Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle
herzlich zu unserer Plenarsitzung. Es gibt eine interfrak-
tionelle Vereinbarung, die heutige Tagesordnung um
eine Vereinbarte Debatte zur Situation nach dem Auslau-
fen des Finanzhilfeprogramms für Griechenland zu
erweitern und diese gleich als Zusatzpunkt 1 unserer
Tagesordnung mit einer Debattendauer von 125 Minu-
ten, also gut zwei Stunden, aufzurufen. Sind Sie mit die-
ser Vereinbarung einverstanden? – Das ist offensichtlich
der Fall; also können wir so verfahren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir führen heute
aus gegebenem Anlass wieder einmal eine Europade-
batte. Wir reden über Herausforderungen und Probleme,
die wir gemeinsam bewältigen müssen – im Bewusstsein
einer Verantwortung, die wir für diese Union miteinan-
der haben, die nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft
und eine Währungsunion ist. Bevor wir über Geld reden
und über Regeln und Verträge, will ich an ein tatsächlich
traumatisches Ereignis der jüngeren europäischen Ge-
schichte erinnern.
Am 11. Juli 1995, also vor fast genau 20 Jahren, fie-
len serbische Einheiten in die bosnische Enklave
Srebrenica ein und töteten in den darauffolgenden Ta-
gen rund 8 000 muslimische Bosnier, fast ausschließlich
Männer und Jungen zwischen 13 und 80 Jahren, die in
dieser UN-Schutzzone Zuflucht gesucht hatten. Bis zu
25 000 Frauen, Kinder und alte Menschen wurden
zwangsverschleppt.
Die von serbischen Nationalisten trotz Anwesenheit
von UN-Blauhelmsoldaten verübten Massaker waren der
Höhepunkt eines als „ethnische Säuberung“ bezeichne-
ten Vernichtungsprogramms, das auf die Schaffung eines
ethnisch homogenen serbischen Staates zielte. Der
Massenmord an der bosnischen Zivilbevölkerung in
Srebrenica, der inzwischen vom Internationalen Strafge-
richtshof für das ehemalige Jugoslawien sowie dem In-
ternationalen Gerichtshof als Völkermord beurteilt
worden ist, gilt als das schwerste Kriegsverbrechen in
Europa seit Ende des Zweiten Weltkrieges.
Die damaligen Verbrechen im Südosten unseres Kon-
tinents, außerhalb der Europäischen Union, erinnern uns
auch daran, dass die europäische Idee wesentlich von
dem Bestreben getragen wird, das friedliche Zusammen-
leben der Völker in Europa zu befördern und zu erhalten.
Dessen sollten wir uns gerade vor dem Hintergrund der
aktuellen, aufreibenden, gelegentlich zermürbenden, si-
cher lästigen Debatten auf europäischer Ebene und der
wachsenden Kritik an der Europäischen Union bewusst
sein.
Europa ist auch und vor allem eine Rechtsgemeinschaft
und eine Friedensunion.
Ich rufe nun den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt 1
auf:
Vereinbarte Debatte
zur Situation nach dem Auslaufen des
Finanzhilfeprogramms für Griechenland
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor. Wir haben uns vorhin durch Beschluss
auf die Debattendauer verständigt.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Bundes-
kanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Ohne Zweifel liegen turbu-lente Tage hinter uns; vor allem aber liegen schwereTage hinter den Bürgerinnen und Bürgern Griechen-lands, und weitere solche schweren Tage liegen vor ih-nen. Sie haben mit einer außergewöhnlich harten Situa-tion zu kämpfen; denn bevor wir über alle weiteren, in
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10956 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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hohem Maße auch technischen Fragen von Programmenund Zahlen sprechen, müssen wir an die Menschen inGriechenland denken. Sie sind ein stolzes Volk und ha-ben harte, sehr harte Tage zu bewältigen. Es ist geradeauch deshalb nicht einfach nur so dahingesagt, wenn ichwieder und wieder betone: Die Tür für Gespräche mitder griechischen Regierung war immer offen und bleibtimmer offen. Das sind wir den Menschen schuldig, unddas sind wir auch Europa schuldig.
Zur Realität, liebe Kolleginnen und Kollegen, gehörtaber auch, zu sagen: Wir haben erlebt, dass Griechen-land die Verhandlungen für den erfolgreichen Abschlussdes zweiten Hilfsprogramms einseitig beendet hat, nach-dem es sein Referendum für den kommenden Sonntagangekündigt hat. Wir haben erlebt, dass Griechenlandseiner Verpflichtung nicht nachgekommen ist, die Zah-lungen an den IWF fristgerecht zu leisten. Wir haben er-lebt, dass das zweite Hilfsprogramm gestern Abend um24 Uhr ausgelaufen ist.Mit dem Auslaufen des zweiten Hilfsprogramms istden Vorschlägen, die für die Sitzung der Euro-Gruppeam letzten Samstag auf dem Verhandlungstisch lagenund die sich auf das zweite Hilfsprogramm bezogen, dieGrundlage entzogen. Um es klar zu sagen: Die Abhal-tung eines Referendums ist ein Akt demokratischerSouveränität Griechenlands. Es ist das legitime RechtGriechenlands, das zu tun, wann immer sie es wollen,worüber auch immer sie es wollen und mit welcherWahlempfehlung der Regierung auch immer.
Aber um es genauso klar zu sagen: Es ist ein ebensolcherAkt demokratischer Souveränität der anderen 18 Mit-gliedstaaten der Euro-Gruppe, zu der griechischen Ent-scheidung ihrerseits eine angemessene Haltung zu ent-wickeln.
Es ist ein ebensolches legitimes Recht dieser 18 eben-falls allesamt demokratisch legitimierten Parlamente undRegierungen, ihre Haltung festzulegen, und das erstrecht in einer Währungsunion; denn es sind nicht einfachnur 18 oder 19 Staaten, sondern es sind 19 Staaten miteiner gemeinsamen Währung, die mit ihrer jeweiligenEntscheidung immer auch das Wohl und Wehe der ande-ren, das Wohl und Wehe des Ganzen beeinflussen.Gestern Abend ging ein Antrag des griechischen Mi-nisterpräsidenten Alexis Tsipras beim Vorsitzenden derEuro-Gruppe, Jeroen Dijsselbloem, ein mit der Bitte umein neues Hilfsprogramm. Die Finanzminister der Euro-Gruppe haben darüber beraten. Die Bundesregierung hatsich dazu in folgender Weise verständigt: Wir wartenjetzt das Referendum ab. Vor dem Referendum kannüber kein neues Hilfsprogramm verhandelt werden. –Das geht im Übrigen auch gar nicht ohne ein Mandat desDeutschen Bundestages, weil wir uns jetzt im Rechts-raum des ESM bewegen.
Meine Damen und Herren, wir können das auch inRuhe abwarten; denn Europa ist stark, viel stärker alsvor fünf Jahren zu Beginn der europäischen Staatsschul-denkrise, die in Griechenland ihren Ausgang nahm. Wirsind stärker dank der Reformpolitik der letzten Jahre, diemaßgeblich auch auf die Haltung Deutschlands zurück-zuführen ist. Heute müssen die anderen 18 Mitgliedstaa-ten keine ökonomische Katastrophe mehr befürchten,weil Griechenland in Turbulenzen geraten ist. Wir habenSchutzvorkehrungen getroffen, an die im Februar 2010noch nicht einmal im Ansatz zu denken war. Wir habeneine EFSF, wir haben einen Europäischen Stabilitätsme-chanismus, den ESM, wir haben einen Fiskalpakt, undwir haben eine Bankenunion, die nicht nur eine gemein-same Bankenaufsicht beinhaltet, sondern auch Mecha-nismen für eine Bankenabwicklung. Europa ist robustergeworden, und deshalb ist die heutige Lage zwar ohneZweifel eine große Herausforderung für uns; aber eineQual ist sie vor allem für die Menschen in Griechenland.Das führt uns zum Kern der aktuellen Herausforde-rungen. Es geht nicht um 400 Millionen Euro oder1,5 oder 2 Milliarden Euro,
um die vielleicht noch zwischen Institutionen der Euro-Gruppe und Griechenland gerungen wurde; man hört un-terschiedliche Summen. Alle diese Summen sind zwarsehr große Beträge, aber sie alle stellten tatsächlichkeine unüberwindbare Hürde dar. Nein, darum geht esnicht.
Es geht – vom ersten Tag der Griechenland-Krise bisheute – immer um eine grundsätzliche Frage:
Europa ist eine Schicksalsgemeinschaft, und als solchezeichnet sie sich als eine Rechtsgemeinschaft, als Ver-antwortungsgemeinschaft aus. Das Wesen dieser Rechts-und Verantwortungsgemeinschaft ist die Fähigkeit zumKompromiss. Jeder muss sie aufbringen, Griechenlandgenauso wie Deutschland, wie Frankreich und wie alleanderen. Eingegangen werden kann ein Kompromissdann, wenn die Vorteile die Nachteile überwiegen. Sonstgehe ich, sonst geht die Bundesregierung jedenfalls ei-nen Kompromiss nicht ein. Denn ein Kompromiss umjeden Preis wäre nur ein Ergebnis um des Ergebnisseswillen, nur weil man mit einem Konflikt nicht lebenkann, weil man Angst vor der Austragung des Konfliktshat, zum Beispiel dem eines Mitglieds der Euro-Zonemit den 18 anderen.Es kann kein Zweifel bestehen: Verlöre Europa dieFähigkeit zum Kompromiss, bei dem die Vorteile dieNachteile überwiegen, dann wäre Europa verloren. Abergenauso sage ich klipp und klar: Ein guter Europäer istnicht der, der eine Einigung um jeden Preis sucht. Einguter Europäer ist vielmehr der, der die europäischenVerträge und das jeweilige nationale Recht achtet und
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Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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auf diese Weise hilft, dass die Stabilität der Euro-Zonekeinen Schaden nimmt.
Gemäß diesem Verständnis Europas als Rechts- und Ver-antwortungsgemeinschaft verfolge ich und verfolgt dieBundesregierung bei allen Entscheidungen und Pro-grammen der Euro-Zone zur Bekämpfung der Schulden-krise von Beginn an immer ein Ziel, und zwar, eine neueStabilitätskultur in Europa zu schaffen.
2010 standen wir an einer Weggabelung: Soll dieWirtschafts- und Währungsunion eine Transferunion mitEuro-Bonds und Ähnlichem werden oder eine Stabili-täts- und Wachstumsunion mit Solidarität und Eigenver-antwortung, Leistung und Gegenleistung?
Wir haben uns für die Stabilitätsunion entschieden, weiles immer um die einzelnen Länder geht, aber auch im-mer um die Wirtschafts- und Währungsunion als Gan-zes.
Wir haben uns für eine Stabilitätsunion entschieden,
weil es immer auch um unseren Platz in der Welt geht:ökonomisch und sozial, mit unseren Interessen und vorallem mit unseren Werten.
Um es einfach zu sagen: Auch Deutschland geht es aufDauer nur dann gut, wenn es auch Europa gut geht,meine Damen und Herren.
Natürlich gingen auch mit einer Transferunion inEuropa wahrlich nicht die Lichter aus. Es ließe sich viel-leicht sogar eine Zeit lang ganz ordentlich leben. Aberdauerhaft erfolgreich in der Zukunft, in 10, 20 oder30 Jahren, wären wir nicht mehr. Wir wollen das abersein, und wir wollen für unsere Werte in einer globalenWelt einstehen können.
Ich will nicht, dass wir irgendwie durch die Krise kom-men, möglichst schnell Ruhe bekommen, und gut ist es.Ich will, dass Europa stärker aus der Krise heraus-kommt, als es in diese Krise hineingegangen ist,
damit wir im Wettbewerb mit China, Indien, Südamerikaund anderen stark sind, damit wir unsere Interessen, un-sere Art, zu wirtschaften, zu arbeiten, zu leben, und un-sere Werte – Freiheit, Menschenwürde, Rechtsstaatlich-keit – überzeugend vertreten können.
Darum geht es und nicht darum, ob eine Differenz von400 Millionen Euro, 1,5 oder 2 Milliarden Euro über-windbar wäre oder nicht. Darum geht es, wenn wir ent-scheiden müssen, ob wir Verhandlungen über ein neuesHilfsprogramm für Griechenland auf der Grundlage vonSolidarität und Eigenverantwortung und unter Einbezie-hung der drei Institutionen, also der Europäischen Kom-mission, der Europäischen Zentralbank und des Interna-tionalen Währungsfonds – nach dem Referendum undnicht vorher – in Erwägung ziehen. Ob es einen Kom-promiss geben kann, bei dem die Vorteile die Nachteileüberwiegen, das müssen wir zu gegebener Zeit ent-scheiden. Darum geht es auch, wenn wir die wirtschafts-politische Koordinierung der Mitgliedstaaten der Wirt-schafts- und Währungsunion stärken müssen und dieGründungsfehler der Wirtschafts- und Währungsunionbeheben wollen.Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, essind turbulente Tage. Es geht auch tatsächlich um viel.Die Welt schaut auch auf uns. Aber die Zukunft Europas,die steht nicht auf dem Spiel. Die Zukunft Europasstünde auf dem Spiel, wenn wir vergessen würden, werwir sind und was uns stark macht: eine Rechts- und Ver-antwortungsgemeinschaft.
Würden wir das vergessen, dann wäre der Euro geschei-tert und mit ihm Europa.Die Rechts- und Verantwortungsgemeinschaft Eu-ropa, die Wertegemeinschaft Europa, sie ist stark, undsie ist robust. Und ich habe es wieder und wieder gesagt:Die Überwindung der europäischen Staatsschuldenkrisebraucht Zeit und einen langen Atem. Aber hinterher wirdEuropa stärker sein als zu Beginn. Dafür bitte ich weiter-hin um Ihre Unterstützung.
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege
Gregor Gysi das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die euro-päische Einigung war eine Lehre, die aus dem Verhäng-nis des Zweiten Weltkrieges und der deutschen Nazi-
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Dr. Gregor Gysi
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diktatur gezogen wurde. Man wollte Europa einigen,auch Deutschland einbinden, und das Ganze sollte zuFrieden, Demokratie, sozialer Wohlfahrt, wirtschaftli-cher Entwicklung und später auch ökologischer Nach-haltigkeit führen. Das sind die gemeinsamen Grund-werte, für die dieses Europa stehen sollte.Aber Europa wurde zutiefst erschüttert – schon frü-her, aber erst recht durch die Finanz- und Bankenkrisevor sieben Jahren – und hat sich bis heute nicht erholt.Aus der Bankenkrise wurde eine Staatsschuldenkrise,von Griechenland bis Deutschland, weil Privatbanken inEuropa mit Steuergeldern in Milliardenhöhe gestütztwurden. Die Rettungspakete galten nie den Bürgerinnenund Bürgern, sondern immer den Banken.
Auch bei uns wurden 480 Milliarden Euro binnen einerWoche für die Rettung der Banken beschlossen. Wennman mal 1 Million Euro für einen kulturellen oder sozia-len Zweck braucht, dann bekommt man ein Nein, aberbei den Banken gibt es immer nur ein Ja.
Ich habe Ihnen zugehört, Frau Bundeskanzlerin. IhreRede kann ich wie folgt zusammenfassen: Die griechi-sche Regierung hat alles falsch gemacht, und Sie, HerrSchäuble und die europäischen Institutionen, also der In-ternationale Währungsfonds, die Europäische Kommis-sion und die Europäische Zentralbank, haben alles rich-tig gemacht.
Glauben Sie das wirklich?
Ich bin auch nicht unkritisch gegenüber der griechischenRegierung, aber die Art, wie Sie sich beweihräuchern, isteinseitig und völlig daneben.
Die drei von mir genannten Institutionen haben, wiebereits gesagt, 90 Prozent der Hilfsgelder in Höhe vonüber 240 Milliarden Euro in die Rettung der griechischenPrivatbanken gesteckt. Dieses Geld kam den Gläubigernzugute. Gläubiger dieser Privatbanken waren übrigensauch deutsche und vor allem französische Banken. Dortist das Geld hingeflossen. Warum konnte man die grie-chischen Banken nicht einfach pleitegehen lassen? Dannhätten die Großgläubiger und Großaktionäre eben zahlenmüssen, weil sie sich einfach verzockt haben, und manhätte den Bürgerinnen und Bürgern und den kleinen undmittelständischen Unternehmen ihre Guthaben erstattenkönnen. Das hätte man machen können. Das wäre einvernünftiger Weg gewesen.
Aber Sie sind einen anderen Weg gegangen. Für die-sen anderen Weg haben Sie Bedingungen festgelegt – fürGriechenland, für Spanien, für Portugal, für Irland undfür Zypern. Die Bevölkerungen dieser Länder musstendas bezahlen. Der Preis war hoch, und zwar überall; aberbesonders dramatisch war es in Griechenland.
Ich sage es Ihnen noch einmal – seit sechs Jahren habenwir die Krise in Griechenland –: Rückgang der Wirt-schaftsleistung, die angeblich angekurbelt werden sollte,um 25 Prozent; Anstieg der Arbeitslosigkeit auf 25 Pro-zent, Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit auf über 50 Pro-zent; Zusammenbruch des Gesundheitssystems; Kürzun-gen der Renten um 40 Prozent, Senkungen der Löhneum 30 Prozent; Suppenküchen über Suppenküchen. Unddas genügt Ihnen nicht? Es muss noch weiter runterge-hen? Das ist Ihre Vorstellung von Europa? Frau Merkel,Herr Gabriel und Herr Schäuble, ich finde, das ist einSkandal, und Sie tragen daran eine gewaltige Mitschuld.
Außerdem ist die Staatsschuldenquote von 127 Pro-zent vor Ausbruch der Krise auf jetzt knapp 180 Prozentder Wirtschaftsleistung gestiegen. Jeder fragt sich: Wiesoll das eigentlich je zurückgezahlt werden? Der Kursder Kürzungspolitik von Troika und Bundesregierung isteinfach gescheitert.
Die Ergebnisse, die Sie versprochen haben – mehr Wett-bewerbsfähigkeit und was weiß ich –, sind nicht einge-treten.
– Ja, ja, wir haben hier eine Arbeitsteilung; das kann ichIhnen sagen. Ich frage Sie einmal, wann diese drei euro-päischen Institutionen endlich einmal die Verantwortungfür das übernehmen, was sie anrichten.
Wissen Sie, das Ganze ist so organisiert: Für die ver-fehlte Politik werden die nationalen Regierungen zurVerantwortung gezogen, gegebenenfalls auch von denWählerinnen und Wählern abgestraft, während die ei-gentlich Verantwortlichen in der Europäischen Kommis-sion, im Internationalen Währungsfonds und in derEuropäischen Zentralbank, die nicht demokratisch legiti-miert sind, ungestraft davonkommen. Das kann so nichtbleiben. Wenn man Europa will, muss man auch ein ver-antwortliches Europa wollen.
Nun hat sich die Situation dramatisch zugespitzt – dasstimmt –: Erstmals in der Geschichte ist eine Kreditrück-zahlung an den IWF ausgesetzt worden. Die griechische
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Regierung und das griechische Parlament haben für den5. Juli 2015 ein Referendum über die Zustimmung oderAblehnung des jüngsten, ultimativen Spardiktats be-schlossen und nicht, wie Sie, Herr Gabriel, es fälschli-cherweise behaupten, über den Verbleib im Euro-Raum.Niemand darf nach geltendem Recht ein Land aus demEuro werfen.
Es gibt allerdings die Gefahr des Staatsbankrotts und na-türlich die Gefahr des Austritts Griechenlands aus demEuro-Raum. Diese Gefahr besteht.Herr Gabriel, Sie haben ein kurzes Gedächtnis: An-fang September 2011 wollte die Regierung Ihrer Schwes-terpartei, der Pasok, unter dem damaligen ChefPapandreou wegen der Sparpolitik, die aus Europa kam,ein Referendum durchführen, und zwar, weil die Kon-servativen nicht zustimmen wollten. In Berlin und beimIWF war man fassungslos. Man drohte Griechenland miteiner ungeordneten Insolvenz. Der IWF drohte sogar miteinem Zahlungsstopp. Papandreou wurde gestürzt, dasReferendum durfte nicht stattfinden, und die Schwester-partei der Union, die Nea Dimokratia, bot sich willfährigan, die drastische Kürzungspolitik umzusetzen. Nachherhaben es Nea Dimokratia und Pasok zusammen ge-macht. – Aber wie reagierte damals die SPD auf denEntschluss Papandreous? Martin Schulz, heute Präsidentdes Europäischen Parlaments, erklärte, dass er großesVerständnis für das Referendum habe, der Regierungbleibe gar nichts anderes übrig. Sie, Herr Gabriel, erklär-ten ebenfalls, dass Sie das Referendum befürworten.Wissen Sie, was ich mich frage: Wieso gilt Ihrer Mei-nung nach etwas für Pasok, aber nicht für Syriza?
Oder ist Ihr neuer Sitzplatz der Grund für den Sinnes-wandel? Damals saßen Sie dort unten, im Plenum, undjetzt sitzen Sie dort oben, auf der Regierungsbank. Wennes an dem anderen Sitzplatz liegt, ist Ihre Politik höchstunglaubwürdig.
Es gibt jetzt Kritik an dem Zeitpunkt der Entschei-dung für das Referendum. Zum Zeitpunkt muss ich aberFolgendes sagen: Tsipras, die griechische Regierung unddas griechische Parlament können nicht irgendein Zwi-schenergebnis der Verhandlungen zur Abstimmung stel-len, sondern nur ein Ultimatum. Da kann man sagen:Sollen wir das annehmen oder nicht annehmen? Deshalbist der Zeitpunkt richtig gewählt. Aus der Sicht der grie-chischen Regierung ist er, wenn Sie so wollen, gar nichtklug. Die Banken sind geschlossen. Die Leute stehen an.Man weiß gar nicht, wie sich die Stimmung bis Sonntagnoch verändert. Aber es blieb ihnen erst einmal nichtsanderes übrig.
– Ich will Ihnen das erklären, damit Sie es verstehen;versuchen Sie es doch einmal. – Sie dürfen eines nichtvergessen: Wenn er zu dem Ultimatum Ja gesagt hätte,dann hätte er seiner Bevölkerung sagen müssen: Ich bre-che alle Wahlversprechen. Das mag ja in DeutschlandMode sein, aber in Griechenland nicht, um es einmalganz klar zu sagen.
Für die Beendigung der Austeritätspolitik hat dochSyriza bei der Wahl so viele Stimmen bekommen. WennSie der griechischen Bevölkerung sagen: „Ihr könntwählen, was ihr wollt, wir sorgen dafür, dass immer diegleiche Politik fortgesetzt wird“, dann ist das ein Angriffauf die Demokratie und auf demokratische Wahlen.
Herr Gabriel, wenn Sie davon sprechen, dass diedeutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nichtfür die aus Ihrer Sicht falsche Politik der griechischenRegierung bezahlen dürfen, ist das auch völlig daneben.Wo bleibt eigentlich die Solidarität der SPD mit demgriechischen Volk, aber auch mit unseren Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmern?
Ich sage Ihnen: Wenn der Euro scheitert, dann kostet unsdas sehr viel Geld. Wenn eine Staatspleite Griechenlandskommt, haften wir dank Ihrer Unterschrift – wir waren jadagegen, aber Sie haben die Bürgschaften unterschrie-ben – mit 27 Prozent für die Schulden Griechenlands.Das macht über 80 Milliarden Euro. Es kann ja sein,Herr Schäuble, wie Sie richtig sagen, dass dies nicht so-fort fällig wird, sondern nach und nach. Das ist ganzegal. Bezahlen müssen wir es. Das müssen Sie den deut-schen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern einmal sa-gen. Wir wollen sie davon nämlich befreien.
Aber Sie mussten sich ja von der Kanzlerin belehren las-sen, dass solche Äußerungen völlig kontraproduktivseien. Die Tatsache, dass die Kanzlerin Sie korrigiert,spricht ja nun auch für sich.Die Kernfrage – da haben Sie recht, Frau Bundes-kanzlerin – ist nicht die Frage der Schulden und auchnicht die Frage des Geldes,
sondern es geht um Macht und Demokratie.
Das hat der amerikanische WirtschaftsnobelpreisträgerJoseph Stiglitz auf den Punkt gebracht. Es geht um dieSouveränität eines Landes, das Mitglied der Euro-Zone,
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Dr. Gregor Gysi
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Mitglied der Europäischen Union, Mitglied der NATOund Mitglied der Organisation der Vereinten Nationenist.Übrigens sollten auch die Verteidigungsausgaben ge-kürzt werden. Das war ja interessant. Es gab einen Vor-schlag der griechischen Regierung. Dann hat die Troikamehr vorgeschlagen. Was sagt jetzt Herr Stoltenberg,Generalsekretär der NATO? Das käme überhaupt nichtinfrage. Alle NATO-Staaten müssten die Ausgaben erhö-hen, auch Griechenland, und dürften sie nicht senken.
Mich würde interessieren, was denn nun gilt.Die ganzen bisherigen Auflagendiktate haben schwerin die Innenpolitik der betroffenen Länder eingegriffen.In Portugal und jetzt in Griechenland haben die dortigenVerfassungsgerichte Auflagen gestoppt, weil sie gegendie dortigen Verfassungen verstießen. Selbst um Verfas-sungen also scheren sich die demokratisch durch nie-manden legitimierten Vertreter der Troika nicht.Frau Bundeskanzlerin, Sie haben gesagt, Europa ba-siere auf dem Recht, und das Recht müsse eingehaltenwerden, und haben der griechischen Regierung vorge-worfen, das Recht zu verletzen. Darf ich daran erinnern,dass die erste schwerwiegende Rechtsverletzung vor elfJahren unter Rot-Grün durch Deutschland begangenwurde, als man gegen die Schuldenkriterien verstieß? –Das war Europarecht. Der Maastrichter Vertrag ist ver-letzt worden. Damals wollte die EU-Kommission einenblauen Brief schreiben und wegen der Verstöße bei derÜberschreitung der Schuldengrenze sogar Strafzahlun-gen festlegen. Das hat man sich dann aber letztlich beiDeutschland und später auch bei Frankreich nicht ge-traut. Aber gegen Griechenland muss alles angewandtwerden. Das müssen Sie auch erst einmal erklären.
Vor fünf Monaten begannen die Verhandlungen derdrei Institutionen mit der neuen griechischen Regierung.Die neue griechische Regierung wollte erklärtermaßendie gescheiterte Kürzungspolitik beenden. Dagegenstellten sich, wie Sie sagen, alle 18 Regierungen. Sie ha-ben recht: Um die 400 Millionen Euro ging es nicht. Siewollen die linke Regierung in Griechenland beseitigen.Das ist Ihr Ziel.
Ich werde es Ihnen beweisen. Die Frage ist, welche Mit-tel und Wege Ihnen dafür recht sind.Außerdem ging es noch um eine andere Frage; beidieser können Sie zumindest zuhören. Es ging um dieFrage der Bedingungslosigkeit. Sowohl die Bundeskanz-lerin als auch Herr Gabriel als auch Herr Schäuble habengesagt, die wollten einen Kredit bedingungsfrei, undman zerstöre den Euro, wenn man das bedingungsfreimache.Worum ging es aber wirklich? Es ging darum, dassein Betrag von 29 Milliarden Euro vom IWF zum Euro-päischen Stabilitätsmechanismus, ESM, umgeschichtetwerden sollte, weil man in dem einen Fall 4 Prozent undin dem anderen Fall nur 1 Prozent Zinsen zahlen muss.Herr Schäuble, alle Schwäbinnen und Schwaben undalle Berlinerinnen und Berliner würden das auch so ma-chen und statt 4 Prozent lieber nur 1 Prozent Zinsen zah-len. Das ist auch gar nicht weiter schlimm; damit ist mansogar einverstanden. Aber für das Umswitchen brauchtman vorübergehend einen kleinen Umswitchungskredit.Daran wollen Sie weitere Bedingungen zum Sozialabbauknüpfen. Die griechische Regierung hat gesagt: Wennwir schon so viele Kompromisse eingehen müssen, dannmacht doch das bedingungsfrei. – Ich kann darin keineGefährdung des Euro sehen, ganz im Gegenteil. Daraufhätten Sie meines Erachtens eingehen müssen.
Der Weg des Ultimatums war meines Erachtensfalsch.
Man hätte weiterverhandeln müssen. Ich sage nicht, dassdie griechische Regierung nicht auch Fehler begangenhat.
Ich weiß, dass sie gerade neue Vorschläge unterbreitet.Ich kann Ihnen sagen, was mich zum Beispiel stört:dass es noch keinen Vorschlag gibt, eine Steuer für diewirklich Reichen in Griechenland zu erheben. Es wirdhöchste Zeit!
Aber auch Ihre geliebte Troika hat dazu keinen Vor-schlag unterbreitet.
Ganz im Gegenteil – hören Sie zu –: Die griechische Re-gierung hat vorgeschlagen, dass Gewinne über 500 000Euro ein einziges Mal mit einer Zusatzabgabe belastetwerden. Da sagte die Troika: Nein, das kommt über-haupt nicht infrage. – So sieht Ihre Troika aus, um auchdas einmal ganz klar zu sagen.
Die Regierung hatte 48 Stunden Zeit und hat dannentsprechend reagiert. Ich habe es vorhin schon gesagt:Ein Grexit, ein Austritt Griechenlands aus dem Euro,wäre aus mehreren Gründen katastrophal.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015 10961
Dr. Gregor Gysi
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– Nein, das hat auch Frau Wagenknecht nicht gefordert;
Sie müssen das richtig lesen. Der Journalist hat sich ge-irrt
und sich inzwischen entschuldigt.
– Hat sich bei Ihnen in den letzten 20 Jahren noch nie einJournalist geirrt? Erzählen Sie mir hier nicht einen sol-chen Blödsinn. Das kann ich ja gar nicht mehr nachvoll-ziehen.
Noch einmal zum Grexit. Er kann eine Kettenreaktionauslösen; das können wir alle gar nicht einschätzen. Wis-sen Sie genau, was danach passiert? Wir alle tun immerso oberschlau, können das aber gar nicht einschätzen.
– Ja, auch ich. Aber bei mir stimmt es wenigstens einbisschen.
Aber davon einmal abgesehen – jetzt im Ernst –: Wirkönnen die Folgen gar nicht genau einschätzen. Wenn eszu einer Kettenreaktion kommt und der Euro tot ist,dann, sage ich Ihnen, sind wir die Leidtragenden. Ichsage Ihnen auch, warum.Die Situation ist nicht dieselbe, die wir vor der Ein-führung des Euro hatten; sie ist eine ganz andere. All dieanderen Währungen – Franc, Peseta, Drachme – wärenheute nichts wert. Die Deutsche Mark hätte einen sehrhohen Wert. Die anderen Länder würden nicht auf unseingehen und sagen: Wir vereinbaren mit euch festeWechselkurse. – Warum? Sie würden die Billigkeit ihrerWährungen nutzen, um mehr exportieren zu können.
Unser Export bricht dann zusammen; das ist das Pro-blem. Massenarbeitslosigkeit etc. wären die Folgen.Also geht das nicht.Eine Frage interessiert mich wirklich sehr: Wie weitkönnen die Eingriffe in die Innenpolitik eigentlich ge-hen? Man kann sich über das Ziel verständigen. Wennman Finanzhilfen gewährt, welcher Art auch immer,muss es Bedingungen geben, um die Rückzahlung zu ge-währleisten.
Aber den Weg müssen alleine das Parlament und die Re-gierung des Landes bestimmen, nicht die Troika, wie esdie letzten Jahre der Fall war. Das ist Ihr großer Fehlerund Ihr großer Irrtum.
Stellen Sie sich einmal vor, Deutschland wäre in einersolchen Krise, die Troika gäbe uns solche Bedingungenvor und würde fordern: Rentenkürzung um 30 Prozent,hier kürzen, dort kürzen. – Glauben Sie, das würden wiruns bieten lassen? Aber anderen soll man das antun?Man sollte anderen nie etwas antun, was man sich selbernicht bieten lassen würde.
Deshalb sage ich Ihnen: Wir brauchen nicht weniger,sondern sogar mehr Europa. Wir brauchen aber ein ande-res Europa, eine gemeinsame Wirtschafts-, Finanz-, So-zial-, Steuer- und Ökologiepolitik.
– Wissen Sie, Ihr Hass auf die Linken ist gar nicht nach-vollziehbar. Warum sind Sie eigentlich Mitglied der SPDgeworden? Ich kann nur sagen: Setzen Sie sich dochgleich zur Union, Herr Kahrs.
Wir müssten festschreiben, dass es in Europa immer umsoziale Wohlfahrt und Steuergerechtigkeit gehen mussund nicht das Gegenteil herbeigeführt werden darf, wiees in den letzten Jahren geschehen ist.Die Kommentare, die ich zurzeit lese, sind zum Teilsehr von Hass und Feindseligkeit geprägt. Dagegen soll-ten wir in gemeinsamer Verantwortung etwas tun.
Das können wir – auch in Anbetracht unserer Geschichte –überhaupt nicht gebrauchen.Ich leugne nicht, dass die Griechinnen und Griechenam nächsten Sonntag vor einer schweren Entscheidungstehen. Sie können einerseits der Regierung das Ver-trauen aussprechen, sie können sich auch für das Gegen-teil entscheiden.
