3) Anlage 11
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) (C)
(B) (D)
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17149
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
02 .06 .2016
Beck (Bremen),
Marieluise
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
02 .06 .2016
Fabritius, Dr . Bernd CDU/CSU 02 .06 .2016
Hänsel, Heike DIE LINKE 02 .06 .2016
Lämmel, Andreas G . CDU/CSU 02 .06 .2016
Lerchenfeld, Philipp
Graf
CDU/CSU 02 .06 .2016
Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
02 .06 .2016
Marwitz, Hans-Georg
von der
CDU/CSU 02 .06 .2016
Oßner, Florian CDU/CSU 02 .06 .2016
Petzold, Ulrich CDU/CSU 02 .06 .2016
Pflugradt, Jeannine SPD 02 .06 .2016
Roth (Augsburg),
Claudia
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
02 .06 .2016
Schmidt (Fürth),
Christian
CDU/CSU 02 .06 .2016
Scho-Antwerpes, Elfi SPD 02 .06 .2016
Steinmeier, Dr . Frank-
Walter
SPD 02 .06 .2016
Strothmann, Lena CDU/CSU 02 .06 .2016
Thews, Michael SPD 02 .06 .2016
Veit, Rüdiger SPD 02 .06 .2016
Wagenknecht, Dr . Sahra DIE LINKE 02 .06 .2016
Wawzyniak, Halina DIE LINKE 02 .06 .2016
Wicklein, Andrea SPD 02 .06 .2016
Zech, Tobias CDU/CSU 02 .06 .2016
Anlage 2
Erklärungen nach § 31 GO
zu der Abstimmung über den Antrag der Fraktio-
nen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN: Erinnerung und Gedenken an den Völker-
mord an den Armeniern und anderen christlichen
Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916 (Tages-
ordnungspunkt 5 a)
Michael Brand (CDU/CSU): Es ist keine Schwäche,
sondern zeugt von Stärke, sich zur Wahrheit zu beken-
nen . Es wäre ein Armutszeugnis, wenn es beim Thema
Genozid statt Mut zur Wahrheit etwa Feigheit vor dem
Freund gäbe – das widerspricht der Haltung Deutsch-
lands als Verfechter und Anwalt der Menschenrechte . Es
darf bei uns keinen taktischen Umgang mit der Wahrheit
geben – wenn wir in den Demokratien Europas nicht
mehr die Wahrheit sagen, wer dann?
Dem heutigen fraktionsübergreifenden Antrag „Er-
innerung und Gedenken an den Völkermord an den Ar-
meniern und anderen christlichen Minderheiten in den
Jahren 1915 und 1916“ stimme ich zu und möchte als
Begründung Argumente benennen, die ich auch bei ei-
ner Rede zum diesjährigen „Gedenktag für die Opfer des
Genozids an den Armeniern im Osmanischen Reich“ am
Sonntag, 24 . April 2016, im Schlüterhof des Deutschen
Historischen Museums ausgeführt habe:
Der 24 . April 1915 steht für den Beginn eines unfass-
baren Verbrechens .
Eines Verbrechens, das zu den schlimmsten Verbre-
chen des vergangenen Jahrhunderts zählt – und das mit
den beiden Weltkriegen ein wahrlich blutiges Jahrhun-
dert war .
Eines Verbrechens an unschuldigen Menschen, die
Opfer von Verfolgung und entsetzlicher Willkür wur-
den – aus politischen, ethischen oder religiösen Gründen .
Der 24 . April 1915, heute vor genau 101 Jahren, war
der Tag, an dem der Befehl der jungtürkischen Regierung
zur Verhaftung der politischen und kulturellen Elite der
Armenier erlassen wurde .
Menschen wurden misshandelt, enteignet, vertrieben,
mussten hungern, wurden deportiert, verschleppt, auf
Todesmärsche geschickt, massakriert, getötet . Ziel war
die planmäßige Vernichtung der in der Türkei lebenden
Armenier . Die Gräueltaten richteten sich aber ebenso ge-
gen aramäische, chaldäische und assyrische Christen, die
Pontos-Griechen . Die Verbrechen erfolgten vor den Au-
gen der Weltöffentlichkeit, auch mit dem stillschweigen-
den Wissen des damaligen deutschen Bündnispartners .
Die historische Forschung spricht insgesamt von
1,5 Millionen Opfern . Für dieses Verbrechen gibt es nur
eine unzweifelhafte und angemessene Bezeichnung: Der
Völkermord an den Armeniern ist eine historische Tat-
sache .
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(B) (D)
Im Ringen um diesen Begriff wurde oft gesagt, dass
der Tatbestand des Genozids erst im Zuge der UN-Völ-
kermordkonvention 1948 definiert worden sei. Es war
für mich beschämend und es entspricht auch nicht der
Position der Bundesrepublik Deutschland, dass sich das
Auswärtige Amt noch im letzten Jahr die Position der
türkischen Regierung zu eigen gemacht und behauptet
hat, dass der Genozid an den Armeniern deshalb nicht
Völkermord genannt werden dürfe, weil die Völker-
rechtskonvention der Vereinten Nationen erst 1948 be-
schlossen und 1950 in Kraft getreten sei .
Wer so argumentiert, blendet bewusst aus, dass Völ-
kermord und Verbrechen an der Menschlichkeit im ver-
gangenen Jahrhundert zu Recht ja den Ausgangspunkt
für die Erarbeitung der UN-Konvention bildeten . Mit
dieser Konvention hat dann das Unfassbare einen Namen
bekommen und wurde eine moralische Norm geschaffen,
hinter die heute niemand zurückgehen kann .
Die Verbrechen aber nicht beim Namen zu nennen,
hieße, die Opfer nicht anzuerkennen, ihnen die Würde
noch einmal zu nehmen, die Verbrechen und das Gesche-
hene zu verharmlosen .
Anlässlich des 100 . Jahrestages des Völkermordes
an den Armeniern haben in einer würdigen Debatte im
Deutschen Bundestag Abgeordnete aus allen Fraktionen
den Finger in die Wunde gelegt . Schon damals haben wir
mit anderen darauf gedrängt, dass der Begriff Völker-
mord mit in unseren Antrag aufgenommen werden muss,
ohne rhetorische Windungen, denn: ein Völkermord ist
ein Völkermord bleibt ein Völkermord .
Es ist gut, aber auch überfällig, dass der Deutsche
Bundestag dies im kommenden Juni in einem gemeinsa-
men Antrag jetzt tun wird .
In Richtung türkischer Regierung möchte ich sagen:
Der Wahrheit ins Auge zu sehen, macht stark und nicht
schwach . Deutschland hat seiner historischen Wahrheit
ins Auge gesehen und hat sie aufgearbeitet . Das hat
Deutschland nicht schwächer gemacht, sondern stärker .
Aus unserer eigenen Geschichte wissen wir sehr gut, dass
Aufarbeitung auch der dunklen Kapitel der eigenen Ge-
schichte einer Gesellschaft, einer Nation, sehr hilft und
ihr für die Zukunft Selbstvertrauen und Offenheit gibt .
Den mutigen Vertretern der türkischen Zivilgesell-
schaft, die es immer wieder auf sich nehmen, den eige-
nen Landsleuten die Augen zu öffnen, gilt gerade heute
mein Respekt. Auch ihretwegen bleibt es eine Verpflich-
tung, auf die Wahrheit hinzuweisen und die Dinge klar
beim Namen zu nennen .
Denn auch das Verschweigen von Verbrechen ist ein
Verbrechen .
Ohne Wahrheit gibt es keine Gerechtigkeit .
Ohne Gerechtigkeit und Aufarbeitung gibt es keine
Aussöhnung .
Mit der aktuellen Attacke gegen das Kultur-Projekt
„Aghet“ der Dresdner Sinfoniker und des Musikers Marc
Sinan manövriert sich die türkische Regierung weiter in
eine Sackgasse . Die massive Einschränkung der Mei-
nungs- und Pressefreiheit beschleunigen diesen Weg, lei-
der . Aber meine Mahnung heute geht auch an die Euro-
päische Union und Deutschland: Sich nicht zu Mittätern
zu machen! Nicht die eigene Seele zu verkaufen! Unter-
würfigkeit hilft nicht, im Gegenteil.
Bundespräsident Joachim Gauck – ebenso Bundes-
tagspräsident Norbert Lammert – haben im vergangenen
Jahr in beeindruckender Weise den Völkermord an den
Armeniern und anderen ethnischen Minderheiten vor
genau 100 Jahren in sehr grundsätzlichen und zugleich
auf unsere heutige Zeit gerichteten Ansprachen konkret
benannt, ohne dabei die damalige deutsche Mitschuld an
diesem Jahrhundert-Verbrechen zu leugnen .
Die Türkei und Deutschland sind seit über 100 Jah-
ren freundschaftlich verbunden . Zu den Grundelementen
von Freundschaft zählt Offenheit und Respekt, auch vor
der Wahrheit .
Es bleibt eine Aufgabe, die heutige Türkei zu einem
offenen und ehrlichen Umgang zu ermutigen und diesen
auch einzufordern . Das war einer der Gründe, warum
eine Delegation des Ausschusses für Menschenrechte
und humanitäre Hilfe jüngst, Anfang März, zu politi-
schen Gesprächen nach Ankara und Istanbul gereist ist .
Und es war kein Zufall, dass wir das unmittelbar vor den
Verhandlungen der EU mit der Türkei getan haben .
Auch gegenüber dem armenischen Volk können wir
Deutsche dazu beitragen, dass die Aussöhnung zwischen
Armeniern und Türken unter Anerkennung der histori-
schen Tatsachen weitere Fortschritte macht .
Wer das auch 100 Jahre nach dem Völkermord andau-
ernde Leid des armenischen Volkes ermessen will, der
kann dies aus dem Text eines Liedes entnehmen, das in
so beeindruckender Weise beim Ökumenischen Gottes-
dienst 2015 im Berliner Dom gesungen wurde und mich
sehr berührt hat und berührt:
Das Lied von Gabriel Aydin trägt den Titel „The Song
of the Syriac People“:
„Wie viele Kriege müssen wir noch ertragen, wie lan-
ge werden wir noch unterdrückt, weil dein Name auf un-
serer Stirn steht?
Wie die Schafe führen sie uns zur Schlachtbank –
Herr, lass uns nicht allein .
Sie unterdrücken uns gewaltsam – Herr, komm und
eile uns zu Hilfe .
Unsere Augen sind voller Tränen .
Unsere Kleidung voller Blut .
Wir schreien, aber niemand hört uns .
Herr, nur du kannst uns antworten – Herr, lass uns
nicht allein .
Komm, eile uns zu Hilfe – Herr, lass uns in unserer
Not nicht allein .
Herr, komm sei mit uns und bleib unter uns .
Lass uns deinen Frieden spüren . Herr, sei du unsere
Heimat .“
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17151
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(B) (D)
Es ist ebenso berührend wie erschreckend, wie dieses
Lied, das in Aramäisch, der Sprache von Jesus, gesungen
wurde, nicht nur das historische Schicksal der christli-
chen Minderheit so aufwühlend beschreibt .
Erschreckend ist auch, dass es heute, 100 Jahre nach
den schrecklichen Ereignissen im osmanischen Reich, in
der Nachbarschaft, in Syrien und im Irak, schon wieder
um die Ausrottung christlicher Minderheiten geht .
Umso mehr sind wir dazu aufgefordert, die Dinge
beim Namen zu nennen, den Völkermord auch Völker-
mord zu nennen, damit wir nicht aus Angst vor der Wahr-
heit und aus Angst vor dem Freund die Geschichte nicht
beim Namen nennen und Gefahr laufen, dass sie sich in
anderer Form an anderer Stelle wiederholt .
Ich verneige mich vor den Opfern! Und ich danke ih-
nen .
Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Die Abstimmung im
Bundestag zur Anerkennung des Völkermords an den Ar-
meniern ist ein Sieg der Gerechtigkeit, ein Sieg der Auf-
klärung . Über 100 Jahre hat es gedauert, bis ein deutsches
Parlament endlich ohne Wenn und Aber den Völkermord
an den Armeniern anerkannt hat . Die Abstimmung ist zu-
gleich ein Bruch mit der deutschen Staatsräson des Ver-
schweigens der Mitschuld des Kaiserreiches an diesem
furchtbaren Verbrechen .
Vor wenigen Wochen, am 24 . April 2016, jährte sich
der Völkermord an den Armeniern . 101 Jahre ist es her,
dass mit der Deportation armenischer Politiker und In-
tellektueller aus Istanbul, auf Befehl des osmanischen
Innenministers Mehmet Talat, diese grausame Tat be-
gonnen wurde . Mit der heutigen Abstimmung gedenken
wir heute hier all der 1,5 Millionen Opfer dieses schreck-
lichen Verbrechens und verneigen uns vor ihnen in stiller
Trauer .
Über 100 Jahre sind vergangen seit jenem Tag . Kaum
einer kennt noch die Namen der Deportierten . Haben
wir je etwas von dem Schriftsteller Rupen Zartarian aus
Diyarbakir, dem Dichter Yeruhan aus Istanbul oder dem
Romanautor Dikran Chökürian aus Gümüşhane gehört.
Sie alle wurden auf schändliche Art und Weise ermordet .
Ja, man kann sagen, mit ihnen wurde auch ein Teil der
Kultur des Osmanischen Reiches, ein Teil der Kultur der
Welt ausgelöscht .
Wer erinnert sich noch an die 20 zumeist jungen Ak-
tivisten der Sozialdemokratischen Huntschak-Partei, die
im Zuge des Völkermords an den Armeniern am 15 . Juni
1915 im Stadtteil Sultanbeyazid in Istanbul durch Erhän-
gen hingerichtet wurden . Wer heute an diesen Auftakt
des Völkermords erinnert, wird von den Sympathisan-
ten der Völkermörder als Terroristenfreund diffamiert .
100 Jahre sind manchmal wie ein Tag . Diejenigen, die
auch heute noch den Völkermord in widersprüchlicher
Weise leugnen und zugleich rechtfertigen, setzen auf das
Vergessen, setzen auf das Verschwinden . Wer weiß heute
noch, dass diese Huntschak-Partei die erste sozialistische
Partei im Osmanischen Reich war, dass es ihre Aktivisten
waren, die zum ersten Mal das Kommunistische Mani-
fest am Bosporus herausgegeben haben .
Wenn wir heute des Völkermords an den Armeniern
gedenken, geht es auch um eine Wiedergewinnung der
Erinnerung an die Verschwundenen, eine Erinnerung an
die Ausgelöschten . Eine Erinnerung an die in der Ke-
mah-Schlucht Ermordeten oder in der Wüste des heuti-
gen Syriens Zu-Tode-Gebrachten . Diese Erinnerung ist
so schwer, weil von Beginn an alles getan wurde, um die-
se unvorstellbare Tat vergessen zu machen . Es sollte eben
nicht nur die Erinnerung an die Ermordeten ausgelöscht
werden, sondern auch, durch eine Beseitigung aller Na-
men oder kulturellen Erzeugnisse, die sie hinterlassen
hatten, jedes steingewordene Dokument ihrer gewesenen
Existenz . So wie ich es aus Erzählungen meines verstor-
benen Vaters erfahren habe, dass im Dorf meiner Eltern,
in der Provinz Erzincan, einst eine armenische Kirche
stand . An ihrer Stelle ist heute die Dorfschule . Kein Stein
ist dort mehr zu sehen . Die früher gleich neben dem ale-
vitischen Friedhof gelegene armenische Grabstätte gibt
es auch nicht mehr .
Auch heute wird, wer an den Völkermord auch nur
versucht zu erinnern, als Freund kurdischer oder armeni-
scher Terroristen diffamiert . Die türkische islamistische
Regierung, ganz Präsident Erdogan verpflichtet, setzt auf
die Mobilisierung und die Entfesselung des Nationalis-
mus . Mit ungeheurem propagandistischem Aufwand soll
die Gleichung der Völkermörder, Terrorist gleich Arme-
nier, in den Köpfen verankert werden . Und wer diese Ter-
roristen verteidigt und auch noch auf Aufklärung dringt,
der muss auch ein Armenier sein und steckt natürlich mit
allen anderen Armeniern unter einer Decke . Und weiter:
Die Armenier haben sich ihren Tod selbst zuzuschreiben,
weil sie Terroristen sind . Und es ist diese Gleichung, die
das Denken der Affirmierung des Völkermords an den
Armeniern widerspiegelt . Dieses Völkermorddenken
wird wach gehalten in Teilen der türkischen Gesellschaft
durch ein ungeheures propagandistisches Trommelfeuer .
Ziel ist es, die Zustimmung von großen Teilen der Bevöl-
kerung zu einem Unterdrückungssystem par exellence zu
erzielen . Und gerade deshalb ist Aufklärung so wichtig .
Und gerade deshalb habe ich mich entschieden, mich von
Drohungen oder zahlreichen üblen Beschimpfungen der
Erdogan-Anhänger von „armenischer Hure“ bis „kurdi-
scher Terroristin“ nicht einschüchtern zu lassen . Erdogan
und die Seinen sprechen den Jargon der Völkermörder
von 1915 . Es ist höchste Zeit, diese Leute in die Schran-
ken zu weisen und sie nicht weiter zu ermutigen, wie dies
die Bundeskanzlerin Merkel und Vizekanzler Gabriel
durch ihre Abwesenheit bei der Abstimmung über den
Völkermord an den Armeniern wieder einmal getan ha-
ben .
Über 100 Jahre sind nach den schrecklichen Massakern
und Verfolgungen vergangen, doch wird der Völkermord
an den Armeniern von der türkischen Regierung immer
noch bestritten . Aber auch die Bundesregierung hat stets
versucht, die deutsche Mitverantwortung für den Völ-
kermord zu relativieren . Das eigentliche Ausmaß, nicht
nur des Völkermords, aber auch der Beihilfe der deut-
schen Militärs und Politiker, ist in der deutschen Öffent-
lichkeit weithin unbekannt . Der Bundestag hatte sich in
seiner Entschließung zur Erinnerung an die Vertreibung
und Massaker an den Armeniern von 2005 um die ganze
Wahrheit herumgedrückt . Darin heißt es: „Der Bundes-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617152
(A) (C)
(B) (D)
tag bedauert auch die unrühmliche Rolle des Deutschen
Reiches, das angesichts der vielfältigen Informationen
über die organisierte Vertreibung und Vernichtung von
Armeniern nicht einmal versucht hat, die Gräuel zu stop-
pen .“ Die historische Wahrheit lässt aber eine Festlegung
der Rolle des Kaiserreiches auf eine unterlassene Hil-
feleistung nicht zu . Mit Blick auf die mörderische Waf-
fenbrüderschaft zwischen dem deutschen Kaiserreich
und dem Osmanischen Reich im Ersten Weltkrieg hatte
denn die deutsche Seite alles getan, um den Völkermord
zu decken . 1915 hatte Reichskanzler Bethmann Holl-
weg gegenüber österreichischen Bedenken geantwortet:
„Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des
Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob da-
rüber Armenier zugrunde gehen oder nicht .“ Daraus
wird ersichtlich, dass Deutschland bereit war, den Völ-
kermord zu billigen . Wichtig war allein die Waffenbrü-
derschaft mit dem Osmanischen Reich . Als Beispiel sei
nur General Fritz Bronsart von Schellendorf, Chef des
Generalstabs im Großen Hauptquartier in Istanbul und
damit oberster Kriegsplaner direkt nach dem Kriegsmi-
nister Enver Pascha, genannt . Bronsart von Schellendorf
befürwortete nicht nur die Deportation der Armenier aus
militärischer Notwendigkeit, sondern äußerte sich auch
nach dem Krieg in übelster Form über die armenische
Minderheit . In einem Brief von 1921 an das Auswärtige
Amt schrieb er: „Der Armenier ist nämlich, wie der Jude,
außerhalb seiner engeren Heimat ein Parasit, der sich von
dem Marke des Fremdvolkes mästet, unter dem er seinen
Wohnsitz aufschlägt . Alljährlich wandern zahlreiche Ar-
menier aus ihrem Stammlande nach Kurdistan, um nach
kurzer Zeit ganze kurdische Dörfer zu bewuchern und
sich dienstbar zu machen . Daher der Hass, der sich oft
in ganz mittelalterlicher Weise durch den Mord miss-
liebig gewordener Armenier entladen hat .“ Dazu taten
800 deutsche Offiziere und 25 000 Soldaten im Osmani-
schen Reich Dienst, die sich auch aktiv am Völkermord
an den Armeniern beteiligten .
Diese Mitverantwortung Deutschlands zeigt sich auch
in der Beantwortung der Kleinen Anfragen des späteren
KPD-Gründers und damaligen USPD-Abgeordneten Karl
Liebknecht im Januar 1916 im Reichstag . Liebknecht
hatte als einziger Abgeordneter im Dezember 1914 gegen
die Kriegskredite gestimmt und trat mit seinen Anfragen,
dem einzig verbliebenen parlamentarischen Instrument,
das ihm ohne Zustimmung seiner ehemaligen SPD-Frak-
tion möglich war, im Reichstag auf, um die imperialisti-
sche Politik des Kaiserreichs zu beleuchten . Der Anfrage
Liebknechts zu den Massakern an den Armeniern folgte
denn auch seine Anfrage zu weiteren Kriegsverbrechen,
zu deutschen Kriegsverbrechen an Zivilisten in den be-
setzten Ländern wie Belgien . Liebknecht fragte: „Ist
dem Reichskanzler bekannt, dass während des jetzigen
Krieges im verbündeten türkischen Reiche die armeni-
sche Bevölkerung zu hunderttausenden vertrieben und
niedergemacht worden ist? Welche Schritte hat der Herr
Reichskanzler bei der verbündeten türkischen Regierung
unternommen, um die gebotene Sühne herbeizuführen,
die Lage des Restes der armenischen Bevölkerung in der
Türkei menschenwürdig zu gestalten und die Wiederho-
lung ähnlicher Greuel zu verhindern?“ Darauf antworte-
te Dr . von Stumm, Kaiserlicher Gesandter, Dirigent der
politischen Abteilung im Auswärtigen Amt, Kommissar
des Bundesrats: „Dem Herrn Reichskanzler ist bekannt,
daß die Pforte vor einiger Zeit, durch aufrührerische Um-
triebe unserer Gegner veranlaßt, die armenische Bevöl-
kerung bestimmter Gebietsteile des türkischen Reiches
ausgesiedelt und ihr neue Wohnstätten angewiesen hat .
Wegen gewisser Rückwirkungen dieser Maßnahmen
findet zwischen der deutschen und der türkischen Regie-
rung ein Gedankenaustausch statt . Nähere Einzelheiten
können nicht mitgeteilt werden .“ Liebknecht versuchte
eine Ergänzungsfrage nachzuschieben: „Ist dem Herrn
Reichskanzler bekannt, daß Professor Lepsius geradezu
von einer Ausrottung der türkischen Armenier gespro-
chen . . .“ Diese wurde, ohne dass Liebknecht überhaupt zu
Ende sprechen konnte, unter Beifall des Reichstags vom
Präsidenten unterbunden . Nicht einmal die Frage sollte
also gestellt werden können . Zu sehr war man sich einig,
diese Verbrechen verschweigen zu müssen . Liebknecht
erklärte im Nachhinein seine Handlungsstrategie wie
folgt: „Die türkische Regierung hat ein furchtbares Ge-
metzel unter den Armeniern angerichtet; alle Welt weiß
davon – und in aller Welt macht man Deutschland verant-
wortlich, weil in Konstantinopel die deutschen Offiziere
die Regierung kommandieren . Nur in Deutschland weiß
man nichts, weil die Presse geknebelt ist .“
Das Vorgehen des Kaiserreichs war, wie gesagt, symp-
tomatisch für spätere Vorgehensweisen, den Völkermord
an den Armeniern zu leugnen bzw . zu relativieren . Wie
Richard Albrecht recherchierte, gab es im offiziellen
„amtlichen Zensurbuch“ des Kaiserreichs die „arme-
nische Frage“ betreffend im Herbst/Winter 1915 zwei
zentrale Hinweise . Erstens am 7 . Oktober 1915 zu Arme-
nien mit der Anweisung: „Veröffentlichungen über die
armenische Frage unterliegen der Vorzensur“: „Über die
Armeniergreuel ist folgendes zu sagen: Unsere freund-
schaftlichen Beziehungen zur Türkei dürfen durch die-
se innertürkische Verwaltungsangelegenheit nicht nur
nicht gefährdet, sondern im gegenwärtigen, schwierigen
Augenblick nicht einmal geprüft werden . Deshalb ist es
einstweilig Pflicht zu schweigen. Später, wenn direkte
Angriffe des Auslandes wegen deutscher Mitschuld er-
folgen sollten, muß man die Sache mit größter Vorsicht
und Zurückhaltung behandeln und später vorgeben, daß
die Türken schwer von den Armeniern gereizt wurden .“
Zweitens am 23 . Dezember 1915 zur Türkei: „Über die
armenische Frage wird am besten geschwiegen . Beson-
ders löblich ist das Verhalten der türkischen Machthaber
in dieser Frage nicht! [ . . .] Alle Ausführungen, die das An-
sehen unserer türkischen Bundesgenossen irgendwie her-
absetzen könnten, müssen vermieden werden [ . . .] Aufsät-
ze über die armenische Frage unterliegen der Vorzensur .“
Festzuhalten ist, die Waffenbrüderschaft zwischen dem
Kaiserreich und Osmanischen Reich bestand nicht nur im
Hinblick auf den Völkermord an den Armeniern, sondern
auch im Hinblick auf seine spätere Leugnung und Rela-
tivierung .
Der vorliegende Resolutionstext spricht jetzt wenigs-
tens von dieser Mitschuld des Deutschen Reiches, auch
wenn er das wahre Ausmaß der Mithilfe des Kaiserrei-
ches an dem Völkermord an den Armeniern nicht in den
Blick nimmt . Auch die Kennzeichnung der Todesmär-
sche als „Vertreibung“ im Resolutionstext verfehlt die
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17153
(A) (C)
(B) (D)
historische Realität . Nichtdestotrotz trifft der Text den
wichtigen Aspekt der Anerkennung wie auch der Mit-
schuld des Kaiserreiches .
Nur eine aufrichtige Anerkennung und Aufklärung
kann den Weg zur Versöhnung und einer gemeinsamen
Zukunft bahnen . Wir hier in Deutschland haben, was den
Völkermord an den Armeniern angeht und die Aufklä-
rung und Anerkennung über die deutsche Mitverantwor-
tung angeht, noch ein Stück des Weges zu gehen . Denn
auch für die konkrete Politik wurden daraus bisher noch
keine Folgerungen gezogen . Für mich würde dies auch
bedeuten, keine weiteren deutschen Rüstungsexporte
zu tätigen, als eine der Lehren aus diesem imperialisti-
schen Verbrechen . Es würde bedeuten, dass wir gerade
angesichts des Kriegs des türkischen Staatspräsidenten
Erdogan gegen die Kurden in der Türkei mit inzwi-
schen über 500 000 Flüchtlingen und Hunderten zivilen
Opfern, der Angriffe auf kurdische Enklaven in Syrien
durch von Erdogan bewaffnete islamistische Terrorban-
den wie auch auf armenische Dörfer wie Kesab in Syrien
durch islamistische Milizen, die auch von der Türkei aus
angreifen, die Waffenbrüderschaft mit dem Erdogan-Re-
gime beenden .
Bettina Kudla (CDU/CSU): Es ist nicht Aufgabe des
Deutschen Bundestages, historische Bewertungen von
Ereignissen in anderen Staaten vorzunehmen . Die Aufar-
beitung von geschichtlichen Ereignissen obliegt dem be-
troffenen Staat, in diesem Fall der Republik Türkei . Der
vorliegende Antrag enthält keine Angaben von Quellen
wie zum Beispiel Historikern, auf die sich die Beurtei-
lungen des benannten Völkermordes stützen .
Die politischen als auch finanziellen Folgen, die sich
aus diesem Antrag ergeben, sind nicht kalkulierbar . Un-
mittelbare finanzielle Folgen könnten sich durch das
Aufmachen von Wiedergutmachungsforderungen seitens
Armenien ergeben .
Die Beziehungen zur Republik Türkei werden durch
diesen Beschluss belastet . Der Vollzug des Flüchtlings-
abkommens zwischen der Europäischen Union und der
Republik Türkei wird erschwert . Dies ist umso bedauer-
licher, da es sich um ein europäisches Abkommen han-
delt und bisher europäische Lösungen bezüglich Asyl-
bewerbern und Flüchtlingen nur schwer möglich waren .
Sollte das Flüchtlingsabkommen mit der Republik Tür-
kei scheitern, wird es neben gravierenden humanitären
Folgen auch erhebliche finanzielle Mehrbelastungen für
Deutschland geben .
Allein aus der Kenntnis von Vorgängen kann meines
Erachtens nicht abgeleitet werden, dass das Deutsche
Reich eine Mitschuld an den damaligen Ereignissen der
Verfolgung der Armenier trägt . Worin diese Verantwor-
tung besteht, ist im Antrag nicht erkennbar . Im Antrag
heißt es: „Der Deutsche Bundestag stellt fest: . . . Das
Deutsche Reich trägt eine Mitschuld an den Ereignis-
sen .“ In der Begründung des Antrages heißt es: „Die
damalige deutsche Reichsregierung, die über die Verfol-
gung und Ermordung der Armenier informiert war, blieb
dennoch untätig . . . Das Deutsche Reich war als militäri-
scher Hauptverbündeter des Osmanischen Reiches eben-
falls tief in diese Vorgänge involviert .“
Konkrete historische Fakten sind nicht benannt . Auch
in dem Antrag der Fraktion Die Linke vom März 2015 zu
diesem Thema – Drucksache 18/4335 – und in dem An-
trag der Fraktion Die Grünen vom April 2015 – Druck-
sache 18/4687 – heißt es, dass die Regierung des Deut-
schen Reiches jeweils über den Völkermord informiert
war, aber nicht einschritt . Allein daraus kann meines Er-
achtens nicht zwingend eine deutsche Mitverantwortung
abgeleitet werden . Auch heute hat die Bundesregierung
und auch der Deutsche Bundestag Kenntnis über Massa-
ker zum Beispiel an Syrern . Trotz jahrelanger diplomati-
scher Bemühungen und der Unterstützung von militäri-
schen Einsätzen ist es nicht gelungen, diese Massaker in
Syrien zu verhindern .
Der vorliegende Antrag wird von mir abgelehnt .
