Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet .Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Siealle herzlich . Bevor wir in unsere Tagesordnung ein-treten, habe ich Ihnen eine amtliche Mitteilung vorzu-tragen . Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, vierUnterrichtungen der Bundesregierung zu Stellungnah-men des Bundesrates und die darauf bezogenen Ge-genäußerungen der Bundesregierung auf den Druck-sachen 18/6287, 18/6288, 18/6289 und 18/6292 zu denbereits überwiesenen Gesetzentwürfen auf den Drucksa-chen 18/5918 – Änderung des Unterhaltsrechts und desUnterhaltsverfahrensrechts –, 18/5921 – Verbesserungder Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländi-scher Kinder und Jugendlicher –, 18/5925 – Änderungdes Energieverbrauchskennzeichnungsgesetzes – und18/5927 – Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfsgeset-zes – an die entsprechenden federführenden und mitbe-ratenden Ausschüsse zu überweisen . Hat jemand nochoriginellere Vorschläge?
– Das habe ich mir fast gedacht . – Dann schließe ich da-raus, dass Sie mit diesen Überweisungsvorschlägen ein-verstanden sind . Sie sind damit so beschlossen .Dann kommen wir zu Tagesordnungspunkt 1:Abgabe einer Regierungserklärung durch denBundesminister des Auswärtigen70 Jahre Vereinte NationenHierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktio-nen der CDU/CSU und SPD, ein Entschließungsantragder Fraktion Die Linke sowie ein Entschließungsantragder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor .Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-rung 60 Minuten vorgesehen . – Auch das ist offensicht-lich einvernehmlich . Dann können wir so verfahren .Ich erteile das Wort zur Abgabe einer Regierungserklä-rung dem Bundesminister des Auswärtigen, Frank-Wal-ter Steinmeier .
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:Vielen Dank . – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Vereinten Nationen sind ein zugegebener-maßen nicht perfektes, aber unersetzliches Instrument fürdie gemeinsame Arbeit der Nationen an einer gerechte-ren und sichereren Weltordnung . – Dies sind nicht meineWorte, sondern die von Dag Hammarskjöld, Friedens-nobelpreisträger, bekannt für seine häufig philosophi-schen, manchmal geradezu mystischen Weisheiten . Aberdas, was wir hier über die Vereinten Nationen gehört ha-ben, sind absolut pragmatische Worte, die damals nichtnur eine Lagebeschreibung waren, sondern die, geradein dem Wissen um die Defizite der Vereinten Nationen,auch visionär waren .Heute, Jahrzehnte später, brauchen wir – das siehtjeder – die Vereinten Nationen mehr denn je im Bemü-hen um Frieden in dieser so unfriedlichen Zeit . Perfektwerden die Vereinten Nationen nie sein . Umso größermuss unser Ansporn sein, sie besser zu machen . Es gibtkeine Alternative; wir brauchen handlungsfähige Verein-te Nationen . Sie zu erhalten und immer wieder neu zuschaffen, dabei, meine Damen und Herren, sind wir allegefordert .
Wie unendlich groß der Bedarf an gemeinsamem Han-deln ist, war auf der diesjährigen Generalversammlungder Vereinten Nationen in New York vor wenigen Tagendeutlich zu spüren . „70 Jahre Vereinte Nationen“ – daswar die Überschrift . Aber es war keine Woche großerEmpfänge mit Feierstimmung, sondern sie war eher ge-prägt von den intensiven, ernsten, manchmal auch ver-zweifelten Verhandlungen . Das alles ist kein Wunder:Mehr als 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der
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Flucht – so viele wie seit Gründung der Vereinten Na-tionen, seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Sie flie-hen vor dem verheerenden Bürgerkrieg in Syrien, vorKonflikten und Gewalt im Krisenbogen von Libyen bisAfghanistan, vor religiösem Extremismus und Terroris-mus, vor Barbarei des sogenannten „Islamischen Staa-tes“ . Zusätzlich machen sich Tausende auf den Weg ausArmut, Unterentwicklung und Mangel an Perspektiven,zunehmend viele aus Ländern, die von Dürre, Fluten undanderen Folgen des Klimawandels heimgesucht sind .Kolleginnen und Kollegen, an den Antworten auf die-se Herausforderungen werden sich am Ende die VereintenNationen messen lassen müssen . Ja, unsere Antwortenmüssen die Probleme an der Wurzel packen . Die Wurzelist ganz ohne Zweifel Unfriedlichkeit an viel zu vielenOrten dieser Welt . Aber Frieden wird nicht durch dieVereinten Nationen verhindert . Bemühungen um Friedenscheitern oft deshalb, weil die Mitglieder der VN-Insti-tutionen den Vereinten Nationen durch Verweigerungvon Kooperation und monatelange Blockaden schlichtdie Arbeitsfähigkeit und Autorität rauben . Deshalb sageich immer all denjenigen, die sich täglich über die an-gebliche Schwäche der Vereinten Nationen aufregen unddarüber lamentieren: Nicht die Vereinten Nationen sindes, sondern es sind die Mitglieder; die Vereinten Nati-onen können niemals stärker sein, als die Mitglieder eszulassen . – Insofern muss unser Appell an die Mitgliederder Vereinten Nationen gehen, meine Damen und Herren .
Natürlich: Das Hauptthema dieser Generalversamm-lungswoche – das bildete sich auch in der Berichterstat-tung ab, die hier stattgefunden hat – war Syrien . Auch imfünften Jahr findet das Morden dort kein Ende, und auchim fünften Jahr des Krieges hat die Weltgemeinschaft of-fensichtlich noch keine Handhabe gefunden, dem Kriegein Ende zu setzen .Dieser Krieg mit mehr als 250 000 Toten und 12 Mil-lionen Vertriebenen ist auf der einen Seite ganz ohneZweifel eine große Tragödie . Er ist, wenn man es genau-er betrachtet, aber auch geprägt von einer Chronik ausge-lassener Chancen . Zwei Genfer Syrien-Konferenzen sindverstrichen, ohne dass wir eine Lösung gefunden haben .Ein Vorschlag des früheren UN-Vermittlers und -Sonder-gesandten Kofi Annan ist zurückgewiesen worden, bevorer wirklich ernsthaft geprüft worden ist – ein Vorschlag,auf den heute alle liebend gern zurückkämen, wenn dieseMöglichkeit noch bestünde . Der aktuelle Sondergesand-te der Vereinten Nationen, Staffan de Mistura, findet beivielen Staaten nur halbherzige Unterstützung .Ich darf für mich hinzufügen: Ein bisschen ärgerlichfinde ich den Ruf dieser Tage, der einem überall entge-genschallt, dass man mit Assad reden müsse . Nicht, dassich es falsch finde, auch mit Vertretern des Regimes inKontakt zu sein, um jetzt zu einer Lösung zu kommen –nur hätte ich mir diese Form von Unterstützung vor zehnJahren gewünscht, als ich selbst zweimal in Syrien warund gesagt habe: Die Einordnung Syriens in die Achsedes Bösen erscheint mir vorschnell . Ich weiß nicht, ob dieIsolation Syriens am Ende wirklich das richtige Ergebnisbringt . – Es ist manchmal ärgerlich, wenn diejenigen, diedamals gesagt haben: „Da darf man nicht hinfahren!“,heute, nach fünf Jahren Bürgerkrieg und 250 000 Toten,sagen: Jetzt muss man mit Assad reden . – Das hätte manauch anders haben können .
Tatsächlich – das will ich gerne zugeben – ist der Ein-stieg in politische Lösungen ausgesprochen schwierig . Erist ganz ohne Zweifel durch das militärische EngagementRusslands der letzten Tage nicht einfacher geworden . Ichwill noch einmal klar sagen: Der Kampf gegen ISIS undandere terroristisch-islamistische Gruppierungen ist not-wendig, er muss geführt werden . Aber trotzdem wissenbzw . ahnen wir doch alle miteinander: Am Ende wirdder innersyrische Konflikt nicht auf dem Schlachtfeldgelöst werden . Vielmehr brauchen wir mindestens einenEinstieg in eine politische Lösung oder mindestens einenEinstieg in eine Entschärfung des Konfliktes. Und daskann niemand allein; da brauchen wir alle . Da brauchenwir vor allen Dingen die regionalen Partner, die Nach-barn wie die Türkei, wie den Iran, wie Saudi-Arabien .Wir brauchen Europa . Wir brauchen die USA . Aberangesichts der Lage, insbesondere der Lage der letztenTage und Wochen, wissen wir auch: Es wird nicht ohneRussland gehen .Der Einstieg muss nicht irgendwann gesucht werden,sondern er muss jetzt gesucht werden, und zwar solan-ge in Syrien noch Institutionen bestehen, die verändertwerden können . Was passiert, wenn Institutionen wegsind, kollabiert sind, das zeigt das Beispiel Libyen . Wirerleben jeden Tag, wie schwierig es ist, einen unterge-gangenen Staat wieder aufzubauen . Deshalb müssen wirjetzt handeln. Wir müssen jetzt den Einstieg finden indie Transformation Syriens, sprich: in die Bildung einerÜbergangsregierung .Leider hat die UN-Vollversammlung in New Yorknicht ausgereicht, um den entscheidenden ersten Schrittzu gehen . Zu groß waren die Differenzen, die es damalszwischen den USA und Russland gab, zu groß waren dieDifferenzen zwischen Saudi-Arabien und dem Iran . Ichglaube, wir müssen jetzt beides tun: einerseits die USAund Russland dringend ermahnen, das jeweilige militäri-sche Engagement nicht so zu gebrauchen, dass am Endenoch ein Konflikt zwischen den USA und Russland dar-aus wird, und andererseits müssen wir uns darum bemü-hen, helfen jedenfalls, Brücken zu bauen zwischen demIran und Saudi-Arabien, damit es vorstellbar wird, dieregionalen Partner, die wir brauchen, alle an einen Tischzu bringen . Dazu war ich am vergangenen Wochenendein Kuwait, einem Staat in der Golfregion mit 35 ProzentSchiiten, der gute Beziehungen zu beiden Seiten hat .Dazu werde ich am kommenden Wochenende auch imIran und in Saudi-Arabien sein . Damit ist noch nicht ge-sagt, dass es irgendwelche Fortschritte gibt . Aber wennman nach kleinen Zeichen der Hoffnung sucht: Es istvielleicht ein gutes Zeichen, dass gestern Abend zu lesenwar, dass Russland den Ministerpräsidenten Medwedewzu politischen Gesprächen nach Washington schickt . Esscheint sich anzudeuten, dass man den Kontakt zu denBundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
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USA in Sachen Syrien über das sogenannte militärischeDeconflicting hinaus aufrechterhalten will.Ich plädiere dafür – das habe ich auch in der vorver-gangenen Woche bei den Vereinten Nationen getan –,jetzt keinen Stillstand zu organisieren, nicht zu warten,bis die Personen einer möglichen Übergangsregierungfeststehen und akzeptiert sind . Vielmehr muss man jetztbeginnen; das heißt, man muss sich auf ein paar Prinzi-pien verständigen, die nicht umstritten sein dürften: Dasist erstens der Kampf gegen ISIS und als Ziel unsererBemühungen vor allen Dingen der Erhalt der territoria-len Integrität des syrischen Staates . Zweitens müssen wirdafür sorgen, dass Syrien in Zukunft ein säkularer Staatwird, ein Staat, der – drittens – Respekt vor den unter-schiedlichen ethnischen und religiösen Gruppierungenzeigt .Den Stillstand verweigern heißt auch, alle Partner zuverpflichten, sich nicht nur an der Erarbeitung zukünfti-ger Resolutionen, die möglicherweise noch sehr lange inder Luft hängen, zu beteiligen, sondern bestehende Reso-lutionen umzusetzen, zum Beispiel die Resolution 2139des UN-Sicherheitsrates, die ein Verbot von Fassbombenund die Forderung eines humanitären Zugangs beinhal-tet . Daran jetzt zu arbeiten und das sicherzustellen, dasmuss auch in der gegenwärtigen Lage möglich sein .
Manche sagen in einer solchen Situation: Alles schöngesagt; aber es hat doch alles keinen Zweck, das wird jaeh nichts . – Diesen Satz habe ich während zehn JahrenIran-Verhandlungen häufig genug gehört. Deshalb sageich: Es ist jedenfalls Außenpolitikern nicht erlaubt, die-sen Satz „Das hat alles keinen Zweck“ zu sagen, sondernwir müssen darauf setzen, dass außenpolitische Bemü-hungen greifen, wenn man auf der richtigen Spur ist, dieBeharrlichkeit behält, auch Energie und Konzentrationnicht verliert, wenn man konsequent auf das Ziel hinar-beitet .Die Verhandlungen mit dem Iran haben gezeigt, dasses manchmal viel zu lange dauert, aber auch, dass einelange Dauer nicht bedeutet, dass Ziele nicht erreichbarsind . Ich glaube, dass wir mit dem Abkommen, das mitdem Iran in der Atomfrage geschlossen worden ist, im-merhin eine Grundlage dafür geschaffen haben – das istkeine Garantie, aber immerhin eine Grundlage –, dass wirin Zukunft im Mittleren Osten vielleicht mehr Sicherheithaben statt weniger . Deshalb sage ich: Das wird nichtvon selbst gehen; der Iran wird sich nicht von selbst ganzeinfach verändern, sondern wir müssen jetzt die nächstenSchritte gehen . Deshalb habe ich gesagt: Die Verantwor-tung endet nicht mit der Unterschrift unter dem Abkom-men, sondern die Verantwortung geht weiter . Wir tretenin die nächste Phase, in der wir versuchen müssen, denIran dazu zu bringen, vom Spoiler, vom Störer der Si-cherheitsordnung im Mittleren Osten zu einem konstruk-tiven Mitarbeiter zu werden . Das ist die Aufgabe, die wirjetzt vor uns haben .
Meine Damen und Herren, wir können nicht über Sy-rien sprechen, ohne über die Nachbarstaaten zu reden .In Jordanien, im Libanon, in der Türkei wohnen die al-lermeisten Flüchtlinge; mittlerweile sind es 4 Millionen .Wir müssen diese Staaten und die Flüchtlinge selbst un-terstützen, damit nicht eine Flüchtlingswelle die nächsteauslöst . Die VN-Hilfsorganisationen leisten eine elemen-tare Hilfe – unmittelbar und vor Ort. Doch die Unterfi-nanzierung der Programme – Sie wissen es; wir habenin diesem Hause darüber gesprochen –, gerade der UN-HCR-Programme und des World Food Programme, warund ist dramatisch, so dramatisch, dass die täglichen Es-sensrationen auf 50 Prozent, auf die Hälfte, gekürzt wor-den sind . Das ist – ich glaube, das habe ich hier bereitsgesagt – ein humanitärer Skandal . Wenn das so bleibt,dann darf man sich nicht wundern, wenn sich weitereMenschen aus dieser Region, aus den Flüchtlingslagernauf den Weg anderswohin und auch nach Europa ma-chen . Deshalb müssen wir die Situation in dieser Regionverändern .
Wir haben die Zeit unserer G-7-Präsidentschaft ge-nutzt . Wir haben nicht nur die G-7-Partner eingeladen,sondern auch einige Staaten rundherum, von denen wirden Eindruck hatten, dass sie Zusätzliches leisten kön-nen . Wir haben dazu eine sogenannte Geberveranstal-tung in New York durchgeführt . Ich freue mich, dass wirzusammen mit den anderen Staaten, auch mit der Euro-päischen Union, 1,8 Milliarden Dollar für die VN-Hilfs-werke mobilisieren konnten . 100 Millionen Euro davonkommen aus Deutschland . Das ist ein gutes und wichti-ges Signal . Das hat andere ermutigt, Gleiches zu tun . Ichbedanke mich bei allen, die das unterstützt haben .
Richtig bleibt: Wir brauchen neben den akuten hu-manitären Antworten, die wir auch in Gestalt von Geldgeben, auch längerfristige Antworten auf die Ursachenvon Flucht und Migration . Auch dafür brauchen wir dieVereinten Nationen . In New York haben wir darüber dis-kutiert, welche Instrumente die VN eigentlich zur Verfü-gung haben, um Fluchtursachen zu bekämpfen und zurbesseren Lastenteilung beizutragen . Wir werden dieseDiskussion in gut zwei Wochen hier in Berlin fortsetzen .Ich werde mich dann mit Vertretern der VN-Hilfsorga-nisationen hier in Berlin treffen . Wir werden vor allenDingen versuchen, die Zusammenarbeit mit Vertreternder Regionen zu erörtern, die heute Quelle von Armuts-wanderung sind . Deshalb werden wir vorrangig die af-rikanischen Länder im Blick haben . Dies geschieht sehrbewusst in Vorbereitung des EU-Afrika-Gipfels, den wirin wenigen Wochen in Valletta, auf Malta, durchführenwerden .Fluchtursachen bekämpfen wir immer da, wo wirschon präventiv handeln können, wo wir Konflikte imKeim erkennen und etwas dagegen tun können . Vorsor-gende Außenpolitik nenne ich das . Das soll und sollteBundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
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immer stärker Leitgedanke für Außenpolitik überall wer-den . Zivile Krisenprävention ist dafür das Stichwort . Daskann man auch an Haushaltsziffern festmachen . Das gehtvon der Stabilisierung von fragilen Staaten bis hin zuProjekten zur guten Regierungsführung .Ich denke an unser Engagement, das wir gemeinsammit der EU, das wir gemeinsam mit den Vereinten Natio-nen, zum Beispiel im Versöhnungsprozess in Mali, wahr-nehmen . Ich denke auch an einen Bereich, der unterbe-setzt ist und für den es viel Nachfrage gibt: Mediation .Wir werden die Kapazitäten hier bei uns und damit auchfür die Vereinten Nationen aufstocken . Ich habe einmalgesagt: Wir brauchen in dem Bereich so etwas wie eineschnelle Eingreiftruppe, die möglichst Erfahrung hat undzur Verfügung steht, wenn Konflikte im Anfangsstadiumsind und noch geholfen werden kann, ohne dass es mili-tärisch eskaliert .Auch die Friedenssicherung gehört in diesen Kontext .Auch hier sind wir gefragt . Finanzielle Mittel werdennatürlich gern genommen, aber ich habe auch den Rufhier aus der Mitte des Parlaments vernommen, dass wirmehr tun müssen, als nur Geld zur Verfügung zu stellen .Ich bin in Gesprächen mit der Verteidigungsministerin,wie wir den Erwartungen der Vereinten Nationen gerechtwerden können, zum Beispiel auch durch die Bereitstel-lung von Fähigkeiten, um die Missionen der VereintenNationen erfolgreicher zu machen . Deutschland hat,glaube ich, einiges dafür zu bieten: zivil, polizeilich undmilitärisch . Wir wollen gemeinsam, Außenministerium,Verteidigungsministerium und BMZ, dafür sorgen, dassdie VN in diesen Bereichen mit diesen Fähigkeiten in Zu-kunft besser ausgestattet sein werden .Zu unserem Einsatz für die Friedenssicherung gehö-ren finanzielle und politische Hilfen – das habe ich ebengesagt –, aber eben auch eine ganz konkrete menschlicheDimension . Ich will – die Gelegenheit dazu haben wirnicht häufig – allen Deutschen, die in den und für dieVereinten Nationen ihren Dienst leisten, an dieser Stelleeinmal ganz herzlich danken .
Wir können nicht jedem danken . Aber ich denke zumBeispiel an Martin Kobler, der jetzt einige Jahre in dergrößten und vielleicht schwierigsten Friedensmission imKongo tätig war und demnächst vor neuen Aufgaben ste-hen wird . Er ist jemand, der herausragt . Dies gilt auchfür Achim Steiner, der sich jahrelang mit Leidenschaftals Chef des UN-Umweltprogramms eingesetzt hat undebenfalls vor neuen Aufgaben steht . Diese zwei stehenstellvertretend für viele andere in UN-Diensten . Wir wol-len ihnen an dieser Stelle unseren Respekt zeigen .
Wenn wir über Menschen sprechen, dann, liebe Manuela, fragen wir Deutschen unsere Partner in denVereinten Nationen auch gelegentlich: Welche Rollespielen eigentlich Frauen bei der Friedenssicherung undbei der Konfliktlösung? Eines ist klar – ich glaube, nichtnur mir, sondern vielen –: Kein Konflikt wird dauerhaftzu lösen sein, wenn jeweils die Hälfte der Bevölkerungvon solchen Bemühungen ausgeschlossen ist .
Deshalb war die Resolution 1325 zur Gleichberech-tigung von Frauen bei Konfliktlösungen und Wieder-aufbau ein Fortschritt, ein Meilenstein in den UN-Be-ratungen, der die Teilhabe von Frauen nicht nur in denInstitutionen, sondern auch immer, wenn es konkret umVermittlungslösungen geht, zukünftig sicherstellt .Eleanor Roosevelt fragte in einer Rede vor über50 Jahren: Wo fangen Menschenrechte an? – Ihre Ant-wort war damals: zu Hause, in der Nachbarschaft, ander Schule, in der Arbeitsstätte . Dort, so sagte EleanorRoosevelt, müssen wir Menschenrechte schützen . Dortüberall, so heißt es in unserer Verfassung, ist die Würdedes Menschen unantastbar .Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ja, hier beiuns haben wir darauf zu achten, dass Menschenrechtenicht nur gelten, sondern auch im Alltag beachtet wer-den . Menschenrechte sind nicht nur Deutschenrechte .Das wissen ganz offenbar die vielen Freiwilligen, die sichhier im Lande in diesen Tagen aufopfernd um Flüchtlingekümmern und denen wir ebenfalls an dieser Stelle ganzherzlich danken .
Aber nicht nur darum geht es, nicht nur um die Situa-tion bei uns, sondern auch darum – vielleicht ist das niedeutlicher geworden als gerade in diesen Tagen –: Men-schenrechte, Frieden und Sicherheit sind ganz offenbarnicht voneinander zu trennen . Wo Menschenrechte syste-matisch verletzt werden, wo Unterdrückung und Verfol-gung herrschen, da liegt schon der Ursprung von Fluchtund Vertreibung . Auch deshalb sind Menschenrechte füruns kein Randthema . Dafür setzen wir uns ein, ganz ak-tuell auch im Vorsitz des VN-Menschenrechtsrates, dender deutsche Botschafter Rücker, finde ich, in diesemJahr durch wirklich schwierige Gewässer geleitet hat .Auch dafür meinen Respekt, meine Damen und Herren .
Die Anpassungsfähigkeit und Zukunftsfähigkeit derVereinten Nationen, über die zu reden ist, werden vieldavon abhängen, wie viel Repräsentanz sie gewährleis-tet und wie viel Legitimation sie aus der Repräsentanzder ganzen Welt in den Institutionen ableiten kann . Ichglaube, jedem ist klar: Die Legitimation leidet, wenn dieInstitutionen der Vereinten Nationen nur ein Spiegelbildder Verhältnisse der Jahre 1949, 1950, 1955 sind . Dies istder Hintergrund, weshalb wir gesagt haben: Wir bestehenauf eine Reform der Vereinten Nationen, und wir wollenauch eine Reform des Sicherheitsrates . Wir wollen, dassdie Arbeit des Sicherheitsrates transparenter wird, undwir unterstützen auch Initiativen, vor allen Dingen dieunserer französischen Partner, zur Begrenzung des Veto-rechts . Ich glaube, das Vetorecht hat seine historisch be-gründete Funktion . Aber es kann schlichtweg nicht sein,Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
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dass dieses Privileg die gesamte Weltorganisation dazuverdammt, im Angesicht gröbster Verbrechen gegen dieMenschlichkeit untätig zu bleiben . Das darf auf Dauernicht so sein .
Die Vereinten Nationen haben sich gerade in der vor-letzten Woche auch reformfähig hinsichtlich der Inhaltegezeigt . Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung,an der gearbeitet worden ist und auf deren Prinzipien mansich verständigt hat, ist ehrgeizig . Die Verständigung da-rauf ist gelungen, samt der damit verbundenen Finanzie-rungsinstrumente, samt der Überprüfungsmechanismen,die vom Generalsekretär vorgeschlagen worden waren .Ich kann versprechen: Deutschland wird eines der erstenLänder sein, die sich dieser Überprüfung der Einhaltungder Agenda 2030 unterwerfen werden .
Meine Damen und Herren, zum Ende möchte ich zurGründung der Vereinten Nationen vor 70 Jahren zurück-kehren – ein großartiger Moment, der in Deutschlandallerdings auch Erinnerungen wecken muss . Denn dieCharta der Vereinten Nationen war ja auch eine Antwortder Menschheit auf Krieg und Unmenschlichkeit, die vonunserem, von diesem Land ausgegangen waren . Seitherist es Deutschland über sieben Jahrzehnte hinweg ver-gönnt gewesen, behutsam und schrittweise wieder insHerz der internationalen Gemeinschaft hineinzuwachsen .Wir wissen, dass man dafür nicht nur innerlich Dankbar-keit zeigen muss, sondern dass dieses Hineinwachsen indie internationale Staatengemeinschaft auch Verantwor-tung bedeutet .Willy Brandt hat bei seinem Amtsantritt 1969 gesagt:Wir Deutschen wollen ein Volk guter Nachbarn sein . –Damals, im noch geteilten Deutschland, galt dieser Satznatürlich der Aussöhnung mit Polen, Frankreich und denanderen europäischen Nachbarn, all denen, die großesLeid von Deutschland erfahren hatten . Wenn heute sy-rische Familien hier in Berlin oder in all unseren Wahl-kreisen von ihrem Schicksal, von Krieg und Vertreibungerzählen, dann bekommt dieser Satz eine etwas neue Be-deutung . Heute, wo die Welt zwar kleiner, aber die Kri-sen eher größer geworden sind, ist es, glaube ich, an derZeit, aufs Neue zu bekräftigen: Wir Deutschen wollen einVolk guter Nachbarn sein, für die nahen und die fernengleichermaßen .Vielen Dank .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Dietmar Bartsch für die Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Im Garten des UN-Hauptquartiers steht eine Skulp-tur . Sie alle kennen sie . Diese Skulptur – Schwerter zuPflugscharen – verkörpert den Irrsinn, die Hoffnungen,die Gefahren und auch die Chancen eines ganzen Jahr-hunderts .Ich will daran erinnern, dass „Frieden“ vor 70 Jahrendas erste Wort war, als die Vereinten Nationen gegründetworden sind, und ich will daran erinnern – der Bundesau-ßenminister hat das zum Schluss gemacht; ich will das anden Anfang stellen –, dass die Vereinten Nationen auf denTrümmern eines Weltbrandes entstanden, der von deut-schem Boden ausging . Das heute zu begehende Jubiläumist deshalb zuallererst ein Anlass des Gedenkens . Alleinder Zweite Weltkrieg forderte vermutlich über 75 Millio-nen Tote, darunter 28 Millionen Bürgerinnen und Bürgerder Völker der Sowjetunion und 6 Millionen Polinnenund Polen. Dem Vernichtungswahn deutscher Nazis fie-len 6 Millionen jüdische Menschen, Zehntausende Sintiund Roma, Homosexuelle und viele mehr zum Opfer .Als Folge dieser Katastrophe wurde die UN gegrün-det . Aus gutem oder schlechtem Grund zählte Deutsch-land nicht zu den Gründungsmitgliedern der UN . Unddoch – darüber ist hier in den letzten Wochen häufig ge-redet worden – wurde Deutschland nicht aus der inter-nationalen Gemeinschaft ausgeschlossen . Als die beidendeutschen Staaten 1973 in die Vereinten Nationen aufge-nommen wurden, hat Walter Scheel für die Bundesrepu-blik Deutschland versichert:Sie werden uns immer dort finden, wo es um die in-ternationale Zusammenarbeit geht, um die Bewah-rung des Friedens und um die Rechte des Menschen .Dem sollte Deutschland immer verpflichtet sein, war esaber nicht .Ja, die UN haben vieles für Frieden und Menschen-rechte und gegen Hunger und Elend geleistet; aber auch70 Jahre nach der Gründung der UN sind die Nationennicht vereint . Millionen Menschen haben auch nach 1945in Kriegen ihr Leben oder ihre Heimat verloren, und je-den Tag, jede Stunde werden es mehr . 1,2 MilliardenMenschen leben in absoluter Armut, Hunderte Millionenhungern, 60 Millionen sind auf der Flucht . Auf der ande-ren Seite gibt es in dieser Welt einen asozialen Reichtum .Staaten zerbrechen und verlieren jegliche Handlungsfä-higkeit . Dem muss begegnet werden .Der Bundesaußenminister hat an die Mitglieder appel-liert, man könne vieles besser machen . Ja! Ein Mitgliedist im Übrigen die Bundesrepublik Deutschland, und dieBundesrepublik Deutschland wird der Charta der Verein-ten Nationen nicht gerecht, wenn sie die Ursachen dieserEntwicklung und dieser Ergebnisse, die ich eben genannthabe, ignoriert oder sogar vertieft, anstatt sie zu bekämp-fen .
Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
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Das bedeutet zuallererst, dass wir keine Waffen und kei-ne Soldaten mehr in alle Welt schicken . Dieser Auftragmuss an unser Land gehen .
Wir dürfen es auch keinen Tag länger zulassen, dasssich der Norden zulasten des Südens bereichert . Es istdoch unglaublich, einerseits die Rüstungsindustrie zustärken, Rüstungsexporte vorzunehmen und etwa Nah-rungsmittel nach Afrika zu exportieren, wodurch man dieeinheimische Landwirtschaft totkonkurriert, andererseitsaber über das Flüchtlingsproblem zu fabulieren . Das istunehrlich
und auch ein Ergebnis der Politik der Länder des Wes-tens – auch der der Vereinigten Staaten und der Deutsch-lands .Wir als Deutschland sollten uns an dieser Politik,durch die Diktatoren zwar beseitigt werden, aber die kei-ne Option für die Zeit danach kennt, nicht beteiligen . Wirsehen doch, was nach Saddam Hussein im Irak und nachGaddafi in Libyen passiert ist. Mit Krieg und Gewaltkann man zwar Diktatoren beseitigen, aber weder Chaosnoch Terror aus der Welt schaffen .
Mit destabilisierten Staaten werden keine Vereinten Na-tionen machbar sein .Sie haben sehr umfangreich über Syrien und auch überden Irak geredet . Dort spielt sich eine Tragödie ab . Dawird ein brutaler Krieg geführt . Das wäre eigentlich dieStunde der Vereinten Nationen, des Sicherheitsrates undinsbesondere auch der Vetomächte . Es ist inakzeptabel,dass Russland dort in Syrien bombardiert, aber genau-so inakzeptabel ist es, dass die Vereinigten Staaten undFrankreich immer nach Bedarf bombardieren . Das kanndoch nicht wahr sein .
Diese Bomben werden keinen Frieden schaffen . Es istein totales Dilemma, wenn auf Syrien Bomben geworfenwerden und nach Saudi-Arabien Bomber geliefert wer-den . Das ist doch inakzeptabel .
Dass die UN dort etwas leisten können, haben wir beider Vernichtung der syrischen Chemiewaffen mit Betei-ligung von Russland und anderen gesehen .
– Nein, ich habe zugestimmt, Herr Koenigs . Das könnenSie nachlesen, wirklich . Das ist gesichert .
Ich unterstütze sehr, dass Deutschland humanistischeProjekte der UN demonstrativ stärken sollte . Ja, Sie ha-ben hier einiges genannt . Aber ich will auf die Dimensionaufmerksam machen . Es ist doch nicht hinnehmbar, dassdie weltweiten Militärausgaben 1 500 Milliarden Europro Jahr erreichen und dem Welternährungsprogramm imMoment das Nötigste fehlt, um die Flüchtlinge zu versor-gen . Das ist nicht hinnehmbar .
Es ist im Übrigen eine Sünde gegenüber künftigenGenerationen, wenn für die Klimaforschung weltweit le-diglich 3 Milliarden Dollar ausgegeben werden und eineinziger großer Energiekonzern im selben Zeitraum denzehnfachen Gewinn eingefahren hat . Das ist doch nichtakzeptabel, meine Damen und Herren .
Insofern wäre es gut, wenn Deutschland seine Beiträgenoch mehr erhöht . Wir haben dort einiges getan . Aberdas ist letztlich zu wenig . Die Mittel für das Welter-nährungsprogramm, das Flüchtlingshilfswerk und dasUN-Entwicklungsprogramm sollten deutlich aufgestocktwerden .Ich will es in diesem Haus wiederholen: Seit Jah-ren reden wir über die Selbstverpflichtung, 0,7 Prozentdes Bruttoinlandsproduktes für Entwicklungszusam-menarbeit bereitzustellen . Unser Anteil liegt aktuell bei0,43 Prozent . Da muss jetzt gehandelt, und da müssenjetzt Weichen gestellt werden, damit wir die Ursachenreal bekämpfen .
Schließlich sollte die deutsche Politik stets der Erfah-rung Rechnung tragen, dass hinter geschlossenen Gren-zen keine offenen Gesellschaften wachsen können, auchnicht innerhalb einer Festung Europa, meine Damen undHerren . Wer wüsste es nicht besser als wir Deutschen,dass Mauern die Probleme der Welt nicht stoppen undschon gar nicht lösen können!
Es ist doch wirklich absurd, dass im Jahre 2015 ge-nau dort Mauern hochgezogen werden, wo der EiserneVorhang einst zuerst fiel. Und eine deutsche Regierungs-partei hofiert den Architekten dieser Mauer. Das ist un-glaublich .
Ich will auch deutlich sagen, dass die Bundeskanzlerininsoweit meinen Respekt hat, als sie sich dem Wettlaufum Abschottung und Unfreundlichkeit verweigert . Dasist eigentlich eine Selbstverständlichkeit . Sie muss sichgegen diejenigen wehren und denjenigen Einhalt gebie-ten, die auf Drohungen, Erpressung und Boykott setzen .Das ist doch die reale Situation in den Regierungspar-teien .Wir fordern die Bundesregierung auf, eine Initiativefür eine demokratische, soziale und friedenspolitischeReform der UN zu starten . Dazu haben wir in unseremEntschließungsantrag einiges dargelegt . Ja, mit einer Re-form des UN-Sicherheitsrates, Herr Bundesaußenminis-ter, sind wir einverstanden . Aber wir sollten auch dafürDr. Dietmar Bartsch
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sein, dass Länder des Südens in den Sicherheitsrat aufge-nommen werden und sie ein Vetorecht bekommen . Daswürde vielleicht einiges verändern .
Wir sollten den UN-Wirtschafts- und Sozialrat in ei-nen Weltwirtschaftsrat umwandeln und ihn so aufwerten,dass er Not und Elend wirklich wirksam bekämpfen undso die anstehenden Aufgaben angehen kann . Vor allenDingen müssen wir die Vereinten Nationen real stärkenund demokratisieren statt elitäre Zusammenschlüsse wiedie G 7 unterstützen . Diese haben sich inzwischen soweit diskreditiert, dass sie nur noch in bayerischen Wäl-dern unter starker Bewachung tagen können .
Das ist doch die reale Situation .
Ich habe am Anfang von dem Irrsinn gesprochen, dendie Skulptur Schwerter zu Pflugscharen verdeutlicht . Wieanders soll man es nennen angesichts der Tatsache, dassdieses von der Sowjetunion damals gestiftete Denkmalzum Symbol der gesamtdeutschen Friedensbewegunggegen sowjetische und amerikanische Raketen innerhalbder DDR wurde und von der DDR-Führung verteufeltworden ist?Friedrich Schorlemmer ließ im September 1983 imLutherhof zu Wittenberg ein Schwert zu Pflugscharenumschmieden . „Wir wollen Frieden mit den Mitteln desFriedens“, war sein Wort . Das, glaube ich, ist ein gutesMotto, auch für 70 Jahre Vereinte Nationen . – Ja, wirwollen Frieden mit den Mitteln des Friedens .Herzlichen Dank .
Jürgen Hardt ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichhabe die letzten 30 Minuten gut aufgepasst .
Ich habe vor allem die Kollegen der Linksfraktion beob-achtet, als Herr Steinmeier seine Rede gehalten hat . Wirwurden Zeuge der 10 Prozent Uneinigkeit bei der Lin-ken, die gemäß der Erklärung der neuen Spitze besteht .Herr Bartsch hat bei der einen oder anderen Passage de-monstrativ geklatscht, und Frau Wagenknecht hat dannimmer spontan entschieden, ob sie mitmacht oder nicht .Das fand ich bemerkenswert .
Es ist ja gut, dass in der Außenpolitik nicht alles ideo-logisch und dogmatisch gesehen wird, sondern dass wiruns den wirklichen Problemen und den Menschen zu-wenden .
Eine Organisation, die sich dieser Aufgabe widmet, sinddie Vereinten Nationen .Wir blicken auf die Gründung der Vereinten Nationenvor 70 Jahren zurück . In der Präambel der am 24 . Ok-tober 1945 in Kraft getretenen Charta wird als Ziel ge-nannt, „künftige Geschlechter vor der Geißel des Kriegeszu bewahren“ . Das war unmittelbar nach Ende des Zwei-ten Weltkriegs unter dem Eindruck der beiden großenKriege in der ersten Hälfte des 20 . Jahrhunderts, der allemassiv prägte . Alle, die zu der Konferenz in San Francis-co zusammengekommen waren, hatten das selbst erlebt .Als drei Jahre später noch die Allgemeine Erklärungder Menschenrechte verabschiedet wurde – das ist imGrunde das Kondensat von 300 Jahren Aufklärung undMenschheitsentwicklung von der amerikanischen Unab-hängigkeitserklärung und Verfassung bis hin zur Fran-zösischen Revolution –, war das ein epochaler Schritt .Wenn wir 70 Jahre nach Gründung der Vereinten Nati-onen versuchen, eine Bilanz zu ziehen, dann dürfen wirauf jeden Fall anerkennen, dass es gelungen ist, ein ganzentscheidendes Element der Diplomatie für die Mensch-heit zu schaffen . Ich glaube, es hat keine Organisationmehr für den Weltfrieden insgesamt getan als die Verein-ten Nationen .Aber wir müssen auch feststellen – das ist bitter undbetrüblich und sollte uns nicht ruhen lassen –: 70 Jahrenach Gründung der Vereinten Nationen sind 60 Millio-nen Menschen auf der Flucht . 800 Millionen Menschengehen hungrig zu Bett . 800 Millionen Jugendliche undErwachsene weltweit können nicht lesen und schreiben;davon sind im Übrigen zwei Drittel Frauen, was zeigt,dass die Benachteiligung von Frauen in der Welt leiderimmer noch in den allermeisten Ländern dieser Erde All-tag ist .60 Millionen Kinder haben keine Möglichkeit, zurSchule zu gehen . 700 Millionen Menschen haben keinenZugang zu sauberem Wasser, und 2,5 Milliarden Men-schen erfahren keine angemessene Gesundheits- und Sa-nitätsversorgung . Daraus ergibt sich die große Aufgabe,die die Völkergemeinschaft – allen voran die VereintenNationen – hat .Fast immer sind die Ursachen für diese Missständekeine Naturkatastrophen, sondern von Menschen her-beigeführte Konflikte, die sich heute anders, als es dieGründer der Vereinten Nationen sich vielleicht vorge-stellt haben, ganz oft innerhalb von Staaten abspielen .Es ist heute häufig sogar schwer zu identifizieren: Werist verantwortlich? Wer hat Macht und Einfluss? Werist Ansprechpartner, wenn es darum geht, von außen zuDr. Dietmar Bartsch
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vermitteln und entsprechend einzugreifen? Wir sehen ander Komplexität des Syrien-Konflikts, welches Dramasich dort abspielt und dass wir als Vereinte Nationen einStück weit ohnmächtig gegenüber der Situation sind . DieUN-Resolution, die das Abwerfen von Bomben auf Zi-vilisten verbietet und den Zugang zu humanitärer Hilfefordert, wird in Syrien nicht durchgesetzt, und sie wirdauch nicht dadurch durchgesetzt werden, dass die Veto-nation Russland, die bei den Vereinten Nationen eine sol-che Resolution mitgetragen hat, jetzt Assad unterstützt .Das Dilemma ist also offensichtlich .Deshalb müssen wir mit einer Reform der VereintenNationen und mit unseren Bemühungen vorankommen,unseren Beitrag zur Entwicklung der Welt im Rahmender Vereinten Nationen zu leisten. Ich finde es gut, dassDeutschland Initiativen unterstützt – der Minister hat esangesprochen –, die die fünf Vetomächte im Sicherheits-rat davon überzeugen sollen, auf ihr Vetorecht zu verzich-ten, wenn es ganz konkret um Menschenrechtsverletzun-gen und darum geht, Machthaber vor Gericht zu bringen,die Menschenrechtsverletzungen zu verantworten haben .Es gibt ja einzelne Vetomächte, die auch für eine freiwil-lige Selbstbeschränkung offen sind . Ich mache mir aberkeine Illusionen und glaube nicht, dass es gelingen wird,das Vetorecht aus der Charta herauszustreichen; aber ichglaube schon, dass auf diesem Wege ein erster Schritt hinzu einer Öffnung möglich ist .Ich bin auch der Meinung, dass wir in Deutschland gutberaten sind, aktiv an einer Reform der Vereinten Nati-onen und des Sicherheitsrats mitzuwirken . Dazu gehörtfür mich auch, dass wir als Deutsche bereit sind, Verant-wortung zu übernehmen und zu sagen: Jawohl, wir neh-men ständig unsere Aufgaben wahr und erfüllen unsereVerpflichtungen – nicht nur dann, wenn wir Mitglied imSicherheitsrat sind .Ich finde, es ist ein relativ schnell abzustellender Miss-stand der Vereinten Nationen – den möchte ich offen an-sprechen –, dass alle wichtigen Hilfswerke offensichtlichunterfinanziert sind, sodass sie im Falle, dass sie ganzkonkret und ganz besonders gefordert sind, ein Stückweit von der Hand in den Mund leben müssen . Wir er-leben es jetzt beim Flüchtlingshilfswerk und beim WorldFood Programme, und wir haben es im letzten Jahr beider Gesundheitsversorgung im Zusammenhang mit Ebo-la erlebt .Ich würde mir erstens wünschen, dass wir zu einemMechanismus kommen, bei dem wirksame Maßnahmengegen die Staaten möglich sind, die ihren Verpflichtun-gen, in diese Hilfswerke einzuzahlen, nicht nachkom-men . Und ich würde mir zweitens wünschen, dass wir ei-nen Mechanismus finden, der dazu führt, dass die Chefsdieser Hilfswerke nicht erst nach Ausbruch einer Krisewochenlang Geld sammeln müssen, sondern sofort kon-kret mit ihrer Arbeit beginnen können . Ich glaube, dassda eine entsprechende deutsche Initiative, die ja aucheingeleitet wurde, einen wichtigen Beitrag leisten kann .
Es lohnt sich, auch im 21 . Jahrhundert auf die Ver-einten Nationen zu setzen . Es lohnt sich, dass Deutsch-land dem Prinzip folgt, dass wir uns dann internationalengagieren, wenn es dafür eine völkerrechtliche Grund-lage und eine entsprechende Unterstützung der VereintenNationen gibt . Es lohnt sich auch, dass sich Deutschlandsowohl in die zivilen als auch in die robusten Mandate,welche die Vereinten Nationen beschließen, mehr ein-bringt . Ich würde mir wünschen, dass wir in diesem Hausdie große Einigkeit, die wir jeweils bei der Unterstützungdieser Politik hatten, auch in den nächsten 70 Jahren Ver-einte Nationen aufrechterhalten .Herzlichen Dank .
Tom Koenigs erhält nun das Wort für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Aus den Trümmern des Zweiten Weltkrieges und ausdem Grauen sind die Vereinten Nationen hervorgegan-gen, zunächst mit der Charta, dann mit der AllgemeinenErklärung der Menschenrechte . Der Geist dieser beidenDokumente prägt noch heute die Vereinten Nationen . Erprägt auch alle, die für die Vereinten Nationen arbeiten,in den Organisationen der Vereinten Nationen, in denMissionen, und zwar internationale wie nationale Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter .Der Geist von Eleanor Roosevelt, der ersten Vorsit-zenden der Menschenrechtskommission der VereintenNationen, ist in der UN-Family präsent . All die, die daeinmal gearbeitet haben, haben gemerkt, dass das bis zuden fernen Orten ausstrahlt, in denen die Vereinten Na-tionen tätig sind, auch auf die Soldaten und natürlich dieZivilisten, nationale und internationale .Von den Prinzipien, die damals festgelegt wurden, aufdie sich die Staaten damals geeinigt haben, zehren wirnoch heute . Wer weiß, ob sich die jetzt 193 Regierun-gen heute noch einmal auf einen derartig fundamentalenWertekodex einigen könnten . Glücklicherweise habenwir diese Werte und teilen diese Werte .
Die Vereinten Nationen stehen für den Anspruch, fürdie Hoffnung, für die Utopie der Menschheit in Bezugauf Frieden und Menschenrechte . Sie zeigen aber auchin ihren Dokumenten und Berichten die Wirklichkeit .Die Bemühung, diesen Anspruch mit der Wirklichkeitzusammenzubringen bzw . die Wirklichkeit an diesemAnspruch zu messen, zeichnet diese Weltorganisationaus . Deshalb sind die Vereinten Nationen heute, wo dieKrisen überhandnehmen, wichtiger denn je .
60 Millionen Flüchtlinge, die SyrienKrise, das Erstarkendes Terrorismus, die ungebremste Aufrüstung, Rüstungs-exporte, Klimawandel und Ebola: Das sind Probleme, dieman nur gemeinsam lösen kann . Ohne starke VereinteNationen werden wir diesen globalen HerausforderungenJürgen Hardt
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nicht gerecht . Wir brauchen die Vereinten Nationen, unddie Vereinten Nationen brauchen uns . Der Außenminis-ter hat richtigerweise gesagt, dass die Vereinten Nationennur so stark sind, wie wir sie machen .
Man kann immer darüber meckern, dass die VereintenNationen dieses oder jenes nicht hinbekommen und souneins sind . Aber tun wir wirklich alles, um sie einig zumachen?Ich finde, eine ganz markante Komponente ist, dasssich alle wichtigen Dokumente, beispielsweise die Sum-mit Documents, aber auch jedes Mandat auf die Allge-meine Erklärung der Menschenrechte zurückbesinnen .Ein starkes menschenrechtliches Mandat in allen Akti-vitäten und Organisationen ist wichtig, und sich daraufimmer wieder zu beziehen, ist auch wichtig . Das ist inTeilen bei den 17 Entwicklungs- und Nachhaltigkeitszie-len, die in der Agenda 2030 verankert wurden, gelungen .Die Vereinten Nationen haben die Legitimation für sol-che Beschlüsse und auch die Möglichkeit, an der Umset-zung mitzuarbeiten . Aber die Arbeit müssen die einzel-nen Staaten machen .
Die Probleme der Vereinten Nationen sind ja nichtneu . Schon Monate nach der Gründung begann der Kon-sens der Siegermächte zu bröckeln, und bei der Suez-Kri-se war der Sicherheitsrat blockiert . Aber es ist nicht so,dass sich in einer solchen Situation nichts machen ließe .Dag Hammarskjöld hat die Generalversammlung zu ei-ner Sondersitzung zusammengerufen und hat es fertigge-bracht, eine Mission auf den Weg zu bringen . Sage undschreibe 48 Stunden nach dem Beschluss des Mandatsstanden die ersten Friedenstruppen der ersten Friedens-mission UNEF bereit . Das waren Zeiten!Heute gelingt es selbst Jahre später noch nicht ein-mal, Missionen wie in Darfur oder im Kongo auch nurannähernd entsprechend der geplanten Kapazitätenauszustatten . Die Entsendung verläuft schleppend . DasPersonal stammt immer aus denselben Ländern, zumeistaus Südasien und Afrika . Die Ausstattung ist veraltet .Obwohl alle Friedensmissionen zusammengenommenmit insgesamt 100 000 Soldaten die größte aktive Armeeder Welt darstellen, machen die Aufwendungen dafür nurein halbes Prozent der weltweiten Militärausgaben aus .Trotzdem gelingt es nicht, die notwendigen Truppen zu-sammenzubringen .Vor zwei Wochen hat Obama selbst – der Außenmi-nister hat es erwähnt – zu einem Gipfel betreffend dieFriedensmissionen eingeladen, der Außenminister warauch da . Ziel war es, auch neue Staaten dazu zu brin-gen, Truppen zu entsenden und Missionen zu unterstüt-zen . Deutschland hat ein paar Ausbilder zugesagt . UnserPolizeikontingent, das bisher aus 19 Polizisten in allenMissionen bestand, soll um 45 Polizisten erweitert wer-den . Damit stellen wir gerade einmal ein halbes Prozentder insgesamt 13 000 Polizisten . Damit liegt Deutschlandirgendwo hinter Guatemala . Da geht mehr, und da mussauch mehr passieren .
Wir wollen, dass Deutschland die Vereinten Nationen inder Außen-, der Entwicklungs- und der Sicherheitspolitikund auch als Plattform für die zentralen politischen Dis-kussionen nutzt und stützt .Nun kommt die Sicherheitsratsreform . Da heißt es,Deutschland brauche einen Sitz . Gleichzeitig wird ge-sagt, Europa brauche einen Sitz . Europa ist mit zweiständigen und zwei nicht ständigen Sitzen gut vertreten .Wenn wir uns wenigstens mit Frankreich einigen wür-den, hätten wir diesen Sitz . Aber der deutsche Wunschspaltet Europa . Die G-4-Initiative, Südamerika, Ostasienund vor allem Afrika besser zu vertreten, hätte viel mehrKraft, wenn wir nicht pro domo reden würden .
Der Einsatz für Indien, Japan, Brasilien und Südafrikawäre dann viel glaubwürdiger . Die Initiative hilft, die In-itiative ist nötig . Vorschläge, die vorhanden sind, solltenunterstützt werden, notfalls zusammen mit den kleinerenStaaten, den sogenannten Mittelmächten, die ideolo-gisch nicht so fixiert sind, genauso wie das damals Dag Hammarskjöld gemacht hat .Leider setzen sich zurzeit die ständigen Mitglieder desSicherheitsrates nur da ein, wo es entweder ihren Zielendient oder es wenigstens ihren Zielen nicht zuwiderläuft .Die Initiative von Frankreich, wenigstens in den Fällender groben Menschenrechtsverletzung, des Völkermordsund der Kriegsverbrechen auf das Veto zu verzichten, isterwähnt worden . Und da muss man dann alle versam-meln, um Legitimität zu erzielen, selbst wenn man dieBlockierer im Einzelfall vielleicht nicht sofort erreicht .Auch das zahlt sich aus .
Der Generalsekretär hat dieses Dilemma aufgegriffenund einen guten Bericht zur Zukunft der Friedensmissio-nen verfasst . Dessen Umsetzung sollte sich Deutschlandnach Kräften widmen . Die wichtige Botschaft: Die Frie-densbemühungen der Vereinten Nationen müssen politi-scher werden . Mehr Prävention, weniger Reaktion, mehrMediation und weniger Zwang . Denn darum geht esletztlich: Der politische Prozess, der den Konflikt been-det oder sein Ausbrechen verhindert, die Verhandlungen,die auf Versöhnung setzen und die die Menschenrechtean die erste Stelle setzen – das ist eine menschenrechts-geleitete internationale Politik, so wie wir sie wollen .
Hochpolitisch, schlagkräftig und unbequem – so hatDag Hammarskjöld die Vereinten Nationen gesehen undgestaltet . So müssen sie auch bleiben . Dazu brauchen dieTom Koenigs
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Vereinten Nationen unsere, Ihre, unser aller Unterstüt-zung .
Rolf Mützenich ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es ist gut, dass wir heute an die Gründungder Vereinten Nationen vor 70 Jahren erinnern, aber esist auch wichtig, dass wir an die Wahrheit erinnern . AmAnfang – also bei dieser Gründung – war Deutschlandnicht dabei . Kollege Bartsch hat daran erinnert . Erst einemutige Politik, insbesondere damals in der Bundesrepub-lik Deutschland, hat es ermöglicht, dass Deutschland amEnde ein vollwertiges Mitglied in den Vereinten Natio-nen geworden ist .Es waren damals die Entspannungspolitik, ein um-kämpfter Grundlagenvertrag und die Ostverträge, diediesen Weg erst möglich gemacht haben . Deswegen sa-gen wir Sozialdemokraten mit großem Stolz: Wir warendaran beteiligt gewesen, und es ist gut, dass wir heuteein vollwertiges Mitglied in den Vereinten Nationensind . Wir sind dankbar dafür . Insbesondere möchte ichdaran erinnern – vor einigen Wochen ist Egon Bahr ge-storben –, dass mit diesem Mut und dieser Vision etwasmöglich wurde, woran wir uns mit Dankbarkeit heute er-innern können .
Manche Teile der Welt liegen in Trümmern . Die Lageist zum Verzweifeln, wenn wir sie an der Charta der Ver-einten Nationen messen . Diese Charta ist Handlungs-schnur für die internationale Politik und Handlungs-schnur auch für die deutsche Außenpolitik . Deswegen istes fahrlässig, unhistorisch und eigentlich auch wohlfeil –das ist zu Recht gesagt worden –, wenn viele an der UNOzweifeln; denn die das tun, sind die Mitgliedstaaten .Ich würde gerne zwei Sätze von Willy Brandt zitieren,die er 1973, als die Bundesrepublik Deutschland voll-wertiges Mitglied in den Vereinten Nationen gewordenist, gesagt hat:Manche Kritik an den Vereinten Nationen klingtbitter, zynisch, ist fast von jubilierendem Pessimis-mus – so, als hoffe man heimlich, dass die Schwä-chen der Organisation Idee und Ziel widerlegten .Doch Rückschläge auf dem Weg zu einem Ideal be-weisen nicht notwendig, dass jenes Ideal falsch war,sondern oft nur, dass der Weg besser sein könnte .Umso mehr freue ich mich, dass die Bundesregie-rung und der Außenminister die Vereinten Nationen inden Mittelpunkt der Außenpolitik gestellt haben . Ich binauch dankbar, dass die Koalitionsfraktionen heute einengemeinsamen Antrag über das vorlegen, was wir bessermachen können und was wir uns in den nächsten Jahrenvorgenommen haben .