Beides hat für sie Vor- und Nachteile. Eines aber gehtnicht: Es gibt immer neue Angebote der griechischenRegierung, Frau Bundeskanzlerin. Die französische unddie österreichische Regierung wollen gleich mit denensprechen – egal ob es um ein drittes Paket oder worumauch immer geht. Sie aber sagen: Erst nach dem Sonn-tag. – Sehen Sie, das ist der Beweis; denn Sie hoffen,dass am Sonntag die Regierung stürzt. Deshalb wollenSie vorher nicht mit ihr sprechen. Das geht nicht! Das istverantwortungslos! Ich muss es Ihnen so deutlich sagen.
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Dr. Gregor Gysi
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Wissen Sie, Herr Schäuble, ich habe es Ihnen gesagtund möchte es, um auch einmal Verständnis zu zeigen,gerne wiederholen: Da wird also eine linke Regierunggewählt, die Sie nicht mögen.
Das verstehe ich. Wenn ich in Ihrer Situation wäre undirgendwo anders würde eine erzkonservative Regierunggewählt werden, dann würde ich die ja auch nicht mö-gen. – Sie sollen der entgegenkommen. Dazu haben Siekeine Lust. Ich hätte auch keine Lust, einer erzkonserva-tiven Regierung entgegenzukommen.
– Hören Sie mir doch einmal einen Moment zu! – Sie sa-gen sich: Wenn wir Kompromisse mit Griechenland ma-chen, müssen wir die auch mit Spanien und Portugal ma-chen. – Ich würde ebenfalls sagen: Wenn ich mit einererzkonservativen Regierung Kompromisse mache, mussich das, was ja nicht angenehm ist, auch mit anderenLändern machen.Dann sagen Sie sich: Wenn wir das alles machen,werden auch die Linken in den anderen Ländern gewin-nen, weil die in Griechenland erfolgreich waren. – Auchich würde das sagen: Wenn ich all das mache, werden inden anderen Ländern die Erzkonservativen gewinnen,weil die erfolgreich waren.So weit kann ich das verstehen. Dann aber, HerrSchäuble, muss Ihr politisches Verantwortungsbewusst-sein beginnen. Das heißt: Wir können uns einen Crash-kurs nicht leisten. Ich hätte dann gesagt: Ich komme dererzkonservativen Regierung entgegen, auch wenn ichmir Ärger in den eigenen Reihen einhandele. – Den Muthatten Sie nicht. Aber das verlange ich von Ihnen, weildie Frage viel zu wichtig ist.
Als Letztes: Frau Merkel, Sie tragen in diesen Tageneine gewaltige historische Verantwortung. Finden Sie inletzter Sekunde noch eine Lösung! Sie haben dieChance, entweder als Retterin oder als Zerstörerin dereuropäischen Idee in die Geschichte einzugehen.
– Ja, als Zerstörerin! – Ich wünsche Ihnen, mir und vorallem unserer Bevölkerung, dass Sie sich doch noch end-lich entschließen, zu einer Retterin zu werden.Danke schön.
Das Wort erhält nun der Kollege Sigmar Gabriel.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft undEnergie:Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zuerst, Herr Gysi,will ich Ihnen beantworten, warum wir da sitzen: Weilwir seit 1925 die Vereinigten Staaten von Europa vertei-digen und für Demokratie und Freiheit in Europa einge-treten sind, als Nationalsozialisten und Kommunistenuns dafür noch verfolgt haben. Deswegen sitzen wir da.
Das ist der Grund, warum ich heute als Vorsitzender derSPD und für die SPD-Bundestagsfraktion spreche.Noch ein paar Bemerkungen zu Ihnen, Herr Gysi.Links, das ist für mich immer aufklärerisch und emanzi-piert gewesen – und nicht rabulistisch. Jetzt erkläre ichIhnen einmal, warum ich bis heute der Meinung bin,dass es gut gewesen wäre, das Referendum von HerrnPapandreou damals anzunehmen, und wo der Unter-schied zum heutigen ist. Papandreou hat dafür gewor-ben, dass die durchaus harten Bedingungen der Euro-Zone als Voraussetzung für Hilfspakete in Griechenlandangenommen werden.
Er hat sich zu Europa verhalten und nicht dagegen. Dasist der Unterschied.
Ich bin immer noch der Meinung, dass es das guteRecht der Griechen ist, ein Referendum abzuhalten. DieFrage ist nur – das frage ich mich, da es seit gestern ei-nen Brief gibt mit dem Vorschlag, über das zu verhan-deln, wogegen sich das Referendum nach Auffassungder griechischen Regierung richtet –, was der Sinn desReferendums ist. Das müssen Sie erklären.
Noch eine Bemerkung dazu, warum ich glaube, dasses bei der Frage, wie wir mit der Krise umgehen, auchum deutsche Arbeitnehmer, Rentner und Familien geht.Seit Monaten fließen Milliarden Euro aus Griechenlandins Ausland ab – wohl kaum von den armen MenschenGriechenlands, wohl eher von den wohlhabenden.
Woher kommt das Geld? Dieses Geld kommt von derEuropäischen Zentralbank. Wer bürgt für dieses Geld?Das sind unter anderem die Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer in Deutschland und im Rest der Euro-Zone.Ich sage Ihnen: Ich halte es für einen Skandal, dass eineangeblich linke Regierung es zulässt, dass die Wohlha-benden des Landes das Geld außer Landes schaffen, abernicht einen Antrag in Europa gestellt hat, um die Rei-chen, die keine Steuern zahlen, zu belangen, indem manihre Konten in den Ländern, in die sie ihr Geld bringen,einfriert. Nichts ist getan worden. Unsere Leute haftenfür die Untätigkeit Ihrer politischen Freunde in Grie-chenland.
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Bundesminister Sigmar Gabriel
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Eigentlich dachte ich: In der Tat – da hat der HerrGysi recht – macht es Sinn, ein bisschen nachdenklichüber die Frage zu sprechen, was da eigentlich los ist, wasmit Herrn Gysi im Raum schwierig ist.
– Meine Bemerkungen dazu mache ich unter der Über-schrift „Wie man in die SPD hineinruft, so antwortet derVorsitzende“. Das ist das, was ich gemacht habe.
– Das müssen Sie ertragen. Frau Kollegin von den Grü-nen, wenn Sie sich mit den Argumenten der Linken einigmachen, dann ist das Ihre Angelegenheit. Bisher habeich Sie anders verstanden.
Was alle im Hause eint, ist doch, dass wir merken,dass Europa vor der größten Herausforderung seit denRömischen Verträgen steht, und zwar nicht wegen derFinanzlage in Griechenland, sondern weil sich die Ent-wicklung in Europa nach 60 Jahren zum ersten Mal um-kehrt. Nach 60 Jahren, in denen unsere Eltern und Groß-eltern überall in Europa die Integration vorangetriebenhaben, erleben wir derzeit, dass das Gegenteil passiert:Europafeindliche, rechtspopulistische Parteien sind nichtnur in den Parlamenten, sondern auch in den Regierun-gen. Europa versagt derzeit in einer Frage, die vielleichtviel bedeutsamer als die ist, über die wir heute reden,nämlich wie wir mit Flüchtlingen auf unserem Kontinentumgehen.
Hier sind wir übrigens dabei, unsere humane Orientie-rung in Europa zu verlieren. Das ist schlimmer, als Geldzu verlieren.
Ich glaube, dass Griechenland nur ein Teil dieser Ent-wicklung ist und dass wir in den nächsten Monaten undJahren viel dazu beitragen müssen, diese Schubumkehrwieder rückgängig zu machen und wieder zu mehr undbesserer Zusammenarbeit zu kommen. Gerade wir Deut-schen, die wir die politischen, wirtschaftlichen und so-zialen Gewinner der europäischen Einigung sind, habendabei natürlich eine besondere Aufgabe. Dafür brauchtes Verantwortungsbewusstsein und Mut.Ich sage das am Anfang meiner Rede, weil die meis-ten hier wie auch ich angesichts der monatelangen De-batte und der Verwirrungen – auch der letzten Tage – inunseren Wahlkreisen und überall da, wo wir mit Men-schen reden – auch in den Medien –, eher mit dem kon-frontiert werden, was die Leute zu uns sagen: Was sollder Quatsch? Lieber ein Ende mit Schrecken! Hört dochauf! Lasst euch nicht am Nasenring durch die Arena füh-ren! – Trotz der Tatsache, dass viele Unverständnis da-rüber haben, was in Europa passiert, trotz allen Ärgersund trotz aller Volten in der Politik der griechischen Re-gierung in den letzten Tagen dürfen wir uns von diesemVerantwortungsbewusstsein und von dem Mut zur Zu-sammenarbeit in Europa nicht abbringen lassen.
Deshalb gilt: Was immer diese Woche bringen mag,welche Wendung die griechische Politik bereithalten undwas auch immer das Ergebnis des Referendums seinmag, bin ich mir sicher: Wir werden Lösungen finden.Weder Europa noch der Euro sind dadurch in Gefahr.Der Euro ist und bleibt eine stabile Währung, jedenfallsdann, wenn wir die Regeln und Prinzipien der Europäi-schen Wirtschafts- und Währungsunion einhalten. Ge-nau darauf haben die 18 Mitgliedstaaten in den letztenMonaten und in der letzten Woche geachtet, meine Da-men und Herren. Dabei wird es auch bleiben. Deshalbbleibt der Euro stabil. Deshalb wird auch Europa, jeden-falls was die Finanzen angeht, nicht in Instabilität gera-ten.Wenn wir uns heute erneut mit der Entwicklung inGriechenland beschäftigen, dann doch vor allen Dingenwegen der Lage der Menschen in diesem Land. Auch dagilt: Was immer geschieht, alle in diesem Haus und dieallermeisten Menschen in Deutschland – da bin ich si-cher – werden diesem Land und seinen Menschen auchin Zukunft helfen wollen. Das werden wir unter Beweisstellen.
Natürlich sind die 18 Mitgliedstaaten, auch Deutsch-land, zu neuen Verhandlungen und Gesprächen bereit.Aber der Konflikt um die staatlichen Finanzen Griechen-lands und die Politik der Euro-Zone ist mehr als einKonflikt um Geld; darauf hat die Bundeskanzlerin ebenzu Recht hingewiesen. Es ist letztlich ein Konflikt überdie Frage, ob die gemeinsam erarbeiteten Prinzipien undRegeln unserer Zusammenarbeit in Europa und in derEuro-Zone auch in Zukunft Geltung haben sollen. Übri-gens sind wir uns bei den demokratischen und sozialenRegeln eigentlich einig: Meinungsfreiheit und Demokra-tie müssen überall in Europa gelten, auch in Ungarn.
Antidiskriminierung muss überall in Europa der Grund-satz sein, auch mit Blick auf Sinti und Roma. Da sindwir uns schnell einig.
Aber es gibt in der Euro-Zone eben nicht nur demo-kratische und soziale Spielregeln. Aufgrund der Ver-tiefung der Europäischen Union dort gibt es auchfinanzielle und wirtschaftliche Spielregeln. Wer in die
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Bundesminister Sigmar Gabriel
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Europäische Union eintritt, der muss sich an diese Re-geln halten. Wenn gegen diese Regeln verstoßen wird,dann muss man zumindest Wege suchen – wir haben dasgetan, auch Frankreich –, wie man wieder zurückfindet.Übrigens hat man mit dem Stabilitäts- und Wachstums-pakt diese Regeln gefunden. Wir haben ihnen mit derÄnderung des Grundgesetzes entsprochen.Ich sage das deshalb, weil wir diese Regeln und Prin-zipien auch dann einhalten müssen, wenn man den Ein-druck hat, man wolle ein Thema schnell loswerden. Zudiesen Prinzipien gehört eben: Jeder hat Anspruch aufHilfe und Unterstützung. Aber jeder muss auch im eige-nen Land so viel tun, wie er nur kann, um diese Hilfeund Unterstützung nicht dauerhaft zu benötigen.
Solidarität ist ein alter Begriff der sozialistischen Ar-beiterbewegung in Europa.
Aber er meinte nie Kumpanei. Er meinte immer verant-wortungsbewusstes Handeln für sich selbst und für an-dere. Beides gehört zum Begriff der Solidarität.
Genau hier lag und liegt der Konflikt mit der jetzigengriechischen Regierung. Es geht um die Einhaltung ge-nau dieses Prinzips von Solidarität.Warum bestehen wir auf diesen Regeln? Weil die Re-geln, die wir in Europa und in der Euro-Zone haben, ge-rade nicht national gefärbt sind. Diese Regeln dienengerade nicht der Durchsetzung nationaler Interessen,sondern sie sollen uns Europäer verbinden und verbün-den. Diese gemeinsamen Regeln folgen eben den Zielenund Werten, die wir uns gesetzt haben. Sie sollen unshelfen, uns als Europäer zu definieren und nicht nur alseine Addition von Einzelinteressen der Nationen. DieRegeln sollen uns helfen, in der Praxis eine gemeinsameeuropäische Identität unter Beweis zu stellen.
Das Gegenteil dieser Regeln und das Gegenteil deseuropäischen Rechts ist am Ende die Rückkehr zum rei-nen Verfolgen nationaler Interessen, die Rückkehr zu ei-ner rücksichtslosen Rechnung, bei der die Vorrechte ei-ner Nation die Interessen aller anderen Nationen in denSchatten stellen sollen. Würden wir dem Wunsch dergriechischen Regierung nachgeben und keinerlei Maß-nahmen verlangen, die das Land mittelfristig von euro-päischen Hilfsprogrammen unabhängig machen würden,dann wäre das der Einstieg in eine bedingungsloseTransferunion,
bei der dann viele andere Staaten das gleiche nationaleRecht für sich in Anspruch nehmen würden.
Denn wie wollte man den Spaniern, Italienern oderwem auch immer das verweigern, was wir für Griechen-land bedingungslos einführen? Am Ende wäre die Euro-Zone – und damit nicht nur Griechenland, sondern ganzEuropa – überfordert, und wir würden niemandem einenGefallen tun. Die wirtschaftliche und soziale Lagewürde schlechter statt besser.Aber selbst wenn man das wirtschaftliche und finan-zielle Risiko einer solchen Lösung eingehen wollte, darfman nicht vergessen, dass es auch ein politisches Risikogibt. Wenn jemand Europa sozusagen erpressen kann,indem er sagt: „Wenn du nicht mitmachst, dann wird dasalles teuer für dich“, und wir darauf antworten: „Okay,du kannst deine nationalen Interessen gegen alle anderendurchsetzen“, dann wäre das geradezu ein Signal für die-jenigen, die eine ganz andere Politik wollen und Europazum Gegner erklärt haben. Das wäre das Fanal für dieNationalisten ganz rechts außen. Die Gewinner wärenLe Pen, Wilders und andere und nicht die Bürger inEuropa.
Das ist der Grund, warum wir in den monatelangenVerhandlungen beides wollten: sowohl Hilfe als auchverantwortungsvolles Handeln zu Hause. Es gibt übri-gens kein Ultimatum, Herr Gysi.
Die Verhandler sind vom Verhandlungstisch aufgestan-den, weil sie nicht einmal wussten, über was zu Hause inGriechenland gerade das Referendum ausgerufen wurde,wohingegen sich der Rest für die nächste Woche verab-reden wollte, um weiterzuverhandeln. Das kann mandoch nicht als Ultimatum bezeichnen.Fünf Monate lang ist verhandelt worden. Uns ging es,wie gesagt, um Hilfe, aber auch um verantwortungsvol-les Handeln zu Hause. Das Bittere ist, dass dabei mitRücksicht auf die sozialen Bedingungen ein Angebot ge-macht wurde, das keinem anderen Krisenstaat in Europazuvor jemals gemacht wurde: ohne Forderungen nachRentenkürzungen quer durch alle Renten.
– Hören Sie auf! Ich höre Ihnen doch auch zu. Ich weiß,dass es manchmal wehtut, wenn jemand etwas anderessagt, als man selber gerne hören möchte. Aber so ist dasLeben eben.
Sie müssen doch akzeptieren: Ein 35-Milliarden-Euro-Wachstumsprogramm ist keinem spanischen oderportugiesischen Regierungschef angeboten worden. Dasist erst möglich geworden, seit Jean-Claude Juncker inEuropa keine reine Austeritätspolitik mehr betreibt, son-dern das Gegenteil davon in Europa herbeiführen will.
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Bundesminister Sigmar Gabriel
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Wir begrüßen jedenfalls die Wachstumsinitiative vonJean-Claude Juncker.Dennoch – darin sind sich sicherlich alle im Deut-schen Bundestag einig – wollen wir auch nach demUnterbrechen oder Abbrechen der Verhandlungen nie-manden in Griechenland alleinlassen. Es geht nicht nurdarum, die Menschen dort nicht alleinzulassen; manch-mal hat man den Eindruck, wir sollten sie vielleicht auchnicht mit ihrer eigenen Regierung alleinlassen.
Meine Damen und Herren, wir haben, glaube ich, gu-ten Grund, bei den Prinzipien der Euro-Zone zu bleiben.Zur Ehrlichkeit gehört aber auch, dass wir uns die Fragestellen müssen, warum zwei Rettungsprogramme fürGriechenland gescheitert sind und Finanzhilfen in einernie dagewesenen Größenordnung von über 200 Milliar-den Euro keine Wende gebracht haben. Der Grund dafürist nicht, wie eine neue Legende besagt, dass das allesden Banken gegeben wurde. Die Ursache liegt doch vielweiter zurück. Warum ist die Lage in Griechenland an-ders als in Portugal und Spanien, die beim Eintritt in dieEuro-Zone ungefähr das gleiche wirtschaftliche Niveauhatten? Warum hat Portugal Griechenland fast überholt,und warum ist Spanien weit weg davon? Ich glaube, wirhaben unterschätzt, wie groß die institutionellen Pro-bleme Athens sind und wie hartnäckig Klientelismusund Korruption und ein blockiertes politisches Systemdie ökonomische Entwicklung behindert haben.
Weder Europa noch die Troika und übrigens auchnicht die jetzige griechische Regierung sind an diesemDesaster des Landes schuld. Die Bürgerinnen und Bür-ger dieses Landes sind vielmehr Opfer der jahrzehnte-langen Handlungen ihrer politischen und wirtschaftli-chen Eliten, auch der beiden Parteien, der konservativengenauso wie der sozialdemokratischen. Sie haben diesesLand nicht sich entwickeln lassen; stattdessen haben siesich bedient.
Griechenland hat es dringend nötig, dass die Reformenendlich einmal auch denen zu Leibe rücken, die die Pro-fiteure dieses jahrzehntelangen Auszehrens des Landesgewesen sind.
Auch das gehört zur Wahrheit, wenn wir über die Ent-wicklung in Griechenland reden: Europa hat dieser Ent-wicklung jahrelang zugeschaut. Wir in Europa haben– aus welchen Gründen auch immer – diesen korruptenStaat, diesen Klientelismus und diesen Nepotismus nichtöffentlich thematisiert, sondern ausschließlich Geld ge-schickt.
Ich glaube, dass wir gut beraten sind, zur Kenntnis zunehmen, was der IWF gerade über Griechenland veröf-fentlicht hat. In den Analysen wird gefolgert, dass Tiefeund Dauer der Rezession sowie die Höhe der Arbeitslo-sigkeit unterschätzt worden seien, dass die Lasten derAnpassung auf die sozialen Schichten besser verteiltwerden müssten und dass die SchuldentragfähigkeitGriechenlands wohl zu optimistisch eingeschätzt wordensei. Folgt man diesen Punkten, dann tun wir gut daran,uns auf die Verhandlungen, die vermutlich – egal wiedas Referendum ausgeht – in irgendeiner Weise wiederstattfinden werden, auf der Basis dieser ehrlichen Analy-sen des IWF vorzubereiten.Erstens. Natürlich muss das vernünftige Reformpaketverabschiedet werden, das die EU-Kommission am letz-ten Sonntag veröffentlicht hat. Zweitens. Darauf aufbau-end brauchen wir Verhandlungen über neue Hilfspro-gramme. Natürlich muss dabei über jede denkbareAlternative offen beraten werden. Niemand kann erwar-ten, dass die Bedingungen für Reformen in Griechenlanddabei schwächer werden als diejenigen, über die wir inder Vergangenheit debattiert haben.
Herr Minister, denken Sie auch ein bisschen an die
vereinbarten Zeiten.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Das mache ich, Herr Präsident.
Drittens. Wir brauchen ein technisches Hilfspro-
gramm vor allem in der Finanzverwaltung. Wir brauchen
viertens Investitionen. Fünftens. Wir müssen die lang-
fristige Schuldentragfähigkeit Griechenlands erneut prü-
fen.
Ich glaube, dass wir diese Krise auch nutzen müssen,
um über unsere Fehler in der Vergangenheit zu sprechen,
aber auch über das, was in Zukunft kommen wird. Der
Weg, den wir nur verantwortungsbewusst und mutig in
vielen Fragen, nicht nur bei Griechenland, gehen müs-
sen, wird am Ende nicht weniger Disziplin und nicht we-
niger gemeinsame Regeln erfordern, sondern mehr, auch
was die Finanz- und Wirtschaftspolitik angeht. Wenn wir
wollen, dass unser Kontinent seine politische, wirt-
schaftliche, soziale und kulturelle Bedeutung sowie sein
einzigartiges Wohlstandsmodell im 21. Jahrhundert be-
hauptet, dann brauchen wir mehr Verbindlichkeit in
Europa und in der Euro-Zone und nicht weniger.
Vielen Dank.
Anton Hofreiter ist der nächste Redner für die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen.
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10966 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Bun-deskanzlerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieEuropäische Union ist in Gefahr. Vor unseren Augenzerbricht so manche Gewissheit, die Gewissheit, dass inder EU niemand zurückgelassen wird, die Gewissheit,dass sich am Ende der kluge Kompromiss und nicht dasrein innenpolitische Kalkül durchsetzt. Dieser Gewiss-heit hat Herr Tsipras schweren Schaden zugefügt. Aberdieser Gewissheit haben auch Sie, Frau Merkel, und Sie,Herr Gabriel, schweren Schaden zugefügt.
Denn Sie alle stellen Ihr innenpolitisches Kalkül, Ihre in-nenpolitischen Interessen vor die gemeinsamen Interes-sen in Europa. Das ist das eigentliche Desaster, das wirin diesen Tagen erleben.
Was wir heute erleben, was wir wieder in der Redevon Frau Merkel erlebt haben und was wir bei HerrnTsipras in den ganzen Tagen erlebt haben, ist: Sie drü-cken sich einfach um die Wahrheit herum. Herr Tsiprasweiß doch selbst, dass Griechenland nicht ohne Struktur-reformen aus seinen Schwierigkeiten herauskäme.
Selbst wenn im Moment in Griechenland Geld vomHimmel fallen würde, wären die Probleme doch nichtgelöst.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken,dann wären doch die Probleme der schwachen Steuer-verwaltung, der dysfunktionalen Katasterämter, der gan-zen Korruption nicht gelöst. Aber Tsipras scheut sicheinfach, diese Wahrheit auszusprechen, weil er sich we-gen seiner Unerfahrenheit in seinen Wahlversprechenund eben auch in Ideologie total verstrickt hat.
Wenn Sie, Frau Merkel, ehrlich zu den Bürgerinnenund Bürgern in Deutschland wären,
dann würden Sie ihnen ganz offen sagen: Griechenlandwird nicht die Sparauflagen einhalten und gleichzeitigdie Schulden zurückzahlen können. Das wird nie klap-pen.
Das klappt sichtbar nicht. Genau deshalb brauchenwir endlich eine Umschuldung; denn nur mit einer Um-schuldung hat Griechenland wenigstens eine Chance,wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen.
Nur so haben wir die Chance, dass wir wenigstens einenTeil unserer Kredite wiedersehen.
Frau Merkel, ziehen wir doch einmal eine Bilanz derletzten fünf Jahre Rettungspolitik.
Sie haben davon gesprochen, dass wir eine Stabilitäts-union haben; Sie haben davon gesprochen, dass wir stär-ker aus der Krise herauskommen, als wir in die Krise hi-neingegangen sind. Wo ist denn das passiert? Seit 2008ist Europa in der Krise. Wo ist denn Europa stärker ge-worden? Wo ist denn Stabilität vorhanden?
In Griechenland ist sicher keine Stabilität vorhanden.Aber auch wenn wir in den Rest Europas schauen, sehenwir: Rechtspopulismus nimmt zu, bei Flüchtlingen kannman sich noch nicht einmal auf Minimalkompromisseeinigen. Wo ist denn Stabilität? Jahr für Jahr beobachtenwir, dass die Situation in Europa schlimmer und kompli-zierter wird. Deswegen: Reden Sie doch nicht immer nurvon Stabilität! In welcher Zukunft soll sie denn kom-men? In einer ganz fernen Zukunft offensichtlich.
Die Auseinandersetzungen in Europa zwischen denNationen haben massiv zu der Situation beigetragen.Das liegt an einer Ihrer Hauptstrategien, um die Krise zulösen. Eine Ihrer Hauptstrategien, um die Krise zu lösen,war die Schwächung der europäischen Institutionen unddie Rückverlagerung der Macht in die Hauptstädte. DerEffekt davon ist, dass wir inzwischen lauter nationaleRegierungen haben, die nur noch für ihre nationalen In-teressen kämpfen, und die europäischen Interessen, diegemeinsamen Interessen, kommen unter die Räder.
Aber wir wissen doch: Alle europäischen Staaten,auch Deutschland, sind deutlich zu klein, um eineChance zu haben, die globalen Herausforderungen zubewältigen. Klimakrise, die Flüchtlingsfrage, auch dieFinanzkrise – Deutschland ist zu klein, um all das alleinezu bewältigen. Deswegen bräuchten wir doch etwas an-deres. Wir bräuchten stärkere europäische Institutionen,mehr Rechte für das Europäische Parlament und einestarke europäische Demokratie, aber nicht diese Haupt-stadtdiplomatie und Gipfeldiplomatie, die einfach nurnerven und scheitern.
Schauen wir uns diese gescheiterte Strategie an. Ichhätte mir am heutigen Tag von Ihnen wirklich ge-wünscht, zu hören, welche Vorstellungen Sie entwickeln,wie es in Europa weitergehen soll. Wie soll Europa wei-terentwickelt werden? Ich habe davon in Ihrer Redenichts, aber auch gar nichts gehört.
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Dr. Anton Hofreiter
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Nur wenige Sätze zu Ihrem Beitrag, Herr Gabriel: Ichfrage mich manchmal wirklich, wie verzweifelt Sie oderdie SPD sind, dass Sie so einen Redebeitrag halten müs-sen.
Wie getroffen und empfindlich Sie auf einen harmlosenZwischenruf reagieren! Wissen Sie, ich kann es viel-leicht verstehen. Sie haben nicht allen Rettungspaketenzugestimmt. Sie haben sich am Anfang, beim ersten Ret-tungspaket, noch vom Acker gemacht. Wenn Sie dannauf einen Zwischenruf von uns, die wir aus Solidaritätimmer an der Seite Griechenlands gestanden haben, soempfindlich reagieren, dann frage ich mich schon, wasda wirklich los ist.
Noch ein paar Bemerkungen zu dem einen oder ande-ren Hitzkopf in den Koalitionsfraktionen, insbesonderein der Fraktion der CDU/CSU. Ich finde es, ehrlich ge-sagt, ziemlich atemberaubend, wie unbekümmert man-che Leute von Ihnen über den Grexit reden, nämlich da-rüber, dass man Griechenland einfach aus der Euro-Zoneschmeißen kann. Sie tun so, als ob ein Land verschwin-den würde, nachdem es bankrottgegangen ist, und als obdie vorhandenen Probleme verschwinden würden.
Griechenland ist weiter ein europäisches Land, weiterNATO-Mitglied.Ich kann verstehen, wenn der eine oder andere Bürgerin unserem Land nach dem ganzen Rumgenerve sagt:Lieber ein Ende mit Schrecken. – Aber ein Grexit würdekein Ende mit Schrecken sein. Er wäre vielmehr einAuftakt zu neuem Schrecken.
Sie als verantwortliche Abgeordnete sollten es doch wis-sen.Wenn Griechenland endgültig bankrott ist, wird mandiesem Land selbstverständlich weiterhelfen müssen.Wenn Griechenland endgültig bankrott ist, werden die80 Milliarden Euro langfristig komplett weg sein. Dakann man doch nicht einfach sagen: Ja, mein Gott, danntreten sie halt aus dem Euro-Raum aus. – Ich finde dasabsolut unverantwortlich.
Was wir jetzt statt Anstrengungen, den Grexit zu ver-hindern, erleben, ist ein Schwarzer-Peter-Spiel, so nachdem Motto: Ich bin es nicht gewesen, ganz allein die an-dere Seite war es. – Die andere Seite sagt: Nein, nein,wir haben damit nichts zu tun. Die andere Seite war ganzallein schuld. – Bei diesem armseligen Spiel gibt es docham Ende eigentlich nur noch Verlierer. Verlierer ist aufjeden Fall die Politik, weil die Menschen das Spiel „Diewaren es – nein, die waren es“ zu Recht für unwürdighalten.Aber es gibt noch etwas anderes, was da unter die Rä-der kommt. Es kommt bei diesem Spiel zwischen natio-nalen Regierungen eigentlich die großartige Idee vonEuropa unter die Räder.
Die Idee von Europa umfasst viele einzelne Punkte, etwaFrieden, freies Reisen und vieles andere. Die Idee vonEuropa ist im Kern, dass Europa mehr ist als die Summeder einzelnen Nationalstaaten. Diese Idee droht mit die-sen nationalen Schuldzuweisungen komplett unter dieRäder zu kommen.
Egal ob Schäuble, Gabriel oder Merkel: Hören Sie ein-fach auf mit diesem Spiel!Was wir jetzt brauchen, ist ein faires Abkommen fürGriechenland, ein Abkommen, bei dem es um Verläss-lichkeit geht, ein Abkommen, das dafür sorgt, dass dieMenschen und die Investoren in Griechenland wiederVertrauen und Mut schöpfen, dass langfristig Stabilitätin Griechenland einzieht.Eines der Hauptprobleme des geplanten Abkommenswar doch seine Kurzfristigkeit. Was wäre selbst dannpassiert, wenn es jetzt doch noch geschlossen wordenwäre? Es hätte bis November dieses Jahres gegolten; dassind gerade einmal vier Monate. Nach nur vier Monatenhätten wir also denselben Zirkus, dieselbe Gipfeldiplo-matie wieder erlebt. Herr Schäuble, Sie reden so gernvon Verlässlichkeit: Dann lassen Sie uns doch ein Ab-kommen mit Griechenland treffen, das dem Motto folgt:Für die nächsten fünf Jahre ist Ruhe. Auf der anderenSeite bekommen die Griechen keine neuen Kredite,
sondern sie müssen mit dem vorhandenen Geld auskom-men. – Wie sie dieses Geld ausgeben, wie sie ihre Pro-bleme lösen, soll das griechische Parlament entscheiden.Wir sorgen dafür, dass die Kredite für Griechenland fürfünf Jahre vom ESM übernommen werden. Dannherrscht Stabilität, und dann herrscht Verlässlichkeit.Wir können es uns in Europa nicht leisten, alle paar Mo-nate diesen Zirkus aufzuführen, den wir hier inzwischenseit längerem erleben.
Für eine langfristige Lösung bräuchte es allerdingsden Mut von allen Seiten. Es bräuchte Mut bei der grie-chischen Regierung; aber es bräuchte auch Mut bei derdeutschen Regierung, nämlich den Mut, den Menschendie Wahrheit zu sagen. Geben Sie sich einen Ruck, HerrGabriel, Frau Merkel, und sorgen Sie endlich für eineLösung; denn es steht für Europa und seine Menschenviel zu viel auf dem Spiel, als dass man sich diese natio-nalen Spielchen weiter leisten könnte.Vielen Dank.
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10968 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015
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Nächster Redner ist der BundesfinanzministerWolfgang Schäuble.
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-zen:Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Hofreiter, teilweise haben Sie ja recht,nämlich dass wir in einer so schwierigen Lage, in dersich nicht nur Griechenland – Griechenland besonders –und die Griechen, sondern auch Europa befinden, versu-chen sollten, ernsthaft zu diskutieren und darüber nach-zudenken: Wie können wir die Probleme langfristig lö-sen? Dass wir mehr Europa brauchen, das hat dieBundeskanzlerin gesagt; das hat Herr Gabriel in seinerRede gesagt. Da stimmen wir überein. Es ist dann in die-ser Situation ein bisschen schwierig, als Oppositionsfüh-rer seine Rede mit einer Beschimpfung der Regierung zuverbinden; dadurch wird es nicht sehr kohärent. Aber imErnst müssen wir darüber reden.
– Langsam! Eigentlich sind wir ja alle einig, dass wir ineiner außergewöhnlich ernsten Situation sind. Ich würdegern diejenigen, die schon 2010 dem Bundestag ange-hörten, daran erinnern, dass ich schon in der ersten De-batte über Griechenland im Frühjahr 2010 davon geredethabe, dass wir alle in unserer Rhetorik – ich habe danicht nur den Bundestag gemeint, sondern auch die Öf-fentlichkeit – daran denken sollten: Am schwersten ha-ben es die Menschen in Griechenland. – Das ist dochüberhaupt keine Frage.
Wenn wir das ein bisschen reflektieren und darübernachdenken, wie wir die Probleme lösen können, unddarüber nachdenken, worin die Probleme eigentlich be-gründet sind, dann können wir auch aus einer schwieri-gen Lage heraus nach vorn kommen und die richtigenSchritte gehen. Aber man muss die Lage schon einiger-maßen präzise analysieren.Man muss auch zur Kenntnis nehmen, wie es war.Herr Gysi, ich muss ein paar Dinge von Ihnen richtig-stellen. Wenn Sie es jetzt einfach in aller Ruhe ertragen!Es ist ja auch ganz hilfreich.