Dr. Dorothee Schlegel (SPD): Bei der Abstimmung
über den heutigen Antrag „Erinnerung und Gedenken an
den Völkermord an den Armeniern und anderen christli-
chen Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916“, dessen
Inhalt ich grundsätzlich mittrage, votiere ich als Bericht-
erstatterin für die Türkei im Ausschuss für Angelegen-
heiten der Europäischen Union dennoch mit Enthaltung,
da ich folgende Aspekte zu bedenken geben will:
Das Ziel, von deutscher Seite her zu einer Versöhnung
zwischen der Türkei und Armenien beizutragen, wird mit
diesem Antrag meiner Wahrnehmung nach nicht zu errei-
chen sein . Denn er berücksichtigt in seiner vorliegenden
Form nicht ausreichend seine direkten und weiteren Fol-
gen . Versöhnung kann weder isoliert von aktuellen poli-
tischen Ereignissen noch ohne konkrete Angebote oder
Symbole stattfinden. Die Aufarbeitung der Vergangen-
heit braucht eine aktiv daran teilhabende und kritische
Zivilgesellschaft . Dazu müssen schulische und universi-
täre, politische und kulturelle Bildung in und zwischen
den Ländern beitragen .
Der vorliegende Antrag, der in seinen wesentlichen
Aussagen den Anträgen 15/5689 (2005) und 18/4684
(2015) folgt, sollte weder anklagen noch verurteilen oder
Reuebekenntnisse erzwingen, sondern Impuls zur wei-
teren Aufklärung sein . Er sollte dazu beitragen können,
Empfindlichkeiten auf armenischer und türkischer Seite
zu überwinden . Dies ist, und das möchte ich betonen, nur
im stetigen und gegenseitigen Dialog möglich .
Der Versöhnungsprozess zwischen der Türkei und
Armenien ist in den letzten Jahren ebenso ins Stocken
geraten wie das Bemühen auf deutscher Seite, auch hier
in Deutschland klarere Impulse zum Dialog auf verschie-
densten Ebenen zu geben .
Geschichte ist immer ein identitätsstiftender Bezugs-
punkt für ein Land und seine Bevölkerung . Daher ist es,
vor allem, wenn es um unrühmliche Taten und Rollen
geht, äußerst wichtig, den Versöhnungsgedanken und den
Prozess der Annäherung, das heißt das Ziel einer friedli-
chen Koexistenz, höher zu bewerten als möglicherweise
die Infragestellung des historisch gewachsenen oder ge-
stalteten Bezugspunkts – und hier beziehe ich ausdrück-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617154
(A) (C)
(B) (D)
lich die Rolle des Deutschen Reiches und die deutsche
Verantwortung mit ein .
Folgende Aspekte sind mir wichtig:
Die unrühmliche deutsche Rolle und die deutsche
Verantwortung werden in den Anträgen kaum beleuchtet
und weder offensiv benannt noch kommuniziert . Der da-
malige deutsche Bündnispartner war seinerzeit über den
Verlauf der Massenvertreibungen und Massaker unter-
richtet und mit seinen Diplomaten und Militärmissionen
vor Ort . Die Berichte nach Berlin waren dann aber eher
fragmentarisch . Der Völkermord war kein Thema, so der
Journalist Wolfgang Gust . Denn „Unser einziges Ziel ist
es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite
zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zugrunde
gehen oder nicht“, formulierte Reichskanzler Theobald
von Bethmann Hollweg die deutsche Linie .
Mit Blick in die türkische Geschichte der letzten Jahr-
zehnte wird deutlich, dass über die Ereignisse – und hier
ist jedes Opfer, egal welcher Religions- oder Staatszu-
gehörigkeit, eines zu viel! – nicht nur ideologisch pola-
risiert, sondern auch geschwiegen wurde . Ähnliches gilt
sicher auch in unterschiedlicher Ausprägung für die Län-
der Deutschland und Armenien .
Es sind immer Ängste, auch kollektive Ängste, die das
Reden über die Vergangenheit schwer und das Schwei-
gen scheinbar leichter machen . Warum neben den Depor-
tationen und Massakern an anderen christlichen Volks-
gruppen die Vernichtung der armenischen Bevölkerung
im damaligen Osmanischen Reich vonseiten der heuti-
gen Türkei nicht als Genozid benannt wird, kann nur im
Dialog mit der Türkei geklärt werden . Sollte der Begriff
Völkermord ein Tabubegriff sein, dann braucht es zu sei-
ner Aufklärung mehr als eine Resolution, die, so meine
ich, das Tabuthema eher zementieren wird . Und das wäre
bedauerlich – gerade für die Menschen, die sich offene
Türen und eine offene Gesellschaft wünschen .
Für Deutschland, Armenien und die Türkei umschrei-
be ich die vor den Ländern und ihrer Bevölkerung lie-
gende Aufgabe mit den Worten von Hrant Dink: „Man
braucht für den Umgang mit der Geschichte einen ge-
wissen Anstand, eine gewisse Ethik . Wo beides fehlt,
nutzen die Dokumente wenig .“ Er folgerte daraus: „Die
ethische Haltung, die wir in der Armenien-Frage brau-
chen, ist Empathie .“ Und nur diese könne zu einem ange-
messenen Gedächtnis beider Gesellschaften führen . Dink
wurde am 19 . Januar 2007 erschossen – zu Beginn des
Wahljahrs 2007, in dem über Parlament, Regierung und
den Präsidenten neu entschieden werden sollte . Es war
der Beginn des Konflikts zwischen Beharrungskräften
und Gewinnern des Wandels, zwischen Islamismus und
Säkularismus . Diese ethische Haltung, die zum Umgang
mit der Geschichte notwendig ist, braucht ein Klima der
Begegnung, in dem auch Gemeinsamkeiten entdeckt
werden .
Da der Prozess der Erinnerung und Aufarbeitung auch
ein kultureller ist und nicht allein Historikern und Politi-
kern überlassen werden darf, begrüße ich jegliche Förde-
rung von Initiativen zur Aufarbeitung ebenso wie die be-
reits geschehene Herausgabe der deutschen Dokumente .
Zudem halte ich es für sinnvoll, wenn die Bundesregie-
rung dazu beitragen könnte, dass unter Beteiligung von
Armenien, Deutschland und der Türkei eine unabhängige
Historikerkommission eingesetzt wird, die die damaligen
Ereignisse aufarbeitet, Zahlen und Fakten überprüft und
für mehr Transparenz sorgt .
Was wir auch über den heutigen Tag hinaus verhindern
sollten, ist, all die vielen Brücken, die es in die Zivilge-
sellschaft hinein zwischen Familien und Organisationen
gibt, aufs Spiel zu setzen . Fördern wir vielmehr auf allen
Ebenen den bisher nicht ausreichenden Dialog über die
jeweils eigene, aber ebenso die gemeinsame Geschichte
von vor über 100 Jahren .
Erika Steinbach (CDU/CSU): Ich begrüße nach-
drücklich, dass der Deutsche Bundestags heute das
Schicksal der autochthonen Christen im Osmanischen
Reich als das bezeichnet was es war: Völkermord!
Versöhnung beginnt immer mit der Aufarbeitung
und der Auseinandersetzung über geschehenes Unrecht .
Das bedeutet weder Anklage noch Diffamierung der da-
für Verantwortlichen oder deren Nachfahren . Es ist ein
wichtiger und unverzichtbarer Schritt, einem überfälli-
gen Versöhnungsprozess neue Impulse zu geben und die
Aufarbeitung der damaligen Ereignisse im Osmanischen
Reich voranzubringen .
Gerade als Vorsitzende der Arbeitsgruppe Menschen-
rechte und humanitäre Hilfe der CDU/CSU-Bundestags-
fraktion war es mir seit Jahren ein besonderes Anliegen,
die Verbrechen der jungtürkischen Nationalisten im Os-
manischen Reich deutlich zu benennen .
Dabei ist es unverzichtbar, deutlich zu machen, dass
sich die Gewalt nicht nur gegen die osmanischen Arme-
nier, sondern letztlich gegen alle autochthonen Christen
des Osmanischen Reiches gerichtet hat: bereits seit 1909
gegen die Pontos-Griechen, später gegen die Aramäer,
Assyrer und Chaldäer . Das habe ich nicht erst im vergan-
genen Jahr in meiner Rede zum 100 . Jahrestag des Be-
ginns des Völkermordes am 24 . April 2015 im Deutschen
Bundestag betont .
Denjenigen, die den Antrag in den vergangenen Wo-
chen und Tagen als falschen Weg und Gefahr für die
deutsch-türkische Freundschaft bezeichnet haben und
die Zuständigkeit für eine Bewertung der Gräuel eher bei
Historikern oder Gerichten sehen, sage ich: Deutschland
hat damals geschwiegen und darf gerade deshalb heute
nicht schweigen .
Zudem können wir uns heute nur dann glaubwürdig
für das Menschenrecht auf Religionsfreiheit und gegen
die Vertreibungen der Christen infolge der Gewalt in Sy-
rien und dem Irak einsetzen, wenn wir auch angemessen
an den Völkermord an den Christen im damaligen Osma-
nischen Reich erinnern .
Was mit dem Genozid seinerzeit an Gräueln verbun-
den war, ist für uns unvorstellbar . Es war nicht nur die
Tötung ganzer Gruppen von Menschen, sondern ging mit
unglaublicher Brutalität vor sich . Die Vertreibungen ge-
schahen systematisch zur Vernichtung der Menschen und
trugen eindeutig alle Merkmale von Völkermord .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17155
(A) (C)
(B) (D)
Ich bin überzeugt, dieses Leid zu teilen, es anzuerken-
nen, es beim Namen zu nennen, hilft den Nachfahren der
Opfer, ihre eigenen Kräfte wieder zu stärken, zu bündeln
und die Zukunft besser zu bewältigen . Man braucht Soli-
darität von anderen, die keine Opfer waren, oder von an-
deren, die auch Opfer waren und sich an die Seite stellen .
Deshalb ist es so ein wichtiges Signal, dass wir uns
heute im Deutschen Bundestag gemeinsam an die Seite
der Nachfahren der Opfer stellen .
Oliver Wittke (CDU/CSU): Die Vertreibung und Er-
mordung von bis zu 1,5 Millionen Armeniern, Aramäern,
Assyrern und sogenannten Pontos-Griechen im damali-
gen Osmanischen Reich ist eines der großen Verbrechen
des 20 . Jahrhunderts . Die Aufarbeitung und Erinnerung
an diese furchtbaren Ereignisse ist insbesondere Aufgabe
der Nachfahren der Tätergeneration . Ziel muss es sein,
derartige Verbrechen nie wieder auch nur im Bereich des
Möglichen erscheinen zu lassen .
Daher muss eine umfassende und internationalen An-
sprüchen gerecht werdende Aufarbeitung unter Beteili-
gung der Nachfahren von Opfern und Tätern erfolgen .
Nur so kann Akzeptanz und vor allem Lehre aus dem
Geschehenen gezogen werden . Ähnlich wie Deutschland
mit seinem Grundgesetz, aber auch den allgemeinen Re-
geln des Zusammenlebens Konsequenzen aus seiner Ge-
schichte gezogen hat, muss auch die Türkei für die aktu-
elle alltägliche Politik Konsequenzen aus den Verbrechen
vor 100 Jahren ziehen . Dies wird sie aber nicht aufgrund
von Resolutionen ausländischer Parlamente, sondern nur
bei aktiver Einbeziehung in die Aufarbeitung der Ge-
schichte tun . Die Verurteilung des Geschehenen in der
Vergangenheit ist richtig . Wichtiger ist aber das Ziehen
von Konsequenzen für die Gegenwart . Dies wird nur mit
der Türkei und nicht ohne sie erfolgreich sein .
Anlage 3
Erklärung
der Abgeordneten Britta Haßelmann (BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über die
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirt-
schaft und Energie zu der von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entschließung
zum Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Ände-
rung des Telemediengesetzes (Drucksache 18/8645)
(Tagesordnungspunkt 7 a)
Ich erkläre im Namen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN, dass unser Votum zur Entschließung „Enthal-
tung“ lautet .
Anlage 4
Erklärungen nach § 31 GO
zu der Abstimmung über den von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Stärkung der beruflichen Weiterbildung und des
Versicherungsschutzes in der Arbeitslosenversi-
cherung (Arbeitslosenversicherungsschutz- und
Weiterbildungsstärkungsgesetz – AWStG) (Tages-
ordnungspunkt 8 a)
Burkhard Blienert (SPD): Die Verlängerung der be-
fristeten Sonderregelung zum erleichterten Bezug von
Arbeitslosengeld I (ALG I) für überwiegend kurz befris-
tet Beschäftigte (§ 142 SGB III) bis zum 31 . Juli 2018
im Rahmen des „Gesetzes zur Stärkung der beruflichen
Weiterbildung und des Versicherungsschutzes in der Ar-
beitslosenversicherung“ (AWStG) ist sowohl in sozial-
als auch in kulturpolitischer Hinsicht ein Fortschritt . Wir
beenden mit dieser Regelung eine Phase der Unsicherheit
und schaffen das nötige Zeitfenster für die Ausgestaltung
einer tragfähigen Anschlussregelung . Dennoch ist dies
nicht die erhoffte langfristige Lösung, die SPD, CDU
und CSU in ihrem Koalitionsvertrag in Aussicht gestellt
haben .
Ursprüngliches Ziel der Sonderregelung war es, die
Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung für kurz
befristet Beschäftigte – vor allem im Kulturbereich – zu
stärken . Während der Anspruch auf ALG I grundsätzlich
erst bei zwölf Monaten versicherungspflichtiger Be-
schäftigung innerhalb einer Rahmenfrist von zwei Jah-
ren erworben werden kann, gilt nach der Sonderregelung
eine verkürzte Anwartschaft von sechs Monaten .
Die vorliegenden Zahlen der Antragstellungen und
-bewilligungen zeigen jedoch, dass die ALG-I-Sonder-
regelung in ihrer bestehenden Form nur bedingt greift .
Im letzten Erhebungszeitraum vom 1 . April 2014 bis
31 . März 2015 wurden lediglich 295 Anträge bewilligt,
die nach der Sonderregelung zu behandeln waren .
Als Hinderungsgrund für die Inanspruchnahme der
Sonderregelung haben sich für die Betroffenen vor al-
lem die engen Zugangsvoraussetzungen erwiesen . Zum
einen sieht die Sonderregelung eine Verdienstobergrenze
von 34 860 Euro vor . Zum anderen dürfen die versiche-
rungspflichtigen Beschäftigungen eine Dauer von zehn
Wochen nicht überschreiten . Dies hat zur Konsequenz,
dass die kurz befristet Beschäftigten trotz Zahlung von
Beiträgen an die Arbeitslosenversicherung im Falle ei-
nes Arbeitsplatzverlustes in der Regel kein Arbeitslosen-
geld I erhalten .
Daher war zwischen den Koalitionsparteien CDU/
CSU und SPD eine grundlegende Anpassung der Son-
derregelung in dieser Legislaturperiode verabredet, die –
entsprechend unserer Vereinbarungen im Koalitions-
vertrag – „den Besonderheiten von Erwerbsbiografien
in der Kultur hinreichend Rechnung“ tragen sollte . Wir
plädieren dafür, dass die Regierungskoalition – im Inte-
resse der Kulturschaffenden – an diesen Vereinbarungen
festhält und sowohl die Verdienst- als auch die Befris-
tungsgrenze der Sonderregelung – zu berücksichtigende
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617156
(A) (C)
(B) (D)
Beschäftigungsdauer von zehn Wochen; Verdienstober-
grenze von 34 020 Euro im Jahr – der Berufswirklichkeit
im Kulturbereich anpasst . Hierfür muss jetzt unmittelbar
ein intensiver Prozess zwischen dem Bundesarbeitsmi-
nisterium, dem Bundeskanzleramt und den Fraktionen
von SPD und CDU/CSU in Gang gesetzt werden, um
noch in dieser Legislaturperiode die praktischen Hürden
der Sonderregelung abzubauen und die Schutzfunktion
der Arbeitslosenversicherung insgesamt zu stärken .
Ich stimme dem Gesetzentwurf zu .
Martin Dörmann (SPD): Ich stimme der verlängerten
Sonderregelung zum erleichterten Bezug von Arbeitslo-
sengeld I für überwiegend kurz befristet Beschäftigte im
Rahmen des „Gesetzes zur Stärkung der beruflichen Wei-
terbildung und des Versicherungsschutzes in der Arbeits-
losenversicherung“ (AWStG) zu und erkläre:
Die Verlängerung der befristeten Sonderregelung zum
erleichterten Bezug von Arbeitslosengeld I (ALG I) für
überwiegend kurz befristet Beschäftigte (§ 142 SGB III)
bis zum 31 . Juli 2018 im Rahmen des „Gesetzes zur
Stärkung der beruflichen Weiterbildung und des Ver-
sicherungsschutzes in der Arbeitslosenversicherung“
(AWStG) ist sowohl in sozial- als auch in kulturpoliti-
scher Hinsicht ein Fortschritt . Wir beenden mit dieser
Regelung eine Phase der Unsicherheit und schaffen das
nötige Zeitfenster für die Ausgestaltung einer tragfähigen
Anschlussregelung . Gleichwohl ist dies noch nicht die
erhoffte langfristige Lösung, die SPD, CDU und CSU in
ihrem Koalitionsvertrag in Aussicht gestellt haben .
Ziel der Sonderregelung ist es, die Schutzfunktion der
Arbeitslosenversicherung für kurz befristet Beschäftig-
te – vor allem im Kulturbereich – zu stärken . Während
der Anspruch auf ALG I grundsätzlich erst bei zwölf
Monaten versicherungspflichtiger Beschäftigung inner-
halb einer Rahmenfrist von zwei Jahren erworben wer-
den kann, gilt nach der Sonderregelung eine verkürzte
Anwartschaft von sechs Monaten .
Die vorliegenden Zahlen der Antragstellungen und
-bewilligungen zeigen jedoch, dass die ALG-I-Sonderre-
gelung in ihrer bestehenden Form für viele Kulturschaf-
fende nur bedingt greift . Im letzten Erhebungszeitraum
vom 1 . April 2014 bis 31 . März 2015 wurden lediglich
295 Anträge bewilligt, die nach der Sonderregelung zu
behandeln waren . Die Zahl der Kulturschaffenden, die
längere Zeit arbeitslos waren, lag jedoch deutlich höher .
Als Hinderungsgrund für die Inanspruchnahme der
Sonderregelung haben sich für die Betroffenen vor allem
die engen Zugangsvoraussetzungen erwiesen . Zum einen
greift die Sonderregelung nur bis zu einer Verdienstober-
grenze von 34 860 Euro im Jahr . Zum anderen dürfen die
versicherungspflichtigen Beschäftigungen eine Dauer
von zehn Wochen nicht überschreiten . Dies hat zur Kon-
sequenz, dass gerade im Kulturbereich – zum Beispiel
beim Film – oftmals nur kurz befristet Beschäftigte trotz
Zahlung von Beiträgen an die Arbeitslosenversicherung
im Falle eines Arbeitsplatzverlustes in der Regel kein
Arbeitslosengeld I erhalten . Einzelengagements sind oft
projektbezogen und damit zeitlich befristet .
Daher war im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und
SPD eine grundlegende Anpassung der Sonderregelung
in dieser Legislaturperiode verabredet, die „den Beson-
derheiten von Erwerbsbiografien in der Kultur hinrei-
chend Rechnung“ tragen sollte .
Es ist klar, dass die rechtssichere Umsetzung dieser
Aufgabenstellung schwierig ist, weil die finanziellen
Auswirkungen auf die Versichertengemeinschaft sowie
verfassungsrechtliche Vorgaben zu beachten sind . Jede
Sonderbehandlung muss sachgerecht, verhältnismäßig
und gut begründet sein . Hierfür sehe ich noch Spielraum,
der über die bisherige Regelung hinausgeht . Deshalb
setze ich mich dafür ein, dass die Regierungskoalition
sowohl die Verdienst- als auch die Befristungsgrenze
der Sonderregelung daraufhin überprüft, wie sie der Be-
rufswirklichkeit im Kulturbereich stärker anpasst werden
kann .
Um noch in dieser Legislaturperiode die Schutzfunkti-
on der Arbeitslosenversicherung für Kulturschaffende zu
stärken, müssen die bisherigen Gespräche, insbesondere
zwischen dem Bundesarbeitsministerium, dem Bundes-
kanzleramt und den Fraktionen von SPD und CDU/CSU,
fortgesetzt und weiter intensiviert werden .
Siegmund Ehrmann (SPD): Ich stimme der ver-
längerten Sonderregelung zum erleichterten Bezug von
Arbeitslosengeld I für überwiegend kurz befristet Be-
schäftigte im Rahmen des „Gesetzes zur Stärkung der
beruflichen Weiterbildung und des Versicherungsschut-
zes in der Arbeitslosenversicherung“ (AWStG) zu und
erkläre:
Die Verlängerung der befristeten Sonderregelung
zum erleichterten Bezug von Arbeitslosengeld I (ALG I)
für überwiegend kurz befristete Beschäftigte (§ 142
SGB III) bis zum 31 . Juli 2018 im Rahmen des „Geset-
zes zur Stärkung der beruflichen Weiterbildung und des
Versicherungsschutzes in der Arbeitslosenversicherung“
(AWStG) ist sowohl in sozial- als auch in kulturpoliti-
scher Hinsicht ein Fortschritt . Wir beenden mit dieser
Regelung eine Phase der Unsicherheit und schaffen das
nötige Zeitfenster für die Ausgestaltung einer tragfähigen
Anschlussregelung . Dennoch ist dies nicht die erhoffte
langfristige Lösung, die SPD, CDU und CSU in ihrem
Koalitionsvertrag in Aussicht gestellt haben .
Ursprüngliches Ziel der Sonderregelung war es, die
Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung für kurz-
befristet Beschäftigte – vor allem im Kulturbereich – zu
stärken . Während der Anspruch auf ALG I grundsätzlich
erst bei zwölf Monaten versicherungspflichtiger Be-
schäftigung innerhalb einer Rahmenfrist von zwei Jah-
ren erworben werden kann, gilt nach der Sonderregelung
eine verkürzte Anwartschaft von sechs Monaten .
Die vorliegenden Zahlen der Antragstellungen und
-bewilligungen zeigen jedoch, dass die ALG-I-Sonder-
regelung in ihrer bestehenden Form nur bedingt greift .
Im letzten Erhebungszeitraum vom 1 . April 2014 bis
31 . März 2015 wurden lediglich 295 Anträge bewilligt,
die nach der Sonderregelung zu behandeln waren .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17157
(A) (C)
(B) (D)
Als Hinderungsgrund für die Inanspruchnahme der
Sonderregelung haben sich für die Betroffenen vor al-
lem die engen Zugangsvoraussetzungen erwiesen . Zum
einen sieht die Sonderregelung eine Verdienstobergrenze
von 34 860 Euro vor . Zum anderen dürfen die versiche-
rungspflichtigen Beschäftigungen eine Dauer von zehn
Wochen nicht überschreiten . Dies hat zur Konsequenz,
dass die kurz befristet Beschäftigten trotz Zahlung von
Beiträgen an die Arbeitslosenversicherung im Falle ei-
nes Arbeitsplatzverlustes in der Regel kein Arbeitslosen-
geld I erhalten .
Daher war zwischen den Koalitionsparteien CDU/
CSU und SPD eine grundlegende Anpassung der Son-
derregelung in dieser Legislaturperiode verabredet, die –
entsprechend unserer Vereinbarungen im Koalitions-
vertrag – „den Besonderheiten von Erwerbsbiografien
in der Kultur hinreichend Rechnung“ tragen sollte . Wir
plädieren dafür, dass die Regierungskoalition – im Inte-
resse der Kulturschaffenden – an diesen Vereinbarungen
festhält und sowohl die Verdienst- als auch die Befris-
tungsgrenze der Sonderregelung der Berufswirklichkeit
im Kulturbereich anpasst . Hierfür muss jetzt unmittelbar
ein intensiver Prozess zwischen dem Bundesarbeitsmi-
nisterium, dem Bundeskanzleramt und den Fraktionen
von SPD und CDU/CSU in Gang gesetzt werden, um
noch in dieser Legislaturperiode die praktischen Hürden
der Sonderregelung abzubauen und die Schutzfunktion
der Arbeitslosenversicherung insgesamt zu stärken .
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Antrags der Abgeordne-
ten Susanna Karawanskij, Klaus Ernst, Jutta
Krellmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE: Finanzaufsicht nach Anlageplei-
ten zum Schutz von Verbraucherinteressen stärken
(Tagesordnungspunkt 19)
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Rechtsverfolgung von Verbrauchern begegnet im Fi-
nanzbereich besonderen Herausforderungen . Dem Bür-
ger stehen hier regelmäßig übergroße, undurchsichtige
Emittenten und Vermittler gegenüber . Diese Beziehung
ist weiterhin geprägt von einer asymmetrischen Infor-
mationsverteilung zulasten des Verbrauchers, wobei das
auf Abschlussprovisionen basierende Eigeninteresse der
Berater die Gefahren dieser Asymmetrie noch verschärft .
Erleidet der Verbraucher einen unrechtmäßigen Scha-
den, steht er allzu oft alleine da . Die Schadensverursa-
cher können sich darauf verlassen, dass dem Bürger die
tatsächlichen Ursachen des Schadens nicht oder nur un-
zureichend bekannt werden . Dazu kommt, dass die Schä-
den regelmäßig unter den Anlegern weit gestreut sind
und ein Rechtsstreit ohne ermittelbare Sachlage stets mit
einem unwägbaren Ausgang und daher einem erhebli-
chen Kostenrisiko verbunden ist .
Im Ergebnis führt diese Situation zu einer Art rationa-
ler Untätigkeit der Betroffenen: Es ist besser, die Verluste
abzuhaken, als weitere erhebliche Unkosten zu riskieren .
Und falls es doch einmal ein rechtsschutzversicherter
Verbraucher wagt, zu klagen, bedienen sich die Beklag-
ten nicht selten in rechtsmissbräuchlicher Weise des In-
struments der Kettenstreitverkündung, bis die Gerichts-
kosten auf einen prohibitiv hohen Betrag angeschwollen
sind und die Rechtsschutzversicherung die Deckungszu-
sage zurücknimmt oder der Verbraucher von selbst – er-
neut ganz rational – die Segel streicht .
Es gibt also in der Tat ganz erhebliche Missstände
beim Verbraucherschutz nach Anlagepleiten, und wir be-
grüßen jede Sensibilisierung für dieses Thema . Wenn wir
von den Bürgern in einer anhaltenden Niedrigzinsphase
und bei einer kriselnden Lebensversicherungsbranche
eine diversifizierte private Altersvorsorge erwarten, dann
gilt es, die Position von Verbrauchern gegenüber Finanz-
dienstleistern und -instituten zu stärken .
Der der BaFin auferlegte kollektive Verbraucherschutz
ist aber nicht die Kumulation individueller Schutzgewäh-
rung; die BaFin kann nicht und soll nicht zur Einzelfall-
streithelferin werden. Wir wollen einfachere, effiziente
und effektive Mittel, um die Defizite bei der Rechtsver-
folgung zu beheben .
Um die rationale Untätigkeit zu beenden, dürfen die
drohenden Gerichtskosten die zu erwartende Schadenser-
satzzahlung nicht überwiegen . Dafür muss die Informati-
onsasymmetrie überbrückt werden, die Streitverfolgung
muss für den Verbraucher einfacher und billiger werden,
und rechtsmissbräuchliche Taktiken der Beklagten müs-
sen unterbunden werden .
Der Bundesfinanzminister ist gefordert, die BaFin zu
einer schlagkräftigen Behörde auszubauen, die Sachver-
halte bei Verdachtsmeldungen schnell und umfassend
ermittelt . Geschädigten Anlegern muss bei den behördli-
chen Verfahren ein Akteneinsichtsrecht gewährt werden,
damit sie auf dieser Grundlage die Erfolgsaussichten ei-
ner zivilrechtlichen Klage mit größerer Sicherheit prog-
nostizieren können . Zudem sollte für den eingrenzbaren
Bereich der Prospekt- und Emittentenhaftung die Mög-
lichkeit einer Sammelklage geschaffen werden, damit
auch weit gestreute Schäden auf eine für alle Beteiligten
wirtschaftliche Weise gerichtlich geltend gemacht wer-
den können .
Eine Sammelklage funktioniert allerdings nicht, wenn
die Schäden so weit gestreut sind, dass selbst die Rechts-
anwaltsgebühren nach der Gebührenordnung zu rationa-
ler Untätigkeit führen . Daher muss für die Fälle der Sam-
melklage auch die Möglichkeit eines rechtsanwaltlichen
Erfolgshonorars in angemessener Höhe erlaubt sein . So
wird das Kostenrisiko für die Verbraucher auf null redu-
ziert; der mögliche Fehlanreiz zu einem zu frühen, zu
niedrigen Vergleich steht dahinter zurück .
Um schließlich die missbräuchlichen Kettenstreitver-
kündungen zu unterbinden, muss das Kostenregime der
Zivilprozessordnung geändert werden . Der Streitverkün-
der soll bis zum Urteil den Kostenvorschuss tragen .
Mit diesen Regelungen wird die Verbraucherposition
spürbar gestärkt werden, ohne dass es zu Mehrkosten
für rechtschaffende Prospektersteller, Emittenten oder
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617158
(A) (C)
(B) (D)
Berater käme . Kern dieser Regelungen muss aber eine
schlagkräftige Finanzaufsicht sein, wofür Herr Minister
Schäuble weiterhin in der Verantwortung steht .
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
bewachungsrechtlicher Vorschriften (Tagesord-
nungspunkt 20)
Dr. Kristina Schröder (Wiesbaden) (CDU/CSU):
Ich freue mich sehr, dass wir heute den vom Bundeswirt-
schaftsministerium vorgelegten Entwurf eines „Geset-
zes zur Änderung bewachungsrechtlicher Vorschriften“
in den Bundestag einbringen . Damit starten wir auf die
Zielgrade eines Reformprozesses, den wir Wirtschaftspo-
litiker, aber auch unsere Kollegen aus dem Innenressort
auf Bundes- wie Länderebene schon lange vorantreiben;
denn es besteht große Einigkeit darüber, dass wir klarere
Regeln für die private Sicherheitswirtschaft brauchen:
Die Branche ist in den vergangenen Jahren ein wich-
tiger Pfeiler unserer deutschen Sicherheitsarchitektur ge-
worden, und die Mitarbeiter privater Sicherheitsfirmen
ergänzen die Arbeit der Polizei der Länder und des Bun-
des in vielen Bereichen . Ohne sie wären Großveranstal-
tungen wie Fußballspiele oder Konzerte, aber auch der
Schutz kritischer Infrastruktur undenkbar .