Es gehört zur Wahrheit mit dazu: Die Charta ist eineRichtschnur, aber sie ist auch widersprüchlich . Wie solltees anders sein? Wenn man auf dem Weg zu einer großeninternationalen Politik ist, so steht auf der einen Seite dieSouveränität, aber auf der anderen Seite steht auch – auswohlverstandenem Eigeninteresse – die Abtretung vonRechten, um insbesondere an der Lösung gemeinsamerProbleme mitzuarbeiten .Es gilt also das Prinzip der Nichteinmischung in dieinneren Angelegenheiten . Aber wir sehen Staatszerfallin immer mehr Staaten auf der Welt, während an ande-rer Stelle die territoriale Integrität aufrechterhalten wird .Das Prinzip der Nichteinmischung korrespondiert mehrund mehr mit der Frage der menschlichen Sicherheit . Ichbin froh, dass auch das Ziel menschlicher Sicherheit heu-te zu einer wertegeleiteten Außenpolitik in diesem Be-reich gehört .Dennoch sage ich: Wir dürfen die Vereinten Nationennicht überfordern, und wir müssen insbesondere aner-kennen, welche Leistungen sie erbracht haben . – DerAußenminister hat zu Recht daran erinnert: Es gibt vieledeutsche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Verein-ten Nationen . Es gibt insbesondere viele Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter aus aller Welt, die im Dienste derVereinten Nationen verletzt wurden oder sogar ums Le-ben gekommen sind . Das gehört zur bitteren Wahrheit .Umso dankbarer bin ich, dass wir in Deutschland zumBeispiel mit der Bundeszentrale für politische Bildung,aber auch mit der Deutschen Gesellschaft für die Ver-einten Nationen zwei wichtige Institutionen haben, diejungen Menschen auch die Idee der Vereinten Nationennahebringen . Wir sollten sie auch in diesem Punkt unter-stützen und immer wieder ermutigen .
Meine Damen und Herren, wenn ich über Widersprü-che rede, die natürlich auch in der internationalen Politikvorhanden sind, so gilt es, auch einem Vorwurf zu be-gegnen, der besagt: Es ist falsch, dass man die VereintenNationen immer wieder an der Staatsfixiertheit misst.Ich finde das dennoch richtig: Die Vereinten Nationensind ein Staatenbund . Wir wissen aufgrund der histori-schen Entwicklung in Europa: Es braucht funktionieren-de Staaten, um Frieden im Inneren, aber auch Friedenim Äußeren zu erreichen . Auch deswegen treten wir fürfunktionierende Staatlichkeit ein . Das Gewaltmonopoldes Staates ist nicht alles . Es muss eingebunden seinin Rechtsstaatlichkeit und demokratische Legitimation;aber das gehört genauso zur Konstituierung der VereintenNationen wie soziale Gerechtigkeit, die Fähigkeit zumKompromiss und, wie der Bundesaußenminister gesagthat, gutes Regieren . Das ist hart erstritten worden inDeutschland und in Europa . Wenn wir über die Verein-Tom Koenigs
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ten Nationen reden, ist es immer wieder wichtig, darübernachzudenken .Ein ganz wichtiges Prinzip hat die Charta der Verein-ten Nationen aufgegriffen: Politik muss regional abgefe-dert werden . – Deswegen sind wir so dankbar, dass wireine europäische Idee unter dem Dach der Vereinten Na-tionen umsetzen können; denn dass von Europa Friedenausgeht, hat in den letzten Jahrzehnten anderen Ländernmanches erspart . Genau das, Friedenserhalt, ist die Idee,um die wir letztlich tagtäglich kämpfen .
Meine Damen und Herren, es ist das Privileg einesAbgeordneten, diplomatisch nicht so zurückhaltend seinzu müssen wie der Außenminister . Lassen Sie mich des-wegen ganz offen sagen: Ich habe es bedauert, dass we-der der russische Präsident noch der amerikanische Präsi-dent in der Generalversammlung der Vereinten Nationende Misturas Arbeit gewürdigt haben und daran auch nichtangeknüpft haben; denn ein solches Anknüpfen wäre einHoffnungszeichen für Frieden oder zumindest für dieAbwesenheit von Krieg in Syrien gewesen . Insofern binich sehr dankbar, dass der Generalsekretär der VereintenNationen de Mistura beauftragt und ermutigt hat – ichbekräftige das auch von dieser Stelle aus –, weiterzuar-beiten . Wir Deutschen, wir deutschen Parlamentarier un-terstützen ihn weiterhin bei dieser sehr wertvollen Arbeit .
Meine Damen und Herren, ich würde gerne Folgendesbetonen – es gehört nun einmal zu den Schwerpunkten derPolitik von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten,zu versuchen, dies auf Ebene der Vereinten Nationen zuverankern –: Abrüstung ist ein Pfeiler dieser Politik . DerKollege Koenigs hat die Linke eben durchaus zu Rechtdaran erinnert, dass sie die Vernichtung der Chemiewaf-fen hier eben nicht mit unterstützt hat, sondern dass sieleider dagegengestimmt hat . Aber diese Vernichtung warein Auftrag der Vereinten Nationen, genauso wie es einAuftrag der Vereinten Nationen gewesen ist, über dasMandat über Verhandlungen mit dem Iran zu entschei-den . Das Ganze war vonseiten der Vereinten Nationenabgefedert . Wir waren froh, dass wir, Deutschland, unsan verantwortlicher Stelle sowohl bezüglich der Vernich-tung der Chemiewaffen als auch bezüglich der Verhand-lungen mit dem Iran beteiligen konnten .
Kollege Mützenich, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung der Kollegin Hänsel?
Wenn ich sie dazu mit meinem Hinweis auf das Ab-
stimmungsverhalten der Linken in dieser Abrüstungsfra-
ge ermutigt habe, dann ja .
Danke schön, Frau Präsidentin . – Lieber Kollege
Mützenich, Abrüstung ist tatsächlich ein ganz wichtiges
Thema . Unsere Fraktion hat damals darüber diskutiert,
als es um die Vernichtung der Chemiewaffen ging . Wir
haben es auch sehr begrüßt, dass sie hier in Deutschland
stattfindet. Wir hielten aber die Beteiligung der deut-
schen Marine daran nicht für notwendig . Darüber kann
man diskutieren . Wir haben uns so entschieden .
Aber wir stehen ja vor ganz anderen Herausforderun-
gen . Das betrifft auch die atomare Abrüstung . Im Mo-
ment werden atomare Sprengköpfe, die in Deutschland
gelagert sind, modernisiert . Das heißt, auf europäischem
Boden werden neue taktische Atomwaffen stationiert .
Es gibt seitens der USA auch die Überlegung, taktische
Atomwaffen in Osteuropa zu stationieren .
Meine Frage ist: Wie sieht die Bundesregierung ange-
sichts der großen Herausforderungen der Abrüstung die
jetzige Modernisierung von taktischen US-Atomwaffen
in Deutschland? Sehen Sie dadurch nicht die Gefahr ei-
ner neuen atomaren Aufrüstungsspirale?
Ich freue mich, dass die Linke an der Seite der So-zialdemokraten und insbesondere an der Seite des Au-ßenministers ist . Er hat vor wenigen Monaten in Wienverkündet, dass die Organisation für Sicherheit und Zu-sammenarbeit in Europa unter dem deutschen Vorsitzauch das Thema der konventionellen Abrüstung, diesozusagen ein Spiegelbild dessen ist, was Sie eben be-schrieben haben, diskutiert .
Ich würde mich unheimlich freuen, wenn Sie den Außen-minister im kommenden Jahr bei dieser Frage unterstüt-zen würden .
Wenn ich noch auf Ihre Frage antworten darf – Siehaben mich ja gefragt;
es reicht ja nicht, nur eine Antwort zu geben, es gibt aucheine zweite Antwort –: Ich bedauere, dass Sie sich erneuteinen schlanken Fuß gemacht haben bei einem Auftrag,den Deutschland vonseiten der gesamten Vereinten Nati-onen bekommen hat, nämlich chemische Restsubstanzendessen, was damals auf dem Mittelmeer auch unter Be-gleitschutz vernichtet worden ist, hier endgültig zu ver-nichten .
Dr. Rolf Mützenich
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Da haben Sie sich erneut nicht – deswegen ist es ja sowohlfeil, wenn Sie über die Vereinten Nationen spre-chen – an einem internationalen Mandat beteiligt .Damit haben wir etwas ganz Konkretes für die Ver-einten Nationen getan, nämlich zur Abrüstung in Syrienbeigetragen . Das wäre auch eine Chance für die Linkegewesen, in dieser Legislaturperiode zu beweisen, dasssie es ernst meint bei Fragen, die die Vereinten Nationenan sie stellt .
Ich möchte den Außenminister nicht nur ermutigen,das Abrüstungsthema im Bereich der Organisation für Si-cherheit und Zusammenarbeit in Europa noch stärker zubearbeiten, ich würde ihn auch gerne bei dem ermutigen,was der Koalitionsvertrag der drei Parteien bzw . beidenFraktionen zu der völkerrechtlichen Ächtung vollauto-matisierter Waffensysteme sagt . Auch das ist eine ganzwichtige Herausforderung . In den letzten Monaten sindgerade von Deutschland aus Anstrengungen unternom-men worden . Das war genauso ein konkreter Beitrag zuAbrüstung und Rüstungskontrolle . Der gesamte Bundes-tag sollte das unterstützen .
Ich würde gerne noch an einen Punkt erinnern, derbisher keine große Rolle gespielt hat, der jedoch genausofür das Habenkonto der Vereinten Nationen zählt: DasVölkerrecht ist mehr und mehr Leitschnur der internati-onalen Politik geworden . Die internationalen Gerichts-höfe schlichten entweder durch Vermittlung oder durchRechtsgutachten Streitfälle und entwickeln das Völker-recht fort . Das Römische Statut des Internationalen Straf-gerichtshofs ist ein phänomenaler Fortschritt im Bereichder Vereinten Nationen .Meine Damen und Herren, die Vereinten Nationensind nicht alles, schon gar keine Weltregierung . Für eineaus den Fugen geratene Weltordnung sind sie gleichwohlein Mittel zur Konfliktbearbeitung. Daran können wirmit Stolz und Entschlossenheit mitarbeiten .Vielen Dank .
Das Wort hat der Kollege Dr . Andreas Nick für die
CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!70 Jahre Vereinte Nationen sind Anlass zu Rückblick undAusblick, zu einer kritischen Bestandsaufnahme des Er-reichten, aber auch der Zukunftsaufgaben der VereintenNationen und der Anforderungen, die sich daraus erge-ben .Die Gründung der Vereinten Nationen gehört zwei-felsohne zu den großen Errungenschaften der Mensch-heitsgeschichte . Sie stehen nach dem Scheitern des Völ-kerbundes für einen Neuanfang im Bemühen um Friedenund ein besseres Zusammenleben auf unserem Planeten .Mit der Charta der Vereinten Nationen und der All-gemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 ent-stand ein gemeinsames Wertefundament, auf das sichalle Menschen weltweit berufen können . Wie keine an-dere Organisation weltweit nehmen sich die VereintenNationen der Sicherung des Friedens, des Schutzes derMenschenrechte und humanitärer Aufgaben an, etwa inFlüchtlingslagern oder bei Hungersnöten . Als globalesSystem kollektiver Sicherheit und als institutionalisiertesForum für internationalen Austausch sind die VereintenNationen unverzichtbar . Die Glaubwürdigkeit der VN alsInstitution hat aber gelitten, weil durch die Blockadehal-tung einzelner Mitglieder im Weltsicherheitsrat Entschei-dungen zunehmend unmöglich werden .Aber auch wenn sie nicht immer alle Erwartungen er-füllen konnten: Die Rolle und die Legitimation der Ver-einten Nationen bei der Durchführung von Friedensmis-sionen sind unbestritten . Friedensmissionen sind längstnicht mehr auf militärische Mittel beschränkt . In denheutigen multidimensionalen Missionen kommt die ge-samte Bandbreite militärischer, polizeilicher und zivilerInstrumente zum Tragen .Zur Erfüllung dieser Aufgaben benötigen die Ver-einten Nationen eine angemessene Ausstattung, finan-ziell und personell . Deutschland ist zwar viertgrößterBeitragszahler für den Peacekeeping-Haushalt, bislangaber mit lediglich 159 Soldaten – das sind weniger als0,2 Prozent aller in UN-Friedensmissionen eingesetztenSoldaten – und 20 Polizeikräften in internationalen Mis-sionen vertreten .Meine Damen und Herren, wenn wir die Vereinten Na-tionen stärken wollen, dann müssen wir uns der Verant-wortung stellen, auch einen angemessenen personellenBeitrag zu internationalen Friedensmissionen zu leisten .
Dabei geht es vor allem um Schlüsselfähigkeiten in an-spruchsvollen technischen Bereichen, bei der Logistikoder im Sanitätswesen, und um Aufklärungs- oder Füh-rungsfähigkeiten .Auch im Bereich der polizeilichen Einsatzkräfte ge-nießt Deutschland einen hervorragenden Ruf . Hier müs-sen wir ebenfalls mehr Einsatz zeigen . Das erfordertVerbesserungen auch in der Zusammenarbeit von Bundund Ländern, weil zum Teil die Länder die Kräfte stellenmüssen .
Die größten Herausforderungen bei Konfliktverhü-tung und -eindämmung liegen allerdings bei Bürgerkrie-Dr. Rolf Mützenich
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gen und innerstaatlichen Konflikten – so wie in Syrienoder, historisch, in Ruanda . Als Reaktion auf das Versa-gen der internationalen Gemeinschaft beim Völkermordin Ruanda 1994 wurde das Konzept der Responsibility toProtect, der Schutzverantwortung, entwickelt, für dessenWeiterentwicklung und Stärkung wir uns einsetzen .Die internationale Gemeinschaft ist gefordert, wennein Staat nicht willens oder fähig ist, seine Bevölkerungvor schwersten Menschenrechtsverletzungen zu schüt-zen, oder wenn er gar Krieg gegen seine eigene Bevöl-kerung führt . Wir unterstützen daher nachdrücklich diefranzösische Initiative, nach der die ständigen Mitgliederdes Weltsicherheitsrats bei Fragen der Schutzverantwor-tung grundsätzlich auf ihr Veto verzichten .
Die Vereinten Nationen definieren aber auch Zu-kunftsaufgaben . Mit der Agenda 2030, die für einen Pa-radigmenwechsel steht, wird darauf hingearbeitet, diebeiden großen Ziele der Armutsreduzierung und der öko-logischen Tragfähigkeit unseres Planeten miteinander inEinklang zu bringen . Daher kann es auch kein einfachesWeiter-so im Sinne traditioneller Konzepte der Entwick-lungspolitik geben, sondern wir brauchen und haben da-mit eine international vereinbarte universelle Agenda, diesich erstmals an alle Ländergruppen weltweit richtet undkonkrete Anforderungen stellt – im Sinne einer globalenPartnerschaft .Die entwickelten Länder müssen sich einbringen,etwa bei der Entkopplung des Energieverbrauchs vonder CO2-Emission durch moderne Technologien und ent-sprechende Konzepte . Deutschland kann hier im Bereichdes Klimaschutzes bei der Klimakonferenz Ende des Jah-res in Paris wiederum eine Vorreiterrolle einnehmen . DieSchwellen- und Entwicklungsländer müssen vor allemdurch gute Regierungsführung, Bekämpfung von Kor-ruption und Schaffung attraktiver wirtschaftlicher Rah-menbedingungen ihrerseits zentrale Voraussetzungen fürWohlstand und Entwicklung schaffen .Der Präsident des Deutschen Bundestages, ProfessorLammert, hat bei der Konferenz der Parlamentspräsi-denten in New York vor einigen Wochen ausdrücklichbemängelt, dass die Entwicklung demokratischer Ver-hältnisse leider nicht zu den vereinbarten 17 nachhalti-gen Entwicklungszielen gehört – eine Kritik, der wir uns,glaube ich, anschließen sollten . Demokratie ist kein Lu-xus für wenige, sondern eine elementare Voraussetzungfür Wohlstand und Entwicklung weltweit .
In einer globalisierten Welt brauchen wir künftig einefunktionierende Global Governance, und zwar mehrdenn je. Bei allen Defiziten, die ich angesprochen habe,gilt aber: Die Vereinten Nationen bieten da die besteHoffnung . Aber wir müssen ihre Effektivität und Legiti-mation stärken, wenn wir das erreichen wollen . Die Ver-einten Nationen – das ist schon gesagt worden – müssendie Realität der Welt von heute abbilden, und das wirdnicht gelingen, solange ihr institutioneller Aufbau vor-rangig die Machtverhältnisse des Jahres 1945 widerspie-gelt . Es soll sich dabei niemand täuschen: Wenn das nichtgelingt, dann droht auf Dauer ein weiterer Verlust derRelevanz der Vereinten Nationen . Für globale Problemewerden dann neue Formate gesucht werden, oder dieseProbleme bleiben im schlimmsten Fall weiter ungelöst .Deshalb ist die Reform des UN-Sicherheitsrates weiter-hin eine der dringlichsten Aufgaben .Wir unterstützen den Vorschlag der G 4, also von Ja-pan, Indien, Brasilien und Deutschland . Es ist vorhin ge-sagt worden, wir sollten darauf verzichten . Ich glaube,es ist allgemein anerkannt – das wurde auch bei den Ge-sprächen deutlich, die wir vor kurzem mit der Delegationdes Unterausschusses in New York geführt haben –, dasswir Deutsche nicht vorrangig eigene Ziele verfolgen,sondern für mehr regionale Ausgewogenheit, für breitereLegitimation werben . Wenn es denn gewünscht ist, dannist Deutschland auch bereit, mehr Verantwortung auf al-len Ebenen in diesem Prozess zu übernehmen . Deshalbbewerben wir uns für das Jahr 2019 erneut um einennichtständigen Sitz im Sicherheitsrat und sind langfristigauch bereit, einen ständigen Sitz zu übernehmen .Wir wollen auch die personelle Vertretung deutscherMitarbeiter in der UN und deren Organisationen verstär-ken . Ich füge hinzu: Wir unterstützen auch ausdrücklichdie Bewerbung des Bundesrechnungshofs um einen Platzim UN Board of Auditors – eine wichtige Maßnahme,um uns dort auch international stärker zu engagieren . DerHaushaltsausschuss hat dafür ja auch entsprechende Un-terstützung zugesichert .Meine Damen und Herren, für Frieden, Sicherheit undmenschlichen Fortschritt werden die Vereinten Nationenauch in den kommenden 70 Jahren ein unentbehrlicherPartner bleiben . Eine bessere Welt können wir nur ge-meinsam mit den Vereinten Nationen schaffen .Vielen Dank .
Das Wort hat die Kollegin Edelgard Bulmahn für die
SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren undDamen! Vor 70 Jahren wurde nach zwei furchtbaren undschrecklichen Weltkriegen mit der Gründung der VNeine neue Epoche internationaler Beziehungen eingelei-tet . Für uns, die Menschen in der westlichen Welt, waren70 Jahre Vereinte Nationen 70 Jahre des Friedens . AusFeinden sind gute Nachbarn geworden . Zudem erfreuenwir uns einer noch nie vorher erlebten persönlichen Frei-heit und auch Sicherheit .Wenn man allerdings die Vorstellung hegte, dass dieVN eine Weltdemokratie schaffen würden, in der überallund zu jeder Zeit demokratische Grundsätze und Prinzi-Dr. Andreas Nick
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pien herrschen würden, dass eine Welt ohne Gewalt undKonflikte entstehe, dann muss man konstatieren: Nein,das ist nicht gelungen . Global gesehen ist mit der Grün-dung der UN der Aufbau einer internationalen Ordnunggelungen . Die UN haben zwar nicht grundsätzlich denAusbruch von Kriegen verhindert, aber sie haben maß-geblich zur Eindämmung von Konflikten und zur Befrie-dung von Regionen beigetragen . Damit haben sie für dasLeben der Menschen einen wichtigen Beitrag geleistet .Die UN bilden ein Forum, auf dem Staaten miteinanderreden, miteinander verhandeln – oft mühsam, oft lang-wierig –, auf dem sie sich Regeln für das Miteinanderund das Zusammen geben, statt aufeinander zu schießen;Regeln, die für unser Zusammenleben eine hohe Bedeu-tung haben, wie zum Beispiel das Verbot des Exportesvon Massenvernichtungswaffen oder das Konzept derSchutzverantwortung – R2P, Responsibility to Protect –oder auch das Konzept zur Bekämpfung und zum Verbotvon Kleinwaffen .Heute muss jeder Diktator, jeder Milizionär, der Men-schenrechte mit Füßen tritt, der sich zu Völkermord undKriegsverbrechen hinreißen lässt, damit rechnen, von derVölkergemeinschaft zur Verantwortung gezogen zu wer-den .
Allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist der Fort-schritt keine Einbahnstraße . Wir erleben gerade jetzt dieRückkehr der Barbarei mit Massenhinrichtungen, mit derVersklavung von Frauen und Mädchen, mit der Verfol-gung von ethnischen und religiösen Minderheiten . GanzeStaaten befinden sich in Auflösung. Millionen Menschensind auf der Flucht . Sie suchen Rettung, sie suchen Si-cherheit, sie suchen ein besseres Leben .Ich bin davon überzeugt, dass wir eine Epochenwendeerleben, die uns viel abverlangen wird und die wir nurgemeinsam in internationaler Kooperation auch bewäl-tigen können .
Deutschland wird dabei mehr Verantwortung über-nehmen müssen . Aber Verantwortung zu übernehmen,bedeutet nicht automatisch, sich vor allem militärischeinzubringen . Militärische Mittel – das gilt heute umsomehr – sind nur die Ultima Ratio, um Terror zu been-den, um Bürgerkrieg zu beenden und Verhandlungen zuermöglichen . Militäreinsätze alleine bringen keine Sta-bilität .
Wir unterstützen ausdrücklich die Entscheidung derBundesregierung, mehr Spezialisten in die Polizeimissi-onen in Mali, Südsudan, Haiti und Somalia zur Ausbil-dung, aber auch zur Korruptionsbekämpfung zu entsen-den; denn ohne qualifizierte Polizei ist Rechtsstaatlichkeitnicht zu gewährleisten, und ohne Rechtsstaatlichkeit gibtes keinen Frieden . Aber – auch das sage ich an die Adres-se der Regierung – wir werden noch mehr leisten müs-sen, und zwar sowohl bei Polizeimissionen wie auch beizivilen Kriseneinsätzen generell .Der VN-Generalsekretär hat vor wenigen Wochen aufeinige gravierende Probleme der VN-Missionen hinge-wiesen . Sie lassen sich wie folgt zusammenfassen: zuschlecht ausgestattet, zu spät gestartet, zu wenig zielge-richtet, zu kurzfristig angelegt und zu wenig koordiniert .Er fordert, dass Konfliktprävention und Mediation Vor-rang haben sollen vor allen anderen Bemühungen, dassMissionsziele passgenauer konzipiert werden müssenund dass Konfliktbearbeitung und -lösung ein anhalten-des, hohes und umfassendes politisches Engagement er-fordern . Diese Bemühungen, liebe Kolleginnen und Kol-legen, diese Veränderungen müssen wir mit aller Kraftvon unserer Seite unterstützen .
Unsere Erfahrungen aus den vergangenen Jahrzehn-ten zeigen sehr deutlich: Konfliktparteien werden nichtplötzlich zu Freunden, nur weil sie einen Vertrag unter-schrieben haben . Mehr Verantwortung zu übernehmen,heißt deshalb heute, Hilfe und Unterstützung zu gebenbei der Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit, von GoodGovernance, politischer und regionaler Machtteilung,zum Schutz von Menschenrechten, bei der Bekämpfungvon Korruption, bei der Schaffung von Verteilungsge-rechtigkeit – durch Geld, besonders aber durch Expertenund Helfer .Der Aufbau eines Sicherheitssektors, der sich nichteinzelnen Machthabern verpflichtet fühlt, sondern derVerfassung verpflichtet fühlt, sowie die Stärkung der Zi-vilgesellschaft sind ebenso Bedingungen für Frieden undSicherheit wie Gesundheitsversorgung, Zugang zu gutenBildungsmöglichkeiten und Hilfe für die wirtschaftlicheEntwicklung . Mehr Verantwortung zu übernehmen, heißt,den Herausforderungen des Klimawandels durch eigenesHandeln Rechnung zu tragen und illegale Finanzströmezu unterbinden . Mehr Verantwortung zu übernehmen,heißt, die Entwicklung stabiler Gesellschaften zu för-dern . Das haben die UN im Übrigen bei ihrer Gründungschon sehr präzise und sehr deutlich als ihren Auftrag be-Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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schrieben, Hilfe bei der Schlichtung von Konflikten zuleisten und Versöhnungsprozesse zu moderieren .Willy Brandt hat das bereits vor über 50 Jahren sehrzutreffend formuliert: Es genügt nicht, friedfertige Ab-sichten zu verkünden, wir müssen uns aktiv um die Or-ganisation des Friedens bemühen . – Wir müssen für Frie-den arbeiten, liebe Genossinnen und Genossen .
– Liebe Kolleginnen und Kollegen . – Das ist Aufgabeund das Anliegen von uns allen, und das ist das Anliegender Vereinten Nationen .Das alles, liebe Kolleginnen undKollegen, macht ziviles Krisenmanagement, zivile Kri-senprävention und Friedensförderung der UN aus, undnur so kann sich eine Kultur der friedlichen Konfliktbe-wältigung entwickeln .Es ist eben nicht die eine militärische Intervention,es ist auch nicht die eine Entscheidung, nicht die eineInitiative, die Frieden bringt . Friedensförderung und zi-vile Krisenprävention sind mühsame, langwierige, kom-plexe Prozesse . Und deshalb sind sie medienuntauglichund werden in ihrer politischen Bedeutung noch immervöllig unterschätzt . Insofern erfordern sie auch eine neuepolitische Kultur – nicht das in der Politik übliche Res-sortdenken, sondern umfassendes strategisches Handelnist erforderlich .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, nach 70 Jah-ren haben die Ziele der UN-Charta nichts an Aktualitätverloren . Erfolg werden wir nur haben, wenn wir ge-meinsam, nicht zuletzt im Rahmen der UN, nach Lö-sungen suchen, die Vereinten Nationen stärken und dieAufgabe mutig und couragiert annehmen .
Kollegin Bulmahn, ich störe ungern, aber Sie müssen
zum Ende kommen .
Ich schließe mit Willy Brandt:
In einer Welt, in der … jeder auf jeden angewiesen
ist …, darf Friedenspolitik nicht vor der eigenen
Haustür haltmachen .
Vielen Dank .
Der Kollege Florian Hahn hat für die CDU/CSU-Frak-
tion das Wort .
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Liebe Genossin Bulmahn!
Trotz aller Kritik, die insbesondere mit Blick auf dieStrukturen der Weltorganisation – es ist in den vielen De-battenbeiträgen schon deutlich geworden – und vor allemauch ihre finanzielle Ausstattung geäußert wird, bleibendie Vereinten Nationen unersetzbar, und das auch nach70 Jahren . Die UN allein verfügt über eine besondere Le-gitimität bei der Lösung globaler Fragen . Epidemien wieEbola, Themen wie Cyberkriminalität oder die Flücht-lingsströme zeigen, dass die Herausforderungen des21 . Jahrhunderts nicht an Landesgrenzen haltmachen .Die Vereinten Nationen sind als universelles Forum derVölker gerade in den heutigen unruhigen Zeiten unent-behrlich .Meine Damen und Herren, der Auftrag der UN hatsich zudem längst erweitert . Sicherheit wird heute nichtmehr nur rein militärisch definiert. Der „Weltzukunfts-vertrag“ – wie Bundesminister Müller die 2030-Agendafür nachhaltige Entwicklung richtungsweisend benann-te – wird die Architektur der internationalen Entwick-lungspolitik grundlegend verändern . Im Dezember wirdvoraussichtlich ein weltweit bindendes Klimaabkom-men verabschiedet . Das sind die Entscheidungen überwegweisende Menschheitsfragen, und so handelt mitSicherheit kein lahmer Riese, der angeblich keine Durch-schlagskraft hat .Viele Kritiker halten dagegen: Heute werden so vieleFlüchtlinge weltweit gezählt wie seit 1945 nicht mehr .In Syrien, im Irak oder Jemen sind in den verschiedenenKonfliktparteien Regime und Terrororganisationen amWerk, bei denen die UN machtlos erscheint . Noch dazuzeigt sich das Gremium durch Vetos und Blockaden invielen Bereichen oft handlungsunfähig . Aber wir dürfennicht vergessen: Die Vereinten Nationen agieren meistals eine Art Last Resort, wenn alle anderen Wege bereitsvergeblich gegangen wurden .Ich schaue mit verhaltener Hoffnung nach Libyen .Hier ließ die UN trotz schwierigster Bedingungen denGesprächsfaden nicht abreißen . Die Ausgangspositiondes UN-Sondergesandten Bernardino León war alles an-dere als erfolgversprechend . Trotzdem konnte man sichauf Kandidaten für eine Regierung der nationalen Einheiteinigen . Ein Erfolg hätte, wenn er denn realisiert würde –das hoffen wir –, weitreichende Auswirkungen auch aufEuropa .