Wir hatten 2009 in Griechenland die Situation, dassdas Staatsdefizit und das Leistungsbilanzdefizit bei15 Prozent gelegen haben. Das war die Situation 2009.Daraus hat sich ergeben, dass Griechenland, das über-schuldet war, an den Finanzmärkten immer stärker anVertrauen verloren hat und nicht mehr in der Lage war,sich noch zu erträglichen Bedingungen zu finanzieren.Daraus hat sich die Geschichte des ersten Griechen-land-Programms entwickelt. Dann kam das zweite Pro-gramm. Ich will das nicht im Einzelnen nachzeichnen.Ich will nur darauf hinweisen, dass wir mit beiden Pro-grammen, erstes und zweites Programm zusammen,Griechenland in den Jahren seitdem Finanzhilfen in derGrößenordnung von insgesamt 240 Milliarden Euro zurVerfügung gestellt haben. Ich sage das, damit wir wis-sen, worüber wir reden, meine Damen und Herren. Es isteinfach wichtig.Dann haben wir einen Privatschuldenschnitt gemacht.Das war ein heftiger Kampf. Viele waren damals übri-gens sehr skeptisch. Am Ende haben wir einen Schnitt,mehr oder minder freiwillig, von 53 Prozent gemacht.Ich sage Ihnen: Der deutsche Bundeshaushalt hat im Er-gebnis einen spürbaren Anteil davon selbst getragen. Esgab Banken unter staatlichem Schutzschirm, die griechi-sche Staatsanleihen hatten. Jedenfalls: Das war in einerGrößenordnung von weiteren 100 Milliarden Euro. – Soviel zum Sachverhalt.Ja, dann will ich doch die Geschichte mit dem Refe-rendum darstellen. Ich war dabei. Sie ist falsch. Das Ge-genteil, Herr Kollege Gysi, ist die Wahrheit.An einem Sonntag im Herbst 2011, wenn ich es rich-tig erinnere, am Sonntagabend, hat Herr Papandreouüberraschend angekündigt, er wolle ein Referendum ab-halten. Das war in der Woche, in der der G-20-Gipfel inCannes stattfinden sollte und auch stattgefunden hat. Esgab dann ein bisschen Überraschung. Das kommt beiAnkündigungen griechischer Ministerpräsidenten vor.Am Mittwoch, am Vortag des Gipfels von Cannes, habensich in Cannes eine Reihe der führenden Persönlichkei-ten der Weltpolitik getroffen: die Bundeskanzlerin, derfranzösische Staatspräsident – das war damals noch HerrSarkozy –, der amerikanische Präsident Obama – derstieß dazu –, der EU-Kommissionspräsident Barroso, derVorsitzende der Euro-Gruppe – das war damals Jean-Claude Juncker.
– Ja, er war Vorsitzender der Euro-Gruppe. – Ich glaube,Frau Lagarde war noch Finanzministerin Frankreichs,wenn ich mich recht erinnere; Dominique Strauss-Kahnwar noch Präsident des IWF. Alle waren da. Der deut-sche Finanzminister war auch da. Deswegen kann ich esaus eigenem Wissen hier sagen.In diesem Gespräch – Herr Sarkozy hatte seinen G-20-Gipfel eigentlich ein bisschen anders inszenierenwollen, nicht mit Griechenland – hat man HerrnPapandreou, der begleitet war von seinem Finanzminis-ter – das war damals Herr Venizelos –, überzeugt, dassman dieses Referendum zum frühestmöglichen Zeit-punkt – der 6. Dezember ist dann ins Auge gefasst wor-den – abhalten solle. Die Fragestellung muss dann sein– darüber hat man auch gesprochen –: Ist das griechischeVolk bereit, um im Euro zu bleiben, die notwendigenStrukturmaßnahmen zu ertragen, oder möchte das grie-chische Volk lieber aus dem Euro ausscheiden?Ich sage Ihnen noch ein Geheimnis – ich glaube, ichdarf es sagen –: Die Bundeskanzlerin hat die Fragestellung
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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
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zuerst notiert. Sie schreibt manchmal in solchen Gesprä-chen die Dinge gleich auf. So ist es vereinbart worden. DasErgebnis war: Gegen 22 Uhr war die Besprechung zuEnde. Herr Papandreou ist mit Herrn Venizelos zurückge-flogen. Wir waren davon ausgegangen: So wird es ge-macht. – Ich habe eine Wette verloren. Die damaligespanische Finanzministerin – sie war Sozialistin undkannte ihre Genossen – hat gesagt: Ja, ja, aber es wirdkein Referendum geben. – Daraufhin habe ich gesagt:Entschuldigung, ich war dabei. Die haben das verabre-det. – Dann sagte sie: Du wirst sehen, es wird nicht statt-finden. – Wir haben um eine Flasche Wein gewettet. Ichhabe sie bezahlt. Am nächsten Tag wurde nämlich HerrPapandreou von seiner Partei Pasok gestürzt. Das ist diehistorische Wahrheit. Sagen Sie in Zukunft bitte nichtwider besseres Wissen, wir hätten damals verhindert,dass Griechenland ein Referendum gemacht hat. Nein,wir haben mit ihnen das Gegenteil verabredet. So ist dieWahrheit. Alles andere ist die Unwahrheit.
Ich möchte eine weitere Bemerkung machen. Ihr Ar-gument klingt gut; es dient polemischen Zwecken. Daskönnen Sie besser als die meisten, viel besser als ich.Aber linke Polemik kann ich sowieso nicht so gut; dasist klar.Sie sagen, es ist alles nur für die Banken. HerrHofreiter, da sind wir beim Kern des Problems. Wir ha-ben eine Währungsunion. Wenn Griechenland nicht Mit-glied einer gemeinsamen Währungsunion wäre, hättenwir mit Blick auf die Hilfsprogramme eine völlig andereSituation. Bei einer gemeinsamen Währungsunion be-ruht jede moderne Volkswirtschaft auf der Vorausset-zung eines funktionierenden Finanzsystems. Es gehtnicht ohne Banken. Das mag ärgerlich sein. Da kannman demagogisch sagen: Sie wollen alles nur für dieBanken. – Aber in dem Moment, wo das Finanzsystemnicht mehr leistungsfähig ist – Sie können es sich ja vonHerrn Steinbrück noch einmal erklären lassen; der warFinanzminister, als auch uns die Finanzkrise getroffenhat –, bricht jede arbeitsteilige Wirtschaft zusammen.Hinterher kann man natürlich sagen, das Geld sei an dieBanken geflossen, aber das ist unter jedem Niveau einersachlichen Auseinandersetzung. Nein, man hat die Vo-raussetzung für eine funktionierende Wirtschaft in Grie-chenland aufrechterhalten. Das ist unter den Bedingun-gen einer Währungsunion kompliziert.Deswegen war die Fragestellung im Referendumschon eine sehr ernsthafte.
– Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin schon langeMitglied des Deutschen Bundestages, und ich bin schonlange Mitglied der Regierung.
– Bei dem Teil, der jetzt kommt, sind Sie am besten still.Ich habe eine präzise Erinnerung an das Jahr 1990.Am 1. Juli 1990, also heute vor 25 Jahren,
ist in Deutschland die Währungsunion eingeführt wor-den. Darüber konnte man ökonomisch sehr unterschied-licher Meinung sein. Herr Lafontaine beispielsweise wardagegen – und nicht alle Argumente waren ökonomischfalsch –, und einige andere hatten auch Zweifel. Aberpolitisch konnte man damals nur schwer dagegen sein.Das wissen Sie alle; ich will die Geschichte nicht wie-derholen. Aber dass unter den Bedingungen einer stabi-len, frei austauschbaren Währung die wirtschaftlichenAnforderungen an Wettbewerbsfähigkeit total anderesind, das muss man doch den Deutschen, die das Jahr1990 erlebt haben, nicht erklären. Natürlich wissen wir,welchen Anpassungsbedarf es damals in der ehemaligenDDR gab. – Das ist das ökonomische Problem, wenn esdarum geht, Griechenland unter den Bedingungen derWährungsunion auf den richtigen Weg zu bringen.
Tut mir leid, das ist schon schwierig. Und dann sind allePolemik und alles, was Sie pflichtgemäß gegen FrauMerkel oder gegen mich oder gegen Herrn Gabriel sagenmüssen, ohne jegliche Substanz in der Sache.Deswegen ist die Frage von 2011 schon die entschei-dende. Die bleibt es auch. Natürlich wissen die Griechensehr wohl, welche Vorteile die Mitgliedschaft im Eurohat: die niedrigen Zinsen, die sie nie hatten, und alles an-dere. Das ist wahr, vorübergehend. Aber auf die Anfor-derung, irgendwann eine wettbewerbsfähige Wirtschaftaus eigener Kraft zu haben, können wir nicht verzichten,ob in zehn Jahren oder wann auch immer.
Das war die Grundlage des Programms.Übrigens, Herr Gysi, Sie unterliegen einem weiterenIrrtum. Ich sage das auch zur inhaltlichen AufbesserungIhrer Polemik: Dieses Programm ist doch niemandemaufgezwungen worden. Das ist zwischen der griechi-schen Regierung und den drei Institutionen ausgehandeltworden. Die Aufgabe der Institutionen war es, die Erfül-lung dessen, was vereinbart worden ist, zu überprüfen,und nicht, etwas zu oktroyieren. Nein, darum geht esüberhaupt nicht. Es ist eine völlig wahrheitswidrige de-magogische Polemik, wenn man sagt: Die zwingen denGriechen irgendetwas auf.
Es geht nur darum, dass Griechenland einhalten muss,was vereinbart wurde.Wieder und wieder waren wir großzügig. Wer Mit-glied des Haushaltsausschusses ist, weiß, dass wirmanchmal fast rote Ohren bekommen haben, wenn wirüber die Auszahlung der nächsten Tranche gesprochenhaben. Es hat uns jedenfalls nicht an Flexibilität geman-gelt. Es bestand immer das grundlegende Problem.2014 befand sich Griechenland dann doch auf einemguten Weg. Sie waren nicht über den Berg, aber auf ei-nem besseren Weg, als wir angenommen hatten, als dasProgramm aufgelegt wurde. Dann hat Herr Tsipras einenWahlkampf geführt, in dem er den Griechen zwei Dinge
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10970 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015
Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
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versprochen hat: Wir bleiben im Euro, aber ohne Kondi-tionalität und ohne Programm. – Ich habe zu ihm gesagt– ich habe im Gegensatz zu vielen anderen mit ihm ge-sprochen, als er in Berlin war –: Wenn Sie das im Wahl-kampf versprechen, kann ich Ihnen persönlich nur wün-schen, dass Sie nie die Wahl gewinnen. Denn diesesVersprechen werden Sie niemals erfüllen können. Es istobjektiv unmöglich. Sie können nicht in der Währungs-union sein, ohne massive Anstrengungen für strukturelleÄnderungen zu unternehmen.
Nun ist es so gekommen, und die Lage hat sich natür-lich dramatisch verschlechtert. Seit diese Regierung imAmt ist, hat sie nichts getan. Sie hat Veränderungen nurrückwärts gemacht. Sie hat bereits getroffene Vereinba-rungen zurückgenommen. Sie hat wieder und wiederverhandelt. Wir wissen noch nicht einmal, ob die grie-chische Regierung ein Referendum abhält, und, wenn ja,ob sie empfiehlt, dafür- oder dagegenzustimmen. Siekönnen doch nicht allen Ernstes verlangen, dass man ineiner solchen Lage über irgendetwas redet. Wir müssenerst einmal warten, was sie in Griechenland nun eigent-lich machen.
Seit diese Regierung im Amt ist, hat sich die Lageständig verschlechtert, und sie verschlechtert sich jedenTag und jede Stunde weiter. Natürlich ist die wirtschaft-liche Lage außergewöhnlich schwierig. Natürlich ist dieSituation die, dass das Bankensystem immer notleiden-der wird. Ich könnte Ihnen Einzelheiten des Bankensys-tems, der Bestände und der Bilanzen nennen. Die Be-stände sind im Wesentlichen Forderungen an dengriechischen Staat. Ein erheblicher Teil sind zukünftigeSteuererstattungsansprüche auf die künftig fälligen soge-nannten Tax Credits, die natürlich auch nicht wirklichbelastbar sind. So sieht also die aktuelle Situation aus. Indieser Situation ein solches Hin und Her zu veranstalten,ist ein Handeln ohne jeden Sinn und Verstand.Aus diesem Grunde werden wir mit allem Ernst da-rüber reden müssen: Können wir in dieser schwierigenSituation eine neue Lösung finden? Diese wird aber vielgrundlegender sein. Wir befinden uns im Bereich desESM. Das hat sich alles entwickelt. Für Griechenlandhaben sich durch die dramatischen Entscheidungen sei-ner Regierung – ich will das gar nicht nachzeichnen; wirwissen ja alle, wie es gewesen ist – eine Reihe von Din-gen wesentlich verschlechtert. Es ist außergewöhnlichschwierig, dafür eine Lösung zu finden. Aber wenn wirEuropa stärken wollen – darum geht es; das müssen wiruns gegenseitig gar nicht absprechen; da kann man da-rüber streiten oder diskutieren, was die richtige Lösungist –, ist die entscheidende Voraussetzung –
– Herr Kollege Hofreiter, glauben Sie mir: ich habe michwirklich in meinem Leben lange für Europa engagiert –:Es muss ein Mindestmaß an Vertrauen geben.
Ich kenne die Diskussion darüber, ob es eine Wäh-rungsunion ohne politische Union geben kann. Wir ha-ben gesagt: Wir fangen an. – Wir sind in Europa immerschrittweise vorangegangen, um dann weitere Schrittefolgen zu lassen. Jetzt müssen wir weitere Schritte fol-gen lassen.
Aber eine Währungsunion, in der ein Partner sagt:„Es interessiert mich alles nicht; ich mache nichts, undich halte mich an nichts, was vereinbart worden ist“,kann nicht funktionieren. Vertrauen und Verlässlichkeitsind eine Grundvoraussetzung, gerade was die Institutio-nen betrifft.Ich will Ihnen von einer kleinen Episode aus der Be-ratung am Samstag erzählen.
– Nein, nicht „oje“. Hören Sie doch zu! – Am Samstagmusste Herr Varoufakis erläutern, was sie angesichtsdieser Situation jetzt gemacht haben. Dann haben wirihn gefragt: Was ist denn nun mit dem Referendum?Sind Sie dafür oder dagegen? Dann hat ein Kollege zuihm gesagt: Also, Sie sagen uns jetzt, bei dem Referen-dum wird die griechische Regierung dem Volk empfeh-len, es abzulehnen. Daraufhin hat der griechische Fi-nanzminister gesagt: Wenn das Volk dann aber entgegender Empfehlung der griechischen Regierung zustimmt,dann machen wir das als Regierung.Dann hat der Kollege gefragt: Wie verträgt sich dasdamit, dass wir immer gesagt haben: „Ein Programm be-ruht auf der Grundvoraussetzung, dass jede Regierung,die es abschließt, sich auch dazu verpflichtet, es umzu-setzen“? – In unserer internationalen Sprache nennen wirdas Ownership, und das bedeutet: Die Regierung enga-giert sich dafür, dass ein Programm umgesetzt wird. Dashaben die Portugiesen getan, das haben die Spanier ge-tan, das haben die Zyprioten getan – die haben es wirk-lich schwer gehabt – und alle anderen auch. Aber eineRegierung, die ihrem Volk empfiehlt, es abzulehnen unddamit überstimmt wird, hat doch kein Vertrauen. DieseFrage konnte Varoufakis nicht beantworten.Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Lageist für Griechenland schwierig. Aber die EuropäischeKommission hat gesagt: Die Euro-Gruppe steht bereit,um, wo immer wir können, zu helfen. – Zunächst mussaber in Griechenland die Entscheidung darüber getroffenwerden, was sie wollen. Dann müssen wir Lösungen fin-den, die seriös und tragfähig sind, sonst zerstören wirmehr, sonst zerstören wir die Glaubwürdigkeit des euro-päischen Projekts. Das steht auf dem Spiel. Deswegenverteidigen wir Europa, wenn wir sagen: Wir müssen dieGrundlage für neues Vertrauen schaffen, das wir vonniemandem einseitig zerstören lassen können.Herzlichen Dank.
Nächster Redner für die SPD-Fraktion ist der KollegeCarsten Schneider.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015 10971
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DerFraktionsvorsitzende der Grünen hat zu Beginn seinerRede die Sozialdemokraten gescholten, dass wir demersten Hilfspaket für Griechenland nicht zugestimmt ha-ben. Es stimmt, dass wir uns damals enthalten haben,und das aus gutem Grund. Der Bundesfinanzminister hates gerade deutlich gemacht: Griechenland hat in den fünfJahren niemals dauerhaft und glaubwürdig eine Schul-dentragfähigkeit gehabt, sondern es wurden immer beideAugen zugedrückt, wenn ein Kredit gegeben wurde.Deswegen haben wir 2010 gesagt, als von der damaligenBundesregierung die Krise in Griechenland noch negiertwurde: Wir geben kein Geld etc. – Ich kann mich darannoch genau erinnern. Wir haben gesagt: Bevor es Kre-dite von europäischen Staaten gibt, muss es erst einmaleine Beteiligung der Gläubiger, das heißt der Bankenund der privaten Investoren, geben. – Das ist nicht ge-schehen. Und das ist der Fehler, unter dem wir nochheute leiden.
100 Milliarden Euro wurden von privaten Gläubigernauf den Staat übertragen, auf die Europäische Union, dieLänder der Euro-Zone. Wir reden jetzt über eine Summevon insgesamt 240 Milliarden Euro plus 100 MilliardenEuro Schulden der griechischen Banken bei der Zentral-bank über Notfallkreditlinien. Man kann sich die Fragestellen: Gibt es überhaupt noch eine Lösung innerhalbder Regelwerke, die wir uns mit dem ESM, der jetzt gilt,gegeben haben? Man muss sagen: Es wird schwierig.Man muss sich fragen: Was ist die beste Lösung fürEuropa, und was ist die wirtschaftlich beste Lösung fürGriechenland und die Euro-Zone? Ich bin hier nicht soleichtfertig wie viele andere Ökonomen und auch Politi-ker, die sagen: Lasst sie herausgehen, alles kein Pro-blem. Wir sind sicher. Wir haben den ESM, die Banken-union etc. – Das wird nicht so einfach sein. Niemand hatvorher innerhalb der hochzivilisierten, hochökonomi-sierten Welt dieses Experiment des Ausschlusses aus derWährungsunion gemacht. Das erste Mal fällt ein Landaus der Euro-Zone – Griechenland – beim Internationa-len Währungsfonds in den Status von Simbabwe. Sicher-lich, kurzfristig wird es vielleicht keine Auswirkungengeben, aber langfristig werden sie gravierend sein. Des-wegen müssen wir sehr genau überlegen, was wir jetzttun.Zunächst einmal stimmen wir darin überein, dass diegriechische Regierung extrem viel Zeit verloren hat undFehler gemacht hat. Die Besteuerung der Reichsten, dieBekämpfung der Korruption, das Eingeständnis, dass dieFehler auch in Griechenland gemacht wurden – all dasfehlt. All das muss, wenn es neue Hilfen gibt, Teil derProgramme sein. Wir müssen nicht zu sehr auf die Zah-len schauen, sondern viel mehr auf die Struktur und da-rauf, ob Griechenland sein Schicksal in die Hand nimmtund die Fehler korrigiert, die im System liegen, um sichselbst zu helfen und nicht immer nur auf andere zu gu-cken.
Wenn das griechische Volk am Sonntag die Entschei-dung trifft, im Euro zu bleiben – um nichts anderes gehtes: ja oder nein; wenn es ablehnt, dann ist es mehr oderweniger vorbei –, wenn die Griechen bereit sind, diejetzt härter gewordenen Bedingungen zu akzeptieren– die letzten Wochen sind nicht spurlos an Griechenlandvorbeigegangen, die Wirtschaft ist eingebrochen, dasLoch wird größer, die Banken sind pleite, obwohl sie imNovember noch sehr gut aussahen –, dann, finde ich,muss man mit ihnen reden. Die Tür muss offen bleiben;denn ein Austritt Griechenlands aus der Währungsunionhätte nicht nur Folgen für Griechenland, sondern für diegesamte Euro-Zone – so stabil, wie einige glauben, istsie nicht. Ich möchte dieses Experiment nicht eingehen,wenn es sich verhindern lässt.
Was ist die Gefahr? Eigentlich muss die EuropäischeZentralbank, der wir die komplette Aufsicht zumindestüber die systemrelevanten Banken, auch über die viergroßen griechischen Banken, übergeben haben und diedabei ganz unabhängig ist, in dieser Woche feststellen,dass alle vier Banken insolvent sind. Sie wird wahr-scheinlich aber eine politische Lösung wählen und nichtso genau hingucken. Das ist extrem schwierig. Denn esist der erste Anwendungsfall, um festzustellen, ob dieeuropäische Bankenaufsicht glaubwürdig ist. Wenn esnicht einmal gelingt, bei vier relativ kleinen Banken tat-sächlich die Konsequenzen zu ziehen, wenn sie insol-vent sind, was passiert dann erst, wenn es eine richtigeGroßbank in Deutschland oder in Europa erwischt? Istdann die Bankenaufsicht so stark, dass sie es durchziehtund uns letztendlich vor den Verlusten schützt, die imBankensektor entstehen? Das ist die große Glaubwürdig-keitsfrage.Die EZB ist die zentrale Institution, die die europäi-sche Währung derzeit noch zusammenhält. Es ist nichtder ESM, es ist nicht eine politische Aussage von uns –es ist die Europäische Zentralbank mit ihrer Feuermachtunter der Führung von Mario Draghi. Insofern solltenwir an dieser Stelle dankbar sein, dass er uns die Zeit ge-geben hat. Wir sollten die Zeit aber auch für einen klu-gen Vorschlag nutzen, wie wir – mit einer wie auch im-mer gearteten griechischen Regierung und einem Volk,das sich seines Schicksals annehmen will – dann auchhelfen können. Bei diesen Hilfen geht es um mehr alsnur um Kredite; es wird auch um Wachstumsimpulse ge-hen. Über kurz oder lang werden wir auch über die Frageder dauerhaften Tragfähigkeit der griechischen Schuldenzu sprechen haben. Der teuerste Weg für Deutschland istder Weg des Austritts Griechenlands aus der Euro-Zone.
Denn dass die Griechen mit einer abgewerteten Wäh-rung in der Lage sein sollten, in Euro lautende Staats-
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10972 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015
Carsten Schneider
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schulden in Höhe von dann 340 Milliarden Euro zurück-zuzahlen, halte ich für ausgeschlossen.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Sven-Christian Kindler von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Carsten Schneider von der SPD-Fraktion hatsich gerade gegen einen Grexit ausgesprochen. Ich hättemir gewünscht, dass wir, wenn wir darüber reden, dassEuropa eine Rechtsgemeinschaft ist – Frau Kanzlerin,Sie haben das gesagt –, auch klarmachen, dass Griechen-land im Euro bleibt; denn das gehört zur Rechtsgemein-schaft Europa dazu. Das haben weder Herr Gabriel nochFrau Merkel noch Herr Schäuble gesagt: Griechenlandbleibt im Euro. – Das hätte hier von der Regierung klargesagt werden müssen.
Wir stehen jetzt vor dem Scherbenhaufen der Ver-handlungen. Ich finde, die Linkspartei muss klar sehen,dass man hier nicht einseitige Schuldzuweisungen vor-nehmen kann.
Ich war letzte Woche in Athen zu Gesprächen mit derOpposition und der Regierung. Man muss festhalten:Herr Tsipras hat bis zum Ende gezockt, er hat sich ver-zockt. Die griechische Regierung hat in den letzten Mo-naten einen sympathischen Einsatz im Kampf gegen dieAusterität gezeigt; aber für gerechte Strukturreformenim Staatsaufbau, im Kampf gegen Steuerbetrug undbeim Aufbau der Steuerverwaltung hat sie viel zu weniggemacht. Das war bisher enttäuschend. Das muss manaus linker Perspektive kritisieren können.
Man darf es sich jetzt aber nicht – das sage ich mitBlick auf CDU/CSU und SPD – zu einfach machen.Man muss sich fragen, wie Griechenland und Europa indiese Lage gekommen sind. Man kann diese Krisenpoli-tik nicht einfach als Erfolgsstory beschreiben. Wir habendoch gesehen, dass die Institutionen und auch die Bun-desregierung mit ihrer Krisenpolitik keinen Erfolg ge-habt haben. In Portugal, Spanien und Italien gibt es einehohe Jugendarbeitslosigkeit. Die Investitionen in Europasind gering. Es gibt Deflationsgefahren. In Griechenlandgibt es große Armut, hohe Schulden – und es kommenimmer mehr hinzu – und eine hohe Jugendarbeitslosig-keit. Frau Merkel, da kann man doch nicht sagen: Wir le-ben in einer Stabilitätsunion.
Es wird lediglich eine kurzfristige Krisenpolitik verfolgt.Aber diese Kaputtsparpolitik in Europa ist gescheitert.
Jetzt hat die Kanzlerin gesagt, in den nächsten Tagengehe es nicht um die Zukunft Europas. Ich frage mich: Inwelcher Welt lebt die Kanzlerin eigentlich? – Natürlichgeht es um die Zukunft Europas! Es geht nicht nur umGriechenland, es geht nicht nur um den Euro. Es gehtdarum, dass wir in Europa in vielen Fragen in einer his-torischen Krise stecken. Gerade das zentrale Projekt dereuropäischen Integration, der Euro, steht auf der Kippe.Deshalb muss man klarmachen, dass man gemeinsamdafür kämpft, dass der Euro erhalten bleibt, dass Grie-chenland im Euro bleibt. Man darf das Problem nichtkleinreden, Frau Merkel.
Ich frage mich, was man in dieser Situation machenkann. Soll man weitere Gespräche führen? Soll man ein-fach das Referendum abwarten und gucken, was pas-siert? Sollte man nicht versuchen, alle Möglichkeiten,die es gibt, zu nutzen? Österreich und Frankreich habengesagt, dass sie zu weiteren Gesprächen bereit seien. Diegriechische Regierung hat jetzt ein neues Angebot vor-gelegt, und es ist bestimmt nicht das letzte Angebot. DasChaos in der griechischen Regierung ist manchmalschwer zu verstehen, aber trotzdem kann man das Ange-bot nicht kühl abweisen und sagen, dass es bis Sonntagkeine Gespräche gibt. Vielmehr muss man jetzt jedeChance nutzen. Deswegen fordern wir einen europäi-schen Sondergipfel. Der ist jetzt notwendig, FrauMerkel.
Wir brauchen einen Kompromiss, auch wenn er füralle Seiten nicht einfach ist. Wir als Grüne haben skiz-ziert, was notwendig ist. Wir brauchen eine wirtschaftli-che Perspektive für Griechenland; denn nur so könnenSchulden zurückbezahlt werden, nur so können Men-schen in Arbeit kommen, und nur so kann die sozialeKrise bekämpft werden. Dafür braucht GriechenlandZeit, Ruhe, Stabilität und auch eine begrenzte Umschul-dung.Es ist aber notwendig, dass sich Griechenland auf dienotwendigen Konditionen einlässt. Eine gerechte Struk-turreform in Griechenland ist essenziell und notwendig.Auch mehr Investitionen sind notwendig. Ein solcherKompromiss ist für alle Seiten schwierig, für Griechen-land, aber leider auch für die Union – er wäre auch fürFrau Merkel schwierig wegen der Umschuldung –, aberich finde, man muss sich jetzt bewegen und für einenKompromiss kämpfen, damit Griechenland im Eurobleibt.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015 10973
Sven-Christian Kindler
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Natürlich geht es in diesen Tagen um die ZukunftEuropas. Ich als junger Mensch frage mich: Worum gehtes jetzt eigentlich in Europa? Welches Angebot machtEuropa den jungen Menschen? Wie soll es in Zukunftmit Europa weitergehen? Wohin wir in Europa auch bli-cken: Es gibt Nationalismus, Rechtspopulismus, schwie-rige Krisen an den Außengrenzen und eine hohe Jugend-arbeitslosigkeit. Welches materielle Angebot machtEuropa den jungen Menschen? Europa wird immer alsFriedensperspektive, als Friedensprojekt dargestellt, im-mer mit dem Versprechen, für Wohlstand zu sorgen, da-für zu sorgen, dass es den Menschen gut geht.Der europäische Sozialstaat ist eine ErrungenschaftEuropas. Ich finde, wir dürfen uns keine verlorene Gene-ration leisten. Wir müssen gemeinsam für ein demokrati-sches Europa kämpfen. Darum geht es jetzt in dennächsten Tagen.
Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Gerda
Hasselfeldt für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Bevor ich auf Griechenland im Besonderen zu sprechenkomme, will ich eines klarstellen: Wir diskutieren seitetwa fünf Jahren über die Staatsschuldenkrise in einigeneuropäischen Ländern. Die Maßnahmen zur Bekämp-fung dieser Krise, die wir in den letzten fünf Jahren indiesem Haus beschlossen und in Europa auf den Weg ge-bracht haben, waren erfolgreich.
Die Länder Spanien, Portugal und Irland haben ihreProgramme erfolgreich abgeschlossen, und Zypern istauf einem guten Weg. Deshalb müssen wir uns bei sol-chen Diskussionen schon fragen: Warum ist das so? Esist nicht so, wie Herr Hofreiter gesagt hat, dass nichtsgeschehen ist, dass alles nicht erfolgreich war. Gerade indiesen Ländern ist zu spüren – das ist auch nachzulesen –,dass die Programme erfolgreich waren.
Warum waren diese Länder erfolgreich? Sie waren es,weil nicht nur die Solidarität in Europa gepflegt wurde,weil nicht nur mit Programmen geholfen wurde, sonderndiese Länder auch eigene Anstrengungen unternommenhaben. Diese Länder haben sich an die Regeln, die wiruns gemeinsam gegeben haben, gehalten,
sie haben sich an die Vereinbarungen und an die Vorga-ben der Troika gehalten, und sie haben eigene Anstren-gungen unternommen. Das war das Erfolgsrezept.
Die derzeitige Situation in Griechenland ist alles an-dere als einfach. Diese Situation hat sich niemand ge-wünscht, aber sie ist nun einmal so, wie sie ist. Die Euro-päische Kommission, die Europäische Zentralbank undder Internationale Währungsfonds haben Griechenlandein ausgesprochen großzügiges Angebot unterbreitet.Griechenland hat dieses Angebot abgelehnt. Es hat dieVerhandlungen abgebrochen, sie einseitig aufgekündigtmit der Ankündigung eines Referendums. Natürlich istes das legitime Recht eines jeden Landes, eines jedenStaates, sein Volk zu befragen; aber monatelang zu ver-handeln, keine eigenen Anstrengungen zu unternehmenund immer wieder neue Forderungen an andere zu stel-len, um drei Tage vor Auslaufen des Programms alleswieder infrage zu stellen, ist, noch dazu angesichts derEmpfehlung, die Kompromissvorschläge, die im Refe-rendum zur Abstimmung stehen, abzulehnen, ein einma-liger Vorgang und ein beispielloser Affront gegen dieeuropäischen Partner.
Überall in Europa Porzellan zu zerschlagen
und dann die Menschen im eigenen Land auch noch dieScherben zusammenkehren zu lassen, das hat mit Demo-kratie nichts zu tun. Das ist in höchstem Maße verant-wortungslos.
Deshalb war es richtig und gut, dass die Finanzminis-ter der Euro-Gruppe einstimmig klargemacht haben:Europas Regeln gelten für alle, und Solidarität kann nurbei Gegenleistung in eigener Verantwortung gewährtwerden. Das war das richtige Signal für den Euro, unddas war das richtige Signal für ganz Europa. Daran wer-den wir uns auch künftig messen lassen müssen. Wir ha-ben eine Verantwortung für Europa. In Europa werdenRegeln gesetzt und Vereinbarungen geschlossen, an dieman sich hält. So verstehen wir Europa.
Die griechische Regierung hat immer so getan, alsgingen sie die geschlossenen Vereinbarungen nichts an.Sie hat immer gesagt: Wir haben einen eigenen Auftragder Wähler. Fakt ist: Die Vereinbarungen haben nichtParteien geschlossen, die Vereinbarungen haben auch
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10974 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015
Gerda Hasselfeldt
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nicht Koalitionen geschlossen, sondern die Vereinbarun-gen wurden von den Staaten geschlossen.
Fakt ist auch, dass die griechische Regierung im Februar2015 der Verlängerung des Programms und damit auchden damals enthaltenen Bedingungen zugestimmt hat.Sie hat aber nichts getan, um diese Bedingungen einzu-halten. Dass sie ein verbessertes Angebot nun nicht an-nehmen wollte, zeigt: Die griechische Regierung hattevon Anfang an ganz andere Pläne. Ihr geht es nicht umdie Einhaltung der Vereinbarungen, nicht um die Einhal-tung der Regeln. Vielmehr will sie die GrundregelnEuropas ändern. Sie will eine andere Euro-Zone. Sie willeine Transferunion. Letztlich will sie Geld zur Erfüllungunrealistischer Wahlversprechen, ohne die Auflagen zuerfüllen. Das wird es, das kann es und das darf es mit unsnicht geben.