Insofern diskutieren wir heute zwar nicht die Über-
tragung von staatlichen Hoheitsrechten an private Un-
ternehmen – das Gewaltmonopol möchte niemand hier
aufweichen –, es geht jedoch in der Tat um elementare
sicherheitspolitische Fragestellungen . Dessen sind sich
alle bewusst, die an der Novelle mitarbeiten, und ich bin
sehr froh über die sehr konstruktive Zusammenarbeit mit
den Kollegen aus dem Innenausschuss .
Wir stellen also fest:
Gemessen an der hohen Verantwortung der Branche
ist die gesetzliche Regulierung unzureichend . Deswegen
hat die Koalition von CDU, CSU und SPD in ihrem Koa-
litionsvertrag festgelegt, an private Sicherheitsdienstleis-
ter verbindliche Anforderungen an Seriosität und Zuver-
lässigkeit zu stellen .
In Erinnerung ist uns allen noch der Vorfall in einer
Flüchtlingsunterkunft in Burbach in Nordrhein-Westfa-
len, als dort 2014 Bewacher Flüchtlinge massiv drang-
saliert haben, und nach dem wegen einer Terrordrohung
abgesagten Länderspiel in Hannover im November 2015
hat sich gar herausgestellt, dass ein mutmaßlicher Isla-
mist unter den vom Deutschen Fußballbund beauftrag-
ten Ordnern einer privaten Sicherheitsfirma war. Keiner
möchte, dass sich so etwas wiederholt . Deswegen muss
der Gesetzgeber jetzt dringend gegensteuern, bevor es zu
noch schwereren Vorfällen kommt .
Die Anforderungen und Regeln für das Sicherheitsge-
werbe sind in der Gewerbeordnung – § 34a – und der zu-
gehörigen Bewachungsverordnung festgeschrieben . Des-
wegen ist auch der Wirtschaftsausschuss federführend .
Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe unter Leitung des
BMWi hat unter Einbeziehung aller beteiligten Akteure –
IHKen, Gewerbeämter, Unternehmen, Verband usw . –
Eckpunkte für eine Novelle ausgearbeitet, die seit Ende
des letzten Jahres vorliegen . Das BMWi hat daraus den
vorliegenden Gesetzentwurf entwickelt, um die beste-
hende Unterregulierung in der Branche zu beenden . Ziel
des Gesetzentwurfs ist es, durch höhere Standards und
durch die Verbesserung des Vollzugs die Bürger zu schüt-
zen und das Vertrauen in die Branche aufrechtzuerhalten .
Die Anforderungen sind im europäischen Vergleich
mit am niedrigsten:
Derzeit schreibt die Gewerbeordnung strengere Re-
gelungen für die Bewachung von Diskotheken und für
Kaufhausdetektive als für diejenigen vor, die in Flücht-
lingsunterkünften arbeiten .
Zweitens . Um die Zuverlässigkeit, das heißt die Se-
riosität, der Bewacher zu prüfen, langt es aus, einmalig
zu Beginn der Tätigkeit ein einfaches polizeiliches Füh-
rungszeugnis abzufragen. Das heißt, später stattfindende
Verurteilungen und laufende Verfahren fallen unter Um-
ständen nie auf . Auch Abfragen beim Verfassungsschutz
hat es bislang nur in seltenen Fällen gegeben .
Drittens . Für das Personal reicht meist eine 40-stün-
dige Unterrichtung ohne Prüfung bei einer IHK aus, um
eingesetzt werden zu dürfen . Auch um als Unternehmer
ein Sicherheitsgewerbe anzumelden, braucht man nur ei-
nen Sitzschein .
Viertens . Außerdem lässt die Transparenz in der Bran-
che zu wünschen übrig . Es gibt bislang keine einheitli-
chen Ausweise für Sicherheitspersonal und auch kein
Branchenregister . Insgesamt können sich nach der aktu-
ellen Gesetzeslage auch Unternehmen mit sehr niedrigen
Standards in der Branche halten .
Der Gesetzentwurf umfasst daher folgende zentrale
Verbesserungen zur Qualitätssteigerung:
Wer ein Sicherheitsgewerbe anmelden möchte, muss
zukünftig eine Sachkundeprüfung ablegen . Eine Unter-
richtung reicht nicht mehr aus . Auch für das Personal in
Flüchtlingsunterkünften und bei zugangsbeschränkten
Großveranstaltungen wie Fußballspielen und Konzerten
werden die Prüfungsanforderungen erhöht . Die Zuverläs-
sigkeitsprüfung für die Unternehmer und das Personal,
die das zuständige Gewerbeamt durchführt, wird erheb-
lich erweitert, sodass Straffälligkeiten und Verbindungen
zu extremistischen Gruppen zukünftig besser und schnel-
ler erkannt werden können . Die Zuverlässigkeitsprüfung
muss außerdem alle drei Jahre wiederholt werden . Den
schwarzen Schafen unter den Unternehmern sowie den
Angestellten kann so in Zukunft konsequent die Erlaub-
nis der Gewerbebehörde entzogen werden . Ein bundes-
weites, elektronisch auswertbares Bewacherregister wird
aufgebaut, sodass bei Kontrollen Informationen über die
notwendigen Unterrichtungs- und Sachkundenachweise
sowie die Zuverlässigkeit schnell beschafft werden kön-
nen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17159
(A) (C)
(B) (D)
Insbesondere für die Aufnahme des Registers – mit
festem Stichtag für die Inbetriebnahme – haben mein
Kollege Marcus Held, Berichterstatter der SPD, und ich
uns bereits im Vorfeld intensiv eingesetzt . Wir danken
dem BMWi, dass dieser Punkt bereits vor Kabinettsbe-
schluss in den Regierungsentwurf aufgenommen wurde .
Einige weitere Punkte werden wir uns jetzt im parla-
mentarischen Verfahren vornehmen:
Wir können uns vorstellen, die Möglichkeiten zur Ver-
fassungsschutzabfrage noch auszuweiten . Diese Ansicht
unterstützt übrigens auch der Bundesrat in seiner Stel-
lungnahme . Dass ein den Behörden bekannter Islamist
als Ordner bei einem Fußballspiel zum Einsatz kommt
oder dass ein Rechtsextremer eine Flüchtlingsunterkunft
bewacht, möchten wir auf jeden Fall vermeiden . Welche
Maßnahmen hier sinnvoll sind, werden wir noch prüfen .
Auch beim Bewacherausweis können wir uns noch
mehr vorstellen . Für Kontrollen und die Erkennbarkeit
für den Bürger wäre ein bundesweit einheitlicher Aus-
weis von Vorteil, der auch offen getragen werden muss .
Außerdem wollen wir eine Regelung für Gewerbe-
treibende und Bewacher ergänzen, die sich in den ver-
gangenen fünf Jahren vor der Zuverlässigkeitsprüfung
nicht dauerhaft in Deutschland oder der EU aufgehalten
haben . In diesen Fällen ist es oft nicht möglich, die er-
forderlichen Auskünfte für die Zuverlässigkeitsprüfung
einzuholen, und wir wollen, dass dann die Erlaubnis ver-
sagt werden kann; denn es macht keinen Sinn, insgesamt
die Anforderungen an die Zuverlässigkeit der Mitarbei-
ter dieser Branche zu erhöhen, aber bei neuen Bürgern
auf jede Überprüfung der Zuverlässigkeit zu verzichten .
Nach fünf Jahren kann davon ausgegangen werden, dass
den inländischen Behörden ausreichend Anhaltspunkte
vorliegen .
Diese Aufgaben nehmen wir uns für die kommenden
Wochen vor . Es wird eine Neuregelung mit Augenmaß
geben, die innenpolitische und wirtschaftspolitische Er-
wägungen berücksichtigt und nur dort regulierend ein-
greift, wo wir uns begründet einen Mehrwert verspre-
chen .
Schließlich gilt es auch, die Gewerbe- und Betäti-
gungsfreiheit zu berücksichtigen und unnötige Büro-
kratie für die Unternehmen und die Verwaltung zu ver-
meiden . Das klare Ziel ist es, das Gesetz zur Änderung
bewachungsrechtlicher Vorschriften noch vor der Som-
merpause zu verabschieden .
Marcus Held (SPD): Heute beraten wir in erster Le-
sung den Entwurf eines „Gesetzes zur Änderung bewa-
chungsrechtlicher Vorschriften“ . Der Gesetzentwurf ist
das Ergebnis eines Eckpunktepapiers einer Bund-Län-
der-Arbeitsgruppe zu dem Thema . Diese hatte sich nach
verschiedenen Vorfällen und Übergriffen in Flüchtlings-
heimen formiert, um Vorschläge zur Verschärfung des
gewerblichen Bewachungsrechts und zur Verbesserung
des Vollzugs in diesem Bereich zu machen .
Private Sicherheitsdienste sind, wie ich damals in mei-
ner Rede hier betont habe, ein wichtiger Bestandteil in
der Sicherheitsarchitektur Deutschlands und an vielen
Stellen nicht mehr wegzudenken . Daher hatte sich die
Frage gestellt, ob die derzeitigen Anforderungen an die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im privaten Sicher-
heitsgewerbe noch dieser gestiegenen Bedeutung ent-
sprechen . Damit werden wir uns intensiv auseinanderzu-
setzen haben .
Auf dem Tisch liegt nun ein Gesetzentwurf aus dem
Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, zu dem
es auch schon eine Stellungnahme des Bundesrates und
die entsprechende Gegenäußerung der Bundesregierung
gibt .
Wichtig ist dabei vor allem, das Wesentliche im Blick
zu halten, nämlich, die schwarzen Schafe, die es im pri-
vaten Sicherheitsgewerbe gibt, einzudämmen und die
bisher seriösen privaten Sicherheitsdienste, die sich bis-
her nichts haben zu Schulden kommen lassen und gut
qualifiziertes Personal beschäftigen, zu stärken.
Einige Worte zu dem vorliegenden Gesetzentwurf:
In Bezug auf die Sachkunde des Bewachungsunter-
nehmers und -personals sieht der Gesetzentwurf laut
§ 34a Absatz 1 Satz 3 Nummer 3 Gewerbeordnung eine
Sachkundeprüfung als Erlaubnisvoraussetzung für die
Bewachungsunternehmer vor . Ebenso soll es für das Be-
wachungspersonal in leitender Funktion nun auch eine
Sachkundeprüfung in Flüchtlingsunterkünften und bei
zugangsgeschützten Großveranstaltungen geben, wie es
in § 34a Absatz 1a Satz 2 Nummern 4 und 5 Gewerbe-
ordnung steht .
In Bezug auf die Zuverlässigkeit soll es im Gesetz-
entwurf für den Bewachungsunternehmer nun neben der
Auskunft aus dem Gewerbezentralregister und der un-
beschränkten Auskunft aus dem Bundeszentralregister
auch die Möglichkeit einer Auskunft der Polizeibehörde
und einer Abfrage beim zuständigen Landesverfassungs-
schutz geben . Für das Wachpersonal kann diese Abfrage
beim Landesverfassungsschutz erfolgen, wenn es, wie
bei der Sachkunde, in leitender Funktion Flüchtlingsun-
terkünfte oder zugangsgeschützte Großveranstaltungen
bewacht .
Weiterhin werden wir im parlamentarischen Verfahren
auch die Vorschläge des Bundesrates prüfen . Die Bun-
desländer fordern in ihrer Stellungnahme, dass eine Ab-
frage bei der Verfassungsschutzbehörde nicht nur mög-
lich ist, sondern gleich gesetzlich vorgeschrieben wird .
Ebenso fordert der Bundesrat eine Überprüfung von
Gewerbetreibenden, die sich nicht dauerhaft im Inland
oder in einem EU/EWR-Staat aufgehalten haben, nach
fünf Jahren .
Daneben werden wir uns mit den Themen „Einheit-
licher Bewacherausweis“ und „Errichtung eines Bewa-
cherregisters“ auseinanderzusetzen haben, zu denen uns
vonseiten des Ministeriums und des Bundesrates Vor-
schläge gemacht wurden . Wir werden die Zeit im par-
lamentarischen Verfahren, auf welche ich mich freue,
nutzen, um uns intensiv damit zu befassen . Mit meiner
Kollegin aus der Union, Frau Dr . Schröder, stehe ich
hierzu in gutem Kontakt . Der Gesetzentwurf bildet eine
gute Diskussionsgrundlage .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617160
(A) (C)
(B) (D)
Ich hoffe, dass wir als SPD-Bundestagsfraktion nach
Ende des Gesetzgebungsverfahrens ein ordentliches Ge-
setz auf den Weg gebracht haben, welches seriöse private
Sicherheitsunternehmen mit gut ausgebildetem Personal
stärkt und wodurch Vorfälle, wie wir sie in der Vergan-
genheit erleben mussten, eingedämmt werden .
Thomas Lutze (DIE LINKE): Die sogenannte
Flüchtlingskrise hat der Sicherheitsbranche einen Boom
beschert: Rund 10 000 der rund 219 000 Beschäftigten
im Bewachungsgewerbe sind in Flüchtlingsheimen tätig .
Gab es im Jahr 2000 noch 2 570 Wach- und Sicherheits-
dienste, sind jetzt rund 4 000 Firmen auf dem Markt . Die
Zahl der Mitarbeiter ist von rund 171 000 im Jahr 2010
auf nun rund 219 000 Mitarbeiter angestiegen .
Die Mitarbeiter in privaten Sicherheitsdiensten, die
zuständig für die Bewachung von Flüchtlingsunterkünf-
ten sind, sind oft bewaffnet, obwohl sie im Durchschnitt
nur etwa zwei Wochen geschult werden . Die Liste der
Vorfälle, in denen es in den letzten Jahren zu Fehlver-
halten und Straftaten durch Sicherheitspersonal kam, ist
lang: Die grausamen Misshandlungen von Asylbewer-
bern in Burbach im Siegerland sind nicht der einzige
erschreckende Vorfall . Hinzu kommen mehrere Berichte
von gewalttätigen Übergriffen durch Sicherheitsperso-
nal, ein Granatwurf auf ein von der Konkurrenz bewach-
tes Asylbewerberheim sowie Schikanen und Gewaltan-
drohungen .
Die Linksfraktion begrüßt daher, dass die Bundesre-
gierung nun angesichts der weiter steigenden Zahl von
Bewachungsunternehmen erhöhte Standards einführen
möchte, ebenso die regelmäßige Überprüfung von Unter-
nehmen und Personal . Es muss gesetzlich sichergestellt
werden, dass die Gewerbetreibenden und das Personal
Standards der persönlichen Eignung, Zuverlässigkeit
und Sachkunde erfüllen . Obwohl wir einzelne Maßnah-
men begrüßen und glauben, dass sie eine Verbesserung
darstellen, sehen wir den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung dennoch kritisch .
Insbesondere zu kritisieren ist die vorgesehene Mög-
lichkeit des Datenabgleichs mit den Landesämtern für
Verfassungsschutz . Es ist nicht geregelt, ob die Landes-
ämter lediglich melden, ob es einen Treffer im nachrich-
tendienstlichen Informationssystem gibt oder nicht oder
ob die Landesämter im eigenen Ermessen eine Zuverläs-
sigkeitsprognose abgeben sollen . Es ist nicht einmal ein-
deutig festgelegt, dass sie sich überhaupt oder jedenfalls
wahrheitsgemäß äußern müssen . Ebenso fehlen jegliche
datenschutzrechtliche Regelungen zum Umgang mit den
an die Landesämter übermittelten Daten, was beispiels-
weise Speicherung und Löschung betrifft .
Unverständlich ist am Gesetzentwurf auch, dass die
Regelungen zum Fachkundenachweis nur bei bestimm-
ten Tätigkeiten, nicht aber im gesamten Wachschutzge-
werbe gelten sollen . Wir müssen auch feststellen, dass
der Gesetzentwurf der Bundesregierung den gefährlichen
Trend des Abbaus des staatlichen Gewaltmonopols fort-
setzt .
Denn die vermeintliche Notwendigkeit des Einsatzes
privater Bewachungsunternehmen ist insbesondere Re-
sultat des massiven Stellenabbaus bei Polizeibeamten
im Streifen- und Schutzdienst . In vielen Bundesländern
sinkt die Zahl weiter oder stagniert trotz steigenden Be-
darfs . Wir haben es hier mit einem Ausverkauf der öf-
fentlichen Sicherheit zu tun . Zwar wird durch Kontrolle
und Transparenz privater Sicherheitsunternehmen auf die
katastrophale Situation reagiert, jedoch ändert das nichts
daran, dass die gegenwärtige Entwicklung hinsichtlich
der Privatisierung von Sicherheitsaufgaben grundsätzlich
bedenklich ist . Hier muss dringend umgedacht werden!
Und lassen Sie mich auch ganz klar sagen: Die Aus-
bildung sogenannter Hilfspolizisten im Schnellverfahren
ist sicherlich nicht der richtige Weg . Nach maximal drei
Monaten Ausbildung bereits mit Schusswaffe in Flücht-
lingsunterkünften eingesetzt zu werden, wo schnell eine
Situation entstehen kann, unter großem Stress eine Ent-
scheidung zu treffen, kann verheerende Folgen haben .
Hierzu braucht es vielmehr eine intensive Polizeiausbil-
dung und umfassende Rechtskenntnisse .
Halten wir fest: Die geplanten Änderungen führen
zwar zu einer Verbesserung der gegenwärtigen Situation,
das Grundproblem der Erosion des staatlichen Gewalt-
monopols bleibt jedoch bestehen . Die Linke wird ihre
Verbesserungsvorschläge in die Ausschussberatung ein-
bringen .
Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das
Eckpunktepapier des Bund-Länder-Ausschusses „Ge-
werberecht“ zur Überarbeitung des Bewachungsrechts
hatte die Hoffnung geweckt, die Zeit für eine wirkliche
Reform des privaten Sicherheitsgewerbes wäre endlich
gekommen . Aber leider löst der vorliegende Gesetzent-
wurf dieses Versprechen nicht ein . Zu viele wichtige
Punkte wurden nicht aufgegriffen oder sind zwischen-
zeitlich unter den Tisch gefallen .
Eine Sachkundeprüfung sollte in weiteren Bereichen
eine selbstverständliche Voraussetzung für die Aufnah-
me einer Tätigkeit sein, die den Schutz von Menschen
und kritischer Infrastruktur – gerade auch in Ausnahme-
situationen – zum Gegenstand hat . Dabei reicht es nicht,
wenn nun die Geschäftsleitung entsprechend geschult
wird . Die Kompetenzen und Fähigkeiten müssen vor Ort
vorhanden sein, damit sie abrufbar sind, wenn sie be-
nötigt werden . Und die Anforderungen der praktischen
Arbeit sind vielfältig und hoch . Daher braucht es auch
entsprechende Qualitätsstandards für die Ausbildung der
Sicherheitskräfte .
Der vorliegende Gesetzentwurf kann das aber in kei-
ner Weise garantieren . Es fehlen entsprechende konkrete
Vorgaben in Bezug auf Inhalt und Qualität der Ausbil-
dung, und die Einhaltung entsprechender gesetzlicher
Vorgaben muss notwendigerweise auch vor Ort überprüf-
bar sein . Hier liegt eine weitere große Schwäche des vor-
liegenden Gesetzentwurfs; denn das noch im Eckpunkte-
papier diskutierte bundesweite Register wurde ersatzlos
gestrichen . So sind Kontrollen vor Ort praktisch nicht
sinnvoll möglich .
Dies alles trägt nicht dazu bei, den dringend notwen-
digen Qualitätswettbewerb im Sicherheitsgewerbe zu
fördern . Ich bin daher wenig optimistisch, dass die Serie
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17161
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schwerster Übergriffe durch Beschäftigte von Sicher-
heitsdiensten, wie wir sie in Flüchtlingsunterkünften er-
leben mussten, nicht wieder aufflammen wird. Es sollte
uns sehr zu denken geben, wenn betroffene Wirtschafts-
verbände mehr Regulierung in ihrem Bereich fordern .
Auch finde ich nicht, dass der Gesetzentwurf die
schrecklichen Vorfälle des letzten Jahres angemessen be-
rücksichtigt . Wir müssen davon ausgehen, dass überhaupt
nur die Spitze des Eisberges öffentlich bekannt geworden
ist . Doch schon die bekannten Fälle lassen strukturelle
Defizite erkennen, die ein entschiedenes Eingreifen des
Gesetzgebers geboten erscheinen lassen .
Wir brauchen im Sicherheitsgewerbe einen Berufs-
stand, der sich höheren Zielen verpflichtet sieht. Es kann
nicht sein, dass der Staat den Schutz von geflüchteten
Menschen in die Hände von Personen legt, die selbst
Protagonistinnen oder Protagonisten einer rechten Be-
wegung sind . Entsprechende Informationen des Verfas-
sungsschutzes sollten daher regelmäßig und nicht nur,
wie im Gesetzentwurf vorgesehen, in Ausnahmefällen
berücksichtigt werden .
Die Polizei ist den Grundrechten, der Demokratie und
dem Rechtsstaat verpflichtet. Der Anspruch an private
Sicherheitsdienste im Sinne dieser verfassungsrechtli-
chen Werteordnung kann nicht geringer sein . Das sind
allgemeine Grundsätze, die allgemeine Geltung haben
müssen . Sie gelten aber in besonderer Weise, wenn Si-
cherheitsdienste die Polizei unterstützen sollen . Der vor-
liegende Gesetzentwurf greift berechtigte Bedenken in
diesem Bereich nicht auf .
Dass Zuverlässigkeitsprüfungen nun wenigstens häu-
figer und unter Einbeziehung einer unbeschränkten Aus-
kunft aus dem Bundeszentralregister erfolgen sollen, ist
aber zumindest ein Schritt in die richtige Richtung . Auch
die Verbesserungen, die für den Bereich der Unterbrin-
gung geflüchteter Menschen gelten werden, sind zu be-
grüßen .
Mit unserem Antrag „Private Sicherheitsfirmen um-
fassend regulieren und zertifizieren“ haben wir, die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, bereits vor eineinhalb
Jahren mehr gefordert . Diesen Weg wollten Sie damals
nicht mitgehen . Der Gesetzentwurf heute ist daher nur
ein erster Schritt in die richtige Richtung .
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur besseren
Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf für
Beamtinnen und Beamte des Bundes und Solda-
tinnen und Soldaten sowie zur Änderung weiterer
dienstrechtlicher Vorschriften (Tagesordnungs-
punkt 21)
Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Zur ersten Beratung
des Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie,
Pflege und Beruf für Beamte und Soldaten möchte ich
Ihnen die Eckpunkte dieses Gesetzentwurfs zunächst
kurz vorzustellen:
Angesichts der kontinuierlich zunehmenden Zahl der
Pflegebedürftigen in unserer Gesellschaft stehen auch
immer mehr Beamtinnen, Beamte, Soldatinnen und Sol-
daten vor der Aufgabe, sich innerhalb der Familie aktiv
in die Pflege einzubringen. Tritt ein akuter Pflegefall
ein, müssen die Pflegenden ihren Alltag oft grundlegend
verändern; sie müssen kurzfristig eine professionelle
Unterstützung organisieren oder auch selbst für länge-
re Zeit die häusliche Pflege übernehmen. Dies stellt sie
besonders dann vor große Herausforderungen, wenn sie
berufstätig sind . Wir unterstützen mit diesem Gesetzent-
wurf unsere pflegenden Beschäftigten, ihren Beruf und
die Pflege besser in Einklang zu bringen.
Die neuen Regelungen erleichtern es einerseits Fa-
milien, Pflege und berufliche Verpflichtungen besser zu
vereinbaren, andererseits leisten sie auch einen wichtigen
Beitrag zur Fachkräftesicherung und dienen so den Inte-
ressen der Arbeitgeber . Der Bedarf jedenfalls ist da:
Bereits seit Juli 2013 können Beamte des Bundes ei-
nen Antrag auf Familienpflegezeit stellen. Allerdings
liegt die Bewilligung noch im Ermessen des Dienstherrn .
Im vergangenen Jahr hat das Bundesministerium des
Innern eine Ressortabfrage bei den obersten Bundesbe-
hörden durchgeführt, um einen Überblick zu erhalten,
in welchem Umfang Familienpflegezeit in Anspruch
genommen wurde . Diese Abfrage ergab, dass im Zeit-
raum von Juli 2013 bis einschließlich Februar 2015 von
insgesamt 15 gestellten Anträgen auf Familienpflegezeit
14 Anträge bewilligt wurden .
Wer den demografischen Wandel in den Blick nimmt,
der weiß, dass der Pflegebedarf in den nächsten Jahren
zunehmen wird . Diesen Entwicklungen muss sich auch
der Staat als Arbeitgeber stellen . Wir müssen bereits heu-
te darauf reagieren und die entsprechenden Weichen für
einen leistungsfähigen öffentlichen Dienst stellen . Dies
wird nur dann gelingen, wenn er seine Verantwortung für
ein flexibles, familienorientiertes und gesundes Arbeiten
wahrnimmt und als Arbeitgeber für seine Mitarbeiter so-
wie für Nachwuchskräfte attraktiv bleibt .
Dabei müssen wir die Zeitsouveränität für die Be-
schäftigten auch im öffentlichen Dienst zukunftsfest
gestalten . Um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass
die Sorge für die Familie, insbesondere die Pflege von
Älteren, zukünftig mehr Zeit in Anspruch nehmen wird,
müssen Berufs- und Familienleben flexibler gehandhabt
werden können . Dies ist auch ein Ausdruck von Wert-
schätzung den eigenen engagierten Mitarbeitern gegen-
über .
Angesichts der hohen Bereitschaft, Familienangehö-
rige zu pflegen, ist es eine wichtige gesellschaftspoliti-
sche Aufgabe, die Rahmenbedingungen zur Vereinbar-
keit von Pflege und Erwerbstätigkeit für Beschäftigte zu
verbessern . Mit dem Gesetzentwurf soll deshalb nun ein
Rechtsanspruch auf Familienpflegezeit und Pflegezeit für
Beamte und Soldaten eingeführt werden .
Die Beschäftigten sollen zudem einen Vorschuss in
Anspruch nehmen können, um während der – teilwei-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617162
(A) (C)
(B) (D)
sen – Freistellung, die mit einer Gehaltsreduzierung
verbunden ist, ihren Lebensunterhalt weiter sichern zu
können . Hierzu werden das Bundesbeamtengesetz, das
Bundesbesoldungsgesetz und das Soldatengesetz ent-
sprechend angepasst . Damit wird das für die Privatwirt-
schaft und für Tarifbeschäftigte bereits seit dem 1 . Januar
2015 geltende Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Fa-
milie, Pflege und Beruf im Wesentlichen wirkungsgleich
im Beamten- und Soldatenbereich nachvollzogen .
Lassen Sie mich auf einen weiteren Punkt des Gesetz-
entwurfs zu sprechen kommen:
Ich will über Gewalt gegen Beschäftigte im öffent-
lichen Dienst sprechen . Leider ist dies mittlerweile ein
allgegenwärtiges Problem . Um diese zu bekämpfen, ha-
ben wir bereits eine Vielzahl von Maßnahmen getroffen .
So wurde die Ausrüstung von Polizisten verbessert, es
wurden Notrufknöpfe in Jobcentern installiert und Fort-
bildungen durchgeführt, die Personalausstattung wurde
erhöht, und Gesetzesänderungen im Strafgesetzbuch
wurden vorgenommen .
Jetzt gehen wir einen weiteren richtigen Schritt: Be-
amte, die Opfer von Gewalt werden, sollen aus Fürsor-
gegründen leichter Schmerzensgeld erlangen können .
Aus Gewalttaten folgen zwar in der Regel Schmerzens-
geldansprüche der Beschäftigten gegen die Täter, die
Vollstreckung des Anspruchs scheitert aber mitunter an
der fehlenden Leistungsfähigkeit des Schädigers . Beam-
te, aber auch Soldaten, die Opfer von Gewalt werden,
sollen mit der Durchsetzung derartiger Ansprüche nicht
alleingelassen werden .
Mit der Änderung des Bundesbeamtengesetzes sor-
gen wir jetzt dafür, dass in solchen Fällen zunächst der
Dienst herr zur Zahlung des Schmerzensgelds verpflichtet
wird . Dieser muss sich dann beim Täter schadlos halten .
Ein weiterer Punkt: Die Beihilferegelung in § 80 des
Bundesbeamtengesetzes wird neu gefasst . Zum einen
wird der Wortlaut an neue Formen der Leistungserbrin-
gung angepasst, zum anderen wird die Ermächtigungs-
grundlage für den Erlass der Rechtsverordnung prä-
zisiert . Eingefügt werden soll zudem ein gesetzlicher
Forderungsübergang von Erstattungs- und Schadens-
ersatzansprüchen von beihilfeberechtigten und berück-
sichtigungsfähigen Personen auf den Dienstherrn bei zu
Unrecht erbrachten Beihilfeleistungen .
Des Weiteren sollen Regelungen, die neu in die Richt-
linie über die Anerkennung von Berufsqualifikationen –
Richtlinie 2005/36/EG – aufgenommen worden sind, im
Dienstrecht des Bundes umgesetzt werden . Die Richtli-
nie sieht vor, dass sich die Mitgliedstaaten der Europä-
ischen Union über Berufsangehörige unterrichten müs-
sen, denen die Ausübung unter anderem einer ärztlichen
Tätigkeit untersagt worden ist . Ferner müssen sich die
Mitgliedstaaten über Personen unterrichten, die für den
Antrag auf Anerkennung der Berufsqualifikation ge-
fälschte Nachweise benutzt haben; dies ist der sogenann-
te Vorwarnmechanismus .
Diese europarechtlichen Vorgaben werden durch neue
Regelungen im Bundesbeamtengesetz und im Bundes-
disziplinargesetz umgesetzt .
Der Gesetzentwurf enthält darüber hinaus noch weite-
re Änderungen, die der redaktionellen Bereinigung sowie
der Klarstellung dienen .
Insgesamt haben wir hier aus meiner Sicht ein gutes
und ausgewogenes Paket vorgelegt . Ich möchte an dieser
Stelle einen Dank an alle Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter des öffentlichen Dienstes aussprechen, die täglich
Großartiges leisten .
Oswin Veith (CDU/CSU): In dieser Legislaturperio-
de stellt das Thema Pflege für die Union einen Schwer-
punkt dar . Unsere älter werdende Gesellschaft stellt uns
vor eine Reihe von schwierigen Fragen . Werden Men-
schen pflegebedürftig, sind in der Regel die Angehörigen
gefragt, sich um jene zu kümmern, die sich nicht mehr
selbst versorgen können . Viele Menschen entscheiden
sich in dieser Situation dafür, die Angehörigen selbst zu
pflegen und über einen gewissen Zeitraum die eigenen
beruflichen Ambitionen hintanzustellen. Folgen einer
solchen Entscheidung sind neben der Doppelbelastung
auch finanzielle Einbußen.
