetzt interessieren – aus dem Oktober 1998:

Die den Klägern in der Ladung zur mündlichen Ver-
handlung angegebenen Lageberichte des Auswärti-
gen Amts vom 6 . Mai, 8 . Juni und 13 . Juli 1998 las-
sen einen Rückschluß auf eine Gruppenverfolgung
ethnischer Albaner aus dem Kosovo nicht zu . Nicht
einmal eine regionale Gruppenverfolgung, die allen
ethnischen Albanern aus einem bestimmten Teilge-
biet des Kosovo gilt, läßt sich mit hinreichender Si-
cherheit feststellen . Das gewaltsame Vorgehen des
jugoslawischen Militärs und der Polizei seit Febru-
ar 1998 bezog sich auf separatistische Aktivitäten
und ist kein Beleg für eine Verfolgung der gesamten

ethnischen Gruppe der Albaner aus dem Kosovo
oder einem Teilgebiet desselben .

Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster, 11 . März
1999:

Albanische Volkszugehörige aus dem Kosovo wa-
ren und sind in der Bundesrepublik Jugoslawien
keiner regionalen oder landesweiten Gruppenver-
folgung ausgesetzt .

Stoppen Sie also das Märchen von einem drohenden
Genozid .

Danke .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1817322900

Herr Hahn, Sie haben die Möglichkeit zur Erwide-

rung .


Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1817323000

Herr Kollege Neu, Sie haben unter anderem Doku-

mente des Auswärtigen Amts aus dieser Zeit zitiert, die
ich jetzt nicht nachvollziehen kann .


(Dr . Alexander S . Neu [DIE LINKE]: Ich schicke Ihnen die per E-Mail zu!)


Ich habe leider keine Aussagen der Führung des Auswär-
tigen Amts aus dieser Zeit zur Hand; aber das können
wir gerne beim nächsten Mal nachholen . Ich könnte mir
vorstellen, dass Bundesaußenminister Joschka Fischer
die Lage damals deutlich anders eingeschätzt hat .


(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können Sie ja heute ein bisschen objektiver beurteilen! – Niema Movassat [DIE LINKE]: Politisch anders motiviert eingeschätzt hat! – Dr . Franz Josef Jung [CDU/ CSU]: „Nie wieder Auschwitz“ hat er gesagt!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1817323100

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Debatte ist da-

mit beendet .

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/8623 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
auch so beschlossen .

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Keul, Katja Dörner, Luise Amtsberg, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Elternschaftsvereinbarung bei Samenspende
und das Recht auf Kenntnis eigener Abstam-
mung

Drucksache 18/7655
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)


Florian Hahn






(A) (C)



(B) (D)


Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre dazu
keinen Widerspruch . Dann ist das auch so beschlossen .

Wenn die Kolleginnen und Kollegen ihre Plätze ein-
genommen haben – ich bitte darum, dass das zügig ge-
schieht –, dann kann ich die Debatte auch eröffnen .

Ich eröffne die Aussprache . Als erste Rednerin erhält
Katja Keul von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort .


Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1817323200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Samenspende ist ein seit über vier Jahr-
zehnten praktiziertes Verfahren . Tausende von Familien
sind auf diesem Wege gegründet worden . Dennoch fehlt
es bis heute an einer gesetzlichen Regelung und damit
an einer rechtlichen Absicherung aller Beteiligten . Mit
unserem heutigen Antrag machen wir konkrete Vorschlä-
ge für eine solche gesetzliche Regelung . Im Zentrum
unserer Überlegungen stehen zunächst einmal die Inte-
ressen des durch die Samenspende entstandenen Kindes,
das aufgrund der Rechtsunsicherheit noch immer vor der
Schwierigkeit steht, die erforderlichen Informationen
über seine Abstammung zu erhalten . Seit Jahren ist un-
bestritten, dass die Kenntnis der eigenen Abstammung
zentral bei der eigenen Identitätsfindung sein kann und
die Unkenntnis zu gravierenden psychologischen Be-
lastungen führen kann . Deswegen ist eine anonyme Sa-
menspende auch nicht zulässig . Klar ist auch, dass nicht
jede oder jeder diese Kenntnis haben will oder haben
muss . Aber denjenigen, für die es wichtig ist, müssen wir
zur Durchsetzung ihres Anspruches verhelfen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das Verfassungsgericht hat seit den 80er-Jahren
mehrfach klargestellt, dass die Kinder einen verfassungs-
rechtlich geschützten Anspruch auf Auskunft gegenüber
ihren Eltern haben . Was sie bisher nicht haben, ist ein
Anspruch gegen einen Dritten auf Durchführung eines
Vaterschaftsfeststellungsverfahrens . Der einzige rechtli-
che Weg liegt bislang in der Anfechtung ihres rechtlichen
Vaters und der Geltendmachung von Ansprüchen gegen
den vermutlichen biologischen Vater, soweit bekannt .
Genau dort liegt das Problem .

Das Recht der Kinder auf Anfechtung der Vaterschaft
kontrahiert deren Anspruch auf Auskunft über ihre Ab-
stammung . So müssen die Samenbanken zwar gewisse
Daten vorhalten; in der Praxis machen sie aber alles,
um aus ihrer Sicht ihre Kunden zu schützen und ihr
Geschäftsmodell zu erhalten . Es gibt daher einen sehr
unterschiedlichen Umgang mit den Auskunftspflichten
gegenüber den Kindern, bis hin zur gezielten praktischen
Verhinderung . Dabei geht es den Kindern so gut wie nie
um die Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen oder Erb-
ansprüchen gegen den Samenspender, sondern schlicht
um die Kenntnis ihrer Abstammung .

Was also tun? Wie können wir gleichzeitig Rechtssi-
cherheit für die Spenderkinder, Wunscheltern und Spen-
der schaffen? Unser Vorschlag:

Als Allererstes sollte der bislang verfassungsrechtlich
unbestrittene Auskunftsanspruch der Kinder gesetzlich
verankert werden, auch gegenüber den Samenbanken .

Als Zweites sollte es schon vor der Zeugung möglich
werden, in einer Elternschaftsvereinbarung die rechtli-
che Elternschaft des Wunschvaters vertraglich und ver-
bindlich zu regeln . Das schafft nicht nur Sicherheit bei
Spenden über Samenbanken, sondern gerade auch bei
sogenannten vertraulichen Spenden im privaten Umfeld,
vor allen Dingen, wenn die Eltern nicht verheiratet sind .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Diese Vereinbarung sollte beim Jugendamt protokolliert
und mit einer entsprechenden Belehrung über den zu-
künftigen Umgang mit dem Auskunftsrecht gegenüber
dem Kinde zu dessen Wohl verbunden sein .

Drittens müssen wir künftig dem Kind einen gesetz-
lichen Weg verschaffen, die biologische Vaterschaft des
Spenders feststellen zu lassen, ohne dabei die rechtliche
Vaterschaft infrage zu stellen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Eine solche gerichtlich festgestellte biologische Vater-
schaft ohne Statusänderung haben wir bereits vor einigen
Jahren ins Gesetz eingeführt, als es um die Durchsetzung
von Umgangsrechten des biologischen Vaters ging . Es
handelt sich also nicht um eine völlig neue Konstrukti-
on . Nur wenn dem Kind ein solcher Weg zur Verfügung
steht, ist es verfassungsrechtlich vertretbar, im Gegen-
zug das Anfechtungsrecht des Kindes gegenüber dem
rechtlichen Vater mittels einer Elternschaftsvereinbarung
auszuschließen . Im Ergebnis wirkt die Elternschaftsver-
einbarung wie eine Adoption, bei der das Kind ebenfalls
kein Anfechtungsrecht erhält .

Nach diversen Gesprächen im Vorfeld mit den Ver-
bänden sowohl der Eltern als auch der Kinder kann ich
Ihnen sagen, dass der Ausgleich der durchaus gegen-
läufigen Interessen alles andere als banal ist. Die Eltern
wünschen keinen zusätzlichen Druck hinsichtlich der
Aufklärung ihrer Kinder durch einen Eintrag im Gebur-
tenregister, während die Spenderkinder ins Feld führen,
dass die Aufklärungsrate mit geschätzten 10 Prozent
nach wie vor viel zu niedrig sei . Auf der anderen Seite
wollen die Spenderkinder gern an ihrem Anfechtungs-
recht gegenüber dem rechtlichen Vater festhalten, was
aber die Rechtsunsicherheit aufseiten der Spender nicht
aufheben würde .

Ich glaube, dass unser Vorschlag das ausgewogene Er-
gebnis eines Abwägungsprozesses zwischen Auskunfts-
anspruch auf der einen Seite und Anfechtungsrecht auf
der anderen Seite ist . Ich bin gespannt auf die weiteren
Beratungen und die entsprechenden Vorschläge der Re-
gierungsseite .

Vielen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn






(A) (C)



(B) (D)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1817323300

Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Dr . Sabine

Sütterlin-Waack das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU):
Rede ID: ID1817323400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle-

gen! Wo komme ich her? Von wem stamme ich ab? Für
alle Kinder gilt das Recht auf Herkunft . Darüber herrscht
Einigkeit . Konkrete, einfachgesetzliche Regelungen gibt
es zu diesem Anspruch allerdings bislang nicht . Vielmehr
leitet sich der Anspruch der Kinder, wie höchstrichterlich
festgestellt, aus den Artikeln 2 und 1 des Grundgesetzes,
dem Persönlichkeitsrecht, ab .

Ich stimme mit den Antragstellern überein, dass Re-
gelungsbedarf besteht . Auch ist es richtig, dass sich die
Durchsetzung des Rechts auf Kenntnis der Abstammung
in der Realität oft als schwierig erweist . Kinder haben
aus den verschiedensten Gründen Schwierigkeiten, Kon-
takt zum Samenspender, zum biologischen Vater aufzu-
nehmen . Die Väter sind oftmals in Sorge, dass sie nach
Anfechtung zum rechtlichen Vater gemacht werden und
sich damit Erb- und Unterhaltsansprüchen aussetzen . Es
ist zudem keine Seltenheit, dass Kliniken und Samen-
banken wenig Ehrgeiz an den Tag legen, Kindern bei der
Durchsetzung ihrer Rechte hilfreich zur Seite zu stehen .
Zu groß ist die Angst, eines Tages keine Samenspender
mehr zu finden.

Der vorliegende Antrag geht grundsätzlich in die rich-
tige Richtung,


(Beifall der Abg . Katja Keul [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


in einigen Punkten schießt er aber über das Ziel hinaus
und ist deswegen auch abzulehnen .


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben noch nicht einmal zu diskutieren angefangen!)


Er enthält Regelungen, die auch Auswirkungen auf weite
Teile des Abstammungsrechts hätten . Hierfür bedarf es
einer gründlicheren Prüfung und eines schlüssigen Ge-
samtkonzepts . Ich verweise auf die für Sommer 2017 zu
erwartenden Ergebnisse des seit 2015 tagenden Arbeits-
kreises „Abstammungsrecht“ des Bundesministeriums
der Justiz und für Verbraucherschutz . Dort wird unter
Beteiligung von führenden Familienrechtlern, Verfas-
sungsjuristen, Psychologen und Medizinethikern der
Frage nachgegangen, inwieweit unsere abstammungs-
rechtlichen Regelungen überhaupt noch passen . Fakt
ist, dass die modernen Technologien, die im Bereich der
Fortpflanzungsmedizin zur Verfügung stehen, zu Famili-
enformen führen, die noch vor kurzem auch für den Ge-
setzgeber unvorstellbar waren . Sie stellen das deutsche
Familienrecht vor neue Herausforderungen .


(Mechthild Rawert [SPD]: Das stimmt!)


Vor diesem Hintergrund finde ich es wenig hilfreich,
nur in einem Teilbereich des Abstammungsrechts vor-
schnell isolierte Regelungen zu schaffen . Damit meine
ich nicht, dass die Schaffung eines Samenspenderegis-

ters eine schlechte Idee ist; sie ist sogar eine sehr gute,
wenn sie richtig umgesetzt wird . Um eine entsprechende
Umsetzung kümmert sich derzeit das in diesem Bereich
federführende Bundesgesundheitsministerium in enger
Abstimmung mit den Ressorts Justiz und Familie .

Dabei muss nochmals genauer geprüft werden – der
Antrag der Grünen ist hier nicht klar genug –, ob Kindern
nicht auch ein Recht auf Nichtwissen eingeräumt werden
soll .


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Natürlich! Haben sie doch!)


Gemäß des Regelungsvorschlags der Grünen, also einer
Eintragung eines entsprechenden Vermerks in das Ge-
burtenregister,


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ohne Namen!)


wird das Kind quasi zwangsweise über seine Entste-
hung aufgeklärt . Sollte es nicht der Initiative des Kindes
überlassen werden, herauszufinden, ob es durch eine Sa-
menspende gezeugt wurde?

Als zu weitgehend sehen wir außerdem die Idee an,
das Kind solle gegenüber dem Vater feststellen lassen
können, ob der von der Klinik bzw . Samenbank benann-
te Spender tatsächlich sein biologischer Vater ist . Die
jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat
deutlich gemacht, dass ein Auskunftsanspruch nicht ab-
solut ist, also auch durch die Persönlichkeitsrechte des
mutmaßlichen Vaters eingeschränkt ist . Es ist zum Bei-
spiel die Frage zu klären, ob ein Klärungsanspruch des
Kindes auch bei natürlicher Zeugung gegenüber jedem
mutmaßlichen biologischen Vater bestehen soll . Auch
hier halte ich eine Einbettung dieser und anderer Fragen
in die Arbeit des Arbeitskreises für sinnvoll .

Größere Probleme haben wir allerdings mit der soge-
nannten Elternschaftsvereinbarung . Auf den ersten Blick
erscheint diese sinnvoll, weil es Fälle gibt – aber es sind
wirklich nur Einzelfälle –, in denen ein nicht verheirate-
tes Paar sich für eine Insemination entscheidet und der
Wunschvater im Laufe der Schwangerschaft abspringt
oder die Mutter die Zustimmung verweigert . Hier schafft
zwar eine Elternschaftsvereinbarung auf den ersten Blick
einen Mehrwert an rechtlicher Sicherheit im Sinne des
Kindes . Bei näherem Hinsehen schleicht sich aber der
bittere Beigeschmack ein, dass hier eher auf die Interes-
sen und die Wünsche der Eltern abgestellt wird .

Die Antragsteller konnten es nicht lassen, einen wei-
teren Versuch zu starten, Gesellschaftspolitik durch die
Hintertür zu betreiben .


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mensch, jetzt aber nicht übertreiben!)


Co-Mutterschaft und Co-Parenting sind Konzepte, die
sich, wie Sie wissen, nur schwer mit der Linie der Gro-
ßen Koalition vereinbaren lassen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Zusammengefasst: Es gibt durchaus Schnittmengen,
wie die Errichtung eines Registers oder den Vorschlag
zur Einrichtung einer Höchstgrenze von Samenspenden






(A) (C)



(B) (D)


eines einzelnen Spenders; auch der Verbesserung von
Beratungsangeboten stehen wir offen gegenüber . Aber
unter dem Strich trennt uns dann doch zu viel von dem
vorliegenden Antrag .

Danke schön .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1817323500

Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Jörn

Wunderlich von der Fraktion Die Linke das Wort .


(Beifall bei der LINKEN)



Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817323600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Jedes Kind hat das Recht auf Kenntnis seiner Abstam-
mung; wir haben es mehrfach gehört . In Deutschland
ist dieses Recht sogar verfassungsrechtlich geschützt;
das haben wir auch schon gehört . 1989 hat das Bundes-
verfassungsgericht entschieden, dass dieses Recht vom
allgemeinen Persönlichkeitsrecht – Sie haben es gesagt,
Frau Kollegin Sütterlin-Waack – aus Artikel 2 und Arti-
kel 1 Grundgesetz umfasst wird . Das war 1989, also vor
27 Jahren . Das entspricht genau der Altersgrenze für die
noch das KJHG gilt . Ich denke, es wird langsam Zeit, dass
sich etwas tut . Das geschieht auch nicht, wie die Kollegin
Sütterlin-Waack behauptet, übereilt oder vorschnell . Ich
meine, Zeit genug war . Im Koalitionsvertrag haben die
beiden Koalitionspartner vereinbart, dies rechtlich zu re-
geln, aber davon ist bislang noch nichts zu sehen .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Selbst nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom
28 . Januar 2015 – das ist auch schon knapp eineinhalb
Jahre her –, das besagt, dass durch Samenspende gezeug-
te Kinder unabhängig vom Alter ein Recht auf Kenntnis
ihrer Abstammung haben, hat sich diesbezüglich nichts
getan . Um dieses Grundrecht grundsätzlich zu wahren,
hat der Bundestag im Jahr 2008 § 1598a BGB – er ist
auch schon erwähnt worden –, eingeführt, um eine Vater-
schaftsfeststellung oder eine Abstammung unabhängig
von der Vaterschaftsanfechtung zu ermöglichen, um eben
nicht in dieses Rechtskonstrukt oder in diese rechtlichen
Beziehungen einzudringen oder sie zu ändern . Dies ge-
schieht aber nur, um festzustellen, ob der rechtliche Vater
auch der leibliche Vater ist .

Gegen den Samenspender besteht ein solcher An-
spruch auf Klärung nicht . Das haben wir damals leider
übersehen . Ich war damals auch Berichterstatter, wobei
ich aber auch nicht glaube, dass so ein Einwand, wenn er
von der Linken gekommen wäre, Gehör gefunden hätte .
Die übrigen Einwände fanden ja auch kein Gehör . Umso
mehr begrüßt die Linke jetzt den vorliegenden Antrag
der Grünen; denn schließlich ist nicht einzusehen, wa-
rum adoptierten Kindern die Möglichkeit eröffnet wird,
die Identität ihrer leiblichen Eltern zu erfahren und diese
kennenzulernen, ohne dass Rechtsbeziehungen zu ihnen
entstehen, durch Samenspende gezeugten Kindern aber

nur der Weg über die Vaterschaftsanfechtung bleibt, mit
allen rechtlichen Konsequenzen .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Bei adoptierten Kindern ist ein entsprechender Ver-
merk im Geburtenregister vorhanden und bleibt lebens-
lang zugänglich . Warum sollte dies nicht ebenso bei
Spenderkindern erfolgen, um ihnen diese Möglichkeiten
letztlich zu eröffnen? Anonymität bei Samenspende gibt
es nicht . Schon vor fast 50 Jahren, als die Samenspende
nicht mehr geächtet wurde, hatte die Bundesärztekam-
mer darauf hingewiesen, dass anonyme Spenden eben
nicht möglich sind . Die meisten Samenbanken weisen
deshalb auf die rechtlichen Folgen einer möglichen Va-
terschaftsfeststellung mit allen unterhaltsrechtlichen und
erbschaftsrechtlichen Folgen etc . hin .

Die Frage ist nach wie vor, wie sich die rechtlichen
Beziehungen zwischen Spender und Kind möglicherwei-
se entwickeln können . Im Moment ist dies nur auf dem
Weg der Vaterschaftsfeststellung mit allen rechtlichen
Konsequenzen möglich, auch wenn sie weder vom Kind
noch von den Eltern noch vom Spender gewollt sind .

Hier setzt der Antrag der Grünen an, um ein Verfah-
ren zu schaffen, das es Spenderkindern, ähnlich wie 2008
hier in diesem Haus beschlossen, ermöglicht, festzustel-
len, ob der angegebene Vater, nämlich der Spender, auch
der biologische Vater ist – deshalb der anonyme Rand-
vermerk im Geburtenregister – man hat auch ein Recht
auf Nichtwissen – und die Forderung nach einem Mel-
de- und Auskunftssystem, welches es ermöglicht, auf die
entsprechenden Spenderdaten zurückzugreifen . Gleich-
zeitig wird durch ein solches System gewährleistet, dass
die obligatorische Zahl von maximal zehn Kindern pro
Spender auch sichergestellt ist . Es wird zwar darauf hin-
gewiesen, dass das nicht passieren soll, aber keine Sa-
menbank kontrolliert, ob jemand nicht in der Samenbank
Berlin, in der Samenbank Bayreuth und in der Samen-
bank Hintertupfing spendet. Das würde durch ein solches
System gewährleistet .

Ob das von den Grünen geforderte Instrument der El-
ternschaftsvereinbarung die Wirkungen zeigt, die sich
die Grünen erhoffen, werden die Beratungen zeigen .
Ich freue mich jedenfalls darauf und auch auf die Ände-
rungsanträge der Koalition .

Danke schön .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1817323700

Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Sonja Steffen

von der SPD-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1817323800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Besucher auf der Tribüne! Die
Idee, dass ein Kind stets nur zwei Elternteile hat, ist in
der heutigen Zeit überholt . Es gibt Regenbogenfamilien,

Dr. Sabine Sütterlin-Waack






(A) (C)



(B) (D)


es gibt Patchworkfamilien, es gibt rechtliche Eltern, es
gibt soziale Eltern, es gibt biologische Eltern . Genauso
überholt ist es, dass Kinder nur dann entstehen, wenn
die Eltern miteinander schlafen . Die moderne Reproduk-
tionsmedizin macht es möglich, dass Kinder auch ohne
Sex entstehen können .

Seit langer Zeit nun sind bei uns schon anonyme Sa-
menspenden erlaubt,


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Anonym nicht!)


und sie verhelfen unfruchtbaren Männern und Frauen,
aber auch lesbischen Paaren und Singles zu einem Kind .
Inzwischen gibt es rund 100 000 sogenannte Spender-
kinder, und in Deutschland kommen jährlich 1 500 Kin-
der hinzu . Ich glaube, eines ist für uns alle klar: Kind ist
Kind, und es ist völlig egal, auf welchem Weg die Zeu-
gung erfolgt ist .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber jeder Mensch, jedes Kind sollte auch die Möglich-
keit haben, zu erfahren, wer seine Eltern sind; denn die
Frage nach der Herkunft quält . Bei der Vorbereitung zu
dieser Rede habe ich mich auch mit Gedanken und Bei-
trägen von betroffenen Personen beschäftigt . Ein Zitat
lautete beispielsweise: Es ist so, als würde mir ein Kör-
perteil fehlen. – Das kann man gut nachempfinden. Auch
wenn es keine verbindlichen Zahlenwerte dazu gibt, ist
davon auszugehen, dass die Unwissenheit über die eige-
ne Herkunft zu schweren psychischen Problemen führen
kann .

Wir haben es schon gehört: Es gehört zu den Per-
sönlichkeitsrechten eines Menschen, seine genetische
Herkunft zu erfahren . Das Bundesverfassungsgericht ist
schon zitiert worden . Das steht auch in der UN-Menschen-
rechtskonvention . Auch der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte hat das so entschieden . Allerdings hat
unser Recht bislang eine Lücke . Deshalb begrüßen wir
grundsätzlich den Vorstoß der Grünen, den sie mit ihrem
Antrag unternehmen . Allerdings sind wir bereits dabei –
darauf hat Frau Sütterlin-Waack schon hingewiesen –,
diese Lücke zu schließen . Das Bundesjustizministerium
hat 2015 eine Kommission eingerichtet, die aus vielen
Experten besteht . Nicht nur Juristen, sondern auch Medi-
ziner sind dabei . Es geht auch um ethische Fragen . Man
kümmert sich also bereits um diese Angelegenheit . Ich
hoffe, dass wir da zu guten Ergebnissen kommen .

Ich will noch ein paar Gedanken loswerden .


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1817323900

Bevor Sie fortfahren, Frau Steffen, möchte ich Sie fra-

gen: Lassen Sie eine Zwischenfrage zu? – Bitte .


Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1817324000

Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Zwischen-

frage zulassen . Es ist erfreulich, dass es eine Kommis-
sion aus Juristen und Medizinern gibt, die sich damit
beschäftigt . Ich frage Sie: Sind denn die Vereine der

Wunscheltern und der Verein Spenderkinder an diesem
Prozess beteiligt, und wenn nein, warum nicht?


Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1817324100

Die Kommission ist ja mitten in der Arbeit . Ursprüng-

lich sollte das Ergebnis im Sommer 2017 feststehen . Das
ist noch eine lange Zeit. Ich finde, das ist fast ein biss-
chen zu lange, weil wir wissen, dass diese Legislaturpe-
riode 2017 zu Ende sein wird .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Daher hoffe ich, dass wir früher zu Ergebnissen kommen .
Übrigens hoffe ich – damit nehme ich das Ende meiner
Rede vorweg –, dass wir im Gesetzgebungsverfahren
wirklich überfraktionell arbeiten können .

In dem Zusammenhang werden auch Verbände be-
teiligt werden . Ich weiß, dass ein großes Forum geplant
ist, dass auch entsprechende Anhörungen durchgeführt
werden sollen . Ich bin mir sicher, sehr sicher, dass daran
auch Verbände beteiligt werden .


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Hoffnung stirbt zuletzt!)


Der BGH hat 2015 ausdrücklich den Auskunftsan-
spruch des Kindes gegen den Arzt, also gegen den Re-
produktionsmediziner, hinsichtlich des Samenspenders
anerkannt . Allerdings – darauf hat Frau Sütterlin-Waack
schon hingewiesen – gab es im April 2016 eine Entschei-
dung des Bundesverfassungsgerichts, in der es zwar nicht
um Samenspender ging, die aber dennoch bedeutsam ist .
Es ging – die Juristen werden sich erinnern – um eine
66-jährige Frau, die festgestellt wissen wollte oder zu-
mindest einen Auskunftsanspruch hinsichtlich des mut-
maßlichen Vaters geltend machen wollte . Das war ein
hochbetagter Herr von 92 Jahren . Der Vater hat gesagt:
„Das will ich nicht“, und das Bundesverfassungsgericht
hat gesagt: Das darf er, weil er das Recht hat, seine au-
ßereheliche Beziehung zu verheimlichen . – Das Urteil ist
nun einmal da . Im Gegensatz zu Frau Sütterlin-Waack
halte ich es, ehrlich gesagt, für nicht zufriedenstellend
und vielleicht ein bisschen männerlastig,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN sowie der Abg . Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


weil das Recht auf informationelle Selbstbestimmung
hier höher bewertet wurde als das Recht auf Auskunft .

Noch ein paar Gedanken zu dem Antrag selbst . Zur
Aufbewahrungsdauer von medizinischen Daten haben
Sie gesagt: Das sollen 100 Jahre sein . In der Kommission
müssen wir darüber reden, ob man tatsächlich eine Frist
von 100 Jahren benötigt . Im Moment sind es, glaube ich,
nur 30 Jahre . Das ist mit Sicherheit zu wenig .

Dann stellt sich folgende Frage: Sollen wir die Zahl
der Spenden limitieren? Es gibt ja Feststellungen, nach
denen 100 Kinder von einem Samenspender gezeugt
worden sind . Das ist, denke ich, nicht das, was man sich
wünscht . Da sollte es eine Reduzierung geben .

Zuletzt will ich noch Folgendes sagen: Die Zeiten ha-
ben sich geändert . Wir müssen und sollten den Kindern

Sonja Steffen






(A) (C)



(B) (D)


zuliebe Regelungen schaffen, die es wirklich jedem und
jeder ermöglichen, soweit das möglich ist, zu erfahren,
wessen Herkunft er oder sie ist . Ich hoffe, dass wir zu
einem überfraktionellen Ergebnis kommen, weil es sich
hier um eine ethische Frage handelt . Da sollten wir, den-
ke ich, alle zusammenarbeiten .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817324200


Vielen Dank . – Nächster Redner für die CDU/
CSU-Fraktion ist der Kollege Alexander Hoffmann .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Alexander Hoffmann (CSU):
Rede ID: ID1817324300


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolle-
ginnen und Kollegen! Wir haben in Deutschland keine
Zahlen oder genauen Erkenntnisse über die Anzahl der
durch Samenspenden gezeugten Kinder . Nach Experten-
schätzungen dürften es über 100 000 sein . Ebenso wenig
liegen Erkenntnisse dazu vor, wie viele Kinder überhaupt
wissen, dass sie das Produkt einer Samenspende sind .
Was wir aber wissen, ist, dass ein solcher Sachverhalt
für alle Beteiligten rein von der menschlichen Seite ein
unglaublich sensibles Thema ist . Er ist sicherlich persön-
lich bewegend, und er ist auch voll mit psychologischem
Sprengstoff .

Zudem reden wir – ich denke, auch das ist in der De-
batte schon klar geworden – über eine ungeheuer kom-
plexe juristische Materie . Das ist bei der letzten Grund-
satzentscheidung des BGH vom 28 . Januar 2015 deutlich
geworden . Wenn wir bei der juristischen Bewertung sind,
dann muss man ganz ehrlich feststellen, dass dieser Be-
reich in Deutschland bislang gesetzlich nur unzureichend
geregelt ist .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Deswegen hat die Große Koalition aus CDU, CSU
und SPD – auch das ist schon angeklungen – im Koali-
tionsvertrag das Ziel formuliert, dass wir das Recht des
Kindes auf Kenntnis seiner Herkunft gesetzlich regeln
wollen . Deswegen bin ich sehr dankbar – auch das ist
schon angeklungen –, dass im Jahr 2015 im Justizminis-
terium eine Kommission eingerichtet wurde, ein Arbeits-
kreis „Abstammungsrecht“, dessen Ergebnisse wir im
Sommer 2017 erwarten .

