Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie zu
unserer Plenarsitzung und rufe gleich den ersten Tages-
ordnungspunkt auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 18./19. Februar
2016 in Brüssel
Hierzu liegen drei Entschließungsanträge der Fraktion
Die Linke vor. Über einen dieser Entschließungsanträge
werden wir nach Abschluss der Debatte namentlich ab-
stimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung 77 Minuten vorgesehen. Besteht dazu Einverneh-
men? – Das ist offensichtlich der Fall. Also können wir
so verfahren.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Zukunft Großbritanniens als Mitglied derEuropäischen Union wird ein beherrschendes Thema desmorgen beginnenden Europäischen Rates sein. Wir wer-den uns dort gemeinsam mit den Erwartungen befassen,die der britische Premierminister David Cameron im Na-men Großbritanniens an die Europäische Union heran-getragen hat.Wir haben als Bundesregierung stets klargemacht,dass wir für Ergebnisse arbeiten, von denen am Endenicht nur das Vereinigte Königreich selbst, sondern auchDeutschland und ganz Europa profitieren. Denn es han-delt sich bei den Anliegen David Camerons keineswegsnur um britische Einzelinteressen. Bei einigen Tatsachenoder Fragen muss man sogar sagen: Ganz im Gegenteil:Es handelt sich in vielen Punkten auch um Anliegen, dieberechtigt und nachvollziehbar sind. Genau wie DavidCameron zum Beispiel halte auch ich es für erforderlich,dass wir uns in der Europäischen Union deutlich mehrfür Wettbewerbsfähigkeit, Transparenz und Bürokratie-abbau einsetzen. Deutschland und Großbritannien teilendiese Überzeugung seit vielen Jahren.
Ich teile mit David Cameron darüber hinaus auch dieAuffassung, dass die Mitgliedstaaten, die eine andereWährung als den Euro haben, in den für sie wichtigenFragen nicht übergangen werden dürfen. Unser Ziel mussdeshalb sein, Diskriminierung zu vermeiden, gleichzei-tig aber eine Differenzierung zuzulassen, wo dies in derSache erforderlich ist. Das steht überhaupt nicht im Wi-derspruch dazu, dass die Europäische Wirtschafts- undWährungsunion natürlich auch in Zukunft weiterhin diefür sie selbst notwendigen Entscheidungen eigenständigtreffen kann – und das auch tun wird. Denn die Erfahrungaus der europäischen Staatsschuldenkrise hat gezeigt,wie schnell zusätzliche Integrationsschritte erforderlichwerden können.Ich erinnere daran, dass noch nicht alle Probleme,die durch die Krise sichtbar geworden sind, bereits dau-erhaft gelöst worden sind. Genau aus diesem Grundewollen Deutschland und Frankreich gemeinsame Vor-schläge erarbeiten, wie die Europäische Wirtschafts- undWährungsunion sinnvoll weiterentwickelt werden kann.Deshalb ist es auch so wichtig, dass der Präsident desEuropäischen Rates, Donald Tusk, in seinen Vorschlä-gen klargestellt hat, dass keine zusätzlichen Hindernissefür eine Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsuniongeschaffen werden dürfen. Denn wenn einige in der Eu-ropäischen Union voranschreiten wollen, dann muss dasauch in Zukunft weiter möglich sein.
Dies steht im Übrigen auch in keinerlei Gegensatz zudem Anliegen David Camerons, eine gemeinsame Aus-legung für das in den europäischen Verträgen verankerte
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Ziel einer – wie es dort wörtlich heißt – „immer engerenUnion der Völker Europas“ zu finden. Auch hier sind wiruns einig: Es muss immer die Möglichkeit weiterer In-tegration geben, aber eine Verpflichtung jedes einzelnenMitgliedstaats, sich an jedem Schritt zu beteiligen, gibtes nicht. Eine immer engere Union bedeutet für mich vorallem, dass die Europäische Union mit ganzer Kraft ihrenwesentlichen Aufgaben nachkommt und die dafür not-wendigen Schritte geht. Die Prinzipien der Subsidiaritätund der Verhältnismäßigkeit, die wir in den europäischenVerträgen im Übrigen fest verankert haben, bringen ge-nau das zum Ausdruck.Es ist natürlich darüber hinaus wichtig, wenn Groß-britannien in diesem Zusammenhang auf die Bedeutungder nationalen Parlamente hinweist. Bei uns in Deutsch-land besteht zwischen Parlament und Regierung ja be-reits eine sehr enge Zusammenarbeit in Europafragen. Inden anstehenden Verhandlungen mit Großbritannien gehtes nun darum, die Einbindung der nationalen Parlamenteauch auf europäischer Ebene weiter zu verbessern. Dasgilt vor allem dann, wenn die nationalen Parlamente diegerade von mir genannten Prinzipien von Subsidiaritätund Verhältnismäßigkeit in Gefahr sehen.Meine Damen und Herren, das öffentlich wohl ammeisten diskutierte Anliegen aus britischer Sicht ist dieBeseitigung von Fehlanreizen in den Sozialsystemen.Auch dieses Anliegen ist nachvollziehbar und berechtigt;denn die Zuständigkeit für die jeweiligen Sozialsystemeliegt nun einmal nicht zentral in Brüssel, sondern beiden einzelnen Mitgliedstaaten. Deshalb ist es für michselbstverständlich, dass jeder Mitgliedstaat auch in derLage sein muss, sein Sozialsystem gegen Missbrauch zuschützen.
Ich erinnere an die Diskussion, die wir hierzu auch inDeutschland führen. Die Rechtsprechung des Bundesso-zialgerichts zum Beispiel hat gezeigt, dass es auch beiuns Handlungsbedarf für die nationale Gesetzgebunggibt, der allerdings stärker durch die Rechtsprechungdes Bundesverfassungsgerichts hervorgerufen wurdeals durch die europäische Rechtsprechung. Ich bin sehrdankbar, dass Bundesministerin Nahles rechtliche Schrit-te gehen wird, die hier eine Lösung bringen.
Es gibt also keinen Dissenspunkt zwischen Großbri-tannien und Deutschland, wenn es um die Sozialsystemegeht. Allerdings führt diese Debatte zu einem übergeord-neten Punkt. Sie führt dazu, dass wir darauf bestehen,bei Anpassungen auf europäischer Ebene die grundle-genden Errungenschaften der europäischen Integrationnicht infrage zu stellen. Das sind in der gegenwärtigenDiskussion mit Großbritannien vor allem die Prinzipiender Freizügigkeit und der Nichtdiskriminierung. Insofernmöchte ich hier noch einmal deutlich machen: Diese bei-den Prinzipien stehen nicht zur Disposition.
Diese Grundhaltung jetzt mit den britischen Anliegen zuvereinbaren, ist die Aufgabe, die es zu lösen gilt; und dasist unser gemeinsames Ziel, auch wenn der Teufel wie sooft im Detail steckt. Es gibt Vorschläge der Kommission;aber wir werden darüber sicherlich auch noch intensiveBeratungen im Rat haben.Natürlich werden wir diese Woche beim EuropäischenRat keine Vertragsänderungen beschließen. Vielmehrwird es darum gehen, zu vereinbaren, bei der nächstenÜberarbeitung der europäischen Verträge die inhaltli-che Substanz unserer Einigung mit Großbritannien zuberücksichtigen. Diese nächste Vertragsänderung mussdann natürlich im Einklang mit den einschlägigen Pro-zeduren und den verfassungsrechtlichen Vorgaben beiuns in Deutschland erfolgen; das versteht sich von selbst.Wenn es also so weit ist, wird das Einvernehmen mitdem Deutschen Bundestag herzustellen und ein Zustim-mungsgesetz zu verabschieden sein.Meine Damen und Herren, insgesamt halte ich dieVorschläge, die der Präsident des Europäischen Rates,Donald Tusk, vorgelegt hat, für eine sehr gute Verhand-lungsgrundlage. Deutschland wird seinen Beitrag leisten,damit ein für alle Seiten zufriedenstellendes Ergebniserzielt werden kann, nach Möglichkeit bereits beim mor-gen beginnenden Europäischen Rat.Ich danke an dieser Stelle allen Kolleginnen und Kol-legen im Kabinett sowie des Deutschen Bundestages, diedas Gespräch mit ihren britischen Partnern gesucht habenund auf beiden Seiten für Verständnis geworben haben.Ich bin überzeugt, dass es in unserem nationalen Interes-se ist, dass Großbritannien ein aktives Mitglied in einerstarken und erfolgreichen Europäischen Union bleibt.
Deutschland hat mit Großbritannien einen Verbünde-ten, wenn wir uns in Europa für den Binnenmarkt, fürmehr Wettbewerbsfähigkeit und für Freihandel einsetzen.
Außerdem braucht Europa das außen- und sicherheitspo-litische Engagement Großbritanniens, um unsere Werteund Interessen in der Welt zu behaupten. Im Bewusstseindieser gemeinsamen Interessen und Werte führen wir dieVerhandlungen, am Ende aber – das wissen wir – wer-den die britischen Wählerinnen und Wähler entscheiden.Vorher haben wir Europäer die Aufgabe, unser Bestes zugeben, damit die britische Regierung mit überzeugendenArgumenten für einen Verbleib des Vereinigten König-reichs in der Europäischen Union werben kann. Eine Ei-nigung auf die britischen Reformanliegen ist hierfür einwichtiger Schritt.Gleichzeitig müssen wir weit darüber hinaus bewei-sen, dass die Europäische Union in der Lage ist, auf diegroßen globalen Herausforderungen unserer Zeit ge-meinsame Antworten zu finden. Dazu gehört an aller-erster Stelle die Fluchtbewegung, die Europa – das darfman wohl sagen – vor eine historische Bewährungspro-be stellt. Diese Frage wird das zweite große Thema desBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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Europäischen Rates sein, das wir morgen Abend beratenwerden.Meine Damen und Herren, um es gleich vorwegzusa-gen: Ob der Rat ein Erfolg oder ein Misserfolg wird, dasentscheidet sich wahrlich nicht an der Frage der Kontin-gente. Auf dem Rat geht es nicht um die Vereinbarungvon Kontingenten. Wir machten uns in Europa auch lä-cherlich, wenn wir am Freitag, nachdem die vereinbarteVerteilung von 160 000 Flüchtlingen nicht einmal ansatz-weise erfolgt ist, obendrauf Kontingente beschlössen;das wäre der zweite Schritt vor dem ersten.Auf dem kommenden Europäischen Rat geht es viel-mehr um etwas anderes. Es geht um diese Frage: Sindwir mit unserem europäisch-türkischen Ansatz auf derGrundlage der EU-Türkei-Agenda, die wir am 29. No-vember letzten Jahres gemeinsam beschlossen haben, zurumfassenden Bekämpfung der Fluchtursachen und zumSchutz der Außengrenzen so weit vorangekommen, dasses sich lohnt, diesen Weg weiterzugehen, weil mit ihmdie illegale Migration spürbar eingedämmt werden kann,was die entscheidende Voraussetzung für legale Kontin-gente ist? Oder müssen wir aufgeben und stattdessen, wiejetzt manche vehement fordern, die Grenze Griechen-lands zu Mazedonien und Bulgarien schließen mit allenFolgen für Griechenland und die Europäische Unioninsgesamt? Das ist die Bewertungssituation für die Zwi-schenbilanz, die ich nach dem Rat vornehmen möchte.Es versteht sich von selbst, dass ich meine Kraft da-rauf verwende, dass sich der europäisch-türkische Ansatzals der Weg herausstellen kann, den es sich lohnt weiter-zugehen.
Worum geht es dabei, und was können wir mit diesemAnsatz erreichen? Unser gemeinsames Ziel ist es, dieZahl der Flüchtlinge spürbar und nachhaltig zu reduzie-ren, um so auch weiterhin den Menschen helfen zu kön-nen, die unseres Schutzes wirklich bedürfen. Strittig inder Debatte ist der Weg, wie wir dieses Ziel erreichen.Die Bundesregierung setzt an drei Punkten an: Erstens.Wir bekämpfen die Fluchtursachen. Zweitens. Wir stellenden Schutz der EU-Außengrenze zwischen Griechenlandund der Türkei, also an der für die Flüchtlingsbewegungzumindest im Augenblick entscheidenden Schengen-Au-ßengrenze, wieder her und teilen die Lasten. Und drit-tens. Wir ordnen und steuern den Flüchtlingszuzug.Zum ersten Punkt, zur Bekämpfung der Fluchtursa-chen. Wir in Deutschland haben ja Globalisierung bislangvor allem über unsere Exporte und den Erfolg unsererUnternehmen kennengelernt. Jetzt – das spüren wir – se-hen wir eine ganz andere Seite der Globalisierung. Derislamistische Terrorismus bedroht auch uns; das wissenwir nicht erst seit den schrecklichen Terroranschlägenvon Paris. Direkt vor unserer europäischen Haustür wü-ten blutige Kriege und Konflikte, die Hunderttausendedas Leben kosten und Millionen Menschen entwurzeln.Viele von ihnen suchen Schutz in der Türkei, im Liba-non, in Jordanien, in Europa. Es steht außer Zweifel, dassdauerhaft weniger Menschen nur dann zu uns kommenwerden, wenn wir dort ansetzen, wo sie herkommen, unddie Ursachen beheben, die sie in die Flucht treiben.
Wir sehen und hören es jeden Tag. Besonders akut stelltsich diese Aufgabe mit Blick auf die Tragödie in Syrien.In der letzten Woche hat die internationale Kontaktgrup-pe in München die Voraussetzungen für einen möglichenWaffenstillstand in Syrien vereinbart.Ich möchte an dieser Stelle ganz herzlich unseremBundesaußenminister danken.
Wenn ich seinen Tagesablauf vom letzten Donnerstagbis zum letzten Sonntag nachverfolge und mir ansehe,an wie vielen Diskussionsforen der Außenminister teil-genommen hat, die sich alle mit Konflikten in unsererunmittelbaren Nähe befasst haben, dann kann ich einfachnur sagen: Diplomatie und politische Lösungen sind indieser Zeit gefragt. Sie brauchen unglaubliche Ausdauer.Sie erleben immer wieder Rückschläge; aber es ist jedesMal neu wert, dieses zu versuchen. – Deshalb der Dank.
Nach dieser Vereinbarung können jetzt hoffentlich ei-nige Städte in Syrien mit Hilfsgütern versorgt werden.Trotzdem ist, ohne diese Bemühungen in irgendeinerWeise infrage zu stellen, die Lage unverändert deprimie-rend. Es wird statt weniger in diesen Tagen in einigenRegionen mehr gekämpft, und statt weniger Leid gibt esan vielen Stellen mehr Leid, nicht zuletzt ausgelöst durchdie Angriffe Russlands und der syrischen Regierungs-truppen,
wie wir es in und um Aleppo leider sehen müssen, auchin dem Gebiet bis zur türkischen Grenze, auch in derStadt Asas und an anderer Stelle.Die jetzige Situation ist also immer noch untragbar.Es wäre hilfreich, wenn es in Syrien ein Gebiet gäbe, aufdas keine der Kriegsparteien Angriffe fliegt. Mit den Ter-roristen des IS können wir nicht verhandeln; aber wennes gelänge, zwischen der Anti-Assad-Koalition und denAssad-Unterstützern eine Vereinbarung über eine ArtFlugverbotszone im Sinne eines Schutzbereichs für dievielen Flüchtlinge zu treffen,
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rettete das viele Menschenleben und diente auch dempolitischen Prozess zur Zukunft Syriens. Ich glaube, wirsollten nichts unversucht lassen.
Daneben steht für uns die Verbesserung der Lebensbe-dingungen syrischer Flüchtlinge im Mittelpunkt unsererAnstrengungen – in den eingeschlossenen Gebieten ander syrisch-türkischen Grenze wie in der gesamten Re-gion. Die Syrien-Geberkonferenz am 4. Februar 2016in London hat hierfür wichtige Weichen gestellt. Ins-gesamt kamen für humanitäre Hilfe – also Welternäh-rungsprogramm, Schule, Arbeit – für Menschen in Syri-en, im Libanon, in Jordanien und in der Türkei für 2016 5,9 Milliarden Dollar und für die Jahre 2017 bis 2020 5,4 Milliarden Dollar zusammen, alles in allem also über11 Milliarden Dollar. Der Generalsekretär der VereintenNationen hat uns noch einmal darauf hingewiesen, dassdies die erfolgreichste Geberkonferenz in der Geschichteder Vereinten Nationen war; denn bei noch keiner Geber-konferenz wurde an einem Tag so viel Geld gesammelt.
Wir leisten hier einen erheblichen Beitrag. Ich möchtedem Finanzminister danken, natürlich auch dem Ent-wicklungsminister und dem Außenminister.Wir haben uns entschieden, hier einen Schwerpunktzu setzen, weil wir uns im vergangenen Jahr sehr starkmit der Frage beschäftigt haben, was Menschen in dieFlucht treibt, und gesehen haben, dass gerade die Kür-zungen beim Welternährungsprogramm eine der wesent-lichen Ursachen waren. Wir haben mit unserem Beitragjetzt neben dem sehr spannenden Programm „Cash forWork“, womit Menschen in Arbeit gebracht werden, vorallen Dingen einen Schwerpunkt auf das Welternährungs-programm gesetzt. Wir als Bundesrepublik Deutschlandwerden zu dem, was die Welternährungsorganisation alsHilfe in Form von Lebensmitteln für Syrien und die um-gebenden Länder als Bedarf für dieses Jahr angesetzt hat,die Hälfte beitragen. Ein weiterer Teil ist auch schon ge-sichert, und wir werden darauf Wert legen, dass alsbaldklar ist, dass auch der Rest da ist, damit die Mitarbei-terinnen und Mitarbeiter des Welternährungsprogrammsnicht von Monat zu Monat Angst haben müssen, dass siedie Rationen wieder kürzen müssen. Ich glaube, das ist inunser aller Interesse.
Wir haben uns beim Besuch des irakischen Minister-präsidenten al-Abadi entschieden, der irakischen Regie-rung einen Kredit, einen ungebundenen Kredit, in Höhevon 500 Millionen Euro zu geben, insbesondere für dieVerwirklichung von Infrastrukturmaßnahmen, hier vorallem für Infrastrukturmaßnahmen in Städten, die vom ISbefreit wurden; diese sind brutal zerstört, und sie müssenschnell wiederaufgebaut werden, damit die Menschen inihre Heimat zurückkehren können.Und wir haben die schon lange beratenen 3 MilliardenEuro, mit denen die Europäische Union die Türkei beider Verbesserung der Lebensperspektiven der Flüchtlin-ge vor Ort unterstützt, nun endlich, sage ich, freigege-ben; ich hoffe, dass sehr schnell auch Projekte realisiertwerden können. Denn wenn wir uns überlegen, dass inStädten wie zum Beispiel Kilis genauso viele Flüchtlingewie einheimische Einwohner leben, dann ist klar, dasses neuer Schulen und neuer Krankenhäuser bedarf. Dasmuss jetzt auch schnell umgesetzt werden.Meine Damen und Herren, die Türkei ihrerseits hateine Arbeitserlaubnis für Syrer in der Türkei vergeben –zwar in unterschiedlicher Ausprägung, aber immerhingibt es jetzt eine Perspektive, dass syrische Flüchtlingeoder Gäste, wie die Türkei sagt, auch Arbeitsmöglichkei-ten haben.Das führt zu dem zweiten Punkt, an dem die Bundes-regierung ansetzt, der Wiederherstellung des Schutzesder EU-Außengrenze zwischen Griechenland und derTürkei, und damit zum berechtigten Wunsch und Anlie-gen der Türkei, Lasten zu teilen. Ich will daran erinnern:In der Türkei sind im Augenblick 2,5 Millionen syrischeFlüchtlinge, und die Türkei hat 70 Millionen Einwohner.Wir in Deutschland haben eine ungefähre Vorstellungvon dem, was das – auch für ein Land wie die Türkei –bedeutet. Deshalb ist es richtig und gut, wenn wir versu-chen, zwischen der Europäischen Union und der TürkeiLasten zu teilen.Die Türkei ihrerseits hat die Visumspflicht für Syreraus Jordanien und aus dem Libanon eingeführt, ebensoim Hinblick auf Irak, Iran und Afghanistan. Meine Da-men und Herren, wenn wir eine Visumspflicht für Sy-rer aus Jordanien und Libanon vertreten, dann bedeutetdas, dass dann auch wirklich die Lebensbedingungender Flüchtlinge in Jordanien und Libanon besser werdenmüssen. Ich will auch hier daran erinnern: Der Libanonhat 5 Millionen Einwohner – ich habe in London mit demlibanesischen Ministerpräsidenten gesprochen –, unddort sind deutlich mehr als 1 Million Flüchtlinge. Wasdas für ein Land wie den Libanon bedeutet, der im Übri-gen zwischen Regionalkonflikten und Regionalmächtenhin- und hergerissen ist, mag man sich vorstellen. Des-halb ist „Cash for Work“, die Schaffung von Unterbrin-gungsmöglichkeiten und all das andere, was wir machen,wichtig.
Wir haben in vielen Bereichen eine bilaterale Ko-operation mit der Türkei vereinbart, insbesondere derBundesinnenminister. Es geht hier um polizeiliche Zu-sammenarbeit; die entsprechenden MoUs dazu sind un-terschriftsreif. Es geht auch um das Technische Hilfs-werk, das bereit ist, gerade jetzt an der türkisch-syrischenGrenze zu helfen, wenn das gewünscht wird. Diese bila-terale Kooperation – das darf ich sagen – entwickelt sichim Übrigen sehr gut.Des Weiteren haben wir entschieden, dass wir die Si-tuation auf der Ägäis verbessern müssen; das heißt, wirmüssen die Überwachung dort verbessern. Dazu gibtes einen NATO-Einsatz. Warum ein NATO-Einsatz? Esgibt die entsprechenden maritimen Einheiten. Es gibtBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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großen Bedarf, eine Küste, die 900 Kilometer lang ist,systematisch zu überwachen und sozusagen Boote auf-zubringen, die illegal Flüchtlinge von einer Seite aufdie andere bringen. Diese Mission kann natürlich nur inKooperation mit der türkischen Küstenwache erfolgen –hier muss der Datenaustausch schnell gewährleistet sein,damit die türkische Küstenwache ihre Arbeit aufnehmenkann –, und sie muss in Kooperation mit der europäi-schen Grenzschutzagentur Frontex durchgeführt werden.Die Türkei hat sich bereit erklärt, die Flüchtlinge, die imRahmen von Frontex, aber auch von NATO-Schiffen ge-rettet werden, wenn sie in Not sind, wieder in die Türkeizu bringen.Wir haben ein Rückübernahmeabkommen zwischenGriechenland und der Türkei, das hinreichend schlechtfunktioniert, weil es sehr bürokratisch ausgestaltet ist.Hier wird an einer Entbürokratisierung gearbeitet.Meine Damen und Herren, der dritte Punkt, an demdie Bundesregierung ansetzt, schließt nahtlos an die in-ternationale und die europäische Ebene an. Im Übrigenbin ich bei dem, was ich zum zweiten Punkt gesagt habe,der Meinung, dass das, wo wir jetzt angekommen sind,rechtfertigt, genau diesen Weg weiterzugehen.Natürlich erwartet die Türkei andererseits, dass wirdie Beitrittsverhandlungen beleben. Im Übrigen willich auch sagen: In den Gesprächen, die wir mit der Tür-kei führen, geht es nicht nur um diese Punkte, sondernauch um journalistische Freiheiten und um die Fragen:Wie geht es mit den Kurden weiter? Wie kann man derJugend in den Regionen der Türkei, die heute stark inAuseinandersetzungen verwickelt sind, Chancen für dieZukunft geben? – Es ist also nicht so, dass wir nur übereinige Fragen sprechen und über andere nicht. Aber ohneGespräche wird es nicht gehen.
Ich glaube, es lohnt sich, diese Agenda fortzusetzen;denn, meine Damen und Herren, wir als EuropäischeUnion müssen lernen, auch maritime Grenzen zu schüt-zen. Das ist schwieriger, als Landgrenzen zu schützen.Wenn wir das nicht lernen, wird uns das beim nächstenMal bei Italien, dem ja Libyen gegenüber liegt, auchnicht gelingen. Das heißt also: Ein Kontinent, der dasnicht lernt, auch im Ausgleich und im Gespräch mit sei-nen Nachbarn – bei Libyen ist das zugegebenermaßenschwer, solange es dort keine Einheitsregierung gibt;deshalb arbeiten wir mit Hochdruck daran –, der dasnicht schafft, der nur mit Abschottung kurz hinter dermaritimen Grenze reagiert und sagt: „Wer auch immerdort hinter dem Zaun sitzt, interessiert uns nicht“, kannnicht die europäische Antwort sein – jedenfalls nach mei-ner festen Überzeugung.
National – das wissen Sie – haben wir vieles erreicht:Die Ankommenden an der österreichisch-deutschenGrenze werden inzwischen registriert und kontrolliert. Esgibt einen einheitlichen Flüchtlingsausweis, der schritt-weise eingeführt wird. Wir diskutieren in dieser Wocheüber das Asylpaket II. Den Inhalt kennen Sie: Abbau vonAbschiebehindernissen, Beschleunigung der Verfahren.Wir haben einen Kabinettsbeschluss für weitere sichereHerkunftsländer gefasst, von dem ich hoffe, dass er baldin Kraft treten kann. Und wir haben sehr schnell als Re-aktion auf die Ereignisse in Köln Voraussetzungen ge-schaffen, dass wir schnellere Ausweisungen straffälligerFlüchtlinge realisieren können.
Meine Damen und Herren, all das steht immer unter dergleichen Überschrift: Die, die Schutz brauchen und su-chen, sollen Schutz bekommen.Im Übrigen will ich darauf hinweisen, dass trotz allerkritischen Umfragen über 90 Prozent der deutschen Be-völkerung nach wie vor sagen: Wer vor Terror, Krieg undVerfolgung flieht, soll in Deutschland die Möglichkeitder Aufnahme und des Schutzes haben.
Ich finde das wunderbar.Meine Damen und Herren, der Europäische Rat amDonnerstag und Freitag hat zwei herausragende The-men: Großbritannien in der Europäischen Union unddie Flüchtlingsfrage. Wir sehen daran, dass sich die Eu-ropäische Union zurzeit gewaltigen Herausforderungengegenübersieht. Sie muss alles daransetzen, ihre Werteund Interessen so zu vertreten, dass die Bürgerinnen undBürger in Europa sowie die Menschen außerhalb Euro-pas den Eindruck haben, dass die Probleme erfolgreichüberwunden werden können, ohne dass Europa und imErgebnis alle Mitgliedstaaten der Europäischen UnionSchaden nehmen.Mit dem Rat wird die Diskussion über beide Themennicht beendet sein. Er ist eine Etappe auf dem Weg, aufdem Europa bislang nach jeder Krise stärker wurde. Ichhoffe, dass das auch dieses Mal der Fall sein kann.Genau das dient dann nämlich Europa und – davon binich zutiefst überzeugt – dann auch dem Wohle Deutsch-lands, um im – ich zitiere Wolfgang Schäuble – „Ren-dezvous mit der Globalisierung“ wirklich bestehen zukönnen. Das leitet mich. Dafür bitte ich um Ihre Unter-stützung.Herzlichen Dank.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derKollegin Sahra Wagenknecht für die Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen, zumindest diejenigen, die im Raum bleiben! FrauBundeskanzlerin, ich denke, gerade in der aktuellenspannungsgeladenen Weltlage wäre es wichtig, ein eini-ges und handlungsfähiges Europa zu haben. In diesemSinne hielten wir auch Ihre Bemühungen um eine euro-päische Lösung der Flüchtlingsproblematik für richtig.Aber wie ich gehört habe – das ist ja angesichts der ganzbreiten Koalition der Unwilligen nicht erstaunlich –, ha-ben Sie dieses Anliegen aufgegeben.Aber nicht nur in der Flüchtlingskrise, sondern auch invielen anderen Fragen ist die EU ja inzwischen gerade-zu zu einem Synonym für Zwietracht, Krise und Verfallgeworden. Dafür trägt auch die deutsche Regierung eineMitverantwortung.
Der europäische Scherbenhaufen ist zum einen derScherbenhaufen neoliberaler Verträge sowie undemokra-tischer und konzerngesteuerter Technokratie, zum ande-ren aber auch der Scherbenhaufen einer Arroganz, die,wie Herr Kauder das einmal so unnachahmlich formu-liert hat, ganz Europa deutsch sprechen lassen wollte. Ichglaube, wer ernsthaft gedacht hat, Europa ließe sich vonBerlin aus regieren, der darf sich nicht wundern, wennihm jetzt selbst der Wind ins Gesicht bläst.
Es gab eine Zeit, in der die große Mehrheit der Eu-ropäer mit der europäischen Einigung die Hoffnung aufWohlstand, Frieden und soziale Sicherheit verbundenhat. Die heutige EU ist aber vor allem eine EU der wirt-schaftlich Mächtigen und der Reichen. Wer die Schulden-bremse verletzt, der bekommt blaue Briefe aus Brüssel.Eine Armutsbremse oder eine Obergrenze für Jugendar-beitslosigkeit, die zum Handeln verpflichten würde, gibtes aber nicht. Im Gegenteil: Wenn eine Regierung, wiedie portugiesische oder im letzten Jahr die griechische,auch nur ein bisschen etwas daran ändern will, dass inihrem Land so viele Menschen in Armut leben, dann gibtes eine harsche Intervention aus Brüssel. Einige ande-re Länder hingegen, die alles daransetzen, Konzernenlukrative Steuersparmodelle anzubieten, die woandersdie Steuereinnahmen wegschmelzen lassen, werden mitpolitischen Spitzenposten für ihr Personal auf BrüsselerEbene geadelt.Fast ein Viertel aller EU-Bürger lebt inzwischen in Ar-mut, während sich die Zahl der europäischen Milliardäreseit Beginn der Krise mehr als verdoppelt hat. Ich mussSie fragen: Da wundern Sie sich, dass sich immer mehrMenschen von einem solchen Europa abwenden,
dass das Gefühl um sich greift, sie könnten wählen, wensie wollen, und am Ende kommt in diesem Europa dochimmer nur die gleiche neoliberale Politik heraus? Dawundern Sie sich, dass unter solchen Bedingungen na-tionalistische Parteien immer mehr Zulauf haben? Wirfinden das erschreckend, aber erstaunlich finden wir dasnicht.
Auch die Briten, die gegen die EU sind – das zeigenja Umfragen –, machen sich vor allem Sorgen um die so-zialen Folgen von Zuwanderung, um Lohndumping undum Wohnungsmangel. Deswegen ist es völlig absurd,dass Herr Cameron als Voraussetzung für den VerbleibGroßbritanniens jetzt ausgerechnet weiteren Sozialabbauund Narrenfreiheit für den Finanzplatz London verlangt.Noch absurder wäre es, solchen Forderungen nachzuge-ben. So etwas stabilisiert die EU nicht, sondern zerlegtsie nur immer weiter.
Da man inzwischen schon Referenden machen muss,um in der EU etwas zu erreichen, frage ich mich: Wa-rum werden eigentlich nicht alle Menschen in der EU ge-fragt? Warum fragen Sie die Bevölkerung in Deutschlandnicht, was sie von den neoliberalen Verträgen hält?
Es spricht einiges dafür, dass auch bei uns immer weni-ger in einer marktkonformen Demokratie leben möchten,in der Arbeitnehmer gegeneinander ausgespielt werdenund die soziale Ungleichheit immer größer wird.Ein demokratiekonformes Europa, das den Sozialstaatnicht abbaut, sondern absichert, wäre ein Projekt, das dieMenschen wieder für die europäische Idee begeisternkönnte.
Wenn Sie nicht wollen, dass Europa völlig in Nationalis-mus zerfällt, dann ändern Sie Ihre Politik und schaffenSie ein soziales und demokratisches Europa. Das ist dieeinzige Chance dafür, dass dieses Europa überlebt. Sonstgibt es doch keine.
Gerade auch außenpolitisch brauchen wir Hand-lungsfähigkeit. Frau Merkel, Sie seien erschrocken undentsetzt über das menschliche Leid, das durch die Bom-benangriffe entstanden ist. Das haben Sie angesichts derrussischen Luftangriffe auf Aleppo gesagt.
Ich stimme Ihnen zu: Was sich in und um Aleppo ab-spielt, ist brutal und barbarisch.
Die Luftangriffe, die Kämpfe und das Blutvergießenmüssen endlich gestoppt werden – ganz klar und soschnell wie möglich.
Wir finden es aber schon erstaunlich, dass sich Ihr Ent-setzen über die Gräuel und die Barbarei von Kriegen nur
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dann Bahn bricht, wenn russische Maschinen ihre Bom-ben abwerfen.
Glauben Sie wirklich, dass das Sterben unter amerikani-schen, britischen oder französischen Bomben mit Unter-stützung deutscher Tornados weniger leidvoll ist?
Mindestens 1,3 Millionen Menschenleben – überwie-gend Zivilisten – haben die sogenannten Antiterrorkriegedes Westens, die in Wahrheit immer Kriege um Rohstoffeund Absatzmärkte waren, allein in den letzten anderthalbJahrzehnten ausgelöscht; Kriege, an denen Deutschlandindirekt oder direkt immer beteiligt war; Kriege, mit de-nen deutsche Waffenschmieden glänzende Geschäfte ge-macht haben. 1,3 Millionen Tote, ungezählte MillionenVerletzte und aus ihrer Heimat Vertriebene. Ich frage Sie,Frau Merkel: Wo war da Ihr Entsetzen? Vor allen Dingen:Wo sind die Konsequenzen, die Sie daraus ziehen?
Auch wir wissen, dass es in der Außenpolitik unver-meidlich ist, auch mit unangenehmen Regimen zu reden.Aber es gibt doch einen Unterschied zwischen Redenund Hofieren. Sie haben gerade wieder über die Bekämp-fung von Fluchtursachen gesprochen. Sie haben über dieGefahren des Terrorismus gesprochen. Und da wählenSie als Ihren bevorzugten Partner zur Lösung der Flücht-lingskrise ausgerechnet den Terrorpaten Erdogan,
der mit seiner blutigen Politik gegen die Kurden im ei-genen Land und mit seiner Unterstützung von islamis-tischen Terrorbanden in Syrien geradezu eine personifi-zierte Fluchtursache ist. Das ist doch völlig irrational.
Die Verwandlung der Türkei in ein Flüchtlingsgefängnisunter Oberaufseher Erdogan, der Europa grenzenlos er-pressen kann, weil er den Schlüssel zu diesem Gefängnisimmer in der Tasche behält,
das ist doch keine Lösung, sondern eine moralischeBank rotterklärung.
Inzwischen bombardiert die Türkei rücksichtslos auchsyrische Kurden, die zu den entschlossensten Kämpferngegen den „Islamischen Staat“ gehören. Der Chef derMünchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger –weiß Gott kein Freund der Linken –, spricht von der „ge-fährlichsten Weltlage seit dem Ende des Kalten Krieges“und warnt vor der Gefahr eines nuklearen Konflikts. UndSie üben den türkisch-deutschen Schulterschluss. Wol-len Sie sich allen Ernstes von diesem unberechenbarenErdogan in einen Krieg mit Russland hineinziehen las-sen, nur weil er offenbar der Überzeugung ist, dass dieAl-Nusra-Front und andere islamistische Terroristen inSyrien Unterstützung brauchen? Das ist doch eine völligabsurde Politik. Das kann man doch nicht verantworten.
Nicht viel besser steht es um Ihren zweiten Verbün-deten, die saudische Kopf-ab-Diktatur, bei der HerrSteinmeier auf Festivals auftritt und für die Herr Gabrielunverdrossen Waffenexporte genehmigt,
obwohl die Saudis Menschenrechte mit Füßen treten,
obwohl sie im Jemen einen Krieg angezettelt habenund in Syrien ebenfalls islamistische Verbrecherbandenhochrüsten und finanzieren.
Wer in Syrien wirklich einen Waffenstillstand will, dermuss doch endlich sämtliche Terrorbanden von der Zu-fuhr mit Waffen abschneiden.
Länder, die diese Terroristen unterstützen, die gehörennicht umworben und hofiert, sondern die gehören unterDruck gesetzt.
Das Erste, was Sie machen müssen, wenn Sie dieFlüchtlingszahlen wirklich reduzieren wollen, ist: HörenSie endlich auf – dazu fordern wir Sie auf –, weiter Waf-fen in diese Krisenregion zu liefern! Es gibt in Syrieninzwischen unübersichtlich viele Kriegsparteien. Aber esgibt so gut wie keine einzige Partei, die nicht mit deut-schen Waffen kämpft. Selbst der IS tut das inzwischen.Das ist doch eine Schande.
Sie haben es angesprochen: Natürlich muss auch dieSituation in den Flüchtlingscamps dringend verbessertwerden. Wir hoffen sehr, dass die Zusagen, die gemachtwurden, tatsächlich eingehalten werden.Noch eine Bitte, Frau Merkel: Werben Sie auf demmorgigen EU-Gipfel für eine an europäischen Interessenausgerichtete Außenpolitik. Es gehört zu den europäi-schen Interessen, mit Russland wieder ein gutes Verhält-nis zu haben statt eine immer weiter eskalierende Kon-frontation. All das wären realistische Schritte zur Lösungder Probleme.
Voraussetzung dafür aber wäre natürlich, dass dieseRegierung überhaupt wieder handlungsfähig wird, stattden Hauptteil ihrer Kraft und ihrer Zeit mit internemGezänk und internen Wadenbeißereien zu vergeuden.81 Prozent der Menschen haben inzwischen das Gefühl,dass diese Regierung die Probleme nicht mehr im GriffDr. Sahra Wagenknecht
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hat. Selbst eine Ihnen freundlich gesonnene Zeitung wieDie Welt konstatiert, dass die Bundesregierung in Europanoch nie so isoliert war wie gegenwärtig.Deswegen gilt – damit komme ich zum Schluss –:
Sie können eben nicht beides haben: eine neoliberale Po-litik der sozialen Kälte in Europa und ein solidarischesMiteinander. Das geht nicht zusammen. Der Neolibera-lismus zerstört anteilnehmendes und mitfühlendes Han-deln.