Die Koalition hat sich von Anfang an dieses Themas
angenommen und sichtbare Fortschritte gemacht . Ange-
fangen mit dem Gesetz zur Vereinbarkeit von Familie,
Pflege und Beruf, haben wir vor über einem Jahr für
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen Rechts-
anspruch auf Pflegeunterstützungsgeld geschaffen. In
einem akuten Fall können die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer ohne Krankschreibung eine zehntägige
Pflegeauszeit nehmen und erhalten einen Lohnersatz. Mit
der Möglichkeit, die Arbeitszeit vorübergehend zu redu-
zieren, müssen Arbeitnehmer nicht ihre Erwerbstätigkeit
aufgeben, und den Arbeitgebern bleiben die Arbeitskräf-
te so erhalten . Menschen, die Verantwortung für ihre Fa-
milien übernehmen wollen, wird so erheblich geholfen .
Nicht nur Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ken-
nen familiäre Notsituationen bzw. familiären Pflegebe-
darf, auch eine Vielzahl unserer Bundesbeamtinnen und
Bundesbeamten wollen und müssen Verantwortung für
ihre Angehörigen übernehmen können, wenn diese ihre
Hilfe benötigen . Daher hat sich die Union bereits nach
Verabschiedung des Gesetzes zur Pflegezeit für Ange-
stellte für die Übertragung auch auf die Bundesbeamten
ausgesprochen . Die Lebenslagen von Beamten und An-
gestellten sind in diesem Fall vergleichbar, und ähnlich
wie bei den Arbeitnehmern sollten auch Beamte An-
spruch auf eine Auszeit erhalten, wenn Angehörige zu
pflegen sind.
Somit begrüße ich es für die CDU/CSU-Bundestags-
fraktion, dass wir mit dem heute zur Debatte stehenden
Gesetz Möglichkeiten für die Familienpflege für die
Bundesbeamtinnen und Bundesbeamten schaffen . Damit
tragen wir nicht nur den Veränderungen in unserer Ge-
sellschaft Rechnung, sondern beseitigen zudem die Un-
gleichbehandlung von Angestellten und Beamten . Denn
auch Beamte sollen bei familiären Notlagen flexibel ein-
springen können .
Für die Bundesbeamtinnen und Bundesbeamten,
Richterinnen und Richter sowie Soldatinnen und Sol-
daten wird es ebenfalls einen Rechtsanspruch auf Fami-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17163
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(B) (D)
lien- und Pflegezeit geben. Dazu tritt ein Anspruch auf
Vorschuss, um die Gehaltseinbußen aufgrund verkürzter
Arbeitszeit abfedern zu können. Der Familienpflege-
zeitanspruch wird als eine Teilzeitbeschäftigung von ma-
ximal 24 Monaten bei einer wöchentlichen Arbeitszeit
von mindestens 15 Stunden ausgestaltet . Der Vorschuss
soll während der Pflegezeit gezahlt und anschließend mit
den Bezügen verrechnet werden .
Gleichzeitig enthält der Gesetzentwurf einen Anspruch
gegen den Dienstherren auf Schmerzensgeld im Falle ei-
ner Verletzung durch Dritte während des Dienstes . Diese
neue Regelung halte ich für ein wichtiges und richtiges
Signal für unsere Beamten, die sich tagtäglich für unsere
Bürger einsetzen . Viele vergessen, dass die Beamtinnen
und Beamten sich um die Sicherheit unserer Bürger küm-
mern und dabei täglichen Gefahren ausgesetzt sind . Im-
mer wieder kommt es vor, dass vor allem Polizeibeamte
während des Dienstes Opfer von Gewalttaten werden .
Auch Soldaten werden angegriffen, wenn sie im Wege
der Amtshilfe eingesetzt werden . Aus solchen Angriffen
resultieren in der Regel Schmerzensgeldansprüche gegen
den Schädiger .
Betrachtet man die Gewalttaten gegen Polizeibeamte
in den letzten Jahren, ist – das muss ich an dieser Stelle
leider sagen – eine negative Entwicklung klar erkennbar .
2014 wurden 700 Mitarbeiter von Rettungsdiensten so-
wie 60 000 Polizisten und Vollzugsbeamte angegriffen .
Im vergangenen Jahr wurden nach Angaben der Gewerk-
schaft der Polizei 62 000 Beamte angegriffen . Ein Trend
zu mehr Gewalt und Respektlosigkeit gegenüber Beam-
ten des Bundes und der Länder ist klar erkennbar, und
wir als Bund sehen uns deshalb verpflichtet, hier zu han-
deln . Der Gesetzentwurf sieht nun vor, dass der Bund für
angegriffene Beschäftigte die Schmerzensgeldansprüche
regelt, wenn der Täter zahlungsunfähig ist . Mit dieser
Regelung zeigen wir als Bund, dass wir Respektlosigkeit
und Gewalt gegen unsere Beamten nicht dulden, und las-
sen Betroffene nicht alleine mit ihren Ansprüchen gegen
oftmals mittellose Angreifer . Es kann nicht sein, dass die-
jenigen, die sich tagtäglich für die Belange des Gemein-
wohls und die Sicherheit der Bürger einsetzen, zuneh-
mend von Gewalt bedroht sind . Gesetzliche Lösungen
werden hier nicht ausreichen; wir benötigen ebenso ein
Umdenken in der Bevölkerung, hin zu mehr Respekt im
Umgang miteinander . Mit diesem ersten Schritt stellen
wir uns eindeutig hinter unsere Beamtinnen und Beamte .
Abschließend betone ich, dass wir mit diesem Gesetz-
entwurf unser Ziel weiter fortschreiben, den öffentlichen
Dienst attraktiver zu gestalten . Attraktiv ist ein Arbeitge-
ber, wenn er im Falle von Notsituationen Verständnis für
die Bedürfnisse der Arbeitnehmer hat . Wie auch schon
beim ersten Familienpflegegesetz, welches wir auch auf
die Bundesbeamten übertragen haben, übertragen wir
nun auch den Familienpflegezeitanspruch auf die Bun-
desbeamten . Ich werbe daher für eine breite Zustimmung
zum Gesetzentwurf .
Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): Plötzlich wurde
mein Mann zum Pflegefall: So höre ich es manchmal
in meiner Sprechstunde, und die dann folgenden Schil-
derungen der Menschen führen mir immer wieder vor
Augen, was Angehörige alles zu leisten haben, wenn
ein geliebter Mensch plötzlich gepflegt werden muss.
Das wirft den gesamten Alltag durcheinander, und viele
Fragen strömen auf die Betroffenen ein: „Wie soll der
Angehörige gepflegt werden, zu Hause oder in einer Ein-
richtung?“, „Wer soll nun pflegen, eine Fachkraft oder
jemand aus der Familie?“, „Was kostet das, und wie soll
das bezahlt werden?“, „Erhalte ich hier Unterstützung,
und welche?“ usw .
Jeden Tag stehen Familien vor dieser Situation, und
die Pflegebedürftigkeit, das wissen wir alle, wird deut-
lich zunehmen, wenn die Babyboomer, nämlich meine
Generation, in das fortgeschrittene Alter kommen . Nach
Berechnungen des Statistischen Bundesamtes wird sich
die Anzahl der Pflegebedürftigen in den nächsten 15 Jah-
ren auf rund 3,5 Millionen belaufen. Sehr häufig sind es
Frauen, die diese überaus wichtige und notwendige Ar-
beit leisten .
Schauen wir uns die aktuelle Situation an: Rund
2,6 Millionen Menschen waren Ende 2013 pflegebedürf-
tig, und rund 1,8 Millionen, das heißt mehr als zwei Drit-
tel davon, wurden zu Hause versorgt . Bei 1,25 Millionen
waren es Angehörige, die die Pflege übernahmen. Das ist
eine enorme Zahl und zeigt, welche Leistung in den Fa-
milien erbracht wird . Das verdient unsere Anerkennung,
und das darf in diesem Haus auch deutlich gesagt wer-
den .
Diese Situation betrifft natürlich auch viele Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer . Wir wissen, dass die Anzahl
der Erwerbstätigen unter den Pflegenden ansteigt und
weiter ansteigen wird, und wir müssen dem Rechnung
tragen, indem wir die Rahmenbedingungen dafür ver-
bessern . Wer seine Arbeitszeit reduziert oder sogar un-
terbricht, um einen Angehörigen zu pflegen, soll soweit
es geht Unterstützung erhalten . Hier sind wir als Gesetz-
geber gefragt, und wir haben in dieser Legislaturperiode
schon einige Anstrengungen unternommen, um die Situ-
ation für erwerbstätige Pflegende zu verbessern.
So haben wir mit dem Pflegezeitgesetz und dem Fa-
milienpflegezeitgesetz die Freistellungsmöglichkeiten
für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verbessert, bei
denen plötzlich eine Pflegesituation eintritt. Sie haben
seit dem 1 . Januar 2015 einen Anspruch auf vollständige
oder teilweise Freistellung und auf finanzielle Förderung.
Mithilfe des Pflegeunterstützungsgeldes können durch
die Pflegesituation entstandene finanzielle Engpässe re-
duziert werden . Das ist gut so und hat seit 2015 die Situ-
ation für die Menschen verbessert .
Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf wollen
wir diese Verbesserungen auf Beamtinnen und Beamte
und Soldatinnen und Soldaten übertragen . Das ist drin-
gend notwendig; denn natürlich gibt es auch hier viele
Menschen, die parallel zu ihrer Berufstätigkeit Angehö-
rige pflegen und betreuen, und auch hier wird sich die de-
mografische Situation niederschlagen und die Erwerbstä-
tigen verstärkt vor Herausforderungen stellen .
Mit dem Gesetzentwurf schaffen wir auch für diese
große und wichtige Beschäftigtengruppe einen Rechtsan-
spruch auf Familienpflegezeit und Pflegezeit. Sie haben
künftig einen Anspruch auf Familienpflegezeit von bis
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617164
(A) (C)
(B) (D)
zu 24 Monaten bei einer verbleibenden Arbeitszeit von
15 Stunden pro Woche. Darüber hinaus können sie Pfle-
gezeit beanspruchen bei bis zu sechs Monaten vollstän-
diger oder teilweiser Freistellung . Das schafft bei kurz-
fristigem Handlungsbedarf kurzfristige Freiräume . Bei
einer plötzlich eintretenden Pflegesituation wird dadurch
die Situation spürbar erleichtert . Auch hier ermöglichen
wir eine finanzielle Förderung, um den Lebensunterhalt
für die Betroffenen zu sichern .
Mit diesen Maßnahmen haben wir die Gruppe der Be-
amtinnen und Beamten sowie Soldatinnen und Soldaten
als wichtige Säulen in unserer Gesellschaft einbezogen,
und das ist gut so .
Wir haben mit dem Gesetzentwurf noch weitere Rege-
lungen in den Blick genommen, die zu verändern waren .
So wird es künftig möglich sein, vorübergehend zwei
Beamtenverhältnisse – das auf Lebenszeit und das auf
Widerruf oder Probe – nebeneinander zu haben . Damit
tragen wir den beruflichen Veränderungswünschen Rech-
nung und erleichtern den Wechsel in eine neue oder hö-
here Laufbahn . Das ist eine kleine Änderung, die auch
die Bürokratie entlastet und den öffentlichen Dienst fle-
xibler macht .
Darüber hinaus reagieren wir mit dem Gesetzentwurf
auf eine Entwicklung, die leider auch zu den Realitäten
von immer mehr Beamtinnen und Beamten gehört: Ge-
walt im Dienst . Besonders gefährdet sind hier Polizistin-
nen und Polizisten und Soldatinnen und Soldaten . Doch
auch Verwaltungsbeamtinnen und -beamte sind schon
bedroht und verletzt worden .
War es bislang so, dass die Opfer von Gewalt bei
Schadensersatzansprüchen häufig leer ausgingen, weil
die Schädiger nicht zahlen konnten, wird im Falle ei-
ner erfolglosen Vollstreckung künftig der Dienstherr die
Schadensersatzzahlung übernehmen . Ziel der Angriffe ist
nämlich stets die Instanz des öffentlichen Dienstes und
nicht etwa der Beschäftigte als Privatperson . Damit wird
sichergestellt, dass die Opfer von Gewalt in jedem Fall
ihre rechtlich erstrittenen Ansprüche auch durchsetzen
können . Das ist auch moralisch von Bedeutung und soll
einen Beitrag zur Anerkennung der Beschäftigten leisten .
Des Weiteren werden wir die Beihilfeverordnung
konkretisieren . Dazu gehört die Einführung eines Forde-
rungsübergangs von Schadensersatz- oder Erstattungs-
ansprüchen auf den Dienstherrn . Auch das kommt den
Beschäftigten zugute und hat unsere Zustimmung .
Weitere Bestandteile des Gesetzentwurfs sind auch
Anpassungen an EU-Normen . So werden Unterrichtungs-
pflichten bei Berufsverboten und Disziplinarverfahren in
den Bereichen Medizin, Gesundheitsversorgung und der
Erziehung Minderjähriger nachvollzogen . Es ist somit
ein Gesetzentwurf, der verschiedene Aspekte aufgreift
und dabei vor allen Dingen die Verbesserung der Situa-
tion von Beamtinnen und Beamten und Soldatinnen und
Soldaten im Blick hat . Das begrüßen wir ausdrücklich .
Dennoch gibt es hier und da noch Punkte, die im wei-
teren Verfahren zu diskutieren sind . So stellt sich zum
Beispiel die Frage, ob bei den Schadensersatzansprüchen
die geplante Bagatellgrenze von 500 Euro nicht im Sinne
der Beschäftigten aufzuheben wäre . Darüber werden wir
sicher noch einmal diskutieren; denn auch hier werden
die Maßgaben des Struck’schen Gesetzes greifen .
Ich freue mich auf die Beratungen in den Ausschüs-
sen .
Frank Tempel (DIE LINKE): Die Bundesregierung
hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem für die Be-
amtinnen und Beamten die Regelungen nach dem Pfle-
gezeitgesetz bzw. dem Familienpflegezeitgesetz weitge-
hend übernommen werden sollen . Dieses Anliegen wird
von der Linken ganz grundsätzlich begrüßt und unter-
stützt . Auch Beamtinnen und Beamte müssen die Mög-
lichkeit haben, ihre Angehörigen zu pflegen und danach
in ihren Beruf zurückzukehren .
Leider enthält der Gesetzentwurf an einzelnen Punk-
ten eine Schlechterstellung gegenüber Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmern, die für uns sachlich nicht
nachvollziehbar ist . Noch dazu enthält er sachfremde
Neuregelungen, die gesondert diskutiert werden müssen .
Zunächst zu den eigentlichen Regelungen zur Famili-
enpflegezeit:
Während Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen
klaren Rechtsanspruch auf Beurlaubung zur Pflege ihrer
Angehörigen haben, kann dies den Beamtinnen und Be-
amten mit Verweis auf „zwingende dienstliche Gründe“
verweigert werden. Diese Abweichung vom Pflegezeit-
gesetz ist für uns nicht nachvollziehbar; die Koalition
muss hier dringend nachbessern .
Eine Ungleichbehandlung sehen wir außerdem bei
den Regelungen zum Ausgleich des Verdienstausfalls .
Bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ist die
Sache klar: Sie erhalten ein Darlehen des Bundesamts
für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben . Bei
Beschäftigten mit geringem Verdienst gibt es Härtefall-
regelungen für die Stundung des Darlehens oder sogar
einen teilweisen Verzicht auf Rückzahlung . Beamtinnen
und Beamte müssen die während der Pflegezeit erhal-
tenen Bezüge über Abzüge von ihrem Sold zurückzah-
len, wenn die Pflegezeit vorbei ist. Für sie gibt es keine
Möglichkeit eines Teilerlasses dieser Rückzahlung . Auch
für die Stundung im Falle der weiteren Pflege über die
24-monatige Pflegezeit hinaus ist es in das Ermessen der
Dienststelle gestellt, ob sie niedrigere Raten für die Ab-
geltung des Darlehens genehmigt .
Ich weise gerade auch für die Öffentlichkeit darauf hin,
dass nicht alle Beamtinnen und Beamten wie die Made
im Speck leben, sondern gerade für die unteren Besol-
dungsgruppen Soldabzüge über einen längeren Zeitraum
existenziell bedrohlich sein können. Dort finden sich
überproportional viele Frauen, die zugleich in vier von
fünf Fällen die Pflegearbeit in der Familie übernehmen.
Der Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird hier also
ein Bärendienst erwiesen . Hier müssen klare Regelungen
analog zu den Regelungen des Familienpflegezeit- und
des Pflegezeitgesetzes geschaffen werden, und zwar im
Gesetz selbst und nicht, wie hier vorgesehen, auf dem
Verordnungswege .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17165
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(B) (D)
Lassen sie mich noch einen letzten Punkt in Bezug auf
die Pflegezeit ansprechen: Für die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer gelten die Regelungen ausdrücklich
auch für die Begleitung ihrer sterbenden Angehörigen .
Dem Wortlaut nach geht es für die Beamtinnen und Be-
amten nur um die Pflege und Betreuung. Das kann auch
die Sterbebegleitung meinen, muss es aber nicht . Auch
hier fordern wir eine Klarstellung im Gesetzgebungsver-
fahren .
Darüber hinaus bleibt es bei unserer Kritik am Pfle-
gezeitgesetz und am Familienpflegezeitgesetz, dass die
geforderte Rückzahlung des Darlehens für die Pflege –
im Falle der Beamten: die Verrechnung mit späteren Be-
zügen – gerade für Bezieherinnen und Bezieher geringer
Einkommen bzw . der untersten Besoldungsstufen ein
Armutsrisiko darstellt und dass die starren Regelungen
für die Befristung von Pflegezeit/Pflegeteilzeit keine fle-
xible Reaktion auf unterschiedliche Krankheitsverläufe
zulassen .
Ich will am Ende noch auf eine Reihe sachfremder Re-
gelungen des Gesetzentwurfs eingehen: Grundsätzlich zu
begrüßen ist die Regelung zur Übernahme von tatsäch-
lich nicht vollstreckbaren Schmerzensgeldansprüchen
durch den Dienstherrn . Sie ist aber leider nur als Ermes-
sens- statt als Ist-Regelung ausgestaltet, und die Mindest-
betragsgrenze von 500 Euro ist zu hoch angesetzt und
wird bei bereits gezahltem Unfallausgleich oder gezahl-
ter Unfallentschädigung nicht gezahlt . Schmerzensgeld
hat aber mit Unfallausgleich nichts zu tun .
Die Gesundheitsprävention wird aus der Beamten-
beihilfe herausgenommen . Das ist ein eklatanter Wider-
spruch zum Ziel der Gesunderhaltung der Beamtinnen
und Beamten im Rahmen der Demografie-Strategie der
Bundesregierung . Das wird absurderweise dazu führen,
dass Beamtinnen und Beamte Präventionsangebote der
gesetzlichen Krankenversicherungen annehmen müssen,
wenn es sie in ihrer Dienststelle gibt . Das würde eine un-
zulässige Kostenverschiebung bedeuten .
Ebenfalls zulasten der gesetzlichen Krankenversi-
cherungen und der unteren Besoldungsgruppen geht die
Neuregelung zur Kostenübernahme bei einem Wechsel
in die gesetzliche Krankenversicherung . Bislang konnten
die Beamtinnen und Beamten mit viel Mühe in die ge-
setzliche Krankenversicherung wechseln . Statt Beihilfe
zu zahlen, übernimmt der Staat dann den Arbeitgeberan-
teil . Nun wollen Sie diese Regelung einfach streichen .
Das ist genau der falsche Weg . Richtig wäre es, viel mehr
Beamtinnen und Beamte zum Wechsel in die gesetzliche
Krankenversicherung zu ermutigen .
Es gibt also im weiteren Gesetzgebungsverfahren
noch einiges zu tun . Wir werden Sie dabei gerne unter-
stützen .
Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Mit diesem Gesetz werden die Regelungen zur
besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf
wirkungsgleich auf Beamtinnen und Beamte sowie Sol-
datinnen und Soldaten übertragen . Das heißt, auch Be-
amte können sich jetzt für die Pflege bis zu 24 Monate
freistellen lassen und erhalten einen Vorschuss, der den
Verdienstausfall teilweise kompensiert . Leider hat das
ursprüngliche Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Fa-
milie, Pflege und Beruf zahlreiche Schwächen, und die
werden durch eine Ausweitung des Geltungsbereichs na-
türlich nicht behoben .
Die Darlehenslösung, die bei den Beamten durch ei-
nen Vorschuss, der später verrechnet wird, erreicht wird,
bedeutet unter dem Strich eine Einkommensreduzierung .
Die ausgefallenen Bezüge werden nur zum Teil kompen-
siert, und nach der Pflegezeit muss die Kompensation zu-
rückgezahlt werden . Die Einkommensreduzierung kann
bis zu vier Jahre dauern, wenn man die 24 Monate für
die Familienpflegezeit voll in Anspruch nimmt und an-
schließend 24 Monate zurückzahlt bzw . eine geringere
Vergütung erhält. Pflegezeit muss man sich also leisten
können . Die Gehaltseinbußen sind besonders für Gering-
verdiener – und die gibt es auch unter Beamten und Sol-
daten – nicht tragbar .
Für zwei Jahre die Arbeitszeit zu reduzieren, um zu
pflegen, kommt nur für diejenigen infrage, die in der
Nähe des Pflegebedürftigen leben. Die Tochter, die
300 Kilometer von der Mutter entfernt lebt, kann nicht
jeden Tag ein paar Stunden arbeiten und sich anschlie-
ßend um die Mutter kümmern . Und selbst wenn alles am
selben Ort stattfindet – die Arbeit, die Pflege, das Leben
in der eigenen Wohnung –, ist es nur möglich, das alles
zu vereinbaren, wenn der Pflegebedürftige nicht rund um
die Uhr jemanden braucht, der bei ihm ist . Menschen mit
Demenzerkrankungen kann man nicht stundenlang al-
leinlassen .
Unsere letzte Kleine Anfrage zur Inanspruchnahme
hat ergeben, dass für Pflegezeit und Familienpflegezeit
im letzten Jahr insgesamt 242 Darlehen vergeben wur-
den. Angesichts von 2,5 Millionen pflegebedürftigen
Menschen, von denen zwei Drittel zu Hause gepflegt
werden, ist das nichts .
Wir brauchen etwas anderes: Wir brauchen viel mehr
entlastende Angebote für Menschen, die sich entschei-
den, sich um ihren pflegebedürftigen Angehörigen,
Nachbarn oder Freund zu kümmern . Darum wollen wir
sowohl Beratungs- und Informationsangebote als auch
flexible Tages- und Nachtpflegeangebote inklusive Hol-
und Bringdiensten flächendeckend ausbauen. Konkret
heißt das: Wer Verantwortung übernimmt, erhält dauer-
haft Unterstützung – nicht nur bis zu 24 Monaten . Der
Pflegebedürftige wird nicht alleingelassen.
Die Pflegezeit selbst wollen wir nicht mit einem kni-
ckerigen, zurückzahlbaren Darlehen ausstatten, sondern
mit einer Lohnersatzleistung wie das Elterngeld . Diese
grüne Pflegezeit ermöglicht es, bis zu drei Monate kom-
plett aus dem Beruf auszusteigen, um alles Notwendige
für eine Pflege zu veranlassen: einzuschätzen, was not-
wendig sein wird, sich über Angebote und Ansprüche zu
informieren, die Leistungen zu beantragen und schließ-
lich alles zu organisieren .
Und das Beste daran: Unsere grüne PflegeZeitPlus –
die dreimonatige Freistellung mit Lohnersatzleistung
sowie die ergänzenden Angebote – gilt für alle Erwerbs-
tätigen, kommt allen zugute: Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern – auch in kleinen Betrieben –, Beamten,
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617166
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Soldatinnen und Soldaten und Selbstständigen . Selbst-
ständige und Angestellte kleiner Betriebe sind nämlich
bei den derzeitigen Gesetzen zur Vereinbarkeit von Fa-
milie, Pflege und Beruf weiterhin außen vor.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur
Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch
und anderer Gesetze (6. SGB IV-Änderungsge-
setz – 6. SGB IV-ÄndG) (Tagesordnungspunkt 22)
Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Wir verab-
schieden im Bereich Arbeit und Soziales eine Menge
Gesetzentwürfe, von denen wir denken, dass sie die Welt
besser und gerechter machen . Bei vielen dieser Gesetz-
entwürfe müssen wir uns danach allerdings anhören, dass
sie nur neue Bürokratie brächten und dass sie unverhält-
nismäßig viel Aufwand bedeuteten . Manchmal ist daran
etwas Wahres . Umso schöner ist es, dass wir heute über
einen Gesetzentwurf sprechen, der genau für das Gegen-
teil sorgt .
Es ist natürlich nicht der erste Gesetzentwurf dieser
Art . Im vergangenen Jahr haben wir es durch kluge Ge-
setzgebung geschafft, die Bürokratie zu bremsen . So ist
zum ersten Mal der zeitliche und finanzielle Aufwand ge-
sunken, den unsere Gesetze hervorrufen . In erster Linie
war dafür das Bürokratieentlastungsgesetz verantwort-
lich . Mindestens ebenso wichtig sind jedoch die vielen
kleinen Verbesserungen, die wir verabschiedet haben .
Nicht alle haben eine große mediale und öffentliche Auf-
merksamkeit erfahren, aber es sind Gesetzentwürfe wie
der vorliegende, die Schritt für Schritt die Bürokratie in
Deutschland eindämmen .
Es geht dabei um die Vereinfachung und Optimierung
von Meldeverfahren in der sozialen Sicherung . Das klingt
erst einmal sehr unspektakulär . Es handelt sich bei dem
Meldeverfahren jedoch um das größte und komplexes-
te Massenverfahren zur Weitergabe von Informationen
von den Arbeitgebern an öffentliche Stellen in Deutsch-
land . Daten von mehr als 40 Millionen Beschäftigten bei
etwa 3,7 Millionen Arbeitgebern müssen weitergegeben
werden . Insgesamt sind das pro Jahr etwa 400 Millionen
Meldevorgänge . Hier gibt es also eine Menge Raum, um
Bürokratie einzusparen .
Wir haben bereits im vergangenen Jahr einige Opti-
mierungen in dem Verfahren auf den Weg gebracht, die
den Erfüllungsaufwand um rund 126 Millionen Euro
reduziert haben . Die Vorschläge kamen aus dem Pro-
jekt „Optimiertes Meldeverfahren in der sozialen Siche-
rung“ – kurz: OMS –, in dem sich Fachleute zwei Jahre
Gedanken darüber gemacht haben, wie das Verfahren
besser, einfach und günstiger gemacht werden kann . Ar-
beitsgruppen mit Teilnehmern aus allen Bereichen der
Sozialversicherung bewerteten dann die eingereichten
Verbesserungsvorschläge .
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir nun
die übrig gebliebenen Verbesserungsvorschläge aus dem
Projekt um . So wird es pro Jahr weitere 43 Millionen
Euro weniger Erfüllungsaufwand für die Wirtschaft ge-
ben . Aber auch die Bürger sparen Zeit und Mühe . Durch
die verstärkte Möglichkeit des elektronischen Abrufs von
Bescheinigungen und durch die Reduzierung von Mel-
dungen werden sie spürbar entlastet .
Vom französischen Schriftsteller und Philosophen
Honoré de Balzac stammt aus dem 19 . Jahrhundert der
Satz:
Es gibt nur eine einzige von Zwergen bediente Rie-
senmaschinerie, und das ist die Bürokratie .
Wir wissen heute: Es sind keine Balzac’schen Fabelwe-
sen, die hinter der Bürokratiemaschine stecken . Wir sind
es selbst, die dafür sorgen können, dass die Riesenma-
schinerie zurückgebaut und kleiner wird und dass Unter-
nehmen sowie Arbeitnehmer mehr Zeit für die wichtigen
Dinge haben .
Dabei dürfen wir uns nicht ausruhen . Auch in Zu-
kunft muss gelten: Jeder Euro zusätzlicher Aufwand
muss durch einen Euro Entlastung begleitet werden . Das
fördert unsere Wettbewerbsfähigkeit und unseren Wohl-
stand . Dafür setzen wir uns ein .
Gabriele Schmidt (Ühlingen) (CDU/CSU): Be-
reits im letzten Jahr haben wir mit der Verabschiedung
des 5 . Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches So-
zialgesetzbuch und anderer Gesetze Rechtsklarheit und
Rechtssicherheit in den Meldeverfahren gestärkt und da-
durch eine Entlastung der Arbeitgeber durch optimierte
und vereinfachte Meldeverfahren erreicht; denn es hatte
sich herausgestellt, dass sich die Praxis erheblich weiter
entwickelt hat, als sie im Gesetz geregelt ist . Das Gesetz
definiert nunmehr klar wichtige Verfahrensbestandteile
der Meldeverfahren und stärkt damit die Verfahrenssi-
cherheit .
Mit dem vorliegenden Entwurf der Bundesregierung
eines 6 . Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches SGB
und anderer Gesetze setzen wir den eingeschlagenen
Kurs fort und weitere nunmehr ausgearbeitete Verbesse-
rungsvorschläge aus dem seit 2011 vom BMAS durch-
geführten OMS-Projekt – Optimiertes Meldeverfahren in
der sozialen Sicherung – um, an dem unter anderem So-
zialversicherungsträger, Bundesagentur für Arbeit, Sozi-
alpartner und andere Akteure mitgewirkt haben . Darüber
hinaus schließen wir eine bestehende Rechtsschutzlücke
im Arbeitsrecht . Dazu gleich mehr .
Der vorliegende Gesetzentwurf gilt primär der Ver-
besserung und Vereinfachung von technischen und orga-
nisatorischen Abläufen . Wir senken weiter Bürokratie-
kosten und entlasten die Arbeitgeber spürbar – um rund
43,5 Millionen Euro .
Wir reduzieren den Aufwand der Bürgerinnen und
Bürger, unter anderem durch die Möglichkeit des elek-
tronischen Abrufs von Bescheinigungen direkt vom Ar-
beitgeber durch die Träger der Unfallversicherung, um
rund eine Stunde im Einzelfall . Auch die Sozialversiche-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17167
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rungsträger werden durch qualitätsverbessernde Maß-
nahmen um 3,4 Millionen Euro jährlich entlastet .