Unser Kurs bleibt: Solidarität, Hilfe und Unterstüt-zung ja, aber nur mit Eigenverantwortung, und zwar des-halb, damit dauerhaft die Grundlagen dafür gelegt wer-den können, dass sich Griechenland positiv entwickelt.Das war und ist die Geschäftsgrundlage für jede unsererHilfen. Das gilt für die vergangenen und natürlich ge-nauso für mögliche aktuelle Hilfen.Der gestrige Brief aus Athen enthält wieder vor allemForderungen ohne konkrete Reformzusagen. Bisher hatdie Regierung ihre Reformzusagen nicht eingehalten.Genau das ist das Problematische: Es wurde so viel anVertrauen zerstört. Dieses Vertrauen wieder aufzubauen,ist jetzt auch Aufgabe der griechischen Regierung. Dennohne Vertrauen ist eine Zusammenarbeit in einer soschwierigen Situation, wie wir sie jetzt haben, nichtdenkbar. Natürlich muss man sich bei jeder Entschei-dung fragen: Welche Konsequenzen hat sie? WelcheKonsequenzen hat sie für die Menschen in Griechen-land? Welche Konsequenzen hat die Entscheidung fürdie Stabilität der gesamten Euro-Zone und dabei auchfür die Menschen in der Euro-Zone? Es ist ja nicht so,dass es nur in einem Land Menschen gibt, auf die wirschauen müssen. Wir haben auch Verantwortung für dieMenschen, die in unserem Land wohnen. Das will ichbei dieser Gelegenheit in Erinnerung rufen.
Wir haben mit dem ESM, wir haben mit dem Fiskal-pakt, wir haben mit der Bankenunion heute bessere Kon-ditionen, eine bessere Grundlage, um schwierige Krisenin Europa bewältigen zu können. Das zeigt übrigensauch die Reaktion der Märkte in diesen Tagen. VieleLänder haben Strukturreformen durchgeführt – ich habees vorhin erwähnt –, insbesondere die ProgrammländerSpanien, Portugal, Irland und Zypern. Sie haben sich da-bei gut entwickelt.Nur zur Erinnerung: Auch Griechenland hatte sichverbessert und war auf einem guten Weg. Im letztenJahr, im Jahr 2014, ist die griechische Wirtschaft nachsechs Jahren Rezession erstmals wieder gewachsen. DieHerbstprognose der Europäischen Union sah für diesesJahr sogar 3 Prozent Wachstum voraus. Die Arbeitslo-sigkeit ist leicht gesunken. Aber nach wenigen Monatenhat die jetzige Regierung in Griechenland dieses wiederverspielt und das Land wieder an den Abgrund geführt.Das gehört zur Wahrheit. Griechenland ist jetzt wieder inder Rezession.Das Vertrauen ist verspielt. Das Vertrauen der euro-päischen Partner ist verspielt. Das Vertrauen der Investo-ren ist verspielt. Das Vertrauen der Geldgeber ist ver-spielt. Es muss wieder aufgebaut werden. Das hat nichtsmit dem aktuellen Kurs in Richtung Crash zu tun. Wennjemand diesen Kurs zu verantworten hat, dann ist das diejetzige Regierung in Griechenland, die dazu den Bodenbereitet hat.
Wir alle spüren in diesen Tagen, dass die Wirtschafts-und Währungsunion vor einer ganz entscheidenden He-rausforderung steht. Es ist gut, dass wir miteinander umeine gute Lösung ringen. Ich will aber auch hinzufügen:Wir sollten die positiven Signale, die gerade in diesenTagen spürbar sind, nicht unbeachtet lassen.Das erste positive Signal ist, dass die EuropäischeUnion, insbesondere die Euro-Zone, bei ihrem VerhaltenGeschlossenheit und auch Stringenz gezeigt hat. Ichmöchte dem Bundesfinanzminister und unserer Bundes-kanzlerin herzlich für den Einsatz danken, der nicht nurin den letzten Tagen und Wochen, sondern auch schon inden vergangenen Monaten und Jahren gezeigt wurde.
Positiv ist zweitens der Blick auf die Struktur dessen,was in den letzten Jahren entschieden wurde. Ich meinedas, was ich anfangs gesagt habe, nämlich dass dieseStruktur erfolgreich war, dass der Kurs richtig ist – Soli-darität und Eigenverantwortung gehören zusammen –und dass auch richtig ist: Regeln müssen eingehaltenwerden. Nur das macht Europa stark. Dass auch dieserKurs beibehalten wird, ist eine gute Botschaft.Die dritte gute Botschaft ist: Wir haben in den vergan-genen Jahren durch die vielen Maßnahmen im Rahmenvon ESM, Fiskalpakt und Bankenunion die Grundlagendafür gelegt, dass die Ansteckungsgefahren jedwederEntscheidung minimiert wurden. Das ist eine ganz wich-tige Grundlage dafür, dass wir zu guten Entscheidungenmit guten Auswirkungen kommen.Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollte uns Mutmachen, sodass wir mit Zuversicht sagen können: Wirwerden diese Krise nicht nur bewältigen, sondern ausdieser Krise auch gestärkt hervorgehen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015 10975
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Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Johannes
Kahrs für die SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der Kollege Kindler hat eben bedauert, dasssich Frau Merkel, Herr Gabriel und Herr Schäuble hiernicht deutlich gegen einen Grexit ausgesprochen haben.
Ehrlich gesagt, Herr Kindler: Das müssen sie auch nichttun. Wir als CDU/CSU und SPD haben in den letztenMonaten und Jahren nämlich gezeigt, dass wir gegen ei-nen Grexit sind.
Wir haben gezeigt, und zwar durch Handeln und nichtnur durch Worte, dass wir wollen, dass Griechenland imEuro bleibt, dass Griechenland in Europa weiterhin un-terstützt wird und dass Griechenland eine Chance hat,nach vorne zu kommen. Deswegen haben wir in denletzten Monaten und Jahren ein Programm nach dem an-deren verabschiedet. Wir haben, wie Herr Schäublesagte, auch einmal ein Auge zugedrückt, wenn es an dereinen oder anderen Stelle nicht so war, wie es hätte seinsollen. Weswegen haben wir das gemacht? Weil uns alleder Wille eint, dass Griechenland im Euro bleibt.
Um das umzusetzen, braucht man auf der anderenSeite aber einen Partner.
Sigmar Gabriel hat gesagt, dass die SPD seit 1925 andem europäischen Gedanken arbeitet und dass sie fürEuropa und für die Vereinigten Staaten von Europa ist.Natürlich muss man dann dafür sorgen, dass Griechen-land in dieser Situation unterstützt, gefördert und gehol-fen wird. Aber – das hat Frau Hasselfeldt gerade gesagt –man muss auf der anderen Seite einen Partner haben, mitdem man das schaffen kann. Zum Helfen und Zusam-menarbeiten gehören immer zwei.
Sigmar Gabriel hat auch gesagt, dass all die vorange-gangenen Regierungen in Griechenland – egal von wel-cher Partei sie waren – nicht das getan haben, was mantun muss, um einen funktionierenden Staat aufzubauen,der irgendwann einmal ein vernünftiges Steuersystem,ein Grundbuchamt und all die Dinge, die man braucht,damit ein Staat funktioniert, hat. Die jetzige Regierunghatte – auch das muss man sagen – nicht viel Zeit. Abersie hat in dieser Zeit rein gar nichts getan, um die Struk-turen so zu verbessern, dass Griechenland als Staat vor-wärtskommt.
Man hat sich nicht unbedingt als Partner gezeigt. Manhätte sich bei Herrn Varoufakis gefreut, wenn er mehrgearbeitet hätte und weniger in Hochglanzbroschürenund Talkshows zu sehen gewesen wäre, was übrigensauch für viele deutsche Politiker gilt.
Wenn man sich die Situation ansieht, stellt man fest:Es ist nicht so, dass es in Europa am Willen fehlt; viel-mehr fehlt es an einem Partner in Griechenland. Und dasbetrifft nicht nur die jetzige Regierung, sondern auch dievorherigen Regierungen.Ich finde es allerdings schwierig, wenn sich Herr Gysihierhinstellt, die jetzige Regierung hoch lobt, sich fak-tisch mit ihr verheiratet und sagt: Europa will diese linkeRegierung stürzen. Ehrlich gesagt, Herr Gysi, diese Re-gierung ist erstens nicht links.
Links ist etwas ganz anderes, Links hat etwas mit Fort-schritt und Zukunft zu tun. Zweitens ist diese Regierung– wenn man sie einmal auf Deutschland überträgt – eineMischung aus Linkspartei und AfD. Das heißt, wir hät-ten als Regierungschefin vielleicht Frau Wagenknechtund Herrn Lucke als Finanzminister. Dass das nichtfunktionieren kann, hat, ehrlich gesagt, jeder einzelneDeutsche gemerkt. Man kann der Linken und der AfDnichts anvertrauen!
Das kann man in Griechenland sehen, das kann man inGriechenland jeden Tag bewundern!Die Griechen haben das Pech, aus Frust – den kannich übrigens auch verstehen – solch eine Regierung ge-wählt zu haben. Und jetzt müssen wir alle gucken, wiewir damit klarkommen. Die SPD und die CDU/CSU ha-ben es gesagt – auch ich bin dafür –: Natürlich wollenwir auch mit der jetzigen griechischen Regierung weiterreden. Wir wollen mit ihr auch weiter verhandeln. Dannmuss man aber auch über Strukturreformen verhandeln,die, wenn sie umgesetzt werden, das Land weiterbrin-gen, es nach vorne bringen und in die Situation verset-zen, am Ende sich selbst zu helfen. Darum geht es doch.
Hilfe zur Selbsthilfe ist gut; aber dann muss es aucheine Regierung geben, die will. Wenn wir uns diese Re-gierung angucken, dann stellen wir fest, dass wir mit ihrein Problem haben. Herr Kindler, der ja immer guteStichworte gibt, hat sich hierhingestellt und gesagt, dasswir nicht aufgeben sollen. Bestimmt sei dieses Angebotnicht das letzte. Ehrlich gesagt, ich hätte auf die letztenvier, fünf, sechs, sieben, acht Angebote allesamt verzich-ten können. Mir hätte ein Angebot gereicht, mit demman arbeiten und auf dessen Grundlage man gemein-schaftlich die Probleme angehen könnte.
Die übrigen 18 Staaten der Euro-Zone waren sich sel-ten so einig wie jetzt. Das ist – man muss das sagen –
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10976 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015
Johannes Kahrs
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eine echte Leistung dieser Regierung. Die Linke schafftes ja auch immer, das ganze Haus gegen sich aufzubrin-gen. – Man muss doch einfach zur Kenntnis nehmen,dass man einen Kompromiss nur dann hinbekommt,wenn ihn die 18 mit dem einen gemeinsam erarbeitenund umsetzen.Wir alle wollen, dass Griechenland im Euro bleibt.Wir alle wollen, dass es funktioniert. Wir hätten aberauch gerne eine Regierung, die uns ein Angebot macht,mit uns verhandelt und nachher das Verhandelte auchumsetzt – und nicht nur das eine Verhandlungsergebnisals Ausgangsgrundlage für die nächste Verhandlungnimmt, um immer einen kleinen Schritt weiter nachvorne zu kommen. Das ist nicht Verhandeln, das ist un-verantwortlich! Denn hier wird nicht ein bisschen umdas letzte Bargeld gepokert, sondern man spielt mit demSchicksal von 11 Millionen Menschen in Griechenlandund mit der europäischen Idee. Das ist schändlich.Herr Gysi, mit Ihrer rabulistischen Rede haben Siedas Ganze auch nicht mit dem notwendigen Ernst behan-delt. Sie haben hier bei dem Versuch versagt, Griechen-land im Euro zu halten. Sie haben dabei versagt, diedeutsche Bevölkerung mitzunehmen. Sie haben hier mitIhrem billigen Populismus versagt; denn Sie haben dabeialle Ressentiments bemüht. Das reicht für die 10 Pro-zent, die Sie haben wollen, aber in der Sache ist es billigund falsch und wird ihr nicht gerecht.Vielen Dank.
Herr Kollege Kahrs, es gibt noch eine Zwischenfrage
vom Kollegen Hans-Christian Ströbele. Ich möchte Sie
fragen, ob Sie die zulassen.
Wer meine Redezeit verlängern will, möge das tun.
Danke, Herr Kollege, dass Sie die Frage noch zulas-
sen. Ich hatte mich schon vorhin gemeldet. Frau Präsi-
dentin, auch bei Ihnen bedanke ich mich. – Ich sitze ja
hier und bekomme die Diskussion mit. Immer wieder
höre ich, dass die Griechen ihre Verpflichtungen einhal-
ten sollen. Von Ihrem Kollegen Schneider habe ich vor-
hin gehört, dass die Griechen die 340 Milliarden Euro
sowieso nie bezahlen können. Ich glaube auch, dass es
die Auffassung dieser Bundesregierung ist, dass Grie-
chenland diese Schuldenlast – die sich wie auch immer
ergeben hat – gar nicht zahlen kann.
Welchen Vorschlag haben Sie denn, wenn die Grie-
chen das gar nicht können? Sie sagen immer: Die wollen
nicht. Vielleicht wollen sie, können aber gar nicht, weil
sie kein Geld haben, um die Schulden zurückzuzahlen.
Das heißt, Sie drücken sich um die zentrale Frage: Wenn
die gar nicht können, ist dann nicht eine Umschuldung
bzw. ein Schuldenerlass – jedenfalls bis zu dem Grad,
bei dem eine Rückzahlung möglich wird – oder viel-
leicht auch eine Verschiebung der Rückzahlung und der
Bedienung der Schulden dringend notwendig? Wo liegt
dieser Vorschlag auf dem Tisch?
Herr Kollege, erstens möchte ich mich für diese Frage
bedanken, weil sie meine Redezeit verlängert.
Zweitens glauben wir, dass wir in Europa, wenn wir
mit Griechenland, mit der griechischen Regierung eine
Absprache treffen und eine vernünftige Übereinkunft er-
reichen können – vielleicht gelingt es ja, dass sich die
griechischen Bürger am Sonntag für den Euro ausspre-
chen, im Gegensatz zu ihrer Regierung –, auch ein ver-
nünftiges Angebot hinbekommen werden, was dazu füh-
ren wird, den Griechen die Chance zu gegeben, ihr Land
so aufzubauen, dass sie sich selber helfen und selber aus
dieser Misere herauskommen. Dass es am Ende nicht
immer alleine gehen wird, das mag sein; es hat ja schon
einmal einen Schuldenschnitt gegeben. Wenn wir sehen,
dass wir dort einen Partner haben, werden wir bestimmt
auch zu vernünftigen Regelungen kommen.
Aber Sie können nicht einem Partner, der griechi-
schen Regierung, immer wieder – ein ums andere Mal –
Zugeständnisse machen, die sie zwar ständig „einsackt“,
und dann weiterverhandeln. Wenn Griechenland seine
Strukturen nicht ändert, was notwendig wäre, um aus
Griechenland wieder einen funktionierenden Staat zu
machen, dann können Sie jetzt nicht im Vorgriff – wie
auch immer – Wohltaten ausschütten und alles Mögliche
versprechen: Wir streichen die Schulden, wir geben
mehr Geld.
Was wäre denn das, wenn das Vertrauen fehlt? Sie
machen einen Schuldenschnitt, die Schulden sind weg;
dann hätte der griechische Staat, die griechische Regie-
rung jede Freiheit, neue Schulden zu machen. Wie wol-
len Sie das denn verhindern? Das ist beim letzten Mal
doch auch passiert. Billige, einfache Antworten werden
dem Problem leider nicht gerecht. Hier brauchen Sie ei-
nen Partner; hier brauchen Sie ein Gesamtkonzept.
Die von Ihnen angesprochenen Punkte können ein
Teil der Lösung sein. Das heißt aber auch: Wenn sich die
18 Staaten bewegen und Griechenland mehr zugestehen
als je einem anderen Staat, dann brauchen sie aber auch
einen Partner, der verlässlich ist und nicht immer wieder
ein letztes Angebot und noch ein letztes Angebot macht,
wie Herr Kindler sagt. Das ist nämlich das Gegenteil von
solide und zuverlässig; das ist so etwas wie Herr Gysi
und die Linkspartei.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat ManuelSarrazin von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen dasWort.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015 10977
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Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Frau Kanzlerin! Herr Vizekanzler! Herr Schäuble! Mich
macht diese Debatte ein bisschen ratlos. Sie ist ja auch
von großer Ratlosigkeit geprägt, was dazu führt, dass
man viel über die letzten fünf Jahre und nur wenig über
die nächsten fünf Tage redet.
Ich habe in diesem Haus immer erlebt, dass es bei die-
sem Punkt einen großen Trennungskeil zwischen den
Abgeordneten – quer zu den Fraktionen – gibt, und ich
habe mich an dieser Stelle immer mehr bei Angela
Merkel, bei Wolfgang Schäuble, bei Volker Kauder, bei
fast allen meiner Fraktion und bei fast allen in der SPD
als bei den Kollegen von der Linkspartei, dem Herrn
Gauweiler und anderen gefühlt. Es ging dabei um die
Frage, ob man Europa am Ende als ein Konzept sieht,
bei dem das Wir entscheidet, darum, dass „Wir“ die
europäischen Bürgerinnen und Bürger sind, und nicht,
dass „Wir“ wir und die anderen – im Sinne von „wir
Deutschen und die anderen“ – sind.
Herr Schäuble, ich habe Sie – Ihre Konzepte von
Kerneuropa und Ähnliches ausgenommen – immer sehr
geschätzt, und ich habe, ehrlich gesagt, Angst, dass Ih-
nen dieser gemeinsame Punkt, der uns zusammengehal-
ten hat, in den letzten Wochen abhandengekommen ist.
Auch bei Frau Merkel habe ich diese Sorge, nachdem
ich in den Situationen, in denen es wirklich um alles
ging, immer das Gefühl hatte, dass Sie bei allen pragma-
tischen Überlegungen, bei aller Notwendigkeit, Ihre
Politik zu Hause zu verkaufen, die historische Bedeu-
tung von gewissen Entscheidungen immer mit einprei-
sen.
Ich erkenne, dass wir hier inzwischen vielleicht ein
unterschiedliches Konzept von Europa haben. Sie glau-
ben, Europa wäre gestärkt, wenn Griechenland durch
noch größere Probleme gehen würde – entweder durch
einen Grexit oder durch eine noch tiefere innenpolitische
Krise nach einem Nein. Ich kann mich zwar irren, aber
ich glaube, dass das falsch ist.
Diese Debatte wird live im griechischen Staatsfernse-
hen übertragen und übersetzt. Ich frage mich, wer – Herr
Gysi möchte ja ein Nein erreichen – mit seiner Rede
dazu beigetragen hat, die Menschen in Griechenland, die
noch nicht wissen, wie sie sich am Sonntag entscheiden
sollen, von unserem Wunsch zu überzeugen, dass Grie-
chenland mit uns im Euro bleiben soll.
Ich bin nicht jemand, der sagt, das Bild vom unnach-
giebigen Deutschen – in Anführungszeichen –, das von
gewissen politischen Kräften in Griechenland bedient
wird, wäre zutreffend. Aber ich glaube, wir müssen es
den Menschen unbedingt leichter machen, zu erkennen,
dass dieses Bild nicht zutreffend ist. Daher muss man
sich in einer solchen Debatte von den innenpolitischen
Problemen, die ich nachvollziehen kann, frei machen
und muss sich der Wirkung bewusst sein, die diese De-
batte fünf Tage vor einem Referendum, das für die Zu-
kunft Europas natürlich entscheidend ist, auf Griechen-
land hat.
Wir erleben seit Jahren, dass in dem von Toni
Hofreiter treffend dargestellten System von europäi-
schem Regieren die Handlungsspielräume von deutscher
Politik, von griechischer Politik und von allen anderen
immer kleiner geworden sind – einem System, in dem
Regierungen entscheiden, die bis zu einem gewissen
Grad nationales Interesse vertreten müssen, in dem euro-
päische Institutionen, die auch nach anderen Logiken
handeln können, außen vor bleiben. Ich hätte mir ge-
wünscht, dass die heutigen Reden, vor allem von Vertre-
tern der Bundesregierung, dazu beigetragen hätten, die
Handlungsspielräume der griechischen Politik und, um
es ganz ehrlich zu sagen, in diesem Falle vor allem des
griechischen Demos zu steigern. Ich vertraue auf die
Menschen in Griechenland, und ich bin davon über-
zeugt, dass die Menschen in Griechenland sich für
Europa entscheiden werden.
Vielleicht ist es vor diesem Hintergrund ein grund-
sätzlicher Fehler in der Verhandlungsstrategie von Herrn
Tsipras – von dem ich nicht viel halten muss –, aber auch
von Vertretern Europas gewesen, dass sie einer Regie-
rung wie der von Syriza überhaupt die Möglichkeit ge-
geben haben, in einer Situation, in der alles auf der
Kante steht, eine solche Fehlentscheidung zu treffen,
weil man das Problem vorher nicht abgeräumt hat. Denn
verdammte Axt: Es geht gerade um ganz, ganz viel. Frau
Merkel hat gesagt: Die anderen 18 müssen keine Sorge
vor der Katastrophe haben. – Wir sind aber 19 gemein-
sam in der Euro-Zone und 28 in der Europäischen
Union.
Danke sehr.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Eckhardt
Rehberg für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich bin Bundesfinanzminister Schäuble ausdrücklichdankbar für seinen Hinweis, dass wir am 1. Juli vor25 Jahren die D-Mark eingeführt haben. Ich bin ja einerderjenigen, die das im Ostteil unseres Vaterlandes miter-leben durften. Die Menschen haben vorher bei den De-monstrationen gerufen: Kommt die D-Mark nicht zuuns, dann gehen wir zu ihr. – Wir haben es getan. Ichglaube, eines der wesentlichen Momente bei der Einfüh-rung der D-Mark war, neben dem Materiellen und Fiska-
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Eckhardt Rehberg
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lischen, das Gefühl der Menschen in der ehemaligenDDR: Wir gehören jetzt dazu. – Das war das Gemein-schaftsgefühl, das sich in der D-Mark ausgedrückt hat.Ich kann den Menschen in Griechenland nur zurufen:Stimmen Sie am Sonntag mit Ja, weil Sie zum Euro undzu Europa gehören wollen! Ein Nein wäre an dieserStelle das Gegenteil davon. – Das ist meine Bitte an dieMenschen in Griechenland.
Herr Kollege Gysi, Sie sprachen von „Ultimatum“.Machen Sie sich einmal folgende Mühe: Heute Mittagist allen Mitgliedern ein Dokument des Europareferatesdes Deutschen Bundestages zugeleitet worden, in demeine Synopse zwischen dem laufenden Programm, zwi-schen dem Verhandlungsstand der Institutionen, derTroika, und dem, was die griechische Regierung angebo-ten hatte, dargestellt wurde. Wenn jetzt Herr Tsipras, we-nige Stunden vor dem Referendum, immer wieder neueAngebote macht, aber gleichzeitig die Griechen auffor-dert, mit Nein zu stimmen – also: keine Konditionierung,Geld ohne Konditionen –, dann ist das schizophren, HerrKollege Gysi.Es ist wahr, dass die Angebote der Troika und dergriechischen Regierung ziemlich nahe beieinanderlagen.Beim Primärüberschuss hätten wir – das sage ich fürmeine Fraktion – in der Tat Probleme gehabt. Im altenProgramm waren 3,5 Prozent für dieses Jahr und4,5 Prozent für nächstes Jahr vorgesehen. Das Angebotder Troika und der griechischen Regierung lautete 1 Pro-zent für dieses Jahr und 2 Prozent für nächstes Jahr. Dasist das wesentliche Moment. Aber wissen Sie, woran dasunter anderem gescheitert ist? Bei der Kürzung der Mili-tärausgaben lagen die Vorschläge um 200 MillionenEuro auseinander. Die Troika wollte 400 MillionenEuro; die griechische Links-rechts-Regierung wollte nur200 Millionen Euro.
Das sind die Probleme, über die wir reden müssen, HerrKollege Gysi.
Wir müssen präzise sein, Herr Kollege Gysi: Die Re-gierung in Athen ist keine Linksregierung. Sie ist eineRegierung aus Linkspopulisten, Linksextremen, Links-radikalen und Rechtspopulisten, Rechtsextremen undNationalisten. Das ist die Wahrheit.
Allein um der Macht willen hat sich Herr Tsipras mitHerrn Kammenos ins Bett gelegt, damit sie eine Regie-rung bilden konnten. Das ist die ganze Wahrheit an die-ser Stelle. Deswegen konnte man bei den Militärausga-ben nicht zusammenkommen, meine sehr verehrtenDamen und Herren von den Linken.Mit Blick auf die Zukunft darf ich aus dem ESM-Ver-trag zitieren. Manche meinen offenbar – man muss nurHerrn Hofreiter und Herrn Gysi zuhören –, es wäre ganzeinfach, so mal ein paar Milliarden Euro rüberzuschie-ben. Die EFSF-Welt ist um Mitternacht abgelaufen;IWF-Kreditrate: nicht gezahlt. Wir sind jetzt in derESM-Welt. Ich darf aus Artikel 3 des ESM-Vertrages,den wir im Deutschen Bundestag ratifiziert haben, zitie-ren: Mitgliedstaaten der Euro-Zone, denen schwerwie-gende Finanzprobleme drohen, werden unter striktenAuflagen Stabilitätshilfen gewährt, „wenn dies zur Wah-rung … des Euro-Währungsgebiets insgesamt und seinerMitgliedstaaten unabdingbar ist“.Dazu ist ein Antrag der jeweiligen Regierung notwen-dig. Wenn jetzt Herr Tsipras zu seinen Bürgern sagt:„Stimmt mit Nein! Wir wollen neues Geld ohne Kondi-tionen“, dann kann er, jedenfalls nach meinem Verständ-nis, keinen Antrag nach dem ESM-Vertrag stellen. Dasist keine saubere, seriöse und solide Politik; das istschlichtweg verantwortungslos gegenüber dem eigenenVolk.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, man hat manchmalGlück. Manchmal gibt es auch Zufälle. Ich habe michdiese Woche mit einer jungen Rumänin unterhalten, diemir gesagt hat: Herr Rehberg, wir verstehen überhauptnicht, dass Sie den Griechen so weit entgegenkommenwollen. Es ist bei uns so, dass wir als Erntehelfer undGastarbeiter in Griechenland arbeiten, weil die Griechenihre Oliven und Pistazien nicht selber ernten wollen. Sielassen ernten. – Die junge Rumänin kam dann noch da-rauf zu sprechen: Die Griechen haben viel höhere Ren-ten; sie haben viel mehr Beschäftigte im öffentlichenDienst.Ich spreche das an dieser Stelle an; denn die Bundes-kanzlerin hat hundertprozentig recht. Wir haben, HerrSarrazin – ja –, eine Verantwortung für alle 28 in derEuropäischen Union, ja, wir haben eine Verantwortungfür alle 19 in der Euro-Zone. Aber gerade wir als Deut-sche, wir als 80-Millionen-Volk haben eine besondereVerantwortung für die Slowakei, Slowenien, die balti-schen Länder, die ein deutlich niedrigeres Sozial- undWohlstandsniveau haben als die Griechen, und das, waswir ihnen zugemutet haben, müssen wir auch den Grie-chen zumuten. Anders geht es nicht.
Herr Kollege Rehberg, lassen Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Sarrazin zu?
Kein Problem. Bitte.
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Herr Sarrazin.
Herr Kollege Rehberg, ich möchte dieses Argument
aufgreifen, weil ich glaube, dass es an dieser Stelle zum
besseren Verständnis des Sachverhalts und auch der Ri-
siken beitragen kann, auf diesen Punkt einzugehen. Grie-
chenland ist Teil einer Region, in der seit 2007 in fast
allen Ländern riesige wirtschaftliche Probleme vorkom-
men. Angefangen bei Slowenien über Kroatien, Bos-
nien-Herzegowina, Montenegro, Mazedonien und Alba-
nien bis hin zu Serbien: In all diesen Regionen erleben
wir, dass mehr und mehr politische Kräfte ans Ruder
kommen und gerade auf junge Leute Einfluss haben, die
eigentlich wieder den Nationalismus predigen, der uns in
den 90er-Jahren in ganz schlimme Kriege geführt hat.
Für all diese Kräfte ist die wirtschaftliche Lage die Saat,
die sie säen können und die es ihnen ermöglicht, zu sa-
gen: Europa verspricht keinen Wohlstand. Wir müssen
gegeneinander kämpfen.
Griechenland ist mit den eben erwähnten Ländern
extrem verwoben; das zeigen die Meldungen über die
serbische und die mazedonische Zentralbank. Die Billig-
arbeiter, die in Griechenland in der Agrarwirtschaft ar-
beiten, kommen zum Beispiel aus Albanien und Maze-
donien. Wenn Griechenland den Bach runtergeht,
verlieren diese Menschen ihren Job und kehren in ihre
Länder zurück. Dann wird das, was dort so gefährlich
ist, noch gefährlicher. Es geht bei Griechenland also
nicht nur um die Rettung eines Staates in der Euro-Zone.
Vielmehr geht es um ein Land, das in einer hochgefährli-
chen Region liegt. Deswegen haben wir Deutsche die
Verantwortung, dafür zu sorgen, dass Griechenland stabil
bleibt – damit wir unserer Verantwortung in dieser Re-
gion gerecht werden.
Danke.
Herr Kollege Sarrazin, ich möchte Ihnen gerne erwi-dern. Wenn ich die Entwicklung in Griechenland in denletzten zehn Jahren sehe, dann stelle ich fest, dass Grie-chenland seit Anfang 2000, bedingt durch den Beitrittzur Euro-Zone, weit über seine Verhältnisse gelebt unddie Schulden in die Höhe gefahren hat, um die Sozial-systeme zu finanzieren. 2010 war Griechenland, regiertvon Sozialdemokraten und Konservativen, nicht mehr inder Lage, sich auf dem Kapitalmarkt zu refinanzieren.Dann haben wir das erste und das zweite Hilfsprogrammaufgelegt. Wenn ich mich recht erinnere – darauf sindschon einige Redner in der Debatte eingegangen –, warGriechenland im Dezember letzten Jahres fast wiederkapitalmarktfähig. Griechenland kam aus der Rezessionheraus und hatte Aussicht, die Arbeitslosigkeit abzu-bauen. Ich behaupte nicht, dass die Regierungen inGriechenland zwischen 2010 und 2015 alles richtig ge-macht haben, aber Griechenland war, wie es KolleginHasselfeldt formuliert hat, auf einem guten Weg, ge-nauso wie Spanien, Irland, Portugal und Zypern; wir ha-ben gerade heute im Haushaltsausschuss eine Tranchefür Zypern freigegeben.Deswegen, Herr Kollege Sarrazin, muss man schondie Frage stellen: War das verantwortungsvoll, was diegriechische Regierung seit Ende Januar bis heute ge-macht hat? Sie hat gezockt bis zum Letzten – das hat ge-rade die letzte Woche gezeigt –, immer in dem Wissen,dass Solidarität heißt: Hilfe zur Selbsthilfe. Trotzdemkannten sie nur zwei Themen in den letzten fünf Mona-ten: einen Schuldenschnitt, und: Gebt uns neues Geldohne Konditionen! – So kann Europa – auch im Hinblickauf die Länder, die Sie gerade genannt haben – nichtfunktionieren, Herr Kollege Sarrazin.
Ständig werden zusätzliche Finanzpakete für Wachs-tum und Beschäftigung gefordert. Griechenland hat von2007 bis heute aus europäischen Strukturfonds 35 Mil-liarden Euro erhalten. Griechenland hat bis heute vonder Europäischen Investitionsbank noch einmal 11 Mil-liarden Euro zu günstigsten Konditionen erhalten. Grie-chenland steht in den nächsten fünf Zeitjahren, in dernächsten Förderperiode bis 2020, der gleiche Betrag wiein der vorangegangenen Förderperiode zur Verfügung.In 13 Jahren sind das über 70 Milliarden Euro aus euro-päischen Strukturfonds wie dem Europäischen Fonds fürregionale Entwicklung, dem Europäischen Sozialfondsund ELER einschließlich Direktbeihilfen für die Land-wirtschaft.Was hat man daraus gemacht? Wie wurde das in An-spruch genommen? Ist das alles versickert, oder ist dasdort angekommen, wohin es sollte, nämlich beim Mittel-stand, bei Forschung und Bildung, bei den jungen Leu-ten? Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich habe große Zwei-fel – auch nach einem Besuch in Griechenland vor zweiMonaten –, dass die Gelder für das verwendet wurden,wozu sie gedacht waren. Die Syriza-Regierung wollte jaalles besser machen. Aber ich konnte nicht erkennen,dass sie auch nur an einer Stelle etwas besser gemachthat und dass das Geld, das Europa zur Verfügung stellt,für die Förderung von Wachstum und Beschäftigung so-wie zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit einge-setzt wird.
Herr Kollege Gysi, Sie haben beklagt, dass in den„Prior Actions“ der Troika nicht die Sonderabgabe aufUnternehmensgewinne steht. Was Sie aber nicht gesagthaben, ist, dass die Links-rechts-Regierung in Atheneine Steueramnestie für die Reichen gemacht hat.