Der Westen Libyens war seit Sommer 2014 eine deroffenen Flanken Europas, und die fragile Struktur dortbot islamischen Gotteskriegern einen warmen Nistplatz .Es ist der Erfolg der UN, dass wir ab dem 20 . Oktoberhoffentlich einen handlungsfähigen Ansprechpartner inLibyen haben werden . Das hieße für uns auch: der Be-ginn von Gesprächen über die Flüchtlingskrise .Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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Wir haben in der vergangenen Sitzungswoche über diePhase 2 des Mandats EUNAVFOR MED entschieden .Zu Recht haben kritische Stimmen angemerkt, dass derEinsatz gegen Schlepper auf dem Mittelmeer nicht weitgenug geht . Mit einer Einigung mit Libyen bestünde dieMöglichkeit, die Mission von internationalen Gewässernauf die libysche Küste auszuweiten und die Schlepper,die aus dem Schicksal der Flüchtlinge ein Geschäft ma-chen, noch effektiver zu bekämpfen .Libyen zeigt, dass der Weg der Vereinten Nationen,der Weg hartnäckiger Gespräche, erfolgreich sein kann .Selbst im Fall Syrien wurden trotz Vetos Resolutionenverabschiedet wie zur erfolgreichen Chemiewaffenzer-störung oder zur Einigung über grenzüberschreitendeHilfsmaßnahmen .Richtig ist – das zeigt der Alleingang Putins im Syri-en-Konflikt sehr drastisch –, dass ein Sicherheitsrat, derdie Welt von 1945 abbildet, die Probleme des 21 . Jahr-hunderts nicht optimal lösen kann . BundeskanzlerinMerkels gemeinsame Initiative mit den anderen großenBeitragszahlern Brasilien, Japan und Indien, den Sicher-heitsrat zu reformieren, ist nur folgerichtig . Die Strukturund die Arbeitsweise sollten die wirklichen Kräftever-hältnisse widerspiegeln, sowohl mit Blick auf regionaleals auch finanzielle Komponenten.Lassen Sie mich auf einen weiteren Aufgabenaspektder Vereinten Nationen zu sprechen kommen . Die UNund ihre Friedensmissionen adressieren ja nicht nur dieLösungen von Konflikten und ihren Folgen, sie sollenauch eine wiederkehrende Gewaltspirale verhindern . Einelementarer erster Schritt ist hierbei die Stärkung der fra-gilen Ordnung in Postkonfliktszenarien. Ich begrüße da-her die in der vergangenen Woche im Kabinett beschlos-sene Ausweitung unseres polizeilichen Engagements inUN-Missionen sehr . Deutschlands Exportschlager istsicherlich unser Rechtsstaatssystem . Hierzu gehört auchdas Vertrauen in unsere Polizisten . Deutsche Polizeibe-rater stehen für die Verlässlichkeit eines Rechtssystemsund genießen daher weltweit einen hervorragenden Ruf .Mein persönlicher Dank gilt ihrem Engagement .Insbesondere unser Einsatz in Mali ist ein gutes Bei-spiel für ein umfassendes deutsches Engagement . 20 Be-amtinnen und Beamte werden künftig im Rahmen derUN-Mission MINUSMA malische Polizisten beraten undausbilden . Die Polizeiausbildung soll Mali helfen, mehrEigenverantwortung im Sicherheitsbereich übernehmenzu können . Gleichzeitig ist Deutschland mit 195 Solda-tinnen und Soldaten an der europäischen Ausbildungs-mission EUTM Mali beteiligt und unterstützt mit fünfZivilisten die GSVP-Mission EUCAP Sahel Mali . Die-ses Engagement ist gerade in Mali wichtig, weil wir inMali Stabilität brauchen . Das ist essenziell, nicht nurfür die Menschen dort, sondern auch für uns, damit dieMenschen die Perspektive haben, in ihrem Land bleibenzu können . Denn aus und durch Mali drohen uns aktuellähnliche Flüchtlingsbewegungen, wie wir sie im Mo-ment über den Balkan erleben . Wir erfüllen mit unseremEinsatz in europäischen Missionen bereits ähnliche man-datierte Aufgaben . Das sollten wir nicht vergessen, wennwir darüber diskutieren, ob wir mit genügend deutschemEngagement und Stärke an UN-Missionen beteiligt sind .Unsere Entscheidung, das polizeiliche Engagementim Südsudan von 10 auf 20 Beamte zu verdoppeln, illus-triert: Es geht tatsächlich mehr . Das ist eine neue Qualitätdes Einsatzes, das zeigt einen weiteren Aspekt deutschenEngagements . Deutschland sendet ein Spezialistenteam,das sich langfristig und ausschließlich mit dem Thema„sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt im Südsu-dan“ befasst. Dieser spezifische Fokus zeigt, dass wir,wenn wir uns den Wurzeln von Konflikten nähern wol-len, Experten benötigen, und zwar nicht nur der Polizei,sondern aus unterschiedlichsten Berufsgruppen .Sehr geehrte Damen und Herren, bei all den Seiten-hieben, die die Vereinten Nationen oft erleiden müssen,dürfen wir nicht vergessen, dass Erfolge und Stärken derUN oft weniger medienwirksam sind als ihre spektaku-lären Misserfolge . Daher möchte ich zum Schluss das70-jährige Jubiläum der Vereinten Nationen zum Anlassnehmen, den Blick auf die Leistungen des UN-Sonderge-sandten Léon zu richten . Für uns in Deutschland – geradevor dem Hintergrund der Flüchtlingsströme – kann seinVerhandlungsergebnis, wenn es hält, ein entscheidenderSchritt sein .
Kollege Hahn, Sie müssen zum Schluss kommen .
Abschließend möchte ich mich dem Kollegen Jürgen
Hardt anschließen: Wir müssen die finanzielle Ausstat-
tung der Hilfswerke der UN gemeinsam stabilisieren .
Die Vereinten Nationen sind nur so stark, wie wir, die
Nationen, sie machen .
Herzlichen Dank .
Das Wort hat der Kollege Jürgen Klimke für die CDU/
CSU-Fraktion .
Danke sehr, Frau Präsidentin . – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Meine Damen und Herren! Lassen Siemich mit einem Zitat des UN-Generalsekretärs Ban Ki-moon beginnen:Das 70-Jahr-Jubiläum der Vereinten Nationen bie-tet die Möglichkeit zum Reflektieren – zurückzu-schauen auf die Geschichte der UNO und Bilanz zuziehen über die bleibenden Errungenschaften . Es istauch eine Möglichkeit, zu sehen, wo die UNO – unddie internationale Gemeinschaft als Ganzes – ihreBemühungen verdoppeln muss, um den jetzigenund zukünftigen Herausforderungen über die dreiSäulen ihrer Tätigkeit entgegenzutreten: Friedenund Sicherheit, Entwicklung und Menschenrechte .Bevor ich auf die Defizite der Vereinten Nationen imBereich der Sicherheitspolitik eingehe, die aus meinerFlorian Hahn
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Sicht vorhanden sind, die aber auch schon mehrfach an-gesprochen worden sind, möchte ich den Wandel beto-nen, den diese Institution in den vergangenen 70 Jahrenvollzogen hat . Längst stehen auch Themen der Entwick-lungszusammenarbeit, der Globalisierung und der Kli-maerwärmung, jüngst auch die Flüchtlingskrise auf derAgenda der Vereinten Nationen . Zum Beispiel im Be-reich der Entwicklung waren die Millenniumsentwick-lungsziele lange Zeit Vorgabe und Handlungsrahmen .Pünktlich zum Jubiläum haben wir nun die Post-Agen-da in New York unterzeichnet . Mit den neuen Entwick-lungszielen wollen wir nicht nur Armut und Krankheitenbekämpfen; wir wollen auch die Globalisierung ökolo-gisch und sozial nachhaltig gestalten . Um es mit BanKi-moons Worten zu sagen: Auch da müssen wir unsereAnstrengungen verdoppeln .Wenn wir von den Defiziten und von der Dysfunktio-nalität der Vereinten Nationen reden, so meinen wir fastimmer die Säulen Frieden und Sicherheit . Tatsächlich istes in den 70 Jahren des Bestehens der Vereinten Nati-onen nicht gelungen, gewaltsame Konflikte zu vermei-den oder wenigstens ihre Anzahl deutlich zu reduzieren;im besten Fall kam es zur Mediation . Woran liegt das?Die Vereinten Nationen wurden gegründet, um den gro-ßen Krieg zwischen den Blöcken zu verhindern; das istmehrfach gesagt worden . Sie spiegeln in ihrer Strukturnach wie vor die Situation, die Welt von 1945 wider . Dasgilt insbesondere für den Sicherheitsrat . Wir fordern eineStrukturreform, damit sich in der Struktur die globaleVerteilung besser abbilden kann . Auch das Vetorecht derständigen Mitglieder behindert die Aktivitäten der Ver-einten Nationen .Wir sollten auch darüber nachdenken – das ist mei-ne persönliche Meinung; sie wird aber nicht nur von mirpropagiert –, ob nicht eine Parlamentarische Versamm-lung bei den Vereinten Nationen sinnvoll wäre, um diedemokratische Legitimation der Vereinten Nationen zustärken . Wir haben so etwas in der OSZE, in Europa .Da spielt die Parlamentarische Versammlung eine ganzwichtige Rolle; sie erfüllt eine wichtige Funktion . Ausmeiner Sicht ist das durchaus ein gutes Beispiel .Konflikte sind heute nur noch selten zwischenstaat-lich, vielmehr häufig von hybrider Kriegsführung, vonFreischärlern, von Separatisten oder auch von Terro-rismus geprägt. Wir alle wissen, dass solche Konflik-te schwerer zu beheben sind . Es reicht eben nicht aus,Blauhelmsoldaten in ein Krisengebiet zu schicken, ohneweitere nationale Kontrollmechanismen zu implementie-ren . Zudem müssen die Missionen über immer mehr Fä-higkeiten verfügen . Zum Beispiel müssen die angespro-chenen Polizeiaufgaben oder die Mediationsaufgabenübernommen werden .Die Vereinten Nationen reagieren auf diese Heraus-forderungen . So werden immer wieder und immer öfterregionale Organisationen und Akteure einbezogen . Einegute Kooperation besteht beispielsweise mit der Afrika-nischen Union. Die finanziellen Mittel für diese zusätz-lichen und anspruchsvollen Aufgaben sind jedoch relativgering oder stehen fast gar nicht zur Verfügung .Aus diesem Grunde fordern wir mit unserem Antragdie Bundesregierung auf, die Arbeit der Vereinten Nati-onen durch eine vermehrte Entsendung deutscher Frie-denstruppen zu stärken . Zwar ist die Bundesrepublik derviertgrößte Beitragszahler des Haushaltes der VereintenNationen für Friedensmissionen, dennoch stehen wir nurauf Platz 59 der 126 friedenstruppen- und polizeistellen-den Staaten . Gerade die Polizeikompetenzen – das istvon Kollegin Bulmahn und vom Kollegen Tom Koenigsangesprochen worden – sind immer stärker gefragt . Es istdas falsche Signal, dass wir als Bundesrepublik Deutsch-land im Grunde nur eine Handvoll Soldaten schicken .
Verändern kann man nur, wenn man etwas verstehtund kennt . Deshalb sollte die Bundesregierung – auchdas ist eine Forderung unseres Antrages – die Arbeitder Vereinten Nationen in Deutschland unterstützen undbekannter machen, also das Marketing verbessern . Hierleistet die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nati-onen viel Gutes . Das sollte aus unserer Sicht stärker un-terstützt werden . „Tu etwas Gutes, und rede darüber“ undnicht „Tu etwas Gutes, und halte die Schnauze“ – das istdas Motto .
Ich halte es zudem für wichtig, durch Projekte und Si-mulationen wie Model United Nations die Jugend stärkerzu mobilisieren und das Thema Vereinte Nationen auchmit den jungen Leuten stärker zu verbinden, sie zu sen-sibilisieren . In unserem Antrag greifen wir diese Ideeebenfalls auf . Unsere Kinder leben in einer Welt, die wirfür sie gestaltet haben . Sie sollten sich stärker einbringenund die Zukunft so gestalten, wie sie sie sich wünschen,damit sie auch dahinterstehen .Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Rede vor den Ver-einten Nationen gesagt: Nichts muss so bleiben, wie esist . Veränderung ist möglich, auch im Guten . Jede großeVeränderung fängt im Kopf an . Das Ziel, die weltweiteArmut abzuschaffen, hat man früher auch als Träumereiabgetan . Nun ist man ein gutes Stück weiter . Wir sehen,dass wir es schaffen können . – Dies muss aus unsererSicht auch für die Vereinten Nationen gelten: Sehen, wasmöglich ist, und daran arbeiten, es zu erreichen .Herzlichen Dank .
Ich schließe die Aussprache . – Wir kommen zu denAbstimmungen über die Entschließungsanträge .Zuerst stimmen wir über den Entschließungsantragder Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksa-che 18/6331 ab . Wer stimmt für diesen Entschließungs-antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – DerEntschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koaliti-Jürgen Klimke
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onsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linkeund bei Enthaltung einiger Abgeordneter der FraktionBündnis 90/Die Grünen angenommen .Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa-che 18/6332 . Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dage-gen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantragist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und derFraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Fraktion DieLinke abgelehnt .Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/6333 .Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke ge-gen die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt .Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:Befragung der BundesregierungDie Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-binettssitzung mitgeteilt: Entwurf eines Dritten Ge-setzes zur Änderung des Aufstiegsfortbildungsförde-rungsgesetzes.Ich bitte, die offensichtlich notwendigen Umgruppie-rungen in den Fraktionen zügig vorzunehmen .Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Berichthat die Bundesministerin für Bildung und Forschung,Frau Dr . Johanna Wanka .Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir haben heute früh im Kabinett die Änderungeines Gesetzes beschlossen . Es heißt „Aufstiegsfortbil-dungsförderungsgesetz“ . Der Begriff klingt irre .
Es ist aber eine wirklich gute Nachricht für all diejeni-gen, die Meisterin oder Meister, Fachwirt oder Fachwir-tin, Techniker oder Erzieherin werden wollen . Wir habenuns in der Großen Koalition in dieser Legislaturperiodeganz eindeutig dazu bekannt, dass wir die berufliche Bil-dung stärken wollen. Zu dieser Stärkung der beruflichenBildung gehört die Veränderung des sogenannten Meis-ter-BAföGs; das ist die Kurzbezeichnung dieses Geset-zes, die man sich auch gut einprägen kann .Wenn man sich fragt, wie viele Personen dieses Ge-setz betrifft, dann muss man deutlich sagen, dass dasMeister-BAföG im letzten Jahr von über 170 000 Men-schen in Anspruch genommen wurde . Das heißt, es istdie größte, bedeutendste und erfolgreichste Fördermaß-nahme, die wir im Bereich der beruflichen Weiterbildunghaben . Sie erreicht sehr viele Menschen . Deswegen sinddie Veränderungen dort sehr wichtig und für viele Men-schen interessant .Wenn man es kurz charakterisiert, sind in diesem Ge-setzentwurf drei Dinge zu finden: Erstens wird der Kreisderer, die diese Regelungen in Anspruch nehmen kön-nen, ausgeweitet . Zum Zweiten werden die Leistungenin vielfältiger Form und deutlich verbessert . Zum Drittengibt es auch strukturelle Elemente, die den Veränderun-gen in der Berufs- und in der akademischen Welt ent-sprechen .Ganz kurz zu den Verbesserungen: Es gibt in vielfäl-tiger Form höhere Leistungen, was die Zuschussanteile,aber auch was die Fördersätze anbetrifft . Zum Beispielkann das Meisterstück mehr als bisher gefördert werden .Bei den Beiträgen für Maßnahmen, die man zum Beispielfür einen Meisterlehrgang entrichten muss, gibt es mehrUnterstützung . Hinzu kommen vielfältige Maßnahmen,die auf die spezielle Situation solcher Menschen zuge-schnitten sind, die bereits im beruflichen Leben stehenund Familie haben; in diesem Gesetz finden sich alsoviele Maßnahmen zur Verbesserung der Familienfreund-lichkeit . Außerdem wird der Bonus, der einem zusteht,wenn man die Meisterprüfung erfolgreich besteht, auf30 Prozent erhöht . Dieser Anteil wird dann von dem Dar-lehen für die Maßnahmekosten, das aufgenommen wur-de, erlassen .Die Erweiterung des Kreises der Anspruchsberechtig-ten geschieht durch die Erhöhung des Vermögensfreibe-trages auf über 40 000 Euro .Auch die strukturellen Veränderungen sind ganz wich-tig . Uns geht es darum, die duale Ausbildung zu stärken .Ein Problem, das wir jetzt mit vielen Maßnahmen an-gehen, war in Deutschland immer die Durchlässigkeit,dass man also von der beruflichen in die akademischeAusbildung und umgekehrt wechseln kann . Jetzt wurderealisiert, dass zum Beispiel Studienabbrecher oder an-dere, die keinen Ausbildungsabschluss haben, trotzdemdie Möglichkeit bekommen, eine Aufstiegsfortbildunggefördert zu absolvieren, wenn sie die entsprechendenVoraussetzungen für die Prüfung mitbringen . Andersher-um sollen auch Bachelorabsolventen die Möglichkeit ha-ben, einen Meister zu machen . Wenn man sich vor Augenführt, dass in den nächsten zehn Jahren 200 000 Hand-werksbetriebe einen neuen Chef oder eine neue Chefinbrauchen, dann ist das natürlich eine ganz interessanteKlientel . Deswegen ist dieser Schritt genauso wichtigwie die vielfältigen Maßnahmen, um Bürokratie abzu-bauen .Dass wir das heute beschlossen haben, ist ein gutesSignal, vor allen Dingen an die jungen Menschen, um zudemonstrieren: Das ist ein Bereich, der attraktiv ist undvielfältige Chancen bietet . Hemmschwellen für Fortbil-dungsinteressierte werden gesenkt, Sorgen und Ängstewerden abgebaut, die Gleichwertigkeit zwischen akade-mischer und dualer Ausbildung wird betont – das ist einwichtiges Instrument, um den Führungs- und Fachkräf-tenachwuchs für die Wirtschaft zu sichern –, und nichtzuletzt wird die Vereinbarkeit von Familie und Beruf undAufstiegsfortbildung, die auch mir persönlich besonderswichtig ist, verbessert . Ich denke, auch wenn es komischheißt, ist es ein sehr wichtiges Gesetz .
Vizepräsidentin Petra Pau
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Vielen Dank, Frau Ministerin . – Ich bitte, zunächst
Fragen zu dem Themenbereich zu stellen, über den so-
eben berichtet wurde .
Dazu hat der Kollege Dr . Stefan Kaufmann das Wort .
Herzlichen Dank, Frau Ministerin, für die Darstel-
lung . – Wir reden ja zurzeit sehr viel über das Thema
Fachkräftesicherung; auch Sie haben es in Ihrem kurzen
Beitrag angesprochen . Welche konkreten Impulse für die
Fachkräftegewinnung versprechen Sie sich denn von die-
sem dritten Änderungsgesetz, und wie wollen Sie diese
umsetzen?
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Zum einen geht es um Wertschätzung; das hatte ich
eben angesprochen . Es wird ganz klar signalisiert, wel-
che Bedeutung handwerkliche oder andere berufliche
Ausbildungen in der Bundesrepublik Deutschland haben .
Im Moment drängen ganz viele junge Menschen in
die Hochschulen . Hintergrund ist, dass die Kinder – und
die Eltern unterstützen dies – natürlich immer gerne
die höchsten Abschlüsse erreichen möchten . Durch die
Stärkung der Möglichkeit, Meister zu werden, wird si-
gnalisiert, dass es sich auch lohnt, mit einer beruflichen
Ausbildung zu beginnen . Im Anschluss daran hat man
die Möglichkeit, Meister zu werden oder, wie das bisher
realisiert wurde, eine akademische Ausbildung zu durch-
laufen .
Das heißt, es geht bei dieser jetzt finanziell entspre-
chend unterstützten und gesicherten Fortbildung um
Wertschätzung, um Flexibilität und um Attraktivität . Das
sind ganz wichtige Punkte, um Mut zu machen, um die
Ängste und Sorgen, ob man eine Ausbildung zum Meis-
ter finanzieren kann, ein Stück weit abzubauen und um
noch mehr als bisher dazu zu motivieren, Meister oder
Meisterin oder auch Erzieher oder Erzieherin zu werden .
Uns fehlen junge Leute, die eine berufliche Ausbil-
dung durchlaufen, und wir müssen immer bedenken, dass
wir die Meister brauchen, weil sie die Berechtigung ha-
ben, auszubilden . Dies ist sozusagen der Weg, über den
es ermöglicht wird, dass Personen mit entsprechenden
Erfahrungen – zum Beispiel auch aus der Wirtschaft –
beruflich ausbilden.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Brigitte Pothmer .
Frau Ministerin, mich hat bei dieser Novelle etwas
irritiert, dass Sie das Meister-BAföG, was die akademi-
sche Seite betrifft, nur für Studienabbrecherinnen und
-abbrecher und für Menschen öffnen, die einen Bachelor-
abschluss haben . Warum öffnen Sie das Meister-BAföG
eigentlich nicht generell, also auch für alle, die ein Studi-
um gemacht und es auch voll abgeschlossen haben?
Daneben irritiert mich, dass Sie nur von 16 500 zusätz-
lichen Förderfällen ausgehen . Das ist ja nicht unbedingt
ein Hinweis darauf, dass Sie glauben, dass diese Novelle
in Bezug auf das Meister-BAföG zu einem richtig großen
Schub führen wird .
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Zu Ihrer zweiten Frage: Seit es das Meister-BAföG
per Gesetz gibt, wurden 1,7 Millionen Menschen damit
erreicht . Ich habe von 171 000 Menschen im Jahre 2014
gesprochen, und 2015 erreichen wir mit diesem Gesetz
vielleicht 170 000, 180 000 oder sogar über 200 000 . Das
sind wirklich beachtliche Größenordnungen . Wir können
aber natürlich nur schätzen und wissen nicht, wie viele
das wirklich in Anspruch nehmen werden . Das können
wir hinterher spitz abrechnen . Die Erfahrungen nach ein,
zwei oder drei Jahren werden dann eine etwas verlässli-
chere Grundlage sein .
Das Gesetz soll eine Aufstiegsfortbildung anregen
und unterstützen . Ein promovierter Architekt oder je-
mand, der einen vergleichbaren Abschluss hat, muss
nicht unbedingt die Möglichkeit haben, einen finanziell
unterstützten Meisterlehrgang zu realisieren . Ich glau-
be, es ist gerade eine Stärke, dass sich die unterschiedli-
chen Instrumente, also das Studierenden-BAföG und das
Meister-BAföG, sehr zielgerichtet an die unterschiedli-
chen Zielgruppen wenden . Deswegen ist es aus meiner
Sicht sowohl ordnungspolitisch als auch praktisch nicht
notwendig – das wird mit diesem Gesetzentwurf nicht
intendiert –, dass zum Beispiel provomierte Ingenieure
die Möglichkeit erhalten, den Meister zu erwerben .
Dieser Gesetzentwurf ist zum Beispiel für diejenigen
gedacht, die nach dem Abitur eine Lehre gemacht, da-
nach aber gar nicht praktisch gearbeitet haben, sondern in
die Hochschule gegangen sind . Ich denke zum Beispiel
an einen Tischler oder Schreiner, der nach seiner Aus-
bildung Design studiert hat und sich im Anschluss daran
entscheidet, einen Betrieb zu übernehmen . Das konnte er
bisher nur schwer – ihm fehlte ja die berufspraktische
Qualifikation –, jetzt kann er diese gefördert erwerben.
Ich glaube, das ist ganz handfest .
Bevor wir fortfahren, gestatten Sie mir den Hinweis,
dass wir uns auf eine Frage- und eine jeweilige Antwort-
zeit verständigt haben . Zur Unterstützung gibt es hier ein
optisches Signal. Sobald das rote Signal aufleuchtet, ist
die Frage- bzw . die Antwortzeit in jedem Fall überschrit-
ten .
Die nächste Frage stellt der Kollege Martin Rabanus .
Vielen Dank . – Frau Ministerin, vielen Dank für denBericht . Wir freuen uns, dass das Kabinett den Gesetz-entwurf jetzt auf den Weg gebracht hat . Vor der Som-merpause haben wir in der Koalition sehr intensiv dar-über gesprochen, und mit diesem Gesetzentwurf sehenwir nun sozusagen ein Stück weit die Umsetzung dessen,was wir damals besprochen haben .
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Wir in der Koalition haben über die Sommerpause aneinigen Stellen markiert, wo wir gerne zusätzliche Leis-tungsverbesserungen umsetzen wollen . Da steht eineerneute Erhöhung des Maßnahmebeitrags ebenso wiedie des Belohnerlasses oder des Unterhaltszuschusses inRede. Dass das am Ende eine finanzielle Frage ist, ist unsallen klar . Spricht denn für die Bundesregierung aus ord-nungspolitischer Sicht etwas dagegen, solche Leistungs-verbesserungen im weiteren Verfahren zu realisieren?Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Ordnungspolitisch überhaupt nicht . Wenn ich aller-dings Prioritäten setzen sollte, dann wäre es ganz wich-tig, den Zuschussanteil zum Unterhaltsbeitrag weiter zuerhöhen . Das käme jedem einzelnen Vollzeitteilnehmersofort zugute .Eine Erhöhung des Zuschussanteils zum Maßnahme-beitrag sehe ich als nachrangig an . Sie ist, glaube ich,nicht notwendig, wenn es um unser Ziel geht, möglichstviele Menschen zu einer Fortbildung zu animieren . Wirhaben indirekte Möglichkeiten, die dazu führen, dass derMaßnahmebeitrag, zum Beispiel durch den Erfolgsbonusoder anderes, automatisch reduziert wird, etwa wenn sichjemand engagiert .
Wir würdigen ausdrücklich, dass Sie die Antwortzeit
eingehalten haben . – Die nächste Frage stellt die Kolle-
gin Dr . Rosemarie Hein .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Frau Ministerin, Sie
haben im Vorfeld und auch heute immer wieder erklärt,
dass mit der Änderung des Aufstiegsfortbildungsförde-
rungsgesetzes mehr Aufmerksamkeit auf die Familien
gelegt werden soll, also bei einer Fortbildungsmaßnahme
die Akzeptanz für die Familien erhöht werden soll .
Ich möchte Sie gerne danach fragen, welche Regelun-
gen dazu in diesem Gesetzentwurf verankert sind und ob
es vielleicht möglich ist, dass der Zuschuss zu den je-
weiligen Unterhaltsbeiträgen erhöht wird . Momentan ist
der Zuschuss gleichbleibend, auch wenn die Unterhalts-
zahlungen erhöht werden, je nachdem, wie der Famili-
enstand ist . Aber der größere Teil bleibt ein Darlehen .
Haben Sie vor, an diesem Verhältnis etwas zu ändern?