Lassen Sie mich Ihnen ein paar Details der im Gesetz-
entwurf enthaltenen Optimierungen vorstellen:
Betriebsnummer und Zahlstellennummer werden ge-
setzlich definiert, es werden maschinenlesbare Codes auf
dem Sozialversicherungsausweis und die Möglichkeit
zur elektronischen Beantragung und Rückübermittlung
der Bescheinigungen über die Fortgeltung des Versi-
cherungsschutzes im Ausland eingeführt; wir schaffen
außerdem eine Grundlage für ein Informationsportal für
Arbeitgeber zu Basisfragen zur Sozialversicherung und
entlasten damit weiter die mittelständische Wirtschaft
von Bürokratie .
Das Qualitätsmanagement wird bei der Massenverar-
beitung von sensiblen Daten immer bedeutender . Auch
hier setzt der Gesetzentwurf an: Wir führen Prüfverfah-
ren für die Teile der Software der Sozialversicherungs-
träger ein .
Weitere Änderungen betreffen unter anderem die
Alterssicherung der Landwirte . Die rückwirkende Auf-
hebung von Bescheiden über den Zuschuss zu den
Aufwendungen für die freiwillige gesetzliche Kranken-
versicherung beugt einer Doppelbelastung der Alterssi-
cherung vor .
Nun komme ich auf die oben angesprochene Rechts-
schutzlücke zu sprechen, die wir mit dem Gesetz
schließen werden: Durch die neue Möglichkeit, eine
Nichtzulassungsbeschwerde gegen berufsverwerfende
Beschlüsse der Landesarbeitsgerichte beim Bundesar-
beitsgericht einzulegen, anstatt gleich Verfassungsge-
richte anzurufen – bislang die einzige Möglichkeit –,
wird das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den
Rechtsstaat gestärkt .
Zusammenfassend sind alle Änderungen notwen-
dig und sinnvoll . Sie sind die logische Fortsetzung der
Umsetzung der gemachten Vorschläge zur qualitativen
Verbesserung von Verfahren und ganz im Sinne aller Be-
teiligten. Von den Verbesserungsmaßnahmen profitieren
Wirtschaft, Verwaltung sowie jede und jeder Einzelne
von uns .
Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Mit dem vorliegenden
6 . SGB IV-Änderungsgesetz treten wir erneut auf die Bü-
rokratiebremse und vereinfachen umständliche und zeit-
raubende Verwaltungsvorgänge . Das machen wir jetzt in
der Sozialversicherung mit verbesserten elektronischen
Meldeverfahren . Ich freue mich, dass unsere Bundesre-
gierung den Kampf aufgenommen hat und das Bürokra-
tiemonster in seine Schranken weist .
Bürokratie kostet die Bürgerinnen und Bürger vor
allem Zeit und Nerven, und sie bremst darüber hinaus
unsere Wirtschaft aus . Besonders betroffen sind die etwa
vier Millionen kleinen und mittleren Unternehmen, un-
sere Fackelträger für Wachstum und Beschäftigung in
Deutschland . Weniger Bürokratie zahlt sich für sie in ba-
rer Münze aus und macht sie somit wettbewerbsfähiger,
kurbelt unsere Wirtschaft an und sichert Arbeitsplätze .
Welches Unternehmen wäre nicht froh über eine leis-
tungsstarke Verwaltung, die einen nicht mit Formularen
erschlägt! Eine gute Verwaltung ist also auch ein wichti-
ger Standortfaktor .
Worum geht es in dem Gesetzentwurf? Die elektroni-
schen Meldeverfahren in der sozialen Sicherung sollen
besser und effizienter organisiert und vereinfacht wer-
den – sowohl für Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber als
auch für die Verwaltung und natürlich für die Bürgerin-
nen und Bürger .
So führen wir jetzt unter anderem die maschinenles-
bare Verschlüsselung der Daten auf dem Sozialversiche-
rungsausweis ein . Das klingt nicht aufregend, spart aber
Zeit und Geld .
Viele Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sowie Sozial-
versicherungsträger werden sich über das beschleunigte
Verfahren freuen, weil sie zukünftig automatisch mit der
jeweils richtigen Sozialversicherungsnummer arbeiten
können und sich nicht mehr länger mit Fehlern und ent-
sprechenden Korrekturen abmühen müssen . Außerdem
wird die Möglichkeit zur elektronischen Beantragung
und schnellen elektronischen Zusendung der A1-Be-
scheinigungen geschaffen . Diese Bescheinigungen sind
nötig, um den Versicherungsschutz für Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer zu sichern, wenn sie vorüberge-
hend für Arbeitseinsätze ins Ausland entsandt werden .
Derzeit müssen dafür noch Antragsformulare aus Papier
umständlich und zeitraubend hin- und hergeschickt wer-
den – und die Bescheinigung selbst natürlich auch .
Kleinere und mittelständische Unternehmen werden
besonders von der Einführung des neuen Informati-
onsportals im Internet profitieren. Dort können Unter-
nehmerinnen und Unternehmer zukünftig schneller als
bisher an die wichtigsten Informationen zu allen sozial-
versicherungsrechtlichen Fragen herankommen, die die
Melde- und Beitragsverfahren ihrer Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter betreffen . Das wird ihnen viele Nachfragen
und dadurch Zeit ersparen – wertvolle Zeit, die sie nun in
ihren Betrieb investieren können . Auch die Übermittlung
von Entgeltbescheinigungsdaten wird vereinfacht .
Die Verbesserungen im SGB IV mögen für manche
kleinteilig klingen, das sind sie aber nicht . Im Gegenteil:
Die Auswirkungen für die Bürgerinnen und Bürger, für
die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber und auch für die
Sozialversicherungsträger sind enorm .
Schauen wir uns die Entlastungen einmal genauer an:
Die Bürgerinnen und Bürger gewinnen Zeit, nämlich
etwa 315 000 Stunden pro Jahr; denn die pauschale obli-
gatorische Meldung über Versorgungsbezüge entfällt in
Zukunft und muss nur noch von denjenigen abgegeben
werden, die über der Beitragsbemessungsgrenze liegen .
Für die Unternehmen verringert sich ihr Bürokra-
tieaufwand im Umfang von etwa 43,5 Millionen Euro
jährlich . Das geht auf die erwähnte Einführung des Infor-
mationsportals im Internet zu sozialversicherungsrecht-
lichen Melde- und Beitragsfragen zurück . Außerdem
werden die Firmen durch Qualitätsverbesserungen bei
den Fehlerrückmeldungen der Krankenkassensoftware
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617168
(A) (C)
(B) (D)
erheblich entlastet . In Zukunft werden die Fehler syste-
matisch erfasst und bereinigt .
Auch die Verwaltung spart jährlich etwa 3,4 Millionen
Euro . Durch das Internet-Informationsportal reduziert
sich die Anzahl der Anfragen aus den Unternehmen auch
für sie .
Diese Einsparungen sind beträchtlich, aber auch drin-
gend notwendig; denn jährlich finden sage und schreibe
etwa 400 Millionen Meldevorgänge von den Arbeitge-
bern zu den Sozialleistungsträgern und zurück statt, vor
allem Anmeldungen, Abmeldungen und monatliche Bei-
tragsmeldungen von Beschäftigten bei den Kranken- und
Unfallkassen, der Renten- und Arbeitslosenversicherung
und bei der Pflegeversicherung.
Damit das klappt, brauchen wir gute und leistungs-
fähige Systeme . Daher ist es die fortwährende Aufgabe
der Bundesregierung sowie der Sozialversicherungs-
und Sozialleistungsträger, die Funktionsfähigkeit dieses
wichtigen Systems zu erhalten und zu verbessern . Dazu
gehört, es zeitnah an tatsächliche, rechtliche und tech-
nische Veränderungen anzupassen, und dazu gehört, den
Aufwand für alle Beteiligten, insbesondere auch für die
Arbeitgeber, die die Hauptlast der Meldungen tragen,
soweit wie möglich zu beschränken und die Kosten so
gering wie möglich zu halten .
Durch diese Vereinfachungen, die Teil eines großen
Pakets im Rahmen der Meldevereinfachungen sind, ge-
winnen letztlich alle Bürgerinnen und Bürger, Betriebe
und die Verwaltung . Die durch Entbürokratisierung und
Entlastung gewonnene Zeit kann nun sinnvoller genutzt
werden, auch, um in Zukunft weiter auf die Bürokra-
tiebremse treten zu können und über anwenderfreundli-
che und datensichere Online-Verfahren zu noch schnel-
leren und einfacheren Lösungen zu kommen, nach dem
Motto: So wenig Verwaltung wie möglich und nur so viel
wie nötig .
Mit dem Gesetzentwurf schaffen wir also, wie man so
schön sagt, eine Win-Win-Situation für uns alle, und das
ist ja nicht immer der Fall . Vielleicht gelingt es uns mit
diesem Gesetzentwurf ja auch, ein Stück weit das alte
Sprichwort: „Von der Wiege bis zu Bahre: Formulare,
Formulare“, aus den Angeln zu heben .
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Erneut dürfen
wir uns mit der gesetzlichen Umsetzung des Projekts mit
dem schönen Titel „Optimiertes Meldeverfahren in der
sozialen Sicherung“ – kurz: OMS – beschäftigen, und wir
hoffen alle, dass dies zum letzten Mal geschehen werde .
Erste Maßnahmen des Projekts wurden Anfang ver-
gangenen Jahres mit dem sogenannten 5 . SGB IV-Ände-
rungsgesetz umgesetzt . Es hat sich jedoch herausgestellt,
dass einige Vorschläge noch nicht zur Umsetzungsreife
gediehen waren und deshalb nicht alle Vorschläge umge-
setzt werden konnten .
Prinzipiell ist erst einmal nichts dagegen einzuwen-
den, das Meldeverfahren in der Sozialversicherung durch
den elektronischen Datenaustausch sowie die Datenver-
arbeitung effektiver zu gestalten . Wenn die Träger der
Sozialversicherungen und die Unternehmen hiervon
profitieren: Gut so. Wenn als Nebeneffekt auch die Ver-
sicherten von beschleunigten Abläufen einen Nutzen
haben: Umso besser . Und dennoch: Oberste Priorität
müssen die Datensicherheit und der Datenschutz haben .
Werden Verschlüsselungsverfahren genutzt, so ist ins-
besondere beim Sozialdatenschutz sicherzustellen, dass
sensible persönliche Informationen nicht für unbefugte
Personen sichtbar und nutzbar werden .
Gegenüber dem Referentenentwurf wurden aufgrund
der Stellungnahmen der Verbände bzw . Sozialversiche-
rungsträger bereits einige Maßnahmen im Gesetzentwurf
weiter korrigiert, einige dagegen nicht . Einige wurden
gegenüber dem Referentenentwurf neu eingefügt, wie
etwa die Möglichkeit, dass die Krankenkassen nach
§ 171e SGB V sowie die Unfallkassen nach § 172c SGB
VII die Möglichkeit erhalten sollen, zehn Prozent der
Altersrückstellungen für die Betriebsrenten ihrer Be-
schäftigten in Aktien anzulegen . So sollen aufgrund der
Niedrigzinsphase höhere Zinsen erzielt werden, als durch
herkömmlichen Anlagen . Als ich das las, musste ich mir
nicht nur die Augen reiben, sondern habe ich – mit Ver-
laub – gedacht: Ich glaube, mein Schwein pfeift .
Dass ich mit dieser Einschätzung nicht ganz alleine
dastehe, zeigt die Stellungnahme des Bundesrates . Er
moniert, dass es sich bei der Altersrückstellung der ge-
setzlichen Krankenkassen um Beitragsgelder, also um
unser Geld, und nicht um privat von Arbeitnehmern und
Arbeitgebern einvernehmlich angesparte Wertguthaben
handele. Dabei ist gesetzlich klipp und klar definiert, dass
der Grundsatz der Anlagesicherheit Vorrang gegenüber
der Erzielung eines angemessenen Ertrages hat . Diesen
Grundsatz wollen sie aufgrund der miesen Kapitalrendi-
ten mit der geplanten Gesetzesänderung aushebeln .
Immerhin hatte der Bundesrat Ihnen eine Brücke ge-
baut und vorgeschlagen, die Änderungen in einer separa-
ten Gesetzesänderung zu regeln . Aber nicht einmal die-
sen Weg wollen Sie gehen .
Wir haben hier also noch erheblichen Beratungsbe-
darf, von dem wir im Ausschuss und in der geplanten An-
hörung sicherlich ausführlich Gebrauch machen werden .
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN): Nach dem 5 . Änderungsgesetz im
vergangenen Jahr kommt jetzt das 6 . Änderungsgesetz
im Vierten Sozialgesetzbuch . Hintergrund ist das vom
BMAS beauftragte Projekt „Optimiertes Meldeverfahren
in der sozialen Sicherung“ . Jetzt liegt also das zweite Ge-
setz zur Umsetzung der Vorschläge vor . Erneut handelt
es sich um eine Sammlung von überwiegend kleintei-
ligen technischen Änderungen . Was die vielen kleinen
Schritte angeht, zu einer bestmöglichen Optimierung des
Meldeverfahrens im Rahmen der sozialen Sicherung zu
gelangen, wie auch wieder im vorliegenden Gesetzent-
wurf, so sehen wir die Bestrebungen der Bundesregie-
rung und der hier eingebundenen Akteure im Großen und
Ganzen durchaus positiv – auch wenn bei manchen die
Frage gestellt werden könnte, ob wirklich Änderungsbe-
darf besteht, und einzelne Punkte problematisch sind . So
schließen wir uns der Einschätzung des Bundesrats an,
dass die Möglichkeit der Krankenversicherung und der
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17169
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Unfallversicherung, ihre Rücklagen in Aktien anzulegen,
zumindest gründlich zu hinterfragen ist und aus dem Ge-
setzentwurf gestrichen werden sollte .
Darüber hinaus sieht zum Beispiel der Deutsche An-
waltverein „noch erheblichen Nachbesserungsbedarf,
um das Ziel der Optimierung der Meldeverfahren in der
sozialen Sicherung (OMS) insbesondere in Bezug auf
Rechtssicherheit und Verfahrensvereinfachung zu errei-
chen.“ Auch wir finden, angesichts der großen Ziele wie
Bürokratieabbau und Rechtsklarheit ist es kein großer
Wurf . Dazu müsste noch an ganz anderen Stellschrauben
gedreht werden .
Lassen Sie uns endlich die Bürgerversicherung ange-
hen. Im Bereich der Pflege-, Kranken- und Rentenver-
sicherung kann man so eine Harmonisierung innerhalb
der Sozialversicherungen herbeiführen . Das würde eine
deutliche Vereinfachung darstellen, Sicherungslücken
schließen und zu einer sowohl gerechteren als auch
nachhaltigeren Absicherung führen . Das gäbe auch Gele-
genheit, eine Harmonisierung mit dem Steuersystem zu
bekommen . Die unterschiedlichen Regelungen in Steu-
er- und Sozialrecht über Einkommensbegriffe oder die
Frage, wer selbstständig ist und wer nicht, führen zu un-
nötiger Bürokratie und zu Unsicherheit sowohl bei den
Betroffenen als auch in der Verwaltung .
Sozialversicherungen können sich schon heute, hin-
sichtlich der Effizienz ihrer Verwaltung, als recht büro-
kratiearm bezeichnen . Warum das so ist? Im Gegensatz
zu den privaten Versicherungen, und das hören wir ja im-
mer wieder, und das wird auch immer wieder kritisiert,
haben wir innerhalb der Sozialversicherungen schon jetzt
sehr geringe Verwaltungskosten . Deswegen wollen wir
Grünen ja auch ein öffentlich organisiertes Basisprodukt
für die Riester-Rente .
Neben einer wirklichen Vereinfachung im Sozialver-
sicherungssystem brauchen wir eine Veränderung im
Grundsicherungsbereich . Die Bundesregierung hat mit
ihrem kürzlich vom Kabinett gebilligten Gesetzesent-
wurf zur „Rechtsvereinfachung“ im SGB II erneut unter
Beweis gestellt, dass sie kein Interesse an einer wirkli-
chen Vereinfachung und damit Verbesserung in diesem
Bereich hat . Das vorliegende Gesetz ist im Gegenteil so-
gar bürokratischer, es ist restriktiver, und es ist keine Ent-
lastung . Weder für die Jobcenter noch für die Menschen,
die sich im Grundsicherungsbezug für Arbeitsuchende
befinden. Für die Betroffenen ist es an vielen Stellen so-
gar eine Rechtsverschärfung . Die Bundesregierung hätte
die Chance gehabt, ein deutliches Signal in die richtige
Richtung zu senden . Bisher hat sie das zu unserem Be-
dauern leider nicht getan .
Ich habe Ihnen einige Möglichkeiten genannt, wie wir
zu einer wirklichen Vereinfachung im Bereich der sozi-
alen Sicherung kommen könnten . Das sind die großen
Schritte, die Sie leider nicht zu gehen wagen . Das ist be-
dauerlich .
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Ände-
rung des GAK-Gesetzes (Tagesordnungspunkt 23)
Hans-Georg von der Marwitz (CDU/CSU): Mit
dem Gesetz zur Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung
der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ – GAK-Ge-
setz – haben wir in Deutschland seit dem Inkrafttreten am
1 . Januar 1973 ein sehr wichtiges nationales Bund-Län-
der-Förderinstrument . Ziel der GAK ist es, die Leis-
tungsfähigkeit der Land- und Forstwirtschaft zu sichern
und auf künftige Anforderungen auszurichten . Ebenso
sollen die Wettbewerbsfähigkeit auf dem europäischen
Markt sowie eine Verbesserung des Küstenschutzes ge-
währleistet werden . Durch die Mittel der GAK werden
Maßnahmen zur Entwicklung der Landwirtschaft und
des ländlichen Raumes gefördert .
Neben der GAK bieten Förderprogramme wie
LEADER oder die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesse-
rung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ – GRW – und
auch das Bundesprogramm „Ländliche Entwicklung“ –
BULE – die Möglichkeit, Vorhaben in der ländlichen
Entwicklung mitzugestalten und auszuführen .
Im aktuellen Entwurf zur Änderung des GAK-Geset-
zes setzen wir uns zum Ziel:
Zur Verbesserung der Agrarstruktur ist es zuneh-
mend erforderlich, die ländlichen Räume im Rah-
men eines integrierten Ansatzes als Lebens-, Wirt-
schafts-, Erholungs- und Naturräume zu sichern und
weiter zu entwickeln .
Dieser Ansatz ist richtig und wichtig . Die Landwirt-
schaft befindet sich seit geraumer Zeit in einer sehr
prekären Situation . Russland-Embargo und gesättigte
Märkte haben schwerwiegende Auswirkungen auf den
gesamten Agrarsektor . Der Strukturwandel in landwirt-
schaftlich geprägten Regionen wird dadurch weiter be-
feuert . Veränderungen der Eigentumsstrukturen und we-
niger Landwirtschaftsbetriebe sind die Folge . Zusätzlich
besteht die Gefahr, dass ganze Landstriche durch den de-
mografischen Wandel, Abwanderung, eine niedrige Ge-
burtenrate und den Rückgang der Daseinsvorsorge noch
weiter abgehängt werden .
Die Landwirtschaft ist mit ihren vor- und nachgelager-
ten Bereichen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor im länd-
lichen Raum . Politik und Gesellschaft müssen auch in
Zukunft ihr Augenmerk darauf richten . Schließlich lebt
rund die Hälfte unserer Bevölkerung in ländlichen Regi-
onen . Die Weiterentwicklung der GAK kann ihren Bei-
trag dazu leisten . Nur eine zukunftsweisende Förderung
setzt Signale für die Wirtschaft und Bevölkerung . Heute
müssen wir entscheiden, wie wir die Weichen für eine
nachhaltige Entwicklung der ländlichen Räume stellen .
Wie im Grundgesetz verankert, bleibt das politi-
sche Ziel weiterhin, gleichwertige Lebensverhältnisse
zu schaffen . Ungewiss ist, ob die derzeitige Förderung
dafür genügt, dieser Anforderung im ländlichen Raum
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617170
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wirkungsvoll Rechnung zu tragen . Der Agrarmarkt wird
auch in Zukunft auf verlässliche politische Rahmenbe-
dingungen angewiesen sein .
Die Landwirtschaft entwickelt sich weiter . Neue Ver-
marktungs- und Vertriebsmöglichkeiten sowie Touris-
mus zeigen, dass es angesichts von Marktschwäche und
Preisvolatilität längst nicht mehr nur um Nahrungsmittel-
produktion geht . Landwirte sind Unternehmern des länd-
lichen Raumes . Deshalb ist es von großer Bedeutung,
einerseits der Landwirtschaft, andererseits aber auch der
dort angesiedelten Wirtschaft in Zukunft zusätzliche Ein-
kommensmöglichkeiten zu sichern .
Die GAK mit ihrem derzeitigen Agrarbezug sollte
weiterhin das primäre Förderinstrument für Land- und
Forstwirte bleiben . Aufgrund ihrer räumlichen Bindung
an Grund und Boden ist es besonders wichtig, das un-
ternehmerische Engagement in der Landwirtschaft zu
stärken .
Gerade mit Blick auf die derzeitig schwierige Lage
wollen wir die Landwirte ermutigen, sich neue unterneh-
merische Einkommensquellen zu erschließen . Das steht
für mich an erster Stelle . Gleiches gilt für Handwerk und
Gewerbe in unseren Dörfern und Gemeinden .
Zahlreiche klein- und mittelständische Unternehmen
tragen bedeutend zur Vitalität unserer Dörfer bei . Sie
schaffen Arbeitsplätze und stehen ähnlich wie die Land-
wirtschaft für eine starke regionale Verankerung . Somit
garantieren diese Betriebe Vielfalt und Stabilität .
Außerdem sollte das Engagement im gemeinnützigen
Bereich, wo sich Ehrenamtliche in sozialen, kulturellen
und kirchlichen Projekten nachhaltig einsetzen, von der
Öffnung der GAK profitieren. Sie leisten einen deutli-
chen Anteil am langfristigen Erfolg und haben maßgeb-
lichen Einfluss auf die sogenannten weichen Standort-
faktoren . Gerade die ehrenamtlich Tätigen sind es, die
über den Wert und somit die Attraktivität ihrer Heimat
mitbestimmen .
Zusammenfassend soll mit dem aktuellen Gesetz-
entwurf die Möglichkeit geschaffen werden, dass auch
Fördermöglichkeiten über die Landwirtschaft hinaus für
Infrastruktur und Kleinstbetriebe in strukturschwachen
Regionen entstehen . Kurzum: Basisdienstleistungen, die
Umnutzung von landwirtschaftlichen Gebäuden, Investi-
tionen in den Tourismus und zur Verbesserung des kultu-
rellen und natürlichen Erbes von Dörfern .
Die Erhöhung des Budgets zur Finanzierung der neu-
en Förderaufgaben von bisher rund 650 Millionen Euro
für das Jahr 2016 um 30 Millionen Euro kann jedoch nur
ein Anfang sein . Wenn wir dem anhaltenden Struktur-
wandel nachhaltig begegnen wollen, werden wir nicht
umhinkommen, weitere Mittel zur Verfügung zu stellen .
Willi Brase (SPD): Die ländlichen Räume in Deutsch-
land haben vieles zu bieten: Sie sind gekennzeichnet
durch eine besondere Dynamik und Vielfalt . Neben
Landwirtschaft und Tourismus ist ebenfalls zu erwähnen,
dass es auch starke wirtschaftliche Regionen sind . Etwa
90 Prozent der Gesamtfläche Deutschlands sind ländli-
cher Raum . Rund die Hälfte aller Menschen leben auf
dem Land .
Ländliche Räume sichern die Lebens- und Arbeits-
grundlagen vieler Menschen . Die deutsche Wirtschaft
ist mittelständisch sowie dezentral aufgestellt . In zahl-
reichen Bundesländern haben die ländlichen Regionen
mittlerweile einen höheren Anteil an Industriebeschäf-
tigten als die städtischen Ballungszentren . Sie sind ein
bedeutender Ort der industriellen Wertschöpfung . Länd-
liche Regionen leisten einen unverzichtbaren Beitrag
zum gesamtwirtschaftlichen Ergebnis der Bundesrepu-
blik Deutschland . Ländliche Räume sind traditionsreiche
Standorte hunderttausender Unternehmen aus allen Ge-
werken und Branchen .
Darüber hinaus haben diese eine wichtige soziale
Funktion für alle Regionen des Landes . Ihre Freizeit-
und Umweltqualität sowie die landschaftliche Attraktivi-
tät ermöglichen Erholung und Ausgleich . Sie tragen zur
Regeneration der Arbeitskraft bei .
Ländliche Räume sind Orte bürgerschaftlichen En-
gagements, der Nachbarschaftshilfe, eines starken Ver-
einslebens, der Tradition und des Brauchtums – kurz:
eines besonderen Gemeinschaftsgefühls und regionaler
Identität . Besonders positiv bewerten viele Menschen auf
dem Land ihr Wohneigentum und die damit verbundenen
Möglichkeiten zur Selbstversorgung und Unabhängig-
keit, zum Beispiel durch einen eigenen Garten und die
Versorgung mit eigenem Gemüse .
Gleichzeitig stehen viele ländliche Räume sozialen,
ökonomischen und demografischen Herausforderungen
gegenüber . Sie kämpfen mit hoher Arbeitslosigkeit, Ab-
wanderung und Überalterung . Die Regionen stellen sich
diesen Herausforderungen und packen an .
Die SPD-Bundestagsfraktion steht zum Grundsatz der
Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in allen Teilen
Deutschlands . Wir wollen die Leistungsfähigkeit der
ländlichen Räume stärken und die Heimat der Menschen
lebenswert und attraktiv gestalten .
Auch mit dem Blick auf die Integration von Men-
schen, die vor Krieg, Not und Verfolgung fliehen und in
Deutschland Asyl erhalten, muss die Integrationsfähig-
keit ländlicher Räume insgesamt noch deutlich intensi-
ver unterstützt werden . Ebenso ist die digitale Spaltung
Deutschlands nicht länger hinzunehmen .
Die nun eingeleitete Verstärkung des Breitbandaus-
baus begrüße ich daher ausdrücklich . Ein schneller Breit-
bandanschluss ist heute nicht nur für viele Menschen eine
unabdingbare Voraussetzung für ihre private Kommuni-
kation, sondern auch ein entscheidender Standortfaktor
für etliche Unternehmen im ländlichen Raum .
Die Entwicklung ländlicher Räume verläuft nicht
gleichförmig . Das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und
Raumforschung, BBSR, rechnet in seiner „Raumord-
nungsprognose 2025“ für die meisten ländlich gepräg-
ten Regionen Deutschlands bis 2025 mit einem Bevöl-
kerungsrückgang von mindestens drei bis zehn Prozent
gegenüber dem Jahr 2005 . In einigen östlichen Regionen
sind sogar noch deutlich höhere Bevölkerungsrückgänge
zu erwarten . Ebenso geht das BBSR vielerorts von einer
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17171
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Zunahme des Anteils der über 60-Jährigen bis 2025 von
20 bis 40 Prozent aus .
Die zukünftige Förder- und Strukturpolitik für die
ländlichen Räume muss sich an diese Voraussetzungen
anpassen . Die Herausforderungen können nur mit den
Menschen vor Ort zu passgenauen Lösungen führen .
Dabei sind die Antworten für die Zukunft genauso viel-
fältig wie die Regionen selbst . Die Wettbewerbsfähigkeit
ländlicher Räume muss erhalten bleiben, die bisher unge-
nutzten Potenziale müssen aktiviert werden . Erforderlich
ist eine regional differenzierte Struktur- und Raumord-
nungspolitik, die auf die jeweiligen Stärken und Schwä-
chen der Regionen angemessen reagiert .
Die Heimat der Menschen in den ländlichen Räumen
muss lebenswert und existenzsichernd erhalten werden .
Deshalb kann der Schwerpunkt einer zukünftigen För-
derung der ländlichen Räume nicht allein auf sektorale
Maßnahmen der Agrarstruktur ausgerichtet sein, sondern
muss sich auf alle Bereiche der Gesellschaft erstrecken .
Kooperative und regional integrierte Handlungsansätze,
die die Wertschöpfung, die Lebensqualität und die In-
novationskraft fördern, sind das zukünftige Mittel zum
Zweck .
Diese Notwendigkeit untermauern auch die Ergeb-
nisse des kürzlich erschienen Prognos Zukunftsatlasses
2016 . Dort heißt es unter anderem – ich zitiere –:
Innerhalb Deutschlands bleibt die Schere zwischen
armen und reichen Regionen weiterhin geöffnet . In
der Langfristbetrachtung . . . 2004 – 2016 schrumpft
der Anteil der Regionen mit ausgeglichenen Chan-
cen und Risiken – und damit „die Mitte“ . 2004
waren es noch 206 Regionen und Städte, 2016 nur
noch 163 .
Weiterhin wird dort ausgeführt:
Eine hohe Innovationsfähigkeit, Wirtschaftskraft
und -dynamik sowie ein damit einhergehender at-
traktiver Arbeitsmarkt sind entscheidend für den re-
gionalen Wohlstand .
Das von der Bundesregierung geplante System der
Förderung strukturschwacher Regionen ab dem Jahr
2020 nimmt in diesem Zusammenhang eine entscheiden-
de Rolle ein . Dabei müssen die Förderungen noch viel
mehr als heute nach Bedarf anstatt nach Himmelsrich-
tungen erteilt werden . Darüber hinaus ist eine deutlich
effizientere Verzahnung mit anderen Programmen der
regionalen Strukturentwicklung notwendig . Dazu zählen
speziell die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der re-
gionalen Wirtschaftsstruktur“, GRW, der Breitbandaus-
bau und die Städtebauförderung . Darauf müssen Bund,
Länder und Kommunen hinarbeiten .
Ebenso ist der Küstenschutz eine lebenswichtige
Aufgabe . Er muss verstetigt bzw . ausgeweitet werden .
In dieses neue Fördersystem wird sich auch die weiter-
entwickelte GAK einfügen, und sie wird abgestimmt mit
weiteren Programmen von Bundesseite ihre vollständige
Wirkung entfalten können .
Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf zur Weiterent-
wicklung der GAK gehen wir einen großen Schritt dahin .
In diesem Zusammenhang möchte ich auch nicht verheh-
len, dass sich meine Fraktion eine zügigere Erarbeitung
durch die Bundesregierung gewünscht hätte .
Durch die Änderung des GAK-Gesetzes werden wir
die Möglichkeiten der Länder erweitern, ihre Maßnah-
men zur ländlichen Entwicklung durch Mittel der GAK
fördern zu lassen . Dies erreichen wir durch eine umfas-
sende Anpassung an das Förderspektrum des Europä-
ischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des
ländlichen Raums, ELER .