Wenn Sie solidarische Lösungen wollen, dann än-dern Sie die grundsätzliche Ausrichtung Ihrer Politik.Nur dann hat Europa vielleicht irgendwann wieder eineChance.
Das Wort erhält nun Thomas Oppermann für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir erle-ben in diesen Monaten die wohl schwierigste Phase derEuropäischen Union. Da finde ich es ausgesprochen er-freulich, dass jedenfalls bei den Bleibeverhandlungenmit Großbritannien der Wunsch nach Zusammenhaltim Vordergrund steht. Wie es scheint, gibt es eine rea-listische Möglichkeit, sich mit Großbritannien zu ver-ständigen, und bei allen grundsätzlichen Vorbehaltengegenüber Sonderrechten finde ich: Diese Chance mussgenutzt werden. Wir können uns eine Europäische Unionohne Großbritannien nicht vorstellen, meine Damen undHerren.
Großbritannien ist nicht nur die zweitstärkste Volks-wirtschaft in Europa; sie ist auch G-7-Mitglied und Veto-macht im UN-Sicherheitsrat. Es würde die EU nicht nurinnenpolitisch schwächen, sondern es würde vor allemihre außenpolitische Bedeutung herabsetzen und damitunsere Möglichkeiten, in dieser Welt gemeinsam unsereInteressen zu vertreten und unsere Werte zu verteidigen.Deshalb lohnt sich die politische Anstrengung, mit Groß-britannien einen Kompromiss zu erzielen, der Europafestigt.Ein Kompromiss kann aber nicht zur Folge haben,dass sich die EU innerlich desintegriert. Wir werden kei-ne Einigung akzeptieren, die einzelnen Mitgliedsländernein Veto gegen weitere Integrationsschritte gibt. Es kannnicht sein, dass Nicht-Euro-Staaten die Integration derEuro-Zone blockieren dürfen.
Gegenseitige Rücksichtnahme: Ja. Aber die Reformfä-higkeit der Euro-Zone muss in jedem Fall erhalten blei-ben.
Das von der Kanzlerin angesprochene Ziel der immerengeren Union der europäischen Völker darf nicht soaufgeweicht werden, dass auch die gutwilligen Staatendaran gehindert werden, es zu verfolgen.Und schließlich ist es legitim, die Wanderung in Sozi-alsysteme anderer EU-Staaten zu begrenzen. Wir wollendie Arbeitnehmerfreizügigkeit als eine Grundsäule dereuropäischen Freiheiten unbedingt erhalten. Aber damitist nicht gemeint, dass EU-Bürger frei wählen dürfen,von welchem Sozialsystem sie ihre Leistungen beziehenoder unterstützt werden möchten. Wenn alle Hilfesu-chenden sich dort hinbegeben, wo es die höchsten So-zialhilfesätze gibt, und alle Unternehmen dort hingehen,wo die niedrigsten Steuersätze gelten, dann kann Europanicht funktionieren. Jedenfalls haben wir dann in Europakeine funktionierenden Sozialstaaten mehr.
Ich bin insgesamt zuversichtlich, dass wir eine Lösungfinden, die Großbritannien mittragen kann. Ich wünscheIhnen, Frau Bundeskanzlerin, dafür bei den Verhandlun-gen in den nächsten beiden Tagen eine gute Hand.
Meine Damen und Herren, 2015 sind 1,1 MillionenFlüchtlinge nach Deutschland gekommen. Das sind soviele wie in den 15 Jahren davor zusammen. Dahintersteckt zuallererst eine großartige Leistung. Die Men-schen in diesem Land, die vielen ehrenamtlichen Helfe-rinnen und Helfer und die Beschäftigten im öffentlichenDienst haben unseren großen Respekt verdient. Auchwenn es an vielen Stellen knirscht: Das, was bei der Auf-nahme von Flüchtlingen geleistet wurde, ist und bleibtaußergewöhnlich.
Zugleich ist völlig klar: In dieser Geschwindigkeitkann der Zuzug nicht weitergehen. Wir müssen die Zahlder Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, deutlichreduzieren, und zwar nicht um irgendwelcher Rechtspo-pulisten willen, sondern deshalb, weil inzwischen sogardiejenigen, die den Flüchtlingen wohlgesonnen sind, sa-gen: Unsere Fähigkeit, Flüchtlinge aufzunehmen, ist be-grenzt. Wir brauchen Zeit, um durchzuatmen. Wir brau-chen auch Zeit, um die Voraussetzungen für Integrationzu schaffen. – Das wird nicht gelingen, wenn jeden Tagweiterhin 3 000 oder mehr Flüchtlinge nach Deutschlandkommen.Dr. Sahra Wagenknecht
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Für diese Herausforderungen wird unsere Regierungin diesem Jahr die geballte Kraft brauchen. Deshalb er-warte ich, dass alle in der Koalition an einem gemeinsa-men Strang ziehen.
Ich finde, dass das Konzept der Regierung, wie es dieKanzlerin vorgestellt hat, noch immer richtig ist:Wir wollen erstens die Fluchtursachen bekämpfen unddie Lage der Flüchtlinge in der Krisenregion verbessern.Wir haben auf internationalen Konferenzen den Erfolgerzielt, dass nun 10 Milliarden Euro zur Verfügung ste-hen, um die Flüchtlinge im Nahen Osten besser zu ver-sorgen. Das ist ein großer Schritt. Das kann noch nichtdas letzte Wort sein. Aber damit können wir etwas er-reichen.Wir wollen zweitens die Außengrenzen der Europäi-schen Union mithilfe von Frontex, aber auch mithilfe derTürkei sichern und damit den Flüchtlingen einen legalenFluchtweg schaffen. Wir wollen drittens durch Kontin-gente den bisher von kriminellen Schleusern gesteuertenFluchtprozess unterbinden, den Menschen eine Möglich-keit eröffnen, legal und sicher nach Europa zu kommen,und gleichzeitig die Zahl der Flüchtlinge reduzieren.Ich halte das nach wie vor für die beste Lösung, umdie Flüchtlingsströme zu begrenzen, zuallererst ausmenschlicher Sicht; denn nur mit Kontingenten könnenwir ganzen Familien eine sichere und legale Zuflucht er-möglichen. Auch aus europäischer Sicht ist das nach wievor der bessere Weg, weil das die einzige Möglichkeitist, die Renationalisierung der europäischen Binnengren-zen zu verhindern, die Freizügigkeit zu erhalten und dieDestabilisierung unserer südöstlichen Nachbarn und derBalkanländer zu vermeiden.Zur Wahrheit gehört aber auch: Die Koalition der Wil-ligen ist zurzeit nicht groß. Einige wichtige Länder sindnicht dabei. Aber das darf nicht dazu führen, dass sich je-der mit einseitigen Maßnahmen in Alternativen flüchtet,nach dem Motto: Rette sich, wer kann! – Durch nationaleAlleingänge wird nichts, aber auch gar nichts in Europabesser.
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben eben deutlich ge-macht, dass Sie genau mit dieser Botschaft nach Brüsselfahren werden. Nach Lage der Dinge können wir in die-ser Woche nur kleine Fortschritte erreichen. Aber es gibtein Mindestprogramm, das morgen vereinbart werdenmuss: erstens eine schnelle Einsatzfähigkeit des europäi-schen Grenz- und Küstenschutzes und zweitens eine kla-re Zusage zum Hilfsfonds für die Türkei über 3 Milliar-den Euro. Dazu muss mittelfristig auch ein zweistelligerMilliardenbetrag aus dem EU-Haushalt zur Bekämpfungder Fluchtursachen gehören. Ich finde, mit diesen Punk-ten kommt die klare Erwartung an die Mitgliedsländerzum Ausdruck: Wenn wir das nicht schaffen, wird es sehrschwierig.Dass wir zur Lösung der Flüchtlingskrise mit der Tür-kei verhandeln müssen, ist natürlich keine einfache Situ-ation. Die Türkei hat in den letzten Jahren immer wiederdemokratische Prinzipien wie die Gewaltenteilung, dieUnabhängigkeit der Justiz, den Rechtsstaat oder die Pres-sefreiheit ausgehöhlt. Ihr Vorgehen gegen die Kurden imletzten Jahr war verheerend für den Aussöhnungsprozessund vor allen Dingen für die vielen Menschen, die darun-ter gelitten haben. Ich habe deshalb durchaus Verständnisfür die Sorge, dass wir uns in eine zu große Abhängigkeitvon einem Land begeben, das unsere Werte und Normennicht ausreichend teilt. Aber die Türkei hat in den letztenMonaten auch in einem Maße Flüchtlinge aufgenommen,dem jeder in Europa – auch wir in Deutschland – Respektzollen muss.Es erscheint geradezu paradox: Die Türkei gewährt invorbildlicher Weise 2,5 Millionen Irakern und Syrern Zu-flucht, und gleichzeitig treibt sie kurdische Landsleute indie Flucht. Die Situation in Aleppo zeigt uns doch, dassauch die Türkei gerade jetzt auf unsere Hilfe angewiesenist. Was die Menschen im Augenblick in Aleppo erleben,das ist eine furchtbare menschliche Tragödie. Die Bom-benangriffe von Putin und Assad müssen sofort einge-stellt werden, meine Damen und Herren.
Frau Merkel hat die in München vereinbarte Feu-erpause erwähnt, die schwer umzusetzen ist. Ich binebenfalls Außenminister Steinmeier dankbar dafür, dasser auch verhandelt hat, dass die eingeschlossenen Men-schen mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgtwerden können.
Die größte Angst der Menschen in Syrien ist doch, dasssie aufgrund der Angriffe monatelang eingeschlossenund von Versorgung abgetrennt sind, sodass sie einenelendigen Hungertod sterben müssen. Das treibt jetzt na-türlich wieder Zehntausende in die Flucht. Ich hoffe, dasses zusammen mit den Vereinten Nationen gelingt, dieMenschen in den eingeschlossenen Gebieten versorgenzu können. Wir müssen an alle Kriegsparteien in Syri-en appellieren, dass sie das auch zulassen, meine Damenund Herren.
In dieser Situation können wir doch nicht von der Tür-kei verlangen, dass sie die Flüchtlinge von Aleppo aufder einen Seite reinlässt, sie aber auf der anderen – dereuropäischen – Seite nicht mehr rauslässt. Ein Kontinentmit 500 Millionen Einwohnern kann nicht ein Land wiedie Türkei mit 70 Millionen Einwohnern darum bitten, anseiner Stelle die humanitäre Flüchtlingskrise allein zu lö-sen. Ein solcher Vorschlag disqualifiziert sich von selbst.
Thomas Oppermann
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Deshalb: Die Zusammenarbeit mit der Türkei stehtund fällt mit der Frage, ob wir bereit sind, ihr einen Teilder Flüchtlinge abzunehmen. Wir sagen ganz klar: Wirsind bereit. – Ob das funktioniert, hängt am Ende davonab, ob Sie, Frau Bundeskanzlerin, beim EU-Gipfel oderauch danach genügend aufnahmebereite Länder finden,die sich an den Kontingenten beteiligen.Meine Damen und Herren, ich möchte noch etwaszu einem Vorwurf sagen, der in diesen Tagen viele Bür-gerinnen und Bürger umtreibt. Es steht der Vorwurf imRaum, die Bundeskanzlerin habe mit ihrer Entschei-dung, die Flüchtlinge aus Ungarn bei uns aufzunehmen,geltendes Recht gebrochen, und sie tue es noch immer,weil viele Flüchtlinge aus sicheren Drittstaaten nicht zu-rückgewiesen werden. Richtig ist, dass sich nach Arti-kel 16 a Absatz 2 des Grundgesetzes niemand auf dasAsylrecht berufen kann, der aus einem Mitgliedstaat derEuropäischen Gemeinschaft einreist. Aber nach europäi-schem Recht besitzt die Bundesrepublik Deutschland einSelbsteintrittsrecht. Sie kann jederzeit ein Asylverfahrenan sich ziehen, auch dann, wenn dafür nach den Dub-lin-III-Regeln ein anderer europäischer Staat zuständigwäre.Von diesem Selbsteintrittsrecht hat die Bundeskanz-lerin mit ihrer Richtlinienkompetenz im letzten Septem-ber Gebrauch gemacht. Aufgrund dessen sehen wir aushumanitären und politischen Gründen vorübergehenddavon ab, Flüchtlinge in sichere Drittstaaten zurückzu-schicken oder schon an der Grenze zurückzuweisen. Dasist eine politische Ermessensentscheidung. Diese kannman zwar kritisieren, aber die Rechtslage ist eindeutig.Deutschland darf nach geltendem Recht Flüchtlinge auf-nehmen, registrieren und versorgen.
– Augenblick. – Deshalb ist es für mich absolut unver-ständlich, wenn einige den Eindruck erwecken, die Bun-desrepublik würde geltendes Recht brechen, oder – nochschlimmer – die Bundesrepublik sei ein Unrechtsstaat,in dem sich gleichsam eine Herrschaft des Unrechts aus-breite. Ich finde, das ist starker Tobak.
Historisch betrachtet ist es grober Unfug, die Bundes-republik als einen Unrechtsstaat einzuordnen.
Aber vor allem ist es für die Bürgerinnen und Bürger einegroße Verunsicherung, wenn jetzt auch demokratisch ge-wählte Ministerpräsidenten den gleichen Unsinn erzäh-len wie Politiker von der AfD.
Viele Menschen in Deutschland liebäugeln damit, beiden kommenden Landtagswahlen die AfD zu wählen,weil wir bei der Flüchtlingskrise nicht schnell genug vor-ankommen. Ich möchte alle, die so denken, darum bitten:Schauen Sie sich vorher genau an, wen Sie da wählen.Inhaltlich ist die AfD eine rückwärtsgewandte Partei.
Sie polemisiert gegen den Mindestlohn, sie ist gegen dieInklusion von Menschen mit Behinderungen, sie zwei-felt den Klimawandel an, sie stellt die allgemeine Schul-pflicht infrage, und sie will in Thüringen die Homosexu-ellen zählen lassen. Aber entscheidend ist am Ende: DieAfD entwickelt sich immer mehr zu einer rechtsextremenPartei. Sie vergleicht Flüchtlinge mit Barbaren, sie argu-mentiert rassistisch, sie relativiert den Nationalsozialis-mus, und sie schafft es nicht, die rechtsradikalen Mitglie-der aus der Partei zu werfen.
Frau Petry hat jetzt den Schießbefehl an der Grenze insGespräch gebracht. Diese Partei ist dabei, sich unaufhalt-sam zu radikalisieren, diese Partei ist keine Alternativefür Deutschland, sondern eine Schande für Deutschland.
Diese Partei will Deutschland spalten. Lassen Sie unsuns dem mit aller Kraft entgegenstellen! Lassen Sie uns,so weit es geht, dabei zusammenarbeiten!Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Katrin Göring-Eckardt ist die nächste Rednerin für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sy-rien, Flüchtlinge, Griechenland, Ukraine, neuer Rechts-populismus, Kalter Krieg 2.0, Gefahr des Brexit – Euro-pa ist in der kritischsten Phase seit seiner Gründung.Frau Bundeskanzlerin, ich glaube, anders als anderein Ihrer Regierung haben Sie die Probleme erkannt. Ichglaube sogar, dass Sie persönlich die Kraft haben, sieanzugehen, aber Ihre Regierung als Ganzes, Frau Bun-deskanzlerin, hat sie leider nicht. Ihre Ministerriege istfurchtbar mutlos – in einer Zeit, in der Entschlossen-heit verlangt ist. Die drei Koalitionspartner streiten. DieDeutschen verlieren Zutrauen und Zuversicht.Im Sommer letzten Jahres konnten Sie Ihren Finanz-minister gerade noch abhalten, den Grexit mit der Brech-stange zu erzwingen. Heute herrscht weiter Chaos. DerInnenminister bekommt die Asylverfahren auch nacheinem Jahr nicht in den Griff. Dem Vizekanzler mussman dreimal sagen, dass er die Trennung von Familienmitbeschlossen hat. Der Justizminister feiert es dann alsThomas Oppermann
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Sieg der Humanität, dass er einen Kompromiss verhan-delt hat, auf den man sich vorher schon verständigt hatte.Meine Damen und Herren, die Trennung von Familien isteinfach nur kalt und herzlos, und sie ist auch eine Gefahrfür unser Land.
Glauben Sie eigentlich, irgendwer von Ihnen würde inRuhe eine Fremdsprache lernen, wenn sein Kind, wennseine Frau, wenn sein Enkelkind immer noch in einemKriegsgebiet wäre? Das würden Sie genauso wenig wieich in Ruhe machen können.
Die traurige Wahrheit ist: Seit dem 1. Januar 2016, alsoin den letzten 48 Tagen, sind im Mittelmeer 403 Men-schen ums Leben gekommen. Derzeit kommen übrigensvor allem Kinder zu uns, und im Familienministeriumliest man nicht einmal die Gesetzentwürfe, oder man ver-steht sie nicht. Mich beschämt das.
Es geht weiter: Frau Hendricks äußert öffentlich Geld-forderungen zum Wohnungsbau, als ob sie der Regierunggar nicht angehören würde. Ja, bitte schön, verhandelnSie das doch, und setzen Sie das doch durch!
Dann kommt auch noch Horst Seehofer: „Herrschaftdes Unrechts“, „Obergrenzen“, Kuscheln mit Putin. HerrSeehofer, Sie spielen mit dem Feuer; aber stark werdenSie damit nicht und auch Deutschland nicht, das schongar nicht. Stark werden die Rechten, und stark werdendie Hetzer. Hören Sie damit auf, und zwar unverzüglich.
Was glauben Sie eigentlich, Herr Seehofer, wenn Sievon „Herrschaft des Unrechts“ oder von „Unrechtsstaat“reden, was ein Polizist denkt, der bei Ihnen an der bay-erischen Grenze steht – tagaus, tagein – und dort fürOrdnung sorgt? Was denken Sie, wenn Sie ihm gegen-über sagen: „Hier gibt es eine Herrschaft des Unrechts“?Polizisten wie er haben mittlerweile zwischen 600 und1 000 Überstunden angesammelt. Mit Blick auf dieseMenschen können Sie doch nicht von „Herrschaft desUnrechts“ reden, Herr Seehofer.
Wenn Sie wissen wollen, was ein Unrechtsstaat ist,dann hätten Sie einmal mit der Opposition in Russlandreden sollen oder, besser gesagt, mit denjenigen davon,die noch leben.
Oder Sie könnten hinschauen, was sonst noch passiert:die Gründung von Russia Today Deutsch, die gezielteAnstachelung der Russlanddeutschen, die Finanzierungder Trollfabriken für soziale Medien und dann Bombenauf Aleppo, das Reden von Kaltem Krieg durch den rus-sischen Ministerpräsidenten auf der Sicherheitskonfe-renz in München. All das hätten Sie sich anschauen kön-nen, Herr Seehofer, und dann hätten Sie anders handelnmüssen, nicht als Nebenaußenminister, der alles nur nochviel schlimmer macht, als es sowieso schon ist.
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie ha-ben eine sehr große rechnerische Mehrheit in diesemHaus, und Sie sind von Zoff und Kleingeist geprägt, unddas in national und international schwierigsten Zeiten.Jetzt muss es darum gehen, Krisen zu managen, Verant-wortung zu übernehmen, sich zu konzentrieren.Doch was passiert? Frau Merkel, leider haben Sie Ih-ren Laden nicht im Griff, und Herr Gabriel macht dabeinoch mit: jeden Tag ein neuer Vorschlag, jeden Tag einneuer Streit, jeden Tag neue Verunsicherung, und zwarbei allen: bei denen, die Angst haben, aus welchen Grün-den auch immer, bei denen, die helfen, die alles mana-gen, die ehrenamtlich oder in den Verwaltungen diesesLandes tätig sind, die alles organisieren sollen, und na-türlich auch bei den Geflüchteten.Hier wird in Punktepapieren regiert. „Plan A 2“ heißtes in diesen Wochen bei der CDU, „Agenda 2020“ schalltes bei der SPD. Die Asylpakete werden nummeriert, weilman sonst den Überblick verliert. Meine Damen undHerren, diese Pakete haben noch nicht einmal das er-reicht, was Sie wollten, nämlich dass Zahlen reduziertwerden. Noch weniger erreichen sie das, was eigentlichso dringend notwendig wäre, nämlich die Integration.Um die muss es doch hier jetzt gehen
und nicht um weitere Punktepapiere, durch die die Situa-tion verschärft wird.Herr Oppermann, so richtig ich Ihre Bemerkungenzur rechtlichen Situation fand und so richtig ich übrigensIhre Bemerkungen zur AfD fand: Ich hätte schon gernegewusst, ob die Äußerungen der Kanzlerin am 4. Sep-tember 2015 nur Ausdruck ihrer Richtlinienkompetenzwaren oder ob sie eine gemeinsame Entscheidung derRegierung ausdrückten, zu der Sie auch stehen. Ich wür-de gerne wissen, ob Sie das richtig finden.
Ja, ich verlange keine sofortige Lösung für alle Pro-bleme, auch nicht für die in der EU. Auf der Tagesord-nung des Rates steht der Brexit. Ich kann nur hoffen, dassdieses im Augenblick so schwache Europa noch geradeso viel Ausstrahlung hat, so viel Verhandlungsbereit-schaft und auch so viel europäische Klarheit, dass das gutgeht. Das Ergebnis müssen Sie nicht sofort erreichen. InEuropa müssen dicke Bretter gebohrt werden. Das kannlange dauern. Aber klar ist auch: Manches der heutigenMissstimmung hat seine Ursache eben auch in der Ver-gangenheit.Herr Friedrich, Ihr früherer Innenminister, hat imJahr 2011 die Unterbringung der Lampedusa-Flüchtlin-ge noch als nationales Problem Italiens bezeichnet. ManKatrin GöringEckardt
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sieht sich, meine Damen und Herren, eben immer zwei-mal in der Europäischen Union.
Wir erleben jetzt die Retourkutsche dafür, dass wir dasdamals nicht ernst genommen haben.2011, meine Damen und Herren, begann der Syri-en-Krieg. Jahre und Monate um Monate haben wir igno-riert, dass dort etwas getan werden muss.
Das ist die Fluchtursache, die wir selbst mit zu verant-worten haben.Es sind nicht die hohen Schulden, die Europa zerstö-ren, und es ist auch nicht die humanitäre Herausforde-rung, den Bürgerkriegsflüchtlingen Schutz zu bieten –übrigens: 80 Prozent der europäischen Bevölkerung sindfür eine solidarische Verteilung der Flüchtlinge innerhalbEuropas –; es ist der gigantische Vertrauensverlust, umden es in allererster Linie geht. Genau darum muss es unsgehen: dieses Vertrauen wiederherzustellen – in unseremLand und auch in Europa.
Seien wir ehrlich: Unter all den Voraussetzungen, überdie hier geredet worden ist, gerade auch angesichts desBombardements in Aleppo, ist es schwer vorherzusagen,wie viele Menschen noch nach Europa kommen werden.Wir können das ehrlicherweise nicht sagen. Die globalenKrisen erreichen uns. Es wird weiter schwierig sein. Wirsind inzwischen in einem – so muss man das vielleichtnennen – geordneten Notfallmodus.Meine Damen und Herren, Europa ist in Gefahr unddamit auch die Stärke unserer auf Ausgleich gerichtetenDebatte und die politische Kultur. Auch hierzulande er-starkt der Rechtspopulismus. Unverhohlen fordert dieAfD – Frau Petry, Frau von Storch, Herr Höcke – denSchießbefehl. Das setzt das Recht außer Kraft. Das setztdie Menschlichkeit außer Kraft. Das setzt alles außerKraft, was unsere Demokratie ausmacht. Jedem, der dieAfD wählt, rufe ich zu: Sie wählen Spaltung und Gefahr.Lassen Sie das! Kämpfen Sie mit uns für Zusammenhaltund für die Demokratie in diesem Land!
Frau Göring-Eckardt, Sie achten bitte auf die Zeit.
Es gibt keine Union à la carte – nicht für Griechen-
land, nicht für uns, auch nicht für Großbritannien. Ich
hoffe sehr, dass dieses Europa zusammenbleibt und zeigt:
Nur gemeinsam kann man stark sein. – Ja, dazu braucht
es Menschen, die sagen: Wir schaffen das. – Es braucht
aber vor allem eine Regierung in diesem Land, die das
gemeinsam hinbekommen will und nicht in Klein-Klein,
in Hickhack und in Streit verfällt.
Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat Volker Kauder nun
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Das Jahr 2016 wird zu einem Schicksalsjahr für Europaund damit auch zu einem Schicksalsjahr für unser Land.Im Jahr 2016 entscheidet sich wie noch in keinem an-deren Jahr zuvor, ob die Europäische Union in Zukunftin der Lage ist, große Herausforderungen zu bewältigen,oder ob sie sich im Klein-Klein von Bürokratie erschöpft.Das Jahr 2016 wird durch die Entscheidung, die inGroßbritannien auf der Tagesordnung steht, zu einemSchicksalsjahr. Von der Bundeskanzlerin, aber auch vonanderen Vorrednern ist etwas zu dem Satz deutlich ge-macht worden, den man in den Wahlkreisen, bei Veran-staltungen immer wieder hören kann: Na und? Wenn dieBriten nur noch Extrawürste wollen, dann sollen sie ebengehen. – Man kann sich natürlich bei mancher Forde-rung, die aus Großbritannien kommt, fragen: Muss daswirklich sein? – Aber darüber wird ja nun bei diesemGipfel gesprochen. Eines ist klar – dazu braucht mankein Hellseher oder Prophet zu sein –: Wenn Großbritan-nien sich entschließen würde, die EU zu verlassen, sähediese EU ganz anders aus und auf jeden Fall nicht stärker,liebe Kolleginnen und Kollegen.
Deswegen ist es nun die nicht ganz leichte Aufgabe,aus den Forderungen, die aus Großbritannien kommen,und den Vorschlägen, die von der Kommission gemachtwerden, das Paket herauszukristallisieren, das – auch inunserem Land – akzeptiert werden kann und das auchGroßbritannien dazu veranlassen kann, dabeizubleiben.Ich glaube, dass man in den Grundfragen, die jetztgestellt werden, durchaus zu Kompromissen kommenkann. Aber ob die Menschen in Großbritannien sich imHerbst für den Verbleib in Europa aussprechen,
hängt, glaube ich, nicht in erster Linie davon ab, was jetztmiteinander vereinbart wird, sondern es hängt davon ab,was für einen Eindruck die EU zum Zeitpunkt der Ent-scheidung der Menschen in Großbritannien macht.
Katrin GöringEckardt
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Deshalb ist das, was in der nächsten Zeit – am zweitenTag in Brüssel, aber auch in den Tagen danach – in Euro-pa passiert, von entscheidender Bedeutung.Kollege Oppermann hat zu Recht darauf hingewiesen:Wenn immer mehr der Eindruck entsteht, dass in schwie-rigen Fragen der Nationalstaat die besseren Lösungenhat, dann wird man die Menschen in Großbritannien we-niger davon überzeugen können, dass man gemeinsamLösungen suchen muss. Ich kann nur sagen: Wir habendoch aus unserer Geschichte gelernt, dass die großenAufgaben, die großen Herausforderungen, die in derVergangenheit zu großen Kriegen geführt haben, ebengerade nicht von den Nationalstaaten gemeistert werdenkönnen, sondern dass dafür die Zusammenarbeit in derEU notwendig ist. Dass wir 70 Jahre ohne Krieg in Eu-ropa leben, verdanken wir nicht den Nationalstaaten inEuropa, sondern der Gemeinschaft der Europäer.
Deswegen wird es ganz entscheidend darauf ankom-men, dass in Europa klar wird, dass die größte Heraus-forderung, die wir haben – ich sage: die größte nach demZweiten Weltkrieg –, die Flüchtlingsbewegungen sind.Da möchte ich schon klarstellen: Es geht in erster Liniedarum, dass eine gemeinsame Aufgabe, die wir in Euro-pa vereinbart haben, jetzt auch gemeinsam durchgeführtwird, nämlich der Schutz der Außengrenzen. Es hat nie-mand behauptet, dass wir keine Grenzen schützen undsichern wollen. Unsinn, wenn das gesagt wird! Vielmehrist immer gesagt worden: Wir wollen dieses Europa, wiees in den letzten Jahren gewachsen ist, dieses Europa derFreizügigkeit, des freien Verkehrs von Waren und Men-schen, erhalten; aber wir wollen natürlich auch die Kon-trolle an unserer gemeinsamen Außengrenze behalten,meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen.Dafür sind jetzt erste Vereinbarungen getroffen wor-den. Ich kann nicht erkennen, dass es eine Verbesserungder Lebensqualität in Europa wäre, wenn jeder kleineStaat in Europa oder auch die größeren Staaten wiedereine eigene Grenzsicherung vornähmen.
Das führt nicht zu dem Ziel, das wir in Europa miteinan-der erreichen wollen.
Deshalb ist die große Aufgabe die Sicherung der Gren-zen.
Herr Kollege Kauder, lassen Sie eine Zwischenfrage
zu?
Nein!
– Ich will Ihnen einmal eines sagen: Es wäre gut, wennSie einem Gedanken einmal eine Viertelstunde folgenund sich nicht immer so aufführen würden, wie Sie eshier auf der linken Seite immer tun.
Wir müssen die europäische Außengrenze sichern.Dies können wir nicht allein, sondern dazu brauchen wirauch die Türkei.
– Bei Ihnen – da bin ich sicher – gar nicht!
Wir brauchen also jetzt die Türkei. Insofern kann ichverstehen, dass kritische Fragen kommen. Auch ich habeFragen an die Türkei. Wir vonseiten der CDU/CSU-Frak-tion haben die Bundesregierung gebeten, dass mit derTürkei, wenn es um die Frage ihrer Mitgliedschaft in derEuropäischen Union geht, als nächstes Kapitel das Kapi-tel „Religionsfreiheit und Menschenrechte“ aufgemachtwird. Wir bleiben auch dabei, dass dieses Thema ange-sprochen werden muss.Jetzt aber haben wir eine Aufgabe, die wir nur mit derTürkei lösen können. Deswegen müssen wir das auchso angehen. Und ich wünsche der Bundeskanzlerin vielErfolg im Hinblick darauf, dass es bei dem vereinbartenEuropa-Türkei-Paket bleibt.In diesem Zusammenhang kann ich nur darauf hin-weisen, dass die Bundeskanzlerin nach wie vor auch mitRussland im Gespräch ist. Trotzdem muss es aber dabeibleiben, dass die Sanktionen, die gegen Russland ausge-sprochen worden sind, nicht zurückgenommen werden,solange sich Russland nicht eines anderen Verhaltens be-fleißigt, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Frau Wagenknecht, ein Politiker, der aktiv im Dienstist, hat sich um die augenblickliche Situation zu bemü-hen. Es bleibt dabei, dass es nicht darum geht – wie Siesagen –, was Amerikaner und andere in den anderthalbJahrzehnten zuvor gemacht haben. Darüber kann ich mitIhnen gerne einmal reden. Sie dürfen aber mit diesemHinweis nicht den Eindruck erwecken, dass Sie nichternst nehmen wollen, was Russland gerade jetzt im Au-genblick in Syrien anstellt. Das ist nicht in Ordnung! Danützt der Verweis gar nichts!
Volker Kauder
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Lesen Sie einmal die Berichte, die wir aus Aleppobekommen. In denen steht, was dort passiert. Dort wirdganz bewusst die Wohninfrastruktur und die Gesundheits-infrastruktur von russischen Bombern zerstört, damit denMenschen in und aus Syrien jede Rückkehrperspektivegenommen wird. Das ist nicht in Ordnung! So werdenHunderttausende von neuen Flüchtlingen erzeugt. Dafürist Russland verantwortlich, meine sehr verehrten Damenund Herren.
Wir stehen also vor wichtigen Entscheidungen, undich finde, dass wir der Bundeskanzlerin Erfolg wünschensollten. Wir sollten nicht die Frage stellen, was passiert,wenn sie keinen Erfolg hat. Vielmehr sollten wir ihr jetztzunächst – und zwar nicht nur im Hinblick auf den 18.und 19. Februar – Erfolg wünschen. Wir sollten ihr wün-schen, dass die Verhandlungen, die jetzt stattfinden, zumErfolg für Europa werden, liebe Kolleginnen und Kolle-gen. Es macht mir große Sorgen, dass wir in ein Europahineinwachsen könnten, das am Ende dieses Jahres ganzanders aussieht als am Anfang des Jahres. Das wäre fürniemanden gut und für niemanden ein Vorteil.
Es ist völlig unstrittig, dass wir zur Bewältigung derFlüchtlingsbewegungen einen Mix aus nationalen undeuropäischen Maßnahmen brauchen. Vielleicht brauchenwir noch darüber hinausgehende internationale Maßnah-men, ein Bereich, in dem der Bundesaußenminister be-reits tätig ist. Beim Blick auf diesen Mix aus nationalenund europäischen Maßnahmen können wir feststellen,dass auch die nationalen Maßnahmen wirken. Ich finde,das muss man den Menschen in unserem Land noch vieldeutlicher sagen. Die Einstufung der Westbalkanstaatenals sichere Herkunftsländer hat dazu geführt, dass dergroße Flüchtlingsstrom aus diesem Gebiet, den es nochim letzten Jahr gab, jetzt gegen null tendiert. Deswegenwar das ein Erfolg.
Sie müssen sich aber auch einmal anschauen, was esfür eine Quälerei war, bis wir die Grünen im Bundes-rat mit im Boot hatten und diesen erfolgreichen Mix ausnationalen und europäischen Maßnahmen beschließenkonnten.In dieser Woche werden wir hier im Deutschen Bun-destag das Asylpaket II beraten und nächste Woche ver-abschieden. Da wäre es natürlich richtig gewesen – FrauRoth, gucken Sie mich nicht so traurig an –
im Rahmen dieses Verfahrens im Bundestag auch einGesetz zu verabschieden, durch das Marokko, Algerienund Tunesien als sichere Herkunftsstaaten klassifiziertwerden.
Frau Göring-Eckardt, Sie kritisieren die Arbeit derBundesregierung. Da könnte ich natürlich darauf verwei-sen – das will ich mir aber verkneifen –, was für einenGranatenstreit Sie im Augenblick bei den Grünen überdie Frage, was Herr Kretschmann darf und was nicht,haben.
Wissen Sie – für den Fall, dass Sie mal Regierungsver-antwortung haben –: Das schärft den Blick für das Not-wendige.
Das ist der einzige Hinweis, den ich geben will.Ich hätte mir gewünscht, dass jetzt gesagt würde: Wirmachen das, und dann reden wir im Bundesrat mitei-nander darüber, was für eine Zustimmung getan werdenmuss. – Sie werden sich schwertun, den Wählerinnenund Wählern im Land zu erklären, warum Sie etwas nichtmachen, das auch Sie für notwendig halten, nur weil Siequasi einen hohen Preis heraushandeln wollen. Das denMenschen zu erklären, wenn man Regierungsverantwor-tung tragen will, ist sehr schwer. Das ist auch nicht inOrdnung, um das mal klar und deutlich zu sagen.
Ich glaube, dass es notwendig ist, dass wir mit Blickauf diese große Herausforderung gut und eng zusammen-arbeiten – natürlich sowohl in der Koalition als auch dort,wo es noch notwendig ist: im Bundesrat.Es ist durchaus richtig, dass wir bei der einen oder an-deren Frage in der letzten Zeit nicht den Eindruck vonGeschlossenheit vermittelt haben, wie es notwendig ge-wesen wäre. Ich will da gar keine Schuldzuweisungenaussprechen, sondern nur den Fakt feststellen. Wir soll-ten so nicht vorgehen; daran müssen wir uns orientieren.Wir müssen etwas vereinbaren und das, was vereinbartist, konkret umsetzen und so den Menschen zeigen: Ihrkönnt euch darauf verlassen, dass diese Regierungskoali-tion das Notwendige tut, um dem Problem an die Wurzelzu gehen.
Volker Kauder
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Der Kollege Oppermann hat mir gesagt, er müssedas Plenum verlassen. Trotzdem kann ich ihm folgendePassage nicht ersparen – die Erste Parlamentarische Ge-schäftsführerin sitzt da; sie kann es ihm dann sagen –:Dazu gehört natürlich auch, dass wir in der Regierungs-koalition nicht noch hier im Deutschen Bundestag dazubeitragen, Fehlinterpretationen von Aussagen zu verstär-ken.
Das trägt nicht dazu bei, die Zusammenarbeit zu stärken,liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wissen Sie: Wenn wir eine Koalition eingehen, gilt fürmich der Grundsatz, den ich vom Kollegen Münteferinggelernt habe. Er hat gesagt: Wenn Sie eine Koalition ein-gehen, müssen Sie den Erfolg wollen.
Ich sage Ihnen: Mir würde hier am Pult in diesemDeutschen Bundestag auch manches einfallen zu man-chem SPD-Politiker; das kann ich Ihnen nur sagen.
Aber wissen Sie: Über der parteipolitischen Profilierungsteht gerade in dieser Zeit unsere Verantwortung für die-ses Land, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir tragenVerantwortung für dieses Land!
Aschermittwoch ist vorbei. Deswegen verkneife ich mirdie eine oder andere Aussage. Mir geht es darum – unddavon wird viel abhängen –: Es ist ein Schicksalsjahr fürEuropa. Es ist ein Schicksalsjahr für Deutschland, wiees noch nie ein Schicksalsjahr gab. Damit hat diese Ko-alition eine große Verantwortung. Daran muss man sichjeden Tag erinnern und sich das eine oder andere auchmal verkneifen,
um mehr Gemeinsamkeit zu zeigen, als es in der letztenZeit der Fall war.
Für eine Kurzintervention erhält die Kollegin Hänsel
das Wort.