Das ist für mich völlig unerklärlich. Wie kann mangrundsätzlich auf die Idee kommen, einmal Steueraus-fälle von 70 Milliarden Euro in den Wind zu schlagenund als Zweites einen Cut bei 1 Million Euro anzuset-zen? Ich kann mich an einen Artikel im Spiegel erinnern,in dem aufgezeigt wird, wie die Vetternwirtschaft unterSyriza und Anel läuft. Das ist keine andere als die unterder ND oder der Pasok, überhaupt keine andere. Syrizaist aber mit dem Anspruch angetreten, alles besser zu
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Eckhardt Rehberg
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machen. Ich habe am 27. Februar hier gesagt: Ich gebedieser Regierung eine Chance. – Jetzt kann ich Ihnenganz ehrlich sagen: Allein die Steueramnestie für Reicheist reinste Klientelpolitik. Das, was Syriza und Anel ge-macht haben, ist nicht akzeptabel. Das muss erst einmalin Griechenland abgestellt werden, bevor wir über wei-tere Dinge reden.
Die Bundeskanzlerin hat gesagt: Wo ein Wille ist, daist auch ein Weg. – Zum Willen gehören immer zwei. Ichkann nur noch einmal das sagen, was ich eingangs ge-sagt habe: Griechen, seid klug, wählt die gemeinsameWährung, wählt damit Europa! Zwingt eure Regierung,endlich eine solide, vertrauensvolle und seriöse Politikmit den Partnern in Europa zu machen!Herzlichen Dank.
Als letzter Redner in dieser Debatte hat Axel Schäfer
für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Als letzter Redner hat man die Chance, zusammenfas-send das Positive herauszustellen. Ich glaube, das Wich-tigste an dieser Debatte ist, dass alle in diesem Haus– manche weniger, manche mehr – bekundet haben: Ja,wir müssen alles Erdenkliche tun, damit Griechenland inder EU und im Euro gehalten wird. Wir wollen diesesLand und diese Menschen nicht herausdrängen.
Das ist, glaube ich, auch in Zukunft nur möglich – dashat sich Gott sei Dank zumindest bei einigen hier, aufverschiedenen Seiten des Hauses, gezeigt –, wenn zurKritik auch ein Stückchen Selbstkritik gehört. Jawohl,wir müssen die Politik der griechischen Regierung unddie Versprechen, die sie nicht gehalten hat, hier deutlichbenennen und auch kritisieren, wie das die vielen Men-schen in unserem Land, unsere eigenen Wählerinnenund Wähler, tun und wie es auch ganz simpel den Faktenentspricht. Darum kommen wir einfach nicht herum.Auf etwas anderes hat dankenswerterweise SigmarGabriel hingewiesen: Auch der IWF hat begonnen, zufragen, ob alle Maßnahmen richtig waren und alle Wir-kungen, was die soziale Situation und anderes anbelangt,gerecht waren. Sie waren nicht gerecht. Es gehört zurWahrheit, auch das an diesem Tag auszusprechen.Es sollte uns dabei ein gemeinsames Verständnis ver-binden. Wir können viel mit Syriza und Herrn Tsiprasdiskutieren, aber wir können nicht darüber diskutieren,dass ein Regierungschef eines Landes der Euro-Zoneoder der EU so tut, als müssten er oder sein Land denKampf gegen die EU führen. Griechenland ist Teil derEU, wie auch wir Teil der EU sind. Es geht darum, einegemeinsame Lösung zu finden, nicht darum, andere in-nerhalb der EU zu bekämpfen. Das betrifft Herrn Tsiprasgenauso wie auf der anderen Seite Herrn Orban.
Noch eines muss klar sein, bei allem Verständnis fürkritische Töne hier: Es geht nicht, dass man von „Diktat“redet, wissend, dass hinter einer gemeinsamen Lösung inder EU nicht nur irgendwelche Verhandler stehen. Viel-mehr stehen politisch hinter einer gemeinsamen Lösungin der EU Jean-Claude Juncker, Martin Schulz,Dijsselbloem, auch Mario Draghi. Alle vier stehen fürIntegrität, für ein gemeinsames Europa, nicht für He-rausdrängen und auch nicht für Ausgrenzung. Das soll-ten wir hier im Deutschen Bundestag einmal deutlich un-terstreichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten bei man-chen Dingen nicht so tun, als wüssten wir alles oder alswären wir uns immer ganz sicher. Der Erhalt Griechen-lands im Euro beinhaltet viele Chancen.
– Ja, Kollege, „viele Milliarden“. – Wenn wir glauben,jetzt schon zu wissen, in welchen Zeiträumen Griechen-land in Europa und im Euro-Raum etwas nicht leistenkann, dann verdrängen wir wohl, dass Deutschland90 Jahre gebraucht hat, um bis zum Jahr 2010 seineSchulden von 1920 zurückzuzahlen. Das hätte 1920 nie-mand geahnt; aber es hat funktioniert,
auch weil man Deutschland eine Umschuldung ermög-licht hat. Reden wir doch auch einmal über diese Wahr-heiten und nicht nur darüber, was wir unseren Bürgerin-nen und Bürgern hier heute schon glauben machenwollen: dass alles scheitert. Wir selbst sind ein Beispieldafür, dass alles oder zumindest vieles gelingen kann.
Sagen wir noch eins: Jawohl, das, was Samstag/Sonn-tag seitens der Euro-Gruppe vorgeschlagen worden ist,war eine wichtige und richtige Grundlage. Es gibt einenPunkt, der nicht geklärt wurde, und über den müssen wirreden, nämlich über die Frage der Rente: Was bedeutetEKAS konkret? Es geht nicht darum, dass man insge-samt „oben“ etwas wegnimmt, sondern um diejenigen,die unter dem Mindesteinkommen liegen. Darüber mussman diskutieren. Das ist eine ganz sachliche Frage; dasbraucht man gar nicht aufzuheizen. Auch das muss manernst nehmen.
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Axel Schäfer
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregie-rung hat hier eine besondere Verantwortung. Es ist gut,dass unsere Kanzlerin und der Wirtschaftsminister, derauch mein Parteivorsitzender ist, gesagt haben: Wir ste-hen jederzeit bereit, offen zu diskutieren und Dinge auchwieder voranzubringen. – Denn eins ist auch klar – da-rauf brauchen wir keine Wette einzugehen –: Von jetzt,Mittwoch, 1. Juli 2015, etwa 15.27 Uhr, bis nächstenSonntag wird sich noch eine ganze Menge tun, vielleichtauch ein bisschen mehr, als wir bisher geglaubt haben.Auch das müssen wir ein Stück weit aufgreifen, undzwar mit einer gewissen Haltung, gerade gegenüber denMenschen in Griechenland als auch gegenüber den hierlebenden Griechen, die häufig ziemlich wohlklingendeNamen wie Leandros, Vassiliadis, Simitis usw. haben.Lassen Sie uns dazu beitragen, dass es am nächstenSonntag ein „Ja“ gibt.Auch ich persönlich will an Tsipras appellieren. Wenner am Freitag eine Fernsehansprache hält, soll er dieMöglichkeit nutzen, „Ja“ zu diesem Europa zu sagen.Denn eins geht nicht, für niemanden in der Politik: dassein Regierungschef eines Landes der EuropäischenUnion seinem Volk eine Frage zur Abstimmung vorlegt,mit „Nein“ gegen die Europäische Union zu stimmen.Das geht definitiv nicht.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa-che 18/5371. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-trag? – Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Alleanderen Fraktionen. Gibt es Enthaltungen? – Das istnicht der Fall. Damit ist der Entschließungsantrag mitden Stimmen der Koalition und der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion DieLinke abgelehnt worden.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:Befragung der BundesregierungDie Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-binettssitzung mitgeteilt: Entwurf eines Gesetzes zurUmsetzung der EU-Mobilitäts-Richtlinie.Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Vortragerhält die Bundesministerin für Arbeit und Soziales,Andrea Nahles. Frau Ministerin, Sie haben das Wort.Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit undSoziales:Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Die Bundesregierung hat heute ein klares Signalzur Stärkung der betrieblichen Altersversorgung gesetzt.Dabei werden wir zweigleisig vorgehen. Wir haben ei-nen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, um die EU-Mobilitäts-Richtlinie in deutsches Recht umzusetzen.Gleichzeitig erörtern wir mit den Beteiligten weiteremögliche Reformschritte. Dazu lassen wir parallel diestaatliche Förderung der Betriebsrenten wissenschaftlichaufarbeiten. Das Erste – die Vorgaben der europäischenRichtlinie, die wir in unser Betriebsrentengesetz umset-zen – möchte ich Ihnen heute kurz erläutern.Ziel ist, dass Arbeitgeberwechsel, insbesondere auchgrenzüberschreitende, nicht mehr an nationalen Be-triebsrentenregelungen scheitern. Wo Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmern beim Wechsel innerhalb der EUProbleme mit der betrieblichen Altersversorgung imWeg stehen, wollen wir diese Hindernisse beseitigen.Das betrifft durchaus wichtige Regelungsbereiche imBetriebsrentengesetz, die neu gefasst oder an die Richtli-nie angepasst werden müssen.Arbeitgeberfinanzierte Anwartschaften auf Betriebs-renten sollen künftig bereits nach drei Jahren unverfall-bar werden statt bislang nach einer Frist von fünf Jahren.Außerdem wird das Lebensalter, zu dem man frühestensden Arbeitgeber verlassen darf, ohne dass die Anwart-schaft verfällt, vom 25. auf das 21. Lebensjahr abge-senkt. Durch Gleichbehandlung von Anwartschaftenausgeschiedener Beschäftigter mit denen ihrer verbliebe-nen Kollegen wollen wir erreichen, dass ein Arbeitge-berwechsel der Betriebsrente nicht schadet. Wir wollenauch die Rechte der Beschäftigten stärken, wo es umAuskunft und Information geht, aber auch bei möglichenAbfindungen.In all diesen Punkten wollen wir die EU-Richtlinieeins zu eins umsetzen. In einem Punkt tun wir allerdingsmehr. Die neuen Vorgaben sollen nicht nur bei grenz-überschreitendem Arbeitgeberwechsel gelten. Das würdeBeschäftigte innerhalb Deutschlands diskriminieren, undes würde unnötige Bürokratie schaffen. Deshalb soll dasneue Recht für alle Beschäftigten gelten.Deutschland war in Sachen Mobilitäts-Richtlinie überJahre sehr kritisch, weil wir negative Auswirkungen aufdie Verbreitung von Betriebsrenten in unserem Landausschließen wollten. Mit unserer möglichst schonendenUmsetzung können wir das, so hoffe ich, erreichen. Wouns die Richtlinie Umsetzungsspielräume lässt, habenwir sie im Sinne des deutschen Systems genutzt. Das be-deutet zum Beispiel, dass wir die häufig abstrakten Vor-gaben der Richtlinie konkret ins Betriebsrentengesetzeingepasst und dabei den Besonderheiten des deutschenSystems, wo möglich, Rechnung getragen haben. Dassollte es auch den Praktikern vor Ort erleichtern, dasneue europaweite Recht anzuwenden.„Schonende Umsetzung“ heißt übrigens auch, dassdas neue Recht erst 2018 in Kraft treten soll und damitnur für Beschäftigungszeiten nach diesem Zeitpunkt gilt.Das schafft genügend Vorlauf für die Betriebsrentensys-teme, und das gibt Rechts- und Planungssicherheit. Ge-nau diese Sicherheit ist die Basis für den weiteren Auf-und Ausbau der betrieblichen Altersversorgung, den wiruns wünschen.Ich bin nun zuversichtlich, dass das neue Recht nichtnur die Mobilität innerhalb der EU fördert. Auch könnenkünftig mehr junge mobile Arbeitnehmerinnen und Ar-
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10982 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015
Bundesministerin Andrea Nahles
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beitnehmer als bisher unverfallbare Betriebsrentenan-sprüche erwerben.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Ein kleiner Hinweis für Sie, liebe Kol-
leginnen und Kollegen: Die Medienwände sind ausgefal-
len. Wir versuchen, die Störung zu beheben; das ist in
Arbeit. Die Uhren laufen aber. Deshalb erinnere ich Sie
noch einmal daran, dass wir eine Verständigung darüber
haben, dass Sie eine Minute für die Stellung der Frage
zur Verfügung haben und die Ministerin eine Minute für
die Antwort hat. Das ist eine ziemlich anspruchsvolle
Aufgabe; aber Sie werden sie meistern.
Mir liegen bereits zwei Wortmeldungen für Fragen
vor. Zuerst hat der Kollege Peter Weiß von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Frau Bundesministerin, Sie haben darauf hingewie-
sen, dass diese EU-Portabilitäts-Richtlinie, jetzt EU-Mo-
bilitäts-Richtlinie, auch bei uns im Deutschen Bundestag
sehr umstritten war und kritisiert wurde, weil wir keine
negativen Auswirkungen auf das deutsche Betriebsren-
tensystem wollen. Wie ist die Positionierung der Arbeit-
geber, also der Unternehmen, die die betriebliche Alters-
vorsorge anbieten, und der Gewerkschaften zu dem jetzt
vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung zur
Umsetzung der Richtlinie?
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Alle Beteiligten, also beide Sozialpartner, begrüßen
durchweg, dass wir den Handlungsspielraum, den uns
die EU-Richtlinie gegeben hat, voll ausschöpfen, auch
was die Regelung angeht, dass wir damit erst 2018 an
den Start gehen.
Insgesamt werden die von Europa vorgesehenen Neu-
regelungen von vielen deutschen Arbeitgebern immer
noch so bewertet, dass sie nicht förderlich sind, um einen
weiteren Ausbau der Betriebsrenten zu vollziehen. Sei-
tens der Gewerkschaften wird grundsätzlich begrüßt,
dass Beschäftigte künftig schneller und früher einen
Rechtsanspruch bekommen. Aber insgesamt wird es
eher als dämpfend empfunden. Es handelt sich jedoch
um eine Umsetzung, die wir vornehmen müssen.
Jetzt erhält der Kollege Matthäus Strebl das Wort für
eine Frage.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Ministerin, der-
zeit wird das Umsetzungsgesetz zur Pensionsfonds-
Richtlinie in der EU verhandelt. Meine Frage lautet: In
welchem Verhältnis steht dies zur EU-Mobilitäts-Richt-
linie? Meine zweite Frage: Muss das Betriebsrentenge-
setz dadurch noch einmal angepasst werden?
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Die EU-Pensionsfonds-Richtlinie beinhaltet finanz-
aufsichtsrechtliche Vorgaben. Das bedeutet, dass wir tat-
sächlich noch einmal eine rechtliche Änderung vorneh-
men müssen. Das wollen wir im Zusammenhang mit
dem Versicherungsaufsichtsgesetz angehen. Ich weiß
nicht genau, wann das der Fall sein wird; das müsste
eher das Finanzministerium wissen. Aber wir müssen
auch auf dieser Ebene noch eine Anpassung vollziehen.
Vielen Dank. – Als nächster Fragesteller hat der Kol-
lege Kurth von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Zunächst einmal sollte man den Zuschauerinnen undZuschauern auf der Tribüne erklären, dass bei dem For-mat der Regierungsbefragung nicht die Opposition dieThemen aussucht, sondern die Regierung sie festsetzt.Die sogenannte Portabilität von Betriebsrenten und dasZusammenwachsen innerhalb der EU auf diesem Gebietsind sicherlich sehr wichtig. Aber hier spielt eine Füllevon technischen Details eine Rolle, die meines Erach-tens in eine Ausschusssitzung gehören und nicht ins Ple-num, wo uns die breite Öffentlichkeit zuschaut.
Hier sollten wir eher Fragen diskutieren, die eine breiteÖffentlichkeit nachvollziehen kann und die sie betreffen.Beispielsweise haben Sie gestern zum Mindestlohn einePressekonferenz gemacht. Es wäre sehr schön gewesen,wenn wir das hier im Rahmen einer Regierungsbefra-gung hätten vertiefen können. Insofern ist meine Frage:Hatten Sie in der Kabinettssitzung keine spannenderenThemen als dieses zwar wichtige, aber doch eher techni-sche Thema?
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit undSoziales:Herr Kurth, das fragen Sie mich als Arbeits- und So-zialministerin? Das sind Themen meines Hauses, unddie finde ich alle brennend spannend.
Wenn Sie das nicht interessiert,
dann müssen Sie den Ausschuss wechseln. Das steht Ih-nen ja frei.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015 10983
Bundesministerin Andrea Nahles
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Im Übrigen weise ich darauf hin, dass die Frage, dieuns im Kabinett beschäftigt hat, eben in einer 125-minü-tigen Debatte ausführlich und für alle in der Öffentlich-keit nachvollziehbar diskutiert worden ist. Natürlich ha-ben wir heute auch über Griechenland geredet; das istdoch gar keine Frage. Aber dieses Land wird weiter gutregiert. Vielleicht kann man das nicht von allen anderenLändern sagen. Auch wenn es Krisen gibt, machen wirdas hier so seriös weiter, wie wir das gewohnt sind. Da-rauf können sich alle in unserem Land verlassen. WieSie wissen – Sie sind ja in dem Bereich Experte –, disku-tieren wir seit Jahren diese Frage, die für das Zusam-menwachsen Europas nicht unwichtig ist, um das esheute auch ging. Denn das, was wir heute hier schaffen,ist eine Grundlage für ein Mehr an Miteinander in Eu-ropa, nicht für ein Weniger.
Vielen Dank. – Als nächste Fragestellerin hat Kerstin
Tack von der SPD das Wort.
Schönen Dank. – Frau Ministerin, meine Frage be-
zieht sich auf die Regelung, die heute hier zur Debatte
steht, und nicht auf Themen, die eben nicht zur Debatte
stehen. Also: Wieso soll die neue Regelung, wonach die
Beschäftigten einer Abfindung zustimmen müssen, nicht
für innerstaatliche Arbeitgeberwechsel gelten?
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Bei uns ist eine Abfindung nicht dasselbe wie ein Be-
triebsrentenanspruch. Deswegen stehen wir dem grund-
sätzlich kritisch gegenüber. In vielen Ländern ist es üb-
lich, eine Abfindung zu zahlen. Was wir erreichen
wollen, ist ein Drei-Säulen-Modell, aus dem sich das ge-
samte Rentenniveau zusammensetzt. Das bedeutet eben,
dass ein Betriebsrentenanspruch ein wichtiger Teil der
Grundversorgung im Alter ist. An diesem Prinzip halten
wir fest, und das wollen wir auch in Zukunft nicht än-
dern.
Als nächste Fragestellerin hat Jana Schimke von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Ministerin, ich habe eine kurze Frage. Wir sind
uns darin einig, dass die betriebliche Altersvorsorge eine
ganz zentrale Bedeutung für die Altersvorsorge insge-
samt hat. Wir wollen die zweite und dritte Säule auch
weiter stärken. Allerdings müssen wir dabei die Situa-
tion der Unternehmen berücksichtigen, ob sie also in der
Lage sind, das, was wir uns wünschen, umzusetzen.
Meine Frage an Sie ist: Wie hoch ist der Erfüllungsauf-
wand der Wirtschaft in Verbindung mit diesem Gesetz?
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Wir haben bei der Umstellung einen einmaligen Er-
füllungsaufwand für die Wirtschaft in Höhe von
155 Millionen Euro. Danach wird der Erfüllungsauf-
wand auf 135 000 Euro jährlich heruntergehen, also
deutlich geringer sein. Aber diesen einmaligen Umstel-
lungsaufwand haben wir.
Als nächster Fragesteller hat Ralf Kapschak von der
SPD-Fraktion das Wort.
Eine Vorbemerkung: Ich fände es ausgesprochen
schade, wenn der Kollege Kurth den Ausschuss wech-
seln würde.
Aber das ist dann vielleicht mein persönliches Problem.
– Okay, machen wir.
Frau Ministerin, Sie haben es angesprochen: Wir ha-
ben uns den ganzen Vormittag über ein zusammenwach-
sendes Europa unterhalten. Deshalb ist meine Frage:
Wie gehen andere Länder der EU mit der Umsetzung der
Richtlinie um?
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Im Moment setzen alle die Richtlinie um. Wir gehen
davon aus, dass das weitgehend problemlos verläuft. Die
Betriebsrentenstrukturen in den EU-Ländern sind sehr
unterschiedlich; aber bisher haben wir keine Kenntnis
davon, dass es Probleme gibt. Wir erleben aber auch in
Gesprächen mit den europäischen Kollegen, dass viele
die Richtlinie zum letztmöglichen Zeitpunkt umsetzen,
nämlich Mitte 2018. Wir liegen da sicherlich im guten
Mittelfeld.
Vielen Dank. – Als nächste Fragestellerin hat die Kol-
legin Brigitte Pothmer von der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Frau Ministerin, Sie haben gerade gesagt, dass Sie dieEU-Richtlinie hier eins zu eins umsetzen wollen. Giltdas eigentlich auch für die automatische Auskunfts-pflicht?Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit undSoziales:Ja, auch die Transparenzregeln sind verbessert wor-den.
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10984 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015
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(B)
Jetzt hat Albert Weiler von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort für eine Frage.
Sehr geehrte Ministerin, vielen Dank, dass Sie sich
heute hier den Fragen stellen. – Herr Kurth, ob Sie den
Ausschuss aufgeben oder nicht, müssen Sie selber ent-
scheiden. Aber es gibt andere, bei denen es sinnvoll
wäre, wenn sie den Ausschuss verließen. Dann hätten
wir dort viel sinnvolle Zeit gespart.
Aber jetzt zur Frage. Mich interessieren die Steuern.
Werden die Änderungen bei den Unverfallbarkeitsfristen
steuerlich begleitet, und, wenn ja, was wird das den
Steuerzahler kosten?
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Ja, die Absenkung der Unverfallbarkeitsfristen erfor-
dert im Einkommensteuergesetz Anpassungen bei den
Regelungen zur Bildung von Pensionsrückstellungen
und bei der Abzugsfähigkeit von Zuwendungen an Un-
terstützungskassen. Dies führt zu Steuermindereinnah-
men in Höhe von 65 Millionen Euro in der vollen Jah-
reswirkung.
Jetzt hat Katja Mast von der SPD-Fraktion das Wort.
Frau Ministerin, inwiefern werden die Informations-
rechte der Beschäftigten durch die Umsetzung dieser
Richtlinie verbessert?
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Das hatte Frau Pothmer schon angesprochen. Künftig
haben neben den Beschäftigten auch ausgeschiedene Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Hinter-
bliebenen explizit einen Auskunftsanspruch im Betriebs-
rentengesetz. Der Informationsanspruch wird außerdem
präzisiert. So müssen Beschäftigte auf Verlangen zum
Beispiel auch darüber informiert werden, wie hoch die
Betriebsrente zum Rentenbeginn voraussichtlich sein
wird. Damit können die Beschäftigten einschätzen, ob
und in welchem Umfang sie gegebenenfalls noch weiter
vorsorgen müssen. Das ist eine deutliche Verbesserung
bei der Umsetzung der EU-Richtlinie.
Jetzt hat wiederum der Kollege Markus Kurth für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Mit Interesse nehme ich zur Kenntnis, wer mich gerne
weiter im Ausschuss arbeiten sieht und wer nicht. Es
muss sich aber jetzt nicht jede Kollegin und jeder Kol-
lege bei einer Wortmeldung dazu äußern.
Frau Ministerin, die Bundesvereinigung der Deut-
schen Arbeitgeberverbände hat durchaus Befürchtungen,
dass mit der Umsetzung der Mobilitäts-Richtlinie durch
die neuen Pflichten und durch zusätzliche Kosten die
Attraktivität der Einrichtung einer Betriebsrente ge-
schwächt werden könnte. Gleichzeitig plant Ihr Haus
noch einen Gesetzentwurf, um die Betriebsrente mit
Pensionsfonds obligatorisch zu gestalten. Hier sind es
sogar beide Sozialpartner – der DGB und die BDA –, die
befürchten, dass bewährte zuverlässige Betriebsrenten-
modelle dadurch eher geschwächt als gestärkt werden.
Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund Ihrer eigenen,
noch nicht vorliegenden Pläne plus der Umsetzung der
Mobilitäts-Richtlinie die Zukunft des Modells der Be-
triebsrente? Sehen Sie hier Risiken, die Sie womöglich
selbst auslösen?
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Von der Planung, dass wir ein Obligatorium gesetz-
lich festschreiben wollen, habe ich keine Kenntnis. Das
ist eine überraschende Neuigkeit, Herr Kurth. Allerdings
wollen wir eine Optimierung der staatlichen Förderung
von Betriebsrenten in den Mittelpunkt stellen. Dazu wird
derzeit – das liegt in der Zuständigkeit des BMF – ein
wissenschaftliches Gutachten erstellt, das wir Ende des
Jahres erwarten. Sie wissen, dass wir beide, BMF und
BMAS, für dieses Thema zuständig sind, weil es uns
beide – einmal Steuern, einmal Sozialversicherungsbei-
träge – berührt. Ich bin auf die Ergebnisse dieses For-
schungsvorhabens gespannt.
Darüber hinaus haben wir vom BMAS einen Vor-
schlag gemacht, wie wir die Einbindung der Sozialpart-
ner verbessern können, also auch der Arbeitgeberseite,
die Bedenken hat. Diesen Vorschlag – wir haben das
„Neues Sozialpartnermodell Betriebsrente“ genannt –
haben wir zur Diskussion gestellt. Es hat auch eine mun-
tere Diskussion gegeben. Einiges aus dieser Diskussion
haben wir aufgenommen; insofern überarbeiten wir das
Modell gerade. Politische Festlegungen, in welche Rich-
tung wir gehen, hat es noch nicht gegeben.
Vielen Dank. – Jetzt hat wiederum Brigitte Pothmer
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Möglich-
keit zur Frage.
Herr Kurth hat schon darauf hingewiesen, dass es beiden Arbeitgebern Befürchtungen gibt, dass es zu einemMehraufwand kommt. Könnten Sie das hier ein bisschengenauer darstellen? Zu welchem Mehraufwand bei denArbeitgebern kommt es durch das neue Vorhaben?
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015 10985
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Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit undSoziales:Das kann ich Ihnen nicht sagen, weil es noch kein ve-rifiziertes, festes neues Vorhaben gibt. Wir sind nochmitten in der Diskussion.
– Erstens. Ich kann Sie nicht verstehen. Zweitens. Ichhabe Sie mit meiner Antwort nicht zufriedengestellt; dasentnehme ich Ihrem Gesichtsausdruck.
Drittens. Sie können gerne noch einmal fragen. Lippenlesen kann ich noch nicht.
Frau Pothmer, Sie haben natürlich die Möglichkeit,
sich noch einmal für eine Frage zu melden. – Zunächst
hat aber der Kollege Weiß das Wort.
Frau Bundesministerin, es ist zu Recht darauf hinge-
wiesen worden, dass die betriebliche Altersvorsorge als
zweite Säule des Alterssicherungssystems in Deutsch-
land stärker ausgebildet werden sollte. Da ist die Umset-
zung der Mobilitäts-Richtlinie nur ein Aspekt. Nachdem
Kollege Kurth Sie nach dem einen Änderungsvorschlag,
den es seitens des BMAS gab, gefragt hat, ist meine
Frage: Was ist das Ziel der Gutachten zur betrieblichen
Altersvorsorge, die zum einen das BMAS – es ist bereits
auf der Homepage veröffentlicht – und zum anderen das
Bundesfinanzministerium in Auftrag gegeben haben?
Werden wir uns im kommenden Jahr mit nur einem Vor-
schlag oder eventuell mit einem ganzen Maßnahmen-
bündel zur Stärkung der betrieblichen Altersvorsorge be-
schäftigen?
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Der Schwerpunkt des Forschungsvorhabens des BMF
ist die Beurteilung der finanziellen Förderung der Be-
triebsrenten auf längere Sicht. Fast alle Betriebsrenten-
modelle werden gefördert, entweder durch steuerliche
Privilegierung oder durch direkte Hilfen. Wir wollen
wissen, was auf lange Sicht am besten wirkt, was vor al-
lem für die Arbeitnehmer am besten ist, wo es den bes-
ten Kosten-Nutzen-Effekt gibt, den wir als Staat mit un-
seren unterstützenden Leistungen erzielen können. Das
ist es, was das BMF in einem Forschungsvorhaben zu er-
mitteln versucht, dessen Ergebnisse Ende des Jahres vor-
liegen werden. Das werden wir dann zum Anlass neh-
men, gemeinsam einen Vorschlag zu machen. Es gibt mit
Sicherheit gemeinsame Vorschläge und nicht einen wil-
den Haufen von Vorschlägen. Der gemeinsame Vor-
schlag – da haben Sie vollkommen recht, Herr Weiß –
wird wahrscheinlich mehrere Aspekte umfassen.
Ich persönlich wünsche mir insbesondere eine Ver-
breitung der Betriebsrenten bei den kleinen und mittle-
ren Unternehmen. Nahezu alle großen Unternehmen bie-
ten eine gute Versorgung mit Betriebsrenten. 60 Prozent
der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutsch-
land haben eine Betriebsrente; das entspricht der sehr
großen Zahl – man glaubt es gar nicht – von 17 Millio-
nen Menschen. Wenn man aber genauer hinschaut und
die Größe der Unternehmen berücksichtigt, stellt man
fest, dass die Lücke bei kleinen und mittleren Unterneh-
men noch sehr groß ist. Insofern ist Ziel unserer Überle-
gungen, herauszufinden, wie wir die Betriebsrente dort
verbreiten können. Darauf zielt auch der Vorschlag, den
wir öffentlich gemacht haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu diesem Thema
liegen mir keine weiteren Fragen vor. Deshalb frage ich
Sie: Gibt es Fragen zu anderen Themen der heutigen Ka-
binettssitzung? – Ja. Herr Kollege.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Bundes-
ministerin, wir diskutieren seit mehreren Monaten
– muss man jetzt schon sagen – die Klimaabgabe für
Kohlekraftwerke als Teil des Aktionsprogramms Klima-
schutz 2020. Meine Frage: War dieses Thema, mit dem
weitere energiepolitische Maßnahmen verknüpft sind
– Weißbuch Strommarktdesign, Leitungsausbau –, Ge-
genstand der Kabinettssitzung, auch vor dem Hinter-
grund, dass sich heute Abend, wie ich Medien entnehme,
ein Koalitionsgipfel mit diesem Thema beschäftigt?
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Erstens. Nein, wir hatten heute genug anderen Stoff,
von dem schon die Rede war, zu besprechen. Es ging
wirklich um andere Fragen. Zweitens. Es gibt heute
Abend keinen Gipfel; jedenfalls ist mir das nicht be-
kannt.
Gibt es weitere Fragen? – Bitte, Herr KollegeStrengmann-Kuhn.
Ich möchte gerne eine Frage zum Thema „Griechen-land und die Rolle der Sozialminister in Europa“ stellen;denn es geht in diesem Zusammenhang ja auch sehrstark um soziale Fragen, um Renten- und Arbeitsmarkt-politik. Mich würde interessieren, wie Sie sich persön-lich oder die Gemeinschaft der Sozialminister in Europain die Debatte eingebracht haben, oder welche Möglich-keiten es gab, sich in die derzeitigen Gespräche und Ver-handlungen einzubringen, um dafür zu sorgen, dass dieProgramme sozial etwas ausgewogener gestaltet werdenals früher?Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit undSoziales:Seit Jahren, auch seitdem ich Ministerin bin, werdenintensive Gespräche dazu geführt. Wir haben gemeinsam
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10986 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015
Bundesministerin Andrea Nahles
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mit den Franzosen eine Initiative zur Bekämpfung derJugendarbeitslosigkeit gestartet und für einen schnelle-ren Mittelabfluss gesorgt. Auch das MobiPro-Programmwurde aktiv beworben. Mithilfe meines Hauses wurdendie Mittel für dieses Programm aufgestockt. Allerdingsmuss man dazusagen, dass die Nachfrage aus Portugalund Spanien die Nachfrage aus Griechenland deutlichübersteigt.Im Übrigen bin ich weder bei Krisengipfeln noch beisonstigen Treffen. Ich berichte Ihnen, was ich aus mei-nem Fachbereich beisteuern kann. Im Hinblick auf mög-liche Verwerfungen, die es in den nächsten Wochen undMonaten geben kann, habe ich meinem Haus bereits denAuftrag erteilt, zu prüfen, wo wir konkret Amtshilfe leis-ten können. Das haben wir, wenn es gewünscht wurde,in der Vergangenheit bereits getan. Wir haben uns zumBeispiel über ein Jahr darum bemüht, eine Sozialhilfe inGriechenland aufzubauen – allerdings ohne Erfolg.
Vielen Dank. – Gibt es weitere Fragen zu der heutigen
Kabinettssitzung? – Das ist nicht der Fall. Gibt es da-
rüber hinaus Fragen an die Bundesregierung? – Herr
Kurth.
In der Presse war zu lesen, dass die Koalitionsarbeits-
gruppe, die sich mit dem flexiblen Rentenübergang
– kurz: Flexirente – beschäftigt, erneut zu keinen Ergeb-
nissen kommen wird. Durch eine Wortmeldung im Aus-
schuss habe ich heute erfahren, das Bundesministerium
habe sich sogar aus der Begleitung dieser Arbeitsgruppe
vollständig zurückgezogen. Würden Sie der Einschät-
zung zustimmen, dass diese Koalitionsarbeitsgruppe
praktisch so gut wie gescheitert ist?
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Das ist eine Fraktionsarbeitsgruppe, und ich bin Mit-
glied der Regierung. Ich habe aber großes Zutrauen in
meine Kollegen. Sie werden sicherlich ein gutes Ergeb-
nis erzielen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit beende ich
die Befragung der Bundesregierung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
Drucksache 18/5341
Ich möchte darauf hinweisen, dass für die heutige
Fragestunde 90 Minuten vorgesehen sind.