Ich möchte für uns Sozialdemokraten an dieser Stel-
le auch noch einmal eines klarstellen: Das Zwei-Säu-
len-Modell der Europäischen Agrarpolitik muss aufgelöst
werden . Eine pauschale Subvention für bewirtschaftete
Flächen ohne nennenswerte Gegenleistungen ist nicht
mehr zeitgemäß . Nach unserer Ansicht sollen Landwir-
te zukünftig bei ihren Bemühungen zur Entwicklung der
ländlichen Räume, zur Umsetzung von Agrarumwelt-
maßnahmen und zum Schutze des Klimas sowie der Bio-
diversität finanziell unterstützt werden. Es bleibt dabei:
Öffentliches Geld nur für öffentliche Leistungen!
Wir sehen an der einen oder anderen Stelle im Ge-
setzentwurf noch Änderungsbedarf und werden diesen
in den nun anstehenden parlamentarischen Beratungen
ansprechen. Die Definition einer neuen Förderkulisse
mit dem unbestimmten Kriterium der geografischen Ab-
gelegenheit halten wir für nicht zielführend . Ebenso sind
wir der Meinung, dass die förderfähigen Maßnahmen
zur Entwicklung der ländlichen Räume noch deutlicher
im Gesetzestext beschrieben werden sollten, um deren
Wichtigkeit herauszustellen . Darüber hinaus braucht es
dringend eine Verwaltungsvereinfachung bei der Anmel-
dung von Maßnahmen durch die Länder, um eine zügige
Umsetzung von Projekten zu unterstützen .
Auch die Bundesländer, welche diesem Gesetz zu-
stimmen müssen, haben am vergangenen Dienstag im
Ausschuss für Agrarpolitik und Verbraucherschutz des
Bundesrates diverse Änderungswünsche formuliert . Da-
her bin ich sehr zuversichtlich, dass uns am Ende ein
ordentliches Gesetz gelingt, welches den großen Heraus-
forderungen der ländlichen Regionen gerecht wird und
die Menschen in den Regionen bei den Entwicklungen
vor Ort mitnimmt .
Heidrun Bluhm (DIE LINKE):
Ländliche Regionen prägen mit ihren Siedlungen
und Kulturlandschaften das Bild unserer Heimat .
Hier ist der überwiegende Anteil unserer dezentra-
len mittelständischen Wirtschaft angesiedelt . Das ist
eine besondere Stärke Deutschlands .
Dieses Zitat stammt nicht aus meinem Poesiealbum,
sondern es ist die Einleitung zur Selbstdarstellung der
Bundesinitiative Ländliche Entwicklung auf der Websei-
te des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirt-
schaft .
Angesichts dieser verbalen Wertschätzung ländlicher
Regionen könnte man zu der Erwartung verleitet werden,
die Bundesregierung meine es ernst mit ihrer Ankündi-
gung im Koalitionsvertrag: „Die Gemeinschaftsaufgabe
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617172
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(B) (D)
Agrarstruktur und Küstenschutz wird zu einer Gemein-
schaftsaufgabe ländliche Entwicklung weiterentwickelt“,
wenn uns diese Bundesregierung nicht schon so oft ei-
nes Besseren belehrt hätte und wenn nicht auch dieser
Gesetzentwurf ein weiterer Beleg dafür wäre, dass bei
dieser Bundesregierung Ankündigung und realer Gestal-
tungswille meilenweit auseinanderklaffen .
90 Prozent der Fläche in Deutschland sind ländlicher
Raum . Mehr als die Hälfte aller Einwohner Deutschlands
leben hier . In Nordrhein-Westfalen sind es circa 43 Pro-
zent, in Thüringen sind es rund 82 Prozent . Allein die-
se wenigen Fakten machen deutlich, wie groß und wie
differenziert die Aufgabe „Ländliche Entwicklung“ im
richtigen Leben ist .
Hier muss die Frage erlaubt sein: Glauben Sie von den
Koalitionsparteien allen Ernstes, dieser hier vorgelegte
Gesetzentwurf wird dieser Aufgabe gerecht? Ich jeden-
falls glaube das nie und nimmer .
Die Menschen, die im ländlichen Raum leben, arbei-
ten und wohnen, dürfen nicht abgehängt werden, und
sie dürfen sich auch nicht so fühlen . An dem Anspruch
„Gleichwertige Lebensverhältnisse“ müssen wir fest-
halten . Dazu könnte eine weiterentwickelte GAK einen
entscheidenden Beitrag leisten, wenn sie tatsächlich die
integrierte ländliche Entwicklung als eine Hauptaufgabe
definiert hätte.
Hinter diesem Anspruch bleibt der vorliegende Ent-
wurf aber weit zurück . Damit setzen Sie Ihren eigenen
Koalitionsvertrag nicht um . Die Schaffung einer Ge-
meinschaftsaufgabe „Ländliche Entwicklung“, wie es
dort angekündigt wird, bleiben Sie schuldig .
Lange wurden der große Wurf und eine Änderung des
Grundgesetzes angekündigt, und diese Änderung wäre
nötig . Nun begnügen Sie sich damit, ein paar Schönheits-
korrekturen am GAK-Gesetz vorzunehmen . Doch diese
werden den Bedarfen und Herausforderungen der länd-
lichen Räume vor allem in strukturschwachen Regionen
keineswegs gerecht .
Wenn dazu eine Änderung des Grundgesetzes nötig
ist: Bitte! An uns sollte das nicht scheitern .
Die integrierte ländliche Entwicklung hätte in der
Verfassung als Gemeinschaftsaufgabe definiert werden
müssen, wie im Koalitionsvertrag angekündigt . Stattdes-
sen baut der Gesetzentwurf Hilfskrücken, um Maßnah-
men der ländlichen Entwicklung zukünftig stärker über
die GAK fördern zu können und diese irgendwie als Teil
der Agrarförderung zu definieren. Bedeutet die ländliche
Entwicklung aber nicht viel mehr? Sind ländliche Räume
nur ein weicher Standortfaktor für die Agrarindustrie?
Der Entwurf zur Gesetzesänderung geht ja in die rich-
tige Richtung . Leider bleibt er aber an den wesentlichen
Punkten bisher unklar . Was ist förderfähig und in wel-
chen Gebietskulissen? Diese sehr entscheidenden Fragen
beantworten Sie nicht oder widersprüchlich .
Sie, Herr Minister, können doch nicht allen Ernstes
von Ihren Kollegen aus den Regierungsfraktionen ver-
langen – von uns schon gar nicht –, dass sie ein Gesetz
auf den Weg bringen, dessen konkrete Auswirkungen
weder Sie noch wir überhaupt kennen . Die Linke sagt:
Die ländlichen Räume sind mehr wert .
Eine ernsthafte Reform der GAK, wie sie etwa der
Deutsche Städte- und Gemeindebund und der Deutsche
Landkreistag fordern, ist überfällig .
Es ist zu begrüßen, dass Sie den § 1 um die Maßnah-
men zur Förderung der Infrastruktur in ländlichen Gebie-
ten erweitern . Doch was bedeutet das? Offenbar gibt es
darüber selbst innerhalb des Ministeriums gegensätzliche
Auffassungen . In der Regierungsbefragung redete der
Minister noch von der zukünftigen Abdeckung des kom-
pletten ELER-Bereiches, während das Ministerium auf
eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/die Grünen
unlängst antwortete:
Maßnahmen, die gar keine Rückbindung auf den
Agrarbegriff erkennen lassen, sind auch mit der
neuen GAK nicht förderfähig .
Unabhängig von der Widersprüchlichkeit in diesen
Aussagen zeigt sich, dass es der entscheidende Fehler ist,
die integrierte ländliche Entwicklung als Begrifflichkeit
bei der Gesetzesnovelle nicht weitergehend zu berück-
sichtigen, um einen weiteren Förderspielraum zu ermög-
lichen . Stattdessen bleiben die Adressaten dieser Förde-
rung im Ungewissen .
Sind alle Infrastrukturmaßnahmen in den ländlichen
Gemeinden förderfähig? Welche Betriebe können eine
Förderung erhalten? Diese Fragen sind nach wie vor
nicht wirklich geklärt oder werden mit einer schwam-
migen Gesetzesbegründung und Auslegung beantwortet,
wie das Zitat belegt .
Eine verlässliche Aussage für Kommunen und Be-
triebe – vor allem vor dem Hintergrund der anstehenden
GAP-Reform – und eine klare und verlässliche Orien-
tierung, was förderfähig sein wird und was nicht, bleibt
der Änderungsentwurf schuldig . Das belegt einmal mehr,
dass eine wirkliche Strategie fehlt, die die Entwicklung
der ländlichen Räume in ihrer Gesamtheit erfasst .
Es bedarf klarer Grenzen zu anderen Förderprogram-
men . Wo endet das GAK-Förderspektrum? Wo beginnt
beispielsweise die GRW? Ergänzungsfähigkeit zwischen
den einzelnen Programmen muss hergestellt werden .
Auch wenn wir als Linke fordern, dass die integrier-
te ländliche Entwicklung eine Aufwertung durch diese
Gesetzesänderung erfahren soll: Eine Gemeinschafts-
aufgabe „Ländliche Entwicklung“ oder eine um diesen
Aspekt mehr oder weniger konsequent erweiterte GAK
darf nicht der alleinige Träger der Entwicklung ländli-
cher Räume sein . Andere Ressorts dürfen sich nicht auf
einer derartigen Qualifizierung der Gemeinschaftsaufga-
be ausruhen und aus der Verantwortung ziehen .
Auch Mittel der GRW, der Städtebauförderung, Regi-
onalisierungsmittel, Mittel für den Breitbandausbau und
weitere Initiativen des Bundes sind im ländlichen Raum
dringend erforderlich . Außerdem dürfen bestehende Be-
reiche innerhalb der GAK nicht benachteiligt werden .
Deshalb fordern wir eine Mittelaufstockung um mindes-
tens 200 Millionen Euro jährlich, so, wie viele Verbände
und im Übrigen ebenso die Bundesländer .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17173
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(B) (D)
Der Versuch, den Ländern und Kommunen die Fähig-
keit der Kofinanzierung abzusprechen, lassen wir des-
halb nicht gelten; denn natürlich ist die Bundesregierung
dafür zu kritisieren, dass den Ländern und Kommunen
durch Ihre Finanzpolitik an vielen Stellen der Geldhahn
zugedreht und ihnen damit der Spielraum für dringend
notwendige Zukunftsinvestitionen genommen wird .
Dass der Prozentsatz für Rückzahlung und Verzinsung
gegenüber den Ländern vor diesem Hintergrund auch
noch von drei auf fünf Prozent angehoben wird, scheint
mindestens fragwürdig – besonders im Hinblick auf die
aktuelle Niedrigzinsphase .
Auch die zusätzliche Einengung auf den ELER und
das Verstecken hinter der gemeinsamen Agrarpolitik der
EU kritisieren wir . Wo ist hier ein eigener Gestaltungsan-
spruch? Warum dieses künstliche Korsett?
Überhaupt erscheint es wenig nachvollziehbar, dass
das Bundesministerium seinen eigenen Gestaltungswil-
len ohne Not von EU-Richtlinien und -Gesetzen abhän-
gig macht und seine eigene Ohnmacht darüber definiert;
denn hier ist die nationale Gestaltung gar nicht an sie ge-
bunden . Mit dem Verweis auf EU- Bestimmungen soll
hier augenscheinlich die eigene Gestaltungsunfähigkeit
oder Unwilligkeit kaschiert werden .
Die Einführung einer Gebietskulisse lehnen wir nicht
grundsätzlich ab . Sie muss jedoch zu einem fairen und
bedarfsgerechten Verteilungsschlüssel führen, bei dem
tatsächlich auch jene Regionen von den Mitteln profi-
tieren, die am stärksten von den strukturellen Verände-
rungen aufgrund des demografischen Wandels betroffen
sind .
Solange keine konkreten Pläne für die Ausgestaltung
einer Gebietskulisse und einer räumlichen Schwerpunkt-
setzung vorliegen, können wir diesem Vorschlag nicht
zustimmen; denn von einer konkreten Ausgestaltung der
Gebietskulisse wird zwangsläufig abhängen, wie die Mit-
tel der GAK zukünftig verteilt werden . Auch hier fordern
wir die Bundesregierung auf, Klarheit zu schaffen .
Einen letzten Punkt möchte ich ansprechen: Dass der
Deutsche Bundestag sich lediglich auf das Abnicken von
650 Millionen Euro versteht, ohne jeden Einfluss auf den
Inhalt auszuüben und ohne eine Kontrolle der Mittelver-
wendung vorzunehmen, ist bemerkenswert . Sowohl die
Länderparlamente als auch wir haben keinerlei Einfluss-
möglichkeiten auf die interministeriellen Abstimmungen
hinter verschlossener Tür . Die Linke kritisiert das schon
lange . Wir fordern an dieser Stelle deutlich mehr Trans-
parenz und die Einbindung des Parlamentes .
Trotz dieses großzügigen Freifahrtscheins für das Mi-
nisterium braucht dieses viel zu lange, um die Gelder den
Ländern zur Verfügung zu stellen . Angesichts des Zeit-
drucks bei Mittelvergabe und Ausschreibung, unter dem
Kommunen und Länder stehen, ist eine Auszahlung im
Mai jedes Jahres viel zu spät . Hier fordern wir ein schnel-
leres Verfahren, das den Ländern mehr Flexibilität und
Planungssicherheit ermöglicht .
Engagement für eine nachhaltige Entwicklung des
ländlichen Raums sieht anders aus . Mit diesem Gesetz-
entwurf bringen Sie bestenfalls ein Reförmchen auf den
Weg, das nur so tut, als steckte etwas Neues, Wirkungs-
volles dahinter . Damit täuschen Sie nicht nur das Parla-
ment; Sie enttäuschen ein weiteres Mal Millionen Men-
schen in den ländlichen Regionen dieses Landes, und Sie
sollten bedenken, wohin das führt .
Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Vorweg: Nicht alle ländlichen Räume brauchen unsere
Fördergelder . Manche Regionen boomen geradezu . Hier
treffen Arbeitsplätze in Industrie oder Gewerbe auf Fach-
kräfte, attraktive Landschaften auf Touristen, günstiger
Wohnraum auf junge Familien und regionale Produkte
auf Abnehmer . Die Entwicklungsperspektive ist gut . Das
ist das ideale Bild ländlicher Räume .
Andere ländliche Regionen stehen aber vor großen
Herausforderungen, und um die geht es heute: Regio-
nen, die schlecht angebunden oder weit entfernt von der
nächsten Stadt sind, die der demografische Wandel hart
trifft und deren Kommunen kaum finanzielle Gestal-
tungsspielräume haben . Diese Regionen schrumpfen:
zum einen ihre Bevölkerungszahl und zum anderen auch
ökonomisch . Der Strukturwandel in der Landwirtschaft
hin zur Agro-Industrie führt dazu, dass hier immer weni-
ger Menschen Arbeit finden. Die natürlichen Ressourcen
der Regionen werden ausgenutzt, ohne dass die Wert-
schöpfung in der Region stattfindet. So ist die Bedeutung
der Landwirtschaft für die regionale Wirtschaft stark zu-
rückgegangen .
Genauso trifft der Strukturwandel aber auch andere
periphere ländliche Regionen besonders hart, beispiels-
weise die Kohleregionen oder die großindustriell gepräg-
ten Regionen, wie das Saarland . Hier müssen wir den
Menschen vor Ort neue Perspektiven eröffnen .
Die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrar-
struktur und des Küstenschutzes“ ist ein wichtiges För-
derinstrument, das diesen Aufgaben derzeit nicht gerecht
werden kann . Darum steht im Koalitionsvertrag von
CDU/CSU und SPD auch die Weiterentwicklung hin zu
einer Gemeinschaftsaufgabe „Ländliche Entwicklung“,
für die eine Grundgesetzänderung nötig wäre .
Genau hier liegt der Knackpunkt . Leider reden wir
heute nämlich nicht über eine brandneue Gemeinschafts-
aufgabe „Ländliche Entwicklung“, sondern immer noch
über die alte Gemeinschaftsaufgabe . Sie vertut die gro-
ße Chance, mit der satten Mehrheit hier im Bundestag
die Förderpolitik für ländliche Räume neu aufzustellen .
Mit diesem Reförmchen ist den ländlichen Räumen nicht
wirklich geholfen .
Das ist Symbolpolitik; denn viele Fragen bleiben nach
der Erweiterung der GAK unbeantwortet, beispielswei-
se, wie eigentlich ein förderfähiger ländlicher Raum de-
finiert ist, inwieweit die GAK mit Instrumenten der re-
gionalen Wirtschaftspolitik oder auch den europäischen
Fördertöpfen kombinierbar ist oder wie die Chancen der
Digitalisierung genutzt werden sollen . Ebenso unbeant-
wortet bleibt die ganz zentrale Frage, welche Fördermaß-
nahmen unter die ländliche Entwicklung fallen sollen .
Viele neue Fördermaßnahmen können es nicht sein;
denn eines steht für die Bundesregierung fest: Was nicht
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617174
(A) (C)
(B) (D)
unter den Agrarbegriff gepackt werden kann, ist auch mit
der erweiterten GAK nicht förderfähig .
Das bedeutet, dass Zukunftsaufgaben, von der Diver-
sifizierung der Wirtschaft bis zu Fragen der Daseinsvor-
sorge, immer noch nicht angepackt werden können . Jed-
wede Förderung bleibt an die Landwirtschaft gekettet .
Das entspricht nicht den realen Notwendigkeiten vor Ort .
Das Land ist Lebens-, Arbeits- und Naturraum, nicht
nur Arbeitsort für Agro-Großbetriebe . Auch wenn die
Bundesregierung einen weiten Agrar- und Infrastruk-
turbegriff voraussetzt, ist diese GAK-Erweiterung doch
Zeugnis eines sehr engen Verständnisses von dem, was
ländliche Räume heute ausmacht .
Der Funktionswandel des Landlebens muss sich end-
lich auch in unseren Förderinstrumenten widerspiegeln .
Daher brauchen wir Zweierlei: eine komplette Neuaus-
richtung landwirtschaftlicher Förderung mit dem Fokus
auf ökologisch-regionale Wertschöpfungsketten und eine
davon losgelöste, zukunftsorientierte Förderung struk-
turschwacher ländlicher Räume . Der große Wurf ist die
vorliegende Erweiterung daher ganz sicher nicht .
Peter Bleser, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi-
nister für Ernährung und Landwirtschaft: Im Koaliti-
onsvertrag wurde vereinbart, die Gemeinschaftsaufgabe
„Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschut-
zes“, GAK, zu einer Gemeinschaftsaufgabe „Ländliche
Entwicklung“ weiterzuentwickeln . Zur Umsetzung die-
ses Auftrages haben wir den Entwurf eines Vierten Ge-
setzes zur Änderung des GAK-Gesetzes vorgelegt .
Der Entwurf ist das Ergebnis intensiver Diskussionen
mit den Bundesressorts . Der zunächst von uns favorisier-
te Weg der Erweiterung des Artikel 91a Grundgesetz um
Maßnahmen der ländlichen Entwicklung erwies sich als
nicht gangbar . In der Diskussion mit den Verfassungs-
ressorts zeigte sich, dass der Begriff „ländliche Entwick-
lung“ zu unbestimmt ist, als dass eine Eingrenzung auf
ein darunter zu subsumierendes Bündel von Maßnahmen
möglich wäre . Das Feld der ländlichen Entwicklung
ist so umfassend – Verkehrs-, Bildungs-, Gesundheits-
und Infrastrukturpolitik, demografischer Wandel, Wirt-
schaftskraft –, dass weder der Auftrag noch die Finan-
zausstattung der GAK es zulassen, die Länder bei der
Wahrnehmung dieser Aufgaben maßgeblich zu unterstüt-
zen .
Vor diesem Hintergrund haben wir uns innerhalb der
Bundesregierung darauf verständigt, mit einer Änderung
des GAK-Gesetzes das Förderspektrum der GAK an das-
jenige der ELER-VO anzupassen .
Erstens . Änderungen im Gesetz:
Wichtigste Änderung ist die in § 1 GAKG eingefügte
Förderung der Infrastruktur ländlicher Gebiete im Rah-
men der Gemeinsamen Agrarpolitik . Damit können zu-
künftig
Investitionen in nichtlandwirtschaftliche Kleinstbe-
triebe, Investitionen in kleine Infrastrukturen und Ba-
sisdienstleistungen – zum Beispiel Nahversorgung mit
Gütern und Dienstleistungen –, Investitionen zugunsten
des ländlichen Tourismus, Investitionen zur Umnutzung
auch nicht landwirtschaftlicher Bausubstanz sowie In-
vestitionen zugunsten des kulturellen und natürlichen Er-
bes von Dörfern und ländlichen Gebieten im Rahmen der
neuen GAK gefördert werden .
Mit der Bindung an den Förderkatalog der ELER-Ver-
ordnung und damit an die EU-Agrarpolitik bleibt der Be-
zug auch der neuen Fördermaßnahmen im Bereich der
ländlichen Entwicklung zur Landwirtschaft erhalten . Es
kann nur gefördert werden, wenn und wo Investitionen
für die Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit ländli-
cher Gebiete bedeutsam sind .
Zudem sollen die Maßnahmen einer markt- und stand-
ortangepassten Landbewirtschaftung um den Aspekt der
Umweltgerechtheit ergänzt und aus dem Kontext der
Verbesserung der Produktions- und Arbeitsbedingungen
herausgelöst werden . Damit wird auch dieser Förderbe-
reich erweitert und an die ELER-Verordnung angepasst .
Zweitens . Bedeutung des Gesetzentwurfs:
Alles in allem ist vor dem Hintergrund der teilwei-
se stagnierenden Entwicklung im ländlichen Raum die
geplante Änderung des GAK-Gesetzes ein wichtiger
Schritt, mit dem viele Herausforderungen, vor denen
ländliche Räume stehen, angegangen werden können .
Insbesondere ist es das Ziel, unsere Dörfer attraktiver zu
machen und jungen Menschen eine Bleibeperspektive zu
bieten .
Ich bin überzeugt, dass mit dem Gesetzentwurf einer-
seits der Kern der jetzigen GAK gesichert werden kann
und dass andererseits wichtige Infrastrukturmaßnahmen
in ländlichen Gebieten angestoßen werden können .
Drittens . Praktische Umsetzung:
Parallel zu den Gesetzesberatungen sind wir dabei,
für die neuen Fördermaßnahmen der weiterentwickel-
ten GAK Förderungsgrundsätze zu entwickeln . Erste
Besprechungen mit den Ländern haben bereits stattge-
funden . Dabei geht es zum einen um ergänzende För-
derungsgrundsätze für den laufenden Rahmenplan (RP)
2016, und zum anderen um neue Förderungsgrundsätze
für den Rahmenplan 2017 .
Die Fördermaßnahmen für den Rahmenplan 2016
sollen schnellstmöglich nach Inkrafttreten des neuen
GAK-Gesetzes vom Planungsausschuss der GAK be-
schlossen werden . Nur so können wir die Grundlage da-
für schaffen, dass die vom Haushaltsausschuss für den
Rahmenplan 2016 bereitgestellten Mittel in Höhe von
30 Millionen Euro zusätzlich für neue Maßnahmen auch
in Anspruch genommen werden können .
Viertens . Schlusswort:
Die Änderung des GAK-Gesetzes bietet uns die Chan-
ce, die GAK-Förderung entsprechend den künftigen An-
forderungen auszugestalten . Der Bund unterstützt die
Länder bei deren Aufgabe der ländlichen Entwicklung
und der Verbesserung der Agrarstruktur und des Küsten-
schutzes in erheblichem Maße .
Ich bin der Meinung, dass dies notwendig und richtig
ist und dass der Bund mit der Novellierung des GAK-Ge-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17175
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setzes die Grundlage für eine Unterstützung legt, die zur
Leistungsfähigkeit und der Lebensqualität in unseren
ländlichen Regionen einen unverzichtbaren Beitrag leis-
tet .
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Än-
derung des Direktzahlungen-Durchführungsgeset-
zes (Tagesordnungspunkt 24)
Artur Auernhammer (CDU/CSU): Landwirte sind
Unternehmer mit einer besonderen Aufgabe: Wahrung
und Schutz unserer Natur und Umwelt durch Bewirtschaf-
tung von Flächen . Die Europäische Union unterstützt uns
Landwirte dabei, dieser Aufgabe nachzukommen, indem
sie klima- und umweltbewusste Landbewirtschaftungs-
methoden durch Direktzahlungen fördert . Als wir im
Juli 2014 das Direktzahlungen-Durchführungsgesetz
verabschiedet haben, haben wir dabei auch im Hinter-
kopf gehabt, dass sich die Flächennutzung auch bei
geförderten Flächen aus betrieblichen Gründen ändern
kann. Wir haben den Landwirten eine flexible Nutzung
ihrer Flächen ermöglicht, indem wir im Direktzahlun-
gen-Durchführungsgesetz die Regelungen zum Erhalt
von Dauergrünland entsprechend festgelegt haben .
Wir haben uns beim Beschluss des Gesetzes auf der
Basis der bisherigen deutschen Auslegung der EU-Rege-
lung entschieden, den rechtlichen Begriff der „Umwand-
lung“ nur für die Nutzungsänderung des durch Direkt-
zahlungen förderfähigen normalen Dauergrünlands in
andere förderfähige landwirtschaftliche Nutzungsflächen
vorzusehen . Eine Nutzungsänderung zu nichtlandwirt-
schaftlichen Nutzungsflächen war bisher nach unserem
Verständnis nicht unter den Begriff der „Umwandlung“
gefasst . Damit wurde ermöglicht, dass Landwirte eine
Nutzungsänderung von Dauergrünland und speziell des
umweltsensiblen Dauergrünlands in nichtlandwirtschaft-
liche Nutzungsflächen, für die keine Direktzahlungen
gewährt werden, ohne Genehmigungsverfahren, aber in
engen umwelt- und klimaschutzrechtlichen Grenzen vor-
nehmen und so die Flächennutzung an ihre betrieblichen
Erfordernisse anpassen können .
Am 17 . Juli 2015 hat die Europäische Kommission
den Leitfaden zur Durchführung der Vorschriften über
Dauergrünland veröffentlicht . Sie hat darin den Begriff
der „Umwandlung“ weiter ausgelegt, als es die bisheri-
ge deutsche Interpretation war . Jede Nutzungsänderung
ist gemäß der europäischen Vorgabe eine Umwandlung,
die nach der bisherigen Gesetzgebung genehmigt werden
muss . Das heißt konkret: Landwirte werden in ihrer Flä-
chennutzung und Flexibilität enorm eingeschränkt . So
ist eine Nutzungsänderung von umweltsensiblem Dau-
ergrünland in nichtlandwirtschaftliche Nutzungsflächen
aufgrund des Leitfadens jetzt unmöglich, auch weil für
dieses ein Umwandlungsverbot besteht . Für normales
Dauergrünland wird dieser Vorgang erheblich erschwert .
Zudem erhöht sich das Risiko von Anlastungen für Land-
wirte enorm . Deshalb müssen wir die bisherigen nationa-
len Regelungen zum Dauergrünland entsprechend anpas-
sen, indem wir Ausnahmereglungen für uns nutzen . Wir
wollen damit die geschaffene Flexibilität der Landwirte
bei der Flächennutzung erhalten und Anlastungen ver-
hindern . Deshalb ist diese Änderung für uns Landwirte
wichtig .
Für mich kann diese Maßnahme aber nur ein Anfang
sein, die Landwirte zu entlasten und Flexibilität zu er-
möglichen . Damit sie den steigenden Erwartungen der
Gesellschaft und des Marktes und gleichzeitig dem Auf-
trag des Natur- und Umweltschutzes gerecht werden
können, müssen wir den Landwirten erlauben, betriebli-
che Veränderungen noch flexibler vornehmen zu können.
Dazu bedarf es noch mehr Vereinfachungen statt neuer
Regeln . Lassen Sie uns jetzt mit diesem Gesetz einen ers-
ten Schritt machen .
Hermann Färber (CDU/CSU): Mit dem vorliegen-
den Gesetzentwurf wollen wir eine Rechtslage wieder-
herstellen, die durch eine Neuinterpretation geltender
EU-Richtlinien durch die Kommission geändert worden
ist . Es geht um die Umwandlung von Dauergrünland in
eine nichtlandwirtschaftliche Fläche, die dann auch kei-
ner Beihilfe mehr unterliegt .
Wir hatten uns in der Koalition bei der Umsetzung der
europäischen Agrarreform darauf geeinigt, dass solche
Umwandlungen möglich sein sollen . Diese Rechtslage
haben wir politisch gewollt und hier im Bundestag so
beschlossen . Dabei sind wir davon ausgegangen, dass
der Begriff „Umwandlung von Dauergrünland“ nur die
Umwandlung in eine andere landwirtschaftliche Fläche
umfasst, nicht aber die Umwandlung in eine nichtland-
wirtschaftliche Fläche . Die EU-Kommission hat nun in
einem Leitfaden festgelegt, dass auch Letzteres von dem
Begriff „Umwandlung“ umfasst wird . Um nun die von
uns in der Koalition gewünschte und im Bundestag be-
reits beschlossene Rechtslage wiederherzustellen, benö-
tigen wir den vorliegenden Gesetzentwurf .
Dieser Gesetzentwurf stellt keinen Landwirt besser
als vorher; er enthält auch keinerlei Eingriffe in den Um-
weltschutz . Es wird lediglich die bisherige Rechtslage an
die Neuinterpretation der EU-Kommission so angepasst,
dass es für die Landwirte nicht zu erneuter Verschlechte-
rung kommt . Zugleich werden schon erfolgte Umwand-
lungen, die ohne eine solche Gesetzesanpassung plötz-
lich im Nachhinein als illegal bewertet werden müssten,
legalisiert .
Die bisherige Rechtslage entspricht nur einer grund-
sätzlichen Fairness: Wenn eine Fläche nicht mehr bei-
hilfefähig ist, dann entspricht es nur dem Schutz des
Eigentums, dem Eigentümer keine so weitgehende Nut-
zungsbeschränkung aufzuerlegen, wie es beim Erhalt
von Dauergrünland der Fall ist .
Deshalb fordere ich alle Mitglieder dieses Hauses
nachdrücklich auf, diesen Gesetzentwurf schnell zu ver-
abschieden . Rechtssicherheit ist ein hohes Gut, und sie
muss auch für Landwirte gelten . Die Verabschiedung
dieses Gesetzentwurfes, mit der auch politische Forde-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617176
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(B) (D)
rungen in ganz anderen Bereichen durchgesetzt werden
sollen, darf nicht verzögert werden .