Danke schön, Herr Präsident. – Herr Kauder, weil Ihnen
immer alles Mögliche einfällt, möchte ich sagen: Wenn
ich Sie sehe, fällt mir vor allem immer Heckler & Koch
ein, die Rüstungsschmiede in Ihrem Wahlkreis in Ba-
den-Württemberg. Mich wundert es schon: Sie thema-
tisieren hier die Reduzierung der Flüchtlingszahlen, die
Kanzlerin will Fluchtursachen bekämpfen usw., aber Sie
erwähnen mit keinem Wort, dass Millionen von Klein-
waffen aus Ihrem Wahlkreis exportiert werden, wovon
die CDU durch Wahlspenden direkt profitiert. Das ist ein
Skandal.
Solange Sie zu den Rüstungsexporten nichts sagen, müs-
sen Sie zum ganzen Thema Fluchtursachen schweigen.
Das ist eine verlogene Politik, die Sie hier betreiben, weil
es in der Realität anders aussieht.
In diesem Zusammenhang möchte ich Sie etwas fra-
gen. Sie haben gerade erwähnt, es gehe jetzt um den
Schutz der Außengrenzen. Jetzt sollen NATO-Kriegs-
schiffe an die Grenzen geschickt werden. Ist das Grenz-
sicherung? Das, was Sie betreiben, ist eine Militarisie-
rung, eine militarisierte Migrationsabwehr. Was werden
die Schiffe dort vorfinden?
Sie finden Schlauchboote mit Frauen und Kindern vor.
So ist die Realität vor Lesbos im Moment. Meine Frage
ist: Können Sie es mit den europäischen Werten, die Sie
hier vorne immer rauf und runter zitieren, vereinbaren,
dass Sie jetzt Kriegsschiffe gegen die Flüchtlinge einset-
zen? Es gab im Januar schon 350 ertrunkene Menschen
vor Lesbos.
Vielleicht nehmen Sie einmal die Botschaft von Ai
Weiwei an, einem weltbekannten chinesischen Künstler,
der vor einigen Tagen hier am Pariser Platz Rettungswes-
ten aufgehängt hat, als eine Mahnung an unseren huma-
nitären Auftrag.
Axel Schäfer ist der nächste Redner für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Kollege Kauder hat völlig recht: Es ist tatsächlich einSchicksalsjahr für die Europäische Union. KollegeVolker Kauder
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Kauder hat mit Kritik an der SPD aber völlig unrecht.Deshalb darf ich sie hier insgesamt zurückweisen.
Frau Bundeskanzlerin, das, was in der EU an Entschei-dungen auf uns zukommt, kann man auf einen einfachenNenner bringen: Hält oder zerfällt die Gemeinschaft?Wenn das die Frage ist, sollte dies auch die Tonlage, dieErnsthaftigkeit und den gemeinsamen Willen in dieserDiskussion im Bundestag bestimmen.
Lassen Sie uns einmal das wertschätzen, was wir indiesem Deutschen Bundestag haben. Es gibt – erstens –niemanden hier, der für einen Brexit, für einen AustrittGroßbritanniens aus der EU, ist. Zweitens gibt es indiesem Haus keine nationalistische, keine rechtsextre-mistische Partei. Und es gibt – drittens – im DeutschenBundestag genauso wie im Europäischen Parlamentletztendlich die Kraft, die Verpflichtung und die Mög-lichkeit – wir werden sie nutzen –, dafür zu sorgen, dassauf europäischen Gipfeln getroffene Entscheidungen nurauf parlamentarischer Ebene in Recht umgesetzt werden.Bei allem, was in Brüssel geschieht, ist klar: Die Abge-ordneten in den Mitgliedstaaten und im EuropäischenParlament haben das letzte Wort. Das muss hier heuteeinmal deutlich ausgesprochen werden.
Worum es bei den Entscheidungen, die in den kom-menden Monaten anstehen, geht, lässt sich letztendlichauf eine ganz einfache Frage reduzieren: Werden wir wei-terhin sagen: „Das wichtigste nationale Interesse bleibtin allen Mitgliedstaaten die europäische Einigung“, oderwird sich folgender Satz durchsetzen: „Wenn jedes Landnur an sich denkt, ist an alle gedacht“?Das, was wir in den letzten Jahren in Europa erlebthaben, kann man nicht einfach mit dem Begriff „Popu-lismus“ be- oder umschreiben; denn wir erleben einenwachsenden Nationalismus. Ich glaube, dass es im Inte-resse aller vier Fraktionen hier in diesem Hause ist, dasswir gemeinsam einem Nationalismus in den Staaten wiein der Gemeinschaft widerstehen, dass wir uns ihm ent-gegensetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Denn es geht nicht mehr darum, ob wir eine andere eu-ropäische Politik – sozialer, nachhaltiger, mehr Gleich-stellung, mehr Umweltbewusstsein – machen, sondern esgeht um die Frage: Wird die Europäische Gemeinschafterhalten, oder setzt man auf Zerstörung? Darum geht esUKIP und Jobbik, darum geht es Frau Le Pen und HerrnWilders, FPÖ wie AfD. Das sind Kräfte, die Verhältnis-se herbeiführen wollen, die es in der Vergangenheit sonicht gegeben hat. Gleichzeitig sind es Kräfte, die unsauf eine schiefe Bahn führen wollen, manchmal langsam,manchmal mit Vehemenz. Mitterrand hat zu Recht ge-sagt: „Nationalismus heißt Krieg“. Machen wir uns dieErnsthaftigkeit dieser Situation bewusst: Wer den Nati-onalismus übersteigert, wird irgendwann auch wieder zukriegerischen Auseinandersetzungen in Europa greifen.Helmut Kohl hat diesbezüglich genauso recht wie derverstorbene französische Präsident. Das ist die Heraus-forderung, vor der wir stehen.
Wir müssen uns unserer Verantwortung bewusst sein;denn es ist klar, dass es bei den jetzt in Brüssel anstehen-den Entscheidungen um die „Solidarität der Tat“ geht.Es wird jetzt tatsächlich darauf ankommen, dass wir ge-meinsame Lösungen finden. Ich sage bewusst jenen aufder rechten Seite des Hauses: Es wird darauf ankommen,uns bewusst zu machen, wer unser wichtigster Verbünde-ter ist, nämlich die EU-Kommission. Es muss aufhören,dass wir bei Kleinigkeiten die EU-Kommission beschä-men, wenn wir doch wissen: Sie ist die wichtigste In-stitution, die unsere Gemeinschaft zusammenhält. Jean-Claude Juncker, auch Günther Oettinger und andere sinddie Partner, die wir brauchen, damit wir in Europa ge-meinsam Erfolg haben.
Nächste Rednerin ist die Abgeordnete Gerda
Hasselfeldt, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Europa steht in diesen Zeiten zweifellos vor den größ-ten Bewährungsproben überhaupt. Zum einen steht dieEntscheidung der Briten über ihren Verbleib in der Eu-ropäischen Union an. Zum Zweiten gibt es immer nochdie Problematik der Staatsschuldenkrise. Die Problema-tik der Verschuldung in vielen europäischen Ländern istnicht gelöst. Zum Dritten haben wir in den vergangenenMonaten erkennen müssen, dass der islamistische Terrorvor Europa nicht haltmacht. Hunderttausende von Men-schen fliehen aus Krisen- und Kriegsgebieten und ma-chen sich auf den Weg nach Europa. – Diese Problemebetreffen uns alle in Europa, und sie können nicht durchnationale Entscheidungen und Maßnahmen allein gelöstwerden. Vielmehr bedarf es einer Lösung auf europäi-scher und internationaler Ebene. Das muss uns allen klarsein.Zum Referendum in Großbritannien, zu den Vorschlä-gen der Briten zum Verbleib Großbritanniens in der Eu-ropäischen Union: Wir haben in der CSU-Landesgruppeden britischen Premierminister David Cameron zu Gastgehabt und uns ausgiebig mit dessen Vorschlägen be-fasst. Auch wenn man nicht alles akzeptieren kann, mussman sagen: Die wesentlichen Punkte gehen in die richti-ge Richtung. Sie sind nicht nur geeignet, dafür zu sorgen,dass die Briten einem Verbleib in Europa, der notwendigAxel Schäfer
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ist, zustimmen können, sondern sie gehen auch in dierichtige Richtung, wenn es darum geht, Europa positivweiterzuentwickeln; und auch das ist notwendig.
Es ist richtig, auf mehr Wettbewerbsfähigkeit zu setzen,es ist richtig, gegen Bürokratie in Europa anzugehen, esist richtig, den nationalen Parlamenten mehr Gewicht zugeben, und es ist richtig, dem Sozialmissbrauch in Euro-pa die Stirn zu bieten.
Seitens der CSU-Landesgruppe haben wir schon vorzwei Jahren konkrete Vorschläge dazu gemacht. Ich binsehr dankbar dafür, dass jetzt überlegt wird, die Höhe desKindergeldes an die Lebenshaltungskosten in den Län-dern anzupassen, in denen die Kinder tatsächlich leben.Das ist meines Erachtens der richtige Ansatz.
Bei diesem Gipfel geht es zum Zweiten um das The-ma, das uns seit Monaten in Europa, aber gerade auchbei uns im Land, intensiv beschäftigt, nämlich um dieBewältigung der Flüchtlingskrise. Wir haben in Europain den letzten Monaten bei diesem Thema immer wie-der Hoffnung gehabt. Wir haben Versprechungen gehört,aber auch so manche Enttäuschung erlebt. Die nationa-len Interessen gewinnen immer stärker an Gewicht, undes wird immer schwieriger, in Europa Kompromisse zufinden. Für niemanden, der dort Verantwortung trägt undVerhandlungen zu führen hat, ist diese Aufgabe leicht.Dabei ist bei diesem Thema europäische Solidarität inganz besonderer Weise gefragt, weil kein Nationalstaatdiese Probleme allein bewältigen kann.
Deshalb müssen wir hier ganz genau überlegen: Waskönnen wir tun, und was müssen wir tun? Dabei geht eszum einen um die Verbesserung der Lebensverhältnissein den Krisengebieten und auch in den Flüchtlingslagern.Ich erkenne das Engagement des Außenministers in derSyrien-Problematik ausdrücklich an und danke dafür.
Ich erkenne auch das Engagement unseres Entwick-lungshilfeministers für eine Verbesserung der Lebens-bedingungen der Menschen in den Krisengebieten an,und ich erkenne auch ausdrücklich die Bemühungen derVerteidigungsministerin in Sachen NATO-Mission in deröstlichen Ägäis in den letzten Tagen an.
Das sind die richtigen Ansätze. Dazu gehört auch dasErgebnis der Geberkonferenz in London. Ich danke derBundeskanzlerin und der gesamten Bundesregierung,insbesondere dem Finanzminister und dem Entwick-lungshilfeminister, dafür, dass die Weichen von Deutsch-land aus gestellt worden sind und dass bei dieser Geber-konferenz das beste Ergebnis erzielt worden ist, das mitBlick auf UN-Hilfswerke je erzielt worden ist. Das ist derrichtige Ansatz.
Zum anderen geht es aber auch darum, die Außen-grenzen der Europäischen Union zu sichern. Wir müssenuns darüber im Klaren sein, dass die Freizügigkeit in derEuropäischen Union nur dann gesichert und gewährleis-tet werden kann, wenn es uns tatsächlich gelingt, die Au-ßengrenzen der Europäischen Union effektiv zu sichern.
Nur dann wird dies gelingen. Wenn dies nicht gelingt,werden wir immer wieder zu der Diskussion über die Si-cherung nationaler Grenzen innerhalb Europas zurück-kommen. Deshalb hat dies oberste Priorität.
Was können wir dazu tun?Zum Ersten gehört die Stärkung von Frontex dazu. Esgibt einen Vorschlag der Kommission. Bei einem Vor-schlag darf es aber nicht bleiben, sondern er muss auchrealisiert werden.Zum Zweiten gehören die Verhandlungen mit der Tür-kei dazu. Ich begrüße es – ich finde das auch zwingendnotwendig –, dass mit der Türkei gesprochen und ver-handelt wird. Erste Ergebnisse liegen auf dem Tisch. Esgeht darum, dass die Flüchtlinge in der Türkei Arbeits-möglichkeiten haben; es geht um die Rücknahme jenerMenschen, die aus Drittstaaten wie der Türkei zu unskommen, also darum, dass die Türkei diese Menschenzurücknimmt; es geht aber auch um die Visapflicht inBezug auf die Herkunftsstaaten, um nur einige Punktezu nennen. Die Verhandlungen dazu laufen. Ich wünscheden Verhandlungsführern dabei viel Erfolg. Wir wissen,dass dieses Problem ohne die Türkei nicht zu lösen ist.Wir wissen aber auch – das sage ich für die CSU-Lan-desgruppe ganz dezidiert –, dass dies nicht mit der Frageeines möglichen Beitritts der Türkei zur EuropäischenUnion zusammenhängen darf; das kann nicht am Endestehen.
Daneben sind aber auch nationale Maßnahmen not-wendig. Wir haben eine ganze Menge auf den Weg ge-bracht: das Asylpaket I und jetzt auch das Asylpaket II –wir werden es in dieser Woche in erster Lesung beraten,und nächste Woche steht sein Abschluss bevor – mitMaßnahmen, die dazu dienen können, die Flüchtlings-zahlen zu begrenzen. Das ist zwingend notwendig; denndie Aufnahmekraft, die Integrationskraft unseres Landesist an der Grenze angelangt. Deshalb sind im Übrigenauch die Bemühungen in Europa wichtig. Es geht darum,die Zahlen zu reduzieren.
Als Ergänzung zu Asylpaket I und Asylpaket II mussich aber auch sagen: Es reicht nicht, nur die Gesetze zuGerda Hasselfeldt
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verabschieden, sondern die verabschiedeten Gesetzemüssen auch angewandt werden.
Da haben wir noch ein bisschen zu tun, insbesondere inden Bundesländern.
Es kann nicht angehen, dass wir Erleichterungen bei derAbschiebung beschließen und die Bundesländer, die da-für zuständig sind, diese Erleichterungen dann nicht an-nehmen und das, was beschlossen ist, nicht umsetzen,meine Damen und Herren.
Das hat auch mit dem Thema Rechtsstaat zu tun.
Es ist Ausfluss des Rechtsstaates, dass man sich so ver-halten muss, wie es die Gesetze, die beschlossen wurden,vorsehen.
Zu diesen nationalen Maßnahmen gehört auch die Än-derung bei der Anerkennung im Hinblick auf sichere Her-kunftsstaaten. Volker Kauder hat schon deutlich daraufhingewiesen, welche positiven Auswirkungen die ent-sprechende Änderung bezüglich der Westbalkan-Staatenhatte. Es nützt uns nichts, wenn das, was auf den Weg ge-bracht wurde, was von der Bundesregierung auch schonbeschlossen wurde, nicht auch schnell umgesetzt wird.Wir könnten die Einstufung der Maghreb-Staaten als si-chere Herkunftsstaaten genauso zügig umsetzen, wie wires beim Asylpaket II tun. Ich bedaure sehr, dass unserKoalitionspartner dazu nicht in der Lage war
und dass die Grünen jetzt schon einen Preis dafür habenwollen.
Wenn es uns mit der Reduzierung der Flüchtlingszahlenernst ist, dann müssen wir diese Änderung so schnell wiemöglich umsetzen,
und wir dürfen sie nicht irgendwohin schieben.
Es wäre auch hilfreich – nicht nur für das Klima in derKoalition, sondern auch für die Sache –,
wenn Äußerungen von Unionsministerpräsidenten, imBesonderen von dem aus Bayern, nicht falsch interpre-tiert
und die falschen Interpretationen dann auch noch in die-sem Haus vom Koalitionspartner wiederholt würden,meine Damen und Herren.
Das dient nicht der Lösung des Problems.
Wir sollten alle Kraft daransetzen, die Probleme zu lö-sen; dazu sind wir da. Das Problem ist viel zu ernst, umsich an irgendwelchen Begriffen aufzuhängen.
Wir sollten ernsthaft an der Lösung der Probleme arbei-ten. Das sind wir den Menschen in unserem Land schul-dig.
Es gibt gerade ein bisschen Erregung wegen der Zeit-
überschreitung. Aber das wird bei den beiden nächsten
Rednern der CDU/CSU-Fraktion angerechnet.
Insofern können alle entspannt bleiben.
Nächster Redner ist der Kollege Manuel Sarrazin,
Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-legen aus der Unionsfraktion! Vor genau zwei Jahren, am17. Februar 2014, hat Wladimir Putin einen Vertrag mitdem ukrainischen Präsidenten Janukowytsch über eineukrainisch-russische Partnerschaft unterschrieben. Ne-benbei wurden 3 Milliarden Dollar Kredit ausgezahlt, 12weitere Milliarden wurden versprochen.Das ist gerade einmal zwei Jahre her. Wenn man wieHerr Kauder vom Schicksalsjahr 2016 spricht, sollte manvielleicht einen Blick zurück in die nahe Vergangenheitwerfen. Angesichts der Herausforderung, die sich seit-Gerda Hasselfeldt
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dem beispielsweise in der russischen Politik in unsererNachbarschaft zeigt – Herr Kauder hat eindrucksvolldargestellt, was Sie davon halten, was in Syrien unterrussischem Einsatz passiert –, sollte man sich überlegen:Wird Europa dieser Herausforderung wie auch anderenHerausforderungen eher mit Großbritannien oder eherohne Großbritannien gerecht?Wir sollten uns aber auch überlegen, ob wir der He-rausforderung, die beispielsweise die russische Politikin unserer Nachbarschaft oder in Syrien bedeutet, ehergerecht werden, wenn wir den Glauben daran vermitteln,dass wir, die Europäische Union und Deutschland, indieser Flüchtlingskrise zusammenstehen können und dasschaffen, oder wenn wir den Eindruck erwecken, eineRegierung zu haben, die zerfasert, auseinanderfällt undimmer mehr zum Vorlagengeber für all diejenigen wird,die nicht mehr den Glauben haben und ihn auch nichthaben wollen, dass Europa in dieser Situation zusam-menstehen kann. Das ist doch das, was Europa letztlichgefährdet und was Herrn Putin stark macht.
Wenn man von einem Unrechtsstaat redet oder wennGefahr droht, dass die europäischen Werte beispielswei-se bei Maßnahmen, die mit der Türkei vereinbart wer-den, nicht mehr durchgehalten werden können, wird dasEuropa sehr in seinem Kern treffen. Ich bin davon über-zeugt, dass diese Schwäche sowohl im Inneren wie imÄußeren zu einer ernsthaften Gefährdung werden wird.Deswegen ist mein Appell an Sie wie auch an alle an-deren: Ob in der Diskussion um die Referendumskam-pagne in Großbritannien oder in der Debatte in IhrerPartei über den richtigen Weg in der Flüchtlingskrise –vergessen Sie nicht, dass das Werben für die europäischeLösung, das Werben für den Zusammenhalt in Europa,das Werben für das gemeinsame Projekt der Weg ist, derüberzeugt, und lassen Sie davon ab, so zu tun, als wäreein Rückfall in nationale Lösungen der Weg.Über Einigkeit, Herr Kauder, freue ich mich, aber icherwarte eigentlich von Ihrer Partei, dass Sie Ihrer Verant-wortung in Europa auch insofern gerecht werden, als einZweifel, ob Deutschland hierzu eine klare Haltung hat,nicht aufkommen darf.Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Gunther Krichbaum, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja,wir sind für einen Verbleib Großbritanniens in der Eu-ropäischen Union. Ich glaube, es gibt viele Gründe, diedafür sprechen, dass wir dieses Land in der EuropäischenUnion halten. Es sind außenpolitische Erwägungen, si-cherheitspolitische Erwägungen, aber sicherlich auch Er-wägungen der Stabilität.Aber was man auch dazu sagen muss – bei dieser De-batte kommt es vielleicht ein wenig zu kurz –: Es ist vorallem für Großbritannien selbst von Vorteil, Mitglied inder Europäischen Union zu bleiben. Am Ende des Tagesmüssen die Briten selbst darüber entscheiden. Aber washieße es denn, aus der Europäischen Union auszuschei-den? Von heute auf morgen würde ein Land den freienZugang zum Binnenmarkt verlieren. Das bedeutet in derKonsequenz, dass man alle Güter bzw. Waren, die man indie Europäische Union, in den Binnenmarkt hineinexpor-tieren möchte, neu zertifizieren lassen muss. Das kostetGeld. Was Geld kostet, kostet Wettbewerbsfähigkeit, undwas Wettbewerbsfähigkeit kostet, kostet am Ende auchJobs.Es gibt dann die Möglichkeit – Modell Schweiz –,einseitig den Acquis communautaire zu akzeptieren.Das geschähe aber natürlich zu dem Preis, diesen nichtmehr mitgestalten zu können. Es mag ja sein, dass dasim Falle der Schweiz funktioniert, aber beim drittgrößtenMitgliedsland der Europäischen Union funktioniert dassicherlich nicht.Das wird an einem Beispiel deutlich: an der Finanz-marktregulierung. Würde Großbritannien aus der Euro-päischen Union ausscheiden, käme es aller Wahrschein-lichkeit nach sehr schnell zu strengeren Regeln auf denFinanzmärkten. Großbritannien könnte diese dann ak-zeptieren oder eben auch nicht. Auch das steht in Groß-britannien am Ende zur Entscheidung. Das Land selbermuss darüber befinden, ob es tatsächlich einen Vorteilaus dem Austritt hat.Ganz nebenbei: Die Ursache dafür, dass wir überhauptüber dieses Referendum reden, ist eine ganz andere. Eswar Cameron, der zunächst versuchte, parteiinterne Kri-tiker – Liam Fox, Bill Cash und wie sie alle heißen – undnatürlich auch die UKIP zu besänftigen. Gelungen ist dasnur sehr begrenzt. Deswegen wählte er in seiner erstenBloomberg Speech dieses Referendum als Ventil.Ich glaube, es ist nicht die Zeit, in eine Art Rosinen-pickerei zu verfallen. Dieses Europa ist keine Multi-ple-Choice-Veranstaltung. Deswegen: Ein SonderwegGroßbritanniens darf nicht der Weg für die EuropäischeUnion werden. Das würde uns nicht stärken, sondernschwächen.
Wir stehen noch – aber auch das ist die Entscheidungvon Großbritannien – vor einer weiteren Frage. Unsereschottischen Kollegen sagen uns nämlich: Würde Groß-britannien aus der Europäischen Union ausscheiden,dann würden wir das Unabhängigkeitsreferendum vonheute auf morgen erneut auf den Tisch legen. – Deswe-gen sage ich es mit einem Satz: Die Europäische Kom-mission darf in den Verhandlungen sehr selbstbewusstauftreten; denn Großbritannien hat am Ende des Tagessehr viel zu verlieren. – Aber noch einmal: Es ist die Ent-scheidung der Bürger selbst.Manuel Sarrazin
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Ein letztes Wort natürlich zu den Flüchtlingen. Ichglaube, gerade bei dem jetzt bevorstehenden Gipfelkommt es sehr stark darauf an, ob wir als Europa imstan-de sind, hier mit einer Stimme zu sprechen. Es geht ebennicht nur um die Frage der Flüchtlinge, sondern auch da-rum, ob unsere europäische Idee, die Idee der Solidari-tät, weiterleben kann. Dabei kommt es entscheidend aufuns – auch im Deutschen Bundestag – an und darauf, obwir die Problemlösungskompetenz besitzen oder ob dieBürger meinen, sie müssten deswegen eine andere Parteiwählen.Nein, in die deutschen Parlamente darf nie wieder einePartei mit einem derart völkischen Gebaren einziehen,wie es die AfD verkörpert.
Um eines klar und deutlich zu sagen: Die Menschen ander deutschen Grenze zu erschießen, ist und bleibt keineAlternative für Deutschland.Vielen Dank.
Letzter Redner in der Aussprache ist der Abgeordnete
Thorsten Frei, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eu-
ropa ist vor diesem Europäischen Rat und in der Situa-
tion, in der er stattfindet, in keiner guten Lage. Außen-
minister Steinmeier hat am vergangenen Wochenende
davon gesprochen, dass Europa ein gefährliches „Kri-
sengebräu“ umgibt. Ich glaube, dass diese Darstellung
durchaus richtig ist. Von außen drohen uns Gefahren,
und es gibt einen Krisenbogen um Europa; aber auch im
Innern gibt es große Probleme. Es herrscht Uneinigkeit,
und für viele Problemstellungen der Zeit haben wir nicht
die richtigen Lösungsmechanismen.
Zu den Verhandlungen über den Verbleib Großbritan-
niens in der Europäischen Union ist schon einiges gesagt
worden. Ich glaube, es geht in der Tat um viel mehr. Es
geht um die Frage der Strahlkraft der Gemeinschaft. Es
geht um die Bindungswirkung. Es geht um die Attrakti-
vität Europas. Es geht nicht zuletzt darum, ob die Euro-
päische Union glaubwürdiger Akteur auf der Weltbühne
bleibt oder eben nicht.
Da sind einige wesentliche Punkte zu benennen. Die
Briten haben die größte und stärkste Armee in Europa.
Sie stellen 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der eu-
ropäischen Wirtschaft. Darüber hinaus kommen sie, wie
ich finde, mit guten Argumenten. Als Beispiele nenne ich
die Frage der Subsidiarität, in der Europa durchaus Nach-
holbedarf hat, und die Frage der Wettbewerbsfähigkeit.
Es geht darum, dass wir uns nicht an europäischem Mit-
telmaß orientieren, sondern die Weltspitze Benchmark
für unsere Politik ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht auch
darum, dass wir in der wichtigsten Frage, nämlich der
Bewältigung der Flüchtlingskrise, glaubwürdig bleiben.
Die Frage ist, ob wir es schaffen, in der Krise beisam-
menzustehen und uns nicht entzweien, wenn es schwie-
rig wird. Wir müssen auf der Basis einer gemeinsamen
Haltung dafür sorgen, die Zahl der Flüchtlinge, die nach
Europa kommen, zu verringern und die Außengrenzen zu
sichern. Auf dieser Basis müssen wir weiterkommen.
Ich glaube, dass sich die Staats- und Regierungschefs
auf ihrem Treffen in Brüssel bewusst sein müssen, dass
die Zeit drängt, dass wir zügige Lösungen benötigen, um
tatsächlich vorwärtszukommen. Es geht dabei um nichts
Geringeres als um die Glaubwürdigkeit der Union und
um die Frage, ob wir Solidarität als bestimmendes Merk-
mal einer Gemeinschaft tatsächlich leben.
Solidarität in Europa gilt eben nicht nur bei der Be-
wältigung von Staatsschuldenkrisen. Solidarität in Eu-
ropa gilt nicht nur nach Terroranschlägen. Solidarität
in Europa gilt auch dann, wenn es um die Bewältigung
der Folgen von Kriegen und Bürgerkriegen um Europa
he rum und um internationale Wanderungsbewegungen
geht.
Dabei, meine sehr verehrten Damen und Herren, muss
man im Blick behalten, dass es nicht nur um Zahlungen
aus Strukturfonds geht, dass es nicht nur darum geht,
Waren möglichst ohne Grenzen exportieren zu können,
sondern dass es letztlich um unsere Werte, um unsere Art,
zu leben, um die Freiheit auf dem Kontinent und darüber
hinaus geht. Das sollte doch dazu beitragen, zu gemein-
samen Lösungen zu kommen, wenn wir wissen, dass wir
in der Zielsetzung einig sind.
Klar ist auch, dass man dann, wenn es auf dieser Basis
nicht gelingt, zu Lösungen zu kommen, auch über Alter-
nativen nachdenken muss. Da sollte jeder wissen, was
auf dem Spiel steht. In diesem Sinne geht es in Brüssel
um viel. Wir können unserer Bundeskanzlerin bei der
Bewältigung dieser Aufgaben nur viel Glück und Erfolg
wünschen.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über drei Entschlie-ßungsanträge der Fraktion Die Linke und stimmen zuerstüber den Entschließungsantrag auf Drucksache 18/7543ab, für den namentliche Abstimmung verlangt wurde.Danach gibt es noch zwei weitere Abstimmungen. Nurdie erste Abstimmung ist namentlich.Ich bitte jetzt die Schriftführerinnen und Schriftführer,die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle PlätzeGunther Krichbaum
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besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne damit die Abstim-mung.Sind noch Mitglieder des Hauses anwesend, die ihreStimme noch nicht abgegeben haben? – Das ist nicht derFall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte dieSchriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählungzu beginnen.1)Wir setzen nun die Abstimmungen über die Entschlie-ßungsanträge der Fraktion Die Linke fort.Entschließungsantrag auf Drucksache 18/7544. Werstimmt für den Entschließungsantrag? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der Antrag mitden Stimmen von CDU/CSU und SPD bei Zustimmungdurch die Linke und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.Entschließungsantrag auf Drucksache 18/7545. Werstimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Keiner. Damit ist der Entschließungsantrag mitden Stimmen der Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bünd-nis 90/Die Grünen bei Zustimmung der Fraktion Die Lin-ke abgelehnt.Ich muss Ihnen noch mitteilen, dass zur namentlichenAbstimmung verschiedene Erklärungen nach § 31 derGeschäftsordnung des Bundestages vorliegen.2)Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:Befragung der BundesregierungDie Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-binettssitzung mitgeteilt: Vierter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen.Das Wort für den einleitenden Bericht hat der Bun-desminister der Finanzen, Herr Dr. Wolfgang Schäuble. –Bitte, Herr Bundesminister.Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-zen:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieBundesregierung hat in ihrer Kabinettssitzung heute Vor-mittag den Bericht des Bundesfinanzministers über dieTragfähigkeit unserer öffentlichen Finanzsysteme zurKenntnis genommen. Wir haben seit 2005 die Übung,dass wir einmal in der Legislaturperiode einen solchenTragfähigkeitsbericht erstellen, der für den öffentlichenGesamthaushalt – also Bund, Länder und Kommunenplus die gesetzlichen Sozialversicherungen – mit der Per-spektive auf das Jahr 2060 unter Berücksichtigung derabsehbaren Veränderungen in der Bevölkerungsstrukturund bei Unterstellung, dass die gesetzlichen Rahmenbe-dingungen nicht verändert werden, ausweisen soll, wiesich dieser öffentliche Gesamthaushalt entwickelt.Je nachdem, welche wirtschaftliche Entwicklung undwelche Entwicklung beim Lebensalter man unterstellt,ergibt sich nach den Berechnungen der unabhängigenWissenschaftler, dass wir bis 2060 eine auf den angespro-chenen Annahmen basierende Tragfähigkeitslücke von1) Ergebnis Seite 15155 C2) Anlage 21,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bis zu 3,8 Prozentim ungünstigsten Fall, also bei einer stärkeren Steigerungder Lebenserwartung oder bei einem geringeren gesamt-wirtschaftlichen Wachstum, haben können. Der Berichtist insofern ein Frühwarnsystem mit Blick auf den Hand-lungsbedarf, den wir im Gesamtbereich der Finanz- undSozialpolitik sowie der Wirtschaftspolitik haben. Erweist auch aus, dass es eine Reihe von Stellschraubengibt, mit denen wir rechtzeitig diesen Entwicklungen ge-gensteuern können.Ich will im Vergleich zum letzten Tragfähigkeitsbe-richt 2011 zwei Elemente nennen. Auf der einen Seitehat unsere Finanz- und Haushaltspolitik mit dem erfreu-lichen Ergebnis, dass wir seit 2014 keine Neuverschul-dung im Bundeshaushalt mehr haben – eine ähnlicheEntwicklung ist in Ländern und Kommunen zu beobach-ten –, erreicht, dass die Tragfähigkeitslücke nicht größergeworden ist, obwohl bei allen Annahmen das Renten-paket 2014 und eine wahrscheinlich zutreffende, genau-ere Modellierung der zu erwartenden Entwicklung in derPflegeversicherung im Hinblick auf die Tragfähigkeitslü-cke zusätzlich 0,6 Prozentpunkte ausmachen. Trotzdemhat sich die Lücke nicht vergrößert. Das zeigt: Wir kön-nen mit einer konsequenten Finanz- und Haushaltspolitikgegensteuern.Es gibt eine Reihe von Stellschrauben, an denen wirdrehen können. Die wichtigste Stellschraube ist diestrukturelle Erwerbsbeteiligung, also Bekämpfung vonDauerarbeitslosigkeit, Frauenerwerbstätigkeit und – ganzentscheidend – Lebensarbeitszeitverlängerung. JedesJahr, um das die Lebensarbeitszeit verlängert wird, ver-ringert die Tragfähigkeitslücke langfristig ganz enorm.Darüber hinaus müssen wir auf die Kosteneffizienz inden sozialen Sicherungssystemen achten. Das ist ein we-sentlicher Punkt, genauso wie die Finanz- und Haushalts-politik. Das sind die wesentlichen Stellschrauben, die wirberücksichtigen können und die auch im Bericht im Ein-zelnen ausgewiesen werden.Der Bericht weist außerdem aus, dass wir insbeson-dere jetzt ein Window of Opportunity, das heißt die Ge-legenheit zum Handeln, haben, wo die geburtenstarkenJahrgänge noch im Erwerbsleben stehen. Diese Gele-genheit wird sich Ende des kommenden Jahrzehnts dra-matisch reduzieren. Deswegen ist der Handlungsbedarfnicht erst in die Jahre kurz vor 2060 zu schieben. Viel-mehr müssen wir in dieser Legislaturperiode und in dennächsten Legislaturperioden entsprechend gegensteuern.Jetzt besteht dazu Gelegenheit, wo die geburtenstarkenJahrgänge noch im Erwerbsleben stehen.Insgesamt gibt der Bericht keinen Anlass zur Panik.Aber er sollte uns Anstoß zu einem energischen, zielge-richteten Handeln sein.Vielen Dank.
Vizepräsident Peter Hintze
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Herzlichen Dank, Herr Bundesminister. – Erster Fra-
gesteller ist der Kollege Dr. Lindner, Bündnis 90/Die
Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident. Vielen Dank, Herr Mi-
nister, für Ihren Bericht. – Sie haben eben in einem sehr
freundlichen Ton davon gesprochen, dass man die Effizi-
enz in den sozialen Sicherungssystemen erhöhen müsse.
Mir ist dabei schlagartig die Frage nach der Finanzierung
der geänderten gesetzlichen Grundlagen der Rentenversi-
cherung zu Beginn der Legislaturperiode – ich nenne als
Stichwort die Rente mit 63 – eingefallen. Die Erkennt-
nis ist nicht neu, dass zum Beispiel die Rücklagen in der
Rentenkasse in den kommenden Jahren aufgebraucht
sein müssten. Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie
als Finanzminister daraus? Würden Sie die gesetzlichen
Änderungen, die getroffen worden sind, eher rückgängig
machen, oder würden Sie eine andere Finanzierung wäh-
len?
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:
Kollege Lindner, die Antwort ist sehr einfach. Der
Koalitionsvertrag hat sich in allen Teilen als ein sehr gu-
tes Instrument erwiesen, um in dieser Legislaturperiode
solide Haushaltspolitik zu betreiben. Deswegen hat der
Finanzminister großes Interesse daran, in jedem Punkt
auf der Einhaltung des Koalitionsvertrags zu bestehen.
Das gilt auch für die bevorstehenden Haushaltsverhand-
lungen. Alle Maßnahmen, die im Koalitionsvertrag nicht
als vorrangiger Bedarf ausgewiesen sind, müssen aus den
jeweiligen Einzelhaushalten finanziert werden.
Deswegen kann ich Ihre Frage nur damit beantworten,
dass ich zu allen Teilen des Koalitionsvertrags stehe.
Nächste Fragestellerin ist Frau Dr. Lötzsch, Fraktion
Die Linke.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister Schäuble,
mein Vorredner von den Grünen hat nach der Effizienz
des Sozialsystems gefragt. Ich frage nach der Effizienz
des Steuersystems. Wäre es nicht angesichts des Erfor-
dernisses, die öffentlichen Haushalte gut zu finanzieren,
wichtig, unser Steuersystem effizient zu gestalten?
Wir haben die Situation, dass große Vermögen in im-
mer weniger Händen konzentriert sind. Und wir haben
die Situation, dass in diesem und in den kommenden
Jahren sehr große Erbschaften gemacht werden. Wäre es
nicht die beste Idee, Herr Minister Schäuble, die Vermö-
gensteuer anzuheben und eine ordentliche Erbschaftsteu-
er einzuführen, um unser Finanzsystem auf ordentliche
Füße zu stellen?
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:
Frau Kollegin Lötzsch, ich bin anderer Ansicht als
Sie, was Sie nicht überraschen wird. Ich glaube, dass
wir bei dem Steuersystem und insgesamt in der Politik
darauf achten müssen, dass wir die Voraussetzungen für
ein nachhaltiges Wachstum unserer Wirtschaft erhalten.
Das ist ein zentrales Anliegen der gesamten Finanz- und
Wirtschaftspolitik nicht nur der Bundesregierung; darum
muss man auch in Europa wieder und wieder kämpfen.
Bei jeder steuerpolitischen Entscheidung, insbesonde-
re bei jeder Entscheidung in Bezug auf Substanzsteuern,
muss man sehr genau bedenken: Wie wirkt sich das ange-
sichts der Mobilität von Kapital, Investitionen, Arbeits-
plätzen in der globalisierten Welt auf die Rahmenbedin-
gungen, auf die wirtschaftliche Entwicklung in unserem
Land, auf die Investitionsbereitschaft aus?
Die Kanzlerin hat vorhin liebenswürdigerweise meine
Bemerkung von dem „Rendezvous mit der Globalisie-
rung“ zitiert. Das erleben wir in der Steuer- und Finanz-
marktpolitik natürlich genauso wie in anderen zentralen
Bereichen. Wir können viele Entscheidungen nur noch
zielführend treffen, wenn wir deren Auswirkungen auf
die Verlagerung von Investitionen im Blick haben. Wei-
tere Substanzbesteuerungen würden im Zweifel zu we-
niger Investitionen, zu weniger Wachstum, zu weniger
Beschäftigung, zu weniger Steuereinnahmen sowie zu
höheren Schulden und zu weniger sozialer Sicherheit
führen. Deswegen halten wir die Politik für falsch.