Gestatten Sie mir einen weiteren Hinweis. Zur Erin-
nerung: Für die Beantwortung der ersten Frage sind zwei
Minuten vorgesehen, für die folgenden Fragen und Ant-
worten jeweils eine Minute. Den Ablauf der Zeit sehen
Sie, wie gehabt, anhand der Uhren.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministe-
riums des Innern auf.
In den Fragen 1 und 2 der Abgeordneten Renner geht
es um Informationen zu Quellenmeldungen eines neona-
zistischen V-Mannes und dessen Vernehmung durch das
BKA und den Generalbundesanwalt. Diese Fragen wer-
den schriftlich beantwortet.
In Frage 3 der Abgeordneten Heike Hänsel geht es
um eine mögliche deutsche Beteiligung an Spionagean-
griffen auf die französische Regierung durch die US-
amerikanischen Nachrichtendienste. Diese Frage wird
ebenfalls schriftlich beantwortet.
Die Frage 4 des Abgeordneten Andrej Hunko, in der
es um Änderungen bei der Planung und Durchführung
von gemeinsamen Projekten des BND, des BKA und der
Bundespolizei mit ägyptischen Sicherheitsbehörden
geht, wird auch schriftlich beantwortet.
Das Gleiche gilt für die Frage 5 der Abgeordneten
Ulla Jelpke, die sich auf die Anwendung der Genfer
Flüchtlingskonvention bei einer Einreise von Flüchtlin-
gen nach Deutschland über ein Drittland bezieht.
Ich rufe die Frage 6 des Kollegen Konstantin von
Notz auf:
Haben, auch vor dem Hintergrund, dass der Journalist
Ahmad Mansur nicht bereits bei seiner Einreise verhaftet
wurde, deutsche Geheimdienste und bzw. oder Polizeibehör-
den ihn während seines Aufenthaltes beobachtet, und welche
Erkenntnisse wurden hierbei gesammelt, die eine Verhaftung
bei seiner Ausreise gerechtfertigt erscheinen ließen?
Herr Staatssekretär Dr. Krings, Sie haben das Wort.
D
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Kollege von Notz, wir hatten heute schon
im Ausschuss Gelegenheit, uns über diese Frage auszu-
tauschen. Das, was ich Ihnen im Ausschuss gesagt habe,
sage ich Ihnen gerne auch noch einmal hier im Plenum
des Deutschen Bundestages: Eine Beobachtung von
Ahmad Mansur durch deutsche Nachrichtendienste und/
oder Polizeibehörden während seines Aufenthalts in
Deutschland fand nicht statt.
Ich vermute, dass Sie eine Nachfrage haben, HerrKollege.
So ist das, Herr Präsident. Herzlichen Dank. – VielenDank, Herr Staatssekretär. Gab es denn während des Be-suchs des ägyptischen Präsidenten irgendeinen Aus-tausch über ägyptische Oppositionelle oder Ähnlicheszwischen deutschen Sicherheitsbehörden, deutschenStellen und dem ägyptischen Präsidenten und den Leu-ten, die mit ihm hier waren?
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015 10987
(C)
(B)
D
Das ist mir, lieber Herr Kollege, so nicht bekannt. Ich
habe dieses Thema aber auch nicht vorher aufbereitet,
weil es etwas entfernt ist vom Thema Mansur. Wenn Sie
mögen, können wir das gerne eruieren.
Haben Sie noch eine Zusatzfrage?
Nein, das wäre es erst einmal. Die nächste Runde geht
ja, glaube ich, an das Justizministerium.
Ja, aber so weit sind wir noch nicht. – Kollege
Ströbele, bitte.
Danke. – Im Anschluss an die Frage des Kollegen von
Notz habe ich eine weitere Frage dazu: Ich habe der
Presse entnommen, dass bei den Gesprächen der
Bundeskanzlerin mit dem Präsidenten Ägyptens, Herrn
el-Sisi, auch über die Rechtsprechung in Ägypten gere-
det worden ist, insbesondere über Urteile, auch über To-
desurteile. Ist in diesem Zusammenhang auch erwähnt
worden, wie man es mit einer möglichen Hilfe deutscher
Behörden bei Strafverfahren oder der Vollstreckung von
Strafurteilen aus Ägypten hält?
D
Ich habe natürlich vernommen, Herr Kollege, dass
auch Menschenrechtsfragen Thema der Gespräche wa-
ren, dass die Kanzlerin dies angesprochen hat. Details
dazu kann ich Ihnen ad hoc nicht nennen. Das müssten
wir eruieren, weil ich bei diesen Gesprächen persönlich
nicht zugegen war.
Sie kennen die Rechtslage in Deutschland und wis-
sen, dass eine Auslieferung beispielsweise dann nicht
möglich ist, wenn eine Todesstrafe droht. All diese
Dinge, die wir mit gutem Recht und aus gutem Grund in
unserem Recht verankert haben, sind Ihnen ja bekannt.
Danke schön. – Wir wechseln zum Geschäftsbereich
des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucher-
schutz, bleiben aber zunächst bei dem Thema „Umstände
der Festnahme des ägyptischen Journalisten Ahmad
Mansur“. Der Parlamentarische Staatssekretär Christian
Lange steht zur Beantwortung bereit.
Ich rufe die Frage 7 des Abgeordneten Dr. Konstantin
von Notz auf:
Bestätigt die Bundesregierung, dass dem zuständigen
Bundesamt für Justiz sowie dem Auswärtigen Amt zum Zeit-
punkt ihrer Entscheidung im Fall Ahmad Mansur die über das
Bundeskriminalamt an sie weitergeleiteten, für diesen Fall
ausgesprochenen Warnungen von Interpol vorlagen, und,
wenn ja, von wem wurde gleichwohl von beiden Behörden of-
fenkundig eine Festsetzung von Ahmad Mansur befürwortet
?
Bitte.
C
Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich weise ebenso wie
mein Kollege aus dem Bundesinnenministerium darauf
hin, dass wir diese Frage bereits heute Vormittag im
Ausschuss ausführlich behandelt haben.
Gerne beantworte ich die Frage des Kollegen wie
folgt: Dem Bundesamt für Justiz, welches die Aufgaben
des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucher-
schutz nach § 74 Absatz 1 des Gesetzes über die interna-
tionale Rechtshilfe in Strafsachen aufgrund des Übertra-
gungserlasses vom 2. Januar 2007 wahrnimmt, und dem
Auswärtigen Amt lag zum Zeitpunkt der Entscheidung
über das ägyptische Fahndungsersuchen gegen Herrn
Mansur eine E-Mail von Interpol vom 20. Oktober 2014
vor, in der Interpol mitteilte, das Fahndungsersuchen
verstoße gegen Artikel 3 der Interpol-Statuten und werde
deswegen nicht durch Interpol veröffentlicht.
Das Auswärtige Amt hat bei der Prüfung, ob das ge-
gen den Verfolgten in Ägypten geführte Strafverfahren
politisch motiviert ist, keine entsprechenden Erkennt-
nisse gewinnen können, zumal sich weder aus dem
Fahndungsersuchen selbst noch aus der Interpol-War-
nung klar ergab, dass es sich bei dem Verfolgten um
einen Journalisten handelt. Es lagen keinerlei Informa-
tionen darüber vor, dass der Verfolgte der Muslimbrü-
derschaft nahesteht. Auch der Tatvorwurf des nationalen
ägyptischen Haftbefehls, die rechtswidrige Gefangen-
nahme und Folterung eines Rechtsanwalts, ließ für sich
genommen nicht den Schluss auf eine politische Verfol-
gung zu.
Auch dem Bundesamt für Justiz lagen keine derarti-
gen Anhaltspunkte oder weitere Informationen vor, die
einen zulässigen Rückschluss auf eine politische Straftat
nach § 6 IRG und damit zur Unzulässigkeit der Ausliefe-
rung zugelassen hätten.
Zusatzfrage, Herr Dr. von Notz?
Die gibt es. – Herr Staatssekretär, vielen Dank für die
Antwort. Nun ist es so, dass die Problematik mit diesen
internationalen Haftbefehlen nicht gänzlich neu ist.
Schon vor Monaten war ein ganzes SZ-Magazin mit pro-
blematischen Fällen gefüllt. Deswegen frage ich: Wie ist
denn der aktuelle Stand der Diskussion im Bundesjustiz-
ministerium, wie man zukünftig ähnliche hochnotpeinli-
che Missverständnisse verhindern will?
C
Herr Präsident, ich würde meine Antwort gerne mitder Antwort auf die Frage 12 der Kollegin Haßelmann
Metadaten/Kopzeile:
10988 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015
Parl. Staatssekretär Christian Lange
(C)
(B)
verbinden, die genau nach den Konsequenzen aus die-sem Fall fragt. Wenn ich das damit verbinden darf, dannhätten wir damit auch diese Frage gleich erledigt.
Das können wir nicht so machen, weil Frau
Haßelmann noch nicht da ist. Dadurch würde dann ihr
Nachfragerecht verwirkt. Sie müssen die Frage also net-
terweise zweimal beantworten. Das passiert im Plenum
schon einmal. Es trägt übrigens zur Erkenntnisbildung
bei, wenn man etwas zweimal hört. Insofern müssen Sie
es gleich bitte noch einmal beantworten.
C
Ich beantworte sie gerne auch zweimal. Jetzt zum ers-
ten Mal: Der Bundesregierung liegen keine statistischen
Daten vor – Frau Haßelmann hat ja im Zusammenhang
mit der Sorge von Reporter ohne Grenzen danach ge-
fragt –, dass Interpol-Rot- oder -Blauecken vermehrt ge-
gen Dissidenten ausgestellt werden. Nach diesem politi-
schen Zusammenhang hatten Sie gefragt. Die Mitteilung
von Interpol, dass ein Fahndungsersuchen aufgrund ei-
nes politischen Hintergrunds gegen Artikel 3 der Inter-
pol-Statuten verstößt, enthält in der Regel keine weitere
Begründung. Darüber gab es – Sie weisen zu Recht da-
rauf hin – schon mehrere Veröffentlichungen. Zudem
enthalten die Fahndungsersuchen nur einen rudimentä-
ren Sachverhalt, der nur eine summarische Prüfung zu-
lässt.
Zur Frage, ob eine Verfolgung aus politischen Moti-
ven erfolgt, wird dem Bundesamt für Justiz, welches die
Aufgaben des Bundesministeriums der Justiz und für
Verbraucherschutz nach § 74 Absatz 1 IRG aufgrund des
Übertragungserlasses wahrnimmt, vom Auswärtigen
Amt nach Beteiligung der Auslandsvertretung in dem je-
weiligen Staat eine Einschätzung übermittelt.
Wenn sich insgesamt für das Bundesamt für Justiz
Anhaltspunkte dafür ergeben, dass eine exponierte Per-
son verfolgt wird, erfolgt eine Recherche in öffentlich
zugänglichen Quellen, um diese zu verifizieren. Ferner
wird versucht, Informationen zu möglicher politischer
Verfolgung im ersuchenden Staat zusammenzutragen.
Diese können aus vorangegangenen Verfahren, Berich-
ten von multilateralen Organisationen, wie den UN oder
dem Europarat, und Nichtregierungsorganisationen ge-
wonnen werden.
Vor einer abschließenden Entscheidung wird das Bun-
desamt für Justiz zukünftig über die allgemeine Be-
richtspflicht in Angelegenheiten besonderer Bedeutung
hinaus in Fällen, in denen Interpol einen Warnhinweis
herausgegeben hat, unserem Haus, dem Bundesministe-
rium der Justiz und für Verbraucherschutz, berichten.
Ferner wird das Bundesministerium der Justiz und für
Verbraucherschutz in Zusammenarbeit mit dem Bundes-
amt für Justiz Qualitätskriterien für die Überprüfung von
Fahndungsersuchen entwickeln und fortentwickeln und
entsprechende Fortbildungen für die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter anbieten.
Im Auswärtigen Amt wird künftig mit diesen Fällen
zusätzlich eine höhere Ebene der Hierarchie in den betei-
ligten Referaten und in den Auslandsvertretungen be-
fasst werden.
Haben Sie noch eine Zusatzfrage?
Eine habe ich noch.
Dürfen Sie. Bitte.
Was schätzen Sie, wie viele Fälle sind pro Jahr betrof-
fen? Was für einen Aufwand bedeutet diese Überprü-
fung, die, wenn ich es richtig verstehe, ab jetzt stattfin-
den wird, im Hinblick auf die Vielzahl von Ländern, die
offenbar in dieses System einmelden? Ich denke auch
zum Beispiel an Russland.
C
Ich kann keine Schätzungen abgeben, aber ich kann
Ihnen sagen, wie es im vergangenen Jahr, im Jahr 2014,
war, damit man einen ungefähren Eindruck bekommt.
Im BfJ, also im Bundesamt für Justiz, sind im Jahr 2014
3 818 Fahndungsersuchen eingegangen, über die zu ent-
scheiden war. In 70 Fällen hat Interpol den entsprechen-
den Hinweis gegeben, dass die weitere Nutzung der
Möglichkeiten von Interpol nach interner Prüfung nicht
zulässig sei – allerdings, wie wir wissen, ohne Begrün-
dung, ohne alles. In drei dieser Fälle ist die verfolgte
Person in Deutschland gleichwohl ausgeschrieben wor-
den, und zwar in zwei Fällen zur Aufenthaltsermittlung
und in einem Fall, im Fall Mansur, zur Festnahme.
Herzlichen Dank.
Wir bleiben beim Thema, aber wechseln den Frage-steller.Ich rufe die Frage 8 des Abgeordneten Hans-ChristianStröbele zum gleichen Komplex auf:Warum antworteten das Bundesministerium der Justiz undfür Verbraucherschutz sowie das Auswärtige Amt Anfang Ja-nuar 2015 auf die Anfrage des Bundeskriminalamtes zu demJournalisten Ahmad Mansur trotz der bekannten Menschen-rechtslage in Ägypten, „dass gegen eine nationale Ausschrei-bung zur Festnahme keine Bedenken bestehen“, obwohl Inter-pol im Herbst 2014 nach dem ägyptischen Haftbefehl derdeutschen Seite auch seine Bedenken zugeleitet hatte, dieserHaftbefehl missbrauche das Interpol-Instrumentarium undverstoße gegen das Verbot politischer Verfolgung, § 6 des Ge-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015 10989
Vizepräsident Peter Hintze
(C)
(B)
setzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen, IRG,
, und weshalb hat die
Bundespolizei Ahmad Mansur erst am 20. Juni 2015 in Berlinfestgenommen, aber nicht schon bei seiner vorherigen Ein-reise nach Deutschland aus Sarajevo am 16. Juni 2015?Bitte, Herr Staatssekretär.C
Dem Kollegen Ströbele habe ich bereits heute Vormit-
tag im Ausschuss ausführlichst geantwortet. Ich muss
das auch jetzt tun, Herr Präsident. Deswegen muss ich
die mir zugewiesene Zeit deutlich überschreiten. Ich
werde es trotzdem beschleunigt machen.
Das ist genehmigt, weil ja auch die Frage sehr, sehr
lang ist und der Fragesteller sicherlich eine interessante
und vollständige Auskunft erwartet.
C
Davon gehe auch ich aus; vielen Dank. – Herr Kol-
lege, das Bundesministerium der Justiz und für Verbrau-
cherschutz war mit dem Vorgang zum ersten Mal nach
der Festnahme von Herrn Mansur befasst.
Eine Fahndung im Inland wird vom Bundesamt für
Justiz, welches die Aufgaben des Bundesministeriums
nach § 74 Absatz 1 des Gesetzes über die internationale
Rechtshilfe in Strafsachen aufgrund des Übertragungser-
lasses vom 2. Januar 2007 wahrnimmt, im Einverneh-
men mit dem Auswärtigen Amt bewilligt, wenn auf-
grund summarischer Prüfung – summarischer Prüfung! –
keine offensichtlichen Gründe für die Annahme vorlie-
gen, dass eine Auslieferung nicht bewilligt werden kann,
was einer Festnahme entgegenstünde. Die Zuständigkeit
für die etwaige spätere Bewilligung einer Auslieferung
führt dazu, dass die genannten Behörden am Anfang des
Verfahrens gleichsam eine Filterfunktion im Wege einer
summarischen Prüfung wahrnehmen. Im Einzelnen setzt
eine Bewilligung einer Fahndungsausschreibung insbe-
sondere voraus, dass die verfolgte Person, der Staat, an
den die Auslieferung in Betracht kommt, die zur Last ge-
legte Tat und der Haftgrund bekannt sind. Dem Bundes-
amt für Justiz obliegt in jedem Einzelfall die Prüfung, ob
die Voraussetzungen der Auslieferung vorliegen und ob
Anhaltspunkte vorhanden sind, die die Ablehnung der
Auslieferung begründen können. Zu den rechtlichen Vo-
raussetzungen einer Auslieferung gehört zum Beispiel,
ob die Tat auch nach deutschem Recht strafbar wäre. Zu
den Ablehnungsgründen zählt insbesondere auch die
Frage, ob eine politische Verfolgung vorliegt; § 6 Ab-
satz 1 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in
Strafsachen.
Bei dieser Prüfung kommt einer Mitteilung von Inter-
pol, dass das Fahndungsersuchen gegen die Interpol-Sta-
tuten verstößt, eine Indizwirkung zu. Bindend ist eine
solche Stellungnahme nicht, da die Definition der politi-
schen Verfolgung im deutschen Recht nicht mit der in
den Interpol-Statuten identisch ist. Artikel 3 der Inter-
pol-Statuten soll die Neutralität von Interpol wahren,
während § 6 Absatz 1 des Gesetzes über die internatio-
nale Rechtshilfe in Strafsachen dem Schutz der verfolg-
ten Person vor ungerechtfertigter Verfolgung dient.
Das Auswärtige Amt hat bei der Prüfung, ob das ge-
gen den Verfolgten in Ägypten geführte Strafverfahren
politisch motiviert ist, keine entsprechenden Erkennt-
nisse gewinnen können, zumal sich weder aus dem
Fahndungsersuchen selbst noch aus der Interpol-War-
nung ein eindeutiger Hinweis ergab, dass es sich bei dem
Verfolgten um einen Journalisten handelt. Ferner lagen
keinerlei Informationen darüber vor, dass der Verfolgte
aktives Mitglied der Muslimbrüderschaft ist. Auch der
Tatvorwurf, die rechtswidrige Gefangennahme und Fol-
terung eines Rechtsanwalts durch Herrn Mansur, ließ für
sich genommen nicht den Schluss auf eine politische
Verfolgung zu.
Herr Mansur besitzt sowohl die britische als auch die
ägyptische Staatsangehörigkeit. Ausweislich der der
Bundespolizei vorliegenden Informationen ist er als
Staatsangehöriger Ägyptens derzeit nicht im Besitz eines
gültigen Schengen-Visums. Insofern ist zu vermuten,
dass Herr Mansur bei seiner Einreisekontrolle am Flug-
hafen München seinen britischen Reisepass vorlegte.
EU-Bürger dürfen nach Artikel 7 Absatz 2 der Verord-
nung Nr. 562/2006 nicht systematisch in den Per-
sonenfahndungsdateien überprüft werden. Insofern ist zu
vermuten, dass diese Personenfahndungsabfrage bei der
Einreisekontrolle nicht erfolgte und deshalb die Fahn-
dungsnotierung nicht festgestellt wurde.
Haben Sie eine Zusatzfrage, Herr AbgeordneterStröbele?
Ja. – In der Tat, Herr Staatssekretär, haben Sie weitge-hend dasselbe, was Sie jetzt vorgetragen haben, auchschon im Rechtsausschuss vorgetragen. Ich habe auch daschon Fragen gestellt; sie wurden auch beantwortet.Aber die Frage, die ich jetzt stelle, habe ich da nochnicht gestellt. Deshalb: Machen Sie sich auf etwas Neuesgefasst.
Nach dem, was Sie im Rechtsausschuss mitgeteilt ha-ben – ich glaube, Sie haben das auch jetzt angedeutet –,lagen hier zwei Warnhinweise vor. Ein Warnhinweis warvom 15. Januar, ein zweiter stammte aus dem Juni 2015.Haben Sie dieses Insistieren und das besondere Engage-ment von Interpol – das ja in zwei Anfragen oder Hin-weisen zum Ausdruck kam – nicht dazu bewogen, dieseSache besonders gründlich zu überprüfen und intensivauch bei der deutschen Botschaft in Ägypten nachzufra-gen, ob dort nicht Erkenntnisse vorliegen? Denn Siehaben ja eben bei der von Ihnen angeführten Statistikgesagt, dass bei über 3 000 Anfragen alle 70 Beanstan-dungen außer der Sache Mansur letztlich Erfolg gehabthätten.
Metadaten/Kopzeile:
10990 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015
(C)
(B)
C
Herr Präsident, ich weise auch in diesem Fall darauf
hin, dass diese Frage identisch ist mit Frage 9 der Frau
Abgeordneten Dr. Brantner. Ich bitte darum, diese Frage
und damit ebenfalls Frage 9 zu beantworten. Wenn das
genehmigt wird, würde ich es gerne so machen.
Frau Brantner hat natürlich alle ihre Zusatzfragen.
Aber versuchen Sie es einmal. Ich rufe daher auch
Frage 9 auf:
Mit welchem Inhalt sprach Ägypten am 18. Mai 2015 ein
weiteres Fahndungsersuchen für Ahmad Mansur aus, und mit
welchem Inhalt haben das Auswärtige Amt und das Bundes-
C
Ich beantworte die Frage von Frau Dr. Brantner und
Ihre Frage hiermit wie folgt: Am 18. Mai 2015 wurde
kein weiteres Fahndungsersuchen gestellt, sondern le-
diglich das bereits bekannte Ersuchen wiederholt. Bis
zur Festnahme von Herrn Mansur haben Auswärtiges
Amt und Bundesamt für Justiz keine Stellung dazu ge-
nommen.
Jetzt darf Herr Ströbele noch eine Frage dazu stellen,
und Frau Dr. Brantner darf noch zwei Fragen dazu stel-
len.
Ich habe noch eine Frage.
Die dürfen Sie stellen.
Auch im Rechtsausschuss habe ich Sie bereits darauf
hingewiesen, dass unmittelbar am gleichen Tage, wenige
Stunden nachdem Herr Mansur in Deutschland festge-
nommen worden war, – aus Pressemeldungen – die
Presse wusste das also – bekannt wurde, dass Herr
Mansur in Ägypten in Abwesenheit zu 15 Jahren Frei-
heitsstrafe verurteilt worden war. Das muss ja jeden
rechtsstaatlich denkenden Menschen alarmieren. Wieso
war Ihnen das nicht bekannt? Und wieso haben Sie nicht
ganz gezielt bei der deutschen Botschaft nachgefragt, ob
dieses Faktum, dass ein Mansur – einer der bekanntesten
Journalisten in diesem Erdteil –, ohne dass er anwesend
war, zu 15 Jahre Freiheitsstrafe verurteilt worden war,
bekannt sei? Das muss doch auch in der deutschen Bot-
schaft bekannt gewesen sein. Dann hätte eine entspre-
chende Rückantwort kommen müssen.
C
Herr Kollege Ströbele, Sie erinnern sich sicher auch
an die Antwort der Kollegin aus dem Auswärtigen Amt.
Dazu hat das Bundesministerium der Justiz und für Ver-
braucherschutz nicht Stellung genommen, weil es nicht
in unsere Ressortzuständigkeit fällt. Ich will aber der
Tatsachen halber lieber sagen, dass Herr Mansur in Ab-
wesenheit nicht zu 15 Jahren, sondern zu 5 Jahren verur-
teilt wurde. Im ägyptischen Haftbefehl war – das nur der
Richtigkeit halber – von 15 Jahren die Rede.
– Wir wollen ja über die Tatsachen sprechen. – Diese
Tatsache ist der ägyptischen Botschaft in Bezug auf das
Auslieferungsersuchen zu Mansur übermittelt worden.
Darin wird am 21. Juni genau das festgestellt. Das hat
Ihnen die Kollegin aus dem Auswärtigen Amt heute
Morgen auch exakt so gesagt.
Jetzt hat Frau Dr. Brantner noch zwei Nachfragen. Sie
müssen Sie nicht stellen, sondern Sie dürfen es.
Sie hatten gerade auch gesagt, dass die Vorwürfe ge-
gen Herrn Mansur darin bestünden, dass er jemanden ge-
walttätig angegangen sei. In der Anklageschrift stand
aber auch schon, dass er Schriften verbreitet habe, wel-
che die Staatssicherheit gefährdet hätten. In der Ankla-
geschrift stand beides. Von daher noch einmal die Frage:
Aufgrund welcher Kriterien und Verfahren beurteilen
Sie solche Fälle, insbesondere wenn von Interpol noch
einmal eine Warnung kommt? Was sind die Kriterien,
die dem zugrunde liegen? Welche Regeln gibt es da?
Und welche Einschätzung der Rechtsstaatlichkeit in dem
betroffenen Staat nehmen Sie als Grundlage? Es kann ja,
wenn es darum geht, ob etwas für eine bestimmte Person
greift, nicht sein, dass dies davon abhängig ist, ob je-
mand bekannt ist oder nicht, sondern es muss um ein ge-
regeltes Verfahren gehen, das nicht davon abhängig sein
kann, ob jemand den Herrn Mansur kennt oder nicht.
Was sind die Regeln, die Verfahren und die Kriterien?
C
Lassen Sie mich auch darauf etwas ausführlicher ein-gehen. Zunächst einmal ist festzustellen, dass der Be-scheid von Interpol nicht so ist, wie Sie es gerade darge-stellt haben. Ich darf – das habe ich heute Morgen auchgetan – zitieren. Dort heißt es:Nach Abschluss der rechtlichen Überprüfung– so Interpol –wurde der vorliegende Fall dahin gehend bewertet,dass er überwiegend politischen Charakter im Sinnevon Artikel 3 IKPO-Statuten hat, insbesondere hin-sichtlich der Art des Verstoßes; denn Verstöße mitBezug auf die Presse– das ist der, wie ich sagen würde, zarte Hinweis –
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015 10991
Parl. Staatssekretär Christian Lange
(C)
(B)
und Verstöße gegen die innere und äußere Sicher-heit des Staates werden gemäß dem internationalenAuslieferungsrecht und langjähriger Praxis von In-terpol als rein politisch betrachtet. Darüber hinausstützt auch der Gesamtzusammenhang des Falls dieAnnahme, dass der Fall vorwiegend politischenCharakter im Sinne von Artikel 3 IKPO-Statutenhat.So weit im Original zitiert.Sie sagen jetzt zu Recht: mehr Sensibilität. – Das se-hen wir genauso. Deswegen ist eine der Konsequenzen,die wir daraus gezogen haben, dass die entsprechendenAusbildungen und Fortbildungen der Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter – wir reden hier über die Sachbearbeiter-ebene – vorangetrieben werden – das wollen wir auch inForm von Workshops tun; das alles hatte ich bereits aus-geführt –, um einheitliche Standards zu erreichen.Wie sind die Standards bislang? Eine Fahndung imInland wird bewilligt, wenn aufgrund summarischer Prü-fung – summarischer Prüfung! – die Voraussetzungen ei-ner vorläufigen Festnahme nach § 19 des Gesetzes überdie internationale Rechtshilfe in Strafsachen vorliegen.Im Einzelnen setzt das nach § 19 IRG in Verbindung mit§ 17 IRG insbesondere voraus, dass die verfolgte Per-son, der Staat, an den die Auslieferung in Betrachtkommt, die zur Last gelegte Tat und der Haftgrund be-kannt sind. – Das war im vorliegenden Fall übrigensauch nicht der Fall. Zum Beruf stand bei Interpol zumBeispiel „liegt nicht vor“. – Ferner dürfen keine Gründevorliegen, die an den Voraussetzungen der Auslieferungnach §§ 2 bis 5 IRG oder anwendbaren bilateralen odermultilateralen Verträgen zweifeln lassen oder deren Ab-lehnung begründen können. §§ 6 bis 9 und 73 IRG: Hie-raus ergibt sich im Wesentlichen bereits das in diesenFällen anzuwendende Prüfungsschema. – So weit derheutige Rechtsstand.Jetzt kommt es darauf an – das ist unser Ziel als Kon-sequenz daraus –, die Sensibilität der Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter zu stärken. Dazu haben wir die darge-stellten Maßnahmen – Workshops und Ausarbeitung ge-meinsamer Kriterien – noch einmal in den Mittelpunktgerückt. Das werden wir in Zukunft tun, und das Aus-wärtige Amt wird zusätzlich dafür sorgen, dass dienächsthöhere Ebene einbezogen wird. Außerdem gibt esin den 70 Fällen, über die wir vorhin gesprochen haben,eine Berichtspflicht gegenüber dem BMJV, was gleich-zeitig zu einer nochmaligen Überprüfung der Fälle führt.Wir glauben, dass wir dadurch die notwendige Sensi-bilisierung im Hinblick auf die kritischen Staaten errei-chen, die Sie zu Recht ansprechen.
Noch eine Zusatzfrage, Frau Kollegin?
Sie haben die summarische Prüfung erwähnt. Meinen
Sie wirklich, dass sie bei einem schwerwiegenden Ein-
griff in die Grundrechte reicht? Man wird immerhin fest-
genommen. Haben Sie nicht den Eindruck, dass Ihr vor-
geschlagenes Verfahren – es soll, wie gesagt, eine
summarische Prüfung durchgeführt werden – und die
Auswirkungen in einem nicht ausgewogenen Verhältnis
zueinander stehen?
Ich gehe davon aus, dass Sie die gemeinsamen Krite-
rien dem Deutschen Bundestag vorlegen werden, damit
man sie diskutieren kann. Können Sie das vielleicht
noch einmal bestätigen? In diesen Kriterien werden Sie
zum Beispiel bestimmt auch erwähnen, dass man es et-
was ernster nehmen soll, wenn Interpol sagt, dass etwas
einen überwiegend politischen Charakter hat, und dass
man das nicht davon abhängig machen darf, ob jemand
bekannt ist oder nicht.
Welche Auswirkungen wird es in Zukunft haben,
wenn Interpol sagt, es handele sich um einen Fall des
Artikels 3 IKPO-Statuen, außer dass es auf einer höhe-
ren Arbeitsebene behandelt wird? Welchen inhaltlichen
Unterschied wird das in Zukunft machen?
C
Zunächst einmal sind in Deutschland nach Arti-
kel 104 unseres Grundgesetzes Gerichte und nicht Be-
hörden für die Inhaftierung von Menschen zuständig.
Artikel 104 des Grundgesetzes schreibt vor, dass eine in-
haftierte Person spätestens nach zwei Tagen einem Haft-
richter vorzuführen ist. Dem sind wir hier – ich will das
ausdrücklich sagen – zuvorgekommen. Es ist bedauer-
lich – die Bundesregierung hat das gegenüber Herrn
Mansur auch bedauert –, dass es so weit gekommen ist,
aber die Vorschriften unseres Grundgesetzes sind einge-
halten worden. Noch bevor das Gericht seinem Auftrag
nachgekommen ist, hatten wir am 22. Juni 2015 das Er-
gebnis, dass Herr Mansur freizulassen ist, sodass es dann
nicht mehr zu einer entsprechenden Entscheidung des
zuständigen Gerichts kommen musste. Das heißt, der
Rechtsstaat – das will ich einmal sagen – hat an dieser
Stelle voll funktioniert. Trotzdem ist es richtig, dass Herr
Mansur zu Unrecht zwei Tage in Haft genommen wor-
den ist.
Diese summarische Prüfung, die hier stattfindet, er-
setzt keine richterliche Entscheidung. Das müssen wir
einfach wissen. Das ist auch nicht das Ziel. Vielmehr
müssen wir erreichen, dass die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter stärker dafür sensibilisiert werden. Das wol-
len wir durch diese Maßnahmen bewirken.
Ich kann Ihnen noch nicht sagen, welche das über die
rechtlichen Rahmenbedingungen hinaus, die ich gerade
geschildert habe, konkret sind. Aber das ist die Konse-
quenz, die die Häuser daraus gezogen haben, und diese
wird unmittelbar umgesetzt. Unser Ziel ist, dass sich so
etwas nicht wiederholt.
Schönen Dank. – Herr Ströbele, Sie wollen noch eineFrage stellen? Ich weiß nicht, ob das zulässig ist.
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10992 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015
(C)
(B)
C
Das ist nicht mehr zulässig.
Sie haben ja schon zwei Fragen gestellt.
– Na gut, also schön. Bitte.
So ist das eben: Wenn eine Frage schon vorher beant-
wortet wurde, darf man noch einmal fragen.
Das ist alles richtig. Stellen Sie einfach Ihre Frage.
Ja. – Herr Staatssekretär, ist den Fahndungsbehörden
und den Bundespolizeibeamten, die die Festnahme
durchgeführt haben, zu Beginn des Wochenendes – er
war ja das Wochenende über in Haft – die zweimalige
Intervention von Interpol bekannt gewesen, und haben
sie dann diese Festnahme trotzdem durchgeführt?
C
Was den Polizeibeamten in der konkreten Situation
bekannt war oder nicht bekannt war, entzieht sich meiner
Kenntnis.