Jetzt kann man natürlich sagen: Das dauert zu lan-
ge . Wir haben so viel Zeit zugebracht . – Aber ich warne
vor dieser vorschnellen Beurteilung . Denn dieser Ar-
beitskreis hat ja noch andere Themenfelder als nur die
Samenspende im Blick . So wirft er einen Blick auf die
Frage der Leihmutterschaft und auch auf die verwandten
Fragestellungen der Eizellenspende . Wenn wir den ernst-
haften Willen haben, eine schlüssige Gesamtkonzeption
zu entwickeln, dann, glaube ich, sollten wir uns auch die

Zeit nehmen, alle miteinander verwandten Themenfelder
in diesem Bereich gleichzeitig zu regeln .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Katja Keul [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Machen Sie doch sonst auch nicht!)


Deswegen verbietet sich meines Erachtens zu diesem
Zeitpunkt eine isolierte Vorabregelung . Wenn wir uns
jetzt auf den Weg zu dieser Gesamtkonzeption „Abstam-
mungsrecht“ – so will ich es einmal nennen – begeben,
dann wird uns da eine Vielzahl sehr diffiziler Rechtsfra-
gen begegnen . Das betrifft zum Beispiel – dies wird auch
in Ihrem Antrag formuliert – die Eintragung eines ent-
sprechenden Vermerkes im Geburtenregister . Ich glaube,
dass wir das Recht auf Nichtwissen alleine durch die An-
onymität, Herr Wunderlich, nicht wahren können . Viel-
mehr bräuchten wir so etwas wie einen Blindvermerk,
sodass nur auf ausdrücklichen Wunsch Informationen
herausgegeben werden .

Ich kann mich mit Ihren Überlegungen durchaus an-
freunden, wenn Sie sagen: Das Verfahren zur Aufklärung
der Abstammung lehnen wir an § 1598a BGB an . Nur, da
müssen wir auch daran denken, dass es eine jüngere Ent-
scheidung des Bundesverfassungsgerichts gibt, die ge-
rade bei § 1598a weiteren Klärungsbedarf beim Gesetz-
geber sieht . Es muss geklärt werden, ob es nicht einen
generellen Klärungsanspruch gegenüber jedem mutmaß-
lichen biologischen Vater gibt . Das ist in der Norm ak-
tuell nicht so . Es muss vonseiten des Gesetzgebers auch
die Frage geklärt werden, ob im Rahmen der Norm nicht
auch jeder mutmaßliche biologische Vater zum Kreis der
Klärungsberechtigten gehört . Auch das wird eine Frage-
stellung in diesem Arbeitskreis sein .

Am Ende noch zwei, drei Sätze zur Elternschafts-
vereinbarung . Sie würde nach Ihrer Forderung auch bei
verheirateten Wunscheltern gelten . Das bedeutet aber in
der Konsequenz, dass wir dann zu einem Paradigmen-
wechsel kommen, weil wir von unserem Institut der Va-
terschaftsvermutung, so wie § 1592 BGB es kennt, weg-
kommen . Da sage ich: Wir sollten uns die Zeit nehmen,
uns ausreichend die Frage zu stellen, ob wir das wollen,
zumal diese Elternschaftsvereinbarung unanfechtbar sein
soll; das soll auch für das Kind gelten . Auch da, glau-
be ich, sollten wir uns die Zeit nehmen, uns das gut zu
überlegen . Denn Lebenssachverhalte können sich ja im
Laufe von 10 oder 20 Jahren ändern, und das Kind kann
unter Umständen den Wunsch nach einer Vaterschafts-
konstellation entwickeln . Ich glaube, dass das Institut,
das Sie dann anbieten, nämlich die einfache Adoption,
dafür nicht ausreicht .

Meine Damen, meine Herren, ich glaube, all diese
Ausführungen haben deutlich gemacht, dass sich eine
isolierte Vorabregelung in diesem Bereich verbietet . Wir
brauchen ein schlüssiges Gesamtkonzept . Das sollten wir
mit Unterstützung des Arbeitskreises ansteuern . Darauf
freue ich mich .

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sonja Steffen






(A) (C)



(B) (D)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817324400

Vielen Dank . – Nächster Redner ist Matthias Bartke,

SPD-Fraktion .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Matthias Bartke (SPD):
Rede ID: ID1817324500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich

möchte Ihnen eingangs von Mia berichten, Mia F ., die
mithilfe einer anonymen Samenspende gezeugt wurde .
Mit 17 Jahren hat Mia in einem Familienstreit erfahren,
dass ihr Vater gar nicht ihr richtiger Vater ist . Als sie das
erfahren hat, war sie am Boden zerstört . Sie fand, ihre
Eltern hätten sie jahrelang belogen . Zermürbender ist für
sie allerdings die nun schon zehnjährige Suche nach ih-
rem biologischen Vater . Sie weiß zwar, dass sie in der
Berliner Charité gezeugt wurde; das ist aber auch alles .
Wenn Kinder erst spät oder vielleicht sogar nur zufällig
davon erfahren, dass sie Samenspenderkinder sind, ist
das für viele traumatisierend . Die Suche nach dem Vater
kann dann zur beherrschenden Lebensaufgabe werden .
Die Spenderkinder wollen wissen, welche Gene sie in
sich tragen, welche Charaktereigenschaften sie vielleicht
geerbt haben .

Das Bundesverfassungsgericht – das wurde gesagt –
hat 1988 das erste Mal das Recht jedes Menschen auf
Kenntnis seiner genetischen Abstammung bestätigt .
Spenderkinder rennen jedoch bei ihrer Suche nach dem
Erzeuger immer noch regelmäßig gegen Wände . Viele
Reproduktionsmediziner haben den Samenspendern Ano-
nymität versprochen und die Spenderdaten vernichtet .
Letzten Monat hat das Bundesverfassungsgericht festge-
stellt, dass das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstam-
mung nicht absolut ist . Stattdessen muss es mit wider-
streitenden Grundrechten in Ausgleich gebracht werden .
Das Bundesverfassungsgericht hat aber ausdrücklich den
Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers betont .


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Er kann den Anspruch auf eine rechtsfolgenlose Abstam-
mungsklärung einführen .


(Beifall bei der SPD sowie der Abg . Jörn Wunderlich [DIE LINKE] und Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es war daher richtig und wichtig, dass wir im Koaliti-
onsvertrag vereinbart haben, die Rechte der Spenderkin-
der zu stärken . Sinnvoll sind ausdrückliche Regelungen
zum Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Herkunft –
Frau Sütterlin-Waack, ich würde ergänzen: auch des
Rechts auf Nichtkenntnis –, die Einrichtung eines zen-
tralen Samenspenderregisters und eine Regelung zur
Freistellung des Samenspenders von jeder rechtlichen
Inanspruchnahme .

Meine Damen und Herren, ich setze darauf, dass wir
den entsprechenden Gesetzentwurf noch in dieser Legis-
laturperiode hier beraten können .

Ich danke Ihnen .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817324600

Vielen Dank . – Das war der letzte Redner zu diesem

Tagesordnungspunkt .

Die Fraktionen haben interfraktionell vereinbart, dass
die Vorlage auf Drucksache 18/7655 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen wird . –
Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind . Dann ist die
Überweisung so beschlossen .

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an der „United Nations
Interim Force in Lebanon“ (UNIFIL) auf
Grundlage der Resolution 1701 (2006) und
nachfolgender Verlängerungsresolutionen des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, zu-
letzt Resolution 2236 (2015) vom 21. August
2015

Drucksache 18/8624
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .

Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat für die Bun-
desregierung der Staatsminister Michael Roth .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1817324700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Anfang Mai dieses Jahres bin ich in den Libanon gereist .
Ich konnte mir vor Ort selbst ein Bild von der aktuel-
len Lage machen . Mein ganz persönlicher Eindruck wird
sicherlich von vielen Kolleginnen und Kollegen geteilt:
Das Land steht vor gewaltigen Bewährungsproben . Die
Gräben zwischen den konfessionellen und politischen
Gruppen sind tief . Die Suche nach einem Präsidenten ist
seit nunmehr zwei Jahren erfolglos geblieben .

Die Syrien-Krise hat die ohnehin schon schwierige
Gemengelage noch weiter verkompliziert: Seit 2012 hat
der Libanon weltweit pro Kopf die meisten Flüchtlin-
ge aufgenommen, nämlich über 1 Million bei 4,5 Mil-
lionen Einwohnern . Schulen und Krankenhäuser sind
dramatisch überlastet, der Wohnraum ist knapp, Mieten
und Lebenshaltungskosten sind enorm gestiegen . Zwar
gelangt mittlerweile viel internationale Hilfe ins Land –
die Bundesregierung zählt im Übrigen zu den größten
Gebern –; doch die sozialen Spannungen zwischen Liba-
nesen und den syrischen Flüchtlingen können damit nur
teilweise abgefedert werden .






(A) (C)



(B) (D)


Der Syrien-Konflikt wirkt sich eben auch auf die Si-
cherheitslage aus . Im syrisch-libanesischen Grenzgebiet
ist die Terrororganisation „Islamischer Staat“ präsent und
versucht immer wieder, auch in den Libanon vorzudrin-
gen . Allen Schwierigkeiten zum Trotz hat die libanesische
Armee bislang verhindert, dass die Terrororganisation im
Libanon Fuß fassen konnte . In der Bevölkerung – diesen
Eindruck werden diejenigen bestimmt teilen, die selber
einmal im Libanon waren – genießt die Armee enorm
hohes Ansehen und gilt als glaubhaft überkonfessionel-
le Institution . Allein schon deshalb ist und bleibt unsere
Unterstützung für die libanesischen Streitkräfte mit Aus-
bildung und Ausrüstung so wichtig .

Aber die Situation im Libanon bleibt eben auch sehr
schwierig: sicherheitspolitisch, humanitär, sozial und
wirtschaftlich . Da kann man die stabilisierende Rolle der
VN-Mission UNIFIL gar nicht hoch genug einschätzen,
und dabei geht es mir in erster Linie gar nicht einmal
um deren militärische Bedeutung allein . Die Mission ist
ein immens wichtiges politisches Symbol . Sie steht für
die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft . Wir
sind einem stabilen, friedlichen Libanon verpflichtet, und
unsere klare Botschaft lautet: Wir lassen das Land in die-
ser so schwierigen Lage nicht alleine .

Angesichts der Fliehkräfte, die dort derzeit wirken,
ist es wichtiger denn je, UNIFIL als Stabilitätsanker zu
erhalten; denn es ist für uns von herausragendem sicher-
heits- und außenpolitischem Interesse, dass der Libanon
stabil bleibt bzw . stabiler wird . Dies ist angesichts der
dramatischen Lage im Nachbarland Syrien und der vie-
len Flüchtlinge, die derzeit im Libanon leben, alles ande-
re als selbstverständlich .

Der zentrale Beweggrund für die Mission bleibt ja
bestehen: Der Waffenstillstand zwischen Libanon und
Israel darf nicht infrage gestellt werden. Derzeit finden
einzig und allein unter dem Dach von UNIFIL direkte
Gespräche zwischen Israel und Libanon statt . Diploma-
tisch erkennen sich die Staaten nach wie vor nicht an;
aber sie akzeptieren und schätzen UNIFIL als wertvollen
Mechanismus zur Streitschlichtung .

In den vergangenen Jahren hat auch UNIFIL einige
Male eine militärische Eskalation verhindern können .
Hierzu zählten beispielsweise der Tod eines israelischen
Soldaten durch Schüsse eines libanesischen Soldaten im
Jahr 2015 oder zuletzt, im Januar 2016, ein Anschlag
der Hisbollah gegen eine israelische Grenzpatrouille . In
beiden Fällen konnte UNIFIL durch die Einleitung von
Untersuchungen und die anschließende Vermittlung zwi-
schen den Konfliktparteien einen wichtigen Beitrag zur
Deeskalation leisten .

UNIFIL, meine sehr verehrten Damen und Herren,
hat zwei Komponenten . Dies ist einmal die Komponente
zu Land . Sie entlastet die libanesische Armee bei ihrem
Kampf gegen den Terrorismus, insbesondere entlang der
syrisch-libanesischen Grenze . Sie sorgt damit indirekt
auch für Stabilität und Sicherheit an der libanesischen-is-
raelischen Grenze .

Die zweite Komponente, die auf See – hierbei enga-
giert sich seit Beginn auch Deutschland –, trägt eben-
falls zur Sicherheit bei . UNIFIL hilft von der Seeseite

her, die Grenzen des Libanon abzusichern, und meine
Gesprächspartner, die ich im Libanon getroffen habe,
bestätigten mir noch einmal, dass diese gemeinsame See-
überwachung sehr erfolgreich ist .

Darüber hinaus umfasst das Mandat der maritimen Mis-
sion eben auch eine Ausbildungskomponente .

Aber – das wissen Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen – die Bundesregierung leistet eben nicht nur mili-
tärische Unterstützung . Vielmehr ist sie in humanitäre
Hilfe eingebettet und wird durch Entwicklungszusam-
menarbeit ergänzt . Wir engagieren uns für die Region .
Wir haben die Entwicklungszusammenarbeit seit diesem
Jahr wieder bilateral ausgerichtet .

Wir werden alleine in diesem Jahr 300 Millionen Euro
Hilfen zur Verfügung stellen: im Bereich der humanitä-
ren Hilfe und im Bereich der Entwicklungszusammen-
arbeit . Wir sind damit der größte bilaterale Geber . Mit
der libanesischen Regierung sind wir im engen Kontakt
darüber, wofür wir das Geld sinnvoll verwenden können .
Besonders wichtig ist mir der ganze Bereich der Bildung
und Ausbildung . Wir möchten die libanesische Regie-
rung dabei unterstützen, ab dem kommenden Schuljahr
jedem Flüchtlingskind und jedem libanesischen Kind
den Zugang zu Bildung zu ermöglichen . Darauf haben
wir uns mit dem Libanon auf der Londoner Geberkon-
ferenz für Syrien und seine Nachbarländer verständigt .

Ich habe eine von UNICEF und von uns geförderte
Schule in der Bekaa-Ebene besucht . Hier werden auf
ganz eindrucksvolle Weise im Zweischichtbetrieb liba-
nesische und syrische Kinder teilweise gemeinsam im
Unterricht beschult . Das ist wirklich gut angelegtes Geld,
liebe Kolleginnen und Kollegen .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir können dieses Engagement nicht einfach so von
der militärischen Komponente abtrennen . Deshalb werbe
ich für unser Gesamtengagement . Ich kann Ihnen versi-
chern: Dieses Engagement wird vor Ort enorm geschätzt,
weil wir als ein verlässlicher Partner gelten, der seinen
abstrakten Zusagen auf Geberkonferenzen konkrete Ta-
ten folgen lässt . Entsprechend sollte das Bundestagsman-
dat, liebe Kolleginnen und Kollegen, für die deutsche
Beteiligung am UNIFIL-Flottenverband mit unverän-
derter Personalobergrenze von 300 Soldatinnen und Sol-
daten um weitere zwölf Monate bis zum 30 . Juni 2017
verlängert werden .

Damit handeln wir nicht nur gemäß unserem eigenen
Interesse an Stabilität und Frieden in der Region . Wir
entsprechen damit auch dem ausdrücklichen Wunsch Is-
raels, des Libanons und der Vereinten Nationen . Deshalb
bitte ich Sie im Namen der Bundesregierung um Ihre Un-
terstützung .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Staatsminister Michael Roth






(A) (C)



(B) (D)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817324800

Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Gehrcke,

Fraktion Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817324900

Danke sehr, Frau Präsidentin . – Ich bitte Sie: Erinnern

Sie sich zurück an das Mandat 2006, durch Resolution
des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen begründet . In-
sofern stellt sich nicht die Frage, ob das Mandat völker-
rechtlich begründet ist – das ist es – und erlassen worden
ist . Schauen Sie sich ein bisschen selbstkritischer an, was
seitdem passiert oder nicht passiert ist .

Ich war 2006 in Beirut, nachdem der Libanon von Is-
rael mit Raketen angegriffen worden ist und ein Teil des
Libanons von der israelischen Armee abgeriegelt worden
ist . In Beirut hat man sehr genau gemerkt, dass die Rake-
ten gezielt auf die schiitischen Stadtviertel abgeschossen
worden sind und nicht auf die christlichen Stadtviertel .
Mir ist das im Grunde wurscht, weil ich überhaupt nicht
möchte, dass Raketen auf Menschen abgeschossen wer-
den . Das ist das Entscheidende .

Bei dem Mandat selbst lautete die Begründung – die
fand ich akzeptabel –, dass wahrscheinlich der Krieg Isra-
els gegen den Libanon und die Abriegelung des Libanons
nur über eine Aktion der Vereinten Nationen zu stoppen
sind . Das war die Ausgangslage . Bei dieser Ausgangsla-
ge muss man sich natürlich fragen: Warum ist es eigent-
lich so zwingend notwendig, dass sich Deutschland auch
im Nahen Osten an solchen Aktionen mit militärischen
Formationen beteiligt? Ich halte das für falsch, ich halte
das für grundfalsch .


(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich glaube, dass Deutschland im Nahen Osten sehr
viele andere Aufgaben hat statt solcher militärisch be-
gründeten Aktionen . Meine Sorge war auch: Wenn man
das einmal begonnen hat, wird man sich bei anderen
Konflikten nur schwer raushalten können.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Das nennt man kompromissfähig!)


– Ja, ich möchte, dass wir uns raushalten . Ich möchte,
dass zu einer Politik der militärischen Zurückhaltung zu-
rückgekehrt wird . Das ist mir sehr wichtig .


(Beifall bei der LINKEN)


Deswegen haben wir gesagt: Es gibt eine Begründung
der Vereinten Nationen . Aber es gibt keine Begründung
dafür, warum Deutschland an diesem Mandat militärisch
beteiligt sein muss .


(Gabi Weber [SPD]: Ja, was denn nun? UN-Mandat oder deutsche Beteiligung?)


– Ja, die UN sind auch ohne Deutschland handlungsfä-
hig . Warum wollen Sie auch über die Vereinten Nationen

immer deutsche Großmachtpolitik durchsetzen? Es gibt
sehr viele andere Möglichkeiten .


(Henning Otte [CDU/CSU]: Akzeptieren Sie doch die Wünsche der Betroffenen! – Florian Hahn [CDU/CSU]: Waren Sie schon mal da? Das ist „Großmachtpolitik“? Das ist ja lächerlich!)


– Ja, ich war häufiger im Libanon.

Sie sehen, dass ein Schritt den anderen nach sich zieht .
Mittlerweile sind wir über den Tornado-Einsatz auch in
Syrien militärisch beteiligt . Wir haben übrigens diese
Woche beim Verfassungsgericht unsere Klage gegen den
Tornado-Einsatz eingereicht .


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Gratulation!)


Ich bin mir sehr sicher, dass das Verfassungsgericht nicht
die Position der Bundesregierung bestärken wird .

Wir möchten auch angesichts der deutschen Geschich-
te, dass Deutschland sich zumindest im Nahen Osten
komplett aus Militäraktionen raushält .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Gabi Weber [SPD]: Am besten raus aus der UNO!)


Wenn Sie es wollen, dann gibt es genügend andere Mög-
lichkeiten, den Libanon zu unterstützen, die aber alle
nicht genutzt werden . Man könnte im Libanon sehr viel
mehr machen, um Vermittlungsgespräche zu führen .


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Das machen wir nebenbei!)


Ich weiß, dass Sie – gerade auch die SPD – in Ihrer
Außenpolitik verdeckt immer mit der Hisbollah reden
und verhandeln. Das finde ich eigentlich ganz in Ord-
nung, dass Sie das machen .


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Aber nur die SPD!)


– Verdeckt; Sie machen es ja nicht offiziell.

Ich finde es ganz in Ordnung, dass man alle Möglich-
keiten nutzt, um von der Gewalt wegzukommen .


(Franz Thönnes [SPD]: Du bist ja ein verdeckter Versprecher, du!)


– Ja, verdeckt machen Sie das . Sie sagen ja nicht: „Wir
reden mit der Hisbollah“, sondern „Wir reden mit der
Regierung“ oder „Wir reden mit dem Parlament“ . Darin
sitzen sie aber mit 40 Prozent der Mandate .


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Wann saßen die denn da?)


Das wissen Sie doch auch . Sie bekennen sich aber nicht
zu dem, was man an Politik betreiben muss .

Ich bitte Sie sehr, das Mandat nicht zu verlängern und
mit Israel deutlicher darüber zu reden, dass Israel aus die-
ser Zwangssituation rauskommen muss . Das ist doch das
Entscheidende: dass man stärker auf die Politik setzt als
auf das Militär . Und zumindest im Nahen Osten sollte
sich Deutschland komplett raushalten . Sie kommen sonst
in eine Situation, die auch Sie nicht mehr bewältigen .






(A) (C)



(B) (D)


Danke .


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817325000

Vielen Dank . – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht

jetzt der Kollege Jürgen Hardt .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Jürgen Hardt (CDU):
Rede ID: ID1817325100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Bundesregierung hat uns einen Antrag auf Verlänge-
rung des UNIFIL-Mandats vorgelegt, einen wohlbegrün-
deten und wohldurchdachten Antrag zu einem Einsatz,
der seit vielen Jahren den Frieden in der Region stabi-
lisiert .

Lieber Herr Gehrcke, der Linkenfraktion ist kein Ar-
gument zu dürftig, um fadenscheinige Gründe dafür zu
finden, sehr vernünftige Dinge wie zum Beispiel dieses
UNIFIL-Mandat abzulehnen . Was die deutsche Betei-
ligung angeht, ist allein die Tatsache, dass Israel diese
deutsche Beteiligung zum Schutz dieses Landes außer-
ordentlich schätzt, für mich Argument genug dafür, dass
wir mit einer deutschen Einheit an diesem Verband be-
teiligt sind .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Gegenwärtig sind 135 Soldaten im Einsatz . Die Kor-
vette „Erfurt“ ist seit über fünf Monaten dort unterwegs .
Sie darf am 11 . Juni an die Hohe Düne zurückverlegen
und wird dann durch die Korvette „Braunschweig“ ab-
gelöst . Wir sind mit unseren modernsten Einheiten an
diesem Einsatz beteiligt und leisten dort einen, wie ich
finde, sehr wichtigen und verantwortungsvollen Beitrag.
Denn die Situation im Libanon ist durch den seit Jahren
andauernden Bürgerkrieg in Syrien nicht besser gewor-
den .

Es gibt erstens eine hohe Zahl von Flüchtlingen in
diesem Land . 30 Prozent der libanesischen Bevölkerung
haben einen Flüchtlingshintergrund . Zweitens hat im
Grenzgebiet zu Syrien die Gefahr, dass auf illegale Wei-
se Waffen den Besitzer wechseln, enorm zugenommen .
Es gibt auch von außen weiterhin Einfluss auf Kräfte, die
terroristische Aktivitäten aus dem Libanon heraus zum
Beispiel gegen Israel vorbereiten könnten . Von daher ist
dieser Einsatz, wie ich finde, nicht nur notwendig, son-
dern er ist geradezu wichtiger denn je .

Ich möchte den Scheinwerfer auch auf einen ganz
wesentlichen Aspekt lenken, der eben keine militärische
Komponente ist, nämlich die vermittelnde Funktion die-
ses UNIFIL-Einsatzes . Es gibt Dreiparteiengespräche,
bei denen zwischen Libanon und Israel im Vorfeld Dinge
geklärt und bereinigt werden – vielleicht Kleinigkeiten,
die sich aber zu großen Problemen auswachsen kön-
nen –, ohne dass eine der beiden Seiten das an die große
Glocke hängen muss . Das ist auch ein Mediationsbeitrag
zum Frieden in der Region, der meines Erachtens nicht
hoch genug eingeschätzt werden kann .

Deutschland nimmt wie bei allen Auslandseinsätzen
den Auftrag, der damit ergangen ist, in besonderer Weise
ernst . Wir machen eine solide und gute Ausbildung bei
libanesischen Marinesoldaten, die zunehmend die Auf-
gaben des Schutzes der Küste selber übernehmen müs-
sen. Zwei libanesische Offiziersanwärter machen ihre
Ausbildung an der Marineschule Mürwik, der schönsten
Kaserne Europas, und werden dort nach deutschem Maß-
stab zu Offizieren ausgebildet.

Ich kann Ihnen aus der Erfahrung sagen, dass diese
Ausbildung an deutschen Offiziersschulen nicht nur be-
deutet, dass dort deutsche Fertigkeiten vermittelt werden,
sondern auch, dass ein Stück weit eine deutsche Werte-
haltung vermittelt wird, wie man Soldaten führt, wie man
mit Soldaten umgeht, wie man in modernen Streitkräften
Menschenführung gestaltet . Von daher, glaube ich, ist
das nicht zu unterschätzen . Die Bundeswehr mit ihrem
modernen Ansatz, Streitkräfte zu führen, ist ein Vorbild .

Der Einsatz ist wichtig, er ist natürlich auch nicht ganz
billig . Wenn ich es richtig gesehen habe, sind 32,2 Millio-
nen Euro für die Verlängerung des Mandats bis Juni 2017
in den Etat eingestellt worden .

Wir als CDU/CSU-Fraktion werden dieses Mandat in
den Ausschüssen sorgfältig beraten . Ich habe das sichere
Gefühl, dass wir dem Antrag der Bundesregierung, lieber
Herr Staatsminister, uneingeschränkt zustimmen können
und dass wir angesichts der gegenwärtigen Situation die-
sem Antrag unsere Zustimmung nicht verweigern wer-
den .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817325200

Vielen Dank . – Nächste Rednerin ist die Kollegin

Agnieszka Brugger für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen .


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Es grenzt doch an ein Wunder, dass in der
krisengeplagten und von Gewalt erschütterten Region
des Nahen und Mittleren Ostens ein kleines Land trotz
gewaltiger eigener Probleme, Rückschläge und Heraus-
forderungen nicht auch noch in Instabilität und Chaos
abgleitet: der Libanon .

Die Menschen dort leiden unter der korrupten und in-
effizienten Verwaltung, ob es sich um Wasser, Elektrizi-
tät oder die Entsorgung von Müll handelt . Die politische
Situation ist nach wie vor mehr als schwierig . Seit 2014
konnten sich die zerstrittenen Kräfte im Parlament immer
noch nicht auf einen Präsidenten einigen . Es gibt Waffen
in gefährlichem Überfluss und in den falschen Händen
sowie zahlreiche politische, aber auch bewaffnete und
terroristische Gruppierungen, die bewusst ethnische und
konfessionelle Spannungen schüren und versuchen, den
Libanon auch in den Strudel der Gewalt des Syrien-Kon-
flikts hineinzuziehen.

Wolfgang Gehrcke






(A) (C)



(B) (D)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die größte, immen-
se Herausforderung für die Menschen im Land, das bei
Weitem politisch nicht so stabil und wirtschaftlich so
wohlhabend ist wie viele europäische Länder, ist aber
die hohe Zahl der Flüchtlinge . Wenn Politiker ohne Herz
und Hirn in Deutschland über Belastungsgrenzen klagen,
dann sollten sie sich vielleicht einmal klarmachen, dass
im Libanon seit Jahren jeder vierte Mensch ein Flücht-
ling ist .

Ich kann es bis heute nicht fassen, dass trotz aller
Gipfelbilder und schönen Absichtsbekundungen sich die
reichen Staaten dieser Welt weigern, die Menschen im
Libanon bei dieser schwierigen Aufgabe zu unterstützen .
Die Programme sind nur zu einem Bruchteil ausfinan-
ziert – ungefähr ein Viertel –, und, Herr Staatsminister,
dann ist es doch mehr als beschönigend, wenn Sie hier
davon sprechen, dass man den Libanon nicht alleinlassen
darf .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist aber nicht nur herzlos und zynisch, sondern es ist
auch sicherheitspolitisch kurzsichtig und brandgefähr-
lich .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allen schlechten,
schrecklichen und deprimierenden Nachrichten aus der
Region muss man aber auch eines feststellen: Die Frie-
densmission der Vereinten Nationen UNIFIL ist eine jah-
relange Erfolgsgeschichte . Sie hat nicht nur 2006 dazu
beigetragen, den Krieg zwischen Libanon und Israel zu
beenden, sondern sie ist auch heute noch – zehn Jahre
später – ein unverzichtbarer Beitrag zu Gewaltpräventi-
on, zu Friedenserhaltung, zu Konfliktlösungen und zum
Dialog .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir müssen nur den Beginn dieses Jahres anschauen,
als es einen Anschlag der Hisbollah gab, der dann auch
mit einem israelischen Militärschlag beantwortet wurde .
Es braucht doch wirklich nicht viel Fantasie, sich vorzu-
stellen, wie aus einem solchen Vorfall eine neue Eskala-
tionsdynamik entstehen kann, eine weitere Krise in der
Region oder ein Aufflammen alter Konflikte. Das wäre
doch verheerend . UNIFIL ist im Libanon genau die Mis-
sion, die das verhindert .

Es ist das einzige Forum, das direkte Gespräche zwi-
schen den beiden Parteien Israel und Libanon ermöglicht .
Und, Herr Gehrcke, weil Sie die Frage gestellt haben,
warum sich Deutschland daran noch beteiligen muss,
sage ich Ihnen: Wir wurden nicht nur damals von beiden
Staaten darum gebeten, sondern wir werden auch heute
wiederholt darum gebeten . Sie bitten um den deutschen
Beitrag, und sie honorieren ihn ausdrücklich . Die Mis-
sion übernimmt aber auch Aufgaben in den Bereichen
Grenzsicherung und Unterbindung des Waffenschmug-
gels über den Seeweg oder im Rahmen der Ausbildung
der libanesischen Sicherheitskräfte .