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Ja, das haben wir mit diesem Gesetzentwurf vor . Für
alle: Es gibt bei der Förderung nach wie vor einen Dar-
lehensanteil und einen anderen Teil, der wie beim klas-
sischen BAföG direkt bezuschusst wird . Der Anteil des
Zuschusses betrug beim Unterhalt bisher 44 Prozent . Die
Höhe dieses Zuschusses liegt in diesem Gesetzentwurf
bei 47 Prozent, der Anteil wurde also erhöht .
Es finden sich in diesem Gesetzentwurf auch Erhö-
hungen bei den Aufschlägen für die Familienangehöri-
gen, also für Eheleute, aber eben auch für die Kinder .
Gleichzeitig sind auch Erhöhungen des Kinderzuschla-
ges für ein Kind oder mehrere Kinder bei Alleinstehen-
den vorgesehen; denn in der Fortbildung zum Meister ist
es wichtig, flexibel zu sein. Deswegen wurden hier die
Alleinerziehenden besonders bedacht .
Wir haben auch noch andere Dinge im Gesetzentwurf
verankert . Bisher war es zum Beispiel möglich, für die
Pflege eines Angehörigen oder Ähnliches eine Verlän-
gerung zu bekommen . Wir werden es jetzt ermöglichen,
dass bei Rückzahlungen des Darlehens auch Pflegezeiten
zu Freistellungen oder zu einem Hinausschieben bis hin
zu einem Erlass der Rückzahlung führen können . Beson-
dere Familienbedingungen werden also sehr viel weiter
gefasst, es geht nicht mehr nur um eine Unterstützung
von Familien mit Kindern . Letztendlich ist es auch fami-
lienfreundlich, wenn die Leistungen erhöht werden .
Ich habe Ihre Wortmeldung gesehen, Kollege Gehring .
Aber als Erstes ist jetzt Dr . Thomas Feist an der Reihe,
und dann folgen Sie .
Vielen Dank, Frau Ministerin . – Sie haben davon ge-sprochen, dass die Erhöhung des Meister-BAföG undalles, was dazugehört – in diesem Zusammenhang ha-ben Sie Familienkomponenten und das Meisterstückgenannt –, aus Ihrer Sicht ein wesentlicher Beitrag dazusind, die Reputation der dualen beruflichen Bildung inDeutschland aufzuwerten .Nun ist es so, dass gerade die Handwerkskammernbeklagen, dass vonseiten der Europäischen Kommissionimmer wieder versucht wird, gegen den Meistertitel mitdem Argument der Mobilität vorzugehen . Wir haben ge-sehen, dass dort, wo wir die Meisterpflicht abgeschaffthaben, zum Beispiel beim Fliesenlegerhandwerk, dieAnzahl der Auszubildenden drastisch zurückgegangenist . Sie selbst haben darauf hingewiesen, wie wichtig derMeistertitel ist, um junge Menschen auszubilden .Deswegen möchte ich Sie fragen: Sehen Sie die Er-höhung des Meister-BAföG und die damit verbundenegesellschaftliche Akzeptanz in Deutschland als wichtigesSignal für die weiteren Gespräche über dieses Thema inEuropa?Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Ja . Wir – die Politik, die Kammern und viele Abge-ordnete – haben damals zusammen gekämpft, als es voneuropäischer Seite den ersten „Angriff“ – in Anführungs-strichen – auf den Meister gab . Es gibt wieder Signale,dass es unter Umständen erneut Thema wird . Das politi-sche Dagegen-Agieren ist das eine . Aber ich meine, wenndie Attraktivität der Meisterfortbildung jetzt erhöht wird,dann wird das noch mehr dazu animieren, den Meisterzu machen, und das wird sich auch in der Qualität nie-derschlagen . Denn es ist ein qualitätssicherndes Instru-ment . Deswegen glaube ich, dass es uns auch hilft, wennsehr viele den Meisterabschluss anstreben, um nur vonMeistern zu sprechen . Ich habe mich bei den Meisterfei-Martin Rabanus
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ern, die ich in letzter Zeit besucht habe, immer darübergefreut, in welcher Größenordnung junge Menschen dasnach ihrer Ausbildung angestrebt haben . Das war sehrermutigend .
Die nächste Frage stellt der Kollege Kai Gehring .
Vielen Dank . – Frau Ministerin, wir sagen als grüne
Bundestagsfraktion sehr deutlich: Wir brauchen mehr
Meister, wir brauchen mehr Master, und wir brauchen
mehr Durchlässigkeit zwischen beruflicher und aka-
demischer Bildung . Seit 1 . Januar dieses Jahres gibt es
beim Studierenden-BAföG die Regelung, dass der Bund
100 Prozent der Kosten und 100 Prozent der Verant-
wortung trägt . Beim Meister-BAföG gilt weiterhin der
Schlüssel: 78 Prozent der Kosten und der Verantwortung
werden vom Bund und 22 Prozent von den Ländern ge-
tragen .
Das Gesetz ist im Bundesrat zustimmungspflichtig.
Deshalb möchte ich Sie erstens fragen: Geht die Bun-
desregierung davon aus, dass die Bundesländer Ihrer
Novelle in dieser Form, unverändert, zustimmen? Meine
zweite Frage ist, ob die Bundesregierung ihrerseits plant,
wie beim Studierenden-BAföG etwas an der Kostenver-
teilung zwischen Bund und Ländern zu ändern .
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Wir planen das natürlich nicht, und wir haben in der
Koalition auch ganz klar differenziert, welches BAföG
der Bund zu 100 Prozent übernimmt . Was die Frage an-
betrifft, was die Länder im Bundesrat machen oder wel-
che Stellung sie beziehen, kann ich sagen – 78 Prozent
Bund, 22 Prozent Länder –, dass die Gespräche mit den
Ländern richtig gut waren – und Sie können mir glauben;
ich habe langjährige Erfahrungen in unterschiedlichen
Positionen, was Bund-Länder-Gespräche angeht – und
dass wir uns sehr gut verständigt haben .
Sie können vielleicht einmal darüber nachdenken,
Herr Gehring, was mit den BAföG-Millionen, die in die
Länder gegangen sind, zum Teil passiert ist .
Die nächste Frage stellt der Kollege Dr . Ernst Dieter
Rossmann .
Im Nachgang zum Herrn Gehring: Wir sind in der
glücklichen Lage, dass wir nicht sagen müssen, was wir
gerne sagen wollen, sondern dass wir mit unterstützen
können, was geschieht . Deshalb kann ich Ihnen zunächst
einmal sagen: Der vorliegende Gesetzentwurf der Bun-
desregierung ist eine sehr gute Grundlage . Das kann noch
besser werden . Zum Beispiel muss der Zuschussanteil
beim Unterhaltsbeitrag wie beim Studierenden-BAföG
auf 50 Prozent erhöht werden; er darf nicht bei 47 Pro-
zent bleiben .
Aber ich wollte insbesondere zur Aufklärung – weil
wir noch eine Anhörung durchführen werden – nachfra-
gen: Wie schätzen Sie die Belastung aus Ihrer empiri-
schen Erfahrung ein, die Meister, Techniker, Fachwirte
etc . in Bezug auf die Maßnahme-Aufwendungen haben?
Dabei handelt es sich ja nicht um eine fiktive Größe;
denn Sie haben den zuschussfähigen Beitrag schon or-
dentlich angehoben . Mich würde interessieren, in wel-
chem „Range“ sich die Kosten im Wesentlichen bewegen
und wie hoch der Durchschnittswert dessen ist, was man
in Deutschland selber an Lehrgangs- und Prüfungskosten
für eine Aufstiegsfortbildung zuschießen muss . Das ha-
ben Sie sicherlich mit erhoben .
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Es gibt ein breites Angebot von denjenigen, die diese
Maßnahmen durchführen, sodass wir eine Konkurrenz-
situation haben . Wir wollten mit unserem Gesetzentwurf
keine Erhöhung der Maßnahmekosten animieren – es ist
doch ganz klar, dass die Anbieter kalkulieren, wie viel
der Betreffende ersetzt bekommt etc . –, und deswegen
haben wir uns darauf konzentriert, dass es für den Einzel-
nen besser wird, dass er also nachgelagert einen höheren
Zuschuss für die Maßnahme erhält, die er gewählt hat,
und daher 30 Prozent des Darlehens als Bonus erlassen
bekommt, wenn er Erfolg hat, was sich natürlich auch in
dem widerspiegelt, was er für die Maßnahme am Ende
bezahlt .
Wir haben ein ganz breit gefächertes Spektrum dazu,
was die Maßnahmen kosten . Eine Durchschnittszahl sind
3 000 bis 4 000 Euro . Es gibt aber auch Maßnahmen, die
über 10 000 Euro kosten . Die Durchschnittszahl, nach
der Sie fragten, sind 3 000 bis 4 000 Euro . Das ist aber
gar nicht so einfach zu ermitteln .
Die nächste Frage stellt die Kollegin Karin Binder .
Danke, Frau Präsidentin . – Frau Ministerin, der Anteilder geförderten Frauen beträgt nicht einmal ein Drittelaller Förderfälle . Welche Möglichkeiten sehen Sie, Maß-nahmen zu treffen, um den Frauenanteil zu erhöhen?Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Das ist sehr wichtig, wobei der Frauenanteil je nachGewerk oder Branche sehr unterschiedlich ist . Bei denMeisterfeiern sind sehr viele Friseurmeisterinnen oderMeisterinnen aus ähnlichen Berufen dabei; aber gerade inden technischen Bereichen – das gilt für die Kfz-Brancheoder ähnliche Branchen – gibt es nur sehr wenig Meiste-rinnen . Das Gesetz hat mehrere Komponenten, die, glau-be ich, gerade für Frauen attraktiv sind . Zum einen istdas die Leistungsverbesserung . Das heißt, es wird für dieeinzelne Frau einfacher, zu sagen: Ich traue mir das zu,ich gehe jetzt in eine solche Fortbildung, auch wenn ichwährend der Zeit der Ausbildung nichts verdiene; dennBundesministerin Dr. Johanna Wanka
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das, was ich im Hinblick auf meinen Bedarf bekomme,ist ausreichend .Frauen haben ja oft ein ausgeprägteres Sicherheitsbe-dürfnis . Da hilft es also, wenn man weiß, wie man denrückzuzahlenden Betrag zum Beispiel durch den Erfolgs-bonus gestalten kann . Weiter ist es so, dass Frauen – wirfinden das nicht in Ordnung –, was Familie anbetrifft, inder Regel immer noch stärker als Männer belastet sind .Deswegen stellt jede Verbesserung dort – zumal diejeni-gen, die hier realisiert werden – natürlich auch eine För-derung von Frauen dar . Sicher gilt das auch für Männer;aber manches betrifft überproportional Frauen . Auch istdie Tatsache zu nennen, dass die Alleinerziehenden hiereine besondere Unterstützung genießen .Ich glaube, dass die im Gesetz festgelegte höhere Fle-xibilität ganz wichtig ist: Es kommt auf den Durchschnittder Maßnahmen bzw . die Maßnahmendichte in einembestimmten Zeitraum an . Außerdem ist kein bestimmter,zum Beispiel monatlicher Rhythmus vorgesehen . Viel-mehr kann man auf Familiensituationen flexibler reagie-ren, ohne aus der Förderung herauszufallen . Es gibt imGesetz also vielfältige Details im Sinne von Flexibilität .Dabei haben wir besonders an Frauen gedacht .
Die Kollegin Brigitte Pothmer hat das Wort .
Frau Ministerin, wir haben uns ja fraktionsübergrei-
fend darauf verständigt, dass es gut ist, Flüchtlinge so
schnell wie möglich durch Qualifizierung und Arbeit zu
integrieren . Deswegen gibt es jetzt auch den Arbeits-
marktzugang bereits nach drei Monaten . Es wird jetzt
so wie beim Studierenden-BAföG auch beim Meis-
ter-BAföG davon ausgegangen, dass eine 15-monatige
Wartefrist absolviert werden muss, wenn man aus ande-
ren Ländern hierherkommt . Halten Sie das nicht für eine
Entscheidung, die die schnelle Integration durch Qualifi-
zierung und Arbeit eher konterkariert als fördert?
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Es ist so, dass auch hier – genauso wie beim Studieren-
den-BAföG – gilt, dass man nach 15 Monaten antragsbe-
rechtigt ist, falls man – in Anführungsstrichen – etwa nur
geduldet ist . Bei einer Reihe Aufenthaltstitel kann man
sofort vom nächsten Tag an – genau wie beim Studieren-
den-BAföG – diese Maßnahmen nutzen .
Es ist also offen: Diejenigen, die jetzt als Flüchtlinge
kommen, können sich um ein solches BAföG bemühen .
Aber für jemanden, der mit einer ganz anderen berufli-
chen Ausbildung aus einem fremden Land kommt, wird,
glaube ich, der erste Schritt nicht sein, nach kurzer Zeit
ein Meister-BAföG zu beantragen . Die Tatsache, dass
man nach einer kurzen Zeit – nach drei Monaten – arbei-
ten oder eine Ausbildung aufnehmen kann, ist ja etwas
grundsätzlich anderes; denn dann verdient man seinen
Lebensunterhalt . Das ist etwas anderes als die Bereitstel-
lung einer staatlichen Förderung .
Uns kam es generell darauf an, ein sinnvolles Verhält-
nis zum Asylbewerberleistungsgesetz herzustellen, dass
das mit dem Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz har-
moniert . Es soll nicht so sein, dass jemand, der sich – da-
bei denke ich an einen klassischen Studenten – an einer
Hochschule einschreibt, plötzlich sehr viel mehr Geld
als ein Familienvater erhält, der sich nicht einschreiben
kann . Der Gleichklang der unterschiedlichen gesetzli-
chen Grundlagen war für uns ein wichtiger Grund für
diese 15 Monate .
Zu einer Nachfrage hat die Kollegin Rosi Hein das
Wort .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Frau Ministerin, in
dem Referentenentwurf soll nach unserer Information
enthalten sein, dass die Überprüfung der Anwesenheit
von Geförderten bei Maßnahmen verschärft werden soll .
Ist das so? Und, wenn ja, welche Gründe gibt es denn, so
vorzugehen?
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Ich habe noch einmal nach hinten zu meinen Mit-
arbeitern geguckt; denn so etwas könnte ja im Gesetz
versteckt sein . Meine Mitarbeiter, die hundertprozentig
genau wissen, was an jeder Stelle im Gesetz steht, sagen
aber: Das ist nicht so . Es würde auch dem widersprechen,
was wir im Hinblick auf größere Flexibilität erreichen
wollen . Entscheidend ist, dass regelmäßig teilgenommen
wird. Die Anforderungen dafür sind jetzt flexibler. Das
heißt, dass nicht jeder Kurs vollständig besucht werden
muss, wenn man ein familiäres Problem – es gibt aber
auch andere Gründe – hat .
Der Kollege Martin Rabanus hat das Wort .
Frau Ministerin, ich habe eine Frage im Zusammen-hang mit Flüchtlingen und möchte eine Querverbindungzu der Novelle zum Berufsqualifikationsfeststellungsge-setz herstellen . In der kürzlich durchgeführten Anhörunghaben einige Sachverständige vorgetragen, dass es im-mer wieder schwierig sei, die für ein Berufsqualifikati-onsfeststellungsverfahren notwendigen Mittel aufzutrei-ben, und dass gegebenenfalls im AFBG entsprechendeFördermöglichkeiten geschaffen werden könnten . Ichfand, dass das ein ganz charmanter Gedanke ist . Ich habedas allerdings noch nicht intensiv durchdacht . MeineFrage an Sie: Haben Sie sich – persönlich, aber auch imMinisterium – darüber Gedanken gemacht, ob das eineVariante wäre – natürlich nur bei Qualifikationsniveaus,die sich zuordnen lassen –, um zu einer verstärkten För-derung zu kommen?Bundesministerin Dr. Johanna Wanka
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Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Wir haben darüber nachgedacht. Aber ich finde es imGegensatz zu Ihnen nicht charmant, das so zu machen;denn an anderer Stelle gibt es bereits entsprechende För-dermöglichkeiten . Wenn jemand anerkannt wird und denentsprechenden Status hat, kann er sofort alle Möglich-keiten nutzen, die das Arbeitsministerium und die Bun-desagentur für Arbeit eröffnen . Die Bundesagentur fürArbeit kann jetzt schon jemandem, der geduldet ist, alsounter Umständen das Land wieder verlassen muss – dasgilt aber wahrscheinlich vor allem für diejenigen mit ei-ner guten Bleibeperspektive –, alle vorhandenen Unter-stützungsleistungen insbesondere im Rahmen der Finan-zierung der Berufsqualifizierungsfeststellung zukommenlassen . – Das, wonach Sie gefragt haben, passt auch nichtin das Gesetz zum Meister-BAföG .
Der Kollege Rossmann stellt die nächste Nachfrage .
Frau Ministerin, Sie hatten bei meiner ersten Nachfra-
ge auf die Differenziertheit im Bereich der Aufstiegsfort-
bildung hingewiesen . Wir hören immer wieder, dass es in
bestimmten Gewerken nicht immer leicht ist, in 48 Mo-
naten das gesamte Programm abzuwickeln . Können Sie
sich vorstellen, insbesondere im Hinblick auf das, was
wir in der Anhörung zu bedenken haben, die 48-Mona-
te-Begrenzung zu öffnen und zu flexibleren Lösungen zu
kommen, damit auch kleine Gewerke eine Chance haben
und es nicht durch weite Wege zu Belastungen kommt,
oder muss es bei der starren gesetzlichen Schranke dieser
48 Monate bleiben?
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Wenn man von der Praxis in den letzten Jahren aus-
geht, dann stellt man fest, dass es keinen Verlängerungs-
bedarf gibt . Manchmal werden Berufsgruppen genannt,
in denen es für die Meisterklasse nicht so viele Bewerber
gibt, wie zum Beispiel bei den Goldschmieden . Aber die
Realität hat gezeigt, dass es keinen Bedarf gibt . Schon
jetzt gibt es in Ausnahmefällen Möglichkeiten der Fle-
xibilität . Aber wir haben die Sorge, dass eine generelle
Öffnung von den Trägern der Maßnahmen genutzt wird,
um ihren Ertrag bzw . Gewinn zu erhöhen .
Der Kollege Kai Gehring hat eine Nachfrage .
Uns bewegt die Frage, wie nach Auffassung der Bun-
desregierung gerade im Bereich der sogenannten Mangel-
berufe das Fachkräftepotenzial stärker gehoben werden
kann . Konkret: In der Begründung Ihres Gesetzentwurfs
heben Sie hervor, dass mit der zweiten Änderung 2009
die Aufstiegsfortbildungsförderung zur Erzieherin bzw .
zum Erzieher aufgenommen wurde und dass es sich nun
um die drittgrößte Gefördertengruppe handelt . Das ist
ganz klar ein Erfolg . Meine Frage ist jetzt, wie sich das
bei den Altenpflegeberufen im ambulanten und im stati-
onären Bereich niedergeschlagen hat, die ebenfalls 2009
aufgenommen wurden . Hat das in diesem Mangelberuf
zu erheblichen Steigerungsraten bei der Gefördertenquo-
te beigetragen?
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Nicht so wie bei den Erzieherinnen und Erziehern .
Aber das ist sozusagen die gesetzliche Grundlage . Dass
es diese Möglichkeit gibt, wirkt jedenfalls befördernd .
Weitere Wortmeldungen zum Bericht der Ministerin
liegen mir nicht vor . Gibt es Fragen zu anderen The-
men der heutigen Kabinettssitzung? – Die Kollegin
Kotting-Uhl hat dazu das Wort .
Ich möchte die Bundesregierung gern zum heute im
Kabinett beschlossenen Nachhaftungsgesetz befragen .
Soll ich einfach fragen, und dann entscheidet es sich, wer
antwortet?
Wir haben die Verabredung, dass die Ministerin, so-
weit es ihr möglich ist, auch auf weitere Fragen zur heu-
tigen Kabinettssitzung antwortet . Da die Regierungsbank
sehr gut gefüllt ist, gehe ich davon aus, dass sie Unter-
stützung erfahren wird, wenn sie diese benötigt .
Also, stellen Sie erst einmal Ihre Frage .
Ich würde gerne von der Bundesregierung wissen, ob
die Ausgliederung von Uniper aus E .ON dazu führt, dass
Uniper im Sinne des heute beschlossenen Nachhaftungs-
gesetzes nicht für die anfallenden Kosten für den Rück-
bau der Atomkraftwerke und die Entsorgung des Atom-
mülls haften müsste .
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Es ist ganz klar, dass man das vermuten kann, was
auch Sie vermuten . Die Tatsache, dass es dieses Nachhaf-
tungsgesetz gibt, sendet das Signal aus, dass eine solche
Ausgründung nicht zu einer Entlastung von Haftung füh-
ren kann . Wir sehen das unter Umständen als Fingerzeig,
dass man darauf reagiert hat . Wenn die Ausgründung
stattfinden würde, dann greift das Gesetz.
Kollege Krischer hat das Wort .
Herzlichen Dank, Frau Ministerin, für die Erläuterun-gen . – Nun haben wir die Situation, dass E .ON schonAktivitäten gezeigt und solche Ausgründungen vorge-
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nommen hat . Es gibt zwei Gesellschaften . Es gibt auchin anderen Unternehmen Überlegungen .Wie ist denn der weitere Zeitplan der Bundesregierungbis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes? Was ist vorgese-hen, damit im weiteren Verfahren möglicherweise nichtFakten geschaffen werden können?Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildungund Forschung:An Spekulationen beteiligen wir uns natürlich nicht .Wenn aber solche Ausgründungen geschehen: Es ist dasGesetz ab dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens gültig . Esverhindert, dass man sich unter Umständen aus der Haf-tung stehlen kann . Geplant ist das Inkrafttreten des Ge-setzes für den 1 . Januar 2016 .
Kollegin Kotting-Uhl .
Frau Ministerin, ich kann Ihre Aussage nicht ganz
nachvollziehen, dass das Gesetz dann greift, wenn diese
Ausgründung stattfindet. Ich will dazu sagen: Ich halte
dieses Gesetz für absolut wichtig . Es ist ein guter, erster
Schritt . Aber genau für den Fall, dass Uniper ausgeglie-
dert wird, aber die AKW-Sparte – das ist die Reaktion auf
das angekündigte Gesetz – beim Mutterkonzern bleibt,
nützt die Parole „Eltern haften für ihre Kinder“ nichts
mehr, weil das Kind ausgegliedert ist und das Kind nicht
für die Eltern haftet .
Welche Überlegungen gibt es, sicherzustellen, dass
alle ausgegliederten Teile eines Konzerns in der Haftung
bleiben? Oder ist das gar nicht möglich?
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Das, was wir heute mit dem Gesetzentwurf beschlos-
sen haben, ist das, was der Vizekanzler meint, wenn er
sagt: Eltern haften für ihre Kinder . – Das heißt, bei einer
Ausgründung kann man sich nicht aus der Haftung steh-
len .
Der Gesetzentwurf wird jetzt von der Bundesregie-
rung vorgelegt und in diesem Parlament beraten . Es kann
Änderungsanträge geben, wenn sie notwendig sein soll-
ten . Aus unserer Sicht ist das eigentlich nicht der Fall .
Ich beende nun die Befragung zu Themenbereichen
der heutigen Kabinettssitzung .
Gibt es darüber hinaus sonstige Fragen an die Bundes-
regierung? – Die Kollegin Lisa Paus hat das Wort .
Ich möchte die Bundesregierung fragen, ob das The-
ma des VW-Abgasmanipulationsskandals heute im Ka-
binett eine Rolle gespielt hat und ob es erste Ergebnisse
der Kommission oder Mitteilungen des Kraftfahrt-Bun-
desamtes gibt .
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Ich war ja im Kabinett und kann sagen: Das war kein
Thema .
Herzlichen Dank, Frau Ministerin . – Ich beende dieBefragung .Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:FragestundeDrucksache 18/6300Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist interfraktio-nell vereinbart, dass die später folgende Aktuelle Stundeum 16 .30 Uhr beginnen soll . Die Fragestunde sollte ent-sprechend früh enden . Da ich aber die Fragen, welchezur mündlichen Beantwortung noch vorgesehen sind,hier vor mir habe, bin ich optimistisch, dass wir die Fra-gestunde nicht verkürzen müssen, um mit der AktuellenStunde pünktlich zu beginnen .Wir kommen nun also zu den mündlichen Fragen aufDrucksache 18/6300 . Sie werden in der üblichen Reihen-folge aufgerufen .Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur .Die Fragen 1 und 2 des Kollegen Herbert Behrenswerden entsprechend unserer Richtlinien schriftlich be-antwortet .Die Fragen 3 und 4 des Kollegen Stephan Kühn sollenschriftlich beantwortet werden .Die Fragen 5 und 6 des Kollegen Oliver Krischer unddie Frage 7 der Kollegin Katja Keul werden auch ent-sprechend unserer Richtlinien schriftlich beantwortet .Die Fragen 8 und 9 des Kollegen André Hahn sollenschriftlich beantwortet werden .Zur Erklärung für diejenigen, die uns hier zuschauenund wissen wollen, warum diese Fragen schriftlich be-antwortet werden: Die damit angesprochenen Themenwerden im Laufe der Sitzungswoche an anderer Stellebehandelt, und deshalb werden sie heute hier nicht münd-lich beantwortet .Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reak-torsicherheit . Zur Beantwortung der Fragen steht die Par-lamentarische Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutterzur Verfügung .Die Fragen 10 und 11 der Kollegin Katrin Kunert wer-den schriftlich beantwortet .Ich rufe die Frage 12 der Kollegin Sylvia Kotting-Uhlauf:Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung seit ihrerAntwort auf meine mündliche Frage 25 auf Bundestagsdruck-sache 18/4641 zum Sachverhalt der Anomalien in Deckel undBodenkalotte des Reaktordruckbehälters beim Atomkraftwerk-
Oliver Krischer
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Frau Schwarzelühr-Sutter, Sie haben das Wort .Ri
Frau Kollegin Kotting-Uhl, seit der Antwort auf Ihre
mündliche Frage 25 auf Bundestagsdrucksache 18/4641
am 22 . April dieses Jahres wurde die Bundesregierung
durch die atomrechtliche Aufsichtsbehörde Frankreichs,
ASN, über die weiteren Schritte informiert . Derzeit
wird das vom Hersteller Areva vorgeschlagene Untersu-
chungsprogramm für eine mögliche Nachbewertung der
Sicherheit der einzelnen Bauteile des Reaktordruckbe-
hälters durch die ASN bewertet . Die Ergebnisse liegen
noch nicht vor und sind nun abzuwarten . Die ASN in-
formierte bisher sehr transparent über das Vorgehen und
stellte auch ihre Erkenntnisse und Dokumente auf der
Internetseite der ASN zur Verfügung .
Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit hat gute Kontakte zur fran-
zösischen atomrechtlichen Aufsichtsbehörde und wird
die Entwicklungen in Frankreich weiterhin aufmerksam
verfolgen und mit den französischen Ansprechpartnern
in den bilateralen Gremien fachlich erörtern .
Frau Kotting-Uhl, Sie haben das Wort zur ersten
Nachfrage .
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin . – Ich möchte be-
tonen: Wir reden heute nicht über Gundremmingen .
Erste kurze Nachfrage: Gibt es einen Zeitplan der
ASN?
Ri
Wir gehen davon aus, dass das Untersuchungspro-
gramm nicht vor Frühjahr nächsten Jahres abgeschlos-
sen sein wird . Nach gegenwärtigem Kenntnisstand des
Bundesumweltministeriums ist mit einem Abschluss der
Sicherheitsprüfung durch die atomrechtliche Aufsichts-
behörde ASN nicht vor Ende des Jahres 2016 bzw . vor
Anfang des Jahres 2017 zu rechnen .