Die nächste Frage stellt der Abgeordnete Kindler,Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrter Herr Mi-nister Schäuble, Sie haben auch den Dritten Bericht zurTragfähigkeit der öffentlichen Finanzen angesprochen,der 2011 noch während der großen Finanzkrise aufge-stellt wurde. Es gibt eine Fortschreibung dieses Berichtsaus Ihrem Haus von 2014, wonach das ungünstigste Sze-nario ein Schuldenstand von 180 Prozent im Jahr 2060ist. Jetzt haben wir 220 Prozent. Das ist eine Zunahmeum 40 Prozent zwischen der Fortschreibung des DrittenBerichts und Ihrem Bericht jetzt, also eine deutliche Ver-schlechterung.Andererseits haben Sie sich trotzdem für eine guteHaushalts- und Finanzpolitik gelobt bzw. gesagt, das seiein Teil dessen. Das macht auch der Bericht. Ich würdesagen, das hängt viel mit der EZB-Politik und den Zinsensowie den guten Steuereinnahmen zusammen.Können Sie einmal sagen, was Sie im Haushaltsbe-reich konkret gemacht haben, wenn Sie energisch anpa-cken wollen? Wo haben Sie zum Beispiel Subventionenabgebaut? Laut Umweltbundesamt belaufen sich dieSubventionen auf mehr als 52 Milliarden Euro jedes Jahr.Diese sollen abgebaut werden. Bisher ist noch nichts pas-
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siert. Wo wollen Sie denn ernsthaft an den Subventions-abbau im Bundeshaushalt herangehen?Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-zen:Herr Kollege Kindler, wir haben ja schon ein paarHaushaltsdebatten geführt. Der letzte Tragfähigkeitsbe-richt ist von 2011, und der jetzige ist vom Februar 2016.Wie ich vorher ausgeführt habe, hat sich die Tragfähig-keitslücke insgesamt gegenüber 2011 nicht vergrößert.Wir haben zwar, wie ich erwähnte, aus dem Rentenpa-ket und aus einer genaueren Modellierung der künftigenEntwicklung der Pflegeversicherung eine stärkere Lücke,haben das aber durch die Nullverschuldung in den ver-gangenen Jahren und die konsequente Finanzpolitik, diewir 2011 nur vorgezeichnet hatten, doch wieder ausge-glichen.Die Finanzpolitik der vergangenen Jahre war dadurchgekennzeichnet, dass wir das Ausgabenvolumen imBundeshaushalt von 2010 bis einschließlich 2015 nichterhöht haben. Das hat es in der Geschichte der Bundes-republik überhaupt noch nicht gegeben. Das war aberschon angelegt, als wir gesagt haben, dass wir die Ausga-ben so lange nicht erhöhen werden, bis wir kein Defizitmehr haben, und dass wir erst parallel zum Anstieg derEinnahmen die Ausgaben wieder erhöhen werden. Dasmachen wir im Jahr 2016.Wir haben in derselben Zeit die Ausgaben für Bildungund Forschung im Bundeshaushalt um 60 Prozent gestei-gert. Es sind also nicht nur die geringeren Zinsen, die zuBuche schlagen. Die Zinsausgaben sind in der Tat gerin-ger geworden. Im Entwurf für 2010, den ich vorgefundenhabe, als ich das Amt im Herbst 2009 übernommen habe,fand sich noch ein Defizit von 86 Milliarden Euro. ImJahr 2014 sind wir dann auf null gekommen. 2014 warendie Zinsausgaben 4 Milliarden Euro weniger als 2010.Das erklärt also nicht die Differenz von 86 MilliardenEuro.Wir haben klare Prioritäten gesetzt. Wir haben in die-ser Legislaturperiode die Ausgaben für die Infrastruk-tur – Straße, Schiene, Wasserstraße, Luftverkehr undNetzinfrastruktur – erheblich erhöht. Wir haben die Leis-tungen für die Kommunen wesentlich aufgestockt, undwir haben in anderen Bereichen Leistungen nicht erhöht.Das ist der Schlüssel für den Erfolg dieser Finanzpolitik.
Nächster Fragesteller ist der Abgeordnete Claus, Frak-
tion Die Linke.
Herr Finanzminister, ich will Sie fragen, wie Sie denKritiken begegnen, die im Zusammenhang mit IhremBericht heute öffentlich geworden sind. Im Kern wirdIhnen unterstellt, es handle sich hier um ein durchsichti-ges Manöver unmittelbar vor der Aufstellung des Haus-halts für 2017 – ich will daran erinnern, dass der Berichtursprünglich schon im Oktober des vergangenen Jahresvorgetragen werden sollte –, um den Spardruck auf dieRessorts zu erhöhen. Um eine dieser Kritiken heraus-zugreifen, zitiere ich Ihren Koalitionspartner, wenn Siegestatten:Dass der Bundesfinanzminister den 4. Tragfähig-keitsbericht nutzt, um mit gespielter Besorgnis vorallem die Ideen der sozialdemokratischen Ressortseinzuhegen, ist ein sehr durchsichtiges Spiel.So der Abgeordnete Johannes Kahrs. Ich hätte schon er-wartet, dass Sie auf die Kritiken eingehen, Herr Bundes-minister.Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-zen:Der Abgeordnete Kahrs hat in der letzten Haushaltsde-batte – die liegt so lange noch nicht zurück; die war EndeNovember – von diesem Pult aus – ich habe sehr sorg-fältig zugehört, wie Sie, Herr Kollege Claus, im Zweifelauch – sehr klar gesagt, dass die Politik der Nullverschul-dung absolut richtig ist und dass er sie zu 100 Prozent un-terstützt. Er hat zwischendurch den Eindruck erweckt, alshabe er sie erfunden. Ich habe in der Koalition nie einenStreit um das Copyright geführt, weil ich das albern fin-de. Ich teile da die Ermahnung von Herrn Kauder: Wennman eine Koalition macht, muss man den gemeinsamenErfolg wollen.
Im Übrigen trifft mich die Kritik gar nicht so sehr. Ichhabe gerade hier gesagt: Wir müssen nicht in Panik aus-brechen wegen dieses Berichts, aber wir sollten ihn alsMahnung zu zielgerichtetem Handeln auffassen. Aberdie Tatsache, dass wir im vergangenen Jahr durch eini-ge glückliche Sonderumstände einen Überschuss erzielthaben, ist von manchen in der Öffentlichkeit, auch imParlament – ich glaube, nicht in der Regierung, aber manweiß es nie ganz genau – dahin gehend missverstandenworden, man hätte jetzt Spielräume.Der Überschuss wird durch die Entwicklungen inder Flüchtlingsfrage mehr als aufgebraucht werden. DieBundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung heutesehr genau beschrieben, wozu wir ihn nutzen. Wir nutzenihn nicht nur zur Erhöhung der Leistungen an die Kom-munen. Wir bezahlen für jeden Flüchtling vom erstenTag der Registrierung bis zum Abschluss des Verfahrens670 Euro monatlich. Dazu gibt es die Spitzabrechnungim Jahr 2017. Das wird eine teure Veranstaltung.Wir finanzieren – die Kanzlerin hat es erwähnt – denHochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge,das UN-Welternährungsprogramm, die Türkei-Hilfe undweitere bilaterale Hilfen, weil es die Politik der Bundes-regierung ist, die Finanzmittel konzentriert dafür ein-zusetzen, dass die Regionen, aus denen die Flüchtlingeheute fliehen müssen, so stabilisiert werden, dass nichtmehr so viele Flüchtlinge nach Europa kommen. Damitentlasten wir auch ein Stück weit die schwierigen Bera-tungen im Europäischen Rat.Aber wenn das so ist, muss der Finanzminister in derTat mahnen, dass für anderes nicht mehr viel Geld vor-handen ist. Das ist die Realität.SvenChristian Kindler
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Nächste Fragestellerin ist die Abgeordnete Hajduk,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Minister, mit dem Tragfähigkeitsbericht liegt
uns sicherlich ein Dokument vor, in dem ehrlicherwei-
se deutlich wird, dass mit dem Thema „ausgeglichener
Haushalt“ die Aufgaben für die öffentlichen Finanzen bei
weitem nicht erledigt sind. Wenn man dann einsteigt und
sieht, dass wir demografiebedingt eine Tragfähigkeitslü-
cke haben – es kommt ja darauf an: was ist die analyti-
sche Grundlage? –, dann erkennt man: Möglicherweise
ist auch die Perspektive der Finanzsituation in Deutsch-
land im Vergleich zu anderen Ländern – ich betone jetzt:
Perspektive – vergleichsweise nicht gut.
Vor diesem Hintergrund möchte ich Sie fragen: Was
halten Sie eigentlich für das richtige Zeitfenster – setzen
wir die Lücke einmal bei 2,5 bis 3 Prozent von unserem
Bruttoinlandsprodukt an; auch Sie haben eine entspre-
chende „range“ angegeben –, diese Tragfähigkeitslücke
zu schließen?
Ich meine, das müsste eher schneller als langsamer ge-
schehen, weil wir eine enorm günstige Beschäftigungs-
lage haben und demografiebedingt viele Menschen im
aktiven Arbeitsleben stehen. Das heißt, eigentlich muss
man versuchen, die Tragfähigkeitslücke von Ende dieses
Jahrzehnts bis Mitte des nächsten Jahrzehnts zu schlie-
ßen. Können Sie mir einmal sagen, in welchen Bereichen
Sie einen relevanten Beitrag sehen wollen, zum Beispiel
in den sozialen Sicherungssystemen? Zugegeben, was
die öffentlichen Haushalte angeht: Den Kernhaushalt im
engeren Sinne haben Sie ins Lot gebracht. Können Sie
einmal aufzeigen, in welchen Bereichen Sie den größten
Beitrag sehen wollen, um diese Lücke zu schließen, und
bis wann dies geschehen soll?
Ein kurzer Verfahrenshinweis: Die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen hat mich gerade gebeten, ich möge
den Bundesminister darauf hinweisen, dass das Auf-
leuchten der roten Lampe bedeute, er solle aufhören, zu
reden. Das gilt natürlich auch für die Fragesteller; wenn
ich das der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mal liebe-
voll zurückmelden darf. Also: Beide bemühen sich um
die vereinbarte Prägnanz und Kürze.
Herr Bundesminister.
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:
Herr Präsident, ich bedanke mich. So liebenswürdig
bin ich selten auf die Einhaltung der Redezeit aufmerk-
sam gemacht worden.
Frau Kollegin Hajduk, ich habe gesagt: Der Tragfä-
higkeitsbericht weist aus, dass wir jetzt ein Window of
Opportunity haben, weil wir eine günstige Beschäfti-
gungslage haben, weil die geburtenstarken Jahrgänge
noch im Erwerbsleben sind. Das wird sich erst Ende des
kommenden Jahrzehnts – das habe ich ausgeführt – än-
dern. Deswegen stimme ich mit Ihnen überein: Wir soll-
ten die nächsten Legislaturperioden dazu nutzen. Sie
werden von mir aber nicht erwarten können – das läge
nun wirklich nicht im Rahmen meiner Zuständigkeit –,
dass ich Ihnen jetzt ein Regierungsprogramm für die
nächsten Legislaturperioden im Rahmen der Regierungs-
befragung über den Tragfähigkeitsbericht vorstelle.
Der Tragfähigkeitsbericht weist aus, dass jede kom-
mende Regierung, übrigens auch in den Bund-Län-
der-Verhandlungen, darauf achten muss, dass die Sys-
teme auch anreizgerecht sind, damit die Lücke nicht
zu groß wird. Im Übrigen liegt die Differenz zwischen
1,2 Prozent und 3,8 Prozent.
Wunderbar. – Das bezieht sich jetzt nicht auf die Lü-
cke, sondern auf die Einhaltung der Redezeit.
Nächster Fragesteller: Kollege Dr. Troost, Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Herr Minister, ich möchte erst einmalzum Ausdruck bringen, dass ich es für eine Zumutunghalte, dass wir über einen Bericht diskutieren, der unsnicht vorliegt, den wir nicht kennen, der, was die Mo-dellierung betrifft, natürlich davon lebt, welche Annah-men in ihn eingeflossen sind. Insofern muss man wirk-lich überlegen, wie man die Diskussion dann, wenn wirKenntnis haben, fortsetzen kann.
Vor dem Hintergrund, dass wir in vielen Fällen nichtwissen, was in den nächsten zwei, drei Jahren passiert,wie sich die Konjunktur entwickelt, wie es mit denFlüchtlingen weitergeht und, und, und – bekanntlichkann jeder mit Excel einen Trend auf einen Zeitraum von20, 30 oder 40 Jahren verlängern und kommt zu irgend-einem Ergebnis –, möchte ich gerne erfahren, was Sie inder Frage der Zuwanderung modelliert haben. Ich habegehört, einmal geht man von 100 000 Zuwanderern proJahr aus, alternativ von 200 000. Wie sieht es aus, wennes 300 000 Zuwanderer sein werden?Ich möchte an die Frage von Frau Lötzsch anknüpfen.Ich denke dabei gar nicht an eine konkrete Steuer oder andie Frage: Sozialversicherung, Bürgerversicherung odervieles andere mehr. – Es ist doch unwahrscheinlich, dassman einfach unterstellt: In den nächsten 40 Jahren wirdsich an diesen Systemen nichts verändern lassen, um aufeventuell entstehende Lücken reagieren zu können.Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-zen:Herr Kollege Troost, was Ihren Vorwurf der Zumu-tung anbetrifft: Das kann ich nicht akzeptieren.
Das Kabinett hat diesen Bericht heute zur Kenntnis ge-nommen. Bevor ihn das Kabinett nicht zur Kenntnis ge-
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nommen hat, kann der zuständige Bundesminister einensolchen Bericht auch nicht dem Parlament zustellen. Daskann er erst hinterher tun. Da die Regierungsbefragungunmittelbar nach der Kabinettssitzung stattfindet, liegt esim System, dass zu dieser Stunde der Bericht dem Par-lament nicht vorliegen kann. Ich bitte, den Vorwurf derZumutung ausdrücklich zurückzunehmen. – Punkt eins.Punkt zwei. Es ist ein Bericht, der von Wissenschaft-lern mit bestimmten Annahmen erstellt wird. Bei der De-mografie gibt es unterschiedliche Varianten: Der Anstiegder Lebenserwartung fällt einmal ein bisschen stärkerund einmal ein bisschen schwächer aus.Beim Arbeitsmarkt ist die Flüchtlingszuwanderungnoch nicht berücksichtigt. Man hat gesagt: Wir wissenzum jetzigen Zeitpunkt nicht, wie die Vor- und Nachteileder Zuwanderung sind; das hängt mit der Integration zu-sammen. Das haben wir zu diesem Zeitpunkt noch nichtberechnen können. – Ich werfe das den Wissenschaftlernauch nicht vor.Bei der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung geht esum die Frage der totalen Faktorproduktivität ab 2020.Die kann mehr oder weniger stark ausfallen.Das alles weist der Bericht aus. Daraus ergeben sichdie verschiedenen Varianten. Das ersetzt nicht das poli-tische Handeln. Dieser Bericht hat den Sinn, eine lang-fristige Perspektive zu geben – als einen Rahmen für diepolitischen Entscheidungen, die wir im demokratischenProzess treffen.
Nächste Fragestellung: die Abgeordnete Deligöz,
Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, zur
Tragfähigkeit von Sozialversicherungssystemen gehört,
dass sie tatsächlich sozial absichern. In diesem Zusam-
menhang würde mich interessieren, ob Sie sich im Be-
reich der Rente neben dem Rentenpaket auch die Ent-
wicklung bei der Grundsicherung im Alter angeschaut
haben. Es gibt durchaus die Annahme, dass die Renten-
versicherung nicht armutsfest genug ist und dass dadurch
die Kosten im Bereich der Grundsicherung steigen wer-
den. Inwieweit ist diese Annahme bei Ihnen in die Trag-
fähigkeitsuntersuchung mit eingeflossen, und welche
Konsequenzen werden Sie daraus ziehen?
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:
Die Annahme dieses Tragfähigkeitsberichtes ist – so
ist das Regelwerk, das 2005 eingeführt worden ist; es war
damals, glaube ich, eine rot-grüne Koalition, die das zum
ersten Mal gemacht hat –, dass die gesetzlichen Rahmen-
bedingungen unverändert bleiben. Dass sich diese Bedin-
gungen bis 2060 nicht ändern, ist nicht realistisch, aber
man erstellt solche Langfristprognosen unter der Cete-
ris-paribus-Annahme; anders ist eine solche Modellrech-
nung nicht möglich.
Deswegen untersucht dieser Tragfähigkeitsbericht
nicht, wie sich das Rentensystem tatsächlich auf die so-
ziale Lage auswirkt. Das ist eine Fragestellung, mit der
sich regelmäßig der Rentenbericht befasst; den verant-
wortet federführend das Bundesarbeitsministerium.
Der Tragfähigkeitsbericht hat die Aufgabe, zu ermit-
teln: Ergibt sich unter den erwartbaren, vorhersehbaren
Entwicklungen, etwa Veränderungen in der Bevölke-
rungsstruktur, bei den gegebenen Grundbedingungen –
Ceteris-paribus-Annahme – eine Tragfähigkeitslücke?
Nicht mehr und nicht weniger!
Nächster Fragesteller ist der Abgeordnete Pitterle,
Fraktion Die Linke.
Herr Minister, ich kenne den Bericht leider auch nicht.
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:
Aus den Gründen, die ich gerade erläutert habe.
Aus den Gründen, die Sie genannt haben. – Deswegen
möchte ich nachfragen. Wir werden am Freitag die Ein-
setzung des Parlamentarischen Untersuchungsausschus-
ses zu den Cum-ex-Geschäften beschließen. Welche
Annahmen liegen dem Bericht zugrunde, was Rückzah-
lungen im Zusammenhang mit diesen Cum-ex-Geschäf-
ten betrifft? Wie viele Millionen oder Milliarden Euro
werden der Staatskasse als Rückzahlung im Zusammen-
hang mit solchen Geschäften zugutekommen?
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:
Herr Kollege Pitterle, mit allem Respekt: Ich habe
jetzt schon ein paarmal erklärt, was der Tragfähigkeits-
bericht ist und was er nicht ist. Er ist auch keine Steu-
erschätzung. Über Cum-ex-Geschäfte werden wir lange
diskutieren; der Untersuchungsausschuss wird es auch
tun. Sie wissen, dass wir in der rechtlichen Aufarbeitung,
sowohl finanzgerichtlich als auch strafrechtlich, erst ganz
allmählich vorankommen. Das ist wahnsinnig kompli-
ziert und aufwendig. Nichts davon geht in die Berech-
nungen dieses Tragfähigkeitsberichts ein.
Der Abgeordnete Dr. Murmann, CDU/CSU-Fraktion,
ist der nächste Fragesteller.
Damit die Zahl der Fragesteller nicht völlig unpropor-tional zu den Wahlergebnissen ist, möchte auch ich eineFrage stellen,
Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
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wobei mir klar ist, dass damit die Proportionalität nichthergestellt werden kann.Sie haben gesagt, die Möglichkeit der Schließung derTragfähigkeitslücke ergebe sich im Wesentlichen überdie Demografie; das sei ein Element. Nun haben wir inDeutschland zum Glück viele junge Unternehmen, die anden Start gehen, die am Anfang aber erst noch durch eineVerlustphase gehen. Sie bemühen sich, diese Unterneh-men zu stützen. Inwieweit sehen Sie denn die Möglich-keit, dass gerade ein kontinuierlicher Fluss durch jungeUnternehmen und deren Finanzierung mit Wagniskapitalin Zukunft zur Schließung dieser Tragfähigkeitslückebeitragen kann?Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-zen:Ich habe ja eine der variablen Annahmen, die Ent-wicklung der gesamtwirtschaftlichen Faktorprodukti-vität, angesprochen. Je stärker innovatorische Kräfte inunserer Wirtschaft wirken, umso stärker wird sich auchdie Produktivität erhöhen, und damit wird die Tragfä-higkeitslücke tendenziell geschlossen. Deswegen habeich in der Antwort auf eine vorangegangene Frage schondarauf hingewiesen, dass wir von 2010 bis 2014, ohnedass die Ausgaben im Bundeshaushalt insgesamt gestie-gen sind, die Ausgaben für Bildung und Forschung umüber 60 Prozent erhöht haben. Auch das ist ein Beitrag.Die Politik, Wagniskapital stärker zur Unterstützung vonStart-ups einzusetzen, werden wir konsequent fortsetzen,ebenso wie die Forschungsförderung.
Letzte Frage zu dem Thema der Befragung der Bun-
desregierung – danach können noch Fragen zu sonstigen
Themen an die Regierung gestellt werden – noch einmal
von der Abgeordneten Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen.
Ich würde gerne noch einmal zur Tragfähigkeit der
Sozialversicherungssysteme kommen. In dem Bericht
wird auch stehen, dass die Beitragsautonomie der Kran-
kenkassen einen Beitrag dazu leistet, die Tragfähigkeit
zu stärken. Im Moment bedeutet das aber lediglich eine
Erhöhung der Zusatzbeiträge für die Arbeitnehmer. Sind
Sie nicht der Meinung, dass es angesichts der guten Kon-
junktur an der Zeit wäre, im Sinne des Solidaritätsprin-
zips auch die Arbeitgeber einzubeziehen, um die Tragfä-
higkeit zu steigern und zu stabilisieren?
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:
Frau Kollegin, es gilt Folgendes – das möchte ich auch
anderen Kollegen gerne sagen –: Der Tragfähigkeitsbe-
richt wird dem Parlament zugestellt und wird dann An-
lass – das ist Sache des Parlaments – für vielfältige Dis-
kussionen und Beratungen sein, so wie wir im Übrigen
auch die Entwicklung der gesetzlichen Sozialversiche-
rungssysteme immer wieder parlamentarisch beraten und
übrigens auch gesetzgeberisch gestalten.
Für den Tragfähigkeitsbericht als solchen ist die Frage,
wie das Beitragsaufkommen der gesetzlichen Kranken-
versicherung entsteht – ob durch die Arbeitgeber, durch
die Arbeitnehmer oder sonst wie –, irrelevant. Wenn es
ein Bundeszuschuss ist, ist es natürlich nicht irrelevant;
dann beeinflusst es die Lücke. Der Tragfähigkeitsbericht
behandelt Ihre Frage also nicht, weil sie irrelevant ist.
Das soll Sie aber nicht daran hindern, in anderen Debat-
ten – über die Gestaltung des Gesundheitswesens zum
Beispiel – über diese Frage kräftig zu streiten.
Danke schön. – Wir kommen jetzt zu den Fragen zu
sonstigen Themen der Kabinettssitzung. Dazu gibt es
eine Wortmeldung, und zwar vom Abgeordneten Volker
Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident, das ist eine Frage, die vor allen Dingendas Innenministerium betrifft. Deshalb will ich HerrnKrings vorwarnen. Ich weiß nicht, wer die Frage für dieRegierung am Ende beantworten wird.Die Europäische Kommission hat am 10. Februar die-ses Jahres eine Kommunikation der Kommission an dasEuropäische Parlament und den Rat über die Implemen-tierung der prioritären Aktionen auf der EuropäischenMigrationsagenda zugeleitet. Dabei wird die Frage er-örtert: Was ist ein sicherer Drittstaat? Die EuropäischeKommission geht davon aus, dass ein sicherer Drittstaatauch ein Staat sein könnte, der die Genfer Flüchtlings-konvention unterzeichnet hat, aber dies mit territorialemVorbehalt. Ein solcher Fall ist die Türkei, die die GenferFlüchtlingskonvention für Flüchtlinge aus asiatischenStaaten nicht, zumindest nicht völkerrechtlich verbind-lich, anwendet.Ich wollte deshalb die Rechtsauffassung der Bundes-regierung, die mit dieser Frage in den Räten zu tun habenwird, dazu wissen, wie sie Artikel 38 und Artikel 39 derentsprechenden Richtlinie zu gemeinsamen Verfahrenfür die Zuerkennung und Aberkennung des internationa-len Schutzes auslegt. Denn in Artikel 39 steht unter Ziffer2 a zur Definition eines sicheren Drittstaates ausdrück-lich als zwingende Voraussetzung: „die Genfer Flücht-lingskonvention ohne geografischen Vorbehalt ratifizierthat und deren Bestimmungen einhält“.Teilen Sie meine Auffassung, dass das zwingende Vo-raussetzung ist und dass insofern die Kommission ihreVorlagen hier nachbessern muss? Oder wie sieht das dieBundesregierung?Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-zen:Herr Präsident, da diese Frage nicht Gegenstand derheutigen Kabinettssitzung gewesen ist, bitte ich umdie Erlaubnis, dass der Parlamentarische StaatssekretärKrings zu der Frage Stellung nehmen kann.Dr. Philipp Murmann
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Das machen wir so. – Bitte, Herr Staatssekretär Pro-
fessor Krings.
D
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Lieber Kollege Beck, mir ist der genaue Inhalt die-
ser Kommunikation der EU-Kommission nicht bekannt.
Grundsätzlich begrüßt die Bundesregierung die Bestre-
bungen, einen einheitlichen europäischen Katalog – je-
denfalls als Mindestkatalog – für sichere Herkunftsstaa-
ten zu definieren, weil es dann eine größere Klarheit bzw.
Transparenz für alle Seiten geben würde. Zu dieser kon-
kreten Auffassung ist die Meinungsbildung in der Bun-
desregierung meines Wissens noch nicht abgeschlossen.
Gibt es weitere Fragen zu sonstigen Themen? – Dasist nicht der Fall. Dann schließe ich die Regierungsbe-fragung.Bevor wir zur Fragestunde kommen, verkünde ich dasvon den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittel-te Ergebnis der namentlichen Abstimmung über denEntschließungsantrag der Fraktion Die Linke zur Abgabeeiner Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerinzum Europäischen Rat am 18./19. Februar 2016 in Brüs-sel, Drucksache 18/7543: abgegebene Stimmen 589. MitJa haben gestimmt 120, mit Nein haben gestimmt 469.Enthalten hat sich niemand. Der Entschließungsantrag istdamit abgelehnt.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 589;davonja: 120nein: 469enthalten: 0JaDIE LINKEDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmEva Bulling-SchröterRoland ClausSevim DağdelenDr. Diether DehmKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeAnnette GrothDr. Andre HahnHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerAndrej HunkoSigrid HupachUlla JelpkeSusanna KarawanskijKerstin KassnerKatja KippingJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichDr. Gesine LötzschThomas LutzeBirgit MenzCornelia MöhringNiema MovassatNorbert Müller
Dr. Alexander S. NeuThomas NordPetra PauHarald Petzold
Richard PitterleMartina RennerMichael SchlechtDr. Petra SitteKersten SteinkeDr. Kirsten TackmannAzize TankFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerDr. Sahra WagenknechtHalina WawzyniakHarald WeinbergBirgit WöllertJörn WunderlichHubertus ZdebelSabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENLuise AmtsbergKerstin AndreaeAnnalena BaerbockVolker Beck
Dr. Franziska BrantnerAgnieszka BruggerEkin DeligözKatja DörnerKatharina DrögeHarald EbnerDr. Thomas GambkeMatthias GastelKai GehringKatrin Göring-EckardtAnja HajdukBritta HaßelmannDr. Anton HofreiterBärbel HöhnDieter JanecekUwe KekeritzKatja KeulSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerStephan Kühn
Christian Kühn
Renate KünastMarkus KurthMonika LazarSteffi LemkeDr. Tobias LindnerNicole MaischPeter MeiwaldIrene MihalicBeate Müller-GemmekeÖzcan MutluDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffCem ÖzdemirLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Corinna RüfferManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergUlle SchauwsDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtKordula Schulz-AscheDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDr. Julia VerlindenBeate Walter-RosenheimerDr. Valerie WilmsNeinCDU/CSUStephan AlbaniPeter AltmaierArtur AuernhammerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannMaik BeermannManfred Behrens
Veronika BellmannSybille BenningDr. Andre BergheggerDr. Christoph BergnerUte BertramPeter BeyerSteffen BilgerClemens Binninger
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Peter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang BosbachKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerCajus CaesarGitta ConnemannAlexandra Dinges-DierigAlexander DobrindtMichael DonthThomas DörflingerMarie-Luise DöttHansjörg DurzIris EberlJutta EckenbachDr. Bernd FabritiusHermann FärberUwe FeilerDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachDirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachThorsten FreiDr. Astrid FreudensteinDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartAlois GerigEberhard GiengerCemile GiousoufReinhard GrindelUrsula Groden-KranichHermann GröheKlaus-Dieter GröhlerMichael Grosse-BrömerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundOliver GrundmannMonika GrüttersDr. Herlind GundelachFritz GüntzlerOlav GuttingChristian HaaseFlorian HahnJürgen HardtGerda HasselfeldtMatthias HauerMark HauptmannDr. Stefan HeckDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank Heinrich
Uda HellerJörg HellmuthRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingPeter HintzeDr. Heribert HirteChristian HirteRobert Hochbaum
Karl HolmeierMargaret HorbBettina HornhuesCharles M. HuberAnette HübingerHubert HüppeThomas JarzombekSylvia JörrißenDr. Franz Josef JungAndreas JungXaver JungDr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterSteffen KanitzAlois KarlAnja KarliczekBernhard KasterVolker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterDr. Georg KippelsVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenMarkus KoobCarsten KörberHartmut KoschykKordula KovacMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Roy KühneGünter LachUwe LagoskyDr. Karl A. LamersAndreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeBarbara LanzingerDr. Silke LaunertPaul LehriederDr. Katja LeikertDr. Philipp LengsfeldDr. Andreas LenzPhilipp Graf LerchenfeldDr. Ursula von der LeyenAntje LeziusIngbert LiebingMatthias LietzAndrea LindholzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsWilfried LorenzDr. Claudia Lücking-MichelDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigKarin MaagYvonne MagwasThomas MahlbergDr. Thomas de MaizièreGisela ManderlaMatern von MarschallHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Reiner MeierDr. Michael MeisterMaria MichalkDr. h.c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergDietrich MonstadtKarsten MöringMarlene MortlerVolker MosblechElisabeth Motschmann
Stefan Müller
Dr. Philipp MurmannDr. Andreas NickHelmut NowakDr. Georg NüßleinJulia ObermeierWilfried OellersFlorian OßnerDr. Tim OstermannHenning OtteIngrid PahlmannSylvia PantelMartin PatzeltDr. Martin PätzoldUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferEckhard PolsThomas RachelKerstin RadomskiAlexander RadwanAlois RainerDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergLothar RiebsamenJosef RiefDr. Heinz RiesenhuberDr. Norbert RöttgenErwin RüddelAnita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleAndreas ScheuerKarl SchiewerlingJana SchimkeNorbert SchindlerTankred SchipanskiHeiko SchmelzleChristian Schmidt
Gabriele Schmidt
Ronja SchmittPatrick SchniederDr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-DrüggelteDr. Klaus-Peter SchulzeUwe Schummer
Christina SchwarzerDetlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerTino SorgeCarola StaucheDr. Frank SteffelDr. Wolfgang StefingerAlbert Stegemann
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Peter SteinErika SteinbachSebastian SteinekeJohannes SteinigerChristian Frhr. von StettenDieter StierRita StockhofeGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerMatthäus StreblKarin StrenzThomas StritzlThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Sabine Sütterlin-WaackDr. Peter TauberAntje TillmannAstrid Timmermann-FechterDr. Hans-Peter UhlDr. Volker UllrichThomas ViesehonMichael VietzVolkmar Vogel
Sven VolmeringChristel Voßbeck-KayserKees de VriesDr. Johann WadephulMarco WanderwitzNina WarkenAlbert WeilerMarcus Weinberg
Dr. Anja WeisgerberPeter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannMarian WendtWaldemar WestermayerKai WhittakerPeter WichtelAnnette Widmann-MauzHeinz Wiese
Klaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerOliver WittkeDagmar G. WöhrlBarbara WoltmannTobias ZechHeinrich ZertikEmmi ZeulnerDr. Matthias ZimmerGudrun ZollnerSPDNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeike BaehrensUlrike BahrHeinz-Joachim BarchmannDr. Katarina BarleyDoris BarnettKlaus BarthelDr. Matthias BartkeSören BartolBärbel BasUwe BeckmeyerLothar Binding
Burkhard BlienertWilli BraseDr. Karl-Heinz BrunnerEdelgard BulmahnMarco BülowMartin BurkertDr. Lars CastellucciPetra CroneBernhard DaldrupDr. Daniela De RidderSabine DittmarMartin DörmannElvira Drobinski-WeißSiegmund EhrmannMichaela EngelmeierDr. h.c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerSaskia EskenKarin Evers-MeyerDr. Johannes FechnerDr. Fritz FelgentreuElke FernerDr. Ute Finckh-KrämerChristian FlisekGabriele FograscherDr. Edgar FrankeUlrich FreeseDagmar FreitagMichael GerdesMartin GersterIris GleickeAngelika GlöcknerUlrike GottschalckKerstin GrieseGabriele GronebergMichael GroßUli GrötschWolfgang GunkelBettina HagedornRita Hagl-KehlMetin HakverdiSebastian Hartmann
Dirk HeidenblutHubertus Heil
Marcus HeldWolfgang HellmichDr. Barbara HendricksHeidtrud HennGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Thomas HitschlerDr. Eva HöglMatthias IlgenFrank JungeJosip JuratovicThomas JurkOliver KaczmarekJohannes KahrsRalf KapschackGabriele KatzmarekUlrich KelberMarina KermerCansel KiziltepeArno KlareLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerBirgit KömpelAnette KrammeDr. Hans-Ulrich KrügerChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerHiltrud LotzeKirsten LühmannDr. Birgit Malecha-NissenCaren MarksKatja MastHilde MattheisDr. Matthias MierschKlaus MindrupSusanne MittagBettina MüllerDetlef Müller
Michelle MünteferingDr. Rolf MützenichDietmar NietanUlli NissenThomas OppermannMahmut Özdemir
Aydan ÖzoğuzMarkus PaschkeChristian PetryJeannine PflugradtDetlev PilgerSabine PoschmannFlorian PostAchim Post
Dr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeDr. Simone RaatzMartin RabanusMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannAndreas RimkusSönke RixPetra Rode-BosseDennis RohdeDr. Martin RosemannRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Susann RüthrichBernd RützelSarah RyglewskiJohann SaathoffAnnette SawadeDr. Hans-JoachimSchabedothAxel Schäfer
Dr. Nina ScheerMarianne SchiederUdo SchiefnerDr. Dorothee SchlegelUlla Schmidt
Matthias Schmidt
Dagmar Schmidt
Elfi Scho-AntwerpesUrsula SchulteSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeStefan SchwartzeAndreas SchwarzRita Schwarzelühr-SutterRainer SpieringNorbert SpinrathSvenja StadlerMartina Stamm-FibichSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin Tack
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Claudia TausendMichael ThewsDr. Karin ThissenFranz ThönnesCarsten TrägerUte VogtDirk VöpelGabi WeberBernd WestphalDirk WieseGülistan YükselDagmar ZieglerStefan ZierkeDr. Jens ZimmermannManfred ZöllmerBrigitte ZypriesIch rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:FragestundeDrucksache 18/7509Ich rufe die mündlichen Fragen auf Drucksa-che 18/7509 in der üblichen Reihenfolge auf.Wir kommen zuerst zum Geschäftsbereich des Aus-wärtigen Amtes. Die Fragen 1 und 2 des AbgeordnetenAndrej Hunko, die Fragen 3 und 4 der AbgeordnetenAgnieszka Brugger sowie die Frage 5 der AbgeordnetenSevim Dağdelen werden schriftlich beantwortet.Wir kommen nun zur Frage 6 des Abgeordneten OmidNouripour:Setzt sich nach Kenntnis der Bundesregierung der Trendeiner steigenden Anzahl von Binnenvertriebenen in Afgha-nistan fort, und welche Regionen Afghanistans sind nachKenntnis der Bundesregierung von diesem Trend besonders
Zur Beantwortung steht Herr Staatsminister Roth be-reit.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Herr Kollege Nouripour, die Bundesre-
gierung erhebt zur Anzahl der Binnenvertriebenen in Af-
ghanistan keine eigenen Daten. Sie stützt sich in diesem
Zusammenhang auf Erkenntnisse der Vereinten Natio-
nen und der Internationalen Organisation für Migration,
IOM. Auf diese Angaben beziehe ich mich jetzt auch.
Danach handelte es sich Mitte des Jahres 2015 um
rund 950 000 Binnenvertriebene; diese Zahl stieg bis
Ende 2015 auf rund 1,17 Millionen. UNAMA, die Un-
terstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanis-
tan, weist darauf hin, dass eine große Anzahl der Binnen-
vertriebenen aus den Provinzen Kunduz, Badakhshan,
Baghlan, Takhar und Nangarhar kommt. Aufgrund der
besseren Wirtschaftslage lassen sich viele Binnenvertrie-
bene in größeren Städten wie Kabul, Herat und Masar-i-
Scharif nieder.
Die Internationale Organisation für Migration sieht als
Gründe für den Anstieg die Sicherheitssituation und Na-
turkatastrophen – Sie werden sich daran erinnern, dass es
im Oktober und Dezember vergangenen Jahres schwere
Erdbeben in Afghanistan gab –, aber auch rückkehrende
afghanische Flüchtlinge aus Pakistan und dem Iran.