Gut. – Dann kommen wir jetzt zur Frage 10 der Abge-
ordneten Tabea Rößner, Bündnis 90/Die Grünen:
Welche Anstrengungen unternimmt die Bundesregierung
angesichts dessen, dass Ägypten auf der Rangliste der Presse-
freiheit von Reporter ohne Grenzen auf Platz 158 von
freiheit und Verhinderung unrechtmäßiger Verfolgung und
Verurteilung von Journalisten, und welche Erkenntnisse hat
die Bundesregierung darüber, wie viele weitere ausländische
Journalistinnen und Journalisten in Deutschland aufgrund ei-
nes Auslieferungsersuchens festgenommen wurden?
Herr Staatssekretär.
C
Frau Kollegin Rößner, die Bundesregierung beobach-
tet mit Sorge, dass in einer Vielzahl von Verfahren kri-
tische Journalisten und Blogger wegen angeblicher
Terrorverbrechen oder Stiftung öffentlicher Unruhe an-
geklagt werden. Die Bundesregierung thematisiert in
Gesprächen mit der ägyptischen Regierung regelmäßig
Defizite bei der Meinungs- und Pressefreiheit. Es wird
zum Ausdruck gebracht, dass freie Meinungsäußerung
essenziell für die Demokratisierung und Stabilisierung
Ägyptens ist.
Im Rahmen der Transformationspartnerschaft werden
seit 2012 diverse Projekte mit Partnern wie der Deut-
schen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit
oder der Deutsche-Welle-Akademie zur Befähigung ei-
nes freien Journalismus in Ägypten durchgeführt. Diese
umfassen unter anderem Fortbildungen, Netzwerkveran-
staltungen oder die Finanzierung von Sendereihen.
Kernthemen der Projekte sind die Förderung von Mei-
nungsfreiheit, Medienethik und geschlechtlicher Gleich-
berechtigung.
Statistische Angaben zur Anzahl der Fahndungs- und
Auslieferungsersuchen gegen Journalistinnen und Jour-
nalisten liegen der Bundesregierung nicht vor.
Zusatzfrage? – Bitte.
Sie sagten, Zahlen dazu lägen Ihnen nicht vor. Sie
gingen vor anderen Hintergründen darauf ein, dass es
unterschiedliche Ersuchen gibt. Russland zum Beispiel
macht von diesem Instrument exzessiv Gebrauch, um
alle in Ungnade gefallenen Oppositionellen zu verfol-
gen, beispielsweise durch den Vorwurf von Hooliganis-
mus oder Terrorismus; das haben Sie genannt. Gibt es
dafür nicht die Möglichkeit, eine Liste von Staaten zu er-
stellen, deren Haftbefehle oder Ersuchen besonders in-
tensiv geprüft werden?
C
Die deutsche Justiz und auch die deutschen Behörden
sind trotz eines summarischen Überblicks im Zweifel zu
einer Einzelfallprüfung verpflichtet, sodass wir vom Na-
men eines Staates nicht zwingend Rückschlüsse auf ein-
zelne Personen ziehen können. Auch in solchen Staaten
gibt es ganz klassische Kriminalität; auch das ist nicht
auszuschließen.
Aber wir wollen – damit sind wir wieder beim vorhe-
rigen Thema –, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
ter die notwendige Sensibilität haben, wenn zum Bei-
spiel entsprechende Staaten im Spiel sind. Aber eine
direkte Kausalität und damit eine entsprechende – ich
sage es einmal so – schwarze Liste zu erstellen, wäre mit
den Regeln, die wir uns in der Bundesrepublik gegeben
haben, nicht vereinbar.
Noch eine Zusatzfrage? – Bitte.
Es gibt Länder, die mit solchen Ersuchen von Interpolanders umgehen. Als Beispiel ist hier die Schweiz zunennen, die an bestimmte Staaten generell nicht auslie-fert. Wäre das nicht auch für die Bundesregierung einemögliche Haltung?
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015 10993
(C)
(B)
Bitte.
C
Ich sagte bereits: Die Bundesregierung und die Ge-
richte sind im Zweifel an Einzelfallprüfungen gebunden.
Dann kommen wir zur Frage 11, ebenfalls der Abge-
ordneten Tabea Rößner:
Was unternimmt die Bundesregierung dagegen, dass Jour-
nalistinnen und Journalisten in Zukunft nicht aus politischen
Motiven festgenommen und ausgeliefert werden?
Bitte, Herr Staatssekretär.
C
Die Frage beantworte ich wie folgt: Die Mitteilung
von Interpol, dass ein Fahndungsersuchen gegen Arti-
kel 3 der Interpol-Statuten verstößt, da es einen politi-
schen Hintergrund habe, enthält in der Regel keine nä-
here Begründung. Aus diesem Grund müssen das
Auswärtige Amt und das Bundesamt für Justiz allein auf
der Grundlage der in dem Fahndungsersuchen enthalte-
nen wenigen Informationen zum Sachverhalt eine eigene
summarische Prüfung vornehmen.
Zur Frage, ob eine Verfolgung aus politischen Moti-
ven erfolgt, wird dem Bundesamt für Justiz, welches die
Aufgaben – ich sagte es bereits – des Bundesministe-
riums der Justiz und für Verbraucherschutz nach § 74
Absatz 1 des Gesetzes über die internationale Rechts-
hilfe in Strafsachen aufgrund des Übertragungserlasses
vom 2. Januar 2007 wahrnimmt, vom Auswärtigen Amt
nach Beteiligung der Auslandsvertretung in dem jeweili-
gen Staat eine Einschätzung übermittelt.
Wenn sich insgesamt für das Bundesamt für Justiz
Anhaltspunkte dafür ergeben, dass eine exponierte Per-
son verfolgt wird, erfolgt eine Recherche in öffentlich
zugänglichen Quellen, um dies zu verifizieren. Ferner
wird versucht, Informationen zu möglicher politischer
Verfolgung im ersuchenden Staat zusammenzutragen.
Diese können aus vorangegangenen Verfahren, Berich-
ten von multilateralen Organisationen wie der UN oder
dem Europarat und Nichtregierungsorganisationen ge-
wonnen werden.
Vor einer abschließenden Entscheidung wird das Bun-
desamt für Justiz zukünftig – ich erwähnte es bereits –
über die allgemeine Berichtspflicht in Angelegenheiten
besonderer Bedeutung hinaus in Fällen, in denen Inter-
pol einen Warnhinweis herausgegeben hat, dem Bundes-
ministerium der Justiz und für Verbraucherschutz berich-
ten.
Ferner wird das Bundesministerium in Zusammenar-
beit mit dem Bundesamt für Justiz Qualitätskriterien für
die Überprüfung von Fahndungsersuchen fortentwickeln
und eine entsprechende Fortbildung anbieten. Auch das
erwähnte ich bereits.
Im Auswärtigen Amt wird künftig mit diesen Fällen
zusätzlich eine höhere Ebene der Hierarchie in den betei-
ligten Referaten und Auslandsvertretungen befasst.
Zusatzfrage, bitte schön.
Sie sprachen die Nachfrage bei Nichtregierungsorga-
nisationen an. Dazu gehören auch Journalistenverbände.
Welche sollen insgesamt angefragt werden? Geht es da-
bei auch um internationale Nichtregierungsorganisatio-
nen? Darunter sind einige, die Listen führen und Paten-
schaftsprogramme für verfolgte Journalisten haben.
C
Ich kann Ihnen nicht sagen, welche Nichtregierungs-
organisationen im Einzelfall herangezogen werden. Aber
ich gehe davon aus, dass alle relevanten herangezogen
werden.
Noch eine Zusatzfrage von Frau Dr. Brantner. Bitte.
Ich habe eine Nachfrage im Hinblick auf die Journa-
listen, was die Zukunft angeht. Es gibt den großen Al-
Jazeera-Fall wie auch den Fall der vielen zivilgesell-
schaftlichen Organisationen, die verurteilt wurden. Ha-
ben Sie zumindest alle Verurteilten im Zusammenhang
mit diesen beiden Verfahren von der Liste genommen,
oder haben sie immer noch etwas zu befürchten, wenn
sie nach Deutschland kommen wollen? Viele von ihnen
sind auch von Interpol zur Fahndung ausgeschrieben. Zu
ihnen liegt aber keine entsprechende Mitteilung von In-
terpol zu Artikel 3 vor. Haben Sie sichergestellt, dass
alle, die zumindest in diesen beiden sehr bekannten öf-
fentlichen Verfahren verurteilt wurden, nicht in Deutsch-
land auf unseren Listen stehen?
C
Ich kann Ihnen nicht sagen, welche Entscheidung das
Bundesamt für Justiz in anderen Fällen außer dem, über
den wir heute sprechen, durchgeführt hat. Ich bitte um
Nachsicht.
Wir kommen zu Frage 12 der Abgeordneten BrittaHaßelmann:Teilt die Bundesregierung die Sorge unter anderem der Or-ganisation Reporter ohne Grenzen, wonach autoritäre Regimezunehmend den internationalen Haftbefehl von Interpol miss-brauchen, um politische Dissidenten weltweit aufzuspüren
will sie künftig vorgehen, um derlei Missbrauch vorzubeu-gen?
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10994 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015
Vizepräsident Peter Hintze
(C)
(B)
Der Staatssekretär hat die Frage im Zusammenhangmit der Frage von Dr. von Notz schon beantwortet. Ichhabe aber verfügt, dass er sie noch einmal beantwortet,wenn Sie im Raum sind, damit Sie Ihre Nachfragemög-lichkeit wahrnehmen können. Wir hören also noch ein-mal die Antwort. – Bitte.
C
Ich trage die Antwort noch einmal vor, liebe Kollegin
Haßelmann:
Der Bundesregierung liegen keine statistischen Daten
darüber vor, dass Interpol-Rot- oder Blauecken vermehrt
gegen Dissidenten ausgestellt werden. Die Mitteilung
von Interpol, dass ein Fahndungsersuchen aufgrund ei-
nes politischen Hintergrundes gegen Artikel 3 der Inter-
pol-Statuten verstößt, enthält in der Regel keine weitere
Begründung. Zudem enthalten die Fahndungsersuchen
nur einen rudimentären Sachverhalt, der nur eine sum-
marische Prüfung zulässt.
Zur Frage, ob eine Verfolgung aus politischen Moti-
ven erfolgt, wird dem Bundesamt für Justiz, welches die
Aufgaben des Bundesministeriums der Justiz und für
Verbraucherschutz nach § 74 Absatz 1 des Gesetzes über
die internationale Rechtshilfe in Strafsachen aufgrund
des Übertragungserlasses vom 2. Januar 2007 wahr-
nimmt, vom Auswärtigen Amt nach Beteiligung der
Auslandsvertretung in dem jeweiligen Staat eine Ein-
schätzung übermittelt.
Wenn sich insgesamt für das Bundesamt für Justiz
Anhaltspunkte dafür ergeben, dass eine exponierte Per-
son verfolgt wird, erfolgt eine Recherche in öffentlich
zugänglichen Quellen, um dies zu verifizieren.
Ferner wird versucht, Informationen zu möglicher
politischer Verfolgung im ersuchenden Staat zusammen-
zutragen. Diese können aus vorangegangenen Verfahren,
Berichten aus multilateralen Organisationen, zum Bei-
spiel UN oder Europarat, und Nichtregierungsorganisa-
tionen gewonnen werden. Vor einer abschließenden Ent-
scheidung wird das Bundesamt für Justiz zukünftig über
die allgemeine Berichtspflicht in Angelegenheiten be-
sonderer Bedeutung hinaus in Fällen, in denen Interpol
einen Warnhinweis herausgegeben hat, dem Bundes-
ministerium der Justiz und für Verbraucherschutz berich-
ten. Ferner wird das Bundesministerium der Justiz und
für Verbraucherschutz in Zusammenarbeit mit dem Bun-
desamt für Justiz Qualitätskriterien für die Überprüfung
von Fahndungsersuchen fortentwickeln und eine ent-
sprechende Fortbildung anbieten.
Im Auswärtigen Amt wird künftig mit diesen Fällen
zusätzlich eine höhere Ebene der Hierarchie in den je-
weiligen Referaten und Auslandsvertretungen befasst.
Eine Nachfrage, Frau Kollegin Haßelmann, bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Zuerst einmal möchte
ich in Richtung der Regierungsbank sagen: Es steht Ih-
nen gar nicht zu, das als absurd zu bezeichnen; denn ich
bin zur Beantwortung meiner Frage 12 pünktlich an-
wesend. Ich habe genauso wie Sie noch andere Termin-
verpflichtungen gehabt und bin deshalb zum Fragen-
komplex verspätet gekommen. Das geht Sie aber
überhaupt nichts an. Ich bin pünktlich hier und habe des-
halb ein Recht auf die Beantwortung meiner Frage. Das
haben Sie nicht zu kommentieren – um das einmal ganz
deutlich zu sagen. Lassen wir die Kirche im Dorf!
Nun zum sachlichen Inhalt. Herr Staatssekretär,
meine Nachfrage schließt sich an die Frage meiner Kol-
legin Brantner an. Da wir die Informationen sowohl über
die Reporter ohne Grenzen als auch über die offenen
Punkte haben, die Frau Brantner gerade in Bezug auf an-
dere Journalisten, deren Namen auf Interpol-Listen ste-
hen, angesprochen hat, können Sie sicherlich nachvoll-
ziehen, dass ich mit der Antwort, die Sie meiner
Kollegin Brantner gegeben haben, in diesem Kontext
nicht einverstanden bzw. nicht zufrieden sein kann. Sie
haben gesagt, dass Sie nicht wissen, ob das Bundesamt
für Justiz diese Listen durchgeht und dahin gehend über-
prüft, ob es Warnungen von Dritten, die Tabea Rößner
und Franziska Brantner angesprochen haben, bezüglich
Personen gibt, die gefährdet sein könnten, weil sie im
gleichen Sachzusammenhang wie Mansur stehen. Des-
halb lautet meine Frage: Welche konkrete Schritte sind
nun eingeleitet, mögliche Interpol-Listen daraufhin zu
überprüfen, ob andere gefährdete Journalistinnen und
Journalisten aus Krisenregionen und Krisenländern be-
troffen sein könnten? Wenn Sie nicht in der Lage sind,
das jetzt zu beantworten, dann bitte ich darum, dass der
Frage nachgegangen wird und dass das Bundesamt für
Justiz dazu eine Ausführung macht.
Bitte.
C
Letzteres kann ich Ihnen zusagen. Ansonsten sind wir
in dieser Fragestunde nur mit dem Fall Mansur befasst.
Aber ich kann gerne beim Bundesamt für Justiz nachfra-
gen, ob es das macht.
Schönen Dank.Die Frage 13 des Abgeordneten Tom Koenigs und dieFrage 14 des Abgeordneten Volker Beck werden schrift-lich beantwortet.Damit kommen wir wieder zum Geschäftsbereich desBundesministeriums für Finanzen. Die Fragen 15 und 16
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015 10995
Vizepräsident Peter Hintze
(C)
(B)
der Abgeordneten Sabine Zimmermann werden schrift-lich beantwortet.Dann kommen wir zum Geschäftsbereich des Bun-desministeriums für Arbeit und Soziales. Zur Beantwor-tung steht die Parlamentarische Staatssekretärin AnetteKramme zur Verfügung.Ich rufe die Frage 17 der Abgeordneten CorinnaRüffer von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf:Was unternimmt die Bundesregierung im Sinne von Arti-kel 8 der Behindertenrechtskonvention, um das Leben vonMenschen mit Downsyndrom in seinen positiven Aspektensichtbar zu machen, und in welchem Ausmaß kommen beidiesen Maßnahmen bzw. in den entsprechenden PublikationenMenschen mit Downsyndrom selbst zu Wort?Frau Staatssekretärin, bitte.A
Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Frau Rüffer, ich
beantworte Ihre Frage wie folgt: Das Ganze betrifft na-
türlich die Thematik der UN-Behindertenrechtskonven-
tion. Artikel 8 dieser Konvention macht insoweit vier
Vorgaben: Erstens. Es müssen Maßnahmen ergriffen
werden, um das Bewusstsein für Menschen mit Behinde-
rung zu schärfen. Zweitens. Es geht auch darum, die
Achtung der Rechte und der Würde dieser Menschen zu
fördern. Drittens. Klischees und Vorurteile sind zu be-
kämpfen. Viertens. Das Wissen um die Fähigkeiten und
die Beiträge von Menschen mit Behinderung ist zu för-
dern.
Im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention vom
15. Juni 2011 wurde die Bewusstseinsbildung als wichti-
ges Thema gesetzt. Ich will einige Beispiele für Maß-
nahmen nennen, die die Bundesregierung diesbezüglich
ergriffen hat. Das erste Beispiel ist die Kampagne „Be-
hindern ist heilbar“ mit drei Plakatmotiven und zwei An-
zeigenmotiven sowie einem Kinospot. Das zweite Bei-
spiel ist die Internetseite www.gemeinsam-einfach-
machen.de. Das ist eine Internetseite des Bundesministe-
riums für Arbeit und Soziales. Hier werden neben einem
vielfältigen Infoangebot gute Beispiele, aber auch die
Aktionspläne anderer Akteure – Länder, Kommunen und
Unternehmen – dargestellt. Eine nächste Maßnahme
wäre der Leitfaden für Unternehmen zur Erstellung von
Aktionsplänen. Dann haben wir weiter den Leitfaden für
Behörden zur Verwendung der leichten Sprache, über-
dies die jährlich stattfindenden Inklusionstage, zuletzt
vom 24. bis 26. November 2014.
Bei dem Thema Bewusstseinsbildung und den ange-
sprochenen Maßnahmen der Bundesregierung werden
nicht bestimmte Arten der Behinderung oder Gruppen
von Betroffenen besonders herausgestellt; allerdings
sind Menschen mit Downsyndrom auf den Plakatmoti-
ven der Kampagne „Behindern ist heilbar“ des Bundes-
ministeriums für Arbeit und Soziales zur Umsetzung der
UN-Behindertenrechtskonvention sowie in verschiede-
nen Publikationen des BMAS zu sehen bzw. kommen
diese auch selber zu Wort.
Wenn Sie mögen, können wir gerne eine Auswahl
dieser Broschüren zur Verfügung stellen.
Danke schön. – Haben Sie eine Nachfrage, Frau Kol-
legin? – Bitte.
Frau Kramme, erst einmal herzlichen Dank für die
Beantwortung der Frage. – Natürlich sind wir dankbar
dafür, wenn wir eine Zusammenstellung der vorhande-
nen Publikationen bekommen. Einzelne davon sind auch
mir bekannt. Ich schicke voraus: Da könnte man sicher
noch einiges hinterherschieben.
Sie können sich sicher vorstellen, dass diese Frage
zum heutigen Zeitpunkt nicht zufällig gekommen ist,
etwa weil sie uns gerade so eingefallen ist. Sie haben be-
stimmt mitbekommen, dass viele Kollegen hier eine ge-
meinsame, interfraktionelle Kleine Anfrage gestellt ha-
ben – 160 an der Zahl, immerhin 25 Prozent der
Abgeordneten im Deutschen Bundestag –, die sich mit
der Einführung eines Bluttests auf Downsyndrom be-
schäftigt. Es gibt bestimmte Bedenken, was diesen Blut-
test anbelangt.
In der Beantwortung der Kleinen Anfrage schreiben
Sie, dass das Gendiagnostikgesetz bereits heute ausrei-
chend Schutz vor einer Stigmatisierung und Diskrimi-
nierung von Menschen mit Trisomie 21, Downsyndrom,
bietet. Sie verweisen konkret auf den Arztvorbehalt ei-
nerseits, auf der anderen Seite auf die Pflicht zur human-
genetischen Beratung.
Meine Frage lautet jetzt: Was kann ich konkret damit
anfangen, bzw. können Sie uns erläutern, inwieweit dies
in der Praxis Menschen mit Downsyndrom Schutz vor
Diskriminierung und Stigmatisierung bietet, insbeson-
dere vor dem Hintergrund, dass bei entsprechender Pro-
gnose die allermeisten Kinder, die wahrscheinlich mit
Downsyndrom auf die Welt kommen würden, abgetrie-
ben werden?
Bitte schön.
A
Vielen Dank, Frau Rüffer. – Sie wissen, dass unser
Haus nicht spezifisch mit dem Gendiagnostikgesetz be-
fasst ist und dass ein Großteil der Fragen demgemäß an
das Bundesministerium für Gesundheit gegangen ist. Ich
kann an dieser Stelle nur wiederholen, dass wir keine
spezifischen Broschüren zu dem Thema haben. Sicher-
lich gibt es im Haus – das müssten wir recherchieren –
diesbezügliche Abwägungen, die getroffen werden.
Aber ein ganz spezifisches Befassen kann ich auf den
ersten Blick nicht erkennen. Da müssten wir, wie gesagt,
im Ministerium für Gesundheit nachfragen.
Mögen Sie noch eine Nachfrage stellen? – Bitte.
Metadaten/Kopzeile:
10996 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015
(C)
(B)
Vielen Dank, dass ich noch eine zweite Frage stellen
darf. – Wir stellen heute auch noch Fragen an das andere
Haus, aber was die Umsetzung der Behindertenrechts-
konvention anbelangt, sind Sie federführend. Das ist
sicherlich eine zentrale Frage. Wenn wir über Inklusion
reden, dann müssen wir natürlich auch über die Frage
der Möglichkeit, überhaupt in das Leben zu gelangen,
reden.
Sie haben die Frage fast schon beantwortet, aber um
es noch einmal klarzustellen: Ist denn Ihr Ministerium
mit dem Bundesgesundheitsministerium im Gespräch,
um abzuklären und nach Möglichkeiten zu suchen, wie
die Aufklärung werdender Eltern und schwangerer
Frauen in Zukunft besser in dieser Hinsicht funktionie-
ren könnte und welchen Beitrag Ihr Haus dazu leisten
kann?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
A
Ich kann an dieser Stelle nur noch einmal anfügen,
dass wir spezifische Gruppen im Regelfall nicht heraus-
gegriffen haben. Sie wissen, dass wir uns in den Vor-
arbeiten zum Nationalen Aktionsplan befinden. Demge-
mäß sind wir auch in Gesprächen mit den verschiedenen
Häusern. Es besteht also die Möglichkeit, dass dort ein
Kontext besteht. Das kann ich Ihnen aber aus dem Steg-
reif nicht sagen. Ich würde das allerdings abklären und
Ihnen dann eine schriftliche Antwort zukommen lassen.
Schönen Dank. – Wir haben jetzt noch den Wunsch
nach einer Nachfrage seitens der Abgeordneten
Scharfenberg, Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Terpe, Bünd-
nis 90/Die Grünen, Hüppe, CDU/CSU, und Gastel,
Bündnis 90/Die Grünen.
Erst einmal Frau Kollegin Scharfenberg. Bitte.
Vielen Dank. – Ich würde gern wissen, ob die Bun-
desregierung die Ansicht teilt, dass die Tatsache, dass
die Rede von einem Risiko, ein Kind mit dem Downsyn-
drom zu bekommen, bzw. das Ziel vorgeburtlicher Un-
tersuchungen, dieses sogenannte Risiko auszuschließen,
nicht ein negatives Bild von Menschen mit Downsyn-
drom zeichnet. Wir alle wissen, dass der Begriff „Ri-
siko“ im Sprachgebrauch etwas meint, was man vermei-
den könnte, was also ein vermeidbares Unglück sein
könnte. Wenn Sie dies nicht teilen: Warum nicht?
Bitte schön.
A
Zunächst einmal ist der Begriff „Risiko“ etwas, was
neutral ist. Sie wissen, dass wir in diesem Zusammen-
hang immer wieder Debatten darüber hatten, ob solche
Untersuchungen überhaupt zulässig sein sollten, in wel-
chem Umfang sie stattfinden, ob Beratung vorher statt-
findet usw.
Vielleicht gestatten Sie mir ausnahmsweise, eine ganz
persönliche Antwort zu geben. Ich bin mit einem Bruder
aufgewachsen, der einen Geburtsschaden hatte, der unter
Sauerstoffmangel geboren ist. Mein Bruder ist 44 Jahre
alt geworden, und es hat keinen einzigen Tag in seinem
Leben gegeben, wo meine Eltern nicht anwesend waren,
ihn nicht den ganzen Tag gepflegt haben. Selbst beim
Essen mussten sie aufpassen, dass er nicht erstickt usw.
Ich gestehe jedem zu, selbst zu entscheiden, ob er da-
mit umgehen kann, ob er es in seinem Leben schafft, so
etwas durchzuführen. Wie gesagt, es ist eine Gewissens-
entscheidung, und Gewissensentscheidungen sollten,
denke ich, von allen akzeptiert werden.
Als nächster Fragesteller hat der Abgeordnete
Dr. Terpe, Bündnis 90/Die Grünen, eine Nachfrage.
Bitte schön.
Herr Präsident! Frau Staatssekretärin Kramme, ich
habe schon gehört, dass Fragen, die sich spezifisch mit
Themenkreisen des Bundesgesundheitsministeriums be-
fassen, auch gestellt werden können, wenn der Ge-
schäftsbereich dieses Ministeriums an der Reihe ist.
Die Frage der Kollegin Rüffer zielte aber darauf, ob
Sie von Maßnahmen wissen, Menschen mit Downsyn-
drom selber in entsprechenden Publikationen zu Wort
kommen zu lassen. Wissen Sie, ob solche Publikationen
auch in der Ärzteschaft verbreitet werden, natürlich ins-
besondere unter den Geburtshelfern?
A
Da wir für die Ärzteschaft an sich nur wenig zustän-
dig sind, da wir dorthin nur eingeschränkt Kontakte ha-
ben, kann ich Sie nur bitten, diese Frage an das Gesund-
heitsministerium zu richten. Ich biete Ihnen aber auch in
dieser Frage an, dass unser Haus gegebenenfalls bei den
Kollegen recherchiert und Ihnen eine schriftliche Ant-
wort zukommen lässt.
Danke schön. – Nächster Fragesteller ist der Abge-ordnete Hüppe, CDU/CSU-Fraktion. Bitte.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015 10997
(C)
(B)
Frau Staatssekretärin, zunächst erstaunt es mich, dass
Sie jemanden, der nicht essen kann, der jeden Tag von
morgens bis abends gepflegt werden muss, mit einem
Menschen mit Downsyndrom vergleichen; das sind
nämlich zwei völlig verschiedene Dinge. Ihr Vergleich
erweckt bei mir den Eindruck, dass auch Ihnen nicht
richtig klar ist, dass Menschen mit Downsyndrom Fähig-
keiten haben, die sich gar nicht einmal so viel von denen
anderer Menschen unterscheiden.
In Artikel 10 der UN-Behindertenrechtskonvention
heißt es in der deutschen Übersetzung, die vom Ministe-
rium verteilt wird, dass Menschen mit Behinderung ein
angeborenes Recht auf Leben hätten. Man hat dort den
Begriff „inherent“ mit „angeboren“ übersetzt, obwohl er
in allen anderen Fällen mit „innewohnendem Recht“
übersetzt worden ist.
Weil Menschen mit Downsyndrom beim Stichwort
„pränatal“ die gefährdetste Gruppe beim Recht auf Le-
ben sind, darf ich Sie fragen, ob Sie denn beabsichtigen,
das zu berücksichtigen, wenn der Aktionsplan jetzt fort-
geschrieben wird.
Frau Staatssekretärin, bitte schön.
A
Ich denke, dass ich persönlich sehr wohl die Fähigkeit
besitze, das Leistungsvermögen von Menschen mit
Downsyndrom einzuschätzen. – Das sei an den Anfang
gestellt.
Wenn Sie danach fragen, wie der Sachstand zum Na-
tionalen Aktionsplan ist, dann kann ich Ihnen sagen: Wir
befinden uns hier im Regierungshandeln und haben inso-
weit zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Auskunft zu
erteilen. Wir sind in Zusammenarbeit mit den verschie-
denen Häusern und bereiten die Fortschreibung des Na-
tionalen Aktionsplans vor.
Danke schön. – Herr Kollege Gastel, noch eine Zu-
satzfrage hierzu? – Bitte schön.
Ich komme mit meiner Frage auf die Ausgangsfrage
meiner Fraktionskollegin Frau Rüffer zurück. Es ging
darum, in welchem Ausmaß bei diesen Maßnahmen
bzw. in den entsprechenden Publikationen Menschen mit
Downsyndrom selber zu Wort kommen. Die Frage, die
sich auf diese Ausgangsfrage bezieht, lautet: Welche der
genannten Maßnahmen thematisieren das Spektrum an
möglichen vorgeburtlichen Untersuchungen zur Feststel-
lung des Downsyndroms und richten sich explizit an
Schwangere bzw. werdende Eltern?
A
Seitens unseres Hauses gibt es keine spezifischen Ma-
terialien. Es ist sehr wohl möglich, dass bei den Kolle-
gen im Gesundheitsministerium spezifische Broschüren
existieren. Ich kann auch an dieser Stelle nur anregen,
dass Sie die Kollegen des anderen Hauses befragen, oder
anbieten, dass wir das für Sie recherchieren und Ihnen
das als Antwort zukommen lassen.
Es wird Ihnen dann schriftlich mitgeteilt. Das ist doch
schon ein Fortschritt.
Wir kommen zur Frage 18 des Abgeordneten
Matthias Gastel:
Wie viele Berufsausbildungen zum Busfahrer und Loko-
motivführer wurden in den Jahren 2013 und 2014 sowie bis-
lang im Jahr 2015 durch die Bundesagentur für Arbeit erfolg-
reich gefördert – gemeint sind hier die erworbenen Lizenzen
zum Steuern der Fahrzeuge –, und wie viele dieser neu ausge-
bildeten Fachkräfte arbeiten nach Kenntnis der Bundesregie-
rung heute als Busfahrer bzw. Lokomotivführer?
Frau Staatssekretärin, bitte.
A
Ganz herzlichen Dank. – Nach Angaben der Bundes-
agentur für Arbeit haben im Zeitraum von Januar 2013
bis Februar 2015 in der Berufsgattung Triebfahrzeugfüh-
rer Eisenbahnverkehr, Fachkraft, insgesamt 106 geför-
derte Teilnehmer eine abschlussbezogene berufliche
Weiterbildung, das heißt Umschulung, beendet. Davon
waren 60 erfolgreich.
Für den Berufsbereich Busfahrer erfasst die Bundes-
agentur für Arbeit die Teilnehmer statistisch unter der Be-
rufsgattung Bus-/Straßenbahnfahrer/-innen, Fachkraft. Im
Zeitraum Januar 2013 bis Februar 2015 haben insgesamt
222 geförderte Teilnehmer eine abschlussbezogene be-
rufliche Weiterbildung im Berufsbereich Bus-/Straßen-
bahnfahrer/-innen, Fachkraft, beendet, davon 149 erfolg-
reich.
Informationen, wie viele der neu ausgebildeten Fach-
kräfte als Busfahrer oder als Triebfahrzeugführer arbei-
ten, konnten von der Bundesagentur für Arbeit innerhalb
der zur Beantwortung der mündlichen Frage verfügbaren
Zeit nicht bereitgestellt werden. Das gilt auch für die
Differenzierung zwischen Weiterbildung mit Abschluss
und sonstiger beruflicher Weiterbildung.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Gastel? – Bitte
schön.
Vielen Dank für die Zahlen. – Ich habe mit einigenUnternehmen gesprochen, mit Eisenbahnverkehrsunter-nehmen und auch mit Busunternehmen. Ich gebe Ihneneinfach mal zwei Aussagen wieder, die da getroffen wur-den.Die Aussage von einem Eisenbahnverkehrsunterneh-men lautete: Ob die ausbildenden Institute ein großes
Metadaten/Kopzeile:
10998 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015
Matthias Gastel
(C)
(B)
Interesse an einer intensiven Vorabinformation und Vor-abauswahl haben, darf zumindest innerhalb des beste-henden Systems, wo offensichtlich pro Kopf gefördertwird, angezweifelt werden.Ich darf zitieren, was ein führendes Busunternehmengesagt hat: Die Bundesagentur steckt Arbeitsuchende inLehrgänge, ohne diese vorher ausreichend über das Be-rufsbild und den üblichen Verdienst und die üblichen Ar-beitszeiten zu informieren. Dadurch kommt es zu hohenAbbrecherquoten während der Qualifizierung und zu ei-nem hohen Anteil von Leuten, die zwar den Busführer-schein haben, aber danach nicht in diesem Beruf arbeitenkönnen oder wollen.Daran schließt sich die Frage an: Inwieweit und in-wiefern wird die Bundesregierung diese Lehrgänge, denZugang zu den Lehrgängen, die Auswahl und die Be-gleitung dieser Menschen so verändern, dass die Rück-meldungen aus der Branche, in der Fachkräfte händerin-gend gesucht werden, besser werden, das Ganze besserfunktioniert und die Menschen dann auch tatsächlich ineinen Beruf hineinkommen, in dem sie arbeiten möchtenund auch arbeiten können?
Frau Staatssekretärin, bitte.
A
Zunächst einmal ist es so, dass im Rechtskreis des
SGB III, aber auch im Rechtskreis des SGB II keine Pro-
Kopf-Förderung existiert, sondern es wird teilnehmerbe-
zogen entschieden, bzw. es werden selbstverständlich
auch arbeitsmarktdienliche Aspekte berücksichtigt.
Wenn es hier Klagen über Einzelfälle gibt, dann können
wir das der Bundesagentur für Arbeit zuleiten und versu-
chen, diesbezüglich den Sachverhalt zu klären. Aber das
ist nicht Aufgabe der Bundesregierung als solcher, son-
dern das ist laufendes Geschäft der Bundesagentur für
Arbeit sowohl im Rechtskreis des SGB III als auch letzt-
lich in den Jobcentern.