Frau Kotting-Uhl, Sie haben das Wort zur zweiten
Nachfrage .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Ich frage natürlich
deshalb nach dem Zeitplan, weil das in Frankreich vor-
gesehene Atomkraftwerkneubauvorhaben Flamanville 3
mit der Abschaltung von Fessenheim in Verbindung
gebracht wird . Da der Zeitablauf so aussieht, dass man
nicht damit rechnen kann, dass Flamanville 3 bis 2018
fertiggebaut sein wird – das wäre außerhalb jeglicher Lo-
gik –, und dass damit auch das angekündigte Abschaltda-
tum für Fessenheim, 2018, nicht gehalten werden kann:
Wird Deutschland sich bilateral dafür einsetzen, dass auf
die Abschaltung Fessenheims unabhängig vom Fertigbau
Flamanvilles 3 hingearbeitet wird?
Ri
Sie spielen auf das Gesetz an, das Frankreich vor kur-
zem beschlossen hat, nämlich das „Loi de Programmati-
on pour la Transition Énergétique“ . Es geht dabei um die
Gesamtkapazität . Im Prinzip ist es so: Wenn Flamanville
in Betrieb geht, könnte Fessenheim abgeschaltet werden,
um die Gesamtkapazität, wie es im Gesetz festgeschrie-
ben ist, zu erreichen .
Der französische Staatspräsident Hollande hat mehr-
fach bekräftigt und immer wieder angekündigt, das
Atomkraftwerk Fessenheim stillzulegen . Auch die fran-
zösische Umweltministerin Royal hat gegenüber unserer
Umweltministerin, Dr . Barbara Hendricks, mit Verweis
auf das französische Energiewendegesetz die Absicht zur
Stilllegung des Atomkraftwerks Fessenheim grundsätz-
lich bekräftigt .
Natürlich nimmt die Bundesregierung die Sorgen der
Bevölkerung in Süddeutschland, der deutschen Bevölke-
rung sehr ernst . Wir haben uns mehrfach mit Nachdruck
für eine Stilllegung eingesetzt und werden das auch wei-
terhin tun .
Weitere Nachfragen zur Frage 12 liegen mir nicht vor .
Herzlichen Dank, Frau Staatssekretärin .
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi-
nisteriums für Wirtschaft und Energie . Die Frage 13 der
Kollegin Sylvia Kotting-Uhl, die Frage 14 der Kollegin
Bärbel Höhn und die Fragen 15 und 16 der Kollegin
Annalena Baerbock werden schriftlich beantwortet .
Ich rufe den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes
auf . Zur Beantwortung steht Staatsminister Michael Roth
zur Verfügung .
Die Frage 17 der Kollegin Kathrin Vogler soll schrift-
lich beantwortet werden .
Ich rufe die Frage 18 der Kollegin Heike Hänsel auf:
Wie viele afghanische Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen
von deutschen Entwicklungsorganisationen in Kunduz sind
derzeit mit dem Leben aufgrund der Taliban-Übernahme von
Kunduz bedroht, und was genau plant die Bundesregierung zu
deren Schutz zu tun?
Bitte, Herr Staatsminister .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Frau Kollegin Hänsel, ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Selbstver-ständlich ist sich die Bundesregierung ihrer herausgeho-benen Fürsorgepflicht gegenüber den Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern, den sogenannten Ortskräften, in Afg-Vizepräsidentin Petra Pau
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hanistan bewusst . Sie wissen, dass wir jeder Ortskraft,die aufgrund ihrer Tätigkeit für die Bundesregierung in-dividuell gefährdet ist, eine Möglichkeit zur Aufnahmein der Bundesrepublik Deutschland anbieten . Alle unsereOrtskräfte, alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sindüber diese Möglichkeit im Fall einer individuellen Be-drohung informiert worden . Jede Gefährdungsanzeige,die von einer Ortskraft gestellt wird, wird in einem indi-viduellen Verfahren geprüft .In Kunduz sind gegenwärtig 109 Afghaninnen und Af-ghanen insbesondere für die GIZ und für die KfW tätig .Keine dieser 109 Personen hat seit der Übernahme vonKunduz durch die Taliban eine Gefährdungsanzeige beider Bundesregierung gestellt . Auch die GIZ ist in ständi-gem Kontakt mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern,die für sie und die KfW tätig sind . Von dort wurden eben-falls keine Bedrohungen angezeigt .Selbstverständlich – das will ich Ihnen allen versi-chern – wird die Bundesregierung die Lage in Kunduzim Interesse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wei-terhin sehr aufmerksam verfolgen . Wir sind erst einmalfroh, dass Kunduz wieder von den Taliban befreit wer-den konnte . Aber das heißt nicht, dass wir in unserer Auf-merksamkeit gegenüber den Beschäftigten nachlassen .
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage .
Danke, Herr Staatsminister . – Wir haben die Informa-
tion bekommen – das ist dann doch etwas widersprüch-
lich –, dass die Bundesregierung davon ausgeht, in Kun-
duz seien noch keine Ortskräfte zu Schaden gekommen,
zu denen größtenteils telefonischer Kontakt bestehe;
nach vorliegenden Informationen hätten sie auch die
Stadt verlassen . Das hört sich ein bisschen anders an als
das, was Sie sagen .
Deshalb möchte ich noch einmal nachfragen: Wie ver-
bindlich und konkret sind der Austausch mit den Orts-
kräften und die Fürsorge für jede einzelne Person? Hier
werden ungefähre Angaben gemacht .
Mich würde interessieren: In welcher Form geschieht
das? Ich weiß nicht, ob das Auswärtige Amt oder das
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung das macht . Gibt es eine zuständige Per-
son? Wie konkret ist im Moment der Kontakt mit den
afghanischen Ortskräften? Wie ist es möglich, eine Eva-
kuierung oder eine Ausreise zu organisieren? Wie ver-
bindlich machen Sie das? Vielleicht können Sie ein paar
Sätze dazu sagen .
Frau Abgeordnete Hänsel, derzeit befinden sich nach
unserer Kenntnis noch 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
ter in Kunduz . Alle anderen haben die Region verlassen .
Zu Ihrer zweiten Frage, die sich unmittelbar daran an-
schließt, nämlich wie die Bundesregierung Kontakt hält,
will ich Ihnen kurz das Verfahren schildern: Alle Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter stehen in einem regelmäßi-
gen Kontakt zu ihren Teamleitern, und die Teamleiter
wiederum stehen in einem regelmäßigen Austausch mit
einem sogenannten – sehen Sie mir jetzt den englischen
Begriff nach – Risk Management Office. In Afghanistan
gibt es neun solcher Büros, die für die Sicherheit aller
GIZ- und KfW-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter sor-
gen . Dabei geht es um Information . Dabei geht es um
Beratung . Dabei geht es auch um Trainingsangebote .
Diese RMOs haben ein Budget von 15 bis 16 Millio-
nen Euro . Sie werden zu 40 Prozent aus dem Etat des
Bundesentwicklungsministeriums und zu 60 Prozent aus
meinem Haus finanziert. Die GIZ betreibt im Auftrag der
Bundesregierung diese Einrichtungen . Als Ansprechpart-
ner für alle Mitarbeiter dient der sogenannte Radio Room
in Kunduz, der momentan von Taloqan aus arbeitet . Der
Radio Room ist die Kontaktstelle des RMO, also des
Risk-Management-Büros, das über Funk ununterbrochen
erreichbar ist, 24 Stunden am Tag, 7 Tage in der Woche .
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage .
Herzlichen Dank . – Wir wissen von Mitarbeitern und
Mitarbeiterinnen oder Ortskräften der Bundeswehr, dass
die Asylgewährung hier in Deutschland teilweise nur
sehr schleppend stattfindet. Von fast 1 700 Ortskräften,
die eine Gefährdung angezeigt haben, konnten knapp 500
mit ihren Familien oder Familienangehörigen wirklich
ausreisen, also ungefähr ein Drittel . Meine Frage: Wie ist
das im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit? Gibt
es da im Moment konkrete Gefährdungsanzeigen, und
wie lange sind sie gegebenenfalls in Bearbeitung? Wie
kann man aus Ihrer Sicht bei insgesamt noch 1 650 Orts-
kräften in der Entwicklungszusammenarbeit eine schnel-
le Evakuierung ermöglichen? Schnelles Agieren ist ge-
fragt; denn in Kunduz haben die Taliban sogar Autos der
GIZ erobert, und wir wissen nicht, was sie da alles an
Informationen und Daten finden. Deshalb: Wie machen
Sie eine schnelle Evakuierung, eine schnelle Sicherung
und unbürokratische Ausreise dieser Ortskräfte möglich?
Vielleicht erlauben Sie mir, Frau Präsidentin, Frau Ab-geordnete Hänsel, dass ich hier noch einmal ganz kurzdas Verfahren darstelle . – Es handelt sich um eine indi-viduelle Möglichkeit eines jeden Mitarbeiters und einerjeden Mitarbeiterin . Jede Ortskraft kann eine solche Ge-fährdungsanzeige stellen . Es wird ein Gespräch mit derMitarbeiterin oder mit dem Mitarbeiter geführt, und dannwerden die entsprechenden Argumente vorgetragen .Ich will Ihnen versichern, dass wir im Zweifelsfallimmer zugunsten der Mitarbeiterin oder des Mitarbeitersentscheiden . Ich gebe durchaus zu, dass es sich hierbeium ein nicht unaufwendiges Prüfungsverfahren handelt .In einem ersten Schritt wird die Gefährdungsanzeigegeprüft . Dem schließt sich natürlich ein entsprechendesVisumsverfahren an . Mitunter reist der Mitarbeiter auchnicht alleine aus . Er hat die Möglichkeit, seine Kernfa-milie mitzunehmen . Von daher gibt es, wenn ich die ZahlStaatsminister Michael Roth
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richtig im Kopf habe, rund 1 300 Familienangehörige,die schon ausreisen konnten .Ein letzter Hinweis: Nicht alle Mitarbeiterinnen undMitarbeiter, nicht alle Ortskräfte, die einen Antrag ge-stellt und auch eine Genehmigung bekommen haben,reisen aus . Viele bleiben da . Eine Differenzierung nach„Mitarbeiter des BMVg“ und „Mitarbeiter der GIZ“oder „Mitarbeiter der KfW“ kann ich zum gegenwärti-gen Zeitpunkt nicht vornehmen . Das müsste ich Ihnennachreichen .
Herzlichen Dank, Herr Staatsminister . – Die Fragen 19
und 20 des Abgeordneten Nouripour, die Frage 21 der
Abgeordneten Dağdelen und die Frage 22 des Abgeord-
neten Beck sollen schriftlich beantwortet werden .
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi-
nisteriums des Innern . Die Frage 23 des Abgeordneten
Beck , die Frage 24 der Abgeordneten Dağdelen,
die Fragen 25 und 26 der Abgeordneten Jelpke, die
Fragen 27 und 28 der Abgeordneten Zimmermann
, die Frage 29 des Abgeordneten Hunko und
die Fragen 30 und 31 des Abgeordneten Ströbele werden
schriftlich beantwortet .
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums für Ernährung und Landwirtschaft . Die Frage 32
der Abgeordneten Höhn wird schriftlich beantwortet .
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums der Verteidigung . Die Frage 33 des Abgeordne-
ten Hunko und die Frage 34 der Abgeordneten Hänsel
werden schriftlich beantwortet .
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums für Gesundheit . Die Frage 35 der Abgeordneten
Vogler wird schriftlich beantwortet .
Damit sind wir am Ende der Fragestunde .
Ich unterbreche die Sitzung des Deutschen Bundesta-
ges bis zum Aufruf des Zusatzpunktes „Aktuelle Stunde
zur Lage in der Türkei nach dem Terroranschlag in An-
kara“ um 16 .30 Uhr .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrocheneSitzung ist wieder eröffnet .Ich rufe Zusatzpunkt 1 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENLage in der Türkei nach dem Terroranschlagin AnkaraIch eröffne die Aussprache . Das Wort hat als ersteRednerin Claudia Roth von der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen .Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir alle sind schockiert über den schrecklichen, überden mörderischen Terroranschlag in Ankara mit so vie-len Verletzten, mit Hunderten von Verletzten und mit sovielen Toten . Unser tief empfundenes Mitgefühl richtetsich an die Hinterbliebenen der Opfer .
In die Trauer mischt sich aber auch Wut darüber, dasses in einem so allumfassend sicherheitsüberwachtenLand wie der Türkei nun schon zum dritten Mal nachDiyarbakır im Juni, nach Suruҫ im Juli überhaupt zu ei-nem derart tödlichen Angriff kommen konnte, der wiederder linksliberalen HDP und der demokratischen Zivilge-sellschaft gegolten hat . Wo, so frage ich, ist Sicherheitfür die, die sich um Frieden und für ein Ende der Gewaltin der Türkei einsetzen? Wo sind Untersuchungen undAufklärungen über die Hintermänner der Verbrechen?Ich finde es zynisch, wenn es nach dieser Tragödie keinEinhalten gibt, sondern schon einen Tag nach dem Blut-bad die türkische Luftwaffe wieder Angriffe auf kurdi-sche Dörfer fliegt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Terroranschlagvon Ankara ist der vorläufig letzte Höhepunkt in einerblutigen Spirale der Gewalt . Früher relativ stabil in ei-ner lichterloh brennenden Region steht die Türkei heuteselbst an einem Abgrund . Das muss uns zutiefst beunru-higen und besorgen . Seit den letzten Wahlen, die nichtdas von Erdoğan erhoffte Ergebnis gebracht haben, er-lebt die Türkei einen Wahlkampf, in dem jedes Mittelgeheiligt scheint, wenn es zum Erfolg führt: zur Allein-herrschaft der AKP, zum Umbau der Türkei hin zu einerAutokratie à la Putin . Bürgerkriegsähnliche Zustände,Städte und Dörfer im Ausnahmezustand, tote Zivilisten,aber auch von der PKK getötete Polizisten und Soldaten,die Pressefreiheit hinter Gittern, Zeitungen werden ver-boten, Fernsehsender werden geschlossen, Redakteurewerden verhaftet: Wie um alles in der Welt soll so einefreie und eine faire Wahl überhaupt stattfinden können?Erdoğan schafft Feindbilder. Er kriminalisiert politischeGegner und eine demokratische Opposition . Er spaltetdie Gesellschaft in „wir“ und „jene“ . Jene, das sind seineFeinde . Diese Spaltung und diese zunehmende Gewaltsind ein brandgefährliches Gift, das sich auch bei unsverbreiten kann . Auch das muss uns zutiefst besorgen .
Aber bei aller Kritik: Richtig ist auch, dass die Türkeiseit Jahren Flüchtlinge aufgenommen hat, über 2,5 Milli-onen Menschen . Die Türkei ist das Land, das die höchsteZahl beherbergt . Bisher hat das keine Unterstützung ge-funden und eigentlich auch nicht interessiert . Jetzt, wodie Flüchtlinge nach vier Jahren des Blutvergießens beiuns ankommen, wird reagiert . Aber Flüchtlingspolitik,die auf eine Bekämpfung von Fluchtursachen zielt, kanndoch nicht in der Absicherung und Abschottung einerGrenze in Zusammenarbeit mit dem türkischen Militärbestehen, auch nicht in dem Vorhaben, die Türkei zumStaatsminister Michael Roth
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sicheren Herkunftsland umzudeklinieren . Das ist zu Au-ßenpolitik mutierte Innenpolitik, die von dem Interessegeleitet ist, Flüchtlinge fernzuhalten . Mit der Realität inder Türkei hat das nichts, aber auch wirklich gar nichtszu tun .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum Frau Merkelgerade jetzt in die Türkei fährt, in der sie absolut ver-mintes Gebiet betritt, und mit ihrem Besuch de facto denWahlkampf von Erdoğan unterstützt, ist mir völlig un-verständlich . Aber wenn Sie, liebe Frau Merkel, HerrnErdoğan treffen, dann erwarten wir, dass Sie selbstver-ständlich auch mit der Opposition reden, dass Sie sichmit der CHP, also der sozialdemokratisch orientiertenPartei, treffen, dass Sie sich mit der HDP treffen . Wir er-warten, dass Sie Selahattin Demirtas, dem Vorsitzendender HDP, angesichts der vielen Toten beim Anschlag aufdie Friedensdemo unser aller Mitgefühl aussprechen .
Wir erwarten, dass Sie sich mit den Aktivisten vom Ge-zi-Park treffen, mit den bedrohten Journalisten, mit denreligiösen Minderheiten . Bitte kritisieren Sie offen diedramatische Polarisierung in der Türkei, die Kriminali-sierung Andersdenkender, den erbarmungslosen Krieggegen die Zivilbevölkerung in den kurdischen Gebieten!Sprechen Sie klare Worte, Frau Merkel, und liefern Siesich zwei Wochen vor der Wahl nicht der Propagandama-schinerie des türkischen Präsidenten aus! Wir haben dochdas allergrößte Interesse daran, dass in der Türkei wie-der Demokratie einkehrt, dass Menschenrechte geachtetwerden und dass wir dort nicht Putin’sche Verhältnissebekommen .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Dr . Andreas Nick von der CDU/CSU
hat als nächster Redner das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir sind bestürzt, und wir trauern gemeinsam mit demtürkischen Volk um die Opfer des entsetzlichen Terror-anschlags in Ankara . Hierzu sprechen wir vor allemanderen den Angehörigen der Opfer unser Beileid undMitgefühl aus .Wieder hat der Terrorismus sein entsetzliches Gesichtgezeigt; in großer Zahl wurden Menschen getötet undschwer verletzt, die sich für Gewaltlosigkeit und fried-liches Zusammenleben eingesetzt haben . Wir wollen unshier bewusst nicht an Spekulationen, Verschwörungs-theorien und voreiligen Schuldzuweisungen beteiligen .Aber in einem sind wir uns in diesem Haus hoffentlichalle einig: Alle Kräfte in der Türkei, die ein friedlichesZusammenleben wollen, sind jetzt aufgefordert, zusam-menzustehen und einer weiteren Eskalation der Gewaltentgegenzuwirken .Die Türkei befindet sich in einer komplexen außen-und innenpolitischen Lage . Bei der Gesamtbeurteilungder aktuellen Situation ist es sicherlich nicht förderlich,sich nur auf einzelne Aspekte zu beziehen . Eine diffe-renzierte Betrachtung ist notwendig . Bereits im Januardieses Jahres habe ich an dieser Stelle deutlich zum Aus-druck gebracht, dass wir gerade als Freunde der Türkeimanche innenpolitischen Entwicklungen, etwa im Be-reich der Meinungs- und Pressefreiheit, der Rechtsstaat-lichkeit und des Umgangs mit Minderheiten, mit Auf-merksamkeit und durchaus auch mit Sorge beobachten .Schon im Vorfeld der Parlamentswahlen im Juni hatsich die innenpolitische und gesellschaftliche Polarisie-rung in der Türkei zweifelsohne weiter zugespitzt; ichhabe es bei einem Besuch im April in Ankara in vielenGesprächen selbst erfahren . Das Ergebnis der Parla-mentswahlen im Juni haben wir dann in diesem Hausein durchaus breiter Übereinstimmung als Ausdruck derdemokratischen Reife der türkischen Gesellschaft be-grüßt . Aber ich habe bereits damals darauf hingewiesen,dass dieses Ergebnis allen Beteiligten abverlangen wird,sehr verantwortungsvoll damit umzugehen, um nicht dieChance zu verspielen, die darin für die Türkei liegt . Esist leider wahr, dass sich die parteipolitische Aufstellungin der Türkei zunehmend an religiös-weltanschaulichenund ethnischen Trennungslinien orientiert – zwischenReligiösen und Laizisten, Sunniten und Aleviten, kurdi-scher Minderheit und türkischen Nationalisten . Das hates jedenfalls nicht leichter gemacht .Ich glaube, wir verurteilen einvernehmlich und aus-drücklich die Gewaltexzesse der letzten Monate in derTürkei . Die Angriffe auf die Parteien HDP und CHP, aufdie Zeitung Hürriyet, aber auch die tödlichen Attackenauf türkische Sicherheitskräfte haben nicht nur Men-schenleben gefordert, sondern sie sind geeignet, auf Dau-er die Demokratie im Land zu destabilisieren .Lassen Sie mich in aller Klarheit hinzufügen: Wir le-gen Wert darauf, dass innenpolitische Konflikte in derTürkei nicht gewalttätig ausgetragen werden – im Übri-gen auch nicht hier bei uns in Deutschland .
Besonders wichtig ist daher jetzt, dass in der Türkei am1 . November eine wirklich freie, geheime und gleicheParlamentswahl in allen Regionen des Landes so stattfin-det, dass in deren Folge eine legitimierte Regierung ge-bildet werden kann, auch dann, wenn sich das Ergebnisder Parlamentswahl vom Juni im Grundsatz wiederholensollte .Es ist zweifellos eine Tragödie, dass der durchausvielversprechend verlaufende Versöhnungsprozess mitder kurdischen Minderheit aufgrund der Vorkommnisseder letzten Wochen und Monate zum Erliegen gekom-men ist . Bei aller berechtigten Kritik am Vorgehen dertürkischen Regierung in den letzten Monaten darf aberVizepräsidentin Claudia Roth
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auch nicht vergessen werden, dass die PKK eine terroris-tische Organisation ist und auch bei uns in Deutschlandzu Recht als verfassungsfeindlich eingestuft wird .
Dass sich die Türkei mit kurdischen Autonomiebestre-bungen an ihren Grenzen schwertut, kann nicht überra-schen . Aber der innerstaatliche Versöhnungsprozess darfnicht aufgegeben werden . Er muss schnellstmöglich wie-der aufgenommen werden . Ich bin überzeugt: Auch dieHDP kann einen wichtigen Beitrag zu dessen Gelingenleisten .Gerade mit Blick auf die Brandherde im MittlerenOsten und in Nordafrika kommt der Türkei eine ent-scheidende Rolle zu . Die Türkei liegt an einer geostra-tegischen Schnittstelle zwischen Europa und Asien . DieTürkei hat in den vergangenen Jahren mehr als 2 Millio-nen Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak aufgenommen –mehr als alle Länder der EU zusammen .Liebe Kollegin Roth, ich darf daran erinnern: Kolle-ge Annen, Kollege Kiesewetter und ich waren Ende Fe-bruar in einem Flüchtlingslager an der türkisch-syrischenGrenze . Wir haben uns in der Tat für dieses Thema inter-essiert und sind mit sehr tiefen und bewegenden Eindrü-cken nach Hause gekommen .Wir haben von der Türkei stets eine unzweideutigeHaltung gegenüber ISIS angemahnt ebenso wie eine ver-besserte Zusammenarbeit mit den türkischen Sicherheits-behörden, um den Transit von Extremisten aus Europanach Syrien und in den Irak und zurück wirksamer kont-rollieren und möglichst unterbinden zu können .Bei aller berechtigten Kritik an der Regierung Erdoğan: Die Türkei ist und bleibt für uns ein wichtigerstrategischer Partner . Das geht weit über die aktuellenBemühungen hinsichtlich der Flüchtlingsthematik hi-naus . Es ist in unserem wohlverstandenen eigenen Inte-resse, den Dialog mit der Türkei zu pflegen und weiter-zuentwickeln . Deshalb ist es auch richtig und wichtig,dass die Bundeskanzlerin in den kommenden Tagen zuGesprächen nach Ankara reisen wird . Wir wünschen ihrdafür viel Erfolg .
Wir haben ein vitales Interesse an einer wirtschaftlichprosperierenden Türkei mit einer stabilen Demokratieund einer lebendigen Zivilgesellschaft, die mit ihrer Aus-strahlungskraft ein Modell für die gesamte islamischeWelt sein kann .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Sevim
Dağdelen von der Fraktion Die Linke das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!Die Aktuelle Stunde im Bundestag findet zu den bisherschwersten Terroranschlägen in der türkischen Geschich-te statt. Nach offiziellen Angaben wurden 97 Menschengetötet, Hunderte verletzt . Unabhängige Quellen gehensogar von über 130 Toten aus . Ermordet wurden De-monstranten des Friedensmarsches, der von Gewerk-schaftsverbänden, von der Ärztekammer und der Archi-tektenkammer, von der oppositionellen kurdischen HDP,der Partei der Arbeit, EMEP, bis hin zur sozialdemokrati-schen Jugendorganisation der CHP getragen wurde . Wirverneigen uns vor den Opfern und sprechen Angehörigenwie Freunden unser tiefstes Mitgefühl aus .
Auch ich selbst habe bei diesem Anschlag Menschen ver-loren, die ich kannte, die mir lieb waren, die engagiertwaren im Kampf gegen die wachsende Unterdrückungdurch das AKP-Regime und für den Frieden in der Tür-kei . Zu wissen, dass sie nicht mehr bei uns sein werden,ist einfach schrecklich und unfassbar .Mit dem Anschlag in Ankara geht die blutige Saat derPolitik des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan auf,Andersdenkende als Terroristen zu diffamieren und siezur Zielscheibe zu erklären. Erdoğan hat in den letztenJahren eine massive Verfolgungswelle gegen Journalis-ten, gegen Gewerkschafter, gegen Kurden, gegen Arme-nier und gegen Aleviten losgetreten . Im Sommer hat erden Friedensprozess mit der PKK einseitig aufgekündigt .Er führt Krieg . Er führt Krieg gegen die Kurden, er führtKrieg gegen einen Teil der eigenen Bevölkerung .
Er führt ausgerechnet gegen diejenigen Krieg, die sichdem barbarischen „Islamischen Staat“ in der Region ameffektivsten entgegenstellen,
und er beliefert – das wissen Sie aus einschlägigen Be-richten, nicht nur in den deutschen Medien, sondern auchin den internationalen Medien – islamistische Terrorban-den, Terrormilizen in Syrien mit Waffen . Das wissen Sie,meine Damen und Herren . Deshalb fordern wir von derLinken: Erdoğan darf kein Partner mehr für diese Bun-desregierung sein .
Es ist skandalös, dass Union und Sozialdemokratenbei der Abwehr der Flüchtlinge jetzt auf Erdoğan setzenund die Türkei zum sicheren Herkunftsstaat erklärenwollen . Ich appelliere an Ihr Gewissen, liebe Kollegin-nen und Kollegen von Union und SPD: Stimmen Sie die-Dr. Andreas Nick
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sem Anschlag auf die Menschenrechte nicht zu! SagenSie Nein zu diesem Zynismus, zu diesem Bündnis mitErdoğan gegen die Flüchtlinge!
Diesen Sonntag wird Bundeskanzlerin Merkel in An-kara zum Staatsbesuch erwartet. Staatspräsident Erdoğanfreut sich auf diesen Besuch . Zwei Wochen vor den Wah-len in der Türkei kommt dies einer ungeheuren Aufwer-tung und Rückenstärkung von Präsident Erdoğan gleich.Im selben Atemzug erfahren wir, dass die Bundeskanz-lerin nicht einmal beabsichtigt, sich mit Vertretern derOpposition zu treffen, mit Vertretern der sozialdemokra-tischen Partei oder der prokurdischen HDP .Ich finde, wer in diesen Tagen nach Ankara fährt undsich von Staatspräsident Erdoğan den roten Teppich aus-rollen lässt, dem sind die Opfer von Ankara egal .