Dieser Gesetzentwurf ist das absolute Minimum, was
wir den Landwirten in den sowieso schweren Zeiten an
Rechtssicherheit liefern müssen . Dringend notwendig
wären eigentlich noch wesentlich weitere Vereinfachun-
gen bei den Greening-Bestimmungen und den Baga-
tell-Regelungen .
Die letzte Agrarreform hat zu einem erheblichen Bü-
rokratisierungsaufwand für Landwirte geführt . Wir müs-
sen jede Möglichkeit nutzen, diesen Aufwand zu mini-
mieren . Alles andere führt nur zu noch mehr Höfesterben
und Abwanderung der Produktion .
Wir diskutieren in diesen Wochen intensiv über die
extrem schwierige Marktlage in der Agrarwirtschaft, und
wir sind uns alle hier einig, dass Landwirte auskömm-
liche Gewinne erzielen müssen . Wir müssen dabei aber
klar sehen, dass das nicht nur eine Frage des Preises ist,
sondern ebenso eine Frage des Aufwands: Jede weitere
Bürokratisierung für die Bäuerinnen und Bauern und
jede weitere Einschränkung ihrer Eigentumsnutzung be-
deuten einen erhöhten Aufwand, für den eben niemand
bereit ist, mehr zu bezahlen . Das wird auf Dauer nicht
funktionieren .
Auch wenn wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
nur eine ganz winzige Erleichterung von neuen Be-
schwernissen für die Landwirte schaffen, tun wir in der
aktuellen Lage in jedem Fall das Richtige . Deshalb bitte
ich um schnelle Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf .
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Bei dem vorliegen-
den Gesetzentwurf geht es um eine Anpassung des na-
tionalen Rechts an das EU-Recht . So soll es zukünftig
möglich sein, in engen Grenzen eine Umwandlung von
umweltsensiblem Dauergrünland in eine nichtlandwirt-
schaftliche Fläche über eine Aufhebung der Bestim-
mung einer Dauergrünlandfläche als umweltsensibel
vorzunehmen . Ebenfalls soll eine Genehmigung für eine
Umwandlung von anderem als umweltsensiblem Dau-
ergrünland in eine nichtlandwirtschaftliche Fläche ohne
Verpflichtung zur Neuanlage von Dauergrünland erteilt
werden . Eine Vorschrift zur Heilung bereits erfolgter ent-
sprechender Umwandlungen ist außerdem erforderlich,
weil die weite Auslegung des Begriffs „Umwandlung“
für die Betroffenen nicht absehbar war .
Zum Dauergrünland zählen alle Flächen, die fünf
Jahre oder länger als Wiese oder Weide genutzt wurden .
Typische Nutzungsformen des Grünlandes sind Wiesen
und Mähweiden, Weiden, Almen sowie ertragarmes Dau-
ergrünland, das auch als Hutung bezeichnet wird .
Im Jahr 2015 wurden rund 4,7 Millionen Hektar in
Deutschland als Dauergrünland genutzt . Damit bleibt der
Grünlandanteil an der landwirtschaftlich genutzten Flä-
che mit 28 Prozent im Vergleich zum Vorjahr konstant .
Als zweitgrößte Flächenposition prägt das Grünland
maßgeblich die Kulturlandschaft in Deutschland .
Die typischen Nutzungsformen des Grünlandes sind
Wiesen (39 Prozent des Dauergrünlandes) und Weiden
(57 Prozent des Dauergrünlandes) . Beide sind in der
Landwirtschaft eine hauptsächliche Futterbasis für die
Milchviehwirtschaft, da das Raufutter von Wiesen und
Weiden als kostengünstiges Futter in der Milchvieh-
haltung gilt . Wiesen und Weiden prägen außerdem die
vielfältigen Kulturlandschaften in Deutschland . Sie un-
terstützen die Naherholungsfunktion ländlicher Gebiete
und sind die Grundlage für einen erfolgreichen ländli-
chen Tourismus . Grünland hat aber auch als Substratlie-
ferant für die Erzeugung erneuerbarer Energien an Be-
deutung gewonnen . Dauergrünland ist zudem eine sehr
gewässerschonende Landnutzungsform und bietet einen
hervorragenden Erosionsschutz .
Auch die Klimawirkung ist beachtlich: So werden
im Falle des Grünlandumbruches auf Mineralstandorten
eine Tonne CO2-Äquivalent je Hektar und Jahr zusätzlich
freigesetzt, auf Niedermooren sind es sogar mindestens 8
bis 15 Tonnen CO2-Äquivalent je Hektar und Jahr .
Grünlandbiotope zählen zu den artenreichsten Biotop-
typen Mitteleuropas . Auf mitteleuropäischem Grünland
kommen circa 1 100 Pflanzenarten vor, das sind 28 Pro-
zent des gesamten Pflanzenartenspektrums in Mitteleu-
ropa .
Dauergrünland ist somit aus mehrerlei Hinsicht
von außerordentlicher Bedeutung . Dies hat auch die
EU-Kommission erkannt und hat im Laufe der letzten
großen Reform der gemeinsamen europäischen Agrar-
politik das Dauergrünland gegenüber dem Ackerland
gleichberechtigt, sodass die Flächenprämien nun ein-
heitlich sind . Zudem ist Grünland auf die sogenannten
Greening-Flächen, die 30 Prozent der Gesamtfläche aus-
machen müssen, anrechenbar . Nur dann kann man über-
haupt Flächenprämien aus Brüssel erhalten .
Bei Erlass des Direktzahlungen-Durchführungsgeset-
zes wurde davon ausgegangen, dass Landwirtschaftsbe-
triebe ohne Konsequenzen für die Gewährung der Direkt-
zahlungen landwirtschaftliche Flächen, und hier speziell
Dauergrünland, in nichtlandwirtschaftliche Flächen um-
wandeln können . Die im Gesetz getroffenen Vorschrif-
ten zur Umwandlung von Dauergrünland sollten sich
nur auf die Umwandlung in andere landwirtschaftliche
Nutzungen wie Ackerkulturen oder Dauerkulturen be-
ziehen . Ohne eine Gesetzesänderung wäre jedoch eine
Umwandlung von umweltsensiblem Dauergrünland in
eine nichtlandwirtschaftliche Fläche gänzlich unzulässig .
Eine Genehmigung einer solchen Umwandlung bei ande-
rem Dauergrünland würde in der Regel eine Neuanlage
von Dauergrünland erfordern . Außerdem würde das An-
lastungsrisiko bei etwaigen Kontrollen für die Betriebe
weiter wachsen .
Insofern wollen wir nur europäisches und nationales
Recht harmonisieren und reduzieren damit gleichzeitig
den Verwaltungsaufwand für die Betriebe . Etwaige wei-
tere Anpassungen der gemeinsamen europäischen Agrar-
politik werden wir bald auch hier im hohen Haus disku-
tieren müssen .
In dem von der niederländischen Ratspräsidentschaft
beim informellen Agrarrat in Amsterdam am Anfang der
Woche vorgelegten Diskussionspapier zur Ausrichtung
der Gemeinsamen Agrarpolitik nach 2020 finden sich
viele gute Ansätze . Genauso wie die Niederländer wollen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17177
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wir als SPD die Bürokratie im Agrarbereich abbauen und
die Innovationsforschung intensivieren . Außerdem for-
dern wir, dass die Steuergelder, welche die Landwirte für
die Bewirtschaftung ihrer Flächen bekämen, zielgerich-
teter eingesetzt werden . Schon seit Jahren plädieren wir
dafür, dass öffentliches Geld für öffentliche Leistungen
ausgegeben werden soll .
Subventionen kann es im Agrarbereich nur noch ge-
ben, wenn auch in den Klima-, Umwelt- oder Tierschutz
bzw . in den Erhalt der ländlichen Räume investiert wird .
Die Förderung von Dauergrünland ist vor diesem Hin-
tergrund ein wichtiges Puzzleteil . Ich bitte daher, dem
Gesetzentwurf zuzustimmen .
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Dauergrün-
land ist wertvoll . In unserer Agrarlandschaft ist mir eine
saftige, grüne Wiese mit weidenden Mutterkühen und
Kälbern das Liebste . Außerdem sind Wiesen und Weiden
gut für das Klima; denn wo Pflanzen permanent nach-
wachsen, wird der Boden geschützt und gleichzeitig das
CO2 aus der Luft in der Pflanze gebunden. Dauergrün-
land ist Lebens- und Rückzugort, zum Beispiel für Bo-
denbrüter oder seltene Pflanzengesellschaften. Das alles
sind gute Gründe, mit Wiesen und Weiden besonders re-
spektvoll umzugehen .
Wir wissen aber: Gerade die Bestände von Pflanzen
und Tieren der offenen Agrarlandschaft sind am häu-
figsten gefährdet. Die Realität ist, dass Dauergrünland
in Deutschland, aber auch in ganz Europa und weltweit
Fläche verliert . Eine aktuelle Studie des Umweltbundes-
amtes besagt, dass 1991 noch über 5,3 Millionen Hektar
oder 31,3 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche als
Dauergrünland bewirtschaftet wurden, während es 2014
nur noch rund 4,7 Millionen Hektar oder 27,8 Prozent
waren . Viele Flächen mussten dem Straßen- oder Sied-
lungsbau weichen, oder sie wurden zeitweise zu Äckern
umgewandelt, weil der Anbau von Mais oder anderen
Ackerbaukulturen profitabler ist.
Zumindest diesem Treiben hat die EU ein Um-
wandlungsverbot entgegengesetzt . Zur Umsetzung der
Greening-Maßnahmen hat die EU-Kommission im Som-
mer 2015 einen Leitfaden vorgelegt. Darin definiert sie
Dauergrünland und legt Möglichkeiten einer Ausnahme
vom Umwandlungsverbot dar . Unter Umwandlung von
Dauergrünland versteht sie nicht nur die Umwandlung
in Ackerland oder Dauerkulturen, sondern auch die Um-
wandlung in nichtlandwirtschaftliche Nutzungen wie
Aufforstung, natürliche Sukzession, Bebauung oder
Nutzung als Infrastrukturfläche. Während solche Nut-
zungsänderungen auf umweltsensiblem Dauergrünland
in FFH-Gebieten ausgeschlossen sind, bedürfen sie auf
sonstigem Dauergrünland der Genehmigung .
Das EU-Recht sieht die Möglichkeit vor, dass die
Mitgliedstaaten einzelne Flächen aus der Kulisse des
umweltsensiblen Dauergrünlandes herausnehmen kön-
nen . Daraus resultiert zum einen, dass Umwandlungen in
nichtlandwirtschaftliche Nutzungen demselben strengen
rechtlichen Rahmen unterliegen wie Umwandlungen in
Ackerland und Dauerkulturen . Zum anderen wird be-
stimmt, dass nationalstaatliche Ausnahmen, wenn dem
keine anderen Rechtsvorschriften entgegenstehen, mög-
lich sind .
In Deutschland wurde das Umwandlungsverbot von
Dauergrünland bisher lediglich auf die Umwandlung
in andere landwirtschaftliche Nutzungen bezogen . Aus
der Konkretisierung auf EU-Ebene ergibt sich, dass
Landwirte nun von Sanktionen wegen Verstoßes gegen
Greening-Maßnahmen betroffen sein können .
Genau hier setzt der Gesetzentwurf an:
Erstens soll eine Umwandlung von umweltsensiblem
Dauergrünland in eine nichtlandwirtschaftliche Nutzung
in Ausnahmefällen möglich werden .
Zweitens sollen Landwirte bei der Umwandlung von
sonstigem Dauergrünland in eine nichtlandwirtschaftli-
che Nutzung keinen Grünlandersatz schaffen müssen .
In beiden Fällen ist einem positiven Bescheid die Prü-
fung nach Bundesnaturschutzgesetz und nach Bauord-
nungsrecht vorgeschaltet .
Hier geht es um die Herstellung von Rechtssicherheit
für die Landwirtschaft, und die Linke geht nicht davon
aus, dass dadurch neue Schlupflöcher für den weiteren
Flächenfraß geschaffen werden sollen .
Weil aber Intention und Wirkung so mancher Geset-
ze weit auseinanderklaffen, möchte ich hier zumindest
auf die Gefahr weiterer Flächenverluste hinweisen . Die
immer noch viel zu hohen Flächenverluste, besonders
bei Grünland, müssen reduziert werden . Die Linke wird
deshalb darauf achten, dass mit dieser Regelung das be-
stehende Umwandlungsverbot nicht durch die Hintertür
unterlaufen wird .
Wie ich vom Wissenschaftlichen Dienst erfuhr, basie-
ren die geringen Schätzungen im Gesetzentwurf auf den
Selbstauskünften der Landwirte und vagen Annahmen .
Ob tatsächlich so wenige Anträge eingehen werden und
die betroffene Umwandlungsfläche bei umweltsensiblem
Dauergrünland jährlich 100 Hektar betragen wird, wis-
sen wir heute nicht, und ob andere nichtlandwirtschaft-
liche Nutzungen aus sozial-ökologischer Perspektive
überhaupt sinnvoll sind, kann ebenfalls – wie im Fall der
Fotovoltaik – bezweifelt werden; denn diese Anlagen ge-
hören aus unserer Sicht vor allem auf Dächer oder andere
versiegelte Flächen .
Die Linke fordert vor allem, die Attraktivität der Nut-
zung des Dauergrünlands zu verbessern, insbesondere
bei Weidenutzung . Eine Weidetierprämie, wie in Frank-
reich, wäre hier ein wichtiges Signal der Anerkennung
der Arbeit, die in diesem Teil der Landwirtschaft geleis-
tet wird . Er genießt die höchste Akzeptanz in der Gesell-
schaft, bekommt aber wenig Geld für seine Leistung .
Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Die vorliegende Gesetzesänderung ändert beste-
hendes Recht hinsichtlich der Umwandlung von Dauer-
grünland in eine nichtlandwirtschaftlich genutzte Fläche .
Durch die Regelung wird die durch die Auslegung der
Europäischen Kommission im Leitfaden zur Durchfüh-
rung der Vorschriften für Dauergrünland entstandene Re-
gelungslücke geschlossen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617178
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(B) (D)
Wir können der Vorlage zustimmen . Bei aller Wichtig-
keit des Grünlands für die Biodiversität, die Bodenstruk-
tur und den Erhalt der Schönheit des ländlichen Raums
geht es hier doch um Details: kleine bürokratische Um-
setzungsbausteine, die Minister Schmidt in seiner beam-
tenhaften Beflissenheit in seiner „Erledigt“-Mappe able-
gen kann . Dazu ist er in der Lage .
Doch abseits dieser Details geht es doch um mehr . Wie
können wir den ländlichen Raum mit seinen kleinstruk-
turierten bäuerlichen Landwirtschaftsbetrieben, mit den
Milchkühen auf der Weide und den bäuerlichen Famili-
en, die von ihrer Arbeit anständig leben können, erhal-
ten? Das sind die ländlichen Räume, die wir alle wollen,
die attraktiv sind für die dort lebenden Menschen und die
von Städtern zur Erholung so gerne besucht werden .
Doch wenn sich nicht bald etwas verändert, werden
wir sie verlieren . Da hilft es nicht, kleine Gesetzesanpas-
sungen vorzunehmen; denn in der deutschen Agrarpoli-
tik hat sich ein erheblicher Problemstau entwickelt: Die
Märkte für tierische Produkte, vor allem für Milch, sind
praktisch zusammengebrochen, viele bäuerliche Betrie-
be bangen um ihre Existenz oder haben bereits aufgege-
ben, und die gesellschaftliche Akzeptanz der Tierhaltung
schwindet von Tag zu Tag .
Das millionenfache Schreddern frisch geschlüpfter
Küken entspricht angeblich dem Tierschutzgesetz, und
die Milch ist mittlerweile billiger als Wasser . So steht das
System da . Dorthin hat uns die ewig gestrige Agrarpoli-
tik von CDU und CSU geführt .
Aber mit „Wachsen oder Weichen“ ist jetzt Schluss .
Wir haben die Pflicht, den Bäuerinnen und Bauern Per-
spektiven zu bieten . Wie können sie ihre Schweine halten,
dass es Spaß macht, in den Stall zu gehen, und dennoch
ein anständiges Einkommen damit erzielen? Was können
wir den Milchbauern sagen, um sie zum Durchhalten zu
ermutigen? Die Arbeit der Bäuerinnen und Bauern muss
wieder mehr wert sein . Da hilft der Versuch nicht, die
Milcherzeuger mit einer Finanzspritze ruhig zu stellen,
wie Schmidt sich von der Lebensmittelindustrie und dem
Bauernverband beim Milchgipfel hat diktieren lassen .
Das ist Opium fürs Volk .
Um wirklich etwas für die ländlichen Räume und die
bäuerlichen Betriebe zu tun, braucht man Mut und Ideen .
Wir brauchen eine Agrarwende – zum Wohle der Men-
schen, der Tiere und der Umwelt . Doch dafür ist Schmidt
nicht gemacht . Detailregelungen wie die vorliegende
Gesetzesänderung traue ich ihm zu, für die wichtigen
umfassenden Umstellungen fehlen ihm die Vorstellungs-
kraft, der Mut und das Format .
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der
Verbreitung neuer psychoaktiver Stoffe
– des Antrags der Abgeordneten Frank Tempel,
Kathrin Vogler, Matthias W. Birkwald, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:
Für eine zeitgemäße Antwort auf neue psy-
choaktive Substanzen
(Tagesordnungspunkt 25 a und b)
Marlene Mortler (CDU/CSU): Neue psychoaktive
Substanzen gibt es nicht nur in Deutschland . Sie sind
weltweit verbreitet, sie sind gefährlich, und sie werden
auf tückische Weise vertrieben . Wer die Gesundheit der
Menschen schützen will, der muss etwas gegen diese
Substanzen tun – wohldurchdacht, fest entschlossen und
mit einem breiten Ansatz aus Prävention, Schadensmini-
mierung und – darum geht es heute – dem klaren Signal
des Verbotes .
NPS sind weltweit verbreitet . Nicht nur in Europa,
sondern auch in den USA und in Kanada, Australien,
China und vielen anderen Staaten werden NPS in erheb-
lichem Maße konsumiert . Kaum ein Drogenmarkt ist so
in Bewegung wie der NPS-Markt .
Vorgestern wurde der „Europäische Drogenbe-
richt 2016“ veröffentlicht . Nach Aussage der Europä-
ischen Drogenbeobachtungsstelle in Lissabon wurden
in der EU im letzten Jahr nicht nur 560 verschiedene
Substanzen gezählt, die wir als NPS betrachten . Das
Besondere daran ist, dass fast 100 dieser Substanzen im
letzten Jahr zum ersten Mal auf dem europäischen Markt
auftauchten . Eine kleine molekulare Veränderung – und
schon war der Verordnungsgeber bei uns ausgetrickst
und eine Substanz schon wieder erlaubt statt nach Betäu-
bungsmittelrecht verboten .
Das Perfide an NPS ist vor allem die Art ihrer Ver-
marktung . NPS gaukeln als „Kräutermischungen“ oder
„Badesalze“ eine Harmlosigkeit vor, die sie nicht haben .
Zudem wirbt der mittlerweile hoch professionalisierte
Vertrieb gerade mit der vermeintlichen Legalität der Sub-
stanzen .
Unter dem Oberbegriff „Legal Highs“, der sich in der
Szene eingebürgert hat, wird für Substanzen geworben,
deren Inhalt kaum ein Konsument kennt . Wie gefährlich
der Konsum dieser „Black Boxes“ ist, habe ich schon vor
einigen Wochen berichtet . Allein in Deutschland sind im
vergangenen Jahr 39 Menschen nach dem Konsum von
neuen psychoaktiven Stoffen ums Leben gekommen .
Man muss sich das wirklich wie Russisches Roulette
vorstellen . Man schluckt etwas, ohne jede Vorstellung
über die Inhalte . Und manche gehen noch weiter und
schlucken nicht nur . Von einigen Konsumenten werden
NPS sogar gespritzt – mit allen damit verbundenen Ge-
fahren . Das zeigt auch der Anstieg der HIV-Infektionen
in Irland .
Diesem Spiel mit dem Tod machen wir mit dem
Neue-Psychoaktive-Stoffe-Gesetz ein Ende . Es ist uns
gelungen, die juristisch hochkomplexe Materie in Hoch-
geschwindigkeit in Gesetzesform zu bringen . Ich bin viel
international unterwegs und weiß: Wir gehen hier einen
Weg, der auch für andere Länder beispielgebend ist . Al-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17179
(A) (C)
(B) (D)
len Beteiligten in den Ministerien meine Anerkennung
und meinen herzlichen Dank!
Mit dem Verbot ganzer Stoffgruppen sorgen wir dafür,
dass in Zukunft kein Zweifel mehr daran besteht: Legal
Highs gibt es nicht . Was zu den gefährlichen Stoffgrup-
pen gehört, darf nicht vertrieben werden . Werbung mit
der vermeintlichen Legalität ist gesetzwidrig . Dagegen
kann man vorgehen, und dagegen wird die Polizei auch
vorgehen .
Jedem ist klar, dass wir mit diesem Verbot allein das
Problem NPS natürlich nicht lösen werden . Wir müssen
auch über diese Drogen aufklären, müssen vermitteln,
dass auch niemand etwas essen oder trinken würde, ohne
zumindest einen prüfenden Blick darauf zu werfen . Ge-
nauso klar ist aber auch, dass wir das NPS-Problem ohne
dieses Verbot nicht lösen werden . Es ist ein notwendiger
Schritt zur Bewältigung dieser Herausforderung .
Wir bestrafen nicht die Konsumenten, sondern die
skrupellosen Händler, die Profite machen auf Kosten
der Gesundheit der Konsumenten . Wir werden es nicht
zulassen, dass junge Konsumenten als menschliche Ver-
suchskaninchen für Substanzen herhalten, deren poten-
zielle Gesundheitsrisiken weitgehend unbekannt sind .
Deshalb bitte ich um Unterstützung für unseren Ge-
setzentwurf .
Burkhard Blienert (SPD): Mit dem heute erstmalig
zu beratenden Gesetzentwurf zu den neuen psychoakti-
ven Substanzen, NPS, die landläufig als Legal Highs be-
kannt sind, nehmen wir uns nunmehr einer immer größer
werdenden Herausforderung an .
Unter Legal Highs werden Substanzen wie beispiels-
weise Badesalze und Kräutermischungen verstanden .
Die Substanzen hören sich harmlos an; ihr Titel Legal
Highs bewirkt zudem den Anschein der Legalität . Ihre
Wirkungen sind aber keineswegs harmlos, und legaler
Besitz soll nun verboten werden . Keiner kann nämlich
wissen, welche Zusammensetzung er gerade konsumiert,
und so liest man leider viel zu häufig, dass es infolge des
Konsums zu Nieren- und Kreislaufversagen kommt, dass
Wahnvorstellungen eintreten – leider vermehrt auch mit
tödlichem Ausgang .
Der Zugang zu den Substanzen ist simpel . Wenige
Mausklicks im Internet genügen, und die Ware kommt
per Post nach Hause . Das Bundesministerium hat bereits
2011 dank einer Studie Überblick über die Motive für
den Konsum der NPS erhalten . Die leichte Verfügbarkeit
und der legale Besitz waren hierfür ausschlaggebende
Beweggründe . Die Kosten für den Konsumenten sind
eher gering, wenn ein Päckchen von 3 Gramm dieser
gefährlichen Stoffe circa 20 bis 35 Euro kostet und je
nach Substanz eine Dosierung zwischen 5 Milligramm
und 200 Milligramm angenommen wird . Das alles sind
Aspekte, die das Anwachsen des Marktes fördern .
Der Markt jedenfalls wächst seit 2008 stetig . Ich gehe
davon aus, dass leider auch der nächste Drogenbericht
der Bundesregierung, der ja nächste Woche vorgestellt
werden wird, hier keine Entwarnung geben kann . Inner-
halb von fünf Jahren – zwischen 2008 und 2013 – stieg
die Zahl der Beschlagnahmungen dieser sogenannten
NPS in Europa um das Siebenfache an .
Im Vergleich zu den Drogentoten durch andere
Substanzen erscheinen die absoluten Zahlen für die
NPS-Konsumenten laut der neuesten Daten für 2015
zwar gering, schaut man aber auf die Zuwachszahlen, ist
die Entwicklung absolut besorgniserregend . Die Zahlen
weisen zudem aus, dass mittlerweile über 560 verschie-
dene Substanzen bekannt sind .
Wir kennen die Zielgruppen: 90 Prozent der Konsu-
menten sind Männer – sie nehmen die NPS zusätzlich
zu weiteren illegalen Substanzen –, und es gibt regionale
Schwerpunkte in Deutschland beim Konsum der NPS .
Gerade der rasante Anstieg neuer Substanzen prägt
das Bild eines „Hase-und-Igel-Spiels“: Sobald der Ge-
setzgeber die eine Substanz verboten hat, wird eine neue
auf dem Markt angeboten . Hier besteht Handlungsbe-
darf . Es muss daher dringend gelingen, diesen Wettlauf
zu beenden .
Hintergrund dieser Entwicklung ist das Urteil des
Europäischen Gerichtshofs vom 10 . Juli 2014, nach
dem alle NPS nicht mehr als Arzneimittel im Sinne des
Arzneimittelgesetzes betrachtet werden können . Für alle
NPS, die nun noch nicht in die Anlagen des Betäubungs-
mittelgesetzes aufgenommen worden sind, entsteht da-
her eine Gesetzeslücke . Diese Gesetzeslücke gilt es zu
schließen . Die Bundesregierung hat hierzu richtigerwei-
se einen Gesetzentwurf vorgelegt . Er sieht nun den neuen
Ansatz der Stoffgruppenstrafbarkeit vor .
Deutschland würde damit Beispielen anderer europä-
ischer Länder, wie Österreich, folgen . Kern des Gesetz-
entwurfs ist die Definition der Stoffgruppen. Der Gesetz-
entwurf sieht hierfür eine Fokussierung auf synthetische
Cannabinoide, Phenylethylamine und Cathinone vor . Sie
machen seit 2005 zwei Drittel aller neuen Stoffe aus . Die
Variantenfülle dieser Stoffgruppen befördert die explo-
sionsartige Vervielfältigung neuer Substanzen auf dem
Markt .
Es wird im parlamentarischen Verfahren nun zu erör-
tern sein, ob dieser Ansatz der Stoffgruppenstrafbarkeit
zielführend ist, ob es Alternativen gibt, ob er ergänzt und
ob er modifiziert werden muss.
Über allem stehen hierbei auch die Frage der grund-
sätzlichen Strafbarkeit von Suchtmittelbesitz und die
Wirkungen der Prohibition . Der Antrag der Linken greift
genau diesen Aspekt auf und verweist auf sogenannte
Nebenwirkungen der strikten Verbotspolitik bei Drogen .
Wir müssen hier also die fachliche Diskussion führen
und genau benennen, was wir wie erreichen wollen und
erreichen können .
Ich scheue diese Diskussion nicht . Bereits 2012 hatten
wir als SPD-Bundestagsfraktion einen entsprechenden
Antrag zur Herausforderung des Umgangs mit den Legal
Highs mit einigen wichtigen und richtigen Maßnahmen
hier im Bundestag eingebracht . Ich würde mich freuen,
wenn wir in einer fachlich-sachlichen Befassung zu ge-
meinsamen Lösungen kämen, um viele Menschen vor
den gesundheitlichen Nebenwirkungen dieser alles ande-
re als harmlosen Stoffe wirkungsvoll zu schützen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617180
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Martina Stamm-Fibich (SPD): Ich bin froh, dass die
Bundesregierung mit dem 1 . Gesetz zur Bekämpfung der
Verbreitung neuer psychoaktiver Stoffe ein Verbot für
künstliche Drogen auf den Weg bringt .
Seit einigen Jahren entwickeln sich Kräutermischun-
gen, die sogenannten Legal Highs, zu einer Modedro-
ge mit ungeahnten Folgen für Leib und Leben . Neue
psychoaktive Substanzen – kurz: NPS – sind schnell
zu einem gravierenden Problem geworden . So melden
Rettungsdienste und die Polizei eine erhöhte Anzahl an
Einsätzen mit Personen, die im Rauschzustand teilwei-
se vollkommen orientierungslos umherschwanken, auf
dem Boden liegen und schlafen oder teilweise auch im
komatösen Zustand ins Krankenhaus gebracht werden
müssen .
Auch Lehrer und Suchtberatungsstellen schlagen
Alarm; denn immer mehr Jugendliche bestellen sich im
Internet synthetisch bedampfte Substanzen, die unter
harmlosen Namen wie Kräutermischungen, Badesalze
oder Lufterfrischer gehandelt werden . Diese Mischun-
gen sind aber hochgefährlich; denn keiner weiß genau,
was wirklich drin ist . Vielen Jugendlichen ist das nicht
bewusst, und sie denken, dass sie harmlose Substanzen
konsumieren .
Auch in meinem Wahlkreis sind neue psychoaktive
Substanzen leider ein sehr reales Problem . Ganz aktuell:
Anfang Mai wurden drei Teenager bewusstlos aufgefun-
den und ins Krankenhaus gebracht, die Kräutermischun-
gen konsumiert hatten . Noch mehr beunruhigt hat mich
aber ein Vorfall aus dem vergangenen Jahr . Damals ist
ein junger Mann unter Drogeneinfluss in eine Grund-
schule gestürmt . Der Konsum von Kräutermischungen
hatte bei ihm starke Psychosen ausgelöst . Ein Sprung aus
dem Fenster endete für ihn zwar im Krankenhaus, aber
Gott sei Dank nicht tödlich . Alleine in Deutschland sind
im vergangenen Jahr aber 25 Menschen an Drogen ge-
storben . Harmlos ist etwas anderes!
Kräutermischungen, Badesalze oder Lufterfrischer
klingen wie Produkte aus dem Drogeriemarkt . Aber das
sind sie nicht . Es sind Drogen, die wissenschaftlich voll-
kommen unerforscht sind . Experimente mit nicht vorher-
sehbaren Risiken machen vor allem die Konsumenten;
denn sie wissen nicht, was sie zu sich nehmen . Die Zu-
sammensetzung der synthetisch veränderten Pflanzen-
teile oder Designerdrogen variiert ständig . Was gestern
noch „bloß“ einen Rauschzustand verursacht hat, kann
heute schlimme Nebenwirkungen hervorrufen . Die syn-
thetisch veränderten Drogen sind vielfach stärker als
nicht veränderte Wirkstoffe .