Haben Sie eine Zusatzfrage, Herr Nouripour? – Bitte
schön.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Herr Staatsminis-
ter, ich habe das nicht ganz verstanden. Können Sie noch
einmal genauer erklären, was das mit der ökonomischen
Situation zu tun hat? Sie haben ja gerade selbst gesagt,
dass die internationalen Organisationen darauf hinwei-
sen, dass sich zum Beispiel – das steht aber an erster
Stelle – die Sicherheitslage geändert hat. Sie haben auch
mehrere Provinzen genannt, von denen wir wissen, was
dort passiert ist. Allen voran nenne ich Kunduz und die
Geschehnisse dort – zum Beispiel der Fall der Stadt bzw.
ihre Eroberung durch die Taliban im letzten Jahr –, die in
der deutschen Öffentlichkeit sehr bekannt sind. Ich habe
deshalb nicht verstanden, was das mit der ökonomischen
Situation zu tun hat.
Ich habe auf mehrere Gründe hingewiesen, die dazu
geführt haben, dass die Zahl der Binnenflüchtlinge zuge-
nommen hat. Sie haben in Ihrer Frage einen Aspekt, die
Sicherheitslage, angeführt. Die hat sich in einigen Regio-
nen verschlechtert. Das sind aber nicht unsere Informati-
onen, sondern Angaben, die wir von den internationalen
Organisationen erhalten haben. Hierzu gehört auch die
Information, dass es eine Reihe von Binnenvertriebenen
gibt, die sich aufgrund einer erhofften besseren wirt-
schaftlichen Situation in den größeren Städten, vor allem
Masar-i-Scharif, Kabul und Herat, niederlassen.
Sie haben noch eine Zusatzfrage?
Ja.
Bitte schön, Herr Kollege Nouripour.
Es verwirrt mich zutiefst, dass Sie jetzt das altbekann-te Phänomen Landflucht in die Kategorie Binnenflücht-linge bzw. Binnenvertreibung einsortieren. Ich will Sieaber jenseits davon etwas fragen.Sie haben auch davon gesprochen, dass es Leute gibt,die zum Beispiel aus Pakistan zurückgekommen sind.Dadurch sei die Zahl der Binnenflüchtlinge gestiegen. –Das ist völlig richtig. Binnenflüchtling ist man ja nicht,wenn man aus einem anderen Land zurückkommt unddann nach Hause geht. Man ist Binnenflüchtling, wennman eben nicht nach Hause gehen kann, etwa weil esdas eigene Haus nicht mehr gibt oder es infolge einerEnteignung mittlerweile andere Eigentümer hat. Die be-troffenen Menschen – bis zu 300 000 allein im letztenJahr – gelten als Binnenflüchtlinge. Meine Frage lautet:https://unama.unmissions.org/sites/default/files/unama_protection_of_civilians_armed_conflict_midyear_report_2015_final_august.pdfhttps://unama.unmissions.org/sites/default/files/unama_protection_of_civilians_armed_conflict_midyear_report_2015_final_august.pdfhttps://unama.unmissions.org/sites/default/files/unama_protection_of_civilians_armed_conflict_midyear_report_2015_final_august.pdf
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Ist es nicht eindeutig, dass es keinesfalls zur Stabilität desLandes beiträgt, wenn jetzt in solch großer Zahl Binnen-flüchtlinge zurückkommen, die die Sorge haben müssen,nicht unterzukommen und nicht versorgt zu werden?
Ich habe doch darauf hingewiesen, dass es sich hier-
bei nicht um eigene Erkenntnisse handelt, sondern wir
uns auf die Angaben von internationalen Organisationen
beziehen. Das habe ich so vorgetragen. Ich stelle mich
ja nicht hier hin, Herr Kollege, und behaupte, dass die
Sicherheitslage nicht schwierig sei. Sie ist einer der we-
sentlichen Gründe, warum die Zahl der Binnenflüchtlin-
ge zugenommen hat. Aber es gibt eben mehrere Grün-
de. Das sind die Erkenntnisse, die vor allem diejenigen
Organisationen, die in Afghanistan aktiv sind und dort
Verantwortung tragen, gewonnen haben.
Eine Zusatzfrage vom Kollegen Ströbele. Bitte.
Danke, Herr Präsident. – Sie haben Herat und Kabul
als sichere Orte genannt. Heißt das, dass das die Orte
oder auch Gegenden sind, die der Bundesinnenminister
im Sinn hatte, als er bei seinem letzten Besuch in Afgha-
nistan noch einmal betont hat, dass es ganze Gegenden
und Provinzen in Afghanistan gibt, in die die Menschen,
die insbesondere nach Deutschland geflohen sind, zu-
rückkehren sollen, weil sie dort sicher sind? Bisher wur-
de es immer sehr vermieden, die Orte zu nennen.
Danke, Herr Kollege Ströbele. Ihre Frage gibt mir
Gelegenheit, klarzustellen: Ich habe bezogen auf Masar-
i-Scharif, Herat und Kabul nicht von sicheren Orten ge-
sprochen. Ich habe nur darauf hingewiesen, dass sich
dort eine größere Zahl von Binnenflüchtlingen aus wirt-
schaftlichen Gründen – weil man dort bessere Perspekti-
ven unterstellt – niedergelassen hat.
Die Frage der Sicherheitslage kann so pauschal nicht
beantwortet werden. Im Übrigen hängt es sehr stark von
der individuellen Situation des jeweiligen Afghanen oder
der jeweiligen Afghanin ab. Ich könnte Ihnen jetzt ein
paar Beispiele nennen. Bei einem Paschtunen, der nach
Kabul geht, besteht grundsätzlich überhaupt kein Ge-
fährdungspotenzial. Wenn man aber beispielweise zum
Christentum konvertiert ist und dann nach Kabul geht,
könnte durchaus ein erhöhtes Gefährdungspotenzial
vorliegen. Das würde dazu führen, dass beispielsweise
bei einem Asylantrag in Deutschland eine positive Ent-
scheidung getroffen werden könnte. Es geht also um den
jeweiligen Einzelfall. Das macht es so schwer, pauschal
zu sagen: Diese Region, diese Stadt ist für alle unsicher
bzw. sicher.
Zusatzfrage der Abgeordneten Hänsel, Fraktion Die
Linke.
Danke schön. – Herr Staatsminister, wenn ich Sie so
höre, dann muss ich davon ausgehen, dass nach Ihrer
Meinung kein Krieg in Afghanistan herrscht. Wie wür-
den Sie es denn beschreiben? Der UN-Report, der jetzt
veröffentlicht wurde, spricht ja von über 11 000 Toten im
letzten Jahr. Meine Frage lautet daher: Würden Sie sagen,
dass es keinen Grund gibt, aus diesem Land zu fliehen,
weil man nicht unbedingt direkt von der gewalttätigen
Situation betroffen ist? Dabei haben wir doch Krieg! Die
Situation können Sie doch gar nicht anders bezeichnen.
Sie können in Kabul jederzeit von einer Bombe zerfetzt
werden. Wie gehen Sie denn damit um? Sie melden Ihre
Besuche nicht einmal an, wenn Sie in die Region fah-
ren. Sie alle fahren klammheimlich, unangekündigt und
halten sich nur in Militäreinrichtungen auf. Sie bewegen
sich von Militäreinrichtung zu Militäreinrichtung, alles
hochgesichert. So finden die Besuche doch statt: hinter
meterhohen Sandsäcken.
Frau Kollegin Hänsel, ich mache mir Ihre Definition
von Krieg ausdrücklich nicht zu eigen. Aber angesichts
der Tatsache, dass die Anerkennungsquote bei Flücht-
lingen aus Afghanistan im Asylverfahren 47 Prozent be-
trägt, würde ich niemals von großer Sicherheit in ganz
Afghanistan sprechen. Es gibt durchaus nachvollzieh-
bare Gründe dafür, dass Menschen aus Afghanistan in
der Bundesrepublik Deutschland als Asylbewerber aner-
kannt werden.
Die in den Medien häufig dargestellte Bewertung der
Bedrohungslage bezieht sich aber nicht auf die gesamte
Bevölkerung, sondern insbesondere auf die Bedrohung
afghanischer Einheiten, vor allem administrativer Ein-
richtungen, der Sicherheitsorgane des Landes, westlicher
Staatsangehöriger, deutscher und verbündeter Truppen,
von Personal und vor allem auch von Einrichtungen der
Vereinten Nationen oder deren Hilfsorganen sowie von
Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen. Ich will
die Sicherheitslage überhaupt nicht relativieren; aber die
militante Bedrohung in Afghanistan ist für die Zivilbe-
völkerung niedriger und als weniger gefährlich einzustu-
fen als für die Institutionen, die ich eben genannt habe.
Man muss das sehr differenziert betrachten, Frau Hänsel.
Der Kollege Volker Beck hat das Wort.
Ich möchte das Innenministerium fragen, ob es dieAussagen des Auswärtigen Amts in dieser Fragestundeteilt, dass die Sicherheitslage innerhalb Afghanistans sehrunterschiedlich ist und deshalb zu Recht auch Flüchtlin-ge aus Afghanistan als schutzbedürftig anerkannt werdenmüssen.Omid Nouripour
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(D)
Frau Präsidentin, ich spreche heute für die Bundesre-
gierung, und ich spreche deshalb auch für das Bundesin-
nenministerium.
Da Sie das Wort schon haben, behalten Sie es auch.
Entschuldigung, ich wollte mich nicht in Ihre origi-
nären Kompetenzen einmischen. Aber wenn ich die Ge-
schäftsordnung richtig verstanden habe, dann spricht im-
mer nur ein Haus für die gesamte Bundesregierung.
Das ist völlig richtig. Deshalb habe ich auch gesagt,
dass Sie das Wort behalten.
Insofern kann ich nur wiederholen, was ich gesagt
habe. Ich gehe fest davon aus, dass das die Meinung der
gesamten Bundesregierung ist.
Ich rufe die Frage 7 der Abgeordneten Heike Hänsel
auf:
Hat die Bundeskanzlerin bei ihrem letzten Besuch in der
onellen Zeitung Cumhuriyet, Can Dündar, sowie das Vorgehen
der türkischen Behörden auf Weisung des türkischen Präsiden-
ten Recep Tayyip Erdogan gegen zahlreiche Akademiker, die
eine Petition zu einer „Vernichtungspolitik“ der Türkei in Kur-
dengebieten unterschrieben haben) angesprochen, und welche
Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus den Reaktionen
seitens der türkischen Regierung bzw. des türkischen Präsi-
denten?
Herr Staatsminister.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Frau Kolle-
gin Hänsel, ich kann Ihnen versichern, dass die Lage der
Menschenrechte regelmäßig Thema in Gesprächen der
Bundesregierung mit den türkischen Regierungsvertre-
tern ist. Ich beziehe mich dabei nicht nur auf die jüngsten
Regierungskonsultationen zwischen der türkischen und
der deutschen Regierung, sondern auf eine Fülle von
Begegnungen. Sowohl die Bundeskanzlerin als auch der
türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu haben in
der Pressekonferenz darauf hingewiesen, dass sowohl
der Konflikt mit der PKK als auch die Arbeitsbedingun-
gen von Journalisten in der Türkei Gegenstand der Ge-
spräche waren, die kürzlich hier in Berlin stattgefunden
haben.
Ich kann Ihnen auch versichern, dass die Bundesregie-
rung die innenpolitischen Entwicklungen in der Türkei
weiterhin sehr aufmerksam verfolgen wird.
Ich würde gerne nachfragen. – Die Kanzlerin war ja
in der Türkei, und just an dem Tag gab es ein großes
Massaker in mehreren Städten im Südosten der Türkei,
vor allem in Cizre. Dort hatten Zivilisten wochenlang
in einem Keller ausgeharrt. Es gab auch internationale
Hilfsappelle, dass diese Menschen Zugang zu Nahrung
und zu medizinischer Versorgung erhalten müssen. In-
folge der Attacken der türkischen Armee sind Menschen
verblutet. Die Menschen konnten nicht einmal ihre Toten
auf den Straßen bergen. Es herrschte Ausnahmezustand.
Es wurde auf alles geschossen, was sich bewegte. Just an
dem Tag, an dem die Kanzlerin dort war, wurden diese
Zivilisten in dem Keller erschossen. Das Haus wurde ge-
stürmt, und sie wurden erschossen.
Wir hatten uns mit einem Brief an die Kanzlerin ge-
wandt, weil auch Angehörige von Menschen aus meinem
Wahlkreis dort sind. Deswegen meine Frage: Hat die
Kanzlerin darauf reagiert? War das Gegenstand der Ge-
spräche? Wie stellt sich die Bundesregierung vor darauf
zu reagieren?
Frau Kollegin Hänsel, die Bundesregierung ist in stän-
digem Dialog mit der Türkei über die dramatische Situa-
tion der Kurdinnen und Kurden. Wir lassen uns dabei von
drei Botschaften leiten.
Die erste Botschaft ist: Selbstverständlich ist es das
legitime Recht der türkischen Regierung, gegen terroris-
tische Aktivitäten der PKK vorzugehen.
Zweitens. Die türkische Regierung steht vor allem in
der Pflicht, die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu wahren,
insbesondere wenn es um Zivilisten geht.
Der dritte Aspekt: Wir fordern die türkische Regie-
rung auf, wieder an den Verhandlungstisch zurückzu-
kehren. Der damalige Ministerpräsident Erdogan hat den
Friedens- und Versöhnungsprozess mit den Kurdinnen
und Kurden eingeleitet. Er wurde jetzt beendet. Wir se-
hen keine militärische Lösung; wir sehen eine Lösung im
Dialog, im Austausch.
Eine Nachfrage haben Sie noch.
Ja, danke schön. – Da würde ich gerne noch einmalnachhaken. Sie kritisieren ja zu Recht das Aushungernder Zivilbevölkerung in Städten in Syrien. Wie kann essein, dass Sie bezogen auf den Südosten der Türkei, woStädte wochenlang abgeriegelt sind – kein Strom, keinWasser, keine Gesundheitsversorgung, kein Zugang zuNahrungsmitteln –, wo der Ausnahmezustand herrscht,
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nicht massiv Kritik äußern, auch öffentlich, sondernnur sagen: „Das wurde mal angesprochen“? Wie kannes sein, dass man, obwohl dieser Zustand fortbesteht,Erdogan neue Versprechungen macht, dass man ihm dieEröffnung neuer EU-Beitrittskapitel anbietet, ihm 3 Mil-liarden Euro und AWACS-Flugzeuge usw. anbietet, dassman also zur Tagesordnung übergeht, obwohl dort Men-schen im Ausnahmezustand leben und ausgehungert wer-den? Wie können Sie das gegenüber der Öffentlichkeitüberhaupt rechtfertigen, und in welcher Weise setzen Siesich dafür ein, dass es real wieder zu einem Friedens-prozess kommt? Dieser Friedensprozess wurde ja vonErdogan beendet. Er selbst hat offiziell gesagt, für ihn seider Friedensprozess beendet.
Ihre Wahrnehmung ist falsch, Frau Abgeordnete
Hänsel. Wir gehen nicht zur Tagesordnung über; viel-
mehr werden diese drängenden Themen fortwährend an-
gesprochen. Aber wir wollen im Dialog bleiben, und wir
müssen im Dialog bleiben. Ich weiß nicht, welche Alter-
native uns als Bundesregierung zur Verfügung steht. Ich
könnte eine Fülle von kritischen, auch sehr deutlichen
öffentlichen Bekundungen benennen.
Im Übrigen ist das, was wir derzeit tun, sicherlich kei-
ne Belohnung für irgendetwas, was die Türkei tut oder
nicht tut. Insbesondere die Öffnung weiterer Kapitel,
die von der Bundesregierung unterstützt wird – in den
Kapiteln 23 und 24 geht es um Demokratie, um Rechts-
staatlichkeit, um die Unabhängigkeit der Justiz und die
Freiheit der Medien –, ist für uns eine Chance, um die
Defizite in einem strukturierten Dialog mit der Türkei of-
fen und fair zu besprechen.
Der Herr Kollege Beck hat noch eine Nachfrage.
Öffnung der Kapitel und Unterstützung der Türkei bei
der Versorgung von Flüchtlingen – geschenkt. Das muss
man in dieser Situation machen, und Gespräche müssen
auch immer sein. Es gibt aber etwas, wofür mir jedes Ver-
ständnis fehlt. Daher möchte ich von Ihnen wissen, wie
Sie den Schutz sowohl der Flüchtlinge als auch der Men-
schenrechte sicherstellen wollen, wenn wir jetzt zusam-
men mit dem türkischen Militär Flüchtlinge in türkischen
Gewässern aufbringen, um das Refoulement-Verbot zu
umgehen, und dabei kurdische Flüchtlinge zurückschi-
cken, bei denen nicht davon ausgegangen werden kann,
dass sie in der Türkei anständig behandelt werden. Die-
se Flüchtlinge riskieren, womöglich ins Gefängnis zu
kommen – vielleicht sogar im besten Fall –, wenn ihnen
nichts Schlimmeres droht.
Herr Abgeordneter Beck, geschenkt ist hier gar nichts.
– Sie müssen schon mir überlassen, wie ich auf Ihre Fra-
ge antworte. – Erstens anerkennen wir außerordentlich,
dass die Türkei 2,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen
hat. Zweitens anerkennen wir auch, dass die Türkei mit
der Europäischen Union nach zukunftsweisenden und
nachhaltigen Lösungen sucht. Das ist ein nicht ganz ein-
faches Unterfangen; das will ich Ihnen gerne zugestehen.
Die NATO-Mission dient der Unterstützung der Ak-
tivitäten gegen die Schlepperkriminalität. Ich finde, wir
dürfen hier nicht den Bock zum Gärtner machen. Es sind
die Schlepper, die mit der Not der Menschen Millionen
und Milliarden verdienen. Ihnen das Handwerk zu legen
und dadurch die Flüchtlinge zu schützen und sie sicher
zurückzubringen, ist sicherlich ein Interesse, das wir alle
teilen sollten.
– Die Türkei ist ebenso wie andere Staaten in Europa
dazu verpflichtet, gemäß internationaler Menschen-
rechtskonventionen, unter anderem der Europäischen
Menschenrechtskonvention, und auch gemäß der eigenen
nationalen Gesetzgebung mit Flüchtlingen umzugehen.
– Wir gehen davon aus, dass sich die Bundesregierung an
ihre eigene nationale Gesetzgebung und an die Europä-
ische Menschenrechtskonvention hält. Was denn sonst?
– Das sollten Sie vielleicht einmal laut sagen.
Das werden wir überprüfen.Herr Ströbele, Sie haben auch noch das Wort. – Ich er-innere daran, dass wir noch eine Aktuelle Stunde haben.
Es geht ganz schnell. – Herr Staatsminister, Sie be-haupten also, der NATO-Einsatz in der Ägäis dienedem wirksamen Schutz vor Schleppern. Geht die Bun-desregierung davon aus, dass sich auf diesen marodenSchlauchbooten, um die es die ganze Zeit geht, auchHeike Hänsel
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nur ein einziger Schlepper aufhalten könnte – dass siemöglicherweise lebensmüde sind, weil sie ja wissen,wie gefährlich das ist –, oder ist es nicht so, dass die-ser NATO-Einsatz in Wirklichkeit allein dazu dient, dieFlüchtlinge in die Türkei zurückbringen zu lassen oder,wenn man sie aus dem Wasser fischt, selber in die Türkeizurückzuholen, also zu verhindern, dass Flüchtlinge nachEuropa, insbesondere nach Griechenland, kommen unddass deshalb das Argument „Schlepper“ nur ein Vorwandist?
Ich habe schon darauf hingewiesen, dass die wesent-
liche Gefahr für die Flüchtlinge in der Tat von den ver-
antwortungslosen Machenschaften der Schlepperbanden
ausgeht, und dafür wird auch noch Geld bezahlt. Ich habe
ebenso deutlich gemacht, wie der unterstützende Auftrag
der NATO aussieht. Daher möchte ich mich jetzt nicht
wiederholen.
Herr Nouripour.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Staatsmi-
nister, damit ich das verstehe, was die Bundeskanzlerin
vorhin gesagt hat: Habe ich es richtig verstanden, dass,
wenn die Leute bei diesem NATO-Einsatz in griechi-
schen Gewässern aufgegriffen werden, sie in die Türkei
gebracht werden?
Ja, grundsätzlich werden sie in die Türkei zurückge-
bracht. Das ist richtig.
Im Übrigen sind die NATO-Schiffe an das internati-
onale Recht genauso gebunden wie alle anderen Schiffe
auch. Wenn Menschen in Seenot sind, sind die Besatzun-
gen verpflichtet, diese Menschen zu retten und sie in Si-
cherheit zu bringen. Die Flüchtlinge bzw. die Menschen,
die in Seenot sind, können aber nicht darüber entschei-
den, wo sie gesichert untergebracht bzw. wohin sie ge-
bracht werden.
Die Kollegin Keul hat das Wort zu einer Nachfrage.
Vielen Dank. – Ich bitte um Entschuldigung, dass jetzt
noch mehr Nachfragen kommen, aber inzwischen bin
auch ich relativ verwirrt. Denn wir hatten beim Marine-
einsatz auf dem Mittelmeer vor den libyschen Küstenge-
wässern gelernt, dass die Flüchtlinge nicht nach Libyen
gebracht werden dürfen, weil das gegen ein international
geltendes Refoulement-Verbot verstoßen würde.
Jetzt verstehe ich nicht ganz: Wieso gilt dieses Verbot
vor Libyen, aber vor der Türkei irgendwie nicht? Den
Unterschied müssten Sie mir erklären.
Wir gehen bei der Rückübernahme der Flüchtlinge
durch die Türkei davon aus, dass sich die Türkei an das
internationale Recht, an die Europäische Menschen-
rechtskonvention und an das eigene nationale Recht hält.
Damit schließe ich diesen Geschäftsbereich.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums des Innern.
Ich rufe Frage 8 der Abgeordneten Heike Hänsel auf:
Inwieweit ist die Äußerung des Bundesinnenministers
Dr. Thomas de Maizière: „Aber die Türkei, wenn wir von ihr
etwas wollen, wie, dass sie die illegale Migration unterbin-
det, dann muss man auch Verständnis dafür haben, dass es
dann im Wege des Interessenausgleichs auch Gegenleistun-
der Demokratischen Partei der Völker an die Bundes-
kanzlerin und die EU vor einem „Tauschhandel“ mit der Tür-
kei so zu verstehen, dass die Bundesregierung mit Rücksicht
auf die erhoffte Mitarbeit Ankaras in der Flüchtlingsabwehr zu
schweren Menschenrechtsverletzungen und illegaler Willkür
in der Türkei schweigt , und ist
die Bundesregierung Berichten nachgegangen, dass die Türkei
systematisch Bürgerkriegsflüchtlinge zurück nach Syrien ab-
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
D
Frau Präsidentin! Frau Hänsel! Meine sehr verehr-
ten Damen und Herren! Die Menschenrechtslage in der
Türkei und insbesondere im Südosten des Landes ist
ständiger Gegenstand von Beratungen der Bundesregie-
rung mit der türkischen Regierung, etwa auch bei den
deutsch-türkischen Regierungskonsultationen am 22. Ja-
nuar 2016. Insofern können Sie ganz unbesorgt sein, dass
das Thema Menschenrechte im bilateralen Kontakt wie
auch im europäischen Kontakt eine große Rolle spielt.
Die Bundesregierung unterstützt im Übrigen den
EU-Türkei-Aktionsplan von November 2015. Darin
bekunden die Europäische Union und die Türkei unter
anderem die Absicht, syrische Flüchtlinge in der Türkei
besser zu unterstützen und bei der Eindämmung irregulä-
rer Migration besser kooperieren zu wollen.
Im Gegenzug bekundet die Türkei ihre Absicht, unter
anderem die Kapazitäten ihrer Küstenwache zu erhöhen,
die Verfahren bei Rückübernahme von nicht schutzbe-
dürftigen Migranten zu beschleunigen und Maßnahmen
zu ergreifen, um die Teilhabe von Flüchtlingen auch am
Wirtschaftsleben in der Türkei zu erhöhen.
Vielen Dank.
Frau Hänsel.HansChristian Ströbelehttp://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/schmusekurs-mit-erdogan-100.htmlhttp://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/schmusekurs-mit-erdogan-100.htmlhttp://www.tagesschau.de/ausland/tuerkei-abschiebung-101.htmlhttp://www.tagesschau.de/ausland/tuerkei-abschiebung-101.html
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Februar 2016 15163
(C)
(D)
Danke schön. – Da habe ich eine Rückfrage. Es
ging vor allem um die Äußerung von Innenminister de
Maizière, der sagte: Wenn wir von der Türkei wollen,
dass sie die illegale Migration unterbindet, muss man
auch Verständnis dafür haben, dass es im Wege des Inter-
essenausgleichs auch Gegenleistungen gibt. – Bei Moni-
tor wurde er zitiert.
Deswegen meine Frage: Das hört sich nach einem
ganz üblen Tauschhandel an. Wir hatten zuvor die Dis-
kussion. Das zeigt doch, dass es darum geht: Die Türkei
soll die Flüchtlinge für uns aufhalten, bei sich halten,
oder es wird sogar billigend in Kauf genommen, dass sie
nach Syrien geschickt werden. Hierzu gibt es auch Be-
richte in der Tagesschau, dass die Türkei gegen internati-
onales Recht Flüchtlinge wieder in das Bürgerkriegsland
Syrien abschiebt, damit wir hier diese Flüchtlinge nicht
aufnehmen müssen. Wie können Sie das vereinbaren,
dass Sie es in Kauf nehmen, dass die Rechte von Flücht-
lingen derart verletzt werden?
Herr Staatssekretär.
D
Danke schön, Frau Präsidentin. – Zunächst einmal,
Frau Abgeordnete: Wir nehmen es in keiner Weise in
Kauf, dass Rechte von Flüchtlingen verletzt werden.
Zum Zweiten weiß ich nicht, was Sie hören, wenn Sie
Mitgliedern der Bundesregierung zuhören. Ich kann nur
sagen: Die Gegenleistung, die hier in Rede steht, sind
natürlich die 3 Milliarden Euro, die die Europäische Uni-
on zur Verfügung stellt, um die weit über 2 Millionen
Flüchtlinge, die zum Teil seit Jahren in der Türkei sind,
besser zu behandeln und stärker wirtschaftlich zu inte-
grieren.
Ich finde es auch ganz besonders wichtig – das darf
ich herausgreifen –, dass möglichst alle syrischen Kin-
der, die dort leben, auch zur Schule gehen können, was
zurzeit nicht der Fall ist. Man kann jetzt sagen, es sei
grundsätzlich ohnehin die Aufgabe eines aufnehmenden
Staates, das sicherzustellen, aber angesichts der großen
Zahl haben wir Verständnis dafür, dass die Türken hier
um Hilfe und Unterstützung bitten.
Wenn Sie das als Tauschhandel ansehen: Wenn das
den syrischen Flüchtlingen dort zugutekommt, dann ist
das auch gerne ein Tauschhandel. Jedenfalls soll mit die-
sen Mitteln der Europäischen Union, die ich als Gegen-
leistung bezeichnen würde, dafür gesorgt werden, dass
sich die Menschen, gerade die syrischen Flüchtlinge, dort
besser aufhalten können.
Frau Hänsel.
Diese Hilfe erreicht vielleicht einen Teil der Flücht-
linge, aber für die anderen Flüchtlinge, die zum Beispiel
an der Grenze zu Griechenland von den NATO-Schiffen
aufgegriffen – das haben wir ja gerade gehört – und aus-
nahmslos auf die türkische Seite zurückgeschickt wer-
den, bedeutet das eine massive Verletzung ihrer Rechte.
Das gilt besonders für kurdische Staatsbürger der Tür-
kei, die jetzt vor Erdogan fliehen. Sie werden von den
NATO-Schiffen aufgegriffen und wieder in das Land ih-
res Peinigers zurückgebracht.
Das, was hier passiert, ist eine Verletzung des interna-
tionalen Rechts, und das meine ich mit „Tauschhandel“.
Man nimmt es in Kauf, dass hier die Flüchtlingsrechte
massiv verletzt werden und dass die Türkei – das ist be-
kannt; es gibt entsprechende Berichte – syrische Flücht-
linge inhaftiert und nach Syrien abschiebt.
Herr Staatssekretär.
D
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Zunächst einmal
teile ich Ihre Rechtsauffassung in keiner Weise, und die
Türkei ist auch kein Land von Peinigern, sondern ein
Land, in dem über 2 Millionen syrische Flüchtlinge Auf-
nahme finden, allerdings zu Bedingungen, die dringend
verbesserungsbedürftig sind.
Das, was wir hier als Gegenleistung oder Leistung der
Europäischen Union zugesagt haben, wird natürlich auch
den Flüchtlingen zugutekommen, die einen vergeblichen
Weiterfluchtversuch nach Europa unternommen haben.
Ich rufe die Frage 9 des Abgeordneten Omid Nouripour
auf:
Inwiefern ist nach Ansicht der Bundesregierung die von
Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière geplante Pra-
nach der sich die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert
Herr Staatssekretär.
D
Frau Präsidentin! Lieber Kollege Nouripour! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Die Frage ist ja imKontext der Reise meines Ministers nach Afghanistangestellt.
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/fluechtlinge-rueckfuehrung-nach-afghanistan-kaum-moeglich-a-1062500.htmlhttp://www.spiegel.de/politik/deutschland/fluechtlinge-rueckfuehrung-nach-afghanistan-kaum-moeglich-a-1062500.htmlhttp://www.spiegel.de/politik/deutschland/fluechtlinge-rueckfuehrung-nach-afghanistan-kaum-moeglich-a-1062500.html
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Februar 201615164
(C)
(D)
– „Unser aller Minister!“ Umso besser! Es ist wert, fürdas Protokoll einmal festzuhalten, dass Herr Nouripourbestätigt: unser aller Minister. Das ist eigentlich nochschöner formuliert.Also: Die Frage ist im Kontext der Reise unseres –unser aller – Bundesministers Thomas de Maizière nachAfghanistan vom 31. Januar 2016 bis 2. Februar 2016gestellt, und es geht hier um die Vereinbarung eines ge-meinsamen Vorgehens zur Rückführung abgelehnter af-ghanischer Asylbewerber.Alle Gesprächspartner erkannten die VerpflichtungAfghanistans zur Rückübernahme seiner Staatsange-hörigen nach entsprechender Entscheidung ihres Statusdurch deutsche Behörden dem Grunde nach an. Überdieses Ergebnis hat Herr Bundesminister Dr. de Maizièreseine Amtskollegen in den Ländern mit Schreiben vom5. Februar 2016 auch entsprechend informiert.Mit Beschluss vom Dezember 2015 stellte die Innen-ministerkonferenz bereits einvernehmlich fest, dass dieSicherheitslage Afghanistans eine Rückkehr ausreise-pflichtiger afghanischer Staatsangehöriger grundsätzlicherlaubt. Dabei kommt es immer auf den Einzelfall undauf die einzelne Konstellation an. Die Sicherheitslage inAfghanistan bleibt natürlich weiterhin volatil. Sie weiststarke regionale Unterschiede auf und lässt sich für dieZivilbevölkerung nicht pauschal bewerten, sondernhängt von den Regionen und den Umständen des Ein-zelfalles ab.Vor allem in größeren Städten, wie Kabul, Herat undMasar-i-Scharif – das haben wir gerade auch vom Staats-minister aus dem Auswärtigen Amt gehört –, gibt es trotzAnschlägen ein vergleichsweise normales Alltagsleben,weshalb es auch die meisten Binnenmigranten dorthinzieht. Die afghanische Regierung hat ihrerseits öffentlichbeispielhaft die Provinzen Bamiyan, Pandschschir undKabul als sicher eingeschätzt.Im Asylverfahren erfolgt immer eine Einzelfallprü-fung, bei der die konkrete Situation berücksichtigt wird.Daneben erfolgt auch eine individuelle Prüfung derRückführung. Das ist also eine weitere Einzelfallprü-fung. Die Bundesregierung ist sich, wie Sie auch aus denAntworten des Herrn Staatsministers und mir ersehen, inihrer Bewertung hier natürlich einig.
Herr Nouripour.
Ich möchte gerne den armen Staatsminister in dessen
Abwesenheit in Schutz nehmen, weil er sich auch auf
Nachfrage meines Kollegen Ströbele dagegen verwahrt
hat, er hätte diese Städte als sicher bezeichnet. Ich erin-
nere mich sehr gut daran, wie sich im Verteidigungsaus-
schuss beim Thema Kunduz alle einig waren.
Die Frage, die der Staatsminister vorhin nicht beant-
wortet hat, die aber sehr viel mit Ihrer Antwort zu tun
hat – er hat davon gesprochen, dass sehr viele Menschen
zum Beispiel nach Pakistan zurückgehen und nicht mehr
in ihre Häuser können, weil es sie nicht mehr gibt oder
sie anders verwendet werden –, ist, inwieweit denn nach
Ihrem Verständnis diese Welle von Rückkehrern einen
Beitrag zur Instabilität in Afghanistan leistet. Das war in
den letzten Jahren stets so.
D
Zunächst einmal habe ich im Zusammenhang mit
diesen Städten ausdrücklich das Wort „sicher“ nicht
genannt. Ich habe nur beschrieben, dass viele Afgha-
nen in diese Städte ziehen, die sich offenbar nach ihrer
Selbsteinschätzung dort besser aufgehoben fühlen als in
anderen Teilen des Landes. Aus deren Sicht ist es dort si-
cherlich sicherer als in manch anderen Teilen des Landes.
Insgesamt müssen wir auch sehen, dass es innerhalb ein
und derselben Provinz Unterschiede in der Sicherheits-
lage zwischen der Provinzhauptstadt und ländlicheren
Gebieten gibt. Ich habe das Wort „sicher“ im Zusammen-
hang mit einer Äußerung der afghanischen Regierung in
Bezug auf drei Provinzen benutzt, die ich eben genannt
habe.
Ich gehe fest davon aus, dass die Zahl der Rückkeh-
rer aus Deutschland – sowohl freiwillige Rückkehrer als
auch Rückkehrer durch Abschiebungen, wenn sie denn
nötig sind – in der nächsten Zeit nicht in einer Größen-
ordnung sein wird, die die Stabilität des Landes in ir-
gendeiner Weise gefährden kann.
Herr Nouripour.
Ich möchte gerne wissen, welche Erkenntnisse die
Bundesregierung über das Hauptthema der Gespräche
und der Rede von Präsident Ghani am letzten Wochen-
ende in München hat, nämlich über die Aktivitäten und
über die Ausbreitung von ISIS in Afghanistan, was be-
kanntermaßen etwas mit Sicherheit zu tun hat.
D
Über die konkrete Rede oder die Gespräche, die imZweifelsfalle am Rande oder auf der Münchner Sicher-heitskonferenz geführt worden sind und die gewöhnlichnicht öffentlich sind, habe ich jetzt keine präsenten Er-kenntnisse.
– Gut, ISIS in Afghanistan ist sicherlich ein wichtigesThema. Wenn es eine öffentliche Rede war, brauchen Sienicht Erkenntnisse von mir. Dann können Sie die öffent-liche Rede ja nachlesen.
Parl. Staatssekretär Dr. Günter Krings
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Februar 2016 15165
(C)
(D)
– Ich habe die Frage vielleicht nicht verstanden. Viel-leicht versuchen Sie es noch einmal. – Frau Präsidentin,ich maße mir ständig das Wort an. Ich bitte vielmals umEntschuldigung.
Herr Nouripour, Sie können die Frage präzise wieder-
holen. Das wäre hilfreich.
Herzlichen Dank für Ihre Geduld, Toleranz und Nach-
sicht, Frau Präsidentin. – Herr Staatssekretär, das Thema
ISIS spielte eine sehr zentrale und prominente Rolle in al-
len Ausführungen des Präsidenten Ghani und nach seiner
eigenen Aussage auch in seinen bilateralen Gesprächen.
Meine Frage lautet: Was weiß die Bundesregierung da-
rüber, und wie schätzt die Bundesregierung die Ausbrei-
tung und Expansion von ISIS, was für die Sicherheitsla-
ge vor Ort ein großes Thema ist, in Afghanistan ein?
D
Ich kann Ihnen dazu ad hoc keine vernünftige und se-
riöse Einschätzung geben. Das ist sicherlich Gegenstand
der Beobachtungen im Auswärtigen Amt. Ich habe – ich
glaube, das ist von der Sache her näher an der Frage, die
Sie gestellt haben – von den Gesprächen des Bundes-
innenministers berichtet, speziell zu der Frage: Erlaubt
die Sicherheitslage in Afghanistan insgesamt eine Rück-
führung von Menschen aus Afghanistan? Dazu gab es
konstruktive Gespräche. Insofern ist eine Rückführung
grundsätzlich möglich. Das ist die Position der Bundes-
regierung.
Es ist auch wichtig, ein klares Signal zu senden – das
wir bei dieser Reise mit den afghanischen Stellen ge-
meinsam gegeben haben –, dass auch die afghanische
Regierung ihre Bevölkerung auffordert, nicht auszurei-
sen, nicht nach Deutschland oder in andere Länder Euro-
pas aufzubrechen, auch in Kenntnis der Sicherheitslage,
die im Land sehr unterschiedlich ist und die von Faktoren
beeinflusst wird, die Sie gerade genannt haben.
Frage 10 der Abgeordneten Sevim Dağdelen wird
schriftlich beantwortet.
D
Genau. Die hätte ich jetzt auch nicht beantworten kön-
nen.
Damit kommen wir zur Frage 11 des Abgeordneten
Volker Beck:
Ist die Bundesregierung zurückblickend der Meinung,
dass die verkündete Grenzöffnung für Flüchtlinge durch die
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel vom 4. September 2015
rechtlich gesehen Unrecht war, und warum sieht die Bundes-
regierung darin keine Verletzung von Artikel 16 a des Grund-
gesetzes?
Herr Staatssekretär.
D
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Dazu liegen mir in der
Tat die Unterlagen vor. – Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Lieber Herr Kollege Beck! Die Bundesregie-
rung hält an ihrer Auffassung fest, dass das parlamentari-
sche Fragerecht und Informationsrecht keinen Anspruch
auf die Abgabe rechtlicher Bewertungen vermittelt.