Auch wenn es manchmal schwerfällt, positive Ent-
wicklungen auszumachen, und auch wenn klar ist, dass
ein Waffenstillstand und eine Friedensmission nicht au-
tomatisch sicheren und gefestigten Frieden bedeuten,

darf man die Erfolge von UNIFIL nicht kleinreden . Viel-
mehr müssen sie bewahrt und fortgeschrieben werden .
Es wäre falsch und fatal, die Mission zu beenden . Es ist
aber auch gefährlich, angesichts der höchst fragilen Lage
zu glauben, dass sie allein Stabilität und Sicherheit ge-
währleistet . Ja, die Aufnahmebereitschaft der Menschen
im Libanon ist sehr beeindruckend . Aber ohne weitere
internationale Hilfe – diese darf nicht so halbherzig sein
wie in den vergangenen Jahren – wird das, was in der
Vergangenheit erreicht wurde, fahrlässig aufs Spiel ge-
setzt . Daher möchte ich mit dem Appell an die Bundes-
regierung und an die anderen reichen Staaten dieser Welt
enden, ihre humanitäre Verantwortung für die Menschen
im Libanon und die Flüchtlinge dort endlich ernst zu
nehmen und ihr gerecht zu werden .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817325300

Vielen Dank . – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht

jetzt der Kollege Florian Hahn .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1817325400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das UNIFIL-Mandat gehört nicht zu den großen, me-
dienwirksamen Einsätzen wie Atalanta, KFOR oder
der Einsatz gegen Daesh . Dennoch ist diese Mission
von großer Bedeutung für die Stabilität in der Region .
131 deutsche Soldatinnen und Soldaten sind genauso
wenig ein Symbol deutscher Großmachtfantasie, wie die
Korvette „Erfurt“ ein Symbol thüringischer Großmacht-
fantasien ist . Vielmehr ist UNIFIL die Geschichte von
engen, freundschaftlichen Beziehungen . UNIFIL setzt
ein Zeichen in Düsternis und Zerstörung, in Krieg und
Elend, die den Nahen Osten heute wieder prägen . Die
Mission kann uns ein klein wenig Hoffnung geben, weil
sie zeigt, wie durch geduldige, praktische Zusammenar-
beit über Jahre Kompetenzen und Sicherheit aufgebaut
werden können und wie damit zugleich Vertrauen und
Freundschaft wachsen .

Die Operation UNIFIL ist eine erfolgreiche Friedens-
mission . Sie dient der Begleitung der Waffenruhe zwi-
schen dem Libanon und Israel, unterstützt die libanesi-
sche Regierung bei der Grenzsicherung und hilft beim
Kampf gegen den Waffenschmuggel . Die Weltgemein-
schaft kann diese Aufgabe aber nicht dauerhaft überneh-
men . Unser deutscher Beitrag fokussiert sich daher zu
Recht auf die Ausbildung . Wir wollen mithelfen, die Fä-
higkeiten der libanesischen Marine so auszubauen, dass
sie zukünftig in der Lage sein wird, Küste und Territorial-
gewässer selbstständig zu überwachen . Die libanesische
Marine wird zunehmend in die Aufgaben des internatio-
nalen Flottenverbandes integriert und lernt so praktisch,
die Herausforderungen später selbst zu meistern .

UNIFIL war durchaus erfolgreich, gerade was den
Waffenschmuggel angeht . Aber Aufbau und Training der
libanesischen Marine verlangen einen längeren Atem .
Wir wollen kein Strohfeuer, sondern nachhaltige Erfolge .
Mit dem künftigen Eigenschutz der libanesischen Küste
werden die ausgebildeten Soldaten einen Beitrag zur Sta-

Agnieszka Brugger






(A) (C)



(B) (D)


bilität in der Region und damit auch zu unserer Sicher-
heit leisten . Die UNIFIL-Präsenz ist weiterhin einer der
Sicherheits- und Stabilitätsfaktoren, der deeskalierend
wirkt . Auch die Streitkräfte sind ein beruhigendes, die
Nation insgesamt verkörperndes Element . Sie werden in
der Bevölkerung als professionell, integer und überkon-
fessionell wahrgenommen . Wenn wir ihnen weiter hel-
fend zur Seite stehen, können sie eine positive Rolle in
einem künftigen Libanon spielen, einem Libanon, der für
sich selbst entscheidet, der nicht Spielball rivalisierender
Mächte in der Region ist .

Wie helfen wir darüber hinaus? Die Beteiligung am
Flottenverband ist – genauso wie bei praktisch allen an-
deren unseren Mandaten – nur Teil eines umfassenden
Engagements für den Libanon und die gesamte Region .
Deutschland hilft dem Libanon bei der Verbesserung der
Flüchtlingssituation, bei der kommunalen Infrastruktur,
beim Hariri-Tribunal und bei der Grenzsicherung .

Unser deutscher Beitrag im Rahmen von UNIFIL
zeichnet sich durch sein einleuchtendes Konzept aus, das
unmittelbaren Nutzen bringt . Die konsequente, verläss-
liche Verfolgung wertvoller Ziele ist in unserer kurzle-
bigen Zeit nichts Selbstverständliches . Wir stehen zum
Libanon und zu seinen Streitkräften . Das wissen unsere
libanesischen Freunde zu schätzen . Lassen Sie mich ab-
schließend aber auf eines hinweisen: Die deutsche Mari-
ne ist zurzeit in einer ganzen Reihe von Einsätzen gefor-
dert . Sie operiert an der Belastungsgrenze . Es ist daher
richtig, dass wir in der Koalition bei Haushalt, Personal
und auch Investitionen in der Bundeswehr umgesteuert
haben . Im Einzelnen müssen wir sehen, ob das perspekti-
visch wirklich ausreicht . Für Deutschland als Handelsna-
tion ist klar: Eine schlagkräftige und weltweit einsetzbare
Marine bleibt von essenzieller Bedeutung .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817325500

Vielen Dank . – Der Kollege Hahn war der letzte Red-

ner in dieser Debatte . Damit schließe ich die Aussprache .

Die Fraktionen haben interfraktionell vereinbart, dass
die Vorlage auf Drucksache 18/8624 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen wird . – Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden . Dann ist die Über-
weisung so beschlossen .

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Binder, Caren Lay, Herbert Behrens, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Bundesprogramm Kita- und Schulverpfle-
gung – Für alle Kinder und Jugendlichen eine
hochwertige und unentgeltliche Essensversor-
gung sicherstellen

Drucksache 18/8611
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f)

Finanzausschuss

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Debatte 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre keinen
Widerspruch . Dann ist so beschlossen .

Ich bitte Sie, Ihre Plätze einzunehmen . – Ich eröffne
die Aussprache . Das Wort hat die Kollegin Karin Binder,
Fraktion Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Karin Binder (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817325600

Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Meine Damen und Herren auf den Besu-
chertribünen! Kita- und Schulverpflegung ist in Deutsch-
land mangelhaft . Das wissen wir schon lange, aber spä-
testens seit einer Studie von Professor Arens-Azevedo
von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften
Hamburg müssten es auch die Kolleginnen und Kollegen
im Hohen Hause wissen . Die Qualität erfüllt ernährungs-
gesundheitliche Anforderungen nicht . Die Mahlzeiten
sind zu fett, zu süß, enthalten zu wenig frisches Obst und
frisches Gemüse, es fehlt an Vitaminen und Ballaststof-
fen, und es fehlt am Geschmack . Es fehlt an Geld, es fehlt
an Fachleuten und geeigneten Räumen . All das wissen
wir; aber bisher wird nichts dagegen getan . Nur die Hälf-
te der Schülerinnen und Schüler in Ganztageseinrichtun-
gen geht überhaupt zum Essen . Auch das war eine Er-
kenntnis dieser Studie . Ich frage mich: Warum wohl?

Kinder aus armen Familien werden, wie wir unter an-
derem aus der Bild-Zeitung und anderen Medien wissen,
vom Essen ausgeschlossen, wenn die Eltern nicht bezah-
len . Wo soll das bitte schön hinführen? Es muss uns doch
klar sein, dass solche Zustände Folgen für die gesund-
heitliche Entwicklung und den Lernerfolg dieser Kinder
haben, ganz abgesehen davon, dass das eine Diskrimi-
nierung ist – und das in unserem Schulsystem . Ich denke,
dagegen müssen wir etwas tun .


(Beifall bei der LINKEN)


Wer das Problem bisher nicht verstanden hat, der hat
wirklich ein Problem . Der hat nichts dazugelernt, und das
heißt: Die Versetzung ist gefährdet .

Die Linksfraktion hat deshalb bereits Anfang des Jah-
res eine Fachtagung mit dem Titel „Bausteine für gutes
Kita- und Schulessen“ durchgeführt . Es ging uns darum,
uns noch einmal mit allen Akteuren, mit Schülerinnen
und Schülern, mit Lehrerinnen und Lehrern, mit Men-
schen aus den Kommunen, mit Menschen aus den Ein-
richtungen, aus den Küchen, mit den Trägern und den
Schulleitungen, darüber zu verständigen, was wirklich
notwendig ist, um daraus abzuleiten, wie viel uns das
kosten wird .

Allen, die dabei waren, ist ganz klar geworden, was
gute Kita- und Schulverpflegung auszeichnet. Erstens.
Es muss schmecken . Dazu gehört, dass wir die Kinder
und die Jugendlichen beteiligen; denn nur, wenn wir

Florian Hahn






(A) (C)



(B) (D)


sie fragen, was sie mögen, besteht die Option, dass die
Kinder und Jugendlichen das auch essen . Zweitens . Es
muss frisch gekocht werden; denn nichts ist schlimmer
als Essen, das seit Stunden warm gehalten in der Gegend
herumsteht . Das würden wir Erwachsene nicht zu uns
nehmen wollen, und die Kinder wissen auch, was gut
und schlecht ist . Also wird es nicht gegessen . Das muss
geändert werden . Es muss frisch gekocht werden .


(Beifall bei der LINKEN)


Ein ganz wichtiger Punkt ist: Wir brauchen bundes-
weit einheitliche Standards . Wenn wir hier im Bund nicht
festlegen, dass eine bestimmte Qualität gewährleistet ist,
werden wir immer die Situation haben, dass es Caterer
bzw . Anbieter gibt, die ein Essen anbieten, das nicht
einmal die 1,50 Euro wert ist, die es kostet . Sprich: Wir
brauchen Qualitätsstandards, die verbindlich geregelt
werden müssen . Und ich sage Ihnen eines, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen: Wer bestellt, der zahlt . Wenn also
der Bund will, dass die Träger Standards einhalten, dann
muss er auch klären, wie das finanziert wird. Ich behaup-
te eines: Diese Gesellschaft hat sehr viel davon, wenn die
Kinder anständig versorgt werden . Ich möchte nur daran
erinnern, wie viel Geld die Krankenkassen in die Hand
nehmen müssen, um ernährungsbedingte Krankheiten zu
behandeln . Das sind jedes Jahr zig Milliarden Euro . Ich
wünsche mir, dass wir diese volkswirtschaftliche Rech-
nung aufmachen, um dann auch über die Finanzierung
einer vernünftigen Verpflegung für alle Kinder und Ju-
gendlichen zu beraten .

Danke schön .


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817325700

Vielen Dank . – Als Nächste hat Katharina Landgraf,

CDU/CSU, das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Katharina Landgraf (CDU):
Rede ID: ID1817325800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der

Wunsch der Linken nach einer hochwertigen und gleich-
zeitig kostenlosen Essensversorgung an Kitas und Schu-
len ist nicht mehr als ein frommer Traum .


(Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man wird doch einmal träumen dürfen!)


Klar, Wunschzettel schreiben die Linken bekanntlich
nicht nur vor dem Weihnachtsfest . Das tun sie eigentlich
immer . Wer es bezahlt, ist doch egal . Wer in unserer staat-
lichen Ordnung eigentlich zuständig ist, ist auch egal .


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Das ist überhaupt nicht egal!)


Hauptsache, der Wunschzettel ist lang und umfassend
und ignoriert das bereits Erreichte .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich sage nur: Föderalismus! Haben Sie davon schon ein-
mal gehört?

Ich kann jedoch nicht abstreiten, dass das Grundanlie-
gen Ihres Antrages für eine bessere Essensversorgung in
Kitas und Schulen in Ordnung ist . Da stimme ich Ihnen
vom Ansatz her zu . Über den Weg zum Ziel aber müssen
wir streiten . Hochwertig und kostenlos schließen sich
meines Erachtens aus . Gutes Essen hat seinen Wert . Und
was gut ist, kostet auch etwas . Der Umkehrschluss „Was
nichts kostet, ist nichts wert“ ist schnell gezogen und lei-
der häufig Realität. Da wird schon einmal zu viel auf die
Teller gepackt, und die Reste werden einfach weggewor-
fen . Dieses Phänomen kennt wohl jeder von uns bei der
Selbstbedienung an reichlich gedeckten Büfetts .


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Nein!)


Ich sage nicht, dass Kinder genauso mit dem Essen um-
gehen; aber ich bin der Meinung, dass hochwertige Kita-
und Schulverpflegung schon etwas kosten darf, wenn
nicht sogar etwas kosten muss . Es wundert mich ohne-
hin, dass Sie mit Ihrem Antrag das kostenlose Schulessen
für alle fordern, also auch für die Familien, die es sich
ohne Weiteres leisten könnten, das Essen für ihre Kinder
zu bezahlen . Ich persönlich würde da schon eine Gren-
ze ziehen und das unentgeltliche Essen nur den wirklich
bedürftigen Kindern zukommen lassen . Aber das ist nur
eine ganz persönliche Bemerkung am Rande .

Eine viel wichtigere Frage lautet: Was ist überhaupt
hochwertig? Bedeutet es, nur Fleisch und Fisch aus art-
gerechter Tierhaltung zu verwenden oder nur saisonale
oder regionale Produkte zu verarbeiten? Oder bedeutet
„hochwertig“, nur Lebensmittel aus biologischem Anbau
zu beziehen? Und ist dies automatisch gesünder?


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817325900

Darf ich Sie hier einmal unterbrechen, Frau Kolle-

gin? – Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Leidig?


Katharina Landgraf (CDU):
Rede ID: ID1817326000

Ja, bitte .


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817326100

Bitte schön .


Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817326200

Sie haben sich gerade darüber ausgelassen, dass es Ih-

rer Meinung nach ausgenutzt wird, wenn Dinge kostenlos
zur Verfügung gestellt werden, und dass Menschen, die
wirklich bedürftig sind, nicht ausreichend berücksichtigt
werden, wenn alle etwas kostenlos nutzen können . Nun
möchte ich Sie einmal fragen: Wie schätzen Sie eigent-
lich den kostenlosen Fahrdienst des Deutschen Bundes-
tages ein, der allen Abgeordneten zur Verfügung steht,
obwohl niemand von uns auf diese kostenlose Dienstleis-
tung angewiesen ist und obwohl kaum eine andere gro-
ße Stadt ein so toll ausgebautes Nahverkehrssystem wie
Berlin hat, das wir selbstverständlich nutzen können?
Fahren Sie denn mit diesem Fahrdienst kreuz und quer
durch Berlin, nur weil er kostenlos ist?

Karin Binder






(A) (C)



(B) (D)



Katharina Landgraf (CDU):
Rede ID: ID1817326300

Ich fahre sehr selten damit, nämlich nur, wenn ich mit

meinem Fahrrad oder der U-Bahn irgendwo nicht hin-
komme .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Außerdem finde ich den Vergleich völlig unpassend.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Sie können es ja beobachten: Wenn Sie aus einem Auto
der Fahrbereitschaft aussteigen, komme ich vielleicht ge-
rade mit dem Fahrrad vorbei . Daran sehen Sie, wie unter-
schiedlich man mit diesem Angebot umgehen kann .

Es geht hier darum, ob etwas automatisch gesünder
ist, wenn es bio ist . Das wird pauschal von einem Groß-
teil der Bevölkerung so angenommen . Es entspricht aller-
dings nicht der Wahrheit, finde ich. Gerade gestern hatte
ich einen Wissenschaftler von der Leibniz-Gemeinschaft
zu Gast . Er bestätigte mir, dass Biolebensmittel nicht per
se gesünder sind als herkömmlich erzeugte .


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber auch nicht ungesünder!)


– Das habe ich nicht gesagt. – „Bio“ definiert sich näm-
lich durch eine ökologische und nachhaltige Art des An-
baus; nachhaltig ist ja auch mein Fahrradfahren . Die Le-
bensmittel enthalten deswegen aber nicht mehr Vitamine
und Nährstoffe . Die große Bedeutung einer gesunden
Ernährung für Kinder ist jedoch erwiesen .

Als besonders positiv möchte ich das Schulmilch- und
Schulobstprogramm der EU hervorheben . Das Parlament
konnte im Frühjahr dieses Jahres eine Zusammenlegung
beider Programme und eine Erhöhung der Finanzmittel
um 20 Millionen Euro durchsetzen . Mit dieser Vereinfa-
chung und dem gleichzeitigen Wegfall des Eigenanteils
der Länder bietet sich die Chance, dass Kinder in allen
Bundesländern von beiden Programmen profitieren. Die
Mitgliedstaaten, die am Schulprogramm teilnehmen,
verpflichten sich auch zu pädagogischen Maßnahmen.
Dabei sollen die Kinder aufgeklärt werden über lokale
Lebensmittelketten, ökologischen Landbau, nachhaltige
Erzeugung oder die Bekämpfung von Lebensmittelver-
schwendung . Sie sollen auch der Landwirtschaft wie-
der nähergebracht werden; ich erinnere nur an den Tag
des offenen Hofes . Dabei ist das Wissen über gesunde
Ernährung der zentrale Bestandteil . Dieser wird im We-
sentlichen im Kindesalter erlernt und gebildet . Die hier
erworbenen Ernährungsmuster und Geschmacksmuster
behalten Kinder und Jugendliche häufig ein Leben lang.

Die Evaluationen des Schulmilch- und Schulobstpro-
gramms haben eine deutliche Zunahme der Beliebtheit
und Akzeptanz von Milch, Obst und Gemüse ergeben .
Zudem stieg das Bewusstsein der Kinder um die Wich-
tigkeit von Milch, Obst und Gemüse als Bestandteil einer
gesunden Ernährung . Ich appelliere also an alle Bundes-
länder, die sich noch nicht an diesen Programmen betei-
ligen, dies zum Wohle der Kinder schnell nachzuholen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


An Sie von der Linksfraktion appelliere ich, das Er-
reichte in den Kommunen und auf Bundesebene nicht

infrage zu stellen; meine Zeit reicht nicht aus, weitere
Details zu nennen . Sie können in den Portalen der Bun-
desregierung, insbesondere des Bundesministeriums
für Ernährung und Landwirtschaft, nachlesen, was zum
Thema „gesunde Ernährung für Kinder und Jugendliche“
schon alles gemacht wird und was geplant ist . Ich wün-
sche Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Links-
fraktion, viel Freude beim Studium dieser Materialien .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817326400

Vielen Dank . – Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt

der Kollege Özcan Mutlu das Wort .


Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1817326500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Kollegin Landgraf, eines ist aber sicher – das wer-
den auch Sie nicht bestreiten –: Bio enthält keine Schad-
stoffe, und damit ist es doch definitiv gesünder.


(Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Eventuell auch nicht!)


Das sollten Sie endlich einmal akzeptieren .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich freue mich sehr, dass wir im Bundestag erneut
über das wichtige Thema der Versorgung unserer Kinder
in Kitas und Schulen mit gesundem Mittagessen reden
können . Eine gesunde Lebensweise und eine gesunde
Lebenskultur werden nämlich schon im Kindesalter er-
lernt . Wo, wenn nicht in der Kita oder in der Schule, soll-
te das geschehen?


(Rita Stockhofe [CDU/CSU]: Zu Hause!)


Daher sehen wir Grüne den Ausbau einer gesunden Ge-
meinschaftsverpflegung als einen wichtigen Baustein,
auch um soziale Ungleichheiten aufzufangen . Kinder und
Jugendliche, die viel Zeit in Kita und Schule verbringen,
brauchen gerade dort hochwertiges und gesundes Essen .
Die Forderungen im Antrag der Linken gehen daher in
die richtige Richtung und decken sich zum größten Teil
mit unseren Forderungen, allerdings mit einem gewissen
Unterschied: Wir Grüne meinen, dass sich Eltern, die
dazu in der Lage sind, einkommensabhängig an der Fi-
nanzierung der Schulverpflegung beteiligen sollen. Wir
haben in vielen Bundesländern bereits sogenannte sozial
gestaffelte Systeme, die gut laufen . Es ist eine Binsen-
wahrheit und längst durch Studien erwiesen, dass viele
Eltern bereit sind, mehr zu bezahlen, wenn sichergestellt
wird, dass ihre Kinder gutes und gesundes Mittagessen in
den Schulen oder Kitas bekommen .


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817326600

Herr Mutlu, die Kollegin Hein möchte Ihnen eine

Zwischenfrage stellen .






(A) (C)



(B) (D)



Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1817326700

Nein, ich habe nur vier Minuten Redezeit .


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817326800

Das ist egal; ich stoppe die Zeit . Aber Sie können auch

gerne weiterreden .


Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1817326900

Danke sehr, Frau Präsidentin . Ich möchte gerne im

Redefluss bleiben und deshalb keine Fragen zulassen.


(Kordula Kovac [CDU/CSU]: Würde nur stören!)


Was allerdings nicht läuft – das ist eine Tatsache –,
ist die Ernährungspolitik dieser Bundesregierung und
des Ministers Schmidt . Immer wieder nur Berichte und
Gutachten über den Sachstand der Kita- und Schulver-
pflegung in Auftrag zu geben und dann teilweise über die
schlechte Qualität des Essens zu lamentieren, welche uns
seit Jahren bekannt ist, reicht uns eben nicht . Es reicht
uns auch nicht, dass teure Plakatkampagnen in Auftrag
gegeben werden, die keiner versteht . Die 2,3 Millionen
Euro Bundesmittel, die Minister Schmidt für seine letzte
Kampagne investiert hat, wären vor Ort viel notwendi-
ger und viel besser investiert . Alle hier im Hause wissen:
Der Ausbau der Ganztagsschulen, der auch einhergeht
mit einer Versorgung der Kinder mit gesundem Essen,
kommt vielerorts nicht voran . Im Gegenteil: Es wird
noch Jahrzehnte dauern, bis in der Republik ausreichend
Ganztagsschulplätze mit Mensen vorhanden sind . Noch
etwas ist eine Binsenwahrheit: Ohne finanzielle Betei-
ligung des Bundes können die Länder den Ausbau der
Ganztagsschulen nicht stemmen . Deshalb – das werden
wir in diesem Hause immer wiederholen – muss das Ko-
operationsverbot endlich auch für den Schulbereich ab-
geschafft werden .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Es muss abgeschafft werden, damit Kooperationen zwi-
schen Bund und Ländern im Interesse der Kinder und Ju-
gendlichen möglich sind .

Der Minister lobt landauf, landab die gute Idee ei-
nes Kompetenzzentrums zur Schulverpflegung; aber ein
Konzept dazu hat er bisher nicht geliefert . Stattdessen
berichtete er gestern im Ausschuss für Ernährung und
Landwirtschaft, dass beim Thema „eigenes Schulfach
Ernährung“ große Dinge von ihm zu erwarten seien
und dass er demnächst bei der KMK dazu vorsprechen
werde . Was glauben Sie wohl, was passiert? Werden die
Kultusministerinnen und Kultusminister ihren Beschluss
von 2013 verwerfen und sich einem Minister mit sponta-
nen und fixen Ideen anschließen? Wohl nicht! Wir sagen
wie die Ernährungsexpertinnen und -experten im ganzen
Land, dass die Forderung nach einem eigenen Schulfach
Ernährung als kontraproduktiv und eventuell sogar als
schädlich angesehen werden kann .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Bundesregierung muss die ernährungspolitische
Dynamik der rot-grünen Koalition wiederbeleben und

Unterstützungs- und Infrastrukturmaßnahmen für den
Ausbau einer gesunden Kita- und Schulverpflegung för-
dern .


(Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Was war denn das?)


Das haben wir mit dem Ganztagsschulprogramm vorge-
macht, und das können wir wiederholen . Dabei helfen
wir Ihnen gerne .


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817327000

Aber Sie bitte nicht mehr, Herr Kollege Mutlu; denn

Sie haben Ihre Redezeit um fast eine Minute überzogen .


Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1817327100

Ein letzter Satz noch .


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817327200

Aber ein allerletzter .


Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1817327300

Danke, Frau Präsidentin . – Gemeinsam mit den Län-

dern müssen unserer Meinung nach auch die Vernet-
zungsstellen Schulverpflegung gestärkt werden. Diese
müssen zu Kompetenzzentren der Gemeinschaftsverpfle-
gung ausgebaut werden,


(Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Wird ja gemacht!)


damit der Markt nicht irgendwelchen Großanbietern
überlassen wird .

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817327400

Vielen Dank . – Die Kollegin Hein hat um eine Inter-

vention gebeten . Ich erinnere aber daran, dass es sich um
eine Kurzintervention handelt .


Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817327500

Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Herr Mutlu, schade,

dass Sie meine Frage nicht zugelassen haben . Ich wollte
Sie nämlich an unsere gemeinsame Ausschussreise nach
Schweden und Finnland erinnern . In Finnland konnten
wir an einem kostenlosen Schulessen teilnehmen, das
dort allen Kindern zur Verfügung steht . Ich wollte Sie
fragen, ob Sie mir bestätigen würden, dass wir dort kei-
neswegs die Erfahrung gemacht haben, dass Schulkin-
der dieses kostenlose Schulessen nicht wertschätzen,
sondern dass sie sich dieses vollwertige Schulessen in
eigener Verantwortung selbst von einem großen Tresen
nehmen und damit sehr vernünftig umgehen . Da Sie mei-
ne Frage nicht zugelassen haben, muss ich das jetzt über
eine Kurzintervention machen . Ich würde auch gerne der
Kollegin von der CDU/CSU-Fraktion sagen, dass ihre
Annahme falsch ist .

Im Übrigen ist es sehr schwierig, in Deutschland
überhaupt ein kostenloses und gesundes Mittagessen in
den Schulen anzubieten – nicht nur in Ganztagsschulen,






(A) (C)



(B) (D)


sondern in allen Schulen . Es gibt nur ein einziges Bun-
desland, in dem für alle Schulen vorgeschrieben ist, dass
ein angemessenes, vollwertiges Mittagessen bereitzuhal-
ten ist, und zwar zu sozialverträglichen Preisen . Diese
Regelung ist seit Mitte der 90er-Jahre im Schulgesetz
von Sachsen-Anhalt enthalten . Das reicht nicht aus, zeigt
aber immerhin, dass es geht .

Vielen Dank .


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817327600

Vielen Dank . – Der Kollege Mutlu verzichtet auf eine

Antwort .

Dann hat jetzt die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß für
die SPD das Wort .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Elvira Drobinski-Weiß (SPD):
Rede ID: ID1817327700

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf der Tribüne! Eine
gesunde Ernährung ist die Grundlage für ein gesundes
Leben und die Basis für einen guten Start ins Leben .
Es gibt aber immer mehr Kinder, die am verborgenen
Hunger leiden, dem sogenannten Hidden Hunger . Das
heißt, sie werden jeden Tag satt, aber ihnen fehlen in der
Nahrung wichtige Nährstoffe, die für eine gesunde Ent-
wicklung nötig sind . Die Folgen sind dramatisch: Eine
ungesunde Ernährung erhöht nicht nur das Risiko, an
Diabetes oder Adipositas zu erkranken . Eine ungesunde
Ernährung beeinträchtigt auch die Bildungsleistung und
hat somit Auswirkungen auf den gesamten späteren Le-
bensweg . Für die SPD ist es deshalb ein Gebot sozialer
Gerechtigkeit, für alle Kinder und Jugendlichen eine aus-
gewogene und hochwertige Ernährung sicherzustellen .


(Beifall des Abg . Willi Brase [SPD])


Es steht außer Frage, dass der Schulverpflegung bei der
Erfüllung dieser Aufgabe eine wichtige Funktion zu-
kommt .

Es ist längst überfällig, dass wir eine offene Debatte
über eine vernünftige – ich sage: vernünftige – Finanzie-
rung der Schulverpflegung führen. Daher begrüße ich es
sehr, dass wir mit dem heute vorliegenden Antrag dazu
einmal Gelegenheit haben . Allerdings möchte ich gleich
vorwegnehmen, dass uns eine lange Liste mit Wünschen
allein – wir haben gerade schon einige gehört – in der
Sache nicht weiterbringen wird . Tatsächlich kann uns die
heutige Qualität der Schulverpflegung nicht zufrieden-
stellen . Hier haben wir schon einen großen Aufholbedarf .


(Beifall bei der SPD sowie des Abg . Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Mahlzeiten an vielen Kitas und Schulen sind weder
ausgewogen noch bei den Schülerinnen und Schülern be-
liebt . Ich spare mir, an dieser Stelle die Mängel aufzuzäh-
len; wir kennen sie .