Sie wollen mit Erdoğan die Flüchtlinge abwehren. An-kara soll Ihr Grenzwächter werden . Dafür werden Siediesem Despoten natürlich etwas anbieten müssen . Ichsage Ihnen: Nicht einmal dieses zynische Kalkül, beider Flüchtlingsabwehr auf Erdoğan zu setzen, wird auf-gehen; denn Erdoğan trägt mit seiner Kriegspolitik inder Türkei, in Syrien, im Irak weiter dazu bei, dass sichschon bald Hunderttausende Flüchtlinge aufmachen wer-den, weil sie in ihrer Heimat einfach nicht mehr sichersind . Wir brauchen deshalb endlich den Bruch mit demDespoten Erdoğan. Deshalb fordern wir: Stellen Sie IhreUnterstützung endlich ein! Keine Waffe und auch keinCent mehr für dieses islamistische Unterdrückungssys-tem unter Staatspräsident Erdoğan!
Ich finde, auch Ankara mahnt uns dazu. DeutscheAußenpolitik muss sich endlich an Frieden, Demokratieund Menschenrechten orientieren . Ein Pakt mit dem tür-kischen Staatspräsidenten Erdoğan ist dabei ganz sicherder falsche Weg .
Als nächster Redner hat Niels Annen von der
SPD-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Vielen Dank . – Meine lieben Kolle-ginnen und Kollegen! Ich glaube, wir sind uns alle einig:Wenn wir hier über die Türkei diskutieren, dann ist unssehr bewusst, dass das kein gewöhnlicher Partner ist . DieTürkei ist ein Land, mit dem wir sehr viele Verbindungenhaben, aufgrund der kulturellen Bindungen, aufgrund derfamiliären Bindungen, natürlich auch aufgrund der poli-tischen und der wirtschaftlichen Beziehungen . Ich gehedavon aus, dass es Ihnen nicht viel anders geht als mir:Wenn es innerhalb der Türkei zu Spannungen, zu poli-tischen Auseinandersetzungen kommt, dann findet dasfür uns nicht irgendwo, weit weg, quasi im Fernsehenstatt . Das hat unmittelbar Auswirkungen auf die Lage inDeutschland . Ich habe es in meinem Wahlkreis in Ham-burg mehrfach erlebt, dass es zum Teil innerhalb wenigerStunden zu Demonstrationen gekommen ist, leider – dasmuss ich an dieser Stelle auch sagen – auch zu gewalttä-tigen Auseinandersetzungen zwischen nationalistischen,türkischen Gruppierungen und kurdischen Gruppierun-gen . Manchmal haben diese Gruppierungen in der Aus-einandersetzung auch Gewalt gegen Polizeibeamte ange-wandt .Ich glaube, auch deswegen ist es gut, dass wir heu-te über dieses Thema diskutieren . Ich bin den Grünendankbar, dass sie diese Aktuelle Stunde beantragt haben .Ich teile ausdrücklich all das, was zu den schrecklichenAnschlägen gesagt worden ist, nicht nur zu dem grauen-haften Anschlag in Ankara mit den vielen Toten – FrauDağdelen hat darauf hingewiesen, dass wir immer nochnicht genau wissen, wie viele Menschen ihr Leben verlo-ren haben, wie viele verletzt worden sind –, sondern aus-drücklich auch dazu – ich glaube, dass wir alle miteinan-der in diesem Hause dies für vollkommen inakzeptabelhalten –, dass in der Türkei systematisch Gewalt gegenoppositionelle Gruppierungen angewandt worden ist, vorallem gegen Vertreterinnen und Vertreter der HDP, dassdie Büros angegriffen worden sind, dass sie niederge-brannt worden sind . All das ist vor den Augen der türki-schen Sicherheitskräfte geschehen . Das ist inakzeptabel .Deswegen bedarf es eines ganz klaren Signals anAnkara: Der türkische Staat, der – davon bin ich über-zeugt – ein funktionsfähiger Staat ist, ist jetzt gefordert,ordnungsgemäße Wahlen sicherzustellen . Er ist auch ge-fordert, die Sicherheit der Kandidatinnen und Kandida-ten und Meinungsfreiheit in diesem Land zu garantieren .Das ist das Mindeste, das wir erwarten können .
Unsere Länder sind eng miteinander verbunden, undes handelt sich eben nicht mehr um reine nationale Fra-gen der Souveränität, bei denen man erwartet, dass mansagt: Da mischen wir uns nicht ein . Es passiert übrigensauf beiden Seiten . Es ist ja nicht nur so, dass wir heute imDeutschen Bundestag über die innenpolitische Lage inder Türkei diskutieren, sondern das passiert auch in derTürkei. Staatspräsident Erdoğan macht hier in Deutsch-land verkappte Wahlkampfveranstaltungen . Andere Kan-didatinnen und Kandidaten in der Türkei tun das auch .Ich finde, das ist in Ordnung. Man muss aber auch sagen:Wir haben ein klares Interesse daran, dass der Friedens-prozess mit der PKK wieder aufgenommen wird, weilder Weg zur Versöhnung die einzige gangbare Option ist,die diesem Land zur Verfügung steht .
Deswegen fordern wir Staatspräsidenten Erdoğan, dietürkische Regierung auf, bei allen Schwierigkeiten undSevim Dağdelen
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auch bei aller inakzeptabler Gewaltanwendung vonseitender PKK gegen Vertreterinnen und Vertreter des türki-schen Staates – auch dies ist inakzeptabel –, diesen Wegwieder zu beschreiten . Ich glaube, dass das ganz ent-scheidend ist .Ich will an dieser Stelle, weil diese Reise ein wenigin der Kritik steht und auch hier von Ihnen, meine sehrverehrten Kolleginnen und Kollegen, erwähnt wordenist, dem deutschen Außenminister für seine Reise nachAnkara ausdrücklich danken . Diese Reise hat zugegebe-nermaßen während einer schwierigen innenpolitischenSituation in der Türkei und einer außenpolitischen Lage,wo wir hier häufig über den Krieg in Syrien miteinan-der diskutiert haben, stattgefunden . Es ist ein Erfolg derdeutschen Außenpolitik, dass sich die türkische Regie-rung bereit erklärt hat, jetzt einen bilateralen Dialog überMigration zu führen und diesem Dialog auch im Rah-men der Europäischen Union zugestimmt hat . Das ist einErfolg der deutschen Außenpolitik . Ich glaube, es wirdjetzt sehr darauf ankommen, dass wir in den Details derVereinbarung einen ausgewogenen Interessenausgleichorganisiert bekommen . Ich bin zuversichtlich, dass dasgelingen kann .Ich bin dem deutschen Außenminister auch aus einemzweiten Grund dankbar . Ich will das hier mit einer Er-wartung an die Reise der Bundeskanzlerin verbinden, dieich für ausdrücklich richtig halte, nämlich die Erwartung,dass sie sich ein Beispiel an dem Terminkalender nimmt,den Frank-Walter Steinmeier abgearbeitet hat . Ja, er hatsich mit Premierminister Davutoglu getroffen .
Er hat sich mit Staatspräsident Erdoğan getroffen, aber erhat sich auch mit den Vertretern der Opposition, der sozial-demokratischen Opposition, und auch mit Herrn Demirtasgetroffen, dem Vertreter und Präsidenten der HDP .
Ich glaube, dass es ein gutes Zeichen wäre, eine ad-äquate Form zu finden, deutlich zu machen, dass wir indiesem Wahlkampf keine Partei sind,
aber dass wir ein Interesse daran haben, dass es zu fairenWahlen kommt und die Pluralität der politischen Situati-on in der Türkei das entsprechend widerspiegelt .Wir warten jetzt auf die Ergebnisse der Untersuchung .Ich will auch ganz offen sagen: Das, was ich heute ausder Türkei gehört habe, dass sowohl der sogenann-te „Islamische Staat“ als auch die PKK verantwortlichsein sollen, erschließt sich mir – so will ich es einmalin meiner hanseatischen Art sagen – nicht unmittelbar;denn das sind die beiden Gruppierungen, die sich in Sy-rien bis aufs Blut bekämpfen . Ich hoffe sehr, dass es eineunabhängige Untersuchung gibt, dass die Verantwort-lichen zur Rechenschaft gezogen werden und dass wir,wenn wir das nächste Mal über die Lage in der Türkeidiskutieren, bessere Nachrichten haben, über die wir unsaustauschen können .Ich danke für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Roderich
Kiesewetter von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Fragen Sie sie doch!
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Tiefbewegt nehmen wir Anteil am Schicksal der Opfer desAnschlags am vergangenen Samstag und ihrer Angehö-rigen . Zugleich öffnet uns diese Anteilnahme auch denBlick dafür, wie zerrissen die türkische Gesellschaft ist,eine Gesellschaft, die sich seit anderthalb Jahren im Dau-erwahlkampf befindet. Im August letzten Jahres warendie Präsidentschaftswahlen, und im Juni dieses Jahreswaren Wahlen, die offensichtlich nicht zum gewünsch-ten Ergebnis geführt haben . Gleichwohl: Der Volkes-wille wollte, dass es zu einer Koalition in diesem Landekommt . Unsere Aufgabe muss es sein, die Aufklärungder Anschläge zu fordern und mitzuwirken, dass in derTürkei ein Klima der Aussöhnung und kein Klima derfortgesetzten Spaltung geschaffen wird .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, unsere bei-den Länder eint, dass wir Ziel von Menschen sind, dieFlucht und Vertreibung hautnah erleben und erlebt haben .Uns trennt aber, dass sich die Bundesrepublik Deutsch-land intensiv in die Europäische Union eingebundenhat und dass die Türkei seit einigen Jahren – seitdemErdoğan dort regiert, sei es als Ministerpräsident, sei esals Staatspräsident – eine Solitärfunktion übernimmt undihre Rolle noch nicht gefunden hat . Wir erwarten von derTürkei, dass sie die Kräfte bündelt; denn die Hauptbedro-hung – das ist auch eine Frage der Fluchtursachen – gehtvom IS und vom Staatszerfall im Irak und in Syrien aus .Wir erwarten von der Türkei, dass sie alle Kräfte bün-delt, um an diese Ursachen heranzugehen, dass sie denKampf gegen IS nicht dazu verwendet, innenpolitischeProbleme zu lösen, insbesondere im Hinblick auf dieKurden blutig, und diejenigen Kräfte zu schwächen, diedie Hauptlast im Kampf gegen IS tragen .Ich möchte ausdrücklich betonen, dass wir wiederWert darauf legen müssen, dass die Türkei in der Lageist, ihre Aufgaben als NATO-Partner im Südosten desBündnisses wahrzunehmen . Dazu gehört zuallererst dieNiels Annen
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innenpolitische Befriedung . Wenn wir also über die Tür-kei sprechen, müssen wir auch mit besonderen Maßstä-ben an die weitere politische Arbeit gehen . Wir solltenuns jetzt nicht verleiten lassen, vor den Wahlen, die am1. November dieses Jahres stattfinden, die Angebote Erdoğans eins zu eins umzusetzen. Lassen Sie sie michkurz beleuchten .Der erste Punkt: die Türkei als sicheres Herkunfts-land . Das ist ein Signal der Bereitschaft der Türkei, sichwieder der Europäischen Union zuzuwenden .
Wir haben gerade die Balkanstaaten zu sicheren Her-kunftsländern erklärt . Aber die Art und Weise, wie dieTürkei dieses scheinbare Angebot beim Umgang mit denMenschenrechten im eigenen Land verpackt, lässt diesesAngebot als eher vergiftet erscheinen .
Der zweite Punkt: die Visaliberalisierung, die er an-bietet . Auch hier sollten wir sehr vorsichtig sein . Vielevon Ihnen wissen, dass ich für gezielte Visaliberalisie-rungen unter bestimmten Bedingungen bin . Aber hierdroht die Gefahr, dass die Opposition gezielt aus demLande reisen darf und Erdoğan sich dadurch missliebigerPluralität entledigt .Der dritte Punkt, den er anspricht, betrifft die sicherenSchutzzonen . Das ist etwas, wo ich verstärkte Anstren-gungen der Türkei erwarte . Die Türkei sollte mithelfen,Anstrengungen zu unternehmen, dass wir endlich einUN-Mandat hinbekommen . Mit der Türkei, mit Russ-land, natürlich mit den europäischen Staaten und denUSA ist dies zu leisten . Aber das, was wir gegenwärtigerleben, ist eine Scheinlösung . Wir müssen deshalb auchmit aller Kraft darauf hinwirken, dass die Türkei wiederTeil der internationalen Gemeinschaft ist und nicht in-nenpolitische Probleme zu deren Lasten löst . Deshalb istes umso wichtiger – da unterstütze ich die Aussagen vonNiels Annen und Andreas Nick –, dass die Kanzlerin dasGespräch sucht . Ich bin fest davon überzeugt, dass sie dierichtigen Worte findet.Lassen Sie mich abschließend sagen: Bevor wir aufVorschläge eingehen, die die Türkei uns anbietet, solltenwir die Wahlen abwarten und von der Türkei verlangen,die innenpolitischen Spannungen zu überwinden, Plura-lität wieder zuzulassen und innenpolitisch einen Aussöh-nungsprozess zu starten . Dazu gehören nicht nur die Kur-den, sondern dazu gehören alle demokratischen Parteienin der Türkei .Das, was wir im Moment erleben, ist ein Widerspruch .Deshalb sollten wir darauf dringen – unsere Kanzlerinwird dies am Wochenende tun –, dass Erdoğan von sei-nem Pfad der Unredlichkeit und der politischen Propa-ganda im eigenen Land zurückkehrt, die Gewalt gegendie Opposition einstellt
und sich der internationalen Verantwortung stellt .Herzlichen Dank .
Vielen Dank, Herr Kollege Kiesewetter . – Nächste
Rednerin in der Debatte: Inge Höger für die Linke .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächstmöchte ich den Angehörigen und Freunden der Opfer desBombenattentats in Ankara mein tiefes Mitgefühl ausdrü-cken . 97 zumeist junge Menschen haben ihr Leben verlo-ren, weil sie an einer Friedensdemonstration teilnehmenwollten . Nicht wenige der angereisten Demonstrierendenhatten im Juli nur knapp den Anschlag in Suruç überlebt .Dass so mutige Menschen heute nicht mehr leben, ist eingroßer Verlust – nicht nur für die Türkei .
Zurzeit erleben wir in der Türkei, wie aus einem Wahl-kampf etwas wird, was man inzwischen wohl als Wahl-krieg bezeichnen muss . Wir wissen noch nicht, wer fürdie verheerenden Attentate verantwortlich ist, aber wirwissen, welche Wirkung sie entfalten . Sie verstärken diePolitik der Eskalation und Spannung, die die Türkei inden letzten Monaten immer tiefer in einen Bürgerkrieggezogen hat .Es ist unübersehbar, dass der türkische Präsident Erdoğan mit seiner Bürgerkriegs- und Repressionspolitikhofft, bei den Wahlen am 1 . November 2015 ein besse-res Ergebnis zu erzielen als im Juni . Diese Politik ist zy-nisch, unmenschlich und unverantwortlich .
Es ist wirklich unverständlich, dass Angela MerkelErdoğan mitten im Wahlkampf einen Besuch abstat-ten wird . Das wird von den türkischen Medien als eineArt Wahlkampfunterstützung inszeniert werden . Darankommt sie gar nicht vorbei .
Ich stimme natürlich zu, dass sie auch mit der Oppositionreden muss, aber dies ist der falsche Zeitpunkt .Roderich Kiesewetter
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Völlig zynisch und unverständlich sind die Stimmen,die die Türkei zu einem sicheren Herkunftsland erklärenwollen .
In der letzten Woche konnte und musste ich im Os-ten der Türkei direkt erfahren, welch verheerende Politikdort mithilfe der türkischen Armee und Polizei betriebenwird . Ganze Städte werden dort unter dem Vorwand derTerrorbekämpfung über viele Tage komplett von der Au-ßenwelt abgeriegelt . Mein Eindruck vor Ort war, dasshier die Bevölkerung in einer Region, in der die HDP beiden letzten Wahlen 80 bis 90 Prozent der Stimmen er-zielte, kollektiv bestraft und eingeschüchtert werden soll .Denn: Was hat die Unterbrechung der Wasserversorgungeiner Stadt mit Terrorbekämpfung zu tun? Was trägt dieErschießung von Kindern im eigenen Innenhof zur Si-cherheit bei? Wie stellt man mit der Verweigerung vonmedizinischer Versorgung die öffentliche Ordnung her?Diese Politik verstößt gegen Völker- und Menschen-recht und muss sofort beendet werden .
Ich sah in mehreren Städten die Resultate der soge-nannten Antiterrorpolitik: zerstörte Stadtteile, ausge-brannte Häuser und Geschäfte sowie Dutzende frischerGräber auf den Friedhöfen . Zuvor mussten die Menschenviele Tage in ihren Häusern ausharren – ohne Elektrizität,ohne Wasser und ohne die Möglichkeit, Nahrungsmittelzu kaufen .In Cizre wurden während der zehn Tage dauernden Ab-riegelung 21 Menschen getötet, 11 davon starben durchdirekte Kopfschüsse und 6, weil die Ambulanzen nichtfahren durften – darunter viele Kinder und alte Men-schen . In einer anderen Stadt, in Silvan, nahm ich an derBeerdigung einer alten Frau teil, die während der Blocka-de an einer friedlichen Protestaktion von Müttern teilge-nommen hatte . Sie wurde angeschossen und verblutete,weil auch hier die Ambulanzen nicht fahren durften . Die-se Politik darf aus Deutschland nicht gestärkt werden .
Der türkische Friedensblock hatte die Demonstrationin Ankara organisiert, um eine klare Botschaft an alleKonfliktparteien im Bürgerkrieg zu senden: Verhandelnstatt Schießen! Menschen starben mit Pappschildern inder Hand, auf denen „Frieden jetzt“ stand . Die PKK hattebereits vorher beschlossen und das nun auch öffentlicherklärt, wenigstens bis zum Wahltermin die Waffen ruhenzu lassen . Es wird höchste Zeit, dass auch die türkischeRegierung die Waffen ruhen lässt . Die Linke fordert vonbeiden Seiten einen umfassenden und bedingungslosenWaffenstillstand .
Es ist übrigens völlig unverständlich, dass in der tür-kischen Politik der sogenannte „Islamische Staat“ mitder PKK gleichgesetzt wird . Ohne mich jetzt tiefer mitdiesem abwegigen Vergleich auseinanderzusetzen, machtes doch einen fundamentalen Unterschied, ob Kräfte ver-handlungsbereit sind oder nicht . Während der türkischeStaat in der Vergangenheit die Verhandlungsangebotevonseiten der PKK immer wieder ignoriert hat, wurdenKräfte des IS mehr oder weniger offen unterstützt . Heutewerden durch die türkische Armee in Syrien unter demVorwand des Kampfes gegen den IS vor allem kurdischeKräfte bombardiert .Die Bundesregierung könnte mit einer Aufhebung desPKK-Verbotes in Deutschland ein Zeichen für Deeskala-tion und Verhandlung setzen .
Es liegt auch an der deutschen Regierung, alles zu tun,um sich für Frieden und Demokratie in der Türkei einzu-setzen . Dazu gehört auch der sofortige Stopp sämtlicherRüstungsexporte in die Türkei .
Unverantwortlich ist, dass gerade in dieser Zeit dieSchnelle Eingreiftruppe der NATO in die Türkei ge-schickt werden soll . Auch dies kann nur als Unterstüt-zung von Erdoğans Kurs interpretiert werden. MachenSie Schluss damit!
Danke, Frau Kollegin Höger . – Nächste Rednerin:
Michelle Müntefering für die SPD .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele vonuns sind der Türkei verbunden und kennen das Land gut .Mit über 3 Millionen türkischstämmigen Menschen imLand haben viele Deutsche enge Bande, Bekannte, Ver-wandte, Familie in der Türkei .Auch ich war letzte Woche in Ankara und in Istan-bul . Dort habe ich mit Politikern gesprochen, natürlichauch mit Oppositionellen, mit Wissenschaftlern, habe dieTürkisch-Deutsche-Universität besucht, für die sich RitaSüssmuth schon seit vielen Jahren einsetzt, habe Künst-ler und Unternehmer getroffen sowie Wahlbeobachter .Bei diesen Gesprächen hat sich eine junge Türkei, einemoderne Türkei gezeigt . Aber es kam eben auch genaudie Sorge zum Ausdruck, die hier beschrieben wordenist: um Sicherheit, um Demokratie, um die Einschrän-kung der Presse- und der Meinungsfreiheit . Diese Sorgeteile ich ausdrücklich . Gerade wenn man auf die letzten15 Jahre der Türkei blickt, dann gab es auch viel Licht .Es gab Wachstum und Entwicklung . Es wurden Univer-sitäten gebaut . Aber heute ist die Türkei tief gespalten .Erst vor einigen Wochen hat der türkischstämmigeGenetiker Aziz Sancar, der heute in Amerika lebt undarbeitet, für seine Studien zur DNA-Reparatur den Che-mienobelpreis erhalten; ein wichtiger Preis und eine gro-ße Auszeichnung . Aber im Internet – so hat es auch dieInge Höger
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New York Times beschrieben – wurde ihm nicht gratu-liert, sondern über seine kurdische Herkunft diskutiert .Das ist die Polarisierung der Gesellschaft in der Türkei,die wir derzeit politisch erleben . Sie reicht bis in die Zi-vilgesellschaft hinein. Staatspräsident Erdoğan, der denFriedensprozess einst selbst begonnen hat, will davonjetzt nichts mehr wissen . Obwohl er bei der Wahl am7 . Juni dieses Jahres die Legitimation verfehlt hat, ver-sucht er weiterhin, die Macht auf sich zu vereinen undein Präsidialsystem zu errichten .Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit Kobane und Su-ruç eskaliert wieder die Gewalt – das haben wir hier ge-hört –, zu der auch die PKK mit terroristischen Anschlä-gen beiträgt . Es brennen Parteibüros der HDP . Menschenwerden bedroht, weil sie Kurden sind, auch wenn sie mitden Terroranschlägen gar nichts zu tun haben . TürkischePolizisten und Zivilisten sind bereits gestorben . Wem dasnützt, das kann momentan niemand genau beantworten .Sicher ist nur, wem es schadet: Die Familien in der Tür-kei tragen wieder Trauer und Leid .Der traurige Höhepunkt war der verheerende An-schlag in Ankara . Wir wissen noch nicht, wer diesen An-schlag verübt hat, ob es die Terroristen von Da‘isch, alsoISIS, waren .
Wir wissen aber, dass es ein Anschlag auf den Friedenund auf die Demokratie in der Türkei war . Jetzt müssendie Täter gefunden, vor Gericht gestellt und verurteiltwerden . Sie dürfen nicht davonkommen . Ich spreche derTürkei mein aufrichtiges Beileid aus . Ich hoffe, ich spre-che es richtig aus –: Türkiye başiniz sağ olsun!Sehr geehrte Damen und Herren, die Türkei hat mehrMenschen aufgenommen – über 2 Millionen Flüchtlin-ge – als jedes andere Land . Das ist richtig . Wenn wirjetzt mit der Türkei über die Flüchtlingskrise, die Ein-dämmung von Fluchtursachen und gemeinsame Strategi-en im Syrien-Konflikt verhandeln, dann müssen wir dasmit Respekt und auf Augenhöhe tun, aber wir müssenuns auch fragen lassen, wer eigentlich die legitimen An-sprechpartner sind . Das sage ich auch in Richtung derEU. Präsident Erdoğan zumindest schreibt die Verfas-sung eine neutrale Rolle zu .
Es ist klar: Wir brauchen den Dialog . Wir haben ihnsogar zu oft vernachlässigt . Aber die Botschaft dabeidürfen wir nicht vergessen . Sie muss heißen: Es mussFrieden geben . Die Waffen müssen schweigen . Der Frie-densprozess muss wieder aufgenommen werden . Und esbraucht jetzt freie, demokratische und faire Wahlen in al-len Teilen der Türkei .
Kolleginnen und Kollegen, vorher können wir mit-einander reden, aber wir sollten keine weitreichendenEntscheidungen treffen . Denn unsere Interessen dürfennicht zu Wahlkampfhilfen vor dem 1 . November werden .Deswegen warne ich davor, zu weit gehende Zugeständ-nisse zu machen . Denn an erster Stelle steht ganz klar dieZukunft der Türkei, und diese nehmen die Türkinnen undTürken am 1 . November selbst in die Hand .
Vielen Dank, Kollegin Müntefering . – Nächster Red-
ner in der Debatte: Cem Özdemir für Bündnis 90/Die
Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Unser Beileid gilt den Hinterbliebenen der vielen Opferdes feigen Terroranschlages in Ankara . Entsetzlich istauch, dass die Helfer mit Tränengas daran gehindert wur-den, den Verletzten zur Hilfe zu eilen . Ich will bei die-ser Gelegenheit – ich bin sicher: im Namen des ganzenHauses – sagen: Auch um die durch die PKK ermordetenSoldaten und Polizisten trauern wir gleichermaßen . Undich will hinzufügen: Die meisten von ihnen kommen auseinfachen Verhältnissen und stammen aus Arbeiterfami-lien, ob die Opfer Türken oder Kurden sind .Herr Erdoğan und die anderen, die in der AKP gera-de regieren, würden ihre eigenen Kinder nicht in diesenKrieg schicken, sondern sie schicken andere: Türken undKurden, die an beiden Seiten der Front sterben, und dasin einem Land, in dem Türken und Kurden jahrhunderte-lang friedlich zusammengelebt haben und das hoffentlichauch in Zukunft tun werden .Ich hoffe, auch darin sind wir uns einig: Wir wün-schen uns alle eine starke Demokratie, wir wünschen unsalle eine Türkei, die sich nach Europa ausrichtet . Abereine solche Türkei, die stark ist und ihre Aufgabe in derRegion wahrnehmen kann – das wurde vorhin gesagt –,kann nur eine Türkei sein, die demokratisch ist . Auch dasmuss, glaube ich, klar sein .
Die besondere Ironie ist, dass es die AKP selber unterErdoğan war, die die Gespräche mit Öcalan angefangenhat .
Und es war richtig, dass diese Gespräche geführt wordensind . Wie der ermordete israelische MinisterpräsidentYitzhak Rabin gesagt hat: Frieden schließt man nicht mitseinen Freunden, sondern mit seinen Feinden .Es gibt keine Alternative dazu, dass dieser Konfliktdort ausgetragen werden muss, wo er hingehört: im Par-lament . Und das Mittel dazu ist die Stimme, die man ineiner Demokratie hat . Das ist weder die Kalaschnikowoder die Kaserne, noch sind es die Berge . Dort löst manMichelle Müntefering
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keine Konflikte in der Demokratie, liebe Kolleginnenund Kollegen .
Umso bedauerlicher ist es, dass derselbe Erdoğan, derdiesen Friedensprozess begonnen hat, ihn wieder beendethat, und er hat ihn ausschließlich deshalb beendet, weil erauf die nationalistische Karte setzt und hofft, dass er vondort die Stimmen bekommt . Auch das gehört zur Voll-ständigkeit dazu .Ich glaube, es war ein großer Fehler, dass nach demRegierungswechsel 2005 Bundeskanzlerin Merkel dasInteresse an der Türkei, das es unter Rot-Grün gab –damals galt unter Schröder und Fischer gleichermaßen,dass wir uns intensiv um die Türkei gekümmert haben –,erst einmal ein Ende nahm . Das rächt sich jetzt . DiesemFehler aber – dass wir der Türkei nicht die notwendigeAufmerksamkeit gewidmet haben – dürfen wir heutenicht einen zweiten hinzufügen, dass die Bundeskanzle-rin vor der Wahl am 1. November Herrn Erdoğan den ro-ten Teppich ausrollt . Das dürfen wir nicht tun . Das setztdas falsche Signal in Richtung Türkei, meine Damen undHerren .