Ich darf Ihnen allerdings dazu noch sagen, dass die
Bundesregierung natürlich keine rechtswidrigen Ent-
scheidungen trifft und schon gar nicht in Bezug auf den
Umgang mit Flüchtlingen, die an unsere Grenzen gelan-
gen. Auch hat es hier, wie Sie vielleicht annehmen, keine
Änderung einer rechtlichen Bewertung gegeben. Soweit
die Fragestellung impliziert, dass am 4. September 2015
eine, wie Sie es nennen, „Grenzöffnung für Flüchtlinge
durch die Bundeskanzlerin“ verkündet worden ist, muss
ich Ihnen ganz klar sagen: Dem ist nicht so gewesen.
Herr Kollege Beck.
Das erstaunt mich jetzt. Denn vorhin in der Debatte
über die Regierungserklärung war diese Entscheidung
zwischen Herrn Oppermann, der Kanzlerin und Frau
Göring-Eckardt ein Thema. Heißt das, die Bundesregie-
rung teilt nicht die Auffassung des Fraktionsvorsitzenden
Thomas Oppermann, dass es sich um eine rechtmäßige
Entscheidung gehandelt hat, die sowohl vom Asylgesetz
gedeckt ist – § 18 ist es, glaube ich –, was den Grenzüber-
tritt betrifft, als auch von dem Selbsteintrittsrecht nach
der Dublin-III-Verordnung?
Herr Staatssekretär.
D
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich weiß nicht, ob
Sie mir gerade nicht zugehört haben oder ob ich erkäl-
tungsbedingt etwas undeutlich spreche. Ich habe aus-
drücklich gesagt, dass die Bundesregierung keine rechts-
widrigen Entscheidungen trifft und die Entscheidung
natürlich rechtmäßig war auf der Grundlage deutschen
und europäischen Rechts und dass sich an der rechtlichen
Bewertung, dass es sich um eine rechtmäßige Entschei-
dung handelt, nichts geändert hat.
Könnten Sie dann dem Hohen Hause und der deut-schen Öffentlichkeit, weil es offensichtlich einen entspre-chenden Bedarf gibt, noch einmal die Rechtsgrundlagenfür die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung erläutern?Ich glaube, das ist wichtig, weil es sowohl im HohenHause Leute gibt, die sie anzweifeln, als auch draußenin der Gesellschaft. Ich finde es gerade in diesen Zeiten,wo Hasardeure auf unseren Straßen Menschen verhetzen,Parl. Staatssekretär Dr. Günter Krings
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(D)
gut, wenn wir erläutern, warum die Entscheidungen derBundesregierung rechtmäßig sind. Ich bin da ganz beiIhnen; ich möchte es bloß noch einmal aus berufeneremMunde als aus meinem hier hören.D
In Ihrer Frage hatten Sie konkret danach gefragt, ob es
sich um einen Verstoß gegen Artikel 16 a des Grundge-
setzes handelt.
– Ich will das in den Kontext stellen. – Diese Frage war,
wenn ich das, mit Verlaub, so sagen darf, ein bisschen
neben der Sache, weil ein Grundrecht immer nur einen
Mindeststandard vorgibt und natürlich sowohl die Exe-
kutive als auch die Legislative nicht daran gehindert sind,
mehr an Rechten und an Schutz zu gewähren, als das
Grundrecht vorsieht. Artikel 16 a – das stimmt – gewährt
diesen Schutz nicht.
Es gibt zunächst einmal das Asylgesetz, das hierbei
eine Rolle spielt, und das ist mit dem europäischen Recht
zusammen zu lesen und wird zum Teil auch dadurch
überlagert. Das europäische Recht in Gestalt der Dub-
lin-Verordnung zwingt nicht dazu, von Zurückweisungen
abzusehen, ermöglicht es aber, von Zurückweisungen ab-
zusehen.
Vielen Dank. – Dann komme ich zur Frage 12, eben-
falls des Kollegen Beck:
Inwiefern würde sich nach Auffassung der Bundesregie-
rung die Bestimmung von Marokko zum sicheren Herkunfts-
staat auf das Territorium der Westsahara bzw. die Volksgruppe
der Sahrauis erstrecken, und warum erwähnt die Begründung
des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur Einstufung der
Demokratischen Volksrepublik Algerien, des Königreichs Ma-
rokko und der Tunesischen Republik als sichere Herkunfts-
staaten nicht, dass sich „sahrauische politische Aktivisten,
Protestierende, Menschenrechtsverteidiger und Medienschaf-
fende ... mit einer Reihe von Einschränkungen in ihren Rech-
ten ... konfrontiert und ... häufig festgenommen, gefol-
tert oder anderweitig misshandelt und strafrechtlich verfolgt
“ (Stellungnahme von Amnesty International vom
2. Februar 2016 zum Gesetzentwurf, Seite 6)?
D
Frau Präsidentin, darf ich antworten?
Aber sicher.
D
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kol-
lege Beck! Vor der Einstufung des Königreichs Marokko
als sicherer Herkunftsstaat hat sich die Bundesregierung
anhand von Rechtslage, Rechtsanwendung und allgemei-
nen politischen Verhältnissen ein Gesamturteil über die
für eine Verfolgung bedeutsamen Verhältnisse in dem
Staat gebildet.
Bei der Einstufung als sicherer Herkunftsstaat wird
zwar zunächst kraft Gesetzes vermutet, dass ein Antrag-
steller aus einem solchen Staat nicht verfolgt wird. Die-
se Vermutung kann jedoch durch den Antragsteller im
Rahmen seines Asylverfahrens widerlegt werden. Jeder
Antrag wird nach wie vor individuell geprüft. In jedem
Asylverfahren wird weiterhin eine persönliche Anhörung
durchgeführt, in der der Antragsteller seine Situation im
Herkunftsstaat vortragen und gegebenenfalls seinen An-
spruch auf einen Schutzstatus in Deutschland belegen
kann, natürlich auch mit den Argumenten, die Sie in Ihrer
Frage ansprechen.
Herr Kollege Beck.
Ich möchte Sie bitten, Herr Krings, auch den zwei-
ten Frageteil meiner schriftlich eingereichten Frage zu
beantworten, nämlich warum die Bundesregierung den
Bericht von Amnesty International vom 2. Februar 2016
und die darin geschilderten Menschenrechtsverletzungen
an sahrauischen Aktivisten und die Unterdrückung des
sahrauischen Volkes in der besetzten Westsahara mit kei-
ner Silbe erwähnt.
D
Herr Abgeordneter, der Bericht ist sozusagen das, was
zusammenfassend aus allen Sachvorträgen und Sach-
erkenntnissen herauszudestillieren ist. Das sind auch
Zulieferungen des Auswärtigen Amts. Ich gehe selbst-
verständlich davon aus, dass auch der Bericht, den Sie
ansprechen, beim Auswärtigen Amt in eine Gesamtbe-
wertung mit eingeflossen ist
und im Ergebnis allerdings zu keiner anderen Entschei-
dung geführt hat als diejenige, die wir Ihnen vorschlagen.
Bitte, Herr Beck.
Gestatten Sie zwei Sätze vorweg. Ich finde es erstaun-lich, dass ein seit 1975 von Marokko widerrechtlich be-setztes und annektiertes Gebiet, wo die UN jedes Jahr ihrMandat verlängern, um den dort geltenden Waffenstill-stand zu überwachen, in keiner Weise bei der Einschät-zung über einen sicheren Herkunftsstaat Einfluss nimmt.Sie können das am Ende verwerfen. Aber es ist keineNickeligkeit, wenn praktisch 50 Prozent des betroffenenTerritoriums Bürgerkriegsgebiet sind und die UN dortVolker Beck
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(D)
Truppen vorhalten, um ein Referendum durchzuführen;das hat bislang nicht stattgefunden.Ich möchte Sie fragen, ob das, was ich in der marok-kanischen Ausgabe von Libération gelesen habe, beab-sichtigt ist:L’annonce du Maroc comme un pays sûr par l’Al-lemagne est presque une reconnaissance de la sou-veraineté du Royaume sur son Sahara. C’est un gaindiplomatique énorme. Ceci d’autant plus que lesopérations d’expulsion des migrants irréguliers ma-rocains vont être accompagnées par des investisse-ments allemands au Maroc dont l’augmentation estdéjà fort perceptible.Die marokkanische Regierung bewertet also die Aner-kennung als sicheren Herkunftsstaat als Anerkennung derSouveränität Marokkos über das Gebiet der Westsahara.Ist das von der Bundesregierung beabsichtigt, und wennes nicht beabsichtigt ist, wie will sie dieser Wahrneh-mung in der Völkergemeinschaft entgegentreten?
Herr Staatssekretär.
D
Frau Präsidentin, ich würde gerne in deutscher Spra-
che antworten, wenn es erlaubt ist.
Das sollten Sie auch. Sonst hätte ich mir auch noch
einen kleinen Hinweis gestattet.
D
Ich darf damit beginnen, dem Kollegen Beck zu sei-
nem doch leidlich guten Französisch – jedenfalls viel
besser als meines – zu gratulieren. Ich bedanke mich,
dass er das Zitat übersetzt hat. Mein Französisch hätte
wahrscheinlich nicht ausgereicht.
Sie gehen davon aus, die Hälfte des Territoriums sei
Bürgerkriegsgebiet. Diese beiden Annahmen kann ich so
nicht stehen lassen. Zuerst können Sie Wüstenquadratki-
lometer nicht mit dichtbesiedeltem Gebiet vergleichen.
Des Weiteren wollen Sie ein bestimmtes Bild erzeugen,
das ich gleich leider zerstören muss, Herr Kollege Beck.
Im Übrigen geht es dort dank des UN-Einsatzes weitest-
gehend – weitestgehend! – friedlich zu.
Ich finde es außerdem sehr mutig, dass Sie die völker-
rechtliche Lage mit einem Halbsatz aus Ihrer Sicht offen-
bar perfekt bewertet haben. Die UN, die sich seit Jahr-
zehnten mit diesem Konflikt befassen, gehen an dieser
Stelle von einer sehr viel komplexeren Lage aus.
Falls Sie die Sorge haben, dass mit der Einbeziehung
oder Auslassung eines Halbsatzes oder Satzes bzw. der
Erwähnung eines Berichts irgendeine völkerrechtliche
Stellungnahme der Bundesregierung verbunden ist – ich
finde es gut, dass Sie diese Frage so gestellt haben –, kann
ich Ihnen sagen, dass es sich hier um keinerlei Positio-
nierung der Bundesregierung in einer völkerrechtlichen
Frage handelt; das möchte ich an dieser Stelle klarstellen.
Man könnte sogar darüber nachdenken, ob nicht die Ein-
beziehung dieses Themas, verbunden mit einer bestimm-
ten Entscheidung, Ihr Argument eher erhärtet. Ich kann
Sie jedenfalls beruhigen: Die Bundesregierung verbindet
hier mit dem Vorschlag, Marokko als sicheres Herkunfts-
land einzustufen, keine völkerrechtliche Stellungnahme.
Herr Ströbele hat das Wort. Ich bitte den Kollegen,
sich der deutschen Sprache zu bedienen, weil das die Ge-
schäftssprache im Deutschen Bundestag ist.
– Man kann auch mit Quellenhinweisen arbeiten, Herr
Kollege Beck.
Bei mir besteht die Gefahr nicht, dass ich Französisch
spreche, weil ich auf der Schule darin ganz schlecht
war. – Also auf Deutsch.
D
Gut.
H
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Marokko ignoriert seit vielen Jah-ren eine eindeutige UNO-Resolution in Bezug auf dieSahrauis, ohne dass die Bundesregierung irgendetwasdaran geändert hat. Meine Frage geht vielmehr dahin:Hat die Bundesregierung bei der Zuordnung der Län-der Marokko, Tunesien und Algerien zu den sicherenHerkunftsländern beispielsweise die Situation der Ho-mosexuellen in diesen Ländern berücksichtigt und zurKenntnis genommen, dass Menschen dort nur wegen ih-Volker Beck
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rer Homosexualität verfolgt, ins Gefängnis gesperrt undgefoltert werden?
Herr Staatssekretär.
D
Danke schön. – Zunächst zu Ihrer Vorbemerkung: Ich
habe nicht in Abrede gestellt, dass es dort Verletzungen
von UN-Resolutionen geben mag. Ich habe nur deutlich
gemacht, dass mit dem Vorschlag, Marokko als siche-
res Herkunftsland zu bestimmen, keine völkerrechtliche
Aussage verbunden ist.
Für alle diese drei Staaten hat natürlich die Menschen-
rechtslage insgesamt eine Rolle gespielt: die Rechtslage
im Abstrakten – das, was als Gesetzeslage im Gesetz-
buch verzeichnet ist –, aber auch die Rechtspraxis, die
Rechtsanwendung. Der von Ihnen genannte Punkt ist
dabei berücksichtigt worden. Insofern ist es im Einzel-
fall immer noch möglich und durch das Verfahren auch
sichergestellt, dass die Vermutung, die mit dem sicheren
Herkunftsstaat einhergeht, in solchen Konstellationen
auch widerlegt werden kann.
Die Kollegin Keul erhält das Wort zu einer Frage.
Ich habe mich bei der Lektüre der Gesetzesbegrün-
dung – Marokko als sicherer Drittstaat – auch ein biss-
chen gewundert, weil auffällt, dass die Begriffe wech-
seln. Es heißt, im Hoheitsgebiet Marokkos gebe es keine
Menschenrechtsverletzungen. Nun frage ich mich: Was
meint die Bundesregierung mit „Hoheitsgebiet Marok-
ko“?
Was die besetzten Gebiete betrifft, so gewährt Marok-
ko keinerlei Zugang für internationale Menschenrechts-
beobachter. Wir Parlamentarier bekommen dort keine
Einreiseerlaubnis, und auch der UN-Sonderbeauftragte
Christopher Cross bekommt schon seit Jahren, obwohl
die UNO darauf besteht, keine Einreisegenehmigung für
die besetzten Gebiete. Zivilisten, die dort 2010 ein Pro-
testcamp organisiert hatten, sind anschließend vor einem
Militärgericht zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt
worden. All dies sind starke Indizien dafür, dass die Men-
schenrechtslage zumindest in den besetzten Gebieten
sehr prekär ist.
Jetzt frage ich noch einmal: Warum spricht die Bun-
desregierung in der Gesetzesbegründung immer vom
„Hoheitsgebiet Marokko“? Meint sie auch die besetzten
Gebiete, oder meint sie nur das Kernland Marokko?
Herr Staatssekretär.
D
Vielen Dank. – Wenn Menschenrechtsverletzungen
begangen werden oder Menschenrechtsgruppen der Zu-
tritt verweigert wird, bin ich mit Ihnen in der Kritik und
im Protest dagegen einig. Meines Wissens erstreckt sich
der Begriff „Hoheitsgebiet“ gerade nicht auf diese Ge-
biete – dann würden wir ja eine Hoheit über die Gebiete
implizit anerkennen –, sondern damit ist das unstrittige
marokkanische Territorium gemeint. Das ist jedenfalls
mein Kenntnisstand.
Der Kollege Nouripour hat noch eine Frage.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Staatsse-
kretär, in der Begründung des Gesetzentwurfs steht:
Die Todesstrafe wird verhängt ... Missionierungen
sind verboten, die Konvertierung ei-
nes Muslims ist unter Strafe gestellt. ... Die in der
Verfassung garantierte Unabhängigkeit von Ge-
richten und Richtern ist in der Praxis nicht immer
gewährleistet. ... Oppositionelle Gruppierungen
und Nichtregierungsorganisationen machen u. a.
Einschränkungen bei Versammlungs- und Vereini-
gungsfreiheit geltend.
– Und so weiter und so fort. Das ist Algerien.
Meine Frage lautet: Hat die Bundesregierung, nach-
dem sie das Label „sicherer Herkunftsstaat“ vergeben
hat, das in diesen Ländern so verstanden wird, wie der
Kollege Beck es gerade beschrieben hat – ich bin au-
ßenpolitischer Sprecher meiner Fraktion, rede viel mit
Botschaftern und kann das nur bestätigen –, ernsthaft
weiterhin vor, diesen Ländern gegenüber Menschen-
rechtspolitik geltend zu machen, und wenn ja, wie? Wie
wollen Sie mit den Ländern über Demonstrationsverbote
willkürlicher Art, Einschränkungen der Pressefreiheit,
die Situation in den Gefängnissen und die Nichtunabhän-
gigkeit der Justiz sprechen, wenn Sie ihnen vorher erklärt
haben, dass es sichere Herkunftsstaaten sind?
Herr Staatssekretär.
D
„Sicherer Herkunftsstaat“ ist ein Begriff des nationa-len Rechts, des nationalen Asylrechts. Es ist kein völker-rechtlicher Begriff und ist auch keiner, mit dem wir aufder internationalen Bühne operieren. Dass die Gefahrbesteht, dass die Länder diesen Begriff so missbrau-chen, das will ich Ihnen ausdrücklich zugestehen. Inso-fern werden wir mit unserer Menschenrechtspolitik auchdeutlich machen, dass das in keiner Weise eine Akzep-tanz für Menschenrechtsverletzungen ist.Es ist ein Signal an die Menschen, dass in aller Re-gel – mit ganz wenigen Ausnahmen, das können wir auchin den entsprechenden Anerkennungs- und SchutzquotenHansChristian Ströbele
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Februar 2016 15169
(C)
(D)
nachlesen – der Weg nach Deutschland, nach Europanicht der richtige ist. Dieses Signal wollen wir damit ge-ben und im Verwaltungsverfahren auch die tatsächlichenZahlen abbilden. Es ist kein Begriff des Völkerrechtsoder der internationalen Politik. Es hindert uns auchnicht daran, dort weiterhin unsere Menschenrechtsargu-mente vorzutragen.
Vielen Dank. – Frau Keul, ich will Sie nur darauf hin-
weisen: Nach unserer Geschäftsordnung haben diejeni-
gen Kolleginnen und Kollegen, die die Frage eingereicht
haben, die Möglichkeit, zwei Nachfragen zu stellen.
Alle anderen Kolleginnen und Kollegen können nur eine
Nachfrage stellen. Ich bitte um Verständnis dafür.
Die Fragen 13 und 14 der Abgeordneten Corinna
Rüffer, Frage 15 der Abgeordneten Jelpke, die Fragen 16
und 17 des Abgeordneten Dr. André Hahn und Frage 18
der Abgeordneten Marieluise Beck werden
schriftlich beantwortet.
Ich rufe jetzt die Frage 19 des Abgeordneten Hans-
Christian Ströbele auf:
In welcher Weise kooperiert das Bundesamt für Verfas-
sungsschutz zwecks weiterer Aufklärung mit dem
Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof bei
dessen laufendem Ermittlungsverfahren wegen Unterstützung
ausländischer Terrorvereinigungen gegen einen bekannten so-
wie mehrere noch zu identifizierende BfV-Mitarbeiter, die den
2009 zu mehreren Geldspenden aus BfV-Geldern an zwei isla-
mistische Vereinigungen veranlassten, welche er auch medial
über vom Bundesnachrichtendienst finanzierte Server
unterstütze , und
wann wird das BfV dem GBA die noch gesuchten oben ge-
nannten Personen namhaft machen sowie administrative, or-
ganisatorische und personelle Konsequenzen aus den verfah-
rensgegenständlichen Vorgängen ziehen?
Herr Staatssekretär.
D
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Ströbele, das Bundesamt für Ver-
fassungsschutz kooperiert mit dem Generalbundesanwalt
bei dem in Rede stehenden Ermittlungsverfahren weitest
möglich.
Herr Ströbele.
Herr Staatssekretär, Sie behaupten doch nicht, dass
das eine vollständige Antwort auf meine Frage ist, schon
gar keine weise. Aber ich will Ihnen dazu vorhalten, was
man der Berliner Morgenpost am 14. Februar entnehmen
konnte, nämlich dass der Generalbundesanwalt bestätigt
hat, dass ein solches Ermittlungsverfahren bei ihm gegen
den Herrn Peci, einen ehemaligen Mitarbeiter des Bun-
desverfassungsschutzes oder etwas Ähnliches – einen
Zusammenarbeiter mit dem Bundesverfassungsschutz –,
geführt wird. Was aber viel interessanter ist, ist, dass
auch gegen Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfas-
sungsschutz, das dem Innenministerium untersteht, ein
Ermittlungsverfahren läuft und dass in einem Fall die
Person bekannt ist und in dem anderen Fall die zwei Per-
sonen nicht bekannt sind.
Ist das Innenministerium bereit, dem Generalbundes-
anwalt diese Namen zur Verfügung zu stellen, oder muss
dieser beim Verfassungsschutz eine Durchsuchung bean-
tragen?
Herr Staatssekretär.
D
Zunächst einmal war das insofern eine vollständige
Antwort, als es sich um ein laufendes Ermittlungsver-
fahren handelt und in einer öffentlichen Sitzung keine
Details von laufenden Ermittlungsverfahren verkündet
werden können. Das wäre ganz wichtig festgehalten zu
werden. Wenn Sie allerdings ausdrücklich danach fragen,
kann ich erst einmal darauf hinweisen, dass ich bereits in
meiner ersten Antwort bestätigt habe, dass es ein solches
Ermittlungsverfahren gibt. Ich kann auch sagen: Ja, unter
anderem auch gegen Mitarbeiter des Bundesamtes. Nach
unseren bisherigen Erkenntnissen ist an diesen Vorwür-
fen nichts dran. Es sind also unhaltbare Vorwürfe. Aber
noch einmal: Ich will gar nicht mehr sagen, weil es sich
hier um ein laufendes Ermittlungsverfahren handelt und
ich dazu in öffentlicher Sitzung nichts sagen kann.
Herr Ströbele.
Dann will ich das noch konkreter machen. Der Zeitung
ist auch zu entnehmen – das hat die Zeitung jetzt nicht
erfunden, sondern das ergibt sich aus einer Antwort des
Generalbundesanwalts an die Zeitung –, dass gegen ei-
nen namentlich bekannten und weitere namentlich nicht
bekannte Mitarbeiter ermittelt wird. Die Namen der nicht
bekannten Mitarbeiter kann doch der Verfassungsschutz
dem Generalbundesanwalt geben. Ist die Bundesregie-
rung bereit, diese Namen herauszugeben, ja oder nein?
D
Ich kann auf meine Antwort verweisen, Herr Kolle-ge Ströbele, wenn es die Präsidentin gestattet, dass dasBundesamt für Verfassungsschutz weitest möglich mitdem Generalbundesanwalt kooperiert, das heißt auch, imRahmen der rechtlichen Möglichkeiten auch Informatio-nen zur Verfügung stellen wird.Parl. Staatssekretär Dr. Günter Kringshttp://gruenlink.de/13r9http://gruenlink.de/zy6
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Februar 201615170
(C)
(D)
Vielen Dank. – Wir kommen zum Geschäftsbereich
des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Die
Frage 20 der Abgeordneten Veronika Bellmann wird
schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi-
nisteriums für Ernährung und Landwirtschaft. Die Fra-
gen 21 und 22 der Abgeordneten Bärbel Höhn werden
schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums der Verteidigung. Die Frage 23 des Abgeordne-
ten Harald Weinberg wird zurückgezogen.
Ich rufe jetzt die Frage 24 der Abgeordneten Katja
Keul auf:
Seit wann sind die AWACS-Luftfahrzeuge über der Türkei
im Einsatz, und wie viele deutsche Soldatinnen und Soldaten
Herr Staatssekretär.
D
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Kolle-
gin Keul, in der Türkei finden regelmäßig Flüge mit
NATO-AWACS-Luftfahrzeugen statt, die allerdings hin-
sichtlich des Zwecks voneinander zu unterscheiden sind.
Erstens wird regelmäßig in der Türkei die nationale
Übung NEXUS ACE durch NATO-AWACS-Luftfahr-
zeuge unterstützt. Derzeit findet vom 16. Februar bis
zum 18. Februar 2016 ein Übungsdurchgang statt. Zwei-
tens werden seit Februar 2015 im Rahmen der bisheri-
gen Rückversicherungsmaßnahmen regelmäßig Flüge
entlang der türkischen Schwarzmeerküste im östlichen
Schwarzen Meer sowie angrenzender Länder durchge-
führt.
Angesichts der instabilen Lage entlang der südöstli-
chen Grenze der Allianz haben die NATO-Verteidigungs-
minister auf ihrem Oktobertreffen im Jahre 2015 darüber
hinaus die Erarbeitung von Maßnahmen zur Rückversi-
cherung der Türkei, sogenannte Tailored Assurance Mea-
sures – kurz: TAM –, beauftragt, die am 18. Dezember
2015 vom NATO-Rat beschlossen wurden.
Die see- und luftseitigen Maßnahmen der NATO um-
fassen eine intensivierte Unterstützung der integrierten
NATO-Luftverteidigung der Türkei, darunter den ver-
stärkten Einsatz der AWACS-Aufklärungsflugzeuge zur
Luftraumaufklärung über der Türkei ebenso wie einen
verstärkten Einsatz der stehenden maritimen Einsatzver-
bände der NATO im östlichen Mittelmeer.
Flüge im Rahmen dieser sogenannten TAM für die
Türkei haben noch nicht stattgefunden. Eine entspre-
chende Entscheidung des Supreme Allied Commander
Europe zum Beginn der Flüge soll voraussichtlich noch
im Februar erfolgen. Eine Angabe zur Anzahl eingesetz-
ter deutscher Soldatinnen und Soldaten kann nicht ge-
macht werden. Die Zusammensetzung der Luftfahrzeug-
besatzung nach Nationalität unterscheidet sich von Flug
zu Flug und wird nicht erfasst.
Frau Keul, Ihre erste Nachfrage.
Ich habe eine Nachfrage zu den Fähigkeiten der
AWACS-Flugzeuge, sowohl dazu, wie sie jetzt dort sind,
als auch dazu, wie sie bei TAM eingesetzt würden. Wäre
es möglich, über die Daten, die die AWACS-Flugzeuge
aufnehmen, beispielsweise festzustellen, wer im Norden
Syriens Luftangriffe geflogen hat? Es ist zum Beispiel
umstritten, wer am Montag die Kliniken getroffen hat.
Die einen sagen: Es war die russische Seite. Die russi-
sche Seite sagt: Nein, es war die alliierte Seite. Wären
die AWACS in der Lage, hierüber Aufklärung zu geben?
Wären sie auch in der Lage, beispielsweise eine Flugver-
botszone im Norden Syriens zu überwachen?
Herr Staatssekretär.
D
Frau Kollegin Keul, Ihre Frage bezog sich ja aus-
drücklich auf AWACS-Luftfahrzeuge über der Türkei.
Ein Einsatz von NATO-AWACS-Luftfahrzeugen über
Syrien findet nicht statt.
Natürlich haben diese Luftfahrzeuge einen gewis-
sen Bereich, den sie aufklären können; aber das ist na-
türlich umso geringer in Bezug auf Syrien, je weiter
Flüge von Syrien entfernt durchgeführt werden. Wie
gesagt, Ihre Frage bezog sich auf AWACS-Luftfahr-
zeuge über der Türkei. Jedenfalls findet ein Einsatz von
NATO-AWACS-Luftfahrzeugen über Syrien nicht statt.
Frau Keul, Ihre zweite Nachfrage.
Das war jetzt keine Antwort auf meine Frage. Na-
türlich weiß ich, dass die AWACS über der Türkei auch
Daten aus Syrien erfassen. Ich glaube, es war eigentlich
deutlich, dass ich das meinte. Ich kann jetzt aber nicht
noch einmal nachfragen, weil ich nur noch eine Zusatz-
frage stellen darf.
Diese Zusatzfrage würde ich gern zur Einordnung der
Tatsache durch die Bundesregierung stellen, dass türki-
sche Regierungsmitglieder bereits den Einsatz von Bo-
dentruppen in Syrien diskutieren und dass Ankara bereits
von türkischem Territorium aus Syrien beschießen lässt.
Wenn deutsche Soldaten in den AWACS-Flugzeugen
sind, ist das dann nicht ein bewaffneter Einsatz, über den
wir hier beschließen müssten?
D
Frau Kollegin Keul, um es noch einmal ganz klar zusagen, auch im Hinblick auf Ihre erste Nachfrage zu Ihrer
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eigentlichen Frage, die sich auf AWACS-Luftfahrzeugeüber der Türkei bezog:
Die Türkei ist NATO-Mitglied; sie ist kein Kriegsgebiet,sondern unser Verbündeter. Wenn wir uns über dem Ter-ritorium unseres Verbündeten an Luftaufklärungsmaß-nahmen beteiligen, bedarf es dazu selbstverständlich kei-nes Mandats. Der Einsatz unserer deutschen Soldaten imRahmen mandatierter Einsätze, was den jüngst beschlos-senen Einsatz mit Tornados über Syrien angeht, genausowas unseren Einsatz im Nordirak zur Unterstützung derkurdischen Peschmerga angeht: Diese Einsätze erfolgenselbstverständlich mandatskonform. Es wird selbstver-ständlich dafür Vorsorge getroffen, dass deutsche Sol-daten, die an mandatierten Luftüberwachungsaktionenteilnehmen, die dabei ermittelten Daten nur in mandats-konformer Weise verwenden. Dafür ist in vielfältigerWeise Vorsorge getroffen. Ich nenne als Stichworte indiesem Zusammenhang „Red Card Holder“ etc.
Ich rufe die Frage 25 des Abgeordneten Dr. Alexander
Neu auf:
Welche Typen von Schiffen, U-Booten, Flugzeugen oder
Drohnen haben die an der EU-Militärmission EUNAVFOR
und welche Haltung vertritt die Bundesregierung hinsichtlich
der Frage, inwiefern Ziel und Zweck der eigentlich gegen
oder technische Unterstützung der militärischen oder polizei-
lichen libyschen Grenzüberwachung
erweitert werden sollte?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
D
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Neu,
seit Beginn von EUNAVFOR MED Operation Sophia
am 22. Juni 2015 haben insgesamt neun Nationen Schiffe
oder Luftfahrzeuge dem Operationshauptquartier der EU
in Rom unterstellt. Der Operation waren weder U- Boote
noch unbemannte Luftfahrzeuge direkt unterstellt. Im
Rahmen einer nationalen Unterstellung haben Italien und
Griechenland U-Boote eingesetzt und mit Aufklärungs-
ergebnissen zur Operation beigetragen. Kenntnisse über
einen Einsatz von unbemannten Luftfahrzeugen der be-
teiligten Nationen im Rahmen einer nationalen Unterstel-
lung liegen der Bundesregierung nicht vor. Die Nationen
haben sich bislang gemäß offizieller Veröffentlichung
durch den European External Action Service wie folgt
beteiligt: Belgien: Fregatte „Leopold I“, Hubschrauber
Bluebird Alouette; Deutschland: Fregatten „Schles-
wig-Holstein“ und „Augsburg“, Korvette „Ludwigsha-
fen am Rhein“, Einsatzgruppenversorger „Frankfurt am
Main“ und „Berlin“, Tender „Werra“ und Minenjagdboot
„Weilheim“; Frankreich: Fregatte „Courbet“, Seefern-
aufklärer Falcon 50, Hubschrauber FR AS 565 Panther;
Griechenland: Seefernaufklärungsflugzeug Erieye EMB-
145H; Italien: Flugzeugträger „Cavour“ und „ Garibaldi“,
Hubschrauber EH101; Luxemburg: Seefernaufklärer
LUX SW3 Merlin III; Slowenien: Korvette „Triglav“;
Spanien: Fregatten „Numancia“ und „Canarias“, See-
fernaufklärer P-3M Orion und Vigma D-4, Hubschrauber
SH-60B LAMPS III und AB 212; Vereinigtes König-
reich: Fregatte „Richmond“, Multifunktionsforschungs-
schiff „Enterprise“, Hubschrauber AW101 Merlin Mk2
und Lynx Mk 8.
Die Bundesregierung weist den in der Fragestellung
genutzten Ausdruck der Fluchthelfer in diesem Zusam-
menhang entschieden zurück.
Mit EUNAVFOR MED Operation Sophia wird un-
ter anderem gezielt gegen die organisierte Kriminalität
im Mittelmeer vorgegangen. Das Mandat zielt auf die
Unterbindung des perfiden Geschäftsmodells der Men-
schenschmuggel- und Menschenhandelsnetzwerke im
südlichen und zentralen Mittelmeer. Die Ausbildung und
Unterstützung libyscher maritimer Sicherheitsbehörden
ist nicht Teil des Mandats der Operation.
Eine Erweiterung des Mandats der Operation um
zusätzliche Aufgaben wie Ausbildung oder technische
Unterstützung ist aus Sicht der Bundesregierung an das
Vorliegen zusätzlicher politischer, rechtlicher und mili-
tärischer Voraussetzungen geknüpft. Diese sind derzeit
nicht gegeben.
Herr Kollege Neu, Sie haben das Wort. – Keine Nach-
frage. Okay.
Dann rufe ich die Frage 26 auf, die ebenfalls vom Ab-
geordneten Dr. Neu gestellt wird:
Inwiefern stand ein in der fünften Kalenderwoche 2016 un-
ter Beteiligung deutscher Kriegsschiffe abgehaltenes Manö-
ver des ständigen maritimen Einsatzverbandes der NATO im
Mittelmeer mit der türkischen Marine im Zusammenhang mit
einer etwaigen gemeinsamen Militäroperation in der Ägäis,
was ist der Bundesregierung aus der Planung und Evaluierung
des Manövers darüber bekannt, welche der dort eingesetzten
Schiffe, Flugzeuge, U-Boote oder Satellitenkapazitäten die
beteiligten Nationen auch im Rahmen einer solchen Operation
gegen Fluchthelfer in der Ägäis einsetzen würden?
Herr Staatssekretär.
D
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Neu,am Ständigen Marine-Einsatzverband 2 der NATO istDeutschland mit dem Einsatzgruppenversorger „Bonn“als Flaggschiff des Verbandes im ersten Halbjahr 2016beteiligt. Der Verband nimmt regelmäßig an Übungenund anderen Vorhaben teil. Die Planung, Durchführungund Auswertung dieser Vorhaben erfolgt längerfristigund liegt nicht in nationaler Verantwortung, sondernParl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
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wird im Rahmen der NATO-Kommandostruktur erarbei-tet und nachbereitet.Das im Zeitraum vom 1. Februar bis zum 4. Februar2016 durchgeführte Manöver des Ständigen Marine-Ein-satzverbandes 2 der NATO mit der türkischen Mari-ne fand in dem obengenannten Kontext statt und standdaher nicht in einem Zusammenhang mit der geplantengemeinsamen Militäroperation in der Ägäis. Es dienteder Steigerung der Interoperabilität und Zusammenarbeitinnerhalb des Verbandes. Erkenntnisse zur Übungsaus-wertung dieses Manövers seitens der NATO liegen derBundesregierung nicht vor.Aus diesen routinemäßig stattfindenden Vorhaben derständigen Marineeinsatzverbände der NATO lassen sichkeine Ableitungen treffen, welche Fähigkeiten einzelneNationen in konkrete Einsätze künftig gegebenenfallseinmelden.
Herr Dr. Neu. – Keine Nachfrage.
Ich rufe die Frage 27 des Kollegen Hans-Christian
Ströbele auf:
Welche Angaben macht die Bundesregierung zum geplan-
ten und von der NATO beschlossenen Einsatz der Bundes-
marine im Rahmen der NATO in der Ägäis, insbesondere zu
den konkreten Aufgaben der Bundeswehr, dessen Zielen und
dessen Rechtsgrundlage, aber auch zu der Ausstattung und
Bewaffnung der eingesetzten Schiffe der Bundesmarine, und
wie wird die Bundesregierung sicherstellen, dass sich der Ein-
satz nicht gegen die Flüchtlinge auf ihrer Flucht vor Krieg und
Verfolgung aus der Türkei nach Europa, insbesondere nicht
gegen deren Freiheit und Freizügigkeit, die ihnen auch durch
deutsches, europäisches und internationales Recht garantiert
werden, richtet und auswirkt?
Der Staatssekretär hat das Wort zur Beantwortung.
D
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege
Ströbele, während des Verteidigungsministertreffens am
10. Februar 2016 haben Griechenland, die Türkei und
Deutschland die NATO um Unterstützung bei der Flücht-
lings- und Migrationskrise gebeten. Die NATO-Verteidi-
gungsminister haben am 11. Februar den Supreme Al-
lied Commander Europe – kurz: SACEUR – beauftragt,
Maßnahmen zur Unterstützung zu entwickeln. Auf der
Grundlage der bisherigen Autorisierungen hat SACEUR
angewiesen, den Ständigen Marine-Einsatzverband 2 der
NATO in die Ägäis zu verlegen. Derzeit ist beabsichtigt,
spätestens bis zum 24. Februar 2016 den NATO-Rat mit
den weiteren militärischen Planungen zu befassen.
Der beauftragte NATO-Verband wird derzeit durch
Deutschland geführt. Es besteht die Absicht, diesen
Verband mit der Aufklärung, Überwachung und Beob-
achtung des Seegebietes zwischen den Küsten der Tür-
kei und Griechenlands zu beauftragen. Der deutsche
Einsatzgruppenversorger „Bonn“ ist ausgestattet mit
Navigationsradar sowie TV- und Infrarotkamera. Seine
Grundbewaffnung umfasst vier Marineleichtgeschütze,
vier Maschinengewehre sowie schultergestützte Flug-
körper zur Flugabwehr. Mit dem beabsichtigten Beitrag
zum Lagebild sollen Griechenland und die Türkei bei der
Wahrnehmung ihrer hoheitlichen Aufgaben unterstützt
werden. Die Staaten sollen so in die Lage versetzt wer-
den, den gesetzwidrigen Menschenschmuggel und die il-
legale Migration über den Seeweg besser zu unterbinden.
Angesichts der bisherigen Vorgaben seitens der NATO
ist es nicht beabsichtigt, Zwangsbefugnisse gegen Schif-
fe und Boote mit Migranten an Bord auszuüben. Daher
ist eine Einbeziehung in bewaffnete Unternehmungen
nicht zu erwarten.