Mit unserem Antrag haben wir im vergangenen Jahr
bereits wichtige Vorhaben beschlossen, beispielsweise,

die Vernetzungsstellen Schulverpflegung zu unterstützen
und Mindeststandards für Caterer einzuführen, die Essen
an Kitas und Schulen anbieten . Es sollen nur noch die
Anbieter einen Zuschlag erhalten, die nach den Quali-
tätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung
zertifiziert sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


So hat beispielsweise das Land Berlin den Wandel vom
Preis- zum Qualitätswettbewerb in der Ausschreibungs-
praxis bereits eingeleitet . An die Erfahrungen kann dann
auch das Nationale Qualitätszentrum Schulverpflegung
gut anknüpfen, wenn es endlich seine Arbeit aufnimmt .
Im Ernährungspolitischen Bericht habe ich gelesen: Das
soll noch in diesem Jahr der Fall sein .

Letztendlich kann es nicht die Lösung sein, den Län-
dern und Kommunen die DGE-Verpflegungsstandards
einfach per Gesetz aufzuzwingen . Daher teile ich die
Auffassung, dass sich der Bund an der wichtigen gesamt-
gesellschaftlichen Aufgabe, eine hochwertige, gesunde
Schulverpflegung sicherzustellen, finanziell beteiligen
sollte . Auch der Vorschlag, die Mehrwertsteuersätze für
Gemeinschaftsverpflegung zu überdenken, findet meine
Sympathie .

Die Forderung nach einer grundsätzlich kostenlosen
Schulverpflegung halte ich hingegen für falsch. Es ist
durchaus vertretbar, dass sich Eltern an den Essenskos-
ten angemessen beteiligen . Seit langem diskutieren wir
darüber, wie wir die gesellschaftliche Wertschätzung von
Lebensmitteln wieder stärken können . Wir wissen doch
aus eigener Erfahrung nur allzu gut, dass der Preis dabei
eine wichtige Rolle spielt . Wenn wir also wollen, dass
Kinder möglichst früh einen verantwortungsvollen Um-
gang mit Nahrungsmitteln lernen, dann sollten sich ihre
Eltern auch darüber im Klaren sein, dass eine hochwerti-
ge Schulverpflegung etwas kostet. Unser erstes Ziel muss
es deshalb sein, sicherzustellen, dass das Essensgeld für
alle Eltern bezahlbar ist und so alle die Möglichkeit ha-
ben, an einem hochwertigen Schulessen teilzunehmen .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817327800

Danke schön . – Jetzt spricht die Kollegin Marlene

Mortler für die CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Marlene Mortler (CSU):
Rede ID: ID1817327900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Kochen will gelernt sein, genauso wie Anträge schrei-
ben . Gerade in Bezug auf Ihren Antrag möchte ich sagen:
Drücken Sie in Zukunft etwas weniger Copy-and-paste,
dann kommt auch etwas Neues heraus .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Rosemarie Hein






(A) (C)



(B) (D)


Denn wir reden heute über nichts Neues . Wir reden über
einen Antrag, der schon mehrfach gestellt worden ist, ge-
fühlt schon viel zu oft .


(Karin Binder [DIE LINKE]: Weil sich in der Zwischenzeit nichts getan hat!)


Ich verstehe Ihren Ausgangspunkt . Wir alle in die-
sem Haus sind uns einig, dass eine gute, eine gesunde
Ernährung in jungen Jahren die entscheidende Basis für
das spätere Leben legt . Ich glaube, das ist eine Selbst-
verständlichkeit . Aber wenn ich Sie so reden höre, frage
ich mich: Wo leben wir eigentlich? Sie reden über Dinge,
die in vielen Bundesländern, vor allem in Bayern, längst
selbstverständlich sind .

Das Schulfach Ernährung gibt es in Bayern fächer-
übergreifend .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In Bayern ist es auch selbstverständlich, dass Grund-
schulkinder regelmäßig auf Bauernhöfe gehen, dass sie
die Zusammenhänge lernen von Säen, Wachsen, Ernten
und Essen, damit sie wissen, dass das Lebensmittel nicht
aus dem Supermarktregal kommt, sondern vom Acker
bzw . aus dem Stall, damit sie wissen, wie ein Lebensmit-
tel schmeckt, wie es riecht, wie man es genießen kann .
All diese Dinge sind selbstverständlich . Aber ich gebe
zu: Man kann immer noch mehr machen .

Sie werfen nun dem Bund vor, dass gar nichts passiert
wäre . Dabei ist schon unter Ilse Aigner jede Menge pas-
siert .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Beim nationalen Aktionsplan „IN FORM“ geht es bei-
spielsweise nicht nur um gesundes Essen, sondern auch
um Bewegung, also um einen gesamtheitlichen Ansatz .
Die Landfrauen im Deutschen LandFrauenverband ha-
ben sich dem Projekt „SchmExperten“ gewidmet, in dem
man Schülerinnen und Schülern spielerisch zeigt, wie
Essen geht, dass man Essen auch genießen kann und das
man Essen vor allem auch wertschätzen kann und muss .
Das sind wenige Beispiele, aber ich denke, es sind gute
Beispiele .

Was soll der Bund denn noch machen? Im Grunde ge-
nommen hat er die entscheidenden Projekte seit Jahren
vorgelegt, den Bundesländern sogar mundgerecht vorge-
legt, sie müssen sie nur abrufen . Damit bin ich bei Ihrer
eigentlichen Forderung .

Sie fordern in Ihrem Antrag, dass ein Kind in Kita oder
Schule in Zukunft vom Bund mit mindestens 4,50 Euro
unterstützt werden muss . Wenn Sie so weitermachen mit
Ihren Forderungen, dann brauchen wir die Bundesländer
nicht mehr, dann kann der Bund in Zukunft alles selber
bezahlen .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber Bildung ist bis zum heutigen Tag Ländersache .


(Karin Binder [DIE LINKE]: Es geht um Essen und erst einmal nicht um Bildung!)


Zur Bezahlung des Essens . Wir müssen uns die Grö-
ßenordnung vor Augen halten . Ich habe es nicht ausge-

rechnet, aber bei Ihrem letzten Antrag – inzwischen ist
die Kita dazugekommen – ging es um eine zweistellige
Milliardensumme .


(Karin Binder [DIE LINKE]: Nein, um einstellige!)


– Nein . Das ist jetzt meine Version . Wenn jeder etwas
bekommen soll, dann geht es um eine zweistellige Mil-
liardensumme .

Ich finde, wir dürfen die Länder nicht aus der Verant-
wortung entlassen . Ich will vielmehr wissen: Was ma-
chen denn Ihre Bundesländer? Welchen Beitrag leisten
sie zur Ernährungsbildung, zur Qualität der Schul- oder
Kitaernährung?


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817328000

Frau Kollegin .


Marlene Mortler (CSU):
Rede ID: ID1817328100

Welchen Beitrag leisten sie im Zusammenhang mit der

Finanzierung von Schulvernetzungsstellen, die auch im
Bund geboren sind? Oder welches Land finanziert zum
Beispiel Lernküchen? Das sind Fragen, über die man re-
den sollte, bevor wir hier leichtfertig einem Antrag unse-
re Zustimmung geben . Wir als CDU/CSU lehnen diesen
Antrag auf alle Fälle ab .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817328200

Darf ich Sie kurz fragen, ob Sie noch eine Frage der

Kollegin Binder gestatten? Sie haben nämlich noch et-
was Zeit .


Marlene Mortler (CSU):
Rede ID: ID1817328300

Bitte schön .


Karin Binder (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817328400

Liebe Frau Kollegin Mortler, also: Es geht nicht um

einen zweistelligen Milliardenbetrag, es ging in unserem
Antrag aus der letzten Legislaturperiode um 8 Milliarden
Euro . Wir haben deshalb extra diese Tagung veranstaltet,
bei der wir wirklich versucht haben, im Detail die Kosten
zu ermitteln . Ich lasse Ihnen das gern im Zusammenhang
mit der Ausschussberatung zukommen, dass Sie sehen,
wie sich die einzelnen Kosten zusammensetzen . Da-
durch sind wir auf die Kosten von 4,50 Euro pro Kind im
Durchschnitt gekommen . Das würde einen Betrag von
etwa 6 Milliarden Euro im Jahr ausmachen .

Weitere 2 Milliarden Euro werden durch die Länder
und die Kommunen zu bestreiten sein, weil es Trägerkos-
ten gibt . Allein die Vorhaltung von Räumen etc . kostet
Geld, das ist ganz klar . Wenn Sie dem aber gegenüber-
stellen, wie wir Dienstwagen und andere Dinge in diesem
Land bezuschussen oder durch Steuererleichterungen be-
günstigen, dann muss ich Sie ehrlich fragen: Was ist Ih-
nen mehr wert? Die Kinder und deren Zukunft und damit
auch unsere Zukunft oder so etwas?

Das ist eine volkswirtschaftliche Rechnung, die man
aufstellen kann . Wenn ich weiß, dass allein 20 Milliar-

Marlene Mortler






(A) (C)



(B) (D)


den Euro pro Jahr für Diabetes aufgewendet werden müs-
sen – andere ernährungsbedingte Krankheiten sind dabei
noch gar nicht erfasst –, dann muss ich einfach sagen:
Das ist eine gute Investition .


Marlene Mortler (CSU):
Rede ID: ID1817328500

Ich weiß nicht, ob Sie ernst meinen, was Sie hier sagen

und fordern . Ich kann mich erinnern, dass eine zusätzli-
che Forderung der Einbau von Schulküchen war . Wenn
wir glauben, dass wir mit dieser Summe auskommen,
dann ist das eine vollkommen falsche Rechnung .

Wenn es um unsere Kinder geht, dann dürfen Sie mir
glauben . Ich kann Ihnen als Familienfrau, als dreifache
Mutter und als fünffache stolze Großmutter sagen: In der
Familie muss beginnen, was in Staat und Gesellschaft
blühen soll .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dazu gehört neben Ihrem Antrag – und das ist für mich
persönlich ganz wichtig – das Vermitteln von Ernäh-
rungswissen, das Miteinanderkochen, das Miteinander-
essen . Das kostet wenig, das bringt viel . Es bringt vor
allem für unsere Gesellschaft einen hohen Mehrwert .
Dafür sollten wir kämpfen, dafür kämpfe zumindest ich .

Vielen Dank .


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817328600

Vielen Dank, Frau Kollegin Mortler . – Dann hat jetzt

als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt die
Kollegin Ursula Schulte, SPD-Fraktion, das Wort .


(Beifall bei der SPD)



Ursula Schulte (SPD):
Rede ID: ID1817328700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren auf der Tribüne! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Alle Jahre wieder kommt das Christus-
kind, aber auch ein Antrag der Linken zum Thema hoch-
wertige und kostenlose Kita- und Schulverpflegung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist wenigstens Kontinuität!)


Die Anträge aus den vergangenen Jahren unterschei-
den sich kaum, geben uns allen aber immer wieder die
Gelegenheit, über das wichtige Thema „Ernährung von
Kindern und Jugendlichen“ zu diskutieren . Wir müssen
auch darüber sprechen; denn immer mehr Mahlzeiten
verlagern sich aus dem familiären Umfeld in Kitas und
Schulen und damit auch in die Verantwortung von Kom-
munen, Trägern, Land und Bund .

Allerdings, und das möchte ich betonen: Eltern geben
die Verantwortung für die Ernährung ihrer Kinder nicht
an der Kita- bzw . der Schultür ab . Sie können und sollen
sich einmischen, sie können und sollen mitbestimmen .
Die Kampagne „Macht Dampf!“ unterstützt die Eltern
dabei, und das ist gut so . Bei uns im Kreis Borken dür-
fen die Jugendlichen auch mitentscheiden, was sie essen

wollen . Frau Binder, manchmal habe ich wirklich den
Eindruck, wir leben in verschiedenen Welten .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn wir hier
im Plenum häufig inhaltlich miteinander streiten, so eint
uns doch – das hoffe ich wenigstens – die Auffassung,
dass jedes Kind in Deutschland Zugang zu einer gesun-
den und ausgewogenen Ernährung haben muss; denn
nur so können sich Kinder körperlich und geistig gut
entwickeln . Das hat meine Kollegin Elvira Drobinski-
Weiß gerade schon gesagt . Ich freue mich daher über die
Handlungsempfehlungen der Vernetzungsstellen Kita
und Schulverpflegung, die besagen, dass allen Kindern
unabhängig von ihrer sozialen Herkunft die Teilnahme
an der Kita- und Schulverpflegung ermöglicht werden
muss .

Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, dann würde ich
mir wünschen, dass in allen Schulen und Kitas frisch ge-
kocht wird, natürlich gemeinsam mit den Kindern und
Jugendlichen . Ich weiß, die Realisierung meines Wun-
sches liegt in weiter Ferne, aber wenn wir gemeinsam
daran arbeiten, dann schaffen wir das eines Tages . Dazu
möchte ich Sie gerne auffordern .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Kommunalpoli-
tikerin habe ich mich schon immer darüber geärgert, dass
bei der Vergabe der Mittagsverpflegung nicht der Beste
zum Zuge gekommen ist, sondern der Preiswerteste . Da-
ran müssen wir im Interesse der Kinder und Jugendlichen
dringend etwas ändern .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Durch das Bildungs- und Teilhabepaket ist es ja möglich,
einen Zuschuss für das gemeinschaftliche Mittagessen
zu bekommen . Der verbleibende Eigenanteil der Eltern
liegt dann bei 1 Euro pro Tag und Essen . Wenn das nicht
geleistet werden kann, dann springen bei uns auch noch
Fördervereine ein . In Nordrhein-Westfalen ist die Welt
also auch in Ordnung . Ich glaube, da bleibt kein Kind
ohne Mittagessen .


(Beifall des Abg . Willi Brase [SPD])


Ich finde, gutes Mittagessen muss wertgeschätzt werden.
Was nichts kostet – Frau Landgraf, da haben Sie durch-
aus recht –, ist auch nichts wert .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb fordern ja auch die Tafeln von ihren Kunden ei-
nen kleinen Obolus .

Die Forderung nach einer unentgeltlichen Verpflegung
für alle hat Charme . Sie ist unbürokratisch . Aber ist sie
auch gerecht? Die Linke beklagt immer wieder die Un-
gleichheit in unserer Gesellschaft . Nur, warum muten Sie
dann zum Beispiel einer Bundestagsabgeordneten nicht
zu, die Kita- und Schulverpflegung zu bezahlen? Die Ab-
geordnete wird dadurch ja nicht arm; einer Familie aus
dem Niedriglohnsektor oder aus der sogenannten Mit-
telschicht täte die Ersparnis dagegen richtig gut . Mehr
Gerechtigkeit – das ist meine persönliche Meinung – er-
zielt man nicht dadurch, dass man das Füllhorn über allen
ausgießt. Für mich gilt immer noch – das finde ich über-

Karin Binder






(A) (C)



(B) (D)


haupt nicht altmodisch –: Starke Schultern tragen mehr
als schwache Schultern .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt viele Initi-
ativen auf Bundesebene für gesünderes Essen, auch für
mehr Wissensvermittlung über eine gute Ernährung . Die
Kommunen und die Bundesländer sind auch nicht untä-
tig . Ich will nur ein Beispiel nennen: „Alle Kinder essen
mit“; das ist ein Härtefallfonds aus Nordrhein-Westfalen .
Man kann jetzt klagen: Das sind alles nur Konzepte bzw .
kleine Schritte . – Das stimmt, aber sie führen in die rich-
tige Richtung, und das ist entscheidend .

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817328800

Vielen Dank . – Damit schließe ich die Aussprache .

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/8611 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit
einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall . Dann ist die
Überweisung so beschlossen .

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:

Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent-
wurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des
Agrarmarktstrukturgesetzes

Drucksache 18/8235

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(10 . Ausschuss)


Drucksache 18/8646

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .

Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege
Kees de Vries von der CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Kees de Vries (CDU):
Rede ID: ID1817328900

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Es ist wohl unbestritten: Der Milchmarkt
befindet sich in einer sehr ernsten Marktkrise. Diese –
ich glaube, da sind wir uns auch einig – kann nur ge-
löst werden, indem weniger Milch produziert wird oder
die Nachfrage steigt . Es gibt keine Anzeichen, dass die
Nachfrage schnell wieder steigen wird . Also muss es zu
einer Verringerung der Produktion kommen .

Nun hat die Europäische Kommission mit Rechtsak-
ten vom 11 . April 2016 für sowohl anerkannte als auch
nicht anerkannte Erzeugerorganisationen die befristete
Möglichkeit geschaffen, die Rohmilchproduktion auf
freiwilliger Basis zu regulieren . Die Regelungen sehen
vor, dass der Milchsektor befristet für eine Zeit von sechs
Monaten – mit der Option, einmal um sechs Monate zu

verlängern – freiwillige gemeinsame Vereinbarungen
treffen und Beschlüsse fassen kann, die die Planung der
Milchproduktion zum Gegenstand haben .

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Mit-
gliedstaaten haben nun die erforderlichen Maßnahmen
zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die Vereinbarun-
gen und Beschlüsse die Funktionsfähigkeit des Binnen-
marktes nicht untergraben und auf die Stabilisierung des
Milchmarktes abzielen . Die Umsetzung ist also rechtlich
zwingend . Mit dem Entwurf eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Agrarmarktstrukturgesetzes der Frak-
tionen der CDU/CSU und SPD, Bundestagsdrucksa-
che 18/8235, wird der Branche die Möglichkeit gegeben,
auf freiwilliger Basis zur Begrenzung der Milchmenge
zu kommen . Zusätzlich werden mit dem Änderungsan-
trag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD Regelungen
über die Allgemeinverbindlichkeit in den Gesetzentwurf
aufgenommen .

Unter Einbeziehung der im Änderungsantrag enthalte-
nen Regelungen eröffnet der Gesetzentwurf die Chance,
dass deutlich weniger Milch produziert wird . Der Ge-
setzentwurf ist zielführend, weil wir mit ihm die Voraus-
setzungen schaffen, dass für einen begrenzten Zeitraum
Mengenabsprachen zur Reduzierung der Rohmilchpro-
duktion innerhalb der Branche getroffen werden können .
Damit nutzen wir eine Möglichkeit des europäischen
Rechts, die allerdings nur zeitlich begrenzt, nämlich für
sechs Monate mit der Option auf weitere sechs Monate,
zur Verfügung steht . Deshalb ist eine zügige Verabschie-
dung dringend geboten, um der betroffenen Milchwirt-
schaft jetzt die Möglichkeit zu geben, die Rohmilchpro-
duktion auf freiwilliger Basis zu regulieren .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass sich die Oppo-
sitionsfraktionen trotz des Wunsches der Bundesländer
nach einer zeitnahen Verabschiedung des Gesetzentwur-
fes der Abstimmung verweigert haben, ist angesichts der
existenziellen Marktkrise einfach verantwortungslos .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nur mit weniger Milch auf dem Markt können die Prei-
se steigen . Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion steht,
nachdem sich auch der Sektor für einen Ausstieg aus der
Quotierung ausgesprochen hat, außer Frage, dass es nicht
Aufgabe der Politik ist, jetzt den Markt zu regulieren .
Hier sind die Wirtschaftsakteure selbst gefordert, kurz-
fristig Lösungen zu finden. Mit der Änderung des Agrar-
marktstrukturgesetzes schaffen wir dafür den rechtlichen
Rahmen . Nun ist es an der Branche selbst, ein deutliches
Signal für eine bessere Steuerung des Milchangebots und
eine eventuelle Flexibilisierung der Marktstrukturen zu
setzen .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ursula Schulte






(A) (C)



(B) (D)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817329000

Vielen Dank . – Als Nächstes erhält die Kollegin Karin

Binder das Wort für die Fraktion Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Karin Binder (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817329100

Liebe Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kol-

legen! Meine Damen und Herren auf den Besuchertri-
bünen! Die Koalition möchte mit den Änderungen zum
Agrar marktstrukturgesetz den notleidenden Bauern in
der derzeitigen Milchkrise zu Hilfe kommen . Ich be-
haupte, Sie haben sich auf dem sogenannten Milchgipfel
und mit den Änderungen zu diesem Gesetz für den fal-
schen Behandlungsweg entschieden .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie hängen die Patienten, die Bauern, auf der Intensivsta-
tion an den Tropf . Das ist aber nicht mehr als eine le-
bensverlängernde Maßnahme und leider kein Heilmittel .
Es ist sicher gut gemeint, aber wenn der Tropf abgehängt
wird, geht das Sterben weiter .

Wenn auch Sie im Sinne der Verbraucherinnen und
Verbraucher unsere heimische Landwirtschaft retten
wollen, sollten Sie auf die Linke hören .


(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr . Wilhelm Priesmeier [SPD]: Oh!)


Wenn nicht, dann – das garantiere ich Ihnen – zahlen
die Zeche die Bauern und die Verbraucherinnen und
Verbraucher, und die vier großen Handelsunternehmen,
Handelsketten füllen sich die Taschen . Die Linke fordert
deshalb eine nachfrageorientierte flexible Mengensteue-
rung gegen Milchseen und Butterberge . Das könnte mög-
licherweise auch bei anderen Erzeugnissen wie Schwei-
nefleisch helfen.


(Beifall bei der LINKEN)


Sonst produzieren einige wenige Große immer mehr und
drücken damit die Preise immer weiter in den Keller . Um
das zu verhindern, sollten wir regionale Kreisläufe unter-
stützen und fördern .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Deshalb fordern wir hier: Regionale Molkereien und
regionale Erzeugnisse im Handel brauchen ein gesetzlich
geschütztes glaubwürdiges Regionalsiegel .


(Beifall bei der LINKEN)


Wir brauchen faire Preise für heimische Lebensmittel,
damit Verbraucherinnen und Verbraucher wissen, dass
ihr Geld tatsächlich beim Erzeuger landet . Dumpingprei-
se und Lockvogelangebote bei Lebensmitteln gehören
ebenso verboten wie Spekulationsgeschäfte mit Lebens-
mitteln auf internationalen Märkten .


(Beifall bei der LINKEN)


Wir müssen das Kartellrecht stärken . Wir hatten Herrn
Mundt, den Präsidenten des Kartellamtes, im Ausschuss .
Es geht darum, Bauern und Landwirtschaft auf Augenhö-

he mit Molkereien und Handel zu bringen . Wir müssen
die Vertragsbedingungen zwischen den Bauern und den
Molkereien auf den Prüfstand stellen .


(Beifall bei der LINKEN)


Laufzeit, Abgabepflicht und auch Mindestpreise müssen
in diesen Verträgen zugesichert werden, wenn wir wol-
len, dass unsere heimischen Landwirte überleben .

Eine aktuelle Untersuchung von Foodwatch zeigt:
Auch bei teuren Milchmarken kommt bei den Bäuerin-
nen und Bauern kaum mehr an als bei den Billigproduk-
ten .


(Dr . Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Unglaublich!)


Für eine „Bärenmarke“-Milch, die im Laden 1,15 Euro
kostet, erhält der Bauer genauso wenig wie für die billi-
ge „ja!“-Milch, die für 46 Cent verkauft wird . Nur noch
zwischen 23 und 27 Cent bekommt ein Bauer derzeit für
einen Liter Milch . Verbraucherinnen und Verbraucher
sind gerne bereit, mehr zu bezahlen . Aber sie müssen
dann auch sicher sein können, dass das Geld bei den Er-
zeugern ankommt und nicht in den Taschen der großen
Handelskonzerne landet .


(Beifall bei der LINKEN)


Die meisten Menschen haben ein Interesse daran, die
heimische Landwirtschaft vor Ort zu stärken und zu un-
terstützen . Sie wollen regionale Kreisläufe . Sie sind sich
im Klaren über den hohen Wert der Lebensmittelerzeu-
gung vor Ort in ihrer Region . Aber leider wird diese Re-
gionalität, die sich der Verbraucher wünscht, vom Handel
oft nur vorgetäuscht und für Werbezwecke missbraucht .
Dem muss ein Riegel vorgeschoben werden .


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg . Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es braucht ein verbindliches gesetzliches Siegel, damit
Verbraucherinnen und Verbraucher nicht an der Nase he-
rumgeführt werden können . Sonst ist alles schlicht Ver-
braucherbetrug .

Ich denke, hier brauchen wir die Verbraucherinnen
und Verbraucher an der Seite der Landwirte und Land-
wirtinnen, damit die Lebensmittelsicherheit weiterhin
hochgehalten wird und damit sich nicht einige wenige
zulasten der Verbraucher die Taschen füllen .

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817329200

Vielen Dank . – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der

Kollege Dr . Wilhelm Priesmeier .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD):
Rede ID: ID1817329300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sie haben eine etwas verquaste Vorstellung von Ökono-
mie; aber das schadet vielleicht nicht . Bei Dosen- und






(A) (C)



(B) (D)


Kondensmilch haben wir einen Selbstversorgungsgrad
von 580 Prozent .


(Dr . Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Es geht um reine Frischmilch!)


Wenn man sich die Produktion anschaut, stellt man fest:
Wir produzieren im Augenblick 32,4 Millionen Tonnen .
Davon exportieren wir 50 Prozent . 37 Prozent gehen in
den Lebensmitteleinzelhandel, der Rest in andere Berei-
che . Dann erzählen Sie mir mal, warum ausschließlich
dieser Bereich dafür verantwortlich sein soll, dass das
Preisniveau so weit unten ist .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben gesagt, dass wir uns dieses Themas anneh-
men werden . Das haben wir getan . Wir haben nach einem
intensiven Diskussionsprozess innerhalb der Koalition
zumindest einen Konsens darüber erzielt, wie wir vorge-
hen wollen . Aus der ursprünglichen Vorlage, die in den
Bundestag gekommen ist, haben wir etwas Ordentliches
gemacht. Wir haben nämlich die Allgemeinverpflich-
tung drangehängt und – mit einem Dank vor allen Din-
gen nach Mecklenburg-Vorpommern, was die Abläufe
betrifft – eine Fristverkürzung beim Bundesrat erreicht .
Der Agrarausschuss wird sich nächste Woche Dienstag
mit dem Gesetzentwurf und mit der Verordnung beschäf-
tigen . Ich gehe davon aus, dass wir am 17 . Juni dieses
Jahres beides in einem Paket beschließen werden, sodass
dann die Voraussetzungen dafür geschaffen sind, dass
sich die Branche bekennen kann, was sie möchte bzw . ob
sie handeln möchte .

Die Vorgaben zur Allgemeinverbindlichkeit sind na-
türlich nicht gesetzlich verbindlich . Vielmehr muss es
schon eine übergreifende Einigung im Sektor geben . Ich
glaube, das ist ein Ansatz, bei dem wir nicht zum Stan-
dardmittel des Wettbewerbsrechts greifen, sondern im
Prinzip so etwas Ähnliches wie ein staatlich sanktionier-
tes Mengenkartell bemühen, die Angebots- und Nach-
fragemenge zumindest in ein Gleichgewicht zu bringen,
damit die Preismechanismen wieder funktionieren kön-
nen .

In diesem Zusammenhang freue ich mich auch darü-
ber, dass Minister Backhaus aus Mecklenburg-Vorpom-
mern, der Vorsitzende der Agrarministerkonferenz, in der
entsprechenden Vorlage vorgesehen hat, dass die Andie-
nungspflicht gestrichen wird.


(Beifall bei der SPD – Marlene Mortler [CDU/CSU]: Nicht zu Ende gedacht!)


Ich glaube, das ist ein vernünftiger Ansatz . Wir müssen
nämlich auch den gesamten Rechtsbereich darüber hinaus
im Blick haben, etwa Artikel 168 GMO – Gemeinsame
Marktordnung – und Artikel 148 GMO . Ich freue mich
auch, dass mir die Bundesregierung signalisiert hat, dass
sie bereit ist, die Genossenschaften in Artikel 148 GMO
einzubeziehen und sich dafür in Brüssel einzusetzen . Das
ist der zweite Schritt, den wir gehen müssen, wenn wir
vertraglich vereinbarte Bedingungen haben wollen, dass
jedem Landwirt, auch wenn er in einer Genossenschaft
ist, ein entsprechender Vertrag angeboten wird, in dem
Menge, Preis und Vertragslaufzeit geregelt werden . Die

bloße Mitgliedschaft in einer Genossenschaft ist nämlich
noch lange kein Vertrag . Zwar gibt es Regelungen, die so
ähnlich behandelt worden sind; aber davon wollen wir
weg .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Darüber hinaus wollen wir in diesem Zusammenhang
mehr Wettbewerb, auch hinterher um das Produkt . Wir
müssen jetzt die Voraussetzungen dafür schaffen, dass
später, wenn der Markt wieder funktioniert, jeder für das
Produkt, das er erzeugt, ein gerechtes Entgelt bekommt .


(Beifall bei der SPD)


Die Dinge, die Sie angesprochen haben, sind an sich
gar nicht so schlecht, beispielsweise die Regionalisie-
rung von Produkten; damit bin ich auch einverstanden .
Aber so etwas kann nur wachsen, wenn regional auch
Mengen frei werden, nicht aber, wenn große Molkereien
alle Mengen mitnehmen und irgendwo anders verarbei-
tet wird . Auch dafür, dass das umgesetzt werden kann,
schaffen wir die Voraussetzungen .