Die Geschichte des jungen Mannes hätte auch ganz
anders ausgehen können; denn die Liste der Nebenwir-
kungen ist erschreckend und lang: Panikattacken, Kreis-
laufprobleme, extreme Übelkeit, Orientierungsverlust bis
hin zum Herzstillstand können die Folgen des Konsums
sein . Keiner weiß, was er da zu sich nimmt . Nicht selten
landen Konsumenten in der Psychiatrischen Abteilung
einer Kinder- und Jugendklinik .
Im Flash Eurobarometer, einer Telefonumfrage unter
13 000 jungen Erwachsenen zwischen 15 und 24 Jahren,
gaben 2015 8 Prozent der Teilnehmer an, schon einmal
neue psychoaktive Substanzen konsumiert zu haben .
Meiner Meinung nach sind das 8 Prozent zu viel .
Der Konsum von neuen psychoaktiven Substanzen
hat sich in den letzten fünf Jahren erschreckend erhöht .
Zwischen 2012 und 2014 wurden 255 neue Substanzen
entdeckt . Das waren 2014 im Schnitt pro Woche zwei
neue Substanzen . Das Problem ist nur: Drogenbehörden
und der Gesetzgeber hinken weit hinterher . Kaum ist eine
neue Substanz gelistet und damit als illegal gekennzeich-
net, verändern die Hersteller die chemische Struktur .
Eine neue Substanz ist kreiert, und die wird dann wieder
nicht vom Betäubungsmittelgesetz und nicht vom Arz-
neimittelgesetz erfasst – so lange, bis sie verboten und
eine neue Substanz erschaffen wird .
Deshalb ist der nun vorgelegte Gesetzentwurf zur Be-
kämpfung der Verbreitung neuer psychoaktiver Stoffe
ein wichtiger Schritt; denn erstmals lassen sich ganze
Stoffgruppen listen . Mit diesen Stoffgruppen können wir
zwei Drittel aller Substanzen erfassen . Eine Stoffgruppe
sind zum Beispiel synthetische Cannabinoide . Darunter
fallen viele Arten von Kräutermischungen . Eine weitere
Stoffgruppe sind Cathinone, im Volksmund Badesalze
genannt .
Der Gesetzentwurf liest sich zwar wie ein Chemielehr-
buch, aber mit diesem Chemielehrbuch decken wir eine
ganze Reihe gefährlicher Substanzen ab, und wir been-
den damit das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Drogen-
herstellern und Drogenbehörden .
Aber Stoffgruppen zu listen, macht wenig Sinn, wenn
dann keine Konsequenzen folgen . Deshalb wird künftig
auch geregelt, wer mit welchen Strafen rechnen muss .
Verboten werden generell die Herstellung, das Inver-
kehrbringen, der Handel und die Einführung der Drogen .
Einzeltäter müssen mit einer Geldstrafe und mit bis zu
drei Jahren Haft rechnen . Dealer und Banden müssen mit
Haftstrafen von bis zu zehn Jahren rechnen .
Der Gesetzentwurf ist ein erster und wichtiger Schritt
im Kampf gegen neue psychoaktive Substanzen .
Damit ist das Problem aber noch lange nicht gelöst .
Ich arbeite in meinem Wahlkreis eng mit der regionalen
Drogenhilfe zusammen . Besonders schockiert war ich,
als mir eine Website gezeigt wurde, auf der man einfach
und unkompliziert sämtliche Arten von Drogen bestel-
len kann, und der Postbote bringt das vermeintliche Par-
ty-Päckchen dann nach Hause . Noch harmloser können
gefährliche Substanzen wie Legal Highs kaum daher-
kommen . Hier müssen wir anpacken und die Vertriebs-
wege besser überwachen .
Ein weiterer wichtiger Schritt ist natürlich die Aufklä-
rung . Solange neue psychoaktive Substanzen als harmlos
gelten, wird sich wenig an ihrer Verbreitung ändern . Der
Europäische Drogenbericht 2015 gibt an, dass immer
mehr Drogenkonsumenten auf neue psychoaktive Sub-
stanzen umsteigen, weil Kokain und MDMA in immer
schlechterer Qualität verkauft werden . Andere wechseln
die Droge, weil Legal Highs im Blut nicht so leicht nach-
gewiesen werden können . Das müssen wir berücksich-
tigen, und wir müssen künftige Kampagnen an diesen
Problemen ausrichten .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17181
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Ich habe in meinem Wahlkreis eine eigene Aufklä-
rungskampagne gestartet . Gemeinsam mit der örtlichen
Drogenhilfe mudra und dem größten Tee-Anbieter der
Region gehe ich an Schulen und weise auf die Probleme
hin . Im Gepäck habe ich die „echte Kräutermischung“,
also Kräutertee; denn das ist das Einzige, was ich unter
einer Kräutermischung verstehe . Ich möchte die jungen
Menschen damit zum Nachdenken anregen . Die Mitar-
beiter der Drogenhilfe klären in der Unterrichtsstunde
über die Probleme und Gefahren des Drogenkonsums
auf .
Die Aktion kommt sehr gut an . Lehrer zeigen großes
Interesse an der Unterstützung im Kampf gegen die ge-
fährlichen Drogen, und Schüler gehen meist nachdenk-
lich aus der besonderen Unterrichtsstunde heraus .
Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, um den
Gefahren der neuen psychoaktiven Substanzen angemes-
sen begegnen zu können . Der Gesetzentwurf ist ein erster
wichtiger Schritt, aber er wird und kann nicht der letzte
sein .
Frank Tempel (DIE LINKE): Der am Dienstag vor-
gestellte EU-Drogenbericht von 2016 spricht es klar aus:
560 sogenannte neue psychoaktive Substanzen – kurz:
NPS – werden EU-weit beobachtet . NPS haben verschie-
dene Namen . Sie werden oftmals online als „Forschungs-
chemikalien“, „Nahrungsergänzungsmittel“ oder „Legal
Highs“ verkauft . Allein im Jahr 2015 kamen 100 Stoffe
hinzu . Mittlerweile sind es im Schnitt jede Woche zwei
weitere Substanzen .
Das ist eine rasante Entwicklung, und es gibt kein An-
zeichen für einen rückläufigen Trend. Deswegen ist es
richtig, dass auch die Politik über die Verbreitung von
psychoaktiven Substanzen debattiert und dann die rich-
tigen Schlüsse zieht .
Doch was ist ein geeignetes Mittel, um die Verbrei-
tung von NPS zu stoppen? Hierfür müssen wir uns im
Klaren sein, weshalb Konsumentinnen und Konsumen-
ten auf NPS zurückgreifen .
Schätzungsweise zwei Drittel der NPS sind syntheti-
sche Cannabinoide . Sie sollen in irgendeiner Form den
Rausch von Cannabis simulieren . Es sind insbesonde-
re Konsumentinnen und Konsumenten von Cannabis,
die auf NPS zurückgreifen, um das Verbot von Canna-
bisprodukten zu umgehen . Sie fürchten die vielen ver-
schiedenen Formen der Repression, mit denen Canna-
bis-Konsumierende in diesem Land rechnen müssen:
Polizeiermittlungen, Hausdurchsuchungen, Führerschei-
nentzug – und das selbst, wenn sie nicht einmal berauscht
am Steuer sitzen .
Neue psychoaktive Substanzen werden geschaffen,
um das Drogenverbot zu umgehen . Dies geschieht schon
durch eine minimale Veränderung der chemischen Struk-
tur . Für viele Cannabis-Konsumierenden erscheinen NPS
daher als Alternative, wenn sie anderenfalls mit Stigma-
tisierung oder Verfolgung rechnen müssen – sei es, weil
sie schon wegen Besitzes von Cannabis vorbestraft sind,
oder sei es, weil sie im Beruf mit Drogenkontrollen rech-
nen müssen .
Die Folgen sind verheerend: 39 Menschen starben im
Jahr 2015 durch den Konsum von neuen psychoaktiven
Substanzen . Das ist ein Anstieg um 56 Prozent zum Vor-
jahr . Wäre Cannabis mit seinen bekannten Rauschwir-
kungen und Gefahren legal und in kontrollierter Qualität
erhältlich, würden sich wohl nur wenige Menschen für
den erwünschten Rausch unbekannten – ja sogar tödli-
chen – Gesundheitsrisiken aussetzen .
Diese Drogentoten sind eine direkte Folge der Ver-
botspolitik von Cannabis! Das belegen sowohl die Zah-
len zur Verbreitung von NPS als auch die Zahlen der
Todesfolgen durch NPS: Diese sind in den Regionen
Deutschlands besonders hoch, wo die Verbote von Can-
nabis besonders streng verfolgt werden . Das ist zum
Beispiel im Bundesland Bayern der Fall, dem Herkunfts-
land unserer Drogenbeauftragten Marlene Mortler von
der CSU . In Bayern droht Cannabis-Konsumierenden
selbst bei minimalen Mengen wie 0,1 Gramm schon die
Strafverfolgung durch die Staatsanwaltschaft . Andere
Bundesländer mit weniger Verfolgungsdruck auf Can-
nabis-Konsumierende haben deutlich weniger Fälle von
NPS-Konsum und Todesfolgen . Das sollte auch Frau
Mortler zu denken geben .
Anstatt aber die Verbotspolitik zu beenden, weitet die
Bundesregierung ihre fehlgeleitete Politik noch aus, in-
dem sie nun schon ganze Stoffgruppen verbieten will .
Ich kann Ihnen aber jetzt schon prognostizieren, dass wir
in den nächsten Jahren nicht weniger Legal Highs haben
werden, sondern noch mehr . Das Katz-und-Maus-Spiel
zwischen der Entwicklung neuer Substanzen und dem
Verbot von Substanzen wird in eine neue Runde gehen .
Erst wenn Sie diese Spirale durchbrechen, wird auch die
Entwicklung immer neuer Substanzen zurückgehen .
Die Linke kommt ihrer Verantwortung als Oppositi-
onsführerin nach . Dem Stoffgruppenverbot der Bundes-
regierung setzen wir unseren Antrag entgegen . Unab-
hängige Expertinnen und Experten sollen demnach das
Betäubungsmittelrecht auf seine Geeignetheit überprü-
fen, um das Ziel der öffentlichen Gesundheit zu fördern .
Hierzu brauchen wir die gesamte Bandbreite an Fach-
kenntnissen aus Rechtswissenschaft, Suchthilfe, Sozial-
arbeit, Konsumierendenverbänden, Medizin, Kriminolo-
gie, Public Health, Erziehungswissenschaft und Polizei .
Daneben setzt sich die Linke für einen begrenzten und
streng regulierten Zugang zu Cannabis für Volljährige
ein, damit Cannabis-Konsumierende nicht mehr auf ge-
fährliche neue psychoaktive Substanzen zurückgreifen .
Die Verbreitung von NPS gibt der Politik aber noch ei-
nige weitere Hausaufgaben auf: Wir müssen endlich auch
bei anderen Rauschmitteln Optionen für regulierte und
nichtkommerzielle Abgabemodelle prüfen und erproben .
Dabei müssen wir stets das Ziel im Auge behalten, den
organisierten illegalen Drogenhandel auszutrocknen,
die Gesundheitsschäden durch Drogenkonsum so weit
wie möglich zu minimieren und die Erreichbarkeit von
Präventions-, Therapie- und Hilfeangeboten für Konsu-
mierende zu verbessern . Erst durch ein solches Gesamt-
konzept kann die Politik der Verbreitung von neuen psy-
choaktiven Substanzen begegnen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617182
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Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das leitende Motto der Bundesregierung bei der Erarbei-
tung des Gesetzentwurfs zur Bekämpfung der Verbrei-
tung neuer psychoaktiver Stoffe war anscheinend „Au-
ßergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche
Maßnahmen“ . Denn die von Ihnen vorgeschlagenen Lö-
sungen zur Reduzierung des Konsums und der Verbrei-
tung neuer psychoaktiver Substanzen sind die Krönung
der gescheiterten Verbotspolitik .
Was Ihnen offensichtlich immer noch nicht bewusst
ist: Das Bedürfnis nach Rausch besteht unabhängig vom
Angebot . Dieses Bedürfnis wird von unterschiedlichen
Menschen in unterschiedlicher Weise befriedigt . Das
Verbot und Strafverfolgung sind hier die falschen An-
sätze . Eine drogenfreie Welt ist eine Illusion und nicht
durchsetzbar .
Anstatt die Auswirkungen des Betäubungsmittelge-
setzes zu evaluieren, schaffen Sie neue Verbote . Diese
Verbote tragen jedoch nicht dazu bei, dass die Schäden
durch Drogenkonsum reduziert werden – im Gegenteil .
Das jetzige Betäubungsmittelrecht ist einer der Gründe
dafür, warum Substanzen wie neue psychoaktive Stoffe,
umgangssprachlich oft als Legal Highs bezeichnet, über-
haupt auf dem Markt sind: Es ist nicht immer der Kick
und die Suche nach neuen Erfahrungen, die Konsumen-
tinnen und Konsumenten zu diesen Mitteln greifen lässt .
Vielmehr handelt es sich oft um ein Ausweichverhalten,
das zum Beispiel durch das Cannabisverbot hervorgeru-
fen wird . Konsumentinnen und Konsumenten versuchen,
auf legale Alternativen auszuweichen . In mehreren Be-
fragungen von Konsumentinnen und Konsumenten gab
die Mehrheit der Befragten an, neue psychoaktive Sub-
stanzen zu konsumieren, weil sie legal sind . Auch andere
Konsumgründe stehen in unmittelbarem Zusammenhang
mit dem Cannabisverbot, beispielsweise die Nichtnach-
weisbarkeit von Legal Highs in Drogentests . Aber auch
die Angst vor Verlust des Führerscheins oder ein Zu-
rückscheuen vor der Beschaffung von Cannabis in der
Drogenszene sind Gründe für das Ausweichen auf Legal
Highs . In einer Studie des Kings College London geben
zudem 93 Prozent der Legal-High-Konsumenten an, dass
sie natürliches Cannabis aufgrund der geringeren Neben-
wirkungen eigentlich bevorzugen .
Das Stoffgruppenverbot wird weder die Verbreitung
von Legal Highs verhindern noch den gesundheitlichen
Schutz von Konsumenten stärken . Stattdessen servieren
Sie der organisierten Kriminalität den Markt für Legal
Highs auf dem Silbertablett .
Das von Ihnen vorgeschlagene Stoffgruppenverbot
wird das Katz-und-Maus-Spiel von Anbietern und Ge-
setzgeber noch verschärfen . Angebot und Konsum neuer
psychoaktiver Substanzen werden durch das Verbot nicht
verhindert . Auf dem illegalen Drogenmarkt geht es um
knallharte wirtschaftliche Interessen, die mit allen erfin-
derischen Mitteln verfolgt werden .
Bestes und wahrscheinlich bekanntestes Beispiel:
die Räuchermischung Spice . Nach der Bestimmung des
Wirkstoffes in Spice wurden die darin enthaltenen synthe-
tischen Cannabinoide unter das Betäubungsmittelgesetz
gestellt . Damit wurde zwar der Verkauf der Räuchermi-
schung Spice illegal . Kurz darauf wurden auf dem Markt
jedoch Nachfolgeprodukte angeboten, die eine ähnliche
Wirkung und Risiken für die Gesundheit der Konsumen-
tinnen und Konsumenten hatten . Die Nachfolgeprodukte
enthielten andere synthetische Cannabinoide, von denen
in den folgenden Jahren ebenfalls zahlreiche dem Betäu-
bungsmittelgesetz unterstellt wurden . Auf Verbot folgte
Verbot, doch der Markt schuf immer wieder neue legale
Substanzen .
Um die Dimensionen des Erfindergeistes der Drogen-
industrie zu verdeutlichen: Allein im Jahr 2014 wurden
von der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen
und Drogensucht 101 neue psychoaktive Substanzen ge-
zählt . Seit 2005 wurden insgesamt 400 neue Stoffe ent-
deckt . Das zeigt: Die Hersteller bestimmen den Markt
und sind dem Gesetzgeber immer einen Schritt voraus .
Das Stoffgruppenverbot wird diese Entwicklung nicht
verhindern . Nur weil ganze Stoffgruppen verboten wer-
den sollen, werden die Drogenköche ihrer Kreativität
nicht weniger Lauf lassen . Es werden weiterhin neue
Substanzen auftauchen, die von dem Stoffgruppenver-
bot nicht erfasst sind und mitunter gefährlicher sind als
„klassische“ Substanzen . Und das geben Sie sogar selbst
zu . Denn Ihr Vorschlag sieht vor, dass das Gesundheits-
ministerium bei Bedarf weitere Stoffe oder Stoffgruppen
verbieten darf . Da beißt sich doch die Katze selbst in den
Schwanz .
Darüber hinaus: Jugend- und Verbraucherschutz so-
wie glaubhafte Drogen- und Suchtprävention werden in
diesem Rennen gnadenlos abgehängt . Und damit möchte
ich an das von Ihnen angestrebte Ziel des Gesetzentwur-
fes appellieren: den Schutz der Gesundheit der Bevölke-
rung und des Einzelnen . Hier scheitert Ihr Entwurf auf
ganzer Linie:
Erstens wird das Verbot der neuen psychoaktiven
Stoffe nicht vom Konsum abhalten . Ihr Grundverständ-
nis, dass das Verbot und die mögliche Konsequenz der
Strafverfolgung signifikant vom Konsum abhalten, hat
sich, insbesondere bei Jugendlichen, nicht erwiesen . Ihre
autoritäre Masche ist veraltet und zieht schon lange nicht
mehr .
Zweitens ersetzen Sie die konkrete Gefahr für die Ge-
sundheit durch neue psychoaktive Stoffe argumentativ
durch die reine Missbrauchsabsicht, das heißt den Kon-
sum zu Rauschzwecken . Dies ist deshalb bedenklich,
weil damit der Unrechtsgehalt der Vorschrift allein auf
die Missbilligung des Sich-Berauschens reduziert wird .
Eine solche rein moralische Missbilligung einer be-
stimmten Absicht – ohne konkret dahinterstehende Ge-
fahr – ist nicht zu rechtfertigen . Zudem entsteht dadurch
eine klare Ungleichbehandlung mit anderen legalen Sub-
stanzen wie Alkohol oder Medikamenten, die ebenfalls
zu Rauschzwecken konsumiert werden und bei denen die
gesundheitliche Gefahr eindeutig nachgewiesen ist . Die-
se Grundlage, die wissenschaftliche Bewertung des Ri-
sikos einer Substanz, fehlt dem Gesetzentwurf gänzlich .
Die Legalität eines Stoffes hat zukünftig nichts mehr mit
der Gesundheit der Gesellschaft oder des Einzelnen zu
tun, sondern gründet nur darauf, ob ein Stoff auf einer
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 2016 17183
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Liste steht oder eben nicht und damit verboten ist oder
erlaubt .
Drittens werden durch den Schwarzmarkt die gesund-
heitlichen Risiken – beispielsweise durch Beimischun-
gen oder Wirkstoffschwankungen – bedeutend größer
im Vergleich zu einer Regulierung einer Substanz . Ver-
hältnispräventive Maßnahmen wie Jugendschutz und be-
grenzte Abgabezeiten und -orte, aber auch verpflichtende
Information und Beratung am Abgabeort gibt es auf dem
Schwarzmarkt nicht . Eine Regulierung von Substanzen
mit Abhängigkeitspotenzial muss sich an ihrer Gefähr-
lichkeit orientieren . Das gilt für neue psychoaktive Stoffe
genauso wie für Alkohol, Cannabis oder Medikamente .
Viertens werden die neuen psychoaktiven Stoffe wei-
terhin über den Online-Verkauf aus dem Ausland auf
dem deutschen Markt bereitgestellt werden können . Und
gerade der Internethandel mit unkomplizierten Kaufab-
wicklungen floriert. Hier werden der Zoll und die Straf-
verfolgungsbehörden, auch wenn eine Substanz illegal
ist, maximal einen Bruchteil der eingeführten Substanzen
abschöpfen können, die Produzenten und Verkäufer im
Ausland jedoch nicht an ihrem Handel hindern können .
Fünftens fehlen in dem Gesetzentwurf Maßnahmen
zur Suchtprävention . Der illegale Status der Substanzen
erschwert grundsätzlich eine wirksame Prävention . Dro-
gen- und Suchtprävention sind auch immer eine Frage
der Glaubwürdigkeit . Insbesondere staatlich geförderte
Suchtberatungsstellen werden an Glaubwürdigkeit ver-
lieren, denn Jugendliche werden aufgrund des Verbots
diese staatlichen oder staatlich geförderten Beratungs-
stellen als voreingenommen einstufen . Zugleich werden
durch das Verbot Möglichkeiten zur Schadensminderung
wie beispielsweise das Drug Checking abgewendet . Da-
bei ist gerade Drug Checking eine wichtige Maßnah-
me der Schadensminderung, die Konsumentinnen und
Konsumenten die Möglichkeit gibt, die Substanzen auf
Wirkstoffgehalt und Reinheit zu überprüfen . Dies kann
Konsumentinnen und Konsumenten auch dazu bewegen,
sich gegen den Konsum zu entscheiden .
Nicht nur, dass die Verteufelung von Drogen, in die-
sem Fall von neuen psychoaktiven Substanzen, dazu
führt, dass keine sachlichen, objektiven Informationen
über Konsum- und Suchtrisiken für Verbraucherinnen
und Verbraucher zur Verfügung gestellt werden, die auch
eine Entscheidung gegen den Konsum fördern könnten .
Das Erlernen eines verantwortungsvollen Umgangs mit
Drogen wird für Konsumentinnen und Konsumenten
damit gleichermaßen erschwert wie der barrierefreie Zu-
gang zu Hilfs- und Unterstützungsangeboten . Das Verbot
ist schlichtweg Antiaufklärung und Antiprävention .
Neue psychoaktive Stoffe sind im Gegensatz zu tradi-
tionellen Drogen in Deutschland eher gering verbreitet .
Die Gesundheitsrisiken entstehen insbesondere aus der
unbekannten Zusammensetzung der Produkte, variieren-
den Wirkstoffkonzentrationen und Ungewissheit über
die Dosierung sowie der Neuartigkeit der Stoffe, über
die keine bis geringe Erforschung der konkreten Risiken .
Daher kann der Konsum neuer psychoaktiver Stoffe mit
hohen Risiken einhergehen . Das Anpreisen von neuen
psychoaktiven Substanzen als scheinbar harmlose Ba-
desalze, Dufterfrischer oder Kräutermischungen täuscht
Konsumentinnen und Konsumenten die Ungefährlich-
keit der Substanzen vor . Das muss sich ändern und kann
nur in einem regulierten Markt mit strengen Vorschriften
für Jugend- und Verbraucherschutz sowie Suchtpräventi-
on stattfinden.
Das Verbot und das Strafrecht sind jedoch der falsche
Ansatz und tragen nicht dazu bei, dass die Schäden durch
riskanten Drogenkonsum reduziert werden . Der von mir
eingangs geschilderte Prozess, dass Konsumentinnen und
Konsumenten auf neue psychoaktive Substanzen auswei-
chen, weil sie leichter zu beschaffen sind, wird von der
Bundesregierung ignoriert . Sie halten stur an dem Ver-
bot fest . Doch wird auch in diesem Fall das Stoffgrup-
penverbot die Situation nicht im Geringsten verbessern .
Stattdessen werden durch das Verbot die potenzielle
gesundheitliche Schädigung von Konsumentinnen und
Konsumenten in Kauf genommen, die Stigmatisierung
von Konsumentinnen und Konsumenten vorangetrieben .
Die organisierte Kriminalität gewinnt an Einfluss und
verkauft Drogen auch an Jugendliche, das heißt diejeni-
gen, die wir am meisten schützen müssen .
Neue psychoaktive Substanzen sind als Nebenprodukt
der gescheiterten Verbotspolitik anzusehen . Deshalb ist
es umso unverständlicher, wie man immer noch an dem
gescheiterten Cannabisverbot festhalten kann, anstatt
einen staatlich regulierten Cannabismarkt zu etablieren,
der endlich Jugend- und Verbraucherschutz ermöglich
würde, Konsumentinnen und Konsumenten nicht länger
kriminalisiert und stigmatisiert, sowie eine legale Mög-
lichkeit des Erwerbs von Cannabis mit geprüften Inhalts-
und Wirkstoffen zu ermöglichen . Konsumentinnen und
Konsumenten, die derzeit auf neue psychoaktive Sub-
stanzen aufgrund des Cannabisverbots ausweichen, wür-
den dieses Angebot nutzen .
Das von Ihnen vorgeschlagene Stoffgruppenverbot
unterstreicht noch einmal die naive Weltvorstellung der
Bundesregierung, dass eine drogenfreie Welt mit Verbo-
ten durchzusetzen sei .
Ingrid Fischbach, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Gesundheit: Die Bundesregierung will
mit einem weitreichenden Verbot neuer psychoaktiver
Stoffe – kurz: NPS – den Wettlauf zwischen dem Auftre-
ten immer neuer chemischer Varianten bekannter Stoffe
und daran angepassten Verbotsregelungen im Betäu-
bungsmittelrecht durchbrechen . Deshalb hat die Bundes-
regierung den Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung
der Verbreitung neuer psychoaktiver Stoffe in den Bun-
destag eingebracht .
Was sind NPS? NPS sind meist synthetische Substan-
zen, die gelegentlich auch als „Designerdrogen“, „Re-
search Chemicals“ oder auch „Legal Highs“ bezeichnet
werden . In den letzten Jahren ist eine ständig zunehmen-
de Anzahl derartiger Stoffe aufgetaucht . In der Regel ist
bei NPS die chemische Struktur von Stoffen, die bereits
unter das Betäubungsmittelgesetz fallen, gezielt so ver-
ändert worden, dass der neue Stoff nicht mehr den Ver-
bots- und Strafvorschriften des BtMG unterliegt . Die für
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 173 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 2 . Juni 201617184
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(B) (D)
Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
Missbrauchszwecke geeignete Wirkung auf die Psyche
bleibt jedoch erhalten oder verstärkt sich sogar .
Wöchentlich bringen die Akteure des Drogenmarktes
einen neuen dieser Stoffe in Umlauf . Die entsprechenden
betäubungsmittelrechtlichen Verbotsverfahren benötigen
längere Zeit . Aus diesen Gründen ist es schwierig gewor-
den, die sogenannten Legal Highs zeitnah dem BtMG zu
unterstellen .
Durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs im
Jahr 2014 lassen sich NPS auch nicht länger als Arz-
neimittel im Sinne des Arzneimittelgesetzes einordnen .
Dadurch ist eine Regelungslücke bei diesen Stoffen ent-
standen . Das fehlende Verbot kann gerade bei jungen
Konsumenten den falschen Eindruck erwecken, die häu-
fig professionell aufgemachten und gezielt junge Men-
schen ansprechenden Produkte seien harmlos .
Tatsächlich hat der NPS-Konsum mitunter schwere
Folgen . Die Symptome reichen von Übelkeit, heftigem
Erbrechen, Herzrasen und Orientierungsverlust über
Kreislaufversagen, Ohnmacht, Lähmungserscheinungen
und Wahnvorstellungen bis hin zum Versagen der Vital-
funktionen . Es sind sogar Todesfälle bekannt, bei denen
der Konsum von NPS nachgewiesen wurde .
Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfs für ein eigen-
ständiges Neue-Psychoaktive-Stoffe-Gesetz – NPSG – ist
es, die Gesundheit der Bevölkerung und jeden Einzelnen,
insbesondere die Jugendlichen und jungen Erwachsenen,
vor den häufig unkalkulierbaren und schwerwiegenden
Gefahren, die mit dem Konsum von NPS verbunden sind,
zu schützen . Die Verbreitung dieser Stoffe soll bekämpft,
und ihre Verfügbarkeit soll eingeschränkt werden .
Konkret sieht der Entwurf ein großflächiges Erwerbs-,
Besitz- und Handelsverbot vor . Zudem soll die Weiter-
gabe von NPS unter Strafe gestellt werden . Erstmals
bezieht sich das Verbot auf ganze Stoffgruppen, um der
Verbreitung immer neuer Varianten bekannter Betäu-
bungsmittel und psychoaktiver Stoffe entgegenzuwirken .
Es wird nicht mehr wie bisher möglich sein, durch kleine
chemische Veränderungen Verbote zu umgehen und ge-
fährliche Stoffe auf den Markt zu bringen . Damit wird
den von NPS insbesondere für Jugendliche und junge Er-
wachsene ausgehenden erheblichen Gesundheitsgefah-
ren vorausschauend und effektiver begegnet .
Mit der Regelung ganzer Stoffgruppen wird der ein-
zelstoffliche Ansatz des Betäubungsmittelgesetzes er-
gänzt . Erfasst sind Phenethylamine, Cathinone – das sind
mit Amphetamin verwandte Stoffe – und synthetische
Cannabinoide. Diese Verbindungen treten am häufigsten
auf .
Mit dem NPSG geben wir ein klares Signal an poten-
zielle Händler und Konsumenten: Die sogenannten Legal
Highs sind verbotene und hochgradig gesundheitsgefähr-
dende Stoffe .
173. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 3 Regulierung des Prostitutionsgewerbes
TOP 4 Gesetz zur Bekämpfung des Menschenhandels
TOP 5 Gedenken an den Völkermord an den Armeniern
TOP 6 Riester-Rente und gesetzliche Rentenversicherung
TOP 31, ZP 2 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 32, ZP 3 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
TOP 7 Änderung des Telemediengesetzes
TOP 8 Erweiterung des Arbeitslosenversicherungsschutzes
TOP 13 Milchkrise
TOP 10 Sicherung des Fachkräftepotenzials
TOP 11 Sowjetische Kriegsgefangene als NS-Opfer
TOP 12 Bundeswehreinsatz in Kosovo (KFOR)
TOP 9 Rechtslage bei Samenspende
TOP 14 Bundeswehreinsatz in Libanon (UNIFIL)
TOP 15 Essensversorgung in Kitas und Schulen
TOP 16 Änderung des Agrarmarktstrukturgesetzes
TOP 17 Transparenz bei der Ministererlaubnis
TOP 18 Dopingopfer-Hilfegesetz
TOP 19 Verbraucherrechte bei Anlagepleiten
TOP 20 Änderung bewachungsrechtlicher Vorschriften
TOP 21 Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Dienst
TOP 22 Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch
TOP 23 Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küstenschutz
TOP 24 Änderung des Direktzahlungen-Durchführungsgesetzes
TOP 25 Bekämpfung der Verbreitung neuer psychoaktiver Stoffe
Anlagen
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11