Die Türkei hat zugesagt, auf See gerettete Flüchtlinge,
die aus der oder durch die Türkei kommen, wieder aufzu-
nehmen. Die militärischen und politischen Gremien wur-
den von den NATO-Verteidigungsministern während des
Verteidigungsministertreffens am 11. Februar 2016 be-
auftragt, konkrete Details auszuarbeiten. Die Ergebnisse
dieser Arbeiten bleiben zunächst abzuwarten.
Herr Kollege Ströbele, ich würde noch eine Nachfra-
ge von Ihnen zulassen. Wir werden dann aber die Frage-
stunde schließen müssen, weil die Zeit dann abgelaufen
ist. Also eine Nachfrage noch, und dann beenden wir die
Fragestunde.
Danke, Frau Präsidentin. – Herr Staatssekretär, darauf
muss man erst einmal kommen. Bei der Gründung der
NATO – das habe ich ja miterlebt – ist, glaube ich, nie-
mand darauf gekommen, dass man diese NATO braucht,
um Flüchtlinge abzuwehren. Das ist nun wirklich eine
neue Idee.
Aber meine Frage: Wenn die Schiffe der Bundesma-
rine – das haben wir vorhin schon gehört – Menschen
aufnehmen, die geflohen sind vor Krieg, Hunger, Ver-
treibung, Bomben und Ähnlichem und die offenbar in
der Türkei auch nicht, ohne Not zu leiden, untergebracht
werden konnten, und sie in die Türkei zurückbringen,
also damit praktisch die Flucht beenden, ist dann nicht
auch nach Auffassung der Bundesregierung das Maß
überschritten? Wie kann die Bundesregierung so etwas
anordnen, anstatt die Flüchtlinge woanders hinzubrin-
gen, wie es etwa im Falle der libyschen Flüchtlinge ge-
schieht, die nicht nach Libyen, sondern nach Italien, zum
Beispiel nach Lampedusa, zurückgebracht werden? Das
heißt, können die Flüchtlinge – –
Herr Ströbele, Sie haben Ihre Zeit schon überschritten.
Herr Staatssekretär.
D
Herr Kollege Ströbele, dieser Einsatz dient selbst-verständlich nicht der Bekämpfung von Flüchtlingen.Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
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Ich glaube, die NATO-Mitgliedstaaten – die besonde-ren Lasten, die die Türkei zu tragen hat, wurden bereitserwähnt – und in Sonderheit Deutschland haben keinenNachholbedarf im Hinblick auf Solidarität und Aufnah-mebereitschaft bezüglich Flüchtlingen. Von daher weiseich den Vorwurf, die NATO diene hier der Bekämpfungvon Flüchtlingen, seitens der Bundesregierung in allerEntschiedenheit zurück. Es geht um die Bekämpfungkrimineller Menschenhandels- und Schleusernetzwerke,nicht um die Bekämpfung von Flüchtlingen.
Selbstverständlich ist es in der Tat ein rechtlicher, po-litischer und faktischer erheblicher Unterschied, was dieVerhältnisse in Libyen einerseits und in der Türkei ande-rerseits angeht. Die Türkei fällt ausdrücklich nicht unterden sogenannten Non-Refoulement-Grundsatz, wonacheine Rückführung in Länder nicht erlaubt ist, in denenMenschen aufgrund ihrer Rasse, Religion, Staatsange-hörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialenGruppe oder politischen Überzeugung Folter oder andereschwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Dies istbei der Türkei nicht der Fall.
Von daher fällt die Türkei nicht unter das sogenannte Re-foulement-Verbot.Es ist zu Recht schon darauf hingewiesen worden:Seenotrettung ist die Aufgabe eines jeden Schiffes, dasauf Menschen in Seenot trifft. Die Menschen, die ausSeenot gerettet werden, haben einen Anspruch darauf, ineinen sicheren Hafen gebracht zu werden. Sie haben kei-nen Anspruch darauf, in ein Land oder einen Hafen ihrerWahl gebracht zu werden. Genau diese Voraussetzung ei-nes sicheren Hafens erfüllen auch die türkischen Häfen.Im Übrigen habe ich darauf hingewiesen, dass diekonkreten Planungen noch in der Erarbeitung sind undnach ihrem Abschluss unter anderem rechtlich durch dieBundesregierung zu würdigen sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle weiteren Fragen
werden schriftlich beantwortet. Ich schließe die Frage-
stunde.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Verschärfung kriegerischer Auseinanderset
zungen in Syrien nach den Angriffen der Tür
kei auf syrischkurdisches Gebiet
Als erster Redner in der Aktuellen Stunde hat
Wolfgang Gehrcke von der Fraktion Die Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Ich bin eigentlich sehr froh, dass wir die Chance haben,in dieser Aktuellen Stunde über die Lage in Syrien zudebattieren. An erster Stelle bin ich darüber sehr froh,weil ich möchte, dass die syrischen Flüchtlinge hierin Deutschland bzw. in Europa verstehen, akzeptierenund auch fühlen, dass uns die Lage in ihrem Land nichtgleichgültig ist und wir sie nicht als Belastung, sondernals Opfer einer Politik wahrnehmen, an der Europa – undauch unser Land – einen Anteil hat. Das soll die Bot-schaft sein. Ich sage in aller Demut: Ich möchte, dass diesyrischen Flüchtlinge dieses Gefühl auch hier aus demBundestag mitnehmen.
Wenn man über die Situation in Syrien nachdenkt,kommt man also zu dem Schluss, dass Europa einen An-teil daran hat. Schauen Sie einmal auf die Grenzen imNahen Osten. Die sind mit dem Lineal gezogen worden.Sie sind ein Ergebnis kolonialer Politik. Vieles an Unsi-cherheit resultiert daraus. Da haben wir etwas abzutra-gen.Ist es nicht so, dass dieser verfluchte Krieg der USAbzw. des Westens im Irak ein ganzes Land zerschlagenhat und dass sich erst infolge dieses Krieges ISIS bzw.IS und andere entwickeln konnten? Ist es nicht so, dassheute das Gleiche in Libyen und im Jemen passiert? Wirhaben allen Anlass, auch über die eigene Verantwortungnachzudenken.Es war ein großes Verdienst der sozialdemokratischenKollegen, dass es damals unter Gerhard Schröder die Li-nie war, Nein zum Krieg im Irak zu sagen. Die Kanzlerinist damals ja noch in die USA gefahren und hat sich beimamerikanischen Präsidenten entschuldigt. Sie wollte die-se Entscheidung rückgängig machen. Ich finde, wir allehaben Veranlassung, uns erst einmal mit uns selber aus-einanderzusetzen.Ist es nicht so, dass es europäische Länder – darunterleider auch Russland – sind, die in Syrien bombardieren?Ich habe immer geradlinig die Meinung vertreten: Bom-ben schaffen keinen Frieden. Und dabei bleibt es auch.Mit Bomben kann man die Verhältnisse in einem Landnicht verändern.
– Ja klar, für wen denn sonst?
– Ich habe das doch eben gesagt. Ihr alle habt Feindbilderim Kopf. Feindbilder lohnen sich nicht – weder im Parla-ment noch anderswo. Ich habe deutlich gesagt, dass ich –auch was Russland, andere europäische Länder und dieUSA angeht – gegen die Bombenangriffe in Syrien bin.Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
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Und ich sage noch einmal: Bomben schaffen keinen Frie-den, egal wer sie abwirft. Das kann man auch verstehen.
Ich denke, wir sollten darüber reden und uns ver-ständigen, was die Zielsetzung einer solchen AktuellenStunde ist. Meine Fraktion bzw. ich verfolgen eigentlichzweierlei. Wir sind der Auffassung, dass man eine Syri-en-Politik machen muss, bei der wir eine Chance haben,dass das Töten und Morden aufhört. Das steht für unsan erster Stelle. Weiter wollen wir, dass Syrien ein ein-heitlicher, säkularer Staat bleibt und demokratisiert wird.Das ist Punkt 1 der Wiener Vereinbarung, die zu Syriengetroffen wurde. Keine andere Fraktion im Bundestagverficht so konsequent die Wiener Vereinbarung wie dieFraktion Die Linke. Wir wollen, dass das praktische Po-litik wird. Wenn man das will, muss man über ein paarFragen stärker nachdenken.Seit Tagen beschießt die Türkei – ein enger Bünd-nispartner unseres Landes und NATO-Mitglied – kur-disch-syrisches Gebiet. In der Türkei sammeln sichtürkische und saudi-arabische Truppen. Ein Bodenein-satz ist nicht ausgeschlossen. Wolfgang Ischinger hatauf der Münchener Konferenz gesagt: Wenn das pas-siert, ist – weil Russland und andere aufeinandertreffenkönnten – auch eine atomare Auseinandersetzung nichtauszuschließen. Auch ehemalige NATO-Militärs sagen,dass das ein Super-GAU wäre. Ist es nicht furchtbar, dasswir wieder in einer Zeit leben, wo wir den Gedanken aneinen großen Krieg nicht verdrängen können? Wir allemüssten eine wirkliche Friedenspolitik entwickeln.Wenn das passiert, ist Deutschland mittendrin. Wirsollten die Tornados – wir gehen vor das Verfassungsge-richt und klagen die Ihnen sowieso weg –
sofort zurückziehen; denn wir dürfen uns nicht mit Mili-tärwerkzeugen an einem Krieg beteiligen, der uns mög-licherweise weit mehr als die jetzige Komponente mit inden Abgrund reißt. Deswegen wollten wir diese AktuelleStunde. Deswegen wollten wir über das reden, was pas-siert. Ich bin gespannt, was Ihre Position dazu ist, und obSie die Courage haben, mal endlich zu sagen: Wir wollennicht, dass unser Land immer wieder in solche Kriegehineingezogen wird. – Das wollte ich Ihnen vortragen.Schönen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Jürgen Hardt
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In der Aktuellen Stunde beschäftigen wir uns mit einemThema, das heute bereits Gegenstand der Regierungser-klärung der Bundeskanzlerin war. Wenn Herr Gehrckehier reklamiert, dass die linke Fraktion das Wiener Ver-handlungsergebnis zu Syrien am besten unterstützt, dannmuss ich sagen: Das, was die Bundeskanzlerin hier heutein ihrer Regierungserklärung zu diesem Thema vorge-tragen hat, war auch eine ganz klare und überzeugendeUnterstützung dieser Politik, die im Übrigen vom Bun-desaußenminister wesentlich mitgestaltet und geprägtworden ist.
Wenn ich die Überschrift der Aktuellen Stunde, die dieLinke beantragt hat, lese – „Verschärfung kriegerischerAuseinandersetzungen in Syrien nach den Angriffen derTürkei auf syrisch-kurdisches Gebiet“ –, dann denke ich,Herr Gehrcke, dass Ihre Brille ein wenig schief sitzt;
ich meine jetzt Ihre politische Brille. Denn die Verschär-fung der Lage in Syrien ist natürlich ganz klar zuvorderstdadurch eingetreten, dass die russische Luftwaffe im Ver-bund mit den Truppen des Diktators Assad die Zivilbe-völkerung und die Opposition bekämpft, in Aleppo undin anderen Regionen des Landes eine humanitäre Kata-strophe verursacht und ein verheerendes Blutbad ange-richtet hat, was dazu geführt hat, dass sich Zehntausendevon Flüchtlingen zusätzlich auf den Weg gemacht haben.Wir können nur an Russland, an Assad und an alle ande-ren appellieren, die Beschlüsse vom Donnerstag vergan-gener Woche in München – Waffenstillstand innerhalbeiner Woche; die Woche läuft leider bald aus – sofortumzusetzen und einen Zugang für einen humanitärenEinsatz zu ermöglichen, damit die Grundvoraussetzungdafür, dass Friedensgespräche im Sinne der Wiener Ver-handlungen möglich sind, eintritt, nämlich ganz konkretdie Waffen schweigen und das Blutvergießen ein Endehat.
Ich glaube, das, was den Wiener Prozess aussichts-reich macht, ist tatsächlich, dass er eben nicht ein ausweiter Entfernung gesteuerter Prozess ist, sondern diePartner in der Region konkret und massiv mit eingebun-den werden und insbesondere auch die beiden Kontra-henten Saudi-Arabien und Iran in den Prozess einbezo-gen werden. Das Papier, das wir als Ergebnis der WienerKonferenz kennen, ist beachtlich. Es sieht ein säkulares,rechtsstaatliches Syrien als Folge eines Friedensprozes-ses vor, der sich in den nächsten 18 Monaten vollziehensollte. Das ist ein sehr ambitioniertes, voll und ganz un-terstützenswertes Ziel.Was Deutschland gegenwärtig leistet, ist Unterstüt-zung im Kampf gegen den IS. Der IS ist nach Assad diezweite Pest, die über die Bevölkerung in Syrien hinein-gebrochen ist. Ich glaube, dass eine wirksame Bekämp-fung des IS in Syrien, aber eben auch im Norden des Irakund in anderen Teilen der Region bis hin nach Libyen nurdann möglich ist, wenn sich die Kräfte einig sind, wennes gelingt, in Syrien eine Situation herbeizuführen, in dereine wie auch immer getragene Regierung der nationa-Wolfgang Gehrcke
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len Einheit mit Unterstützung anderer geschlossen gegenden IS kämpft. Solange Assad und Russland gegen dieOppositionskräfte kämpfen, wird sich der IS die Händereiben und weiter ausbreiten und entfalten können. Dashaben die Menschen in diesem Land nicht verdient.Wie sieht die Zukunft aus? Ich glaube, dass es immerwieder den Versuch geben sollte, ein Schweigen der Waf-fen zu erreichen. Vor allem wäre es wichtig, dass dieje-nigen, die den Kampf gegen den IS führen – er soll auchin dem Fall, dass die Waffen im Bürgerkrieg in Syrienschweigen, weiterhin geführt werden –, Wege finden,sich darüber zu verständigen und zu verifizieren, welcheZiele tatsächlich Angriffsziele sind.Wir haben in den letzten Wochen immer dann einabsolutes Tohuwabohu an Meldungen gehabt, wennentsprechende Luftschläge Russlands stattgefunden ha-ben. Russland behauptete: Wir haben den IS bekämpft. –Durch neutrale bzw. westliche Kräfte wurde verifiziert:Die Luftschläge haben nicht den IS getroffen, sonderndie Opposition.Nur wenn – das ist der wunde Punkt bei der Vereinba-rung vom Donnerstag letzter Woche – die strittige Frage:„Wer ist Terrorist, was ist ein bekämpfungswürdiges Ziel,und was ist nicht zu bekämpfen?“ in den nächsten Ta-gen zwischen den großen beteiligten Kräften tatsächlichbefriedigend geklärt werden kann, wird es eine Chancegeben, den Waffenstillstand umzusetzen. Den Menschenin Syrien ist das dringend zu wünschen. Den Menschenin Syrien gilt unser Mitgefühl in dieser schwierigen Si-tuation.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Omid
Nouripour von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! ErlaubenSie mir, mit einem vermeintlich unbedeutenderen The-ma anzufangen. Allein in dieser Woche sind vier Kran-kenhäuser und zwei Schulen in Syrien durch Bombar-dements zerstört worden. Der Außenminister hat gesagt:Das ist ein trauriger Tiefpunkt der Auseinandersetzungenin Syrien. Er hat recht. Ich glaube, dass es in dieser Situ-ation wichtig ist, an die von inzwischen 51 Staaten unter-zeichnete freiwillige Selbsterklärung zu erinnern, in deres darum geht, dass Schulen in Kriegssituationen nichtangegriffen werden. Es ist sehr bedauerlich, dass sichdie Bundesregierung trotz der aktuellen Situation immernoch weigert, dieser Erklärung beizutreten.
Wir können Sie wirklich nur anflehen: Gehen sie mitgutem Beispiel voran, und unterzeichnen Sie die SafeSchools Declaration.
– Dann hört das nicht auf. Aber, verflucht noch mal, esist doch das Mindeste, dass wir mit gutem Beispiel vo-rangehen!
Es ist doch eindeutig, dass wir eine Vorbildfunktion ein-nehmen wollen! Wenn Sie sich hier hinstellen und mora-lisierende Reden über die Welt da draußen halten, abernicht bereit sind, vor der eigenen Tür zu kehren, dannwird sich eben nichts ändern! Verdammt noch mal!
Die Bundesregierung hat sich bisher nicht einmal be-quemt zu erklären, warum sie dieser Erklärung nicht bei-getreten ist, während alle anderen europäischen Staatendies getan haben. Ich bitte die Bundesregierung darum,etwas sachlicher mit diesem Thema umzugehen als derKollege hier.
Jetzt aber zum Thema der Aktuellen Stunde und zurRede des Kollegen Gehrcke. Es ist richtig: Die Türkeiträgt zurzeit massiv zur Verschärfung der Situation in Sy-rien bei; dazu wird meine Kollegin Roth nachher deutlichmehr sagen. Aber manchmal sind halbe Wahrheiten Lü-gen. Ich freue mich, dass das Wort „Russland“ tatsächlichgefallen ist; das ist wirklich nicht normal, das ist auchrelativ originell. Nur, verehrter Wolfgang Gehrcke, Siehaben es immer noch nicht geschafft, von diesem Pultaus das Wort „Assad“ im Zusammenhang damit, wer dieVerantwortung in Syrien hat, über die Lippen zu bringen.
Ich glaube, das zeigt, wie dramatisch die Diskussion inIhrer Partei ist.Wenn Sie sagen, die Flüchtlinge sollen einmal sehen,was da passiert, dann schlage ich vor: Gehen Sie dochzu den Flüchtlingen hin, und fragen Sie sie, weswegensie geflohen sind. – Es ist doch eindeutig, dass die gro-ße Mehrheit der Menschen wegen Assad flieht. Es wärewundervoll, wenn die Linke das einmal zur Kenntnisnehmen würde und nicht immer nur davon reden würde,dass der Westen an allem schuld ist, was auf dem Plane-ten passiert. Natürlich hat der Westen eine riesige Verant-wortung, aber es gibt auch noch ein paar andere, derenIdeologie sich noch ganz weit hinten am Sozialismus ori-Jürgen Hardt
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entiert. Das wäscht aber niemanden rein von der großenVerantwortung, wenn es um Fassbomben, um den Ruinder Städte und um die Chemiewaffen geht, die in Syrienvom Himmel gefallen sind.Schauen wir uns an, was die Russen zurzeit machen.Es ist eindeutig: Da geht es um das Verhindern einerpolitischen Lösung, und dabei wird die Doppelstrategieverfolgt, nämlich einmal, dass Aleppo fällt, und wir unsdann, wenn es am Ende nur noch zwei relevante Gruppengibt, nämlich Assad und ISIS, für eine der beiden Seitenentscheiden sollen. Das halte ich für eine unerträglicheVariante. Aber es geht ebenso darum, Flüchtlinge zu pro-duzieren. Ich finde, das muss man so benennen. Es istunerträglich, dass Flüchtlinge in diesem dreckigen Spielmittlerweile zum Spielball der Geostrategie gewordensind.
Und in dieser Situation fährt ein Ministerpräsident nachMoskau und sagt auf einer Pressekonferenz, Deutschlandsei ein Unrechtsstaat. Aber das Wort „Aleppo“ habe ichvon Herrn Seehofer nicht ein einziges Mal gehört. Dashalte ich für einen handfesten Skandal.
In der gegenwärtigen Situation – für die die Bun-desregierung nicht viel kann; es ist ja nicht die Schuldder Bundesregierung, dass die Situation so dramatischist – gibt es drei, vier Punkte, um die man sich kümmernmuss. Das Erste ist Erwartungsmanagement. Die Bun-deskanzlerin hat ja damit, dass sie sagt: „Es wäre schön,wenn es in Syrien Orte gäbe, wo keine Bomben fallen“,recht. Nur, was folgt daraus? Ich weiß es nicht. Eine No-fly-Zone sehe ich nicht. Das ist derzeit keine ernsthaftemilitärische Option. Und ich glaube auch, dass man mitden Erwartungen und Hoffnungen der Menschen nicht sospielen sollte.Das Gleiche gilt für die Frage, was man in Wienmacht. Herr Kollege Gehrcke, natürlich haben wir dieKonferenz in Wien unterstützt; das haben wir alle getan.Wir haben aber im Übrigen auch darauf hingewiesen,dass es bei dem Kongress in Wien eine Asymmetrie gab,nämlich dadurch, dass Assad faktisch mit am Tisch saß,aber die Opposition nicht.
Damit bin ich bei dem Zweiten, was die Bundesregie-rung machen sollte. Es gibt eine moderate Opposition.Ich meine zum Beispiel auch die Gruppierungen in Ga-ziantep. Ja, wir treffen Vertreter dieser Gruppierungen;das stimmt. Wolfgang Gehrcke trifft sie, und wir treffensie; das ist richtig. Die Unterstützung dieser Gruppierun-gen verlief aber so: Erst haben sie Geld bekommen, dannhaben sie keins bekommen, dann haben sie wieder Geldbekommen, dann hat man ihnen keins gegeben, dann hatman es ihnen versprochen, um dann zu sagen: Wenn ihrnicht zu den Modalitäten, die wir uns wünschen, nachGenf kommt, dann bekommt ihr keins. – Ich glaubenicht, dass man auf diese Art und Weise eine politischeLösung voranbringt.
Das Zentrale ist jetzt die humanitäre Hilfe, undzwar in den Nachbarstaaten genauso wie in Syrienselbst. Wenn man sich anschaut, dass derzeit mindes-tens 400 000 Menschen unter Belagerungen leiden undbedroht sind von einer Waffe namens Hunger – das istein schlimmes Kriegsverbrechen –, dann stellt sich dieFrage, wie man diesen Menschen helfen kann. Es gehtnicht nur um Verhandlungen mit Assad, sondern auchum die 200 000 Menschen, die von ISIS belagert sind.Denen kann man nicht erklären, warum die westlichenLänder im Stande sind, Bomben abzuwerfen, aber keineEssenspakete.Es geht natürlich auch um die Nachbarstaaten. Ich waram Samstag das vierte Mal in Saatari, dem größten La-ger im Nahen Osten. Die einzige Konstante der letztenvier Jahre ist das territoriale Wachstum. Die Gesichts-farben werden immer blasser, und die Leute, die letztesJahr noch gefragt haben, wie man helfen kann, fragengar nicht mehr. Es gibt eine unglaubliche und immenseRatlosigkeit, die uns ein Stück weit verpflichtet, diesenMenschen zu helfen und dafür zu sorgen, dass nicht nochmehr Länder kollabieren, wie das im Fall Irak bereitspassiert ist. Es ist ein Wunder, dass der Libanon als festeGröße noch besteht. Im Fall von Jordanien ist das nichtanders.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Diese Länder brauchen eindeutig und ganz dringend
unsere Unterstützung.
Als nächster Redner hat Niels Annen von der
SPD-Fraktion das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Lieber KollegeNouripour, ich glaube, wir alle teilen Ihre Empörungüber die Lage in der Region. Ich glaube aber – so ist dasjedenfalls bei mir angekommen –, dass die Verbindungder Kritik, die Sie vorgetragen haben – darüber kann manja sachlich diskutieren –, mit den jüngsten Bombardie-rungen in Aleppo zu einer missverständlichen Botschaftführen kann. Ich glaube, davon haben wir alle nichts. In-sofern konnte ich die Reaktion meiner Kolleginnen undKollegen der Unionsfraktion wirklich verstehen; das tei-le ich auch.Omid Nouripour
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Lassen Sie uns über die Lage sprechen. Ich will michauf das beziehen, was der Kollege Hardt hier vorgetragenhat. Wissen Sie, Herr Gehrcke, ich freue mich ja über IhrLob für die Arbeit unseres Außenministers und unsererBundeskanzlerin hinsichtlich der Einleitung eines politi-schen Prozesses. Ich nehme Ihnen das auch ab. Ich glau-be, dass das, was Sie hier vorgetragen haben, wirklichehrlich gemeint war.
Man muss aber doch auch zur Kenntnis nehmen, dassgenau zu dem Zeitpunkt, während der vereinbarte Pro-zess lief – das ist ja keine theoretische Debatte, sonderndie Vertreter des Regimes und die Vertreter der Oppo-sition saßen mit dem UN-Vermittler in Genf und habengesprochen; sie waren im Rahmen der Proximity Talksdabei, die direkten Verhandlungen vorzubereiten –, dieLuftwaffe von Assad mit Unterstützung der russischenLuftwaffe die Angriffe auf Aleppo intensiviert hat. Da-raus, dass das genau zu dieser Zeit passiert ist, kann mankeinen anderen Schluss ziehen, als dass diese Gesprächeunterbrochen und verhindert werden sollten. Dazu mussman doch einmal etwas sagen. Ich finde es ja völlig inOrdnung, dass man auch über die anderen Akteure in die-sem Krieg redet. Zu diesen anderen Akteuren gehört auchdie Türkei. Übrigens hat heute auch die Bundeskanzleringesagt, wo sie da kritische Punkte sieht. – Aber dass Siedas hier nicht zum Thema machen, während in Aleppogebombt wird, finde ich wirklich ein starkes Stück.
Das, was wir im Moment tun können, um den poli-tischen Prozess voranzutreiben, ist von daher, wie ichglaube, extrem kompliziert. Ich kann uns allen nur ra-ten, nicht den Eindruck zu erwecken, dass wir uns aufdie Seite einer der Konfliktparteien stellen. Wir müssenvielmehr an der Seite der Menschen in Syrien stehen. Wirmüssen diejenigen sein – ich bin dankbar dafür, dass derAußenminister das in den Verhandlungen immer wiederin den Mittelpunkt gerückt hat –, die für die Weltgemein-schaft Partei ergreifen. Es waren doch die ständigen Mit-glieder des Sicherheitsrates, die bei den Verhandlungenzum Teil ihren eigenen Vermittler vergessen hatten.Wir benötigen am Ende des Prozesses die Legitimitätder Vereinten Nationen. Deswegen ist es so zentral, dasswir mit Herrn de Mistura jemanden haben, der nicht nursprechfähig mit den unterschiedlichen Gruppierungender Opposition und mit dem Regime ist, sondern auchdie Unterstützung der wichtigen Länder auf der Welt hat.Dazu gehört Deutschland, dazu gehören aber vor allemdie Staaten, die zwingend dazu beitragen müssen, dassdieser Prozess vorangeht, und dazu gehört in der Tat dieTürkei.Auch ich bin über die Entwicklung, über den Beschusssyrischen Territoriums, besorgt. Aber man darf es sichnicht so leicht machen, wie Sie, Herr Gehrcke, es hiertun. Sie haben gesagt, Sie würden davor warnen, dass wiruns mit Militärinstrumenten an einem Krieg beteiligen.
Zunächst einmal: Wir liefern – das wissen Sie genausogut wie ich – Informationen, und wir tragen zu einemLagebild bei. Diesbezüglich kann man unterschiedlicherMeinung sein; darüber haben wir hier diskutiert. Aberaus Ihrer Fraktion heraus – das ist dokumentiert; das istin diesem Hause vorgetragen worden – sind die militäri-schen Erfolge der kurdisch-syrischen Milizen mehrfachbejubelt worden. Sie sind übrigens mit militärischen Mit-teln erreicht worden.
Ich will auch von diesem Rednerpult aus sagen: Wirhaben großen Respekt vor dem, was die YPG im Kampfgegen den sogenannten „Islamischen Staat“ geleistet hat.Es gehört aber dazu, auch darauf hinzuweisen – Sie ha-ben ja gesagt, dass Bomben keinen Frieden schaffen –,dass es amerikanische Bomben waren, die Ziele getrof-fen haben, die von genau diesen Milizen markiert wordensind und dadurch die Grundlage für deren militärischenErfolge geliefert haben. Man kann sich das Leben alsoauch leicht machen.Dieser Krieg ist in einer Art und Weise komplex, dassman es selbst in fünf Minuten nicht schafft, alle unter-schiedlichen Akteure zu benennen. Sie sagten, dass dieUSA einen Krieg im Irak geführt haben,
gegen den wir gewesen sind. Dann haben Sie den Kriegim Jemen genannt, und dann haben Sie den Krieg in Li-byen genannt. Zum Glück haben Sie am Ende noch dierussische Offensive erwähnt. Ich will an dieser Stellesagen: Die Türkei engagiert sich militärisch. Saudi-Ara-bien unterstützt bestimmte Milizen, von denen uns nichtalle gefallen; auch das haben wir hier mehrfach erwähnt.Russland bombardiert Aleppo. Auch unser türkischerBündnispartner hat sich in den vergangenen fünf Kriegs-jahren häufig ambivalent verhalten.
Aber eines fällt schon auf, Herr Gehrcke: Sie versuchen,auch mit dem Titel dieser Aktuellen Stunde, die Schuldan der Situation einem Akteur in die Schuhe zu schie-ben. Einem einzigen Akteur! Damit, glaube ich, helfenSie weder den Menschen in Syrien, noch helfen Sie derdeutschen Öffentlichkeit, das, was dort wirklich passiert,nachvollzuziehen. Sie helfen übrigens auch nicht – dassteht im Gegensatz zu dem, was Sie hier behauptet ha-ben – den Bemühungen um Frieden von Frank-WalterSteinmeier.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Dr. AndreasNick von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Niels Annen
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Fast 500 000 Menschen haben seit dem Ausbruch desBürgerkriegs in Syrien ihr Leben verloren. Jeder zehnteSyrer ist im Krieg entweder getötet oder verletzt wor-den. Mehr als 10 Millionen Menschen, über die Hälfteder ursprünglichen Bevölkerung, sind auf der Flucht.Der Machthaber Assad führt, unterstützt von Russland,dem Iran und schiitischen Milizen, einen Krieg gegendas eigene Volk. Die anhaltenden Bombardements derZivilbevölkerung durch das Assad-Regime und Russlandschaffen tagtäglich unendliches Leid für Zehntausendevon Menschen. Mit 50 getöteten Zivilsten in Schulenund Krankenhäusern, auch solchen von Médecins sansFrontières, hat der Bürgerkrieg in Syrien einen weiterentraurigen Tiefpunkt erfahren; und das kann durchaus alsKriegsverbrechen bezeichnet werden.Wir sind entsetzt über die weitere Verschärfung derhumanitären Katastrophe im Land. Neben dem Verlustunzähliger Menschenleben schmerzt auch das Ausmaßder Zerstörung. Aleppo, einst eine blühende Metropole,deren Altstadt mit dem Basar zum UNESCO-Weltkultur-erbe gehörte, wurde in eine Trümmerlandschaft verwan-delt. Jetzt werden Wohnviertel komplett zerstört. Der fast2 000 Jahre alten christlichen Gemeinde – 15 bis 20 Pro-zent der Einwohner in Aleppo waren Christen, überwie-gend Aramäer und Armenier – droht die Auslöschung.Aleppo ist noch mehr zum Brennpunkt des Krieges inSyrien geworden. Die syrische Opposition in der Stadtwird von allen Seiten attackiert: von Assad im Süden,von den kurdischen YPG-Milizen im Westen, vom „Is-lamischen Staat“ im Osten und von Russland aus derLuft. Sollten die Regierungstruppen und ihre Verbünde-ten Aleppo vollständig einkreisen und auch den letztenFluchtweg abschneiden, könnte die Nahrungsmittelver-sorgung für fast 300 000 Menschen in der Stadt endgültigzusammenbrechen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies zielt auch aufdie Türkei und auf uns in Europa. Denn wie der Journa-list Jan Fleischhauer in den letzten Tagen festgestellt hat:Wer die Menschen in Syrien erst aus ihren Häusernbombt, damit sie sich nach Norden aufmachen, unddann dort die rechtsradikalen Kräfte unterstützt, diegegen eine Aufnahme Stimmung machen, ist jeden-falls kein Freund Europas ...Wir unterstützen die Forderung der Bundeskanzlerinnach einer Flugverbotszone über Syrien, um den Men-schen zumindest einen sicheren Zufluchtsort zu bieten.Auch die Türkei begrüßt den Vorschlag; sie fordert seitlangem eine internationale Schutzzone im Norden Syri-ens.
Denn die Türkei ist unmittelbar vom syrischen Bürger-krieg in ihrer Nachbarschaft betroffen. Das Land hat inden vergangenen Jahren über 2,5 Millionen Flüchtlingeaus Syrien aufgenommen.
Momentan warten über 30 000 Menschen an der Grenze,die vor russischen Bomben geflohen sind. Eine friedlicheBeendigung des Bürgerkriegs in Syrien und ein Ende derKampfhandlungen in Aleppo liegen im ureigenen Sicher-heitsinteresse der Türkei.Natürlich würden wir uns auch von der Türkei bei al-ler nachvollziehbaren Betroffenheit ein deutlich höheresMaß an militärischer Zurückhaltung wünschen. Es wäresicherlich klug, nicht auf jede Provokation entsprechendzu reagieren. Aber, um es noch einmal deutlich zu sagen:Nicht die militärischen Reaktionen der Türkei haben dieAuseinandersetzungen um Syrien verschärft, sonderndie Bombardements Tausender Zivilisten durch syrischeMachthaber und ihre Schutzmächte.
Wir dürfen auch nicht übersehen, dass die Türkei als un-ser NATO-Partner offenkundiges Ziel einer russischenDestabilisierungsstrategie geworden ist.
Das gilt für die regelmäßigen Verletzungen des türki-schen Luftraums, aber auch für die Unterstützung derPYD.
Auf der Münchener Sicherheitskonferenz hat Minis-terpräsident Medwedew beklagt, wirtschaftliche Sankti-onen seien eine willkürliche Verletzung internationalenRechts. Gilt das dann nicht auch für die russischen Wirt-schaftssanktionen gegen die Türkei?Ein weiterer Schritt der russischen Provokationsstra-tegie gegenüber der Türkei wird ja derzeit in der Dumavorbereitet. Abgeordnete wollen den bald 100 Jahre altenVertrag von Kars, der die Grenzen zwischen der Türkei,Armenien und Georgien regelt, für nichtig erklären. So-mit wird die territoriale Integrität der Türkei auch an ei-ner weiteren Stelle infrage gestellt – nicht nur im Südenund Osten, sondern auch im Norden des Landes.Mit der heutigen Themenstellung wird von der Linkenja erneut versucht, den Eindruck zu erwecken, als sei dieTürkei für die Eskalation der militärischen Lage verant-wortlich.
Auch wenn Sie hier mittlerweile fast im Wochenrhyth-mus die entsprechende parlamentarische Begleitmusikliefern: Es wird Ihnen nicht gelingen, den DeutschenBundestag oder die deutsche Öffentlichkeit über die
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wahren Verantwortlichkeiten der Tragödie in Syrien zutäuschen.
Vielen Dank.
Als nächste Rednerin hat Sevim Dağdelen von der
Fraktion Die Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wirstehen aktuell vor einer neuen brandgefährlichen inter-nationalen Eskalation der Lage in Syrien. Manche spre-chen von einer seit dem Ende des Kalten Krieges nichtgekannten Zuspitzung.Mit dem türkischen Beschuss syrischer Kurden drohtder türkische Präsident Erdogan, den Krieg in Syrien undin der Region weiter auszuweiten. Der türkische Präsi-dent will die NATO und auch Deutschland in einen Krieggegen Russland verwickeln,
um unter anderem einen Zusammenschluss der Kanto-ne der syrischen Kurden in Rojava zu verhindern. Undwas macht die Bundesregierung? Ich frage mich: Warumverurteilt die Bundesregierung diesen türkischen Völker-rechtsbruch nicht klar und deutlich?
Ist Ihnen Ihr Bündnis mit Erdogan zur Flüchtlingsab-wehr so wichtig, dass Sie selbst zum Weltkriegsroulette Erdogans schweigen wollen?Die Bundesregierung redet in puncto Syrien immerwieder von moderaten Rebellen; wir haben es heute hierauch noch einmal erfahren. Auf die Fragen der Links-fraktion hin, wer die denn seien, kommt keine Antwortdieser Bundesregierung. Die Bundesregierung weißnämlich nicht, sagt sie, wer moderat ist und wer nicht.
Deshalb möchte ich die Gruppen, die von der Türkei imsyrischen Bürgerkrieg in der aktuellen Situation und inder aktuellen Auseinandersetzung unterstützt werden, imEinzelnen benennen.Da wäre zum einen die Al-Nusra-Front. DieseDschihadisten sind der syrische Ableger der al-Qaida,also der islamistischen Terrororganisation, deren FührerOsama Bin Laden war und derentwegen die USA vor15 Jahren den weltweiten Krieg gegen den Terror be-gonnen haben, meine Damen und Herren – eine Gruppe,die in Sachen Terror und Kopf-ab-Islam mit den barbari-schen Grausamkeiten des IS konkurriert.Dann gibt es noch die Ahrar al-Scham, eine islamisti-sche Terrorgruppe, über die der Bundesnachrichtendienstberichtet, sie werde von der türkischen Regierung mitWaffen beliefert, eine islamistische Terrororganisation,die im Mai letzten Jahres vom Bundesgerichtshof hier inDeutschland als eine islamistische terroristische Vereini-gung beurteilt und eingestuft wurde. Ahrar al-Scham istbesonders durch ihre Massenmorde an den alevitischenMinderheiten in Syrien berüchtigt, wie Human RightsWatch berichtet.Wenn Sie von der Union und auch Sie von der SPDsich die Unterstützung dieser islamistischen Terrorban-den durch ihren Verbündeten, die Türkei – die türkischeRegierung, ihr Partner, meine Damen und Herren! –, vorAugen führen, muss Ihnen das doch zumindest zu den-ken geben, ob Ihr Pakt mit Erdogan der richtige Weg ist,um den Menschen in der Region dort zu helfen.