Ich habe bei den Kolleginnen und Kollegen – geradeauch bei denen der CDU/CSU, zum Beispiel bei HerrnKiesewetter und Herrn Nick – aufmerksam zugehört .Fast keinen Satz habe ich gefunden, den ich nicht auchso hätte sagen und unterschreiben können . Wenn manaber Ihren Reden aufmerksam zuhört, erkennt man, dassSie eigentlich beeindruckend beschrieben haben, warumman sich vor dem 1. November nicht mit Herrn Erdoğantreffen darf .
Sie haben sehr beeindruckend dargestellt, warum dieBundeskanzlerin ihren Amtskollegen in der Türkei tref-fen sollte . Das ist aber nach der türkischen Verfassungnicht der Staatspräsident . Der hat nach der türkischenVerfassung eine ähnliche Rolle wie unser Bundesprä-sident, Herr Gauck . Sie sollte sich mit einem Minister-präsidenten der Türkei treffen, der hoffentlich aus dennächsten Wahlen am 1 . November demokratisch legiti-miert hervorgeht . Für diesen Besuch hat sie unsere volleUnterstützung . Aber bitte nicht vor dem 1 . November inden Wahlkampf der Türkei – und dann auch noch auf derfalschen Seite, nämlich bei denen, die die personifizierteFluchtursache sind – eingreifen. Herr Erdoğan ist einepersonifizierte Fluchtursache und nicht Teil der Lösung,liebe Kolleginnen und Kollegen .
Ja, wir müssen mit der Türkei über die Flüchtlingereden . Wir müssen mit der Türkei anpacken und helfen,damit es den Flüchtlingen besser geht, meine Damenund Herren . Dann aber müssen wir doch auch darüberreden, dass es keinen Sinn machen kann, dass gerade dieKraft, die am erfolgreichsten gegen diese barbarischeISIS-Bande kämpft, die Kurden, durch die Türkei nichtgestärkt, sondern geschwächt wird .Was wäre das für ein starkes Signal, wenn Herr Erdoğan sagen würde: Nicht nur die Turkmenen aufder anderen Seite der Grenze sind unsere Brüder undSchwestern, sondern auch die Kurden und die Jesidensind die Brüder und Schwestern der Menschen, die in derTürkei leben . Das wäre ein einigendes Band, das, glaubeich, die Türkei in der Zukunft prägen würde .Zum Schluss, meine Damen und Herren, liebe Kol-leginnen und Kollegen: Der einzige Weg, wie dieserKonflikt, der jetzt schon 40 000 Menschen das Lebengekostet hat, gelöst werden kann, sind die Wahlen am1 . November . Damit man sie auch Wahlen nennen kann,müssen es Wahlen sein, bei denen Kandidaten, die für einParlament kandidieren, nicht um ihr Leben fürchten müs-sen . Kandidaten der HDP sind im Vorfeld dieser Wahlenumgekommen . Auch ein Gründungsmitglied der türki-schen Grünen ist ums Leben gekommen .Darum erwarte ich von der Kanzlerin, wenn sie indie Türkei reist, dass sie weiß, dass die Hoffnungen undTräume von vielen Menschen – darunter auch vielenDeutschtürken in der Bundesrepublik Deutschland – mitihr reisen . Diese Menschen wünschen sich eine demo-kratische, europäische Türkei . Sie wünschen sich, dassdie Türkei so etwas wird, wie es die BundesrepublikDeutschland ist, ein Land, in dem man seiner Kultur,seiner Muttersprache, seiner Ethnie, seiner Religion undKonfession nachgehen kann, ohne Angst zu haben, dassder Staat einem sagt: Das darfst du nicht sprechen, unddas darfst du nicht glauben .Ich glaube, auch da sind wir einer Meinung: Wenn dieFrau Bundeskanzlerin schon in die Türkei fliegt, dann,bitte schön, auch mit den richtigen Botschaften, die ver-standen werden .Herzlichen Dank .
Vielen Dank, Cem Özdemir . – Nächster Redner ist
Dr . Hans-Peter Uhl für die CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen undKollegen! Die heutige Aktuelle Stunde ist für den Bun-destag sicher eine wichtige und gute Gelegenheit, seineTrauer über den jüngsten Bombenanschlag in Ankarazum Ausdruck zu bringen . 100 Tote und 246 Verletzte –das sind erschütternde Zahlen für uns alle . Dieser An-schlag steht in einer ganzen Reihe von anderen Gewalt-taten, die die Türkei in den letzten Wochen erschütterthaben . Wir gedenken all dieser Opfer .Ansonsten aber, Herr Özdemir, sehen wir die Dingeetwas differenzierter, als Sie sie gerade vorgetragen ha-Cem Özdemir
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ben . Über die menschlichen Tragödien hinaus richtet sichunser Blick nämlich auf die destabilisierende Wirkung inder ganzen Region . Jedermann weiß, dass diese Ereig-nisse auch Auswirkungen auf Deutschland haben könnenund vermutlich auch haben werden .Die Türkei ist – ich zitiere hier unseren Außenminis-ter – hinsichtlich der Migrationsbewegungen das Schlüs-selland für Europa . Da hat er recht . Und die Reise derKanzlerin dient dem Aspekt, mit der Türkei über ihreFunktion bzw . Rolle bei den sich anbahnenden Völker-wanderungen in Europa oder nach Europa zu reden .
Die griechische Insel Kos liegt in Sichtweite der türki-schen Küste . 1 bis 2 Millionen Menschen warten an dertürkischen Mittelmeerküste darauf, auf die griechischenInseln überzusetzen, um von dort aus über Mazedonienim Wesentlichen nach Deutschland weiterzuwandern .
Das ist das Thema der Reise der Bundeskanzlerin amkommenden Sonntag . Aber auch die Zuspitzung der Kur-denfrage hat vermutlich unmittelbare Auswirkungen aufDeutschland . In Deutschland leben circa 800 000 Kurdenund etwa 3 Millionen türkischstämmige Menschen . DerKonflikt zwischen den Türken und den Kurden in Ankarabzw . der gesamten Türkei birgt sozialen Sprengstoff auchfür uns in Deutschland .Wie der Pressemitteilung der Grünen über diese Ak-tuelle Stunde zu entnehmen ist, wird der gedanklicheAnsatz der Antragsteller dem selbst gewählten Themanicht gerecht . Der Anschlag vom letzten Samstag, die in-nenpolitische Situation in der Türkei und die Beurteilungdes türkischen Präsidenten Erdoğan, dies alles wird ver-mischt . Die Zweifel an den guten Absichten der Grünenwerden damit gestärkt . Mit einer solchen tendenziösenOberflächlichkeit und der Art,
wie Sie mit dem Staatspräsidenten der Türkei in öffent-licher Debatte im Hohen Haus umgegangen sind, lassenmich zweifeln, ob Sie damit den Interessen Deutschlandsgedient haben . Ich habe meine Zweifel .
Die Wahrnehmung humanitärer Interessen und die Wahr-nehmung deutscher Interessen erfordern Gespräche undAbkommen mit der Türkei, und zwar so schnell wiemöglich . Wenn nun die Vertreterin der Linken sagt, dassuns dabei die Opfer in der Türkei völlig egal seien, dannist das eine primitive Unterstellung, die ich zurückweise .
Eile ist geboten . Deswegen ist es richtig, dass die Bun-deskanzlerin am Sonntag in die Türkei reist und Gesprä-che führt . Diese Gespräche sind für uns von großer Be-deutung .
Die Bundeskanzlerin wird dabei mit Sicherheit auch dieinnenpolitische Lage in der Türkei ansprechen,
aber nicht im Wege öffentlicher Anklage quasi über Laut-sprecher, sondern in geeigneter Form .
Ich darf Folgendes bemerken: Demokratie in anderenStaaten ist das Lieblingsthema der Grünen . Gut wäre es,wenn Sie ab und zu das Demokratieprinzip grundsätz-lich durchdenken würden . Dann würden Sie gerade inder Flüchtlings- und Einwanderungsfrage in Deutsch-land zu differenzierteren Erkenntnissen kommen, HerrÖzdemir . Der berühmte Bundesverfassungsrichter DieterGrimm äußerte einmal – ich glaube, er ist seinerzeit aufVorschlag der SPD berufen worden; darauf kann die SPDnoch heute stolz sein –: Souverän ist in einer Demokra-tie das Volk als Bewusstseins- und Willensgemeinschaft .Er sprach von der Notwendigkeit einer hinreichendenÄhnlichkeit der Volksgruppen in einem Staat, ich betone:der Notwendigkeit einer hinreichenden Ähnlichkeit derVolksgruppen . Warum? Denn nur wenn eine solche Ähn-lichkeit der Volksgruppen gegeben ist, ist es möglich,dass die Minderheit im Staat die Überstimmung durchdie Mehrheit ertragen kann, ohne dass dabei der sozialeFrieden gefährdet wird . Ein sehr kluger Gedanke! Nurwenn die Ähnlichkeit aller Volksgruppen einigermaßengegeben ist, kann die Minderheit das Überstimmen durchdie Mehrheit ertragen, und zwar nur dann .
Über diesen Demokratiegedanken sollten Sie einmalnachdenken, bevor Sie eine Einwanderungspolitik be-treiben, die jedermann Tür und Tor öffnet und nach demMund redet .
Ich komme zum Schluss . Die Gefährdung der Demo-kratie in Deutschland durch die Einwanderungspolitikder Grünen ist für uns Grund zur Sorge . Die Grünen ver-nachlässigen ihre nationale Verantwortung,
Dr. Hans-Peter Uhl
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wenn sie nur über demokratische Voraussetzungen in an-deren Staaten wie hier in der Türkei zu Gericht sitzen .Das ist nichts, was uns hilft .
Danke, Kollege Uhl . – Nächster Redner in der Debat-
te: Dietmar Nietan für die SPD .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zunächst einmal möchte ich dem türkischen Volk meintiefempfundenes Mitgefühl ausdrücken für die vielenOpfer schrecklicher Terroranschläge, nicht nur des letz-ten Anschlags in Ankara . Wir sind bei den Angehörigender Opfer . Wir werden die Opfer, die sich für Frieden undFreiheit eingesetzt haben, nicht vergessen .Genauso möchte ich dem türkischen Volk für seineGastfreundschaft und für seinen Einsatz für die Flücht-linge an den türkischen Grenzen ausdrücklich danken .Die Türkei leistet schon über einen sehr langen Zeitraumeine enorme humanitäre Hilfe. Ich finde, es ist an derZeit, der Türkei dafür ausdrücklich einen großen Dankauszusprechen .
Es ist von vielen Kolleginnen und Kollegen gesagtworden, zum Beispiel von Michelle Müntefering undRoderich Kiesewetter, dass wir die Türkei aber auch alsein zerrissenes Land erleben . Wir müssen mit ansehen,wie die Konflikte munitioniert werden, wie Hass und Ge-walt weiter um sich greifen. Alle Seiten in den Konflik-ten, die es in der türkischen Gesellschaft gibt, haben einebesondere Verantwortung dafür, alles zu tun, um dieseSpirale von Hass und Gewalt zu durchbrechen . Ich glau-be, dass eine herausragende Verantwortung in diesemProzess bei dem derzeit amtierenden Staatsoberhauptliegt . Es kann nicht sein, dass unwidersprochen durchden Staatspräsidenten der Türkei hohe Funktionäre derAKP mehr oder weniger zur Hatz auf Andersdenkendeaufrufen, mehr oder weniger unverhohlene Morddrohun-gen gegenüber kritischen Journalisten aussprechen unddas Staatsoberhaupt dieses Landes dazu schweigt .
Wenn es nur das Schweigen wäre! Nein, Erdoğanselbst ist derjenige, der aus eigenen Motiven, weil erglaubt, damit im Chaos die Menschen vielleicht dochdazu bewegen zu können, ein anderes Wahlergebnis her-beizuführen, Hass, Denunziation und Verschwörungsge-rüchte schürt, anstatt das zu tun, was ein Staatsoberhauptzu tun hat, nämlich sein Volk zu versöhnen .
Ich finde, dass dies nicht akzeptabel ist. Deshalb sageich an dieser Stelle sehr deutlich: Ja, es ist richtig, mitden türkischen Freunden darüber zu reden, wie wir invielen Fragen zusammenarbeiten, aber – das betone ichausdrücklich – eben nicht nur in der Frage, wie wir mitden Flüchtlingen umgehen . Ja, es ist richtig, über Vi-safreiheit zu reden . Ich halte es auch für eine gute Idee,darüber nachzudenken, Verhandlungskapitel im Beitritts-prozess zu eröffnen . Ich fände es sehr schön, wenn zumBeispiel das Rechtsstaatskapitel eröffnet würde . Ichstelle mir spannende Diskussionen darüber vor, wie dieTürkei gedenkt, den entsprechenden Acquis communau-taire der Rechtsstaatlichkeit der Europäischen Union zuübernehmen . Das, was wir jetzt erleben, ist das genaueGegenteil davon .Ja, ich finde es richtig, dass die türkische Republik da-rauf hinweist, dass es durchaus unter Partnern – und wirsehen die Türkei als Partner – an der Zeit ist, die Türkeibei ihren enormen humanitären Unterstützungen für dieFlüchtlinge auch von unserer Seite zu unterstützen . Al-lerdings sage ich an dieser Stelle auch, dass ich hellhö-rig werde, wenn die Durchsetzung einer Sicherheitszoneund freie Hand im Kurdenkonflikt in einem Atemzug alsBedingung genannt werden . Das sieht so aus, als möchtejemand den Freifahrtschein dafür bekommen, die polari-sierende Politik, die er jetzt betreibt, am besten noch mitmilitärischen Mitteln fortzusetzen . Auf ein solches Spieldürfen wir uns nicht einlassen .
Ich sage sehr deutlich: In dem Moment, in dem dieTürkei ein sicherer Herkunftsstaat ist, werde ich der Erstesein, der dafür plädiert, sie als solchen zu deklarieren .Aber machen wir uns doch nichts vor: Das, was wir jetztin der Türkei an Verletzungen von Menschenrechten undVersuchen, die kritische Presse endgültig mundtot zu ma-chen, erleben – unter staatlicher Duldung oder teilwei-se sogar vom Staat initiiert –, sind alles Vorgänge, dieman nicht außer Acht lassen kann . Wenn dies sich nichtändert, macht man sich geradezu lächerlich, wenn manirgendwo von europäischen Werten spricht und diesemLand, wie es jetzt ist, den Status eines sicheren Her-kunftsstaates gibt .
Deshalb lassen Sie mich abschließend sagen: Ja, es istrichtig, dass die Bundeskanzlerin auch mit Herrn Erdoğanspricht . Ich möchte es diplomatisch ausdrücken: Sienimmt damit vielleicht nicht die verfassungstheoretische,aber die tatsächliche Lage in der Türkei zur Kenntnis,nämlich mit wem man dort zu sprechen hat . Allerdings –das will ich deutlich sagen – muss die Bundeskanzlerinalles dafür tun, dass ihr Besuch nicht auch nur den An-schein erweckt, dass er die Einleitung eines KuhhandelsDr. Hans-Peter Uhl
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ist, weil wir Angst vor hohen Flüchtlingszahlen haben .Wenn die Bundeskanzlerin mit dem türkischen Staat-spräsidenten spricht, dann muss sie mit ihm darüber spre-chen, dass wir die Partnerschaft zwischen der Türkei undder Bundesrepublik Deutschland erneuern . Dazu gehörtauch, dass wir unter Partnern und Freunden sagen: HerrErdoğan, werden Sie Ihrer Verpflichtung gegenüber demtürkischen Volk gerecht . Nehmen Sie sich ein Beispiel anIhrem Vorgänger Gül . Tragen Sie dazu bei, dieses Landzu versöhnen und nicht weiter zu polarisieren .Vielen Dank .
Vielen Dank, Kollege Nietan . – Nächster Redner:
Michael Vietz für die CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! 97 Tote, mehrere Hun-
dert Verletzte – der brutale und feige Terroranschlag in
Ankara hat die Türkei in einer ohnehin schwierigen in-
nenpolitischen Situation erschüttert; er hat uns erschüt-
tert . Unser tiefes Mitgefühl gilt sowohl den Opfern als
auch ihren Angehörigen und Freunden . Eine rasche und
umfassende Aufklärung der Hintergründe bringt die To-
ten nicht zurück, hilft aber dabei, die Geschehnisse auf-
zuarbeiten .
Wer die Anschläge zu verantworten hat, können wir
noch nicht mit absoluter Sicherheit sagen, auch wenn
Indizien auf den IS hinweisen . Wir verurteilen diesen
menschenverachtenden Anschlag scharf . Wer einen sol-
chen Angriff auf eine unschuldige Menschenmenge un-
ternimmt, die friedlich demonstriert, verübt auch einen
Anschlag auf die Grundprinzipien der Demokratie allge-
mein . Im festen Schulterschluss mit der türkischen Be-
völkerung müssen wir in Deutschland wie im restlichen
Europa deutlich machen, dass wir uns dem Terror von
feigen Anschlägen nicht beugen .
Die Türkei befindet sich seit Monaten im Wahlkampf.
Ganz gleich zu wessen Gunsten die Wahlen im Novem-
ber ausfallen: Es ist im deutschen ebenso wie im euro-
päischen Interesse, dass sich die innenpolitische Lage
der Türkei stabilisiert . Wir brauchen einen zuverlässigen
Partner in der Region . Ob es nun Teilen des Hauses ge-
fällt oder nicht: Präsident Erd̆oğan wird nach dem 1. No-
vember 2015 Staatspräsident der Türkei bleiben .
Gegenwärtig steht die Türkei vor enormen Herausfor-
derungen und unter massivem Druck . Zahlreiche innere
und äußere Konflikte greifen ineinander und verstärken
sich gegenseitig: der stockende Friedensprozess mit dem
kurdischen Bevölkerungsteil, das ambivalente Verhältnis
zu dem IS und den Kurden in Syrien und im Irak . All das
trägt zur Eskalation mit bei .
Auf der anderen Seite leistet die Türkei einen starken
Beitrag . Über 2 Millionen Flüchtlinge aus dem syrischen
Bürgerkrieg wurden in dem Land aufgenommen . Unbe-
stritten ist, dass der Türkei bei all den Herausforderungen,
vor denen wir alle derzeit stehen, eine Schlüsselposition
zukommt . Die Türkei als Transitland ist ein wichtiger
Akteur in der Region . Der Kampf gegen den Terroris-
mus, der blutige Krieg in Syrien, die Bewältigung der
Flüchtlingssituation – all das steht auf der Agenda, wenn
unsere Bundeskanzlerin am Sonntag nach Ankara fährt .
Die Europäische Union, Deutschland und die Türkei, wir
alle müssen Teil der Lösung sein, um die gegenwärtigen
Krisen zu bewältigen .
Die Türkei ist unser Verbündeter, unser Partner in der
NATO, ein wichtiger Handelspartner . Nicht zuletzt durch
einen großen Teil unserer eigenen Bevölkerung sind wir
mit der Türkei eng verbunden . Daher ist die verlässliche
Dialogbereitschaft der Bundesregierung gerade auch in
dieser Situation geboten; denn nur gemeinsam mit der
Türkei werden wir die Situation und die Zukunft der
Flüchtlinge im Nahen Osten bewältigen können .
Nur mit der Türkei werden wir für die zahlreichen
Flüchtlinge Perspektiven und Schutz vor Ort gewährleis-
ten können .
Rufe nach einem Abbruch des Dialogs mit Präsident
Erdoğan führen da in die Irre. Wir müssen vielmehr un-
beirrt unseren Dialog mit der Türkei fortsetzen, benen-
nen, was uns problematisch erscheint, unterstützen, was
unterstützenswert ist .
Ich bin sicher, dass Deutschland durch seine Dialog-
bereitschaft einen wesentlichen Beitrag zur Bewältigung
dieser Krisen leisten und dabei auch klare Position bezie-
hen kann . Dabei setzen wir auf gegenseitiges Vertrauen,
wie es unter Freunden nun einmal so üblich ist, und hal-
ten trotzdem beide Augen weit offen; denn eine Bewälti-
gung der zahlreichen Herausforderungen in dieser nicht
wirklich einfachen Region, vom syrischen Krieg bis hin
zur Flüchtlingslage, kann ich mir ohne unsere türkischen
Partner nur schwer vorstellen .
Die Türkei befindet sich in einer schwierigen Lage.
Wir brauchen die Türkei als Anker in der Region .
Deutschland und Europa werden ihr Möglichstes tun, um
hier an der Seite der Türkei, an der Seite von Recht und
Ordnung und an der Seite einer demokratischen Gesell-
schaft zu stehen .
Vielen Dank .
Vielen Dank, Kollege Vietz . – Letzter Redner inder Aktuellen Stunde ist Klaus Brähmig für die CDU/CSU-Fraktion .
Dietmar Nietan
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Sehr geehrte Frau Präsidentin Roth! Meine sehr geehr-ten Kolleginnen und Kollegen! Liebe Anwesende! Auchmein erster Gedanke gilt den Opfern des Anschlages vom10 . Oktober in Ankara . Wie verkommen und feige mussein Mensch bzw . eine politische Gruppierung sein, diemit einem Bombenanschlag bei einer Friedensdemonst-ration fast 100 Tote und 246 Verletzte verursacht? DieserAnschlag soll wohl noch stärker Hass und Zwietracht inein Land hineintragen, das eigentlich dringend Aussöh-nung zwischen den Ethnien und Religionen benötigt .Die russische Wirtschaftsflaute, der Krieg im Nach-barland Syrien und die Kämpfe mit der kurdischen PKKhielten bereits diesen Sommer Touristen von der Türkeifern . Nach Berichten der Zeitung Hürriyet brachen dieEinnahmen der türkischen Tourismusbranche im zwei-ten Quartal um fast 14 Prozent ein . Das entspricht einemVerlust von umgerechnet 6,8 Milliarden Euro im Ver-gleich zum Vorjahr .Ich zitiere aus den derzeitigen Reise- und Sicherheits-hinweisen des Auswärtigen Amtes zur Lage in der Tür-kei:Landesweit ist mit einer Zunahme der politischenSpannungen zu rechnen, weitere Anschläge odergewaltsame Auseinandersetzungen sind nicht aus-geschlossen . Es wird daher nochmals dringend da-rauf hingewiesen, dass sich Reisende von Demons-trationen, Wahlkampfveranstaltungen und größerenMenschenansammlungen, insbesondere in größerenStädten, fernhalten sollten .
Ein schreckliches Bild angesichts der Tatsache, dass derTourismus im Jahr 2015 etwa 10,6 Prozent zum BIP derTürkei beitragen wird .Wer auch immer in der Türkei mit Terror arbeitet,legt damit die Axt an eine der wichtigsten Wurzeln deswirtschaftlichen und sozialen Aufstiegs des Landes . Allepolitischen Kräfte, die ein wirkliches Interesse am Wohl-ergehen der gesamten Bevölkerung in der Türkei haben,sind daher aufgerufen, deeskalierend zu wirken und nichtnoch weiter Hass und Zwietracht zu säen .Meine Damen und Herren, kein Nachrichtendienst,kein Staatsmann und kein Journalist haben bisher Be-weise für irgendwelche Verstrickungen des „IslamischenStaates“, eine Beteiligung nationalistischer Kräfte oderder PKK offengelegt . Insofern handelt es sich in die einewie in die andere Richtung um eine Vorverurteilung . DieTerroristen sind es, die das Land mit ihren Anschlägenspalten wollen . Es widerspricht geradezu dem letztenWillen der Opfer, wenn sich im Nachgang alle politi-schen Kräfte gegenseitig verdächtigen und damit nochmehr Unfrieden stiften . Gerade das war ja nicht der Sinnder Demonstration, bei der das feige Attentat geschah .Sehr geehrte Damen und Herren, in den letzten Jah-ren hat es teilweise ermutigende Zeichen gegeben, dasssich die Türkei im Rahmen der Verhandlungen zumEU-Beitritt auf einen Prozess zur Demokratisierung,Rechtsstaatlichkeit und Anerkennung der Menschen-rechte eingelassen hat . Dieser Weg sollte fortgesetzt undbeschleunigt werden .Ein Beispiel, das geradezu nach Beschleunigung derBemühungen ruft, ist die immer noch angespannte Lageder Christen in der Türkei . Anfang dieses Jahres berichte-te die Weltpresse über die Genehmigung eines Kirchen-neubaus der syrisch-orthodoxen Gemeinde in Istanbul .Die Nachricht war ein großer Propagandaerfolg der Tür-kei . Viele internationale Medien haben es als Sensationdargestellt, dass die Kirche gebaut werden darf . Ein paarTage später stellte sich dann heraus, dass der Bauantragbereits vor drei Jahren gestellt wurde und das Projekt seitdieser Zeit totgeprüft wird . Mittlerweile wird die Halbie-rung der Grundfläche von 900 Quadratmetern zur Aufla-ge gemacht . Zum Vergleich: Der Bau einer im gleichenStadtteil befindlichen Moschee auf 30 000 Quadratme-tern war Anfang dieses Jahres fast abgeschlossen – davonkein Wort in der Weltpresse .Ich persönlich kann nur alle politischen Kräfte in derTürkei dazu aufrufen, gerade die Anerkennung ethni-scher und religiöser Minderheiten aktiv fortzusetzen .
Wenn circa 18 Prozent der Bevölkerung der Türkei Kur-den sind, spreche ich nicht mehr von einer klassischenethnischen Minderheit . Das Verhältnis zwischen derMehrheit und dieser doch sehr beachtlichen Minderheitentscheidet leicht auch über das Weh und Wohl des ge-samten Staates . Eine gute Zukunft für alle in der Türkeilebenden Bevölkerungsgruppen gibt es nur, wenn dasMotto „Wir zusammen“ lautet .Sehr geehrte Damen und Herren, ich finde es sinnvollund begrüße es, dass unsere Kanzlerin Angela Merkel imZuge der Flüchtlingskrise am kommenden Wochenendeder Türkei einen Arbeitsbesuch abstatten wird .
Eine Stabilisierung der gesamten Region muss im Inter-esse der Bundesrepublik Deutschland und Europas sein .Für mich ist beispielsweise unstrittig, dass die Europä-ische Union – auch Deutschland – der Türkei ein Ent-gegenkommen bei der Unterstützung zur Bewältigungder Flüchtlingskrise zeigen sollte; denn über 2 MillionenFlüchtlinge leben in türkischen Flüchtlingsunterkünften .Weitere 7 Millionen Binnenflüchtlinge, die noch in demBürgerkriegsland sind, könnten jederzeit in die Türkeiausreisen . Wer also die Flüchtlingskrise lösen will, derbraucht auch die Türkei . Es ist ein Schlüsselland in derRegion .Nach meinen Informationen ist derzeit ein EU-Beitrittnicht unbedingt das vorrangige Ziel der türkischen Re-gierung . Dieser Beitritt wäre meines Erachtens aktuellauch nicht verhandelbar . Bei Themen wie Meinungs- und
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 129 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 14 . Oktober 201512540
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Pressefreiheit, Religionsfreiheit und Schutz der Minder-heiten muss die Türkei sich deutlich bewegen .
Viel Verhandlungsgeschick wünsche ich unsererKanzlerin; denn eine heimat- und kulturnahe Unterbrin-gung, die den Flüchtlingen nach einer Befriedung ihrerLänder eine schnelle Heimkehr ermöglicht, halte ich fürdie beste Lösung . Für mich ist diese Lösung alternativlos .
Vielen Dank, Kollege Brähmig . – Die Aktuelle Stunde
ist damit beendet . Wir sind am Schluss unserer heutigen
Tagesordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 15 . Oktober 2015,
9 Uhr, ein .
Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen noch
einen guten Abend .