Ich hoffe, dass wir den Weg, den wir jetzt beschreiten,
nicht so schnell wieder beschreiten müssen . Die ganze
Regelung wird nur für zwölf Monate wirksam sein, be-
ginnend mit dem 12 . April dieses Jahres, also bis zum
12 . April nächsten Jahres . Darüber hinaus wäre dann zu-
mindest auch noch die Kommission bzw . die Europäische
Union gefragt, diese Regelung entsprechend zwischen-
zeitlich, nachdem sie geprüft worden ist, zu verlängern .

Ich kann dieses Modell, so wie wir es jetzt hier in
Deutschland gemeinsam in dieser Großen Koalition kon-
zipiert haben, auch auf der europäischen Ebene zunächst
einmal nur empfehlen, bevor wir zu anderen Maßnahmen
greifen . Ich glaube, das ist ein guter Ansatz, mit dem wir
auf europäischer Ebene auch weitermachen können .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817329400

Vielen Dank . – Nächster Redner ist der Kollege

Friedrich Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen .


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Noch im März 2015 haben Sie von CDU/CSU
nicht aufgehört, die Zukunft der Milchbetriebe rosarot zu
malen . Denen, die Gas geben, gehöre die Zukunft; das
waren die Reden. Am 1. April fiel dann nach 32 Jahren
die Quote . Bereits am 7 . April war Ihr Traum ausge-
träumt; denn der Lebensmitteleinzelhandel reagierte mit
51 Cent für den Liter Milch, und jeder wusste, jetzt wird
es ernst, der Traum ist beendet .

Heute bekommen die Bauern 20 Cent und weniger
von der Molkerei, und dies bei Kosten von über 40 Cent
pro Liter Milch . Das führt gerade die großen Wachstums-
betriebe, aber leider auch die bäuerlichen Betriebe in den
Ruin . Die Milchanlieferung wird höher und höher und
höher; dies führt immer weiter in die Krise . 3,8 Prozent

Dr. Wilhelm Priesmeier






(A) (C)



(B) (D)


mehr wurden in Europa im letzten Milchjahr erzeugt;
das sind 6,1 Millionen Tonnen . Dazu hat Deutschland als
größter Milcherzeuger in Europa mit 10 Prozent beige-
tragen .

Wohin führt uns das, liebe Kolleginnen und Kollegen?
Die Preise gehen runter, runter, runter . 3 200 Milchhöfe
haben in 2015 aufgeben müssen . Dieses Jahr werden es
wahrscheinlich noch mehr sein, bald 10 Prozent im Mo-
ment in Schleswig-Holstein . Der LEH nutzt gnadenlos
das Überangebot aus und treibt die Preise tiefer und tie-
fer . Der Liter Milch ist bei einem Preis von knapp über
40 Cent im LEH billiger als Mineralwasser .

Bauernverbandsgeschäftsführer Krüsken hat dies als
Bankrotterklärung des Lebensmitteleinzelhandels und
der Molkereien bezeichnet . Recht hat er . Aber ganz si-
cher ist es auch eine Bankrotterklärung von Minister
Schmidt .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg . Dr . Kirsten Tackmann [DIE LINKE] – Marlene Mortler [CDU/CSU]: So ein Quatsch!)


Die Bündelung der Erzeuger zu stärken, was wir heute
tun, ist dringend notwendig . Wir würden, wenn es nur al-
leine darum ginge, diesem Gesetz auch vonseiten der Op-
position zustimmen . Das brauchen wir . Wir können das
Verfahren gern noch einmal wiederholen, Kees de Vries;
es ist auch protokolliert . Vielleicht liest du es einmal;
dann kannst du noch einmal erfahren, wie es gewesen ist .

Das Pilotverfahren des Kartellamtes zur Überprüfung
der Lieferbeziehungen, das im Moment läuft, begrüßen
wir auch . Wir warnen aber davor, in zu großer Zuversicht
zu schwelgen, und mahnen zu Vorsicht . Wenn aber die
Änderungen der Andienungspflicht, die ihr heute voll-
zieht, nur darauf abzielen, die Flexibilität auf dem Markt
zu erhöhen, führt das eben nicht zu einer Stärkung und
Bündelung der Milcherzeuger, sondern wird genau das
Gegenteil bewirken . Wir brauchen eine andere Markt-
struktur mit mehr und kleineren Molkereien und einer
deutlichen Stärkung der Erzeuger .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg . Dr . Kirsten Tackmann [DIE LINKE])


Darum geht es heute . Wir sollten auch frank und frei er-
klären, worum es eigentlich geht .

Zum jetzigen Zeitpunkt aber einmal holterdiepolter die
Andienungspflicht – am Ende wird es die Abnahmever-
pflichtung sein – gleich mit zu kippen, das ist deutlich zu
schnell geschossen, lieber Kollege Wilhelm Priesmeier .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Dies ist – das sage ich dir als leidenschaftlicher Ge-
nossenschaftler – Grundlage des genossenschaftlichen
Handelns . Das zu machen, indem du morgens einmal
aufwachst und etwas zu laut vor dich hin gedacht hast,
die Abschaffung jetzt so einfach übers Knie brichst und
es so schnell tust – als handstreichartig, als überfallartig

möchte ich es bezeichnen –, dieses Gebaren macht die
Opposition in der Tat nicht mit .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Da verweigern wir uns; denn das ist nicht sachgerecht .
Das geht auf gar keinen Fall .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wir sind stolz darauf, dass wir in den vergangenen
Jahrzehnten den notleidenden Menschen auf dem Lan-
de mit den Genossenschaften helfen konnten . Das war
eine große Errungenschaft . Diese in einer Nacht-und-Ne-
bel-Aktion niederzumachen, auch noch mit Scheinge-
fechten, wir ihr das macht, geht so nicht . Damit wird nur
von der Krise abgelenkt . Das hilft niemandem: keinem
Betrieb und auch sonst keinem .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Es geht doch heute nur um eine Sache: Wie können
wir die Menge verringern? Mengenreduzierung ist das
Thema, egal wie; nichts anderes . Damit müssen wir an-
fangen . Wir müssen die Realitäten ins Auge fassen . Des-
halb fordern wir den Minister auf: Koppeln Sie jetzt die
von Ihnen angekündigten Mittel endlich an die Mengen-
reduzierung . Geben Sie Hilfen nur gegen eine Mengen-
senkung . Das ist das Gebot der Stunde . Tun Sie endlich
etwas! Lösen Sie endlich die Probleme, statt weiter auf
der Bremse zu stehen .

Schönen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817329500

Vielen Dank . – Als Nächster spricht der Kollege

Waldemar Westermayer, CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Waldemar Westermayer (CDU):
Rede ID: ID1817329600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte

Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute die
Änderung des Agrarmarktstrukturgesetzes . Ich möchte
gleich zu Anfang deutlich machen, dass der vorliegende
Gesetzentwurf ein wichtiger Baustein für den Einstieg in
die Marktwirtschaft für die Milcherzeuger in Deutsch-
land und Europa leistet .

Wenn sich der Erzeugerpreis dauerhaft bei unter
30 Cent einpendelt, ist die Zukunft der Milcherzeuger
massiv bedroht . Es gibt auch gute Beispiele, etwa im
Berchtesgadener Land, wo 34 Cent für 1 Liter Milch
bezahlt werden, oder bei uns von der OMIRA, die jetzt
Verträge über einen Milchpreis von 32,5 Cent über
100 000 Tonnen Milch für ein Jahr geschlossen hat . Da-
rauf komme ich noch zurück . Bestimmte Molkereien
zahlen teilweise nur noch einen Preis von unter 20 Cent,
vor allem in Norddeutschland .

Friedrich Ostendorff






(A) (C)



(B) (D)


Schon im letzten Jahr mussten rund 3 200 Milchvieh-
betriebe in Deutschland aufgeben . Angesichts der aktuel-
len Situation auf dem Markt braucht die Milchwirtschaft
mit ihren noch 74 000 Betrieben in der Bundesrepublik
zweierlei: Zum einen benötigen wir Sofortmaßnahmen .
Diese hat Minister Schmidt am Montag auf dem Milch-
gipfel vorgestellt . Vor allem die rückwirkenden steuer-
lichen Möglichkeiten zur Gewinnglättung ab 2014 sind
sehr sinnvoll . Hervorheben möchte ich zum anderen aber
auch den gestiegenen Zuschuss zur Unfallversicherung
und die vorgeschlagenen Bürgschaften . Aus meiner Sicht
muss die Erteilung von Bürgschaften aber an Bedingun-
gen geknüpft werden . Das sind wichtige Elemente, um
die aktuelle Krise zu überbrücken .

Die Brücke alleine reicht aber nicht aus . Am Ende der
Brücke muss es eine Perspektive geben . Diese Perspekti-
ve muss langfristig und nachhaltig sein . Deshalb halte ich
ausdrücklich nichts von einer Rückkehr zu einer staatlich
verordneten Quote . Diese hat in den über 30 Jahren ihres
Bestehens nicht für einen nachhaltigen Markt gesorgt .
Vielmehr gab es den jetzt ausgiebig besprochenen Struk-
turwandel auch schon zu Zeiten der Milchquote . Über
380 000 Betriebe waren es 1983, als man sie eingeführt
hat . Jetzt gibt es noch 74 000 Betriebe . Ein einfaches Zu-
rück zum vorherigen System darf es deshalb nicht geben .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Als Milchviehhalter, der schon viel für Quotenrechte
gezahlt hat, weiß ich, wovon ich rede . Wir müssen statt-
dessen die Erzeuger stärken .


(Dr . Wilhelm Priesmeier [SPD]: Richtig!)


Das beinhaltet für mich zunächst eine grundlegende Ver-
änderung der Stellung der Erzeuger am Markt .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . Dr . Wilhelm Priesmeier [SPD])


Wir müssen weg vom bloßen Anliefern und hin zu einem
Verkaufen der Milch .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Erfolgreiches Wirtschaften bemisst sich nämlich nicht
allein danach, volle Tankwagen vom Hof fahren zu las-
sen . Vielmehr muss der Einstieg in einen bedarfsange-
passten Verkauf erfolgen . Hier ist die Branche gefragt .
Sie muss tragfähige Konzepte für die Ausgestaltung der
Vertragsbeziehungen liefern . Diese sind aus meiner Sicht
der Schlüssel für eine nachhaltige Aufwertung der Stel-
lung der Erzeuger . Verträge über den Preis, die Laufzeit
und die Menge sind die Grundlage für eine erfolgreiche
Marktbeteiligung .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


In diesem Zusammenhang brauchen wir eine starke aner-
kannte Branchenorganisation .

Wir Politiker können nur das Spielfeld aufbauen und
regeln . Spielen müssen die Akteure selber . Im Kartell-
recht ermöglichen wir jetzt schon und weiter verstärkt
durch den vorliegenden Gesetzentwurf den Erzeugern
eine Bündelung . Der gebündelten Marktmacht auf der

Seite des Handels muss jedoch jetzt endlich etwas entge-
gengesetzt werden . Die einseitige Verteilung des Preis-
risikos zulasten der Erzeuger darf nicht einfach so wei-
tergehen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Im jetzigen System werden falsche Anreize gesetzt,
zum Beispiel durch das Milchgeld . Ein Teil des Problems
ist doch, dass der Lebensmitteleinzelhandel und die Mol-
kereien überhaupt kein Risiko tragen .


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, richtig! Völlig richtig!)


Die Molkereien setzen die Milch ab und ziehen ihre
Produktionskosten und ihre Gewinne ab, und der Rest
verbleibt dann beim Erzeuger . Das ist nicht sach- und
interessengerecht . Vielmehr muss jeder Teil der Wert-
schöpfungskette auch am Ertrag beteiligt sein .

Abschließend möchte ich noch einmal betonen, dass
wir Politiker die Ursache des Problems nicht allein behe-
ben können und werden . Wir brauchen hierzu die Bran-
che und müssen gesetzliche Vorgaben machen, damit wir
endlich echte und faire Vertragsbeziehungen etablieren .
Das sollte unser gemeinsames Ziel sein . Deshalb gehen
wir mit dem Agrarmarktstrukturgesetz einen wichtigen
Schritt in Richtung Marktwirtschaft . Ich möchte mich
auch bei der SPD bedanken, die hier hervorragend mitge-
zogen hat . Ich hoffe, dass es beim Düngegesetz genauso
der Fall sein wird .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817329700

Vielen Dank . – Als Nächstes spricht für die SPD-Frak-

tion jetzt der Kollege Johann Saathoff .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johann Saathoff (SPD):
Rede ID: ID1817329800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Zweimal Milchpolitik an einem Tag: Das
haben wir selten in diesem Hause. Aber ich finde, dass
die Bäuerinnen und Bauern es verdient haben, dass wir
uns mit der Situation auseinandersetzen und miteinander
über die beste Lösung streiten . Ich glaube, Streit ist auch
etwas, das die Kultur ausmacht und für die Bäuerinnen
und Bauern auf jeden Fall richtig sein kann .

Halten wir an dieser Stelle fest: Das Problem sind
Überkapazitäten im Milchmarkt . Wir haben es schon ge-
hört: Das Angebot ist in der EU 2014 um 2,2 Prozent und
2015 um 3,8 Prozent gestiegen . Das heißt, wir haben ein
zu großes Angebot im Milchmarkt .

Auf der Nachfrageseite haben wir einen deutlichen
Nachfragerückgang erlebt, insbesondere bei den Expor-
ten außerhalb der Europäischen Union .

Aber ich finde, dass es an dieser Stelle auch dazuge-
hört, zu betonen, dass es gut ist, dass mittlerweile alle

Waldemar Westermayer






(A) (C)



(B) (D)


erkannt haben, dass der Markt insgesamt das Problem ist
und nicht nur die Nachfrageseite .


(Beifall des Abg . Willi Brase [SPD])


Ich würde mir wünschen, dass die Bauernverbände in der
politischen Debatte irgendwann wieder zusammenfinden
und sich miteinander abstimmen, was die beste Lösung
ist, damit wir nicht über Monate die Situation haben, dass
der eine Hü sagt und der andere Hott .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Im Agrarmarktstrukturgesetz wird die Möglichkeit der
Mengenabsprache zwischen Molkereien und Erzeuger-
gemeinschaften geregelt . Das hilft sicher, aber ich glaube
nicht, dass es das Problem löst . In Ostfriesland würde
man sagen: Man hett eerst utleert, wenn all Finger gliek
lang sind . Das heißt: Man lernt nicht aus im Leben .

Ich glaube, wir brauchen neue Standards und neue
Rahmenbedingungen, vielleicht für eine zusätzliche und
andere Milchwirtschaft . Wir haben viel über Landwirt-
schaft 4 .0 geredet . Aber haben wir uns eigentlich auch
Gedanken über Landwirtschaft 2 .0 und 3 .0 gemacht? Zu
Landwirtschaft 2 .0 gehört für mich zum Beispiel, dass
Verbraucher einfacher in die Lage versetzt werden, wert-
volle Milch, zum Beispiel Grünlandmilch, zu kaufen .
Dazu gehört zwingend, dass diese Milch gekennzeichnet
wird .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Diese Milch muss an bestimmte Voraussetzungen ge-
bunden werden . Wer macht sich denn heute beim Milch-
kauf Gedanken über Zellzahlen, Omega-3-Fettsäure,
über Bedingungen, wie Tiere im Stall und auf dem Feld
gehalten werden, über gentechnikfreie Fütterung oder
über die Frage, ob man nicht künftig Zweinutzungsrinder
einsetzen kann, statt immer nur auf eine bestimmte Nut-
zung zu achten? Dass, wenn die Kennzeichnung richtig
ist, die Verbraucher dies auch annehmen, sieht man wun-
derbar am Beispiel der Bodenhaltung von Hühnern im
Bereich der Eierwirtschaft .

Zu Landwirtschaft 3 .0 gehört aus meiner Sicht ein
Blick auf die Forschungseinrichtungen im Bereich der
Landwirtschaft . Das Ministerium unterhält sieben For-
schungseinrichtungen mit einem Etat von mehreren
100 Millionen Euro. Ich finde, liebe Kolleginnen und
Kollegen, 10 Prozent für alternative Wege der Milchwirt-
schaft wären in dieser Krise gut investiertes Geld für
Leuchtturmprojekte der neuen Milchwirtschaft und für
Leuchtturmprojekte in der Milchverarbeitung . Wir wis-
sen alle: Jeder Euro, der darin investiert würde, würde
fünfmal über Wertschöpfung zurückkommen und kommt
den ländlichen Räumen insgesamt zugute .

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817329900

Vielen Dank . – Damit ist die Aussprache beendet .

Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurf
eines Gesetzes zur Änderung des Agrarmarktstrukturge-
setzes . Der Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 18/8646, den Gesetzentwurf der Fraktio-
nen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 18/8235
in der Ausschussfassung anzunehmen . Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen . – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen bei Enthaltung der Opposition angenommen .

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist in dritter Lesung mit dem gleichen Stimmen-
verhältnis angenommen .

Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/8646 empfiehlt der Ausschuss, eine
Entschließung anzunehmen . Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Opposition angenommen .

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Katharina Dröge, Kerstin Andreae, Dr . Thomas
Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für mehr Transparenz und demokratische
Kontrolle bei der Ministererlaubnis

Drucksache 18/8078
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre hier
keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .

Ich bitte Sie, Ihre Plätze einzunehmen oder die Ge-
spräche außerhalb des Plenarsaals fortzusetzen – Herr
Kollege Spiering auch .


(Rainer Spiering [SPD]: Entschuldigung!)


Die Herren hier von mir aus gesehen rechts bitte eben-
falls die Debatten außerhalb des Plenarsaals fortsetzen .

Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat die Kollegin
Katharina Dröge, Bündnis 90/Die Grünen .


Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1817330000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir haben in den letzten Wochen öfter mit-
einander über das Thema Ministererlaubnis gesprochen .
Wir haben über die aktuelle Ministerentscheidung von
Sigmar Gabriel im Falle der Fusion Edeka/Tengelmann
gesprochen . Wir Grünen haben uns hier klar positio-

Johann Saathoff






(A) (C)



(B) (D)


niert: Wir halten die Entscheidung von Sigmar Gabriel
für falsch . Genauso wie das Kartellamt, genauso wie die
Monopolkommission, genauso wie Verbraucher- und Er-
zeugerverbände halten wir diese Entscheidung für schäd-
lich für den Wettbewerb, schädlich für die Verbraucher
und schädlich für die Zulieferer .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Klaus Barthel [SPD]: Genauso wie Rewe!)


Die Entscheidung von Sigmar Gabriel bedeutet mehr
Marktmacht für Edeka, weniger Wettbewerb, weniger
Auswahl für die Verbraucher, höhere Preise in den Su-
permarktregalen und mehr Preisdruck auf die Hersteller,
auf die Bäuerinnen und Bauern . Deswegen ist Ihre Ent-
scheidung falsch .

Gleichzeitig schafft es Sigmar Gabriel nicht, das ein-
zige von ihm angeführte Argument zugunsten dieser Mi-
nistererlaubnis umzusetzen . Er hat versprochen, er würde
durch die Fusion 16 000 Arbeitsplätze retten . Doch das
hat er nicht erreicht. Denn die Auflagen, die er für diese
Fusion vorgesehen hat, retten eben nicht 16 000 Arbeits-
plätze . Sigmar Gabriel hat offengelassen, wie viele Ar-
beitsplätze gerettet werden, und er hat offengelassen, für
wen dieser Schutz gilt .

Unsere Nachfragen im Wirtschaftsausschuss, unsere
Nachfrage an das Bundeswirtschaftsministerium haben
ergeben, dass nur die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
von Kaiser’s Tengelmann durch diese Auflagen geschützt
sind, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Edeka
nicht . Genau das, was wir nun in der Presse lesen kön-
nen, passiert jetzt, nämlich dass der Konzern nach der
Fusion eigene Mitarbeiter entlässt, dass diese Personen
nicht geschützt sind und dass die Auflagen von Sigmar
Gabriel an dieser Stelle nicht funktionieren .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Unser Fazit lautet daher: schlechte Entscheidung,
schlecht gemacht .

Wir kritisieren in unserem Antrag des Weiteren die
Art und Weise, wie Sigmar Gabriel diese Entscheidung
getroffen hat; auch diese ist schlecht . Wenn man sich an-
schaut, wie die Ministererlaubnis funktioniert, dann stellt
man fest, dass ein einziger Mensch darüber entscheidet,
ob zwei so große Unternehmen miteinander fusionieren
dürfen . Er entscheidet, ob die Entscheidung des Bundes-
kartellamts rückgängig gemacht wird . Er entscheidet, ob
es überragende Interessen im Sinne des Allgemeinwohls
gibt, die eine solche Entscheidung legitimieren . Ich fra-
ge mich ganz ehrlich: Wieso sollte ein Mensch entschei-
den können, ob es überragende Interessen im Sinne des
Allgemeinwohls gibt? Sind nicht wir, die Mitglieder des
Deutschen Bundestages, es, die dafür gewählt sind, zu
definieren, was ein überragendes Interesse im Sinne des
Allgemeinwohls ist? Sind es nicht wir, die die Aufgabe
haben, miteinander abzuwägen, ob es ein solches Inte-
resse gibt?

Wir sind der Meinung, dass solche Entscheidungen
aus dem Hinterzimmer heraus müssen . Wir schlagen
vor, dass der Deutsche Bundestag über solche Entschei-
dungen beraten kann . Wir schlagen ein suspensives Veto

des Bundestages vor, wenn ein Minister, wie es Sigmar
Gabriel gemacht hat, das Bundeskartellamt überstimmt .
Wir fordern, dass der Bundeswirtschaftsminister ordent-
lich und transparent informiert, welche Beweggründe es
für seine Entscheidung gibt . Das hat er im laufenden Ver-
fahren nicht gemacht . Wir haben zig Fragen gestellt, Fra-
gestunden genutzt und Aktuelle Stunden dazu durchge-
führt und Anfragen an die Bundesregierung gestellt . Aber
er musste seine Entscheidung gegenüber dem Parlament
noch nicht einmal begründen . Mehr Hinterzimmer und
mehr Intransparenz gehen aus meiner Sicht nicht .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Klaus Barthel [SPD]: Das Bundeskartellamt muss seine Entscheidung auch nicht gegenüber dem Parlament begründen!)


Wir wollen, dass dieses durchaus wichtige Instrument
demokratisch legitimiert ist, dass es akzeptiert ist, dass
die Menschen verstehen und dass transparent ist, warum
eine Entscheidung so getroffen wird . Wir sagen nicht,
dass es keine Allgemeinwohlgründe geben kann, die eine
solche Fusion letztendlich rechtfertigen . Wenn aber ein
Mensch allein im Hinterzimmer eine solche Entschei-
dung treffen kann, ohne sie begründen zu müssen, dann
macht es sie massiv missbrauchs- und lobbyanfällig .
Deswegen haben wir einen Antrag eingebracht, in dem
wir ein suspensives Veto fordern . Die Beteiligung des
Bundestages stärkt am Ende auch die Ministererlaubnis .
Deshalb hoffe ich, dass wir uns heute gemeinsam auf die-
sen Weg verständigen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817330100

Vielen Dank . – Nächster Redner ist der Kollege

Dr . Matthias Heider für die CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Matthias Heider (CDU):
Rede ID: ID1817330200

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Meine Damen und Herren! Was haben eigentlich
die Unternehmen Daimler-Benz, Eon und Edeka gemein-
sam? Sie alle sind schon einmal in den Genuss einer Mi-
nistererlaubnis gekommen . Daimler-Benz durfte sich im
Jahr 1989 mit MBB, einem Luft- und Raumfahrtunterneh-
men, zusammenschließen . Das Unternehmen Eon konnte
im Jahr 2002 mit der Ruhrgas fusionieren . Schließlich
hat der Wirtschaftsminister in diesem Jahr entschieden,
dass der Handelskonzern Edeka das Unternehmen Kai-
ser’s Tengelmann übernehmen darf . Über dieses aktuel-
le Fusionsverfahren haben wir im Wirtschaftsausschuss
und in mittlerweile einigen Sitzungen hier in diesem
Haus gesprochen . Ich habe wiederholt in der Diskussi-
on auf die Risiken hingewiesen, die mit dieser Entschei-
dung einhergehen . Aus meiner Sicht sind noch nicht alle
Fragen gelöst . Einige sind gerade angesprochen worden:
Reicht das Arbeitsplatzargument als alleinige Begrün-
dung aus, um erhebliche Wettbewerbsbeschränkungen
aufzuwiegen? Ist es sinnvoll, eine solche Erlaubnis vom
Wohlwollen Dritter, von den Gewerkschaften, abhängig
zu machen? Werden durch die Bedingungen wirklich alle
Arbeitsplätze bei Kaiser’s Tengelmann gesichert, oder

Katharina Dröge






(A) (C)



(B) (D)


wird Edeka eigene Arbeitnehmer bei sich entlassen, um
die Übernahme möglichst effizient zu gestalten? Diese
Fragen müssen noch beantwortet werden . Da warten wir
noch auf die Entwicklung, die sich in diesen Wochen erst
ganz langsam zeigt .

Generell nehme ich jedenfalls aus diesen Verfahren
erst einmal mit: Das Instrument der Ministererlaubnis
scheint reformbedürftig zu sein . Deshalb, liebe Kollegin-
nen und Kollegen von den Grünen, ist die Aufmerksam-
keit, die Sie dieser Regelung zuteilwerden lassen, ver-
dient, auch wenn ich Ihren Lösungsvorschlag nicht teile .


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie einen anderen haben, diskutieren wir den!)


Das Ministererlaubnisverfahren ist seit seiner Ein-
führung im Jahr 1973 umstritten . Die Ministererlaubnis
ist im deutschen Kartellrecht ein Ausnahmeinstrument .
Es gibt sie beispielsweise im europäischen Kartellrecht
nicht . Der Bundeswirtschaftsminister kann sich durch
seine Ministererlaubnis über eine ablehnende Entschei-
dung des Bundeskartellamtes hinwegsetzen und eine Fu-
sion zweier Unternehmen aufgrund von Vorteilen für das
Allgemeinwohl erlauben .

Doch was sind diese Gründe für das Allgemeinwohl?
In den 22 Ministererlaubnisverfahren, die seit Einfüh-
rung des Instruments durchgeführt worden sind, haben
sich verschiedene Fallgruppen herausgebildet . So hat
der Bundeswirtschaftsminister im Fall von Daimler/
MBB eine Ministererlaubnis zur Verbesserung der Pri-
vatisierungsmöglichkeiten und aus Gründen des Subven-
tionsabbaus erteilt . Außerdem spielte in dem Verfahren
die Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit
eine Rolle . Auch das hat im Verfahren Eon und Ruhrgas
eine Rolle gespielt . Schließlich war im Verfahren Ede-
ka/Kaiser’s Tengelmann der ausschlaggebende Grund
die Arbeitsplatzsicherung . Neu daran war und ist, dass
das Argument der Arbeitsplatzsicherung bisher nicht bei
einer Entscheidung als einziger Ausnahmegrund angese-
hen worden ist .


(Klaus Barthel [SPD]: Das ist doch ein gutes Argument!)


Das Risiko liegt darin, dass dies eine politische Ent-
scheidung ist .


(Lachen bei der SPD und der LINKEN – Michael Schlecht [DIE LINKE]: Das ist doch immer eine politische Entscheidung!)


Das soll heißen: Die Frage, was als Allgemeinwohl an-
gesehen wird, haben verschiedene Wirtschaftsminister
in den letzten Jahren natürlich völlig verschieden beant-
wortet . Das ist das Problem daran . Die Entscheidung des
Wirtschaftsministers hat einen zu großen Abstand zu den
wettbewerbsrechtlichen Verbotsmerkmalen im Laufe der
Jahre bekommen .

Sie, liebe Grüne, schlagen jetzt in Ihrem Antrag zur
Begrenzung dieser Unabhängigkeit ein aufschiebendes
Veto des Deutschen Bundestages vor . Wenn der Bundes-
wirtschaftsminister von einem solchen Veto abweichen
will, dann soll dies nur mit Zustimmung der Bundesre-

gierung möglich sein . Ich halte den Vorschlag nicht für
zielführend; denn die Entscheidung über eine Minister-
erlaubnis bedarf umfangreicher wettbewerbsrechtlicher
Ermittlungen, ausführlicher Informationen, die eingeholt
werden müssen, und einer zeitaufwendigen Analyse die-
ses Sachverhalts .

Eine solche Möglichkeit der Ermittlungs- und Ana-
lysetätigkeit hat unser Parlament nicht . Bei Ihrer Argu-
mentation, dass das Parlament die Allgemeinwohlgründe
am besten bestimmen könne, verkennen Sie, dass es ei-
gentlich wirtschaftspolitische Gründe sind . Maßgeblich
für die Entscheidung über eine Ministererlaubnis ist nicht
nur die Beurteilung der Gemeinwohlargumente, sondern
vielmehr die Abwägung mit den Wettbewerbswirkungen
des Zusammenschlusses .


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was heißt das jetzt? Soll alles so bleiben, wie es ist?)


Dabei sind entsprechende Merkmale der Marktmacht
zu untersuchen; sie sind festzustellen, und sie sind hin-
terher wieder zu überprüfen . Daher glaube ich nicht, dass
ein Veto in einem solchen Verfahren die Entscheidung zu
einer besseren machen würde, auch nicht dadurch, dass
der Rest der Bundesregierung darin einbezogen wird .
Entscheidungsfindungen in dieser Form halte ich nicht
für sinnvoll .