Erdogan und auch Davutoglu geht es allein darum,die Vernichtungspolitik der islamistischen Terrorbandengegen die Kurden und andere Minderheiten in Syrien zuunterstützen, und Sie liefern weiter deutsche Waffen, mitdenen tagtäglich Kurden in der Türkei und in Syrien vontürkischen Sicherheitskräften oder eben von islamisti-schen Terrorhelfern Erdogans ermordet und massakriertwerden.In diesem Moment, in dem wir hier sitzen und debat-tieren, schießen türkische Panzerhaubitzen T-155 Fırtınaauf syrische Kurden. Eingebaut in diese Kriegsmaschine-rie ist auch ein Motor der Firma MTU aus Friedrichsha-fen, und die deutsche Außenpolitik begleitet diese Rüs-tungsexportpolitik recht freundlich. Ich finde, das ist eineSchande für die deutsche Außenpolitik, meine Damenund Herren.
Deshalb fordern wir Sie auf: Beenden Sie Ihr verbre-cherisches Bündnis mit Erdogan. Ja, es ist ein verbreche-risches Bündnis, weil Sie diejenigen unterstützen, die inSyrien den Terror auch in die kurdischen Gebiete tragen.Ich mache hier wirklich keinen Hehl daraus:
Mein Herz schlägt für die mutigen Frauen und auchMänner, die sich dort mit Leib und Leben dem islamis-tischen Terror entgegenstellen. Meine Solidarität gehörtden kurdischen Frauenbataillonen, die ihr Leben und dieFreiheit gegen die reaktionären Schergen verteidigen,die von der Türkei und von Saudi-Arabien hochgerüstetwerden, welche wiederum von Ihnen, meine Damen undHerren, hochgerüstet werden.Jetzt hat sich die Bundeskanzlerin auch noch dazuverleiten lassen, eine Flugverbotszone, also das, was dertürkische Präsident Erdogan schon seit Jahren fordert, zufordern. Ich frage mich wirklich: Reicht Ihnen die Flug-Dr. Andreas Nick
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verbotszone in Libyen nicht, wo es zu Zehntausenden To-ten gekommen ist und wo der IS fast schon den größtenTeil der Mittelmeerküste dieses Landes kontrolliert? Ha-ben Sie denn überhaupt keine Konsequenzen aus dieserfalschen Politik der Flugverbotszone in Libyen gezogen?
Ich frage mich zudem, warum Sie hier die Bombardie-rungen der Russen kritisieren, aber die der NATO-Staa-ten und Saudi-Arabiens und der Türkei mit unterstützen.Wir als Linke sagen: Bomben schaffen keinen Frieden –nicht russische, aber eben auch nicht die Bomben derUSA oder dieser Koalition der Willigen.
Wir brauchen, meine Damen und Herren, einen so-fortigen Waffenstillstand in Syrien – und das ohne Vor-bedingungen. Wenn Sie tatsächlich unter Beweis stellenwollen, dass Sie auch einen Frieden in der Region undin Syrien wollen, dann setzen Sie sich dafür ein, dass diebisher effektivste Kraft gegen die Barbaren des IS amBoden, nämlich die Kurden, auch am Verhandlungstischsitzen und an den Verhandlungen teilnehmen können.Vielen Dank.
Als nächste Rednerin hat Michelle Müntefering von
der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst ges-tern habe ich mit Koordinatoren der humanitären Hilfe inSyrien gesprochen. Sie hatten die ganze Nacht nicht ge-schlafen und waren sichtlich verzweifelt, weil vorgesternwieder Krankenhäuser und auch Schulen bombardiertworden sind, wobei auch Ärzte und Krankenschwesterngetötet wurden. Nach ihrer Auskunft gibt es jetzt schonzu wenig Menschen im Land, die Hilfe leisten können.Viele von ihnen fürchten selbst um Leib und Leben undfliehen. Wie dramatisch die humanitäre Lage in Syrienist, davon zeugt auch die Verzweiflung dieser beiden Hel-fer.Ganz entscheidend in dieser Situation ist, dass sienicht weiter eskaliert, dass die unterschiedlichen Akteurenun deeskalieren, anstatt sich auf eigene Faust militä-risch noch intensiver am Konflikt zu beteiligen. Das giltnatürlich auch für die Türkei. Es reicht aber nicht, dasvon europäischer Seite einfach zu fordern. Es bedarf kon-struktiver und lösungsorientierter Zusammenarbeit mitunserem türkischen Nachbarn, mit unserem türkischenPartner, anstatt widersprüchliche Signale zu senden.
Als Außenpolitikerin muss man ja immer bemühtsein, die Welt durch unterschiedliche Brillen, aus unter-schiedlichen Sichtweisen zu betrachten. Aus Sicht derTürkei ist eben die Politik der EU zumindest auch das:widersprüchlich. Immer wieder wurde die Türkei vonPolitikerinnen und Politikern, auch aus Deutschland,dafür kritisiert, dass sie die über 900 Kilometer langeGrenze zu Syrien zu durchlässig für Terroristen gemachthat. Zu selten wurde erwähnt, dass diese offenen Gren-zen der Türkei auch dazu gedient haben, über 2 Millio-nen Menschen ins Land zu lassen, mehr als die gesamteEuropäische Union aufgenommen hat. Die EU hat nun3 Milliarden Euro an Hilfe versprochen. Davon ist abernoch kein Cent geflossen. Unterdessen sind in der Tür-kei seit 2011 150 000 Kinder von syrischen Flüchtlingengeboren worden. Wir sprechen – so ist mein Eindruck –immer von diesen Menschen, als sei es eine Masse. Aberdas ist keine Masse. Das sind Menschen.Die Türkei hat nun die Grenzen geschlossen. Wir se-hen, wie sich eine neue, zusätzliche humanitäre Kata-strophe auf syrischer Seite abspielt. Nach Aleppo geratennoch einmal eine halbe Million Menschen in Not. DieTürkei hilft auch hier wieder. Es wurden provisorischeUnterkünfte errichtet. Auch auf türkischer Seite werdendie Anstrengungen verstärkt, Aufenthaltsräume zu schaf-fen. Das ist nichts Neues; das geschieht schon länger.Aber jetzt kommt noch einmal eine neue Dimension hin-zu. Es ist gut, dass das Auswärtige Amt reagiert und dieHilfe des THW angeboten hat.Sehr verehrte Damen und Herren, die Türkei hat einessenzielles sicherheitspolitisches Interesse in Syrien.Dafür soll der 90 Kilometer lange Korridor dienen, denAnkara nun bombardiert, damit die YPG, die syrischenKurden, ihn nicht einnehmen. Dieses Interesse der Tür-kei wird uns immer wieder vorgetragen, vielleicht auchvor dem Hintergrund der Frage: Was passiert, wenn Syri-en und der Irak zerfallen und die Grenzen des Sykes-Pi-cot-Abkommens nicht mehr gelten? Sind dann auch dietürkischen Grenzen wieder verhandelbar?Liebe Kolleginnen und Kollegen, das rechtfertigt die-se Bombardements keineswegs. Um es klar zu sagen: Ichfinde sie nicht richtig; denn es wird weder militärischerfolgreich sein, der YPG den Weg aus der Luft abzu-schneiden, noch wird es zu einer Deeskalation beitragen,die wir so dringend brauchen. Vielmehr kann es auchden Konflikt mit Russland befeuern. Aber derzeit werdendie Verhältnisse am Boden komplizierter. Die moderateOpposition ist geschwächt und zerfasert, anstatt sich ge-schlossen gegen Assad und den IS zur Wehr zu setzen.Kein Akteur sollte in so einer Lage eigene Interessen inden Vordergrund stellen, sondern alle sollten an einemgemeinsamen politischen Prozess konstruktiv mitarbei-ten. Entgrenzung der Mittel dürfen wir dabei nicht hin-nehmen. Deswegen sind Frank-Walter Steinmeier unddie Bundesregierung auf dem richtigen Weg. Das, wasdie Menschen in den Städten und Dörfern jetzt brauchen,sind Hilfe, Medizin, Nahrung und Schutz.Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Siemich noch einen Punkt aus meinem gestrigen Gesprächmit den Helfern in das Hohe Haus tragen. Die junge Ge-neration in Syrien radikalisiert sich mehr und mehr, weilsie Hilflosigkeit spürt und immer öfter vor der Alternati-ve steht: Assad oder „Islamischer Staat“. Ich frage mich:Was geschieht mit dieser Generation, die zwischen denSevim Dağdelen
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Fronten zerrieben wird, die keine Sicherheit, keine Per-spektive, keine Arbeit hat? Was passiert, wenn die Situ-ation noch weitere Jahre so bleibt? Wir müssen helfen,diese Entwicklung umzukehren und Frieden zu schaffen.Und dafür müssen als Erstes die Waffen schweigen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Claudia Rothvon der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Gerade erreicht uns die Nachricht – Sie haben es sicherauch gehört –, dass es in Ankara eine schwere Explosi-on gegeben hat. Das ist eine schreckliche Entwicklung.Diese schreckliche Gewalttat zeigt, dass die Blutspur vonSuruc, Diyarbakir und Istanbul jetzt in Ankara angekom-men ist. Ich glaube, wir alle hoffen, dass es bei dieserGewalttat möglichst wenig Verletzte gegeben hat.Wenn wir in diesen Tagen nach Syrien schauen, dannblicken wir immer tiefer in einen Abgrund aus Gewalt,Vertreibung und Elend. Doch während die internationaleGemeinschaft in Wien und München versucht, auf diplo-matischem Weg eine Lösung oder zumindest eine Waf-fenruhe in Syrien zu erreichen, wird diese internationaleGemeinschaft gleichzeitig auch immer stärker Teil derkriegerischen Auseinandersetzungen.In Syrien geht es doch längst nicht mehr um einenBürgerkrieg, in dem um die zukünftige Ausrichtungdes Landes gekämpft wird, also um die Frage, ob die-se demokratisch, islamistisch oder despotisch sein soll.Vielmehr haben wir es in Syrien längst und jeden Tagmehr mit einem Stellvertreterkrieg zu tun, in dem es umdie regionale Herrschaft zwischen dem Iran, der Türkeiund Saudi-Arabien geht, aber auch immer mehr um eineglobale Dimension mit dem Eintritt Russland als aktive,aggressive Kriegspartei an der Seite Assads und mit dendurchaus zweifelhaften Bündnissen und Bündnispart-nern vieler westlicher Staaten.Vor ein paar Tagen wurde eine Waffenruhe in Syri-en für Ende dieser Woche vereinbart: ein ganz kleinesZeichen der Hoffnung in einem fürchterlichen, seit fünfJahren dauernden Krieg. Doch was wir seitdem erleben,ist nicht etwa ein Abebben der Kämpfe, die Versorgungder Eingeschlossenen und Hilfe für die Geflüchteten,sondern wir erleben eine weitere brutale Eskalation derGewalt und eine stetige Verschlimmerung der humani-tären Lage, die sich mehr und mehr auch auf den Irakausweitet.Die Kämpfe um Aleppo haben noch einmal an In-tensität zugenommen und Tausende von Menschen zuFlüchtlingen gemacht. Erst vor wenigen Tagen wurdenSchulen und Kliniken bombardiert und damit gezielt dieZivilgesellschaft ins Visier genommen. Seit fünf Tagengreift nun auch die Türkei aus der Luft massiv Stellungender Kurden in Syrien an. Ich werde mich daher jetzt mitder Rolle der Türkei beschäftigen.Die Politik der Bundesregierung, die sich mit hohemEngagement diplomatisch um eine Befriedung der Lagein Syrien bemüht, gerät hier in eine Sackgasse. Sie hatsich in der Flüchtlingsfrage gegenüber der Türkei in eineso fatale Abhängigkeit manövriert, dass sie jetzt daraufverzichtet, die massive Eskalation des Krieges auch – ichsage: auch – durch das Vorgehen der türkischen Regie-rung zu kritisieren. Man hat den Eindruck, es wird defacto hingenommen. Es zeigt sich, wie verheerend es ist,wenn Außenpolitik zum Instrument einer unter Druckgeratenen Innenpolitik wird und ihr dadurch der Kom-pass für die Werteorientierung verloren geht.
Wenn man die Lösung der Flüchtlingskrise in dieHände eines Staatschefs wie Erdogan gibt, der vor eini-gen Tagen offen zugegeben hat, dass es ihm vor allem umdie „Bekämpfung des säkularen Terrorismus“ geht – da-mit meint er natürlich die kurdische Opposition; es gehtgerade nicht um die Bekämpfung von Daesh, um die eseigentlich gehen müsste –, dann ist das genau das Gegen-teil von dem, was das erklärte Ziel der Bundesregierungbzw. unser Ziel ist.Die fatale Strategie des NATO-Partners ist es, Schutz-zonen in Syrien zu errichten, die, lieber Dr. Nick, nichtsanderes wären als – das ist die Angst der Kurden – großeHaftlager für Flüchtlinge auf syrischem Gebiet. Strategieist, die Grenze zwischen der Türkei und Syrien geschlos-sen zu halten, wodurch doch heute schon ZehntausendenMenschen die Flucht in sicheres Gebiet gar nicht mehrmöglich ist. Sie können nicht mehr sicher sein.Außerdem geht es Erdogan ganz offensichtlich da-rum, den Kampf gegen die kurdische Zivilbevölkerung –nichts anderes ist das, was wir in den kurdischen Städtenin der Türkei erleben – jetzt auch auf kurdische Gebietein Syrien auszuweiten.
Mit massiven Bombardements und mit dem gefähr-lichen Gedankenspiel über den Einsatz türkischer Bo-dentruppen eskaliert auch – ich sage immer: auch – derNATO-Partner Türkei diesen Krieg weiter.Ich sage Ihnen: Es ist ein Armutszeugnis, wenn nunvon denen, die immer gegen eine geordnete und men-schenrechtsgeleitete Annäherung an die Türkei waren –darüber haben wir jahrelang gestritten –, fast kleinlautdie Politik Erdogans hingenommen wird, und zwar zu ei-nem Zeitpunkt, wo dieser innen- und außenpolitisch dieautoritären Daumenschrauben anzieht wie nie zuvor. Ichhabe von Ihnen kein Wort zur Zerstörung der christlichenKirchen in Diyarbakir gehört. Das, was dort passiert ist,ist ein richtiges Verbrechen. Warum sind Sie da so still?Warum sind Sie da so leise?
Michelle Müntefering
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Ich habe sehr bedauert, dass Angela Merkel, als sie inder Türkei war, sinngemäß gesagt hat, jedes Land habedas Recht, gegen Terroristen im eigenen Land vorzuge-hen. Mit Verlaub, das war eins zu eins das, was die tür-kische Regierung in ihrem Sprech vorgibt. Ich sage: Ver-antwortliche Politik wäre, endlich deutliche Kritik aucham brandgefährlichen türkischen Vorgehen zu üben, umeine weitere Eskalation des Krieges zu verhindern.
Das erwarte ich von der Bundesregierung.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Dr. Johann
Wadephul von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau KolleginRoth, das lädt wirklich zur Debatte ein. So soll es auchsein. Weil sonst über vieles in diesem Haus in diesem Zu-sammenhang Konsens besteht – mit Ausnahme einigerPositionen, die die Linksfraktion einnimmt –, will ich aufdie Türkei eingehen. Wir als Unionsfraktion jedenfallsfinden uns in der eigentümlichen Rolle wieder, dass wirin den Debatten zum Teil als Verteidiger oder als Verste-her der Türkei auftreten müssen.
– Die Welt ist ein bisschen komplizierter, als Sie von derLinksfraktion das darstellen. Das haben wir heute aufschreckliche Art und Weise wieder einmal erfahren.
Frau Kollegin Roth, als Sie – das richte ich nicht nuran die Adresse der Grünen, sondern auch an die Adresseunseres verehrten Koalitionspartners – uns damals, alses in Europa wohlfeil war, aufgefordert haben, für dieVollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Unioneinzutreten, war es Angela Merkel, die nach Ankara ge-fahren ist und gesagt hat: Das können wir uns nicht vor-stellen. – Es wäre damals einfach gewesen, nachzugebenund zu sagen: Das ist eine tolle Türkei; sie passt mit ihrenWertvorstellungen und ihrer Politik in die EuropäischeUnion.
Aber nein, die Union hat eine klare Linie beibehalten:Die Türkei ist ein Partner, aber kein Land, das nach un-seren Wertvorstellungen Vollmitglied in der EU werdenkann. Klare Linie damals wie heute!
Herr Kollege Nouripour, Sie wachen aus einemträumerischen Schlaf auf. Darunter leiden Sie, und dieSchmerzen verarbeiten Sie nun verbal im Plenum.
Aber wir haben immer einen realistischen Blick auf dieTürkei gehabt. Wir haben uns nie die Illusion gemacht,dass die Türkei die Werte der Europäischen Union vollteilen würde. Deswegen artikulieren wir – die Bundes-kanzlerin hat das heute von diesem Rednerpult aus ge-sagt – auch die vorhandenen Probleme.Sie haben darauf hingewiesen, dass diejenigen, die ausAleppo geflohen sind, nun auf syrischem Gebiet verfolgtwerden. Die Vorsitzende des Auswärtigen Ausschussesin der Assemblée nationale hat uns heute darauf hinge-wiesen, dass die Republik Frankreich bereits sage undschreibe 60 Flüchtlinge im Rahmen des Kontingents auf-genommen hat. Ich halte es vor diesem Hintergrund fürwohlfeil, aus europäischer Sicht die Türkei, die 2,5 Mil-lionen Flüchtlinge aufgenommen hat, zu kritisieren. Dasist der Situation und dem Engagement der Türkei nichtangemessen. Da sollten wir uns ein wenig zurückhalten.
Es ist doch unverkennbar – ob die Linksfraktion da-rauf absichtlich oder unabsichtlich hereinfällt, lasse icheinmal dahingestellt –, dass Moskau in der jetzigen Si-tuation jede Chance nutzt, einen Keil zwischen demNATO-Partner Türkei und anderen NATO-Mitgliedernzu treiben. Kollege Gehrcke, Sie haben das erkannt. Wirwerden auf jeden Fall nicht darauf hereinfallen, weil wirbei aller Kritik, die wir an der Türkei üben, natürlichwissen, dass die Türkei in schwierigen Zeiten wie diesenein wichtiger NATO-Partner ist. Das können wir in einersolchen Situation nicht einfach infrage stellen. Zu dieserPartnerschaft und den Verträgen stehen wir.
Dazu gehört natürlich, dass wir uns jetzt auch dieFrage stellen: Warum gibt es diese türkische Reaktion?Wir stimmen doch vollkommen darin überein: Niemandmöchte eine militärische Antwort der Türkei, wie siehier beschrieben worden ist. Das ist doch vollkommenunstreitig. Aber es ist eine Reaktion der Türkei darauf,dass die YPG in Regionen vordringt, die die Türkei alsInteressenssphäre definiert.
– Ich stelle es doch nur so dar, wie es ist. Ich legitimieredas nicht. Man muss es aber verstehen.Die Kollegen der Linksfraktion sind bei dem Ukrai-ne-Konflikt nicht müde geworden, uns vorzuhalten, wel-che Interessen Russland in seinem Vorfeld hätte, die esmilitärisch auf noch sehr viel rigorosere Art und WeiseVizepräsidentin Claudia Roth
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auf der Krim und in der Ostukraine durchgesetzt hat. Ichhalte Ihnen vor: Da hatten Sie jedes Verständnis für rus-sische Interessen. Wenn die Türkei jetzt irgendein Inte-resse in ihrem Vorfeld artikuliert, dann haben Sie dafürgar kein Verständnis. Das ist eine zwiespältige Position,die nicht trägt und die zeigt, dass Ihre Position insgesamtnicht konsistent ist.Das Einzige, was wir in dieser schrecklichen Situati-on verantwortungsvoll machen können, ist das, was dieBundeskanzlerin auf dem Gipfel in London getan hat,nämlich dafür zu sorgen, dass wir hinreichend finanzi-elle Mittel zur Verfügung haben, um den geschundenenMenschen zu helfen. Ich denke, das ist das Wertvollste,was im Sinne der Menschlichkeit in den letzten zwei Wo-chen geschehen ist. Dafür gilt der Bundeskanzlerin unserDank.Vielen Dank.
Als nächster Redner hat Frank Schwabe von der
SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es ist schon ein paarmal angesprochen worden, aber auchich will es noch einmal sagen. Auf der einen Seite binich froh darüber, dass wir miteinander über ein wichtigesThema reden. Auf der anderen Seite legen Sie den Fokusnur auf eine in der Tat durchaus problematische Entwick-lung und verengen damit das Problem. Ich finde schon,dass man anlässlich des Bombardements Russlands undder dramatischen Folgen, die das bewirkt, auch einen an-deren Titel für die Aktuelle Stunde hätte wählen können.
Es ist gut, dass über dieses Thema geredet wird. Aberwenn Sie von schwerwiegenden Situationen reden, dannmuss man zunächst einmal das erwähnen, was Russlandin Aleppo veranstaltet.Ein Problem der außenpolitischen, entwicklungspo-litischen und menschenrechtspolitischen Debatte welt-weit, aber auch generell hier im Hause – das will ichals Menschenrechtspolitiker sagen – ist das Rosinenhe-rauspicken, auch wenn Sie gerade Russland für die Bom-benangriffe kritisiert haben. Das passiert leider allzu oft.So werden bestimmte Dinge in der internationalen Aus-einandersetzung zumindest nicht hinreichend beleuchtet.Der Konflikt in Syrien ist hochkomplex. Ich weißgar nicht, wer von sich behaupten kann, das Ganze eini-germaßen umfassend zu verstehen. Aber wir sehen dasmenschliche Leid. Einige von uns – ich muss einmal indie Reihen gucken – kommen gerade aus einer Anhörungdes Menschenrechtsausschusses mit 14 Organisationenzur Situation der humanitären Hilfe, in der wir uns nocheinmal haben schildern lassen, wie dramatisch die Situa-tion eigentlich ist: Es gibt 250 000 bis 500 000 Tote – dagibt es mittlerweile unterschiedliche Schätzungen – undknapp 2 Millionen Verletzte. Das heißt, über 10 Prozentder Bevölkerung Syriens sind entweder tot oder verletzt.Wir haben 13 bis 14 Millionen Vertriebene oder Men-schen, die auf Hilfe angewiesen sind, davon 5 Millionenaußerhalb und 7 Millionen innerhalb des Landes.Frappierend finde ich – da wird noch einmal deut-lich, wie dramatisch die Lage ist – die Entwicklung derLebenserwartung. In Syrien lag die Lebenserwartungim Jahr 2010 bei 70 Jahren, im letzten Jahr lag sie bei55 Jahren. Daran sieht man, was in fünf Jahren Dramati-sches passiert ist. Auch wenn wir hier nicht die Debattevon heute Mittag führen, müssen wir doch sehen, dassdas die Realität ist, vor der wir unsere europäische unddeutsche Flüchtlingspolitik diskutieren müssen. Das istwirklich eine Bewährungsprobe für unser Wertekorsett,wahrscheinlich die größte Bewährungsprobe seit demZweiten Weltkrieg.Das Leid – das muss gesagt werden – wird in derHauptsache durch den syrischen Machthaber Assad undaktuell leider durch die massiven russischen Luftangriffeverursacht. Es ist gut, dass die russischen Luftangriffe –so habe ich das verstanden – über die Fraktionsgrenzenhinweg im Deutschen Bundestag kritisiert werden.Russland muss sich an das humanitäre Völkerrechthalten, und jeder Versuch, zivile oder nichtmilitärischeEinrichtungen zu zerstören oder Vertreibungen durchAushungern oder durch die Hinnahme von Aushungernzu organisieren, ist unerträglich und muss internationalgebrandmarkt werden.
Bezüglich der Türkei gibt es, glaube ich – das wirdunterschiedlich akzentuiert –, eine relativ hohe Überein-stimmung hier in diesem Haus, nämlich dass die Türkeieine durchaus ambivalente Rolle spielt. Auf der einenSeite würdigen wir die große Aufnahmebereitschaft unddanken für die Dialogbereitschaft, die sicherlich ein zen-trales Momentum auch in der innenpolitischen und dereuropapolitischen Debatte ist, auf der anderen Seite gibtes problematische Entwicklungen in der Türkei im Be-reich der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und derMenschenrechte. Das steht ein bisschen im Schatten derSyrien-Krise. Es gibt auch eine massive Verschärfungdes Konflikts mit Kurden in der Türkei, aber auch mitKurden in Syrien und anderen Ländern.Es gibt noch etwas, was mir wirklich Sorge bereitet.Ich habe vor einem Jahr gedacht, dass mir eigentlich ammeisten Sorge bereitet, dass Erdogan und Putin ähnlicheTypen sind. Ich dachte: Menschenskinder, wenn die zu-sammen agieren – man sieht, dass sie im Inland sehr ähn-lich gegen Menschenrechtsorganisationen vorgehen –,dann ist das das größte Problem. Ich habe mittlerweileden Eindruck, dass es viel problematischer ist, dass diesebeiden Personen und ihre Länder gegeneinander agierenund dass eine Auseinandersetzung bevorstehen könnte.Ich mag mir nicht ausmalen, welche Auswirkungen dashaben könnte.Dr. Johann Wadephul
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Deswegen sind wir uns einig darin, dass wir verhin-dern müssen, dass es zu einer solchen Auseinanderset-zung kommt, und dass wir das bei all den politischenDingen berücksichtigen müssen, die wir gut und richtigfinden. Ich halte Schutzzonen zum Beispiel für richtig.Ich finde es aber falsch, wenn wir sie als strategischesMittel einsetzen würden und ihre Einrichtung zu weite-ren Konflikten führen würde.Zum Schluss will ich noch etwas sagen. Wir solltengemeinsam mäßigend auf die syrischen Kurden einwir-ken. Es macht keinen Sinn, wenn im Zuge des aktuellenKonflikts versucht wird, dort strategische Ziele zu errei-chen. Da gibt es sicherlich einen Einfluss, den der Westenhat, den die Vereinigten Staaten haben, den aber auch dieLinke hat. Vielleicht sollte man den syrischen Kurdeneinmal sagen: Überlegt noch einmal, ob ihr in dieser Si-tuation den Konflikt noch weiter verschärfen wollt.Ich glaube, dass der Außenminister alles tut, um inGesprächen und Verhandlungen zu einer friedlichen Lö-sung zu kommen. Es wäre gut, wenn das Haus ihn in allerBreite dabei unterstützt.
Als nächster Redner hat Roderich Kiesewetter von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn wir dieDebatte der letzten Stunde betrachten, so können wir eineZweiteilung sehen: auf der einen Seite eine erheblicheemotionale Betroffenheit wegen toter Kinder, zerstörterKrankenhäuser und Millionen Menschen auf der Flucht,auf der anderen Seite bleierne Nüchternheit, großes Ent-setzen über die Art und Weise, wie dort vor Ort Machtpo-litik ausgestaltet wird.Wir Deutsche kommentieren nicht nur, sondern wirversuchen, durch vielfältige diplomatische Vermittlun-gen zu helfen, nicht nur in den Prozessen in Wien oder inGenf, sondern auch, gerade in der letzten Woche, was dieFlüchtlingsrückführung oder auch die Flüchtlingsvertei-lung mit Blick auf Griechenland und die Türkei angeht.All dies zusammen darf den Blick nicht verstellen,dass wir auch vor Herausforderungen stehen, was dieTürkei angeht. Es geht nicht nur um nicht eingelösteinnenpolitische Versprechen in der Türkei, es geht auchnicht nur um die Sorge der Türken vor einer Destabili-sierung – ich erinnere an die fast bürgerkriegsähnlichenZustände im Südosten der Türkei –, mir macht auch dasVerhalten der Türkei mit Blick auf Libyen Sorge. Ichwürde mir da eine konstruktivere Rolle wünschen.
Dennoch darf uns das nicht den Blick darauf verstel-len, dass sich die Türkei Sorgen um den Bestand ihreseigenen Landes macht, der auch durch verschiedenekurdische Gruppen, durch kurdischen Terrorismus ge-fährdet ist. Ausnehmen möchte ich davon die kurdischeRegionalregierung im Nordirak. Aber die Gemengelageist so schwierig. Sie ist nun einmal so, dass sie uns zurPositionierung zwingt. Auf der anderen Seite können wires nicht zulassen, dass Russland die Türkei und auch unspermanent provoziert und ein Vakuum in Syrien und imIrak ausfüllt, das wir, der Westen, zu füllen nicht bereitsind. Auch das dürfen wir nicht vergessen.Ich glaube, dass es ganz entscheidend ist, dass wir dieTürkei in bestimmten Bereichen stärken. Die Türkei istseit 1952 NATO-Mitglied und damit länger als Deutsch-land. Wir sollten die Türkei dort unterstützen, wo sie beider Unterstützung der kurdischen Regionalregierung imNorden Iraks hilfreich ist, und auch dort, wo sie einegroße Last für Europa übernimmt. Die Türkei mit einemDrittel der Wirtschaftskraft Deutschlands nimmt doppeltso viele Flüchtlinge auf. Das verdient nicht nur Anerken-nung, sondern auch langjährige Unterstützung, nicht nurdurch Deutschland, sondern auch durch die EuropäischeUnion.
Der Blick in die Region zeigt aber auch, dass durchdas Vorgehen der USA seinerzeit 2003 im Irak und dieFolgewirkungen, die wir bis heute zu tragen haben undan denen die USA – das darf ich als überzeugter Transat-lantiker sagen – leiden, ein Vakuum entstanden ist, dasnunmehr durch eine wesentlich agilere saudische Vor-gehensweise ausgefüllt wird, die wir noch nicht richtigeinordnen können, aber die wir sehr deutlich als einenMachtfaktor wahrnehmen. Hinzu kommt, dass der Iranim Hintergrund, im Schatten Russlands agiert und dieschiitischen Milizen unterstützt und auch durch die ent-frorenen Gelder aufgrund der aufgehobenen Sanktionenmehr Mittel zur Unterstützung von Konflikten und Auf-ständen in der Nachbarschaft zur Verfügung hat.Es geht natürlich auch um die Rolle, die wir als Eu-ropäische Union wahrnehmen müssen. Dazu muss icheindeutig sagen: Die Bemühungen der Bundesrepublikdurch den Außenminister, durch die Verteidigungsmi-nisterin und vor allem durch die Bundeskanzlerin in denletzten Wochen waren äußerst konstruktiv. Wenn wir andie Unterstützung der Peschmerga denken, wenn wiran die Einbeziehung von AWACS denken, wenn wir andie Verhandlungen zwischen Griechenland und der Tür-kei denken und wenn wir an die letzten Verhandlungenin München mit dem Versuch denken, möglichst rascheinen Waffenstillstand zustande zu bringen, dann wirddeutlich: Uns Deutschen liegt daran, eine diplomatischeLösung zu erreichen.Aber in der Europäischen Union streiten wir überdie interne Verteilung einer relativ geringen Anzahl vonFlüchtlingen – wir haben heute im Auswärtigen Aus-schuss einen interessanten Austausch mit den Kollegender französischen Nationalversammlung –; wir streitenum kleine Zahlen, statt dass wir uns als Europäer umdiese Region intensiver kümmern. Wir dürfen sie nichtRussland überlassen. Wir dürfen sie auch nicht dem Iranüberlassen oder dem Machtkampf zwischen SunnitenFrank Schwabe
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und Schiiten. Es ist ein ganz wichtiger Punkt, dass wiruns dort humanitär, politisch und, wenn es sein muss, ingewisser Weise auch militärisch engagieren.Ich befürchte, dass nur einige wenige Länder der Eu-ropäischen Union dazu bereit sind, während die anderendurch innenpolitische Probleme gebunden sind, und dasswir mittlerweile vor der Herausforderung stehen, einKind europäischer Einsatzbereitschaft zu zeugen, auchwenn es wahrscheinlich nie geboren wird, weil der feh-lende europäische Zusammenhalt dem entgegensteht.Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns nichtnur auf die Türkei schauen, sondern lassen Sie uns auchschauen, wie wir uns als deutsche Parlamentarier imRahmen einer europäisch verantwortlichen Sicherheits-politik stärker als Europäer in dieser Region einbringenund dies nicht Russland, dem Iran oder einer isoliertenTürkei überlassen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Als letzter Redner in der Debatte hat Alexander
Radwan von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Als Schlussredner darf ich jetzt alles zusammen-fassen; es wurde schon sehr viel gesagt. Lassen Sie michzuvor auf einige von Ihnen genannte Punkte kurz einge-hen.Ich habe bei dieser Debatte den Eindruck – das ist sehrverständlich –: Es schwingt sehr viel Wut und Hilflosig-keit angesichts der Situation in Aleppo mit. Ich verweiseauf die Schulen und die Krankenhäuser, die bombardiertwurden. Wir haben den Eindruck: Nach jeder Debatte,die wir hier geführt haben, nehmen die Hilflosigkeit unddas Chaos zu statt ab. Der Terror wird nicht weniger, dieZahl der Flüchtlinge wird nicht geringer, sondern dasspitzt sich immer weiter zu.Es gibt widerstrebende Interessen. Darum finde iches in dieser Debatte bemerkenswert, dass zumindest inden Redebeiträgen – ich werfe Ihnen nicht vor, nicht dif-ferenzieren zu können – eigentlich klar zum Ausdruckkommt: Einer ist schuld. In Syrien haben wir das Regimeund die Rebellen; relativ wenig wurde in der heutigenAktuellen Stunde über den Terrorismus und den IS ge-sprochen. Wir haben den Iran. Wir haben die Türkei. Wirhaben Saudi-Arabien. Wenn es um Gespräche mit diesendrei Staaten geht, komme ich nicht zu dem Schluss: Mitdem einen darf man nicht reden, mit dem anderen schon.
– Das klang vorhin bei Mitgliedern Ihrer Fraktion anders.Dann haben wir die USA, Russland und Europa. Esgeht um die Frage, wie der Kollege Roderich Kiesewettergerade gesagt hat, welche Rolle die EU zukünftig über-nimmt. Dazu haben wir die Situation, dass aktuell dieVorbereitungen dafür laufen – die Frage ist, ob es sokommen wird –, dass die Türkei die Aufgabe übernimmt,ein Stück weit gegenüber Syrien tätig zu werden. Dannhaben wir natürlich die Bedenken, Frau Roth: Wie wirktsich das auf die NATO aus? Es hat jedes Land eben seineeigenen Interessen.Ich glaube, es ist nicht falsch, wenn ich sage: In derAnalyse und in dem, was wir uns wünschen, haben wirhier großen Konsens. Wir wollen, dass der Krieg da untenendlich aufhört. Wir haben auch relativ schnell Konsens,wenn es darum geht, humanitäre Hilfe und finanzielleHilfen vorzubereiten und dort wirksam werden zu lassen.Aber bei der Diplomatie sieht das schon anders aus.Da hatten wir Gespräche in Wien und in Genf. Wir hattendas Gespräch in München. Dann haben wir es natürlichmit Zielen zu tun, die die Türkei national mit Blick aufdie Kurden verfolgt und die die Entwicklung in der Tür-kei betreffen. Es gibt die Gruppierungen im Iran, die indiesem Bereich ihre Interessen sehr stark vertreten. Russ-land ist zu nennen und jetzt auch Saudi-Arabien.Ich möchte etwas anregen. Wir sollten einmal darübernachdenken, wie wir einen wichtigen Player aus der sun-nitischen Welt, der in diesem Hause regelmäßig kritisiertwird – es geht um das bevölkerungsreichste Land in die-ser Region, nämlich Ägypten –, mehr in die Verantwor-tung nehmen können, wenn es darum geht, die Wogenzu glätten. Das Ziel muss ja sein, einen diplomatischenWeg zu finden, einen Interessenausgleich zu erreichen.Manche haben momentan das Gefühl, sie müssten dieChance nutzen, Fakten zu schaffen. Das verurteilen wiralle natürlich zutiefst.Es gab jetzt den Vorschlag einer Flugverbotszone; daunterstützen wir in der CDU/CSU-Fraktion die Kanz-lerin nachdrücklich. Es gab die Forderung nach einemWaffenstillstand. Es geht nicht darum, darüber zu disku-tieren, was wünschenswert ist oder wie wir die Türkeiund wie wir möglicherweise den Iran oder auch Sau-di-Arabien gern sehen würden. Wenn wir dieses Ziel ha-ben – es gibt keinen hier im Saal, der gegen einen Waf-fenstillstand ist –, dann ist aber die Frage: Wollen wir esbei Appellen belassen? Werden wir irgendwann einmaldie Debatte führen müssen: „Was ist unser Beitrag, umdieses Ziel zu erreichen?“? Sehen Sie es mir nach, wennich sage: Ich glaube nicht, dass allein der Appell aus die-sem Hause heute reichen wird, um einen Waffenstillstandzu bewirken. Um diese Diskussion drücken sich manchein diesem Haus herum.
Aufgrund unserer Verantwortung werden wir in Deutsch-land und Europa gemeinsam – ich hoffe, auch schnell –eine Debatte führen müssen, die zumindest erste Schrittebewirkt.Zum Thema Diplomatie möchte ich nur noch sagen:Ich bin der festen Überzeugung, dass sowohl der Außen-minister als auch die Kanzlerin in den Gesprächen mitRoderich Kiesewetter
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der Türkei, mit Saudi-Arabien und mit dem Iran deutlichzu verstehen gegeben haben, was sie von der Situationhalten. Aber, meine Damen und Herren, Diplomatie fin-det nicht auf der Frontpage der Bild-Zeitung statt.
– Ich hatte den Eindruck, dass man Ihrer Fraktion dasteilweise sagen muss; sonst würde ich es ja nicht sagen. –Ich habe auf jeden Fall das nötige Vertrauen.Ich finde es – abschließend – bemerkenswert, dass esausgerechnet die CDU und inzwischen auch die CSUsind, die dafür gerügt werden, dass sie, obwohl sie ge-gen den Beitritt der Türkei zur EU sind, mit der Türkeisprechen und natürlich auch mit Russland. Wir sprechenmit Russland,
wir sprechen mit dem Iran, und wir sprechen mit Saudi-Arabien. Sie wissen genauso gut wie ich: Das istdie Grundvoraussetzung für diplomatische Lösungen.
Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Aktuelle Stunde
ist beendet.
Wir sind damit auch am Schluss unserer heutigen Ta-
gesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 18. Februar 2016,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen einen
schönen Abend.