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da bin ich jetzt auf Ihren Vorschlag gespannt!)


Sie würden im Zweifel nur die Entscheidung auf eine an-
dere Ebene heben .

Wir wollen nicht, dass das Parlament exekutives Han-
deln vornimmt . Das ist Aufgabe der Regierung, die hier
zu meiner rechten Seite sitzt, und unsere Verfassung sagt,
dass wir das gar nicht dürfen . Aufgabe der Monopolkom-
mission in einem Ministererlaubnisverfahren ist es, ein
Gutachten zu erstellen . Das Gutachten enthält neben
der Würdigung der vom Bundeskartellamt festgestellten
Wettbewerbsbeschränkungen und der Gemeinwohlgrün-
de eine Empfehlung, die an den Minister ausgesprochen
wird .

Bisher haben die Gutachten der Monopolkommis-
sion keine Bindungswirkung . Das verkennt jedoch den
Wert der Arbeit, den diese Kommission leistet . Es sind
hochkarätige Mitglieder, die volkswirtschaftliche, be-
triebswirtschaftliche, sozialpolitische, technologische
und wirtschaftsrechtliche Kenntnisse und Erfahrungen
mitbringen . Sie sind prädestiniert dafür, den Minister zu
beraten, und ihrer Arbeit sollte ein höherer Stellenwert
zukommen .

Ich halte es für sinnvoll, die Arbeit der Kommission
weiter zu stärken, indem der Bundeswirtschaftsminister
seine Ministererlaubnis nur im Einvernehmen mit der
Monopolkommission treffen sollte . So würde sicherge-
stellt, dass die Expertise der Mitglieder dieses Gremiums
auch Gewicht hat . Zudem ersparen wir dem Minister,
dass er im Kreuzfeuer der Kritik steht, wenn die Ent-
scheidung nicht so ausgeht, wie sich viele das vielleicht
vorgestellt haben .

Dr. Matthias Heider






(A) (C)



(B) (D)


Der Rücktritt des ehemaligen Vorsitzenden der Mo-
nopolkommission Professor Zimmer spricht Bände . Das
zeigt auch, dass in dem Gremium der Monopolkommis-
sion nicht nur Unmut, sondern auch Unverständnis über
diese Entscheidung herrscht . Das ist nachvollziehbar, zu-
mal es nicht das erste Mal gewesen ist, dass ein Bundes-
wirtschaftsminister so entschieden hat . In den neuen Ver-
fahren, in denen der jeweilige Wirtschaftsminister eine
Ministererlaubnis erteilt hat, ist er nur in drei Fällen den
Empfehlungen der Monopolkommission gefolgt .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir kön-
nen heute eines feststellen: Die Reform der Ministerer-
laubnis steht nach vielen Jahrzehnten an . Lassen Sie uns
die Diskussion darüber in den Beratungen über die anste-
hende neunte Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbs-
beschränkungen führen .

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der CDU/CSU – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Frage!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817330300

Er war schon fertig . – Danke schön . – Der nächste

Redner ist der Kollege Michael Schlecht, Fraktion Die
Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Michael Schlecht (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817330400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren!


(Abg . Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] spricht mit Abg . Dr . Matthias Heider [CDU/CSU])


– Wollen Sie mir zuhören? – Nein?


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch, doch!)


– Gut! Ich würde Ihnen ja auch gerne etwas sagen .

Als dieser Antrag von Ihnen kam, habe ich zum Teil
gedacht, dass da etwas ganz Sinnvolles kommt, wobei
ich mich auch schon wieder gefragt habe, ob der Antrag
nur vorgelegt wurde, um noch einmal eine vermeintliche
Abrechnung mit dem Wirtschaftsminister in der Frage
Edeka und Tengelmann vorzunehmen . Momentan habe
ich – nachdem ich mir Ihren Vortrag angehört habe – das
Gefühl, dass dies eher das Motiv ist . Also, ich hätte, so-
sehr ich jetzt für diese Ministererlaubnis bin, persönlich
in der Tat ein Interesse, das Verfahren der Ministererlaub-
nis zu verändern, und zwar allein schon deshalb, weil ich
sehe, was in der Vergangenheit passiert ist .

In der Vergangenheit hat man sich – wenn man sah,
was da lief – schon gefragt, ob nicht irgendwelche Lob-
byisten das Ministeramt okkupiert und ihren alten Freun-
den eine Fusionserlaubnis erteilt haben . Das letzte Mal
hat mich zum Beispiel im Jahr 2002 in Bezug auf Minis-
ter Werner Müller dieses Gefühl beschlichen . Vor diesem
Hintergrund finde ich schon, dass man die Weisheit eines
Ministers, aber auch die – ich sage das einmal so – ver-

meintliche Weisheit einer Monopolkommission am Ende
einer parlamentarischen Kontrolle unterziehen sollte .

Man könnte sich sehr wohl vorstellen – dabei gingen
meine Vorstellungen viel weiter als das, was Sie von den
Grünen in Ihrem Antrag aufgeschrieben haben –, dass
sich ein Minister, wenn er die Empfehlung der Mono-
polkommission nicht teilt und abweichend davon eine
Fusion zulassen will, noch die Zustimmung aus dem Par-
lament holen muss .

Aber ich sage es einmal so: Das geht jetzt noch in die
Ausschüsse . Wir können ja im Ausschuss darüber disku-
tieren, wie man sich so etwas vorstellen kann . Das müs-
sen wir jetzt hier – ich habe ja auch nur eine relativ kurze
Redezeit – nicht bis ins Kleinste durchdiskutieren . Ich
sage aber noch einmal: Man muss dann auch, finde ich,
die Weisheit einer Monopolkommission infrage stellen .
Herr Heider, Sie haben ja eben auch so getan, als wenn
die Monopolkommission die Weisheit mit Löffeln ge-
fressen hätte . Da hätte ich wirklich größte Zweifel . Da
das am Ende – Sie haben das selbst betont – eine politi-
sche Entscheidung ist, sollte man es, finde ich, dann auch
dem Parlament vorbehalten .

Vielleicht noch ein paar Sätze zu Edeka und Tengel-
mann . Mich wundert in der Tat, dass Sie vonseiten der
Grünen – Frau Dröge, ich schätze Sie sonst sehr – nach
wie vor so verbiestert dagegen anrennen .


(Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, nein!)


Anscheinend ist es Ihnen wirklich nicht zugänglich zu
machen, was für einen Wert es hat, wenn dort einer großen
Zahl von Beschäftigten – seien es 16 000 oder auch etwas
weniger, je nachdem wie es läuft – die Existenz gerettet
wird . Als jemand, der so etwas als Gewerkschaftssekre-
tär jahrzehntelang erlebt hat, weiß ich, was es bedeutet,
wenn Leute in den Betrieben zum Teil unter schwierigs-
ten Bedingungen ihre Arbeitsplätze verlieren . Von daher
empfinde ich es erstens als wichtig, dass solch ein Impuls
gesetzt wird bzw . dass dort Menschen geholfen wird . Ich
lobe Minister Gabriel in diesem Fall ausdrücklich . Das
ist mir ja auch ein bisschen befremdlich; aber ich tue es,
weil es, wie ich finde, der Sache angemessen ist.


(Beifall bei der SPD – Klaus Barthel [SPD]: Was sein muss, muss sein!)


Zweitens treibt mich auch die Frage um: Rennen Sie
so gegen diese Entscheidung an, weil hier zum ersten
Mal ein Minister den Gewerkschaften eine ganz starke
Stellung verschafft und ihnen, wie wir als Gewerkschaf-
ter sagen würden, Korsettstangen eingezogen hat?


(Beifall bei der SPD)


Das frage ich mich auch:


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So fragen wir uns alle!)


Stört Sie das? Das wäre auch die Frage – sie treibt mich
manchmal um –, die ich in Richtung CDU/CSU stellen
könnte . Denn diese Entscheidung beinhaltet wirklich ein
positives Element: dass dort nämlich die Interessenver-
tretung Gewerkschaft die Möglichkeit hat, diesen Pro-

Dr. Matthias Heider






(A) (C)



(B) (D)


zess ganz anders zu gestalten, als wenn diese Ministerer-
laubnis mit dieser Auflage nicht gekommen wäre.

Danke schön .


(Beifall bei der LINKEN und der SPD – Abg . Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1817330500

Danke schön . – Frau Kollegin Dröge, die Zeit war

abgelaufen . – Nächster Redner ist der Kollege Marcus
Held, SPD-Fraktion .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Marcus Held (SPD):
Rede ID: ID1817330600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Ich finde diese Debatte schon bemerkenswert,
wenn ich sie so verfolge, insbesondere weil doch eini-
ge Kolleginnen und Kollegen und ganze Fraktionen hier
im Parlament ihr wahres Gesicht zeigen . Wenn ich höre,
dass plötzlich der Erhalt von Arbeitsplätzen nicht mehr
im Mittelpunkt unserer politischen Bemühungen stehen
darf, dann bin ich – das sage ich an die Adresse der Grü-
nen und auch der CDU/CSU – doch einigermaßen über-
rascht .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Arbeitsplatzargument muss das zentrale Argument
sein, auch bei dieser Debatte um die Ministererlaubnis .
Das möchte ich Ihnen an dieser Stelle eingangs ganz aus-
drücklich sagen .


(Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darf ich fragen?)


– Der Präsident ist noch nicht am Platz .


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817330700

Ganz offenkundig möchte nicht nur die Kollegin

Dröge eine Zwischenfrage stellen, ganz offenkundig ist
auch der Redner begeistert über die Möglichkeit, auf die-
se Weise seine Redezeit zu verlängern .


Marcus Held (SPD):
Rede ID: ID1817330800

Richtig .


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817330900

Bitte schön, Frau Dröge .


Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1817331000

Es freut mich sehr, dass Sie so begeistert sind . Auch

ich bin ganz begeistert, dass ich diese Frage jetzt stellen
darf, nachdem ich bereits den zweiten Anlauf unternom-
men habe, eine Zwischenfrage zu stellen .

Es geht im Zusammenhang mit der Ministererlaubnis
um die Arbeitsplätze; diesen Punkt haben Sie ja gerade
angesprochen . Sie haben da suggeriert, uns Grünen sei
es egal, ob durch eine Ministererlaubnis Arbeitsplätze

erhalten blieben . Ich möchte Sie jetzt einfach einmal
fragen, weil ich, obwohl das immer unsere Argumen-
tation zum Thema Arbeitsplätze war, von Ihnen darauf
noch keine Antwort bekommen habe: Was ist denn mit
den Arbeitsplätzen bei den Zulieferern? Was ist mit den
Arbeitsplätzen bei den Herstellern? Was ist mit den Ar-
beitsplätzen bei den Konkurrenten, die durch die Fusion
von Edeka und Tengelmann unter Druck geraten? Was ist
mit den Arbeitsplätzen bei Edeka selbst? Auch das haben
wir ja im Wirtschaftsausschuss diskutiert .

Herr Gabriel hat mir mittlerweile schriftlich geantwor-
tet, dass es keine Beschäftigungssicherung für die Mitar-
beiter von Edeka gibt . Wir haben jetzt Medienberichte
dazu bekommen, dass Edeka plant, bei eigenen Unter-
nehmen Arbeitsplätze abzubauen . Gleichzeitig hat Herr
Gabriel die Beschäftigungssicherung bei Edeka nicht zur
Voraussetzung für die Ministererlaubnis gemacht .

Was wir immer kritisiert haben, war: Diese Fusion
führt zu einer Verstärkung von Marktmacht, führt zu
einem Kostendruck, und dieser Kostendruck wird sich
negativ auf die Arbeitsplätze auswirken . Deswegen ist
es eine Illusion und ein Trugschluss von Sigmar Gabriel
gewesen, durch diese Ministererlaubnis – –


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817331100

Frau Kollegin Dröge, Sie sollen keine zweite Rede

halten, sondern den aufgerufenen Redner mit einer knap-
pen Zwischenbemerkung zu einer zusätzlichen Aussage
veranlassen .


Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1817331200

Können Sie mir das erklären?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Marcus Held (SPD):
Rede ID: ID1817331300

Nach den vielen Debatten im Ausschuss glaube ich

nicht, dass man Ihnen das wirklich nahebringen kann,
weil Sie es ja nicht verstehen wollen .

Wir werden es natürlich nicht so erleben, dass, wie
Sie es über Wochen, über Monate hinweg bösartig zu
unterstellen versuchen, automatisch die Zahl der Be-
schäftigungsverhältnisse, die bei Kaiser’s Tengelmann
erhalten bleiben sollen – darauf werde ich gleich noch
einmal eingehen –, bei Edeka einfach wegfällt . Warten
Sie doch einmal die Verhandlungen zwischen Edeka und
den Tarifparteien ab. Die Auflage ist ganz klar, dass ein
Vertrag geschlossen werden muss . Dieser Vertrag kann
doch nicht bedingen, dass bei Edeka automatisch ein Teil
der Arbeitsplätze wegfällt . Warten Sie doch einmal das
Ergebnis ab . Wir werden sehen: Es werden nicht einfach
Edeka-Märkte geschlossen, nur weil Märkte von Kai-
ser’s Tengelmann zum Unternehmen dazukommen . In-
sofern bin ich optimistisch .


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was, wenn nicht?)


Sie nehmen hier ständig Unterstellungen vor . Sie ver-
breiten letztendlich Angst unter den Beschäftigten und

Michael Schlecht






(A) (C)



(B) (D)


auch Angst in der Bevölkerung . Lassen Sie es doch end-
lich! Sie kommen doch so nicht weiter .


(Beifall bei der SPD – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieder keine Erklärung!)


– Ja, gut . Die Erklärung wird es dann geben, wenn es zu
dem Erhalt der Arbeitsplätze kommt, Herr Kollege .

Ihr Antrag führt ja den Titel „Für mehr Transparenz
und demokratische Kontrolle bei der Ministererlaubnis“ .
Da geht es letztendlich abstrakt um das Thema Minister-
erlaubnis . Sie versuchen die ganze Zeit, Ihr Anliegen an
der jüngsten Ministererlaubnis und an der Person Sigmar
Gabriel aufzuhängen . Dazu muss ich sagen – das wurde
auch schon während der Reden deutlich –: Auch das Kar-
tellamt hat keine Begründung für seine Entscheidung zu
liefern . Insofern glaube ich, hat es schon seinen Grund,
dass wir nicht öffentlich in Parlamenten über Unterneh-
men, über mögliche Insolvenzen, über mögliche Proble-
me, die in Unternehmen bestehen, debattieren . Vielmehr
müssen Entscheidungen, auch Ausnahmeentscheidun-
gen – mehr ist ja die Ministererlaubnis letztendlich
nicht –, intern, etwa im Kartellamt, gefällt werden . Dem
darf eine demokratische Debatte hier im Parlament nicht
zuwiderlaufen .

Ich möchte aber auch ein Argument entkräften, mit
dem in der heutigen Debatte wieder ein völlig falscher
Eindruck erweckt wurde; dabei ging es um die Frage der
marktbeherrschenden Stellung . Es kommt durch die Fu-
sion von Kaiser’s Tengelmann mit Edeka eben nicht zu
einer marktbeherrschenden Stellung . Ganz im Gegenteil,
meine Damen und Herren: Edeka hat derzeit bundesweit
einen Martkanteil von 25,2 Prozent . Kaiser’s Tengel-
mann hat nur noch einen Marktanteil von 0,6 Prozent


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch regional spezifisch!)


und ist deshalb in Diagrammen noch nicht einmal mehr
mit einem Balken aufgeführt . Wer bei der Fusion in Sum-
me von einer marktbeherrschenden Stellung redet,


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch regional spezifisch!)


der hat wohl in der Grundschule in Mathe nicht aufge-
passt und dem kann man es letztendlich dann auch nicht
näherbringen . Insofern sollten Sie auch hier Ihre falschen
Unterstellungen wirklich unterlassen .

Ich komme aber gern noch auf weitere Punkte in Ih-
rem Antrag zu sprechen . Darin steht unter anderem:

Der Entscheidungsprozess des Bundesministers für
Wirtschaft und Energie zog sich über Monate und
erzeugte erhebliche Unsicherheit für Unternehmen
und Beschäftigte .


(Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In der Tat!)


Gleichzeitig sagen Sie auf Seite 2 in der Begründung Ih-
res Antrages, es sei „eine politische Abwägung, ob Ge-
meinwohlgründe im Einzelfall die wettbewerbsverzer-
renden Folgen einer Fusion aufwiegen“, und die müsse
ausführlich geprüft werden .

Ja, meine Damen und Herren, die Tatsache, dass Herr
Gabriel sich diese Zeit genommen hat, dass er mit allen
Interessengruppen ausführlich gesprochen hat – mit den
Gewerkschaften, mit den Arbeitnehmervertretungen, mit
Kaiser’s Tengelmann, mit Edeka, mit denen, die tatsäch-
lich dort das Sagen haben –, belegt doch gerade eindeu-
tig, dass er sich klar und intensiv mit der Frage befasst
hat und dass er es sich mit der Entscheidung nicht leicht
gemacht hat .


(Beifall bei der SPD – Klaus Barthel [SPD]: Und dass es vor allen Dingen nicht kürzer wird, wenn das Parlament auch noch besucht wird!)


Hinsichtlich einer Diskussion über die Abwägung, die
Sie auch auf der letzten Seite Ihrer Drucksache in der
Begründung fordern, liegen die Argumente doch auf der
Hand . Ich möchte sie hier auch noch einmal für die All-
gemeinheit wiederholen und betonen, worum es bei der
Fusion von Kaiser’s Tengelmann mit Edeka geht .

Der Minister hat das erste Mal in der Geschichte
der Bundesrepublik entsprechende Auflagen erteilt und
Bedingungen gestellt, nämlich dass 16 000 Beschäfti-
gungsverhältnisse erhalten bleiben müssen . Nur dann
darf fusioniert werden . Sie müssen aber nicht einfach nur
erhalten bleiben, sondern müssen durch rechtssichere
Tarifverträge und eine Kontrolle des Arbeitsplatzerhalts
durch Gewerkschaften, wie es eben Herr Schlecht schon
angesprochen hat, garantiert werden . Tarifvertragliche
Regelungen müssen also zwischen Edeka und Verdi ge-
troffen werden; diese müssen fünf Jahre gelten, und die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen eine zu-
sätzliche Zusage erhalten, dass nach diesen fünf Jahren
noch einmal zwei Jahre lang keine betriebsbedingten
Kündigungen ergehen dürfen . Das heißt sieben Jahre
Rechtssicherheit für die Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
ter von Kaiser’s Tengelmann . Ich glaube, dass es rich-
tig und wichtig war, dass erstmals in der Geschichte ein
Wirtschaftsminister diese sozialpolitischen Bedingungen
in eine Ministererlaubnis mit aufgenommen hat .


(Beifall bei der SPD)


Wenn das für Sie kein Gemeinwohlargument ist und für
Sie nicht höher wiegt als das Wettbewerbsrecht,


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist jetzt wieder eine Unterstellung!)


dann, muss ich sagen, kann ich Ihnen an dieser Stelle
auch nicht helfen .

Ich frage mich: Wo waren die Grünen als Antragstel-
ler, als es um die Frage ging, bei Kaiser’s Tengelmann
Arbeitsplätze zu sichern? Die Diskussion läuft ja nicht
erst ein halbes Jahr . Die gibt es ja schon einige Jahre .
Da hätte ich erwartet, dass Sie Vorschläge unterbreiten
und nicht hinterher kommen und nörgeln, so wie Sie es
auch 2006/2007 gemacht haben, als die letzten Minister-
erlaubnisse ergangen sind . Damals – daran möchte ich
auch Herrn Heider noch einmal erinnern – war es der
Wirtschaftsminister der CDU/CSU, nämlich Michael
Glos, der hier entsprechende Ministererlaubnisse erteilt

Marcus Held






(A) (C)



(B) (D)


hat . Auch das möchte ich an dieser Stelle der Vollständig-
keit halber noch einmal sagen .

Nein, meine Damen und Herren, wir als SPD sind
froh und zufrieden mit der Entscheidung unseres Mi-
nisters Sigmar Gabriel, dass hier 16 000 Menschen und
ihre Angehörigen bzw . Familien weiterhin in sozial ver-
antwortlichen, gut bezahlten und tariflich gebundenen
Arbeitsverhältnissen bleiben . Dass Sie den Erhalt von
Arbeitsplätzen falsch finden, das finden wir sehr traurig.

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817331400

Ich schließe die Aussprache .

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf der Drucksache 18/8078 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall . Dann ist
die Überweisung so beschlossen .

Wir kommen damit zum nächsten Tagesordnungs-
punkt, dem Tagesordnungspunkt 18:

– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes über eine finanzielle Hilfe

(Zweites Dopingopfer-Hilfegesetz)


Drucksachen 18/8040, 18/8261, 18/8461
Nr. 1.4

Beschlussempfehlung und Bericht des Sport-
ausschusses (5 . Ausschuss)


Drucksache 18/8515


(8 . Ausschuss)


Drucksache 18/8528

Zu diesem Gesetzentwurf liegt ein Änderungsantrag
der Fraktion Die Linke vor .

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Auch dazu
sehe ich keinen wirklichen Proteststurm . Also können
wir so verfahren .

Dann will ich mal einen Verfahrensvorschlag machen .
Bei gelegentlichen Überlegungen, die wir im Ältestenrat
angestellt haben, was man vielleicht zur Verlebendigung
der Debatten tun könnte, ist uns nämlich in den Sinn ge-
kommen, ob wir nicht gelegentlich, vor allen Dingen bei
den ohnehin kurzen Beiträgen vom Platz aus miteinan-
der reden sollten, statt hier feierliche Reden vom Pult aus
zu halten . Jeder kann das also so machen, wie es ihm
am wohlsten ist . Aber diejenigen, die meinen, ihre Rede
würde auch vom Platz aus nichts an Wirkung verlieren,
möchte ich hiermit ausdrücklich ermutigen, davon gege-
benenfalls Gebrauch zu machen .


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Das ist ja eine Revolution hier!)


Die Redezeit wird dadurch auch nicht kürzer .

Der Erste, dem ich das Wort erteile, ist der Kollege
Ingo Wellenreuther für die CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Er hat fünf Minuten Redezeit, was man im Augenblick
wegen eines Ausfalls der Technik nicht sehen kann . Er
weiß es, die anderen wissen es jetzt auch . – Bitte schön .


Ingo Wellenreuther (CDU):
Rede ID: ID1817331500

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Herr Präsident, es würde mich überfordern, mich
jetzt so schnell umzustellen und vom Platz aus zu reden .
Deswegen bleibe ich am Anfang hier vorne stehen .


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – Eberhard Gienger [CDU/CSU]: Schade!)


Meine Damen und Herren, es ist inzwischen Allge-
meingut: Der Sport hat herausragende Bedeutung in un-
serer Gesellschaft . Er begeistert, er weckt Emotionen,
er verbindet Menschen über Grenzen hinweg und leistet
einen Beitrag zur Integration . Sportlerinnen und Sportler
sind Vorbilder. Viele Kinder finden nur wegen bekannter
und berühmter Sportlerinnen und Sportler den Zugang
zum Sport . Weil das so ist, ist die Bedeutung eines ehr-
lichen Sports umso höher . Im vergangenen Jahr haben
wir deshalb das Anti-Doping-Gesetz verabschiedet, um
gegen die vorzugehen, die dopen . Dieses Gesetz ist ein
echter Meilenstein in der Sportpolitik und in der Doping-
bekämpfung . Wie nötig das ist, zeigen die aktuellen Bei-
spiele in der russischen Leichtathletik .

Doping schadet nicht nur dem Ansehen und der Inte-
grität des Sports, sondern vor allem auch der Gesundheit
der Athletinnen und Athleten . Damit komme ich zum
Kern dieser Debatte über den vorliegenden Gesetzent-
wurf . Auf der Grundlage des sogenannten Staatsplanthe-
mas 14 .25 wurden in der ehemaligen DDR Kinder und
Jugendliche sowie erwachsene Athletinnen und Athleten
im staatlichen Auftrag gezielt gedopt, um Leistungen im
Spitzensport zu steigern . Dabei war das DDR-Doping ein
perfides System: Kindern und Jugendlichen wurden vom
staatlich geleiteten Sportmedizinischen Dienst der DDR
unter Mitwirkung von Trainern, Betreuern und auch Ver-
einsärzten Dopingpräparate ohne deren Wissen verab-
reicht . Diese jungen Sportler wurden bewusst getäuscht
und zielgerichtet körperlich geschädigt .

Die circa 10 000 zwangsgedopten Athleten waren
weder über die Medikamente noch über die Folgen der
Einnahme dieser informiert . Was damals geschah, war
unverantwortlich und erfolgte ohne jegliche Rücksicht
auf die Gesundheit . Die überwiegend verabreichten an-
abolen Steroide haben zum Teil massive gesundheitliche
Schädigungen bei den Betroffenen verursacht: Krebs-
erkrankungen, Organschäden, chronische Schäden am
Bewegungsapparat, am Gelenkapparat, psychische Be-
lastungen oder auch massive Hormonstörungen . Dabei
handelte es sich schlicht um Zwangsdoping und – das
kann man wirklich nicht oft genug hervorheben – um
Doping im Auftrag des Staates, wobei das DDR-Regi-
me – das kam noch erschwerend hinzu – kollusiv und
kriminell mit dem DDR-Sport zusammenwirkte .

Marcus Held






(A) (C)



(B) (D)


Meine Damen und Herren, bereits das erste Dopin-
gopfer-Hilfegesetz aus dem Jahre 2002 war ein Zei-
chen dafür, dass die Bundesregierung die Schicksale der
DDR-Dopingopfer anerkennt, indem sie einen gewissen
Ausgleich geschafft hat . Das Gesetz verhalf damals aner-
kannten DDR-Dopingopfern wenigstens zu einer finanzi-
ellen Unterstützung mittels eines Hilfsfonds . Der DOSB
und auch das Nachfolgeunternehmen von VEB Jena-
pharm, dessen Erzeugnisse damals die DDR-Sportler
verabreicht bekamen, erklärten sich damals ebenfalls zu
Entschädigungszahlungen bereit .

Im Jahre 2007 war dann der Hilfsfonds des ers-
ten Doping opfer-Hilfegesetzes erschöpft . 194 DDR-
Doping opfer hatten eine finanzielle Unterstützung des
Bundes in Höhe von jeweils 10 500 Euro erhalten . Aller-
dings wurden damals nicht alle Dopingopfer erfasst . Das
lag erstens daran, dass ein Zusammenhang zwischen ge-
sundheitlichen Schäden und Doping vielfach erst später
erkennbar war, zweitens daran, dass einige von diesem
Fonds schlichtweg nichts gewusst haben, und drittens da-
ran, dass Dopingspätfolgen erst wesentlich später zutage
traten .

Inzwischen ist es anders . Es sind viele Opfer bekannt
geworden, die nach den damaligen Kriterien einen An-
spruch auf eine entsprechende finanzielle Hilfe ge-
habt hätten. Deshalb war die Neuauflage eines solchen
Hilfsfonds notwendig . Dem kommen wir heute mit dem
Zweiten Dopingopfer-Hilfegesetz nach .

Um den DDR-Dopingopfern schnell und unbürokra-
tisch zu helfen, hat das Innenministerium einen neuen
Fonds aufgelegt . Es stehen jetzt weitere 10,5 Millionen
Euro bereit . Anspruchsberechtigt sind die DDR-Doping-
opfer, die nach dem ersten Dopingopfer-Hilfegesetz kei-
ne finanziellen Hilfen erhalten hatten. Die Zahlungen lin-
dern das Leid der Betroffenen natürlich nicht, sie können
es auch nicht wiedergutmachen, aber wir als Gesetzgeber
werden einer moralischen Verpflichtung gerecht und set-
zen damit ein weiteres Zeichen .

Ich muss allerdings sagen: Ich halte es für sehr be-
dauerlich, dass sich bisher weder der DOSB noch das
genannte Nachfolgeunternehmen aus der Pharmabranche
an der Neuauflage des Fonds beteiligt haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg . Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Aber was nicht ist, kann ja nach dem Gesetz noch wer-
den; die Möglichkeit besteht .

Nach § 2 des Gesetzes haben jetzt Personen Anspruch
auf Entschädigung, die erhebliche Gesundheitsschäden
erlitten haben, weil ihnen als Hochleistungssportlern der
DDR oder ihrer Mutter während der Schwangerschaft,
übrigens ohne ihr Wissen oder gegen ihren Willen, Do-
pingsubstanzen verabreicht worden sind . Wir gehen da-
von aus, dass noch circa 1 000 weitere DDR-Dopingopfer
nach den damaligen Kriterien anspruchsberechtigt sind .
Wir stellen mit dem neuen Gesetz also Gleichbehandlung
mit bereits Entschädigten her .

Ich bin der Bundesregierung sehr dankbar dafür, dass
sie diesen Gesetzentwurf sehr beschleunigt und für eil-

bedürftig erklärt hat sowie eine Fristverkürzung erreicht
hat, damit das Gesetz noch vor der Sommerpause verab-
schiedet werden kann . Angesichts der schweren Schick-
sale vieler DDR-Dopingopfer und vor allem auch im
Hinblick auf ihren mitunter sehr schlechten Gesundheits-
zustand war nämlich Eile geboten .

Das kann jetzt auch schnell gehen .


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817331600

Es muss jetzt auch schnell gehen .


Ingo Wellenreuther (CDU):
Rede ID: ID1817331700

Es muss auch schnell gehen . Herr Präsident, Sie haben

vollkommen recht, ich beeile mich . – Die Anträge kön-
nen schon jetzt an das Bundesverwaltungsamt gerichtet
werden . Sie müssen bis spätestens Juni 2017 eingereicht
sein . Ziel ist es, bereits in der zweiten Jahreshälfte 2016
mit der Auszahlung an Anspruchsberechtigte zu begin-
nen .

Zum Schluss darf ich noch etwas aufgreifen, was ei-
ner unserer Kollegen bereits in der ersten Debatte formu-
liert hat und was ich sehr wichtig finde: Der vorliegende
Gesetzentwurf und unsere heutige Diskussion darüber
müssen ein Signal an Sportlerinnen und Sportler sein, die
sich auf dem Holzweg befinden und meinen, ihre sport-
lichen Leistungen mit Doping steigern zu müssen . Denn
Doping lohnt sich nicht und ist gefährlich . Auf der einen
Seite sind die Gesundheitsrisiken und die Langzeitfolgen
sehr gravierend, auf der anderen Seite wird die Integrität
des Sports dadurch nachhaltig beschädigt .

Die Botschaft des heutigen Tages muss lauten: Wir
unterstützen die Opfer des Zwangsdopings der DDR und
sagen Nein zu Doping .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817331800

André Hahn ist der nächste Redner für die Fraktion

Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. André Hahn (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817331900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor allem

Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition
und von den Grünen, haben noch die Chance, im Sin-
ne des Struck’schen Gesetzes dafür zu sorgen, dass der
Gesetzentwurf das Parlament nicht so verlässt, wie er hi-
neingekommen ist, zumal der Gesetzentwurf einen gra-
vierenden Mangel aufweist . Dazu liegt der Änderungsan-
trag der Linken vor .

Allerdings haben die bisherigen Debatten, vor allem
jene im Ausschuss, nur zu wenig Hoffnung Anlass gege-
ben, dass es noch ein Einlenken gibt . Sie wollen den of-

Ingo Wellenreuther






(A) (C)



(B) (D)


fenkundigen Mangel aus rein politischen Gründen nicht
beheben .


(Dagmar Freitag [SPD]: Das erklären Sie doch einmal!)


Einige wollen das deshalb nicht, weil Ihnen die ideo-
logisch geprägte Abrechnung und Diskreditierung des
DDR-Sports anscheinend wichtiger ist als die wirksame
Unterstützung von Leistungssportlern,


(Dagmar Freitag [SPD]: Das darf doch nicht wahr sein!)


die gegen ihren Willen oder ohne ihr Wissen gedopt wor-
den sind und dadurch bis heute andauernde erhebliche
gesundheitliche Beeinträchtigungen erlitten haben .


(Michaela Engelmeier [SPD]: Ja, Staatsdoping hat man das genannt!)


Wenn für Sie das Wohl der Dopingopfer im Mittel-
punkt stehen würde, würden Sie nicht nur eine Einmal-
zahlung von 10 500 Euro gewähren, sondern darüber
hinaus die unzweifelhaft erforderlichen passgenauen
Hilfsleistungen für die Betroffenen . Davon ist im vorlie-
genden Gesetzentwurf aber keine Rede .


(Dagmar Freitag [SPD]: In Ihrem Antrag auch nicht!)


Und wenn für Sie das Wohl der Dopingopfer im Mittel-
punkt stehen würde, würden Sie auch im Sinne des ver-
fassungsrechtlich gebotenen Gleichheitsgrundsatzes die
deutschen Dopingopfer in Ost und West endlich in glei-
cher Art und Weise unterstützen .


(Beifall bei der LINKEN)


Reflexartig – Frau Freitag hat es wieder gezeigt –
kommt immer wieder der Verweis, dass es sich beim
DDR-Sport um Staatsdoping auf der Grundlage des
Staatsplanes gehandelt hat, was im Westen nicht der Fall
gewesen sei .


(Matthias Schmidt [Berlin] [SPD]: Stimmt ja auch! – Michaela Engelmeier [SPD]: So war es ja auch! – Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)


Dazu möchte ich gerne zwei Dinge anmerken .

Erstens steht selbst in dem von der Bundesregierung
vorgelegten Gesetzentwurf nicht, dass Betroffene nur
dann antragsberechtigt sind, wenn sie Dopingopfer im
Rahmen eines Staatsplanes waren, sondern Anspruchs-
voraussetzung ist einzig und allein, dass die Sportler ge-
gen ihren Willen und ohne ihr Wissen gedopt wurden .
Das aber kann es sowohl in Ost wie West gegeben ha-
ben . Und wenn man sieht, wie die Aufklärungsarbeit der
unabhängigen Evaluierungskommission Sportmedizin
zur Dopingvergangenheit an der Universität Freiburg be-
hindert oder sogar boykottiert wird, ahnt man, was dort
vertuscht werden soll .

Zweitens bestreitet inzwischen nicht einmal mehr die
Bundesregierung, dass es auch in der alten und heutigen

Bundesrepublik Sportler geben kann, die gegen ihren
Willen und ohne ihr Wissen gedopt wurden .


(Michaela Engelmeier [SPD]: Aber kein systematisches Staatsdoping!)


Auch deshalb ist die bislang artikulierte Ablehnung unse-
res Änderungsantrags unverständlich .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Dagmar Freitag [SPD]: Ich erkläre es Ihnen!)


Entweder es gab keine derartigen Opfer im Westen – dann
werden eben auch keine Anträge gestellt –, oder aber es
gibt tatsächlich auch im Westen Betroffene – dann haben
die natürlich auch ein Recht auf Entschädigung .

Gestatten Sie mir den Verweis auf ein anderes un-
rühmliches Kapitel deutscher Geschichte . Der Conter-
ganskandal ist leider bis heute ein hochaktuelles Thema .
Hier taten Bundestag und Bundesregierung gemeinsam
mit der Justiz alles, um die Opfer und ihre Angehöri-
gen – leider sehr spät und dann noch unzureichend – zu
entschädigen . Inzwischen musste durch den Druck der
Conterganopfer und ihrer Angehörigen sowie vieler Un-
terstützer – die Linke eingeschlossen – das Contergan-
stiftungsgesetz mehrfach geändert werden; und trotzdem
gibt es im Interesse der Opfer noch immer viel zu tun .
Die historische Aufarbeitung stößt weiterhin auf Wider-
stand, und den größten Teil der Kosten müssen die Steu-
erzahler tragen – auffällige Parallelen .

Abschließend möchte ich noch eine Anmerkung zum
Verein Doping-Opfer-Hilfe machen, den wir um eine
Stellungnahme zu unserem Änderungsantrag gebeten
haben . Mit den Positionen dieses Vereins stimmen wir
wahrlich nicht immer überein, aber Ines Geipel und ihre
Mitstreiter leisten seit vielen Jahren unter schwierigen
Bedingungen eine Arbeit, vor der ich großen Respekt
habe . Ohne dieses hartnäckige Engagement hätte die
Bundesregierung ihren Gesetzentwurf wohl nicht vorge-
legt . Frau Geipel hat mir Folgendes geschrieben – Zitat –:

Es ist in unseren Augen keine Frage, dass ein Ath-
let, der als Minderjähriger von einem westdeutschen
Trainer oder auch von einem Trainer nach 1989 ge-
gen Wissen und Wollen gedopt wurde und heute mit
physischen und psychischen Schäden zu kämpfen
hat, entschädigt werden muss .

Und ihr Fazit ist:

Politik, zuallererst aber der Sport werden hier nach-
legen müssen .

Auch deshalb fordern wir, dass sich endlich auch der
DOSB an der Finanzierung beteiligt .


(Beifall bei der LINKEN)


Herr Präsident, ich komme zum Schluss: Die Linke
wird dem Dopingopfer-Hilfegesetz trotz der geäußerten
Bedenken zustimmen, weil wir eine Entschädigung der
Betroffenen aus der ehemaligen DDR natürlich unterstüt-
zen . Ich kann den Dopingopfern in Ost und West aber
zugleich versichern, dass dies kein Schlussgesetz ist . Das
Thema wird uns leider weiter beschäftigen müssen .

Dr. André Hahn






(A) (C)



(B) (D)


Herzlichen Dank .


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817332000

Das Wort erhält nun die Kollegin Dagmar Freitag für

die SPD-Fraktion .


(Beifall bei der SPD)



Dagmar Freitag (SPD):
Rede ID: ID1817332100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lie-

ber Herr Kollege Hahn, Sie mögen die Schlachten der
Vergangenheit immer wieder schlagen wollen: Ich werde
Ihnen auf diesem Weg nicht folgen, und ich erkläre Ihnen
auch gleich, warum Ihr Antrag heute ohnehin im Prinzip
gegenstandslos ist .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben es gehört,
der Bundestag beschäftigt sich heute zum zweiten Mal
mit einem der dunkelsten Kapitel in der deutschen Sport-
geschichte: mit Doping und seinen Folgen . Ich spreche
jetzt ausnahmsweise nicht von den vielen vergifteten Sie-
gen und Medaillen . Nein, ich spreche von den Folgen,
die von gewissenlosen Funktionären, Trainern, Ärzten
und Helfershelfern auf Druck staatlicher Stellen in der
DDR in Kauf genommen wurden . Die Athletinnen und
Athleten waren teilweise nichts anderes als Versuchska-
ninchen in einem skrupellosen System . Ich zitiere: Die
Vergabe der Präparate an die Athleten hat entweder in
Fremdpackungen bzw . ohne Packung zu erfolgen . Kei-
nesfalls dürfen die Athleten in den Besitz der Original-
packungen gelangen . – So lautete die Anweisung des
Sportmedizinischen Dienstes der DDR .

Es ist schlichtweg erschütternd, was die Sportlerin-
nen und Sportler teilweise schon im Kindesalter an so-
genannten unterstützenden Mitteln schlucken mussten .
Dies alles, ob Sie das mögen oder nicht, Herr Kollege, ist
von staatlicher Seite akribisch erfasst und notiert worden .


(Dr . André Hahn [DIE LINKE]: Das hat niemand bestritten!)


Das ist ein Unterschied zu dem, was Sie eben gesagt ha-
ben . Die Schäden der Opfer offenbaren die gesundheitli-
chen, aber auch die seelischen Qualen . An diesen Schä-
den werden sie im Übrigen bis an ihr Lebensende leiden .
Daher wollen wir die Betroffenen, die keine Hilfen aus
dem ersten Dopingopfer-Hilfegesetz bekommen haben,
mit diesem zweiten Gesetz unterstützen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Bundesregierung und das Parlament bzw . die
Koalitionsfraktionen stellen sich dieser Verantwortung .
Aber – da teile ich die Meinung meiner Vorredner – es
sollten wahrlich auch andere Akteure in die Pflicht ge-
nommen werden . Wenn ich kurz einen Blick zurück wer-
fen darf: Die Auflage des ersten Dopingopfer-Hilfsfonds
ist jetzt 14 Jahre her . Durch diese etwas längere Zeitspan-
ne ist offensichtlich auch die Chronologie der Vorgänge
im Gedächtnis vieler etwas verblasst . Daher muss ich die
Rolle des organisierten Sports an dieser Stelle noch ein-
mal ins Gedächtnis rufen: Die damalige Dachorganisa-

tion, der Deutsche Sportbund, hatte sich nämlich nicht,
wie gelegentlich fälschlicher Weise dargestellt wurde, im
Jahr 2002 an dem Fonds beteiligt, obwohl ausdrücklich,
wie auch jetzt, geregelt war, dass Zuwendungen von drit-
ter Seite zulässig sind, und insbesondere der autonome
Sport aufgerufen war, seinen Beitrag zu leisten .

Das Gegenteil war der Fall: Der autonome Sport – da-
mals der Deutsche Sportbund – hatte zunächst jegliche
Beteiligung abgelehnt . Erst durch einen Rechtsstreit mit
einer ehemaligen DDR-Schwimmerin, die Schadenser-
satz vom DOSB als Rechtsnachfolger des Nationalen
Olympischen Komitees forderte, kam dann Bewegung in
die Sache . Das Landgericht Frankfurt bestätigte nämlich,
dass der Deutsche Olympische Sportbund Rechtsnach-
folger des NOK sei und damit grundsätzlich in Anspruch
genommen werden könne . Daraufhin hatten die Betrof-
fenen Entschädigungsansprüche gegenüber dem DOSB
geltend gemacht, und es kam zu einer außergerichtlichen
Einigung . Das war allerdings im Jahr 2006, vier Jahre
nach Inkrafttreten unseres Gesetzes . Alle anerkannten
Dopingopfer des DDR-Sports erhielten somit eine wei-
tere Einmalzahlung von 9 250 Euro .

Es scheint aber völlig in Vergessenheit geraten zu sein,
dass auch dieser außergerichtliche Vergleich nur deshalb
zustande gekommen ist, weil das Bundesinnenministe-
rium eine finanzielle Unterstützung des DOSB in Höhe
von 1 Million Euro vorgenommen hatte . Der Löwenan-
teil kam auch hier, wie so oft, vom Bund . Ich denke, das
sollte an dieser Stelle wirklich noch einmal erwähnt wer-
den . Der DOSB hat sich dann mit 500 000 Euro beteiligt .
Die Opfer mussten flugs schriftlich erklären, auf jegliche
weiteren Ansprüche gegenüber dem DOSB zu verzich-
ten . Deckel zu, Fall erledigt – zumindest aus Sicht des
Sports .

Eine finanzielle Beteiligung – wen wundert es? – ist
auch beim Zweiten Dopingopfer-Hilfegesetz trotz ein-
deutiger Aufforderung, beispielsweise seitens des Sport-
ministers, nicht in Sicht . Stattdessen hat die Führungs-
spitze des DOSB anlässlich des kürzlich begangenen
zehnjährigen Jubiläums vor einigen Tagen tatsächlich
verlauten lassen – ich zitiere –:

Jetzt sind wir froh, dass Bundesregierung und Bun-
destag eine weitere Entschädigungswelle durchfüh-
ren wollen . Der DOSB hat diese Aktivitäten vom
ersten Tag bis heute stets aktiv unterstützt .

Ich war ein bisschen fassungslos, aber wahrscheinlich
nicht nur ich . Dieses Muster, liebe Kolleginnen und
Kollegen, kommt wohl nicht nur mir bekannt vor . Die
Haltung des Dachverbands im deutschen Sport bleibt,
wie sie schon im Jahr 2002 war: ein Armutszeugnis an-
gesichts dessen, was eben auch im Namen des Sports
jungen Menschen angetan worden ist . Deshalb wird es
Sie nicht überraschen, dass auch ich an dieser Stelle den
DOSB wirklich noch einmal auffordere, seine Haltung
zu überdenken und seinen Teil der Verantwortung anzu-
erkennen .

Nun zu Ihrem Antrag, Herr Kollege Hahn . Sie for-
dern eine Einbeziehung von West-Dopingopfern . Darü-
ber kann man reden, aber nicht heute . Wer das nämlich
heute fordert, lieber Herr Kollege, macht das im Wissen,

Dr. André Hahn






(A) (C)



(B) (D)


dass er damit dieses Zweite Gesetz über eine finanzielle
Hilfe für Dopingopfer der DDR komplett infrage stellt;
denn es gibt einen Beschluss des Haushaltsausschusses
vom April 2016, mit dem der Haushaltsausschuss dem
Gesetzentwurf der Bundesregierung unter dem ausdrück-
lichen Vorbehalt zugestimmt hat, dass der federführende
Sportausschuss – Sie waren dabei – keine Änderungen
am Gesetzentwurf mit erheblichen finanziellen Auswir-
kungen empfiehlt.


(Dr . André Hahn [DIE LINKE]: Das Plenum entscheidet, nicht der Haushaltsausschuss!)


Dieser Beschluss des Haushaltsausschusses, Herr Kolle-
ge, erfolgte einstimmig, also auch mit den Stimmen der
Fraktion Die Linke . Vielleicht reden Sie einmal mit Ihren
eigenen Leuten . Dann würden solche Dinge wie heute
nicht passieren . Ich denke, Herr Hahn, Sie wissen das
ganz genau .

Daher stellt sich aus meiner Sicht wirklich die Frage:
Wollen Sie etwa mit dem heutigen Antrag das ganze Ge-
setz zu Fall bringen? Schon allein deshalb, dass das nicht
passiert, werden wir Ihrem Antrag nicht zustimmen .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817332200

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-

legin Monika Lazar das Wort .


Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1817332300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Heute stimmen wir über einen Gesetzentwurf ab, der
auch mir persönlich sehr am Herzen liegt, nämlich das
Zweite Dopingopfer-Hilfegesetz . Für uns Grüne ist es
ein wichtiges Ergebnis, über das wir wirklich sehr froh
sind . Selbstverständlich hätten wir uns dieses Gesetz
schon sehr viel früher gewünscht, aber manchmal muss
man eben etwas länger Überzeugungsarbeit leisten und
die Koalition zu ihrem Glück zwingen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber besser spät als nie . Wir werden diesem Gesetzent-
wurf selbstverständlich zustimmen .

Die Politik hat also ihre Hausaufgaben gemacht . An-
ders sieht es leider beim organisierten Sport aus . Es ist
ja von allen anderen Rednerinnen und Rednern schon
angesprochen worden: Wir würden uns eine konkrete
finanzielle Beteiligung des DOSB durchaus wünschen.
Doch bis jetzt gibt es leider nur Sonntagsreden . Die Rede
von DOSB-Präsident Alfons Hörmann beim Festakt am
20 . Mai ist von Frau Freitag schon zitiert worden . Auch
ich zitiere daraus, weil der vorherige Satz ebenfalls inte-
ressant ist:

Wir . . .

– sprich: der DOSB –

haben schon vor zehn Jahren die Initiative ergriffen
und mit Hilfe des Bundes und unter Einbeziehung
des Herstellerunternehmens Jenapharm viele Do-

pingopfer entschädigen können . Jetzt sind wir froh,
dass Bundesregierung und Bundestag eine weite-
re Entschädigungswelle durchführen wollen . Der
DOSB hat diese Bemühungen auf politischer Ebene
stets aktiv unterstützt .

Mit Verlaub, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde
diese Aussage einfach nur dreist .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Nachdem sich die Politik zu einer Neuauflage ent-
schieden hat, steht der DOSB immer noch auf der Brem-
se . Der Verein Doping-Opfer-Hilfe bezeichnet die Aus-
sagen Hörmanns auch als „Offensivlügen“ . Ganz falsch
ist das leider nicht . Aber es ist für den DOSB noch nicht
zu spät . Vielleicht sollte man das zehnjährige Jubiläum,
auch wenn es ein paar Tage oder Wochen her ist, noch
nutzen, um die Dopingopfer nicht im Regen stehen zu
lassen .

Aber auch wir sollten uns nicht zurücklehnen . Denn,
so schön wie die Zahlungen sind, es sind Einmalzahlun-
gen . Viele Opfer können jetzt erst daran teilhaben, weil
sie bei der ersten Auflage 2003 nicht erfasst waren. Diese
Entschädigungen sind für einige auch eine moralische
Anerkennung des Unrechts, das ihnen in der DDR wi-
derfahren ist . Deshalb bleibt für uns Grüne klar: Blei-
bende Schäden benötigen auch bleibende Hilfen . Wir
bleiben daher dabei, dass wir uns eine Rentenzahlung für
Schwerstfälle im DDR-Doping wünschen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dazu müssten die DDR-Dopingopfer nur mit ins
SED-Unrechtsbereinigungsgesetz aufgenommen wer-
den . Vielleicht lässt sich die Koalition ja noch zu diesem
Schritt bewegen .

Zum Schluss möchte auch ich noch etwas zum Än-
derungsantrag der Linksfraktion sagen . Auf den ersten
Blick klingt es nachvollziehbar . Allerdings können wir
diesem Antrag nicht zustimmen . Natürlich gab es auch
in Westdeutschland Doping, und das gibt es in ganz
Deutschland heute noch . Dennoch ist es eine besondere
Sache, wenn ein Staat Doping von oben verordnet . Der
Staatsplan 14 .25 des ZK der SED vom Oktober 1974 ist
schon angesprochen worden . Für Westdeutschland wis-
sen wir bisher noch nichts von einer flächendeckenden
Dopinganordnung durch Politik oder Sport .

In den letzten Jahren wurde von Historikern der Be-
griff des systemischen Dopings in der Bundesrepublik
bis 1990 verwendet . Das bedeutet Doping im kleinen
Kreis und mit großen individuellen Varianten des Do-
pingmissbrauchs durch Sportler, Trainer und Mediziner .
Noch gibt es keinen Beweis für ein staatlich verordnetes
Doping . Aber glauben Sie uns: Wenn sich herausstellen
sollte, dass es auch in Westdeutschland eine Dopingan-
ordnung von oben gegeben haben könnte, wären wir
sicherlich die Letzten, die sich von einem weiteren Ent-
schädigungsfonds, dann für West-Dopingopfer bis 1990,
nicht überzeugen lassen würden . Das müsste dann neu
beraten werden .

Dagmar Freitag






(A) (C)



(B) (D)


Vielen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg . Lothar Binding [Heidelberg] [SPD])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817332400

Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist

die Kollegin Karin Strenz für die CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Karin Strenz (CDU):
Rede ID: ID1817332500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein

ganz persönlicher Blick zurück in meine eigene Vergan-
genheit: Aufgewachsen bin ich in der ehemaligen DDR .
Ich war neun oder vielleicht zehn Jahre alt, als sich in
meinem Zuhause die Sportlehrer an meiner Schule die
Klinke in die Hand gaben . Da saßen sie nun und redeten
auf meine Eltern ein . Ja, ich war – die Betonung liegt
natürlich auf „war“ – eine echte Sportskanone . Selbst
die Jungs zwei Klassenstufen höher konnten mich beim
Laufen nicht einholen; sie waren chancenlos . Dafür stieg
allerdings die Chance, als junger Kader für die KJS – das
Zauberwort für „Kinder- und Jugendsportschule“ – ak-
quiriert zu werden .

Mein Vater – stolz wie Bolle auf seine Lütte, gebauch-
pinselt durch Vater Staat – war begeistert . Meine Mut-
ter – immer darauf bedacht, ihr Kind zu behüten und zu
beschützen, es nicht zu früh aus der Familie zu geben und
zu entlassen – hat den familieninternen Machtkampf ge-
wonnen . Die kleine Karin – ohne Ahnung – ging weiter
an drei Nachmittagen die Woche in ihre Sport-AG und
lief weiter fröhlich und unbeschwert anderen davon .

Wovor ich in Wahrheit bewahrt blieb, ist mir seiner-
zeit natürlich komplett verborgen geblieben . Heute bin
ich unendlich dankbar, dass mir das Schicksal der Do-
pingopfer aus dem DDR-Staatsplan 14 .25 erspart blieb .
Unfassbar, dass dieses Regime noch nicht einmal vor
Kindern und Jugendlichen haltgemacht hat und lebens-
bedrohliche und lebensvernichtende Maßnahmen ergriff,
mit dem Wissen, dass sie die Menschen und die Seelen
zerstören, nur um bei Spielen in Gold zu glänzen .

Was passiert wäre, wenn bei mir die Entscheidung
ein anderes Ende gefunden hätte, ist uns durch die vie-
len, vielen überaus schweren Schicksale von Sportlern,
die in der Vergangenheit systematisch auf Befehl der
DDR-Führung gedopt wurden, nun glasklar geworden .
Wir haben eine schreckliche Bilanz zu verzeichnen, die
in unseren Augen erneut dringenden Handlungsbedarf
erfordert .

Wenn nicht gleich und unmittelbar, dann wurden die
vielen gesundheitlichen Folgen erst später – oder auch
erst sehr viel später – ersichtlich . Das Gravierende, gar
Menschenverachtende daran: Die gefährlichen Doping-
mittel, die zu enormer Leistungssteigerung führen soll-
ten, wurden den Athleten nichtwissentlich verabreicht .
Sie hatten schlicht und ergreifend keinen blassen Schim-
mer davon, welche qualvollen Konsequenzen ihre große
Freude am Sport für ihr Leben noch haben sollte . Das ist
zutiefst bitter . Umso wichtiger ist es, dass wir den zahl-

reichen Opfern jetzt zügig unter die Arme greifen . Dies
wollen wir mit der heutigen Verabschiedung des Zweiten
Dopingopfer-Hilfegesetzes auf den Weg bringen .

Wenn wir heute von Staatsdoping sprechen, dachten
wir, zumindest bis vor Kurzem, dieses Vorgehen sei ein
Relikt aus vergangenen Zeiten . Doch erst jüngst wurden
wir bedauerlicherweise eines Besseren belehrt .


(Dagmar Freitag [SPD]: Sehr richtig!)


Während wir uns mit der Aufarbeitung und Anerkennung
befassen, stehen andere erst vor der Realisierung eines
noch nicht abzusehenden Scherbenhaufens . Ein Beispiel:
Russland hat zwar erste Konsequenzen gezogen; doch
noch kennen wir die Tragweite des Ausmaßes nicht . Das
ist zweifellos ein schmerzhafter Paukenschlag für den in-
ternationalen Sport, der, sollten sich die Vorwürfe so be-
wahrheiten, noch lange und vor allem im wahrsten Sinne
des Wortes tief in den Knochen stecken wird .

Die Verantwortlichen richten einen unermesslichen
Schaden für diesen unseren internationalen Sport an,
den wir lieben und der uns schon über Generationen hin-
weg begeistert hat . Das ist nicht hinnehmbar, und das ist
schändlich, vor allem gegenüber den fairen und sauberen
Sportlern .

Wir sollten uns die Frage stellen, was die Teilnahme
an Olympischen Spielen für einen Sportler, der ehrlich
und fair mit seinen Mitstreitern um den Sieg ringen will,
überhaupt bedeutet . Ich denke, für viele ist es das Ereig-
nis schlechthin; das ist eine wahrhafte Lebensleistung .
Die emotionale Bedeutung sollte in keinem Fall unter-
schätzt werden . Denn bis ein Sportler die einzigartige
Chance erhält, an so einem Event teilzunehmen, muss er
einen steinigen Weg beschreiten und einen langen, an-
strengenden Kampf führen .

Nur die Besten der Besten werden sich hier miteinan-
der messen . Wer das geschafft hat, kämpft schließlich
um das ganz, ganz große Los: um einen Platz auf dem
Siegertreppchen, darum, in einer feierlichen Zeremonie
einmal im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen und für
seine außerordentlich besondere Leistung vor den Augen
von Millionen Fans daheim geehrt zu werden . Was muss
das für ein besonderes und verdientes Gefühl für denje-
nigen sein!

Leider reicht es nicht immer für Platz eins, den Platz
ganz oben . Wer knapp daneben liegt, muss es auch ver-
kraften . Aber umso gewaltiger muss doch die Enttäu-
schung für ebendiesen ehrlichen Athleten sein, wenn er
dann im Nachhinein erfährt, dass er diese Würdigung
doch verdient hätte, da der vermeintliche Sieger des Do-
pings überführt wurde . Schlimmstenfalls liegen dann ir-
gendwann die Medaille und ein nettes Schreiben mit den
Worten „Herzlichen Glückwunsch“ und „mit tiefem Be-
dauern“ lieblos im Briefkasten . Doch das unglaubliche
Feeling einer Siegesfeier bei Olympia, das, wofür man
so lange gekämpft hat und den Menschen in Erinnerung
bleibt, ist vergangen und unwiederbringlich . Für solche
Fälle müssen wir alle zusammen ein angemessenes Ze-
remoniell erfinden, es kreieren, um die Würdigung der
Leistung noch einmal in den Mittelpunkt zu stellen .

Monika Lazar






(A) (C)



(B) (D)


In neun Wochen ist es wieder so weit . Am 5 . August be-
ginnen die Olympischen Spiele in Rio, und ich hoffe, dass
bis dahin die Verantwortlichen der jüngsten Vorfälle ange-
messen sanktioniert werden . Viel zu oft fehlt genau hier
die Durchschlagskraft für eine angemessene Bestrafung .

Wer hingegen in Deutschland betrügt, indem er verbo-
tene Substanzen zur Leistungssteigerung zu sich nimmt,
muss durch die Verabschiedung des Anti-Doping-Ge-
setzes, das wir Ende vergangenen Jahres hier beschlos-
sen haben, mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen .
Deutschland nimmt seine Aufgabe ernst, Manipulation
und Betrügerei im Sport zu bekämpfen .


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817332600

Frau Kollegin .


Karin Strenz (CDU):
Rede ID: ID1817332700

Sofort . – In diesem Zusammenhang gehört auch eine

ehrliche und konsequente Aufarbeitung dazu . Wir wollen
unseren Beitrag für die Integrität des Sports, vor allem
für einen sauberen Sport leisten . Wir müssen im Übrigen
alle unsere Höchstleistungen erbringen, im Job wie im
Alltag, und Doping gehört nicht dazu .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg . Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817332800

Ich schließe die Aussprache .

Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Zweiten
Gesetzes über eine finanzielle Hilfe für Dopingopfer der
DDR. Der Sportausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/8515, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/8040 und
18/8261 anzunehmen . Hierzu liegt der vorhin ange-
sprochene Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/8622 vor, über den wir zuerst abstimmen .
Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Änderungs-
antrag abgelehnt .

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen . – Wer stimmt da-
gegen? – Enthält sich jemand? – Damit ist der Gesetzent-
wurf in zweiter Beratung angenommen .

Wir kommen zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung . Ich darf diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, bitten, sich von den
Plätzen zu erheben . – Möchte jemand gegen den Gesetz-
entwurf stimmen? – Möchte sich jemand der Stimme ent-
halten? – Dann ist der Gesetzentwurf hiermit einstimmig
angenommen .

Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 19:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Susanna
Karawanskij, Klaus Ernst, Jutta Krellmann, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Finanzaufsicht nach Anlagepleiten zum
Schutz von Verbraucherinteressen stärken

Drucksache 18/8609

Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz

Auch hier soll nach einer interfraktionellen Verein-
barung die Aussprache 25 Minuten dauern . – Auch hier
sehe ich dazu keine Einwände . Also verfahren wir so .

Ich erteile das Wort zunächst der Kollegin Susanna
Karawanskij für die Fraktion Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Susanna Karawanskij (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1817332900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren! Worum geht es zu so
später Stunde? Es geht um Augenhöhe . Wir Linke haben
einen Antrag vorgelegt, der mehr Augenhöhe zwischen
Ihnen als Kleinanleger und den großen Unternehmen der
Finanzbranche schaffen soll .

Uns ist es wichtig, dafür zu sorgen, dass Verbrauche-
rinnen und Verbraucher vor finanziellen Verlusten bei
ihrer Geldanlage insbesondere dann geschützt werden,
wenn Anbieter unseriös oder gar betrügerisch handeln .
Gerade im Bereich des Grauen Kapitalmarkts – das ist
immer noch ein weitestgehend unregulierter Markt – gibt
es einen unübersichtlichen Wust von Anlegermodellen,
die stetig erweitert werden . Für die Verbraucherinnen
und Verbraucher, die ihr Geld anlegen, nicht zuletzt, um
beispielsweise etwas für die Altersvorsorge zu tun, und
die dann auch manchmal in risikoreiche Anlageformen
getrieben werden, führen illusorische Gewinnverspre-
chen oder Schneeballsysteme jährlich zu hohen finanzi-
ellen Verlusten .

Nun wurde in dieser Wahlperiode – das müssen wir
auch anerkennen – bereits mit dem Kleinanlegerschutz-
gesetz versucht, Anleger in diesem ungleichen Spiel bes-
ser zu schützen. Prospektpflichten wurden verschärft.
Es gibt Werbebeschränkungen . Die Finanzaufsicht Ba-
Fin kann mittels einer sogenannten Produktintervention
sogar Finanzpraktiken und -instrumente verbieten . Das
sind alles Fortschritte, die sich allerdings auf die Phase
der Ausgabe von Wertpapieren beziehen, also auf den
Vertrieb und den laufenden Handel der Finanzinstrumen-
te .

Wir möchten mit unserem Antrag den kollektiven Ver-
braucherschutz stärken . Dazu bedarf es nur einer ganz
kleinen Erweiterung in den entsprechenden Gesetzen,
um die genannte Finanzaufsicht, die BaFin, in die Lage
zu versetzen, die Anleger zu schützen, nachdem eine An-
lagepleite passiert ist . Damit hier keine Missverständnis-
se aufkommen: Die BaFin soll eben nicht einzelne Ver-
braucherinteressen schützen, sondern die Verbraucher
in der Gesamtheit unterstützen . Das soll sie nach einer
Anlagepleite tun können und müssen . Damit wird sie ei-
nen zusätzlichen Auftrag zur kollektiven Sicherung der
Rechtsverfolgung bekommen .

Karin Strenz






(A) (C)



(B) (D)


Das klingt erst einmal sehr technisch, ist aber im Grun-
de sehr einfach . Die BaFin muss dafür sorgen, dass sich
die Anbieter nach einer Anlagepleite eben nicht aus dem
Staub machen, ihre Tat verdecken oder in eine Insolvenz
gehen können . Die Praxis zeigt, dass Anbieter oftmals
eine Pleite aussitzen, wohl wissend, dass ihnen im Falle
eines Scheiterns eines solchen Geldanlagemodells nichts
passiert, unter anderem auch deswegen, weil viele Ver-
braucherinnen und Verbraucher schlicht und ergreifend
nicht die finanziellen Mittel haben, um einen Fachanwalt
zurate zu ziehen . Manche Anbieter setzen auf Verjährung
oder darauf, das Ganze zu vertuschen . Danach haben die
Kleinanleger nicht die Möglichkeit, Ansprüche geltend
zu machen .

Kurzum: Pleitemacher haben so gut wie nichts zu be-
fürchten, während die Verbraucher auf den Kosten, ver-
ursacht durch die finanziellen Schäden, sitzen bleiben.
Das muss sich dringend ändern . Meine Damen und Her-
ren, wir können das ändern .


(Beifall bei der LINKEN)


Wie ich gerade dargestellt habe: Es geht nur um eine klei-
ne Ergänzung, für die ich ausdrücklich werben will . Die
BaFin kann es so ermöglichen, dass Verbraucherinnen
und Verbraucher überhaupt erst einmal die Gelegenheit
zur Rechtsdurchsetzung haben . Das sollte unser aller An-
liegen sein .

Die von uns vorgeschlagene Formulierung im Antrag
wäre ein großer Schritt für den finanziellen Verbraucher-
schutz . Wir haben in unseren Antrag ganz bewusst keine
weiteren Schritte aufgenommen, zum Beispiel die Mög-
lichkeit der Gruppenklage, die Einführung einer Prü-
fung für Geldanlagen aller Art, also so etwas wie einen
Finanz-TÜV . Es wird weiter Anlageskandale geben, die
meist Kleinanlegerinnen und Kleinanleger treffen . Diese
brauchen von uns mehr Rückendeckung .

Weil das eine kleine Gesetzesänderung ist, weil wir
schon viel für den Verbraucherschutz getan haben und
weil Sie beim letzten Finanzmarktnovellierungsgesetz
die Gelegenheit verpasst haben, diese kleine Änderung
vorzunehmen, die aber für die vielen Kleinanlegerinnen
und Kleinanleger, die mit den Maßnahmen aus unserem
Antrag weniger auf sich allein gestellt wären, sehr wich-
tig wäre, könnten Sie sich einen Ruck geben und einfach
zustimmen .

Vielen Dank .


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817333000

Der Kollege Frank Steffel erklärt jetzt für die CDU/

CSU-Fraktion, ob es diesen Ruck geben wird .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Frank Steffel (CDU):
Rede ID: ID1817333100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Der Kollege Frank Steffel würde sehr gerne
erklären, ob wir zustimmen oder nicht zustimmen . Wir
haben nur alle gar nicht genau verstanden, was Sie wol-
len . Es ist für uns etwas unklar geblieben, was Sie mit

salbungsvollen Worten konkret vorgeschlagen haben .
Dankenswerterweise haben Sie allerdings nicht nur eben,
sondern auch in Ihrem Antrag darauf hingewiesen, dass
die Regierungskoalition den Verbraucherschutz in den
letzten Jahren so massiv gestärkt hat wie noch keine Re-
gierung und keine Koalition vorher .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . Lothar Binding [Heidelberg] [SPD])


Insofern können wir heute erst einmal zur Beruhigung all
jener, die Sie eben versucht haben, zu verunsichern,


(Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Sie haben den Antrag nicht gelesen! Dabei ist er so kurz!)


darauf hinweisen, dass der Verbraucherschutz, gerade
bei den Finanzprodukten, noch nie eine größere Rolle als
heute gespielt hat und dass wir heute das höchste Schutz-
niveau in der Geschichte der Bundesrepublik Deutsch-
land haben .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Im vergangenen Jahr – ich will uns allen das verge-
genwärtigen – haben wir die Aufgaben der Bundesanstalt
für Finanzdienstleistungsaufsicht, der Aufsichtsbehör-
de über Banken, Finanzdienstleister, den Aktienhandel
und Versicherungen, deutlich – man kann sogar sagen:
drastisch – erweitert . Zusätzlich ist sie nun dem Schutz
kollektiver Verbraucherinteressen verpflichtet. Das ha-
ben Sie eben etwas anders dargestellt . Deswegen will ich
es noch einmal ausdrücklich betonen . Es ist gesetzlich
verankert, dass die BaFin auch dem Schutz kollektiver
Verbraucherinteressen verpflichtet ist, und diese Rol-
le füllt sie nach allem, was wir sehen und hören, auch
außergewöhnlich kraftvoll aus . Nahezu wöchentlich un-
tersagt aufgrund dieser neuen Gesetzesmöglichkeit die
BaFin Angebote von Produkten, ordnet die Abwicklung
unerlaubter Geschäfte an und warnt vor riskanten Anla-
geprodukten . Das ist auch in diesem Bereich der beste
Verbraucherschutz, den wir jemals hatten .

Zur Unterstützung hat die Koalition übrigens bei den
Verbraucherzentralen den Finanzmarktwächter neu ge-
schaffen . Ich will auch das noch einmal ausdrücklich
unterstreichen . Dort sitzen Experten, die unmittelbar auf
Hinweise eingehen und unmittelbar für Verbraucher mit
dem Ohr am Bürger sind und die Produkte thematisieren
und kritisieren, vor denen wir zu Recht gemeinsam war-
nen wollen .

Sie erfahren aus erster Hand, wo Missstände sind .
Wird ein Risiko identifiziert, kann die BaFin den Verkauf
problematischer Produkte an Kleinanleger untersagen
und in letzter Konsequenz – was ein sehr weit gehender
Schritt ist, den es in fast keinem anderen Marktsegment
gibt – die Produkte sogar komplett verbieten . Man über-
trage das einmal auf andere Teile unserer Wirtschaft . Da
würde es zu Recht einen erheblichen Aufschrei von Kon-
sumenten und Verbrauchern geben .

Obwohl das Kleinanlegerschutzgesetz noch keine
zwölf Monate in Kraft ist, haben wir es bereits sinnvoll
geändert . Ich will auch darauf hinweisen; denn es ist völ-
lig klar: Unternehmen sind jetzt zusätzlich gezwungen,

Susanna Karawanskij






(A) (C)



(B) (D)


sämtliche von der BaFin angeforderten Unterlagen un-
verzüglich herauszugeben . Die BaFin kann Vermögens-
werte einfrieren oder Anbietern die Zulassung komplett
entziehen . Diese Befugnisse sind außergewöhnlich um-
fassend . Sie wirken abschreckend, und sie ermöglichen
der Behörde ein sehr gezieltes Durchgreifen im Interesse
der Verbraucher .

Uns allen ist bewusst – das müssen wir nicht immer
wieder betonen, aber wir tun es gern –: Wir sind keines-
wegs am Ziel . Wir werden auch nie am Ziel sein . Denn es
ist wie in allen Bereichen des Lebens: Die Märkte entwi-
ckeln sich weiter . Den Menschen, ob gut meinenden oder
böse meinenden, kriminellen oder weniger kriminellen,
fällt immer wieder etwas Neues ein . Unseriöse Anbieter
suchen sich neue Wege, um an das Geld von Verbrau-
chern und Anlegern zu kommen . Daher haben wir ver-
einbart, das Gesetz Ende 2016 auf seine Wirksamkeit zu
überprüfen und damit bereits ein Jahr nach Inkrafttreten
noch einmal nach Bedarf zu ergänzen .

Viele Schutzmöglichkeiten für Verbraucher vor Risi-
ken im Finanzmarkt ignorieren Sie in Ihrem Antrag völ-
lig . Ich will nur auf den Ombudsmann hinweisen, den es
schon sehr lange gibt . Das ist eine große Errungenschaft,
die übrigens außergewöhnlich intensiv genutzt wird . Die
Verfahren sind kostenfrei . Sogar die Versicherer bezah-
len die Verfahren im Zweifelsfall . Auch die Behauptung,
es gebe keinen Rechtsschutz, ist falsch . Natürlich sind
auch diese Verfahren vom Rechtsschutz gedeckt . Wir
haben die Haftpflichtversicherung für Finanzvermittler
mehrfach ausgeweitet und haben damit auch vielen Ver-
brauchern berechtigte Sorgen genommen .

So schutzlos, unwissend und unbeholfen, wie Sie die
Bürger darstellen, sind diese in der Regel Gott sei Dank
nicht . Das zeigen Hunderte, ja Hunderttausende von Ver-
fahren, die beispielsweise nach der Pleite von Lehman
Brothers auch zur Entschädigung von Anlegern geführt
haben . Das zeigen auch Kapitalanlegermusterverfah-
ren . Denken Sie an die Verfahren gegen die Telekom
und gegen die Daimler AG . Das zeigen hunderttausend
Verfahren bei Bankenombudsmännern im Jahr 2014 . Ich
wiederhole: 100 000 Bürgerinnen und Bürger haben von
diesem Recht Gebrauch gemacht . Sie sind weniger unin-
formiert und unbeholfen, als Sie es darstellen .

Der informierte Verbraucher hat also unzählige Mög-
lichkeiten, auch nach einem Schaden auf dem Finanz-
markt zu seinem Recht zu kommen . Wer allerdings
überhaupt kein Interesse an Informationen über Finanz-
produkte hat, dem kann ich nur raten: Lassen Sie die
Finger von diesen Produkten . Denn wenn man Produkte
nicht versteht, dann sollte man sie nicht kaufen und sein
Geld besser anders einsetzen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Gesunder Menschenverstand ist nicht zu ersetzen!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817333200

Der jetzt eigentlich vorgesehene Kollege Gerhard

Schick gibt seine Rede zu Protokoll . Das macht die De-
batte nicht unbedingt lebhafter, verkürzt aber die Debat-

tenzeit, sodass als Nächstes gleich die Kollegin Sarah
Ryglewski für die SPD-Fraktion das Wort erhält .


Sarah Ryglewski (SPD):
Rede ID: ID1817333300

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lie-

be Frau Karawanskij, Sie wissen ja, dass mir das Thema
Verbraucherschutz und insbesondere auch die Belan-
ge der Kleinanlegerinnen und Kleinanleger besonders
wichtig sind . Ich betone das an dieser Stelle auch noch
einmal ganz explizit . Ich glaube, das Vertrauen, das in
der Finanzmarktkrise verloren gegangen ist, stellen wir
in erster Linie nicht dadurch wieder her, dass wir über
Trennbanken, über Hochfrequenzhandel und über andere
Dinge diskutieren, sondern das stellen wir im Wesentli-
chen dadurch wieder her, dass wir den Leuten das Gefühl
geben, dass ihre Geldanlagen bei uns in sicheren Händen
sind, dass wir uns darum kümmern, dass sie da gut ab-
gesichert sind und dass sie ihr sauer Erspartes nicht an
irgendeinen windigen Anlageberater verlieren .


(Beifall bei der SPD)


In dieser Hinsicht, Frau Karawanskij, sind wir uns
einig . Aber wir sind uns leider nicht in der Bewertung
einig, ob die hier zur Verfügung stehenden Instrumente
eigentlich ausreichen . Ich glaube, dass wir schon jetzt die
Möglichkeit haben, mit dem, was wir jetzt beschlossen
haben, zu einem wirksamen Verbraucherschutz zu kom-
men . Die verschiedenen Maßnahmen, die wir beschlos-
sen haben – das wurde auch schon ausführlich darge-
stellt –, sind wichtige Schritte: angefangen bei der BaFin
als kollektive Verbraucherschutzinstitution bis hin zu
Warnhinweisen zu Produkten des Grauen Kapitalmarkts
etc . Ich glaube, das muss ich hier nicht weiter benennen .

Besonders wichtig ist auch – darauf haben Sie selber
hingewiesen –, dass wir eben auch die Möglichkeit ha-
ben, diese marktschreierischen Werbestrategien endlich
zu verbieten .


(Zurufe der Abg . Susanna Karawanskij [DIE LINKE])


– Ja, dazu komme ich gleich auch noch einmal . – Wenn
wir jetzt einmal an Prokon denken: Ich erinnere mich
noch gut an diese Aufhänger „20 Prozent risikolos“, die
in der Straßenbahn hingen . Alles das – da dürfen wir uns
doch nichts vormachen – hat auch dazu beigetragen, dass
Menschen überhaupt in diese Situation gekommen sind .

Wir tun ja nicht nur etwas im Bereich der Informa-
tion . Das, was Sie sagen, ist ja im Grunde genommen
nicht verkehrt, nämlich dass wir einen Schritt weiter-
gehen . Aber da tun wir doch einiges . Es ist ja nicht so,
als würden wir nur sagen: Wir informieren, sodass sich
der Verbraucher erkundigen kann . Wenn er dann auf ein
Produkt hereinfällt, ist er selber schuld . – Wir haben ja
auch in anderen Bereichen etwas gemacht . Die BaFin hat
die Möglichkeit, Produkte, die sich als schädlich erwei-
sen, vom Markt zu nehmen . Das ist – das hat auch Herr
Steffel gesagt – eine ganz große Errungenschaft und et-
was, was in anderen Bereichen undenkbar wäre .

Wir haben mit dem Finanzmarktwächter eine Mög-
lichkeit geschaffen, dass man sich den Finanzmarkt aus
der Perspektive der Verbraucherinnen und Verbraucher

Dr. Frank Steffel






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(B) (D)


anguckt, frühzeitig Auffälligkeiten benennt und dann
auch tätig werden kann .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich glaube, dass damit schon ein Großteil der Punkte, die
in Ihrem Antrag aufgegriffen werden, geregelt ist .

Ich gehe nun einmal auf die Artikel ein, die Sie in Ih-
rem Antrag als Referenz genannt haben, damit Sie auch
sehen, dass wir uns das doch sehr genau angeguckt haben .
Sie haben darin einen Artikel der Verbraucherschutzzen-
trale Hamburg mit dem Titel „Geschlossene Fonds . Gute
Chancen vor Gericht“ zitiert . Verbraucherinnen und Ver-
braucher haben die Möglichkeit, bei Anlagepleiten vor
Gericht ihre Rechte geltend zu machen . Das Problem ist
nur, dass viele Leute einfach einen großen Respekt vor
dem haben, was vor Gericht passiert . Natürlich gibt es
auch ein gewisses Risiko, aber am Ende bekommen die
Leute meistens recht; die müssen das Ganze noch nicht
einmal letztinstanzlich durchklagen, sondern am Ende
knicken die meisten Banken sogar ein, gehen in den Ver-
gleich, weil sie wissen, dass es ausgeurteilt wird .

Wir haben mit dem Finanzmarktwächter und im Üb-
rigen auch mit den Verbraucherzentralen ganz wertvolle
Instrumente in der Hand, die den Menschen nicht nur
umfassend Informationen über ihre Rechte zukommen
lassen, sondern die ihnen auch konkrete Hilfestellungen
anbieten, wie sie rechtlich vorgehen können . Es gibt eine
Haftung bei Falschberatung . Das haben wir gerade im
Rahmen des Finanzmarktregulierungsgesetzes aufgegrif-
fen und diskutiert . Ich glaube, da sind wir auf einem ganz
guten Weg .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Was die Frage angeht, was passieren soll, wenn am
Ende des Tages ein Anbieter in Insolvenz geht, und was
dann, wenn das Geld weg ist, passieren soll, da habe ich
mich hier schon, als wir über das Finanzmarktregulie-
rungsgesetz diskutiert haben, gefragt, wie Sie das denn
machen wollen . Darauf wäre ich sehr gespannt gewesen .
Sie sagen, dass Sie das in Ihrem Antrag klar und präzise
dargelegt haben . Vielleicht haben wir alle hier das nicht
verstanden, aber, ehrlich gesagt, die konkreten Maßnah-
men, die wirksam werden sollen, wenn auf einmal das
Geld weg ist, haben Sie nicht dargelegt . Es hätte mich
wirklich gefreut, wenn das geschehen wäre . Da haben
wir in der Tat eine Regelungslücke, aber noch keine Lö-
sung . Diese hätte ich gern von Ihnen gehört .


(Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Dann müssen Sie den Antrag noch einmal lesen!)


– Na ja, gut . Das muss ich mir, glaube ich, nicht vorwer-
fen lassen .

Ich komme zum Schluss . Ich glaube, wir haben hier in
den letzten Jahren eine ganze Reihe von Maßnahmen be-
schlossen, die uns wirklich auf einen guten Weg gebracht
haben . Herr Steffel hat es gesagt: Verbraucherschutz ist
etwas, bei dem es ständig Veränderungen gibt . Der Fi-
nanzmarkt ist ein Markt, auf dem ständig neue Produkte
angeboten werden . Das ist ein Hase-und-Igel-Spiel . Da
müssen wir immer wieder genau schauen, wie wir da

nachsteuern können . Da – das kann ich Ihnen verspre-
chen – haben Sie mich an Ihrer Seite . Die Offenheit,
die signalisiert wurde, wenn es darum geht, die entspre-
chenden Gesetze zu evaluieren und zu schauen, wo wir
nachsteuern müssen, werden wir uns zu eigen machen .
Ich hoffe, dass dann größere Einigkeit als heute Abend
herrscht .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817333400

Der voraussichtlich letzte Redner heute Abend ist der

Kollege Alexander Radwan für die CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Alexander Radwan (CSU):
Rede ID: ID1817333500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-

ren! Herr Kollege Steffel und Frau Kollegin Ryglewski
haben die Diskussion bereits angesprochen . Ich gehe
davon aus, dass die Linke in absehbarer Zeit einen ent-
sprechenden Antrag erneut einbringen wird . Vielleicht
nehmen Sie dann unsere Anregungen auf .


(Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Immer, Herr Radwan!)


– Wenn Sie sie immer aufnehmen, dann freue ich mich
umso mehr . Dann werde ich demnächst darauf zurück-
kommen . Aber nicht Versprechen geben, die man nicht
halten kann!


(Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Die Frage ist nur, ob wir es so verarbeiten, wie Sie das gerne hätten!)


Sie haben vorhin in Ihrer Argumentation dargelegt,
was passiert, wenn der Anleger wegen einer Insolvenz
sein Geld verliert . Wir sprechen von Verbraucherschutz
und müssen uns die Frage stellen, wie wir dann dafür
sorgen können, dass er die Ansprüche, die aus dem ihm
entstandenen Schaden resultieren, durchsetzen kann; das
sind zwei unterschiedliche Paar Schuhe .

Es wurde schon ausführlich dargelegt, dass der Ver-
braucherschutz eine ganz andere Priorität bekommen
hat . Ursprünglich war die Finanzaufsicht für die Markt-
stabilität, die Risiken und die makroprudenzielle Auf-
sicht zuständig . Diese wurde in Deutschland sukzessive
ergänzt und immer weiter ausgebaut durch den kollek-
tiven Verbraucherschutz . Nun werden Produkte und Ge-
schäftspraktiken genau überprüft . Das geht bis hin zu
Produktverboten . Die BaFin hat also zukünftig die Auf-
gabe, auf diesem breiten Feld tätig zu werden, und zwar
nicht nur, wenn allgemeine Hinweise vorliegen, sondern
auch, wenn es Einzelhinweise gibt . Wenn sich jemand
gegenüber der BaFin entsprechend äußert und wenn die
BaFin bestimmte Einzelfälle mitbekommt, kann sie tätig
werden und dafür sorgen, dass der Verbraucherschutz zur
Geltung kommt . Wir sollten nicht ausblenden, dass hier
eine Weiterentwicklung stattgefunden hat .

Nun stellt sich für mich die Frage, welche Schritte wir
demnächst gehen . Ich ziehe eine Parallele zu anderen Ver-

Sarah Ryglewski






(A) (C)



(B) (D)


braucherschutzbereichen, um darzulegen, was geschieht,
wenn ein entsprechender Schadensfall eingetreten ist . Im
Bereich der Hygiene haben die Landratsämter die Zustän-
digkeit, Maßnahmen zu ergreifen und Betriebe zu kon-
trollieren . Ähnliches gilt im Umweltschutz . Nach Ihrem
vorgeschlagenen System soll das Landratsamt, das für die
Einhaltung der Hygienevorschriften zuständig ist, auch
noch dafür sorgen, dass der Betreffende den Schaden,
der ihm entstanden ist, geltend machen kann . Das ist aber
nicht die Aufgabe hoheitlichen Handelns . Um den Scha-
den zu beziffern und entsprechende Ansprüche durchzu-
setzen, haben wir Gerichte . Frau Karawanskij, darüber bin
ich auch froh; denn die Gerichte sind dazu da, hoheitliches
und zivilrechtliches Handeln neutral und unabhängig zu
überprüfen . Sollte zum Beispiel die BaFin Hinweisen nicht
nachgekommen sein und falsch gehandelt haben, wird das
Handeln der BaFin gerichtlich überprüft werden . Für mich
ist wichtig, dass diese Möglichkeit weiterhin besteht .

Wir erleben das gerade bei den Bausparkassen . Die Bau-
sparkassen haben zivilrechtlich relevante Kündigungen
vorgenommen . Hierzu häufen sich momentan die Gerichts-
verfahren . Wir erleben landauf, landab die unterschiedlich-
sten Gerichtsentscheidungen in diesem Bereich . Das wird
letztinstanzlich entschieden . Aber die Menschen kommen
zu ihrem Recht, wenn es einen Schaden gibt . Deshalb bit-
te ich Sie: Erwecken Sie hier nicht den Eindruck, dass die
Verbraucher letztendlich rechtlos sind . Sie haben die Mög-
lichkeit, das entsprechend einzuklagen und durchzusetzen .
Deshalb wird meine Fraktion Ihren Antrag ablehnen .

Besten Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Das ist schade!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1817333600

Nun ist auch das geklärt . – Ich schließe die Ausspra-

che .1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/8609 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federfüh-
rung beim Finanzausschuss liegen soll . Gibt es dagegen
Einwände? – Das ist nicht der Fall . Dann können wir das
offenkundig so beschließen .

Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 20:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung bewachungsrechtlicher Vorschriften

Drucksache 18/8558
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz

Die dazu vorbereiteten Reden sollen zu Protokoll ge-
geben werden . – Ich sehe niemanden, der etwas dagegen
hat .2)

1) Anlage 5
2) Anlage 6

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/8558 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es
andere Vorschläge? – Das ist auch nicht der Fall . Dann
ist die Überweisung so beschlossen .

Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur besse-
ren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Be-
ruf für Beamtinnen und Beamte des Bundes
und Soldatinnen und Soldaten sowie zur Än-
derung weiterer dienstrechtlicher Vorschrif-
ten

Drucksache 18/8517
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben
werden . – Auch hier sehe ich keinen Widerspruch .3)

Dann gibt es hoffentlich auch keinen Einwand gegen
die Überweisung des Gesetzentwurfes auf der Drucksa-
che 18/8517 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse . – Das ist so . Damit ist die Überweisung so
beschlossen .

Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes
zur Änderung des Vierten Buches Sozialge-

(6. SGB IV-Änderungsgesetz – 6. SGB IV-ÄndG)


Drucksache 18/8487
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO

Die Reden werden zu Protokoll gegeben . Einwän-
de? – Keine .4)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 18/8487 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen . Andere Vorschlä-
ge? – Keine . Dann ist das so beschlossen .

Tagesordnungspunkt 23:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur
Änderung des GAK-Gesetzes

Drucksache 18/8578
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-
heit

3) Anlage 7
4) Anlage 8

Alexander Radwan






(A) (C)



(B) (D)


Weiß jemand, worum es sich dabei handelt?


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Gemeinschaftsaufgabe Küstenschutz!)


– Sehr gut . Dann haben wir das mindestens im Protokoll;
denn Reden werden dazu auch nicht gehalten, sondern
zu Protokoll gegeben .1)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 18/8578 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen . Einwände? – Kei-
ne . Dann ist das so vereinbart .

Tagesordnungspunkt 24:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Direktzahlungen-Durchfüh-
rungsgesetzes
Drucksache 18/8514
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-
heit

Dazu hätte ich mir natürlich jetzt wirklich eine spritzi-
ge Debatte vorstellen können .


(Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Spontane Rede!)


Wir lesen die Reden, die zu Protokoll gegeben wer-
den, nach und gewinnen dann sicher eine Vorstellung
über die Debatte, die wir verpasst haben .2)

Jedenfalls wird auch hier interfraktionell die Über-
weisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/8514 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen . Alternativen? – Keine . Dann ist das so verein-
bart .

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be-
kämpfung der Verbreitung neuer psychoakti-
ver Stoffe
Drucksache 18/8579

1) Anlage 9
2) Anlage 10

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Tempel, Kathrin Vogler, Matthias W . Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Für eine zeitgemäße Antwort auf neue psy-
choaktive Substanzen

Drucksache 18/8459

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz


(Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Praxistest! – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Spannendes Thema!)


– Alle Zwischenrufe werden anstelle der Reden zu Pro-
tokoll genommen .


(Heiterkeit)


Na, die Reden auch . Gut .3)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/8579 und 18/8459 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .
Sind Sie damit einverstanden? – Was bleibt Ihnen anders
übrig . Auch das haben wir damit so beschlossen .

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung .

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 3 . Juni 2016, pünktlich
um 9 Uhr, ein .

Die Sitzung ist geschlossen . Machen Sie etwas aus
dem Rest des Abends . Alles Gute .