Herr Gastel hat noch eine Zusatzfrage. Bitte schön.
Frau Staatssekretärin, wenn Sie sich die Zahlen, die
Sie vorhin genannt haben, anschauen, dann sehen Sie,
dass es keine Einzelfälle sein können. Bei einem sehr
hohen Prozentsatz läuft irgendetwas schief, wurden of-
fensichtlich notwendige Vorabinformationen nicht gege-
ben oder wurden diejenigen, die in diese Lehrgänge ge-
schickt wurden, nicht sorgfältig genug ausgewählt und
darauf vorbereitet oder während der Lehrgänge nicht
ausreichend begleitet. Die Zahlen sagen also etwas ande-
res als das, was Sie gerade gesagt haben. Meine Frage
lautet: Inwieweit überprüft die Bundesagentur für Arbeit
die Erfolgsquote und den Mitteleinsatz dahin gehend, ob
der wirklich so optimal ist, dass die Menschen das be-
kommen, was sie tatsächlich brauchen, sodass in diesem
Fall die Busbranche und die Eisenbahnbranche tatsäch-
lich die Fachkräfte bekommen, die sie benötigen?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
A
Sowohl die Arbeit der Bundesagentur für Arbeit im
Rechtskreis des SGB III als auch die Arbeit der Jobcen-
ter bezüglich Weiterbildungsmaßnahmen wird nicht un-
mittelbar durch das Bundesministerium für Arbeit und
Soziales überprüft. Allerdings wird selbstverständlich
die Arbeit in beiden Rechtskreisen durch Evaluierung
begleitet. Das ist der eine Bereich.
Wir haben aber auch eine sehr intensive Überprüfung
durch den Bundesrechnungshof, der ebenfalls Hinweise
gibt, die dann durch die Bundesagentur für Arbeit bear-
beitet werden. Entsprechende Hinweise werden natür-
lich entgegengenommen.
Schönen Dank. – Wir kommen damit zum Geschäfts-
bereich des Bundesministeriums für Ernährung und
Landwirtschaft. Zur Beantwortung steht der Parlamenta-
rische Staatssekretär Peter Bleser bereit.
Ich rufe Frage 19 des Abgeordneten Harald Ebner,
Bündnis 90/Die Grünen, auf:
Welche Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben
sich nach Kenntnis der Bundesregierung bislang bei Sitzun-
gen des Ständigen Ausschusses für Pflanzen, Tiere, Lebens-
mittel und Futtermittel, SCPAFF, bzw. dem Vorgängergre-
mium StALuT bzw. SCoFCAH zu den seit dem Jahr 2013
vorliegenden EFSA-Leitlinien – EFSA: Europäische Behörde
für Lebensmittelsicherheit – zur Risikobewertung von Pflan-
positioniert, und welche Position – mit welcher Begründung –
hat die Bundesregierung in diesem Zusammenhang bezüglich
der Verabschiedung bzw. Inkraftsetzung der genannten Leitli-
nien vertreten?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
P
Vielen Dank, Herr Präsident. – Die Bundesregierunghat sich im zuständigen EU-Ausschuss für einen effi-zienten Bienenschutz auf wissenschaftlicher Basis aus-gesprochen. Sie hat die Kommission mehrfach aufgefor-dert, Rechtssicherheit zu schaffen und zu klären, wannwelche Anforderungen für die Genehmigung von Pflan-zenschutzmittelwirkstoffen und Zulassung von Pflan-zenschutzmitteln zu erfüllen sind.Innerhalb der Bundesregierung ist die Meinungsbil-dung noch nicht abgeschlossen, was die EFSA-Leitli-nien angeht. Nach Kenntnis der Bundesregierung habenim Ausschuss Griechenland, Irland, das Vereinigte Kö-nigreich, die Niederlande, Frankreich, Spanien, Italien,Portugal, die Slowakei und Ungarn sowie die Kommis-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015 10999
Parl. Staatssekretär Peter Bleser
(C)
(B)
sion eine kritische Position zu dem Leitlinienpapier dar-gelegt.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Danke, Herr Präsident. Danke, Herr Staatssekretär. –
Das hört sich jetzt nicht danach an, dass es unter den
Mitgliedstaaten eine Mehrheit für die Leitlinien der
EFSA gäbe. Ist die trotz der Staaten, die Sie gerade auf-
gezählt haben – ich habe jetzt nicht gegengerechnet –, in
Sicht? Wenn nein: Was sind die Haupthinderungsgründe
dafür aus Sicht der Bundesregierung?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
P
Aus der langen Liste werden Sie ablesen können, dass
es bisher keine Mehrheit für die zitierte Leitlinie der
EFSA zur Risikobewertung von Pflanzenschutzmitteln
in Bezug auf Bienen gibt. Die Kommission hat jetzt an-
gekündigt, einen Kompromissvorschlag vorzulegen, in
dem bestimmte Teile dieser Leitlinie, insbesondere die
Tests, thematisiert werden. Auf diesem Wege soll ein Er-
gebnis erzielt werden, das im Sinne des Gewollten ist.
Noch eine Zusatzfrage dazu? – Bitte schön.
Gerne, danke. – Sie sprechen von einem Kompro-
missvorschlag, den die Kommission vorlegen möchte.
Was tut denn die Bundesregierung ganz konkret? Welche
Inputs, welche konkreten Aktivitäten bringen die Bun-
desregierung oder andere Bundesbehörden ein, um die
Verabschiedung dieser Leitlinien zu beschleunigen, so-
dass auch der Bienenschutz in Europa, was die Zulas-
sung von Pestiziden angeht, endlich auf dem aktuellen
wissenschaftlichen Stand ist?
P
Ich glaube, ich habe das schon bei der Beantwortung
Ihrer Frage dargelegt. Wir legen Wert auf eine wissen-
schaftliche Bewertung. Dabei ist die Effizienz, also das,
was mit den Pflanzenschutzmitteln angestrebt wird, das
entscheidende Kriterium. Dazu gehört auch die Berück-
sichtigung entsprechender Vorgaben, die die Sicherheit
der Pflanzenschutzmittel betreffen.
Dann kommen wir zur Frage 20 des Abgeordneten
Harald Ebner, Bündnis 90/Die Grünen:
Durch welche Personen bzw. Mitglieder welcher Fachab-
teilung des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirt-
schaft, BMEL, wird Deutschland aktuell im SCPAFF, früher
SCoFCAH bzw. StALuT, im Regelfall bei Tagesordnungs-
punkten mit Bezug zu Fragen der Bienengesundheit im Zu-
sammenhang mit Pflanzenschutzmitteln bzw. im Kontext zu
den EFSA-Leitlinien zur Risikobewertung von Pflanzen-
welche namentlichen Vertreter bzw. Abteilungen der General-
direktion Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, DG Santé,
sind nach Kenntnis der Bundesregierung aktuell im SCPAFF
für die genannten Bereiche zuständig?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
P
Im zuständigen Ausschuss für Pflanzenschutzgesetz-
gebung der Europäischen Union wird die Bundesregie-
rung durch Vertreter des Bundesministeriums für Ernäh-
rung und Landwirtschaft vertreten, die insbesondere aus
der Abteilung Biobasierte Wirtschaft, Nachhaltige Land-
und Forstwirtschaft und aus der Abteilung Pflanzen-
schutzmittel des Bundesamtes für Verbraucherschutz
und Lebensmittelsicherheit, BVL, kommen. In besonde-
ren Fällen können weitere Experten hinzugezogen wer-
den. Nach Kenntnis der Bundesregierung ist in der Ge-
neraldirektion Gesundheit und Lebensmittelsicherheit
die Abteilung Sicherheit in der Lebensmittelkette, Pflan-
zenschutzmittel und Biozide zuständig.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter?
Ich würde sehr gerne noch nachfragen. – Herr Staats-
sekretär, Sie sind da jetzt sehr vage geblieben, was die
Beteiligten der DG Santé angeht. Könnten Sie uns da
Kontaktdaten zukommen lassen? Wenn das möglich
wäre, wäre das sehr hilfreich für die weitere Arbeit.
P
Ich kann Ihnen hier nur sagen, dass die Bundesregie-
rung durch eine entsprechend kompetente Vertretung in
den entsprechenden Ausschüssen präsent ist. Namens-
nennungen sind aus unserer Sicht nicht erforderlich. Die
Bundesregierung gibt Ihnen Auskunft.
Des Weiteren bemühen wir uns, was die DG Santé an-
geht, gerne um eine Kontaktvermittlung.
Noch eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter? – Sie
müssen nicht, Sie dürfen.
Danke schön, Herr Präsident. – Ich möchte den HerrnStaatssekretär doch noch fragen, welche Erkenntnissedie Bundesregierung darüber hat, wann die DG Santéder EU-Kommission ihre Folgenabschätzung bezüglicheiner Annahme der EFSA-Leitlinien abgeschlossen ha-ben wird. Bis wann dürfen wir also mit Ergebnissenrechnen?
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11000 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015
(C)
(B)
P
Das kann ich Ihnen nicht sagen, Herr Kollege.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums der Verteidigung.
Die Frage 21 der Abgeordneten Agnieszka Brugger
und die Frage 22 der Abgeordneten Heike Hänsel wer-
den schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Gesundheit. Zur Beantwortung steht
die Parlamentarische Staatssekretärin Ingrid Fischbach
bereit.
Ich rufe die Frage 23 der Abgeordneten Kordula
Schulz-Asche, Bündnis 90/Die Grünen, auf:
Mit welcher Begründung hat Deutschland als einziges
Land der Europäischen Union im Rat für Beschäftigung, So-
zialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz, EPSCO, am
19. Mai 2015 der teilweisen allgemeinen Ausrichtung zur Me-
dizinprodukte-Verordnung seine Zustimmung verweigert, und
welche Rolle spielten dabei von den anderen Ländern gefor-
derte zusätzliche Prüfverfahren für Medizinprodukte der Risi-
koklasse III?
Frau Staatssekretärin, bitte.
I
Liebe Kollegin, ich antworte Ihnen gerne auf die
Frage – wir haben ja heute auch schon im Ausschuss in-
tensiv darüber gesprochen –: Deutschland setzt sich da-
für ein, dass nur sichere und medizinisch hochwertige
Medizinprodukte auf den europäischen Markt gelangen,
und wir haben den Anspruch, mit der Verordnung einen
stabilen, transparenten und nachhaltigen Rechtsrahmen
zu schaffen. Darauf aufbauend hat Deutschland der all-
gemeinen Ausrichtung auf der Grundlage des Kompro-
missvorschlags der lettischen Präsidentschaft nicht zuge-
stimmt, weil der Text noch eine Reihe von Vorschriften
enthält, die wichtige Fragen hinsichtlich ihrer Auswir-
kungen auf die Patientensicherheit, Versorgungssicher-
heit, Praktikabilität und Finanzierbarkeit offenlassen.
Diese Fragen hätten nach Auffassung der Bundesregie-
rung vor Aufnahme der Trilogverhandlungen mit dem
Europäischen Parlament und der Kommission geklärt
werden müssen.
An erster Stelle ist hier die fehlende Infrastruktur für
die Schaffung produktspezifischer Anforderungen an die
klinische Bewertung und Prüfung von Medizinproduk-
ten zu nennen, die ein Kernanliegen der deutschen Posi-
tion darstellen. Obwohl die Vorschläge im Grundsatz
den Gedanken, dass produktspezifische Anforderungen
geschaffen werden müssen, enthalten, sind die Verant-
wortlichkeit und der Zeitrahmen für deren Erarbeitung
nicht eindeutig festgelegt. Zudem wird uns die notwen-
dige wissenschaftliche Expertise dafür fehlen, wenn
diese durch die Bewertungen im sogenannten Scrutiny-
Verfahren gebunden ist. Schließlich müssen Versor-
gungsengpässe aufgrund zu kurzer oder fehlender Über-
gangs- und Bestandsschutzregelungen befürchtet wer-
den. Daneben enthalten die Texte sehr viele Mängel, die
nur scheinbar technischer Natur sind und die in der Pra-
xis zum Teil zu abwegigen Ergebnissen führen können.
Auch wenn Deutschland den im EPSCO vorgelegten
Verordnungsentwürfen nicht zustimmen konnte, werden
wir uns natürlich aktiv in den jetzigen Prozess und in das
informelle Trilogverfahren einbringen, um die Texte im
Interesse der Patientensicherheit zu optimieren. In den
Sitzungen des Ausschusses für Gesundheit des Deut-
schen Bundestages am 10. Juni und am 1. Juli dieses
Jahres habe ich die Position der Bundesregierung aus-
führlich dargelegt.
Bitte schön, Frau Schulz-Asche.
Frau Staatssekretärin Fischbach, herzlichen Dank. –
Diese Antwort war ja praktisch identisch mit der, die Sie
heute Morgen im Gesundheitsausschuss gegeben haben.
Ich habe allerdings gefragt, warum Deutschland das ein-
zige Land war, das der Einigung im Rat für Beschäfti-
gung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz
nicht zugestimmt hat.
Sie erwecken immer den Eindruck, dass Deutschland
weitergehen wolle, dass die EU-Verordnung nach Ihrer
Meinung nicht weit genug gehe und Sie zusätzliche For-
derungen hätten. In Wirklichkeit ist ja das Gegenteil der
Fall. Rufen wir uns einmal in Erinnerung, warum wir
überhaupt über eine Verschärfung bei der Zulassung von
Medizinprodukten diskutieren: wegen internationaler
Skandale im Zusammenhang mit Brustimplantaten usw.
usf. Von daher frage ich Sie ganz konkret, wie ich es
auch schon schriftlich gemacht habe, was die Haltung
Deutschlands zu den zusätzlichen Prüfverfahren ist, die
auch vom Europaparlament gefordert wurden, und was
es nach Ihrer Meinung mit Patientensicherheit zu tun
hat, wenn Deutschland lange Bestandsschutz- und Über-
gangsregelungen fordert. Ist das Patientenschutz, oder ist
das nicht eher ein Schutz der Produkte bestimmter Un-
ternehmen in Deutschland? Das würde mich interessie-
ren. Könnten Sie mir das bitte erläutern?
Frau Parlamentarische Staatssekretärin.
I
Frau Kollegin, das mache ich sehr gern. Ich habe esheute Morgen im Ausschuss schon gesagt: Die von unsgeforderten Regelungen betreffen nicht die risikobehaf-teten Medizinprodukte. Wir reden jetzt auch über Medi-zinprodukte, die schon lange angewandt werden undnicht risikobehaftet sind. Sie würden auch unter die Re-gelung der jetzigen Vorlage fallen; das war der Grund fürunseren Einwand.Wenn es keine vernünftige Übergangsregelung gibt,könnte es passieren, dass wir diese Medizinprodukte Pa-tienten, die sie brauchen, in Zukunft nicht mehr zur Ver-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015 11001
Parl. Staatssekretärin Ingrid Fischbach
(C)
(B)
fügung stellen können. Es könnte sein, dass es zu einemLieferengpass kommt bzw. dass die Medizinprodukte di-rekt vom Markt genommen werden. Das ist, wie ichglaube, nicht im Sinne der Patienten.Sie haben an dieser Stelle – das haben wir in den Be-ratungen deutlich gemacht – hinsichtlich der hoch risiko-behafteten Medizinprodukte unsere volle Unterstüt-zung. Die müssen sofort vom Markt; das ist gar keineFrage. Aber hier geht es um eine generelle Bestimmung.
Frau Schulz-Asche.
Vielleicht reden wir aneinander vorbei. Sowohl in der
schriftlichen Version meiner Frage als auch in meiner
Nachfrage eben rede ich vor allem von Medizinproduk-
ten der Risikoklasse III. Sie bergen ein hohes Risiko bei
der Anwendung. Das ist auch der Grund, warum wir
überhaupt über eine entsprechende Verschärfung disku-
tieren.
Ich würde gerne einen anderen Punkt aufgreifen. Das
Europäische Parlament hat sich ja aufgrund der Skandale
sehr ausführlich mit diesem Thema befasst und unter an-
derem eine verbindliche Produkthaftpflichtversicherung
in ausreichender Höhe gefordert. Beim Skandal um die
Brustimplantate war es so, dass die betroffenen Frauen
am Ende mit leeren Händen dastanden, weil der Unter-
nehmer, der diese Produkte in verbrecherischer Weise in
Umlauf gebracht hatte, insolvent war und daher nicht
mehr zahlen konnte. Am Ende waren die betroffenen
Frauen die Opfer. Deswegen frage ich Sie: Warum hat
Deutschland die Initiative des Europäischen Parlaments,
nämlich die Produkthaftpflicht verbindlich zu regeln,
nicht unterstützt, und warum ist der Rat insgesamt nur
der Meinung, man könne die Unternehmen zwar auffor-
dern, aber man müsse sie nicht verpflichten?
Frau Staatssekretärin.
I
Frau Kollegin, auch der Vorschlag der Präsidentschaft
sah keine konkrete und speziell für Medizinprodukte re-
levante Einführung einer Produkthaftpflichtversicherung
oder Deckungsvorsorge vor. Dem haben wir uns ange-
schlossen. Wir werden jetzt, da wir in die Trilogverhand-
lungen einsteigen, die Verhandlungen im Europäischen
Parlament abwarten.
Vielen Dank. – Jetzt hat Kollege Terpe eine Nach-
frage. Bitte schön.
Frau Staatssekretärin Fischbach, Sie hatten in Ihrer
Antwort erwähnt, dass die Bundesregierung im EPSCO-
Rat auch deswegen Bedenken hatte und auf Übergangs-
regelungen gepocht hatte, weil die technischen Voraus-
setzungen für Sicherheitstests und die Infrastruktur für
klinische Studien fehlten. Meine erste Frage lautet: Was
unternimmt die Bundesregierung, um in Deutschland die
dafür notwendige Infrastruktur sicherzustellen? Meine
zweite Frage lautet: Was unternimmt die Bundesregie-
rung, um auch in Europa die entsprechende Infrastruktur
sicherzustellen? Wir können ja nicht sagen: Das wird al-
les in Deutschland gemacht. Auch die anderen europäi-
schen Partner sind ja beteiligt.
Bitte schön.
I
Wir werden unsere Vorschläge zuerst einmal auf na-
tionaler Ebene diskutieren und voranbringen. Aber wir
werden nicht müde werden, unsere Forderungen und,
wie ich finde, berechtigten Ansprüche weiterhin auf eu-
ropäischer Ebene zu thematisieren. Allerdings braucht
man auch auf europäischer Ebene Mehrheiten. Solange
wir die Möglichkeit haben, andere Mehrheiten zu be-
schaffen, werden wir uns entsprechend dafür einsetzen.
Vielen Dank. – Ich sehe, es gibt keine weiteren Nach-
fragen.
Ich rufe Frage 24 der Abgeordneten Kordula Schulz-
Asche auf:
Wieso hat sich die Bundesregierung im Rat dem Vorschlag
des Europaparlaments, dass Hochrisikomedizinprodukte und
Implantate von „besonderen Benannten Stellen“ bewertet
werden, die höhere Anforderungen zum Beispiel an die Quali-
fikation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfüllen müs-
sen, nicht angeschlossen, und wie will sie anderweitig sicher-
stellen, dass Medizinprodukte der Klasse III im Interesse der
Patientensicherheit ausschließlich von ausreichend qualifi-
zierten „Benannten Stellen“ bewertet werden?
Bitte, Frau Kollegin Fischbach.
I
Frau Präsidentin, herzlichen Dank. – Frau Kollegin,ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Die Qualität der Be-nannten Stellen und die Zuverlässigkeit ihrer Prüfverfah-ren sind auch aus Sicht der Bundesregierung ein Kern-stück künftiger Rechtsänderungen. Benannte Stellenmüssen europaweit einheitlich arbeiten und auf höchs-tem Niveau qualifiziert sein. Erforderlich sind strengeAnforderungen an Benannte Stellen und deren Benen-nungsprozess, die Konkretisierung der Vorgaben, nachdenen die Benannten Stellen bei den Herstellern dieKonformitätsbewertungsverfahren durchführen, sowiedie Verbesserung der Kontrollen von Herstellern und de-ren Produkten nach dem Marktzugang einschließlich derVornahme unangekündigter Stichproben. Besondere Be-nannte Stellen sind dann nicht erforderlich.Auch wenn nicht jede Detailforderung Deutschlandserfüllt ist, sieht sich die Bundesregierung hier durch denKompromissvorschlag der Präsidentschaft zu Kapitel IV
Metadaten/Kopzeile:
11002 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015
Parl. Staatssekretärin Ingrid Fischbach
(C)
(B)
auf einem sehr guten Weg. Die Schaffung einer zusätzli-chen Benennungs- und Überwachungsinfrastruktur wäremit erheblichen Kosten verbunden, denen per se keineweiteren Verbesserungen der Patientensicherheit im Ver-gleich zu den vorgesehenen Anforderungsverschärfun-gen im bestehenden Benennungssystem gegenüberste-hen.Die in Deutschland für die Benennung und Überwa-chung von Benannten Stellen zuständige Zentralstelleder Länder für Gesundheitsschutz bei Arzneimitteln undMedizinprodukten lehnt die Einführung eines Zweiklas-sensystems von Benannten Stellen und die Schaffungvon Parallelstrukturen ab.
Frau Kollegin Schulz-Asche, haben Sie eine Nach-
frage?
Ich komme noch einmal auf den Skandal mit den
Brustimplantaten zurück. Da hat sich ja herausgestellt,
dass die Benannten Stellen leider nicht wie in anderen
Verfahren europaweit verlässlich sind. Wir haben außer-
dem feststellen müssen – ich glaube, da sind wir einer
Meinung –, dass eine Benannte Stelle, die normaler-
weise die Sicherheit von Toastern oder Kaffeemaschinen
bewertet, nicht gleichermaßen für die Bewertung von
Brustimplantaten oder Herzschrittmachern qualifiziert
ist. Es geht auch darum, dass es einen Unterschied gibt
zwischen der Bewertung von Pflastern und der Bewer-
tung von Produkten, die in den Körper eingebracht wer-
den und dort verbleiben. Wie gesagt, der Brustimplanta-
teskandal hat ein deutliches Licht darauf geworfen.
Deswegen frage ich Sie noch einmal, warum Sie dem
Europaparlament, das sich sehr ausführlich mit dem
Thema befasst hat, nicht folgen und sagen: Die Klassen I
und II können von den Benannten Stellen durchaus be-
wertet werden – auch in der Qualifikationsstärke, die Sie
gerade beschrieben haben –; aber für besonders hoch ri-
sikobehaftete Produkte brauchen wir besondere Qualifi-
kationen, höhere Qualifikationen als bisher.
Bevor die Frau Kollegin antwortet, möchte ich darum
bitten, dass die Zeitvorgaben eingehalten werden. Wir
haben jetzt noch 13 Minuten für die Beantwortung aller
noch anstehenden Fragen. Ich muss deshalb auf die Zeit
achten. – Bitte schön.
I
Frau Präsidentin, ich werde mich kurzfassen. – Ich
habe versucht, in meiner Antwort deutlich zu machen,
dass wir keine Parallelstrukturen wollen. Wir haben die
Struktur der Benannten Stellen. Wenn diese Stellen euro-
paweit nach einheitlichen und vernünftigen Qualitäts-
standards arbeiten, dann reicht das unseres Erachtens
aus. Das Problem im Moment ist, dass sehr unterschied-
lich gearbeitet wird und die Standards nicht gleich sind.
Wir brauchen keine Parallelstrukturen, durch die Mitar-
beiter mit wissenschaftlicher Expertise abgeschöpft wer-
den und mit denen Kosten verbunden sind.
Bitte schön, eine weitere Nachfrage.
Ja, ganz kurz. – Das Europaparlament fordert auch für
Laien verständliche Veröffentlichungen der Prüfergeb-
nisse von klinischen Studien. Werden Sie, wird Deutsch-
land im Sinne des Verbraucherschutzes dieses Anliegen
des Europaparlaments unterstützen?
I
Wir werden unsere Position, die ich im Ausschuss
und auch jetzt gerade dargestellt habe, in den nächsten
Verhandlungen sehr deutlich machen und auch entspre-
chend einbringen.
Ich habe jetzt noch eine Nachfrage des Kollegen
Terpe. – Er verzichtet.
Somit rufe ich die Frage 25 der Abgeordneten Maria
Klein-Schmeink auf:
Wird der Monitor Patientenberatung der Unabhängigen
Patientenberatung Deutschland, UPD, wie jedes Jahr am
1. Juli veröffentlicht, und, wenn nein, warum nicht?
Bitte schön, Frau Kollegin Fischbach.
I
Frau Kollegin, gerne antworte ich auf Ihre Frage. In
der Gesetzesbegründung zum § 65 b SGB V, Bundes-
tagsdrucksache 17/2413, Seite 25, ist festgehalten, dass
die Beratungseinrichtung regelmäßig an die oder den
Patientenbeauftragten über Problemlagen zu berichten
hat. Die Fördervereinbarung zwischen dem GKV-Spit-
zenverband und der Unabhängigen Patientenberatung
Deutschland sieht vor, dass hierfür jährlich ein schriftli-
cher Bericht vorgelegt werden soll. Ein bestimmter Zeit-
punkt hierfür und selbst eine Veröffentlichung dieses Be-
richts sind nicht vorgeschrieben.
Die gemeinsame Pressekonferenz der Unabhängigen
Patientenberatung Deutschland und des Beauftragten der
Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und
Patienten zur Veröffentlichung des Monitors Patienten-
beratung wird dieses Jahr nicht am 1. Juli stattfinden,
sondern zu einem späteren Zeitpunkt.
Haben Sie eine Nachfrage, Frau Kollegin?
Ja, natürlich. – Sie haben nicht dargelegt, warumdiese gemeinsame Veröffentlichung nicht, wie in den
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015 11003
Maria Klein-Schmeink
(C)
(B)
beiden Jahren zuvor, zum 1. Juli vorgelegt wurde, undSie haben auch nicht ausgeführt, wann ein schriftlicherBericht veröffentlicht wird.I
Frau Kollegin, ich habe gesagt, es gibt keine be-
stimmte Vorgabe, nach der dieser Bericht immer am
1. Juli vorgelegt werden muss. Es gibt nicht einmal eine
verpflichtende Vorgabe, nach der er überhaupt veröffent-
licht werden muss. Deshalb bin ich glücklich und froh,
dass die Pressekonferenz stattfinden wird. Sie wird aller-
dings zu einem Zeitpunkt stattfinden, den der Beauf-
tragte der Bundesregierung mit der Unabhängigen Pa-
tientenberatung Deutschland festlegen wird.
Haben Sie eine weitere Nachfrage?
Ja, meine weitere Frage lautet: Sehen Sie einen Zu-
sammenhang mit den aktuellen Meldungen, nach denen
die UPD von einem anderen Trägerverbund abgelöst
wird? In den Medien war insbesondere die Rede davon,
dass ein privatwirtschaftliches Callcenter den Zuschlag
ab 2016 erhalten soll. Sehen Sie da einen Zusammen-
hang? Hat sich aus Ihrer Sicht eine öffentliche Presse-
konferenz vielleicht aus dem Grunde nicht angeboten,
um Fragen der Presse nach diesem Zusammenhang aus
dem Weg zu gehen?
I
Das Vergabeverfahren ist im Gange. Wir werden zu
einem Verfahren, das noch nicht beendet ist, keine Stel-
lung beziehen. Die Vermutung, die Sie anstellen, kann
ich weder bestätigen noch zurückweisen; denn sie käme
mir gar nicht in den Sinn. Insofern gebe ich diese Ant-
wort.
Ich habe jetzt eine Frage der Kollegin Vogler. Bitte
schön.
Vielen Dank. – Frau Staatssekretärin, wenn Sie hier
verkünden, dass diese Pressekonferenz auf jeden Fall
stattfinden wird, frage ich mich schon ein bisschen, wie
die Planung in Ihrem Haus aussieht. Sie wissen also,
dass es diese Pressekonferenz geben wird, können aber
noch nicht einmal eine grobe Zeitangabe machen, wann
es denn dazu kommen wird. Ich denke, wenn das noch in
diesem Jahr stattfinden soll, müssten Sie schon einmal
eine grobe Idee haben, in welchem Monat die Presse-
konferenz stattfinden wird.
I
Frau Kollegin, unser Haus, das Bundesministerium
für Gesundheit, legt den Termin nicht fest. Das obliegt
dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange
der Patientinnen und Patienten. Er wird zu gegebener
Zeit einen Zeitpunkt festlegen.
Vielen Dank. – Ich sehe keinen Wunsch nach weite-
ren Nachfragen.
Wir kommen zur Frage 26 der Abgeordneten
Elisabeth Scharfenberg:
Aus welchen Gründen will die Bundesregierung bis zur
Überarbeitung des Bewertungssystems für Pflegeeinrichtun-
gen jetzt doch an der Veröffentlichung der Pflegenoten fest-
halten, obwohl die Pflegenoten selbst nach Meinung des Me-
dizinischen Dienstes der Krankenversicherung nicht
aussagekräftig sind und „flächendeckend ,Sehr-gut‘-Gesamt-
noten vergeben werden, selbst wenn wichtige Kernbereiche
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
I
Danke schön, Frau Präsidentin. – Liebe Frau Kolle-gin, ich antworte Ihnen gerne: Pflegebedürftige Men-schen und ihre Angehörigen sollen sich ein möglichstobjektives Bild über die Qualität der Pflege in den Pfle-geeinrichtungen verschaffen können. Insbesondere dieGesamtnote der Transparenzberichte in ihrer derzeitigenForm besitzt jedoch nur einen begrenzten Informations-wert. Der jetzt vorgelegte Entwurf für ein zweites Pfle-gestärkungsgesetz sieht deshalb weitreichende neue Re-gelungen dazu vor, die jedoch bei gleichwohl zeitlicheng gesetzten Fristen intensiver Vorarbeit bedürfen.Konkret ist beabsichtigt, die Instrumente der Quali-tätsprüfung und die Qualitätsberichterstattung auf neueGrundlagen zu stellen. Dabei soll der Einbeziehung vonErkenntnissen zur Ergebnisqualität eine besondere Be-deutung zukommen. Mit der Einführung des indikato-rengestützten Qualitätsmanagements geht eine Umstruk-turierung von Prüfinhalten und des Prüfgeschehenseinher; denn die Indikatoren und die Gewinnung vonbewertbaren Informationen hierzu sind in das gegen-wärtige Verfahren der Qualitätsprüfungen und in dieDarstellung der Ergebnisse nach den Transparenzverein-barungen – den sogenannten Pflege-TÜV – nicht ohneWeiteres integrierbar.Die Regelungen im vorliegenden Referentenentwurfsollen daher die Vertragsparteien der Selbstverwaltungin der Pflege dazu verpflichten, die neuen Instrumentefür die Prüfung von Pflegeeinrichtungen und für dieQualitätsberichterstattung auf wissenschaftlicher Grund-lage zu entwickeln. Ziel ist es, im Jahr 2018 ein neuesPrüf- und Transparenzsystem für den stationären Be-reich einsetzen zu können. Im ambulanten Bereich, wo
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11004 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015
Parl. Staatssekretärin Ingrid Fischbach
(C)
(B)
es noch keine wissenschaftlichen Vorarbeiten gibt, solldie Umstellung ein Jahr später erfolgen. Um dies zu er-reichen, sollen auch die Entscheidungsstrukturen derSelbstverwaltung gestrafft werden.
Frau Kollegin Scharfenberg.
Vielen Dank. – Frau Staatssekretärin, ich habe eine
erste Nachfrage dazu. Sie haben ja selbst gesagt, dass
Pflegenoten kein aussagekräftiger Gradmesser für Quali-
tät sind. Nach dem, was wir mitbekommen, ist es derzeit
eher ein Selbstbefassungsinstrument. Pflegekräfte be-
richten uns, dass die Dokumentationen im Sinne der
Pflegenoten ein absoluter Zeitfresser sind. Diese Zeit
würde eigentlich dringend am Bett gebraucht. Ist das
nicht ein ernstzunehmendes Argument gegen dieses In-
strument und für die sofortige Aussetzung?
I
Frau Kollegin, vielen Dank für die Nachfrage. – Wir
sehen die Probleme, aber wissen auch, dass es zurzeit
keine Alternative gibt. Ihre Frage suggeriert, es gäbe ein
anderes System, das schnell einsetzbar und besser wäre.
Das gibt es nicht. Deshalb werden wir uns die Zeit neh-
men, das neue System wirklich wissenschaftlich fundiert
auf den Weg zu bringen. Wir haben ja bei der Einfüh-
rung des Pflege-TÜV gemerkt, welche Probleme es gibt,
wenn so etwas rasch und ohne wissenschaftliche Grund-
lagen gemacht wird. Deswegen sind wir an der Stelle, an
der wir jetzt sind.
Frau Kollegin Scharfenberg, Sie haben noch eine
zweite Nachfrage.
Am Schluss meiner ersten Nachfrage stand ja auch
ein Argument für die sofortige Aussetzung. Darauf ha-
ben Sie leider noch nicht geantwortet; aber vielleicht
machen Sie das ja in Ihrer Antwort auf meine zweite
Frage. – Wie lassen sich denn die Systematik der Pflege-
noten und der damit einhergehende überbordende
Schreibaufwand mit dem angekündigten Bürokratieab-
bau in der Pflege vereinbaren?
Bitte.
I
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Wir haben auf
Grundlage der guten Vorbereitung des Arbeitskreises zur
Entbürokratisierung in der Pflege viele Vorschläge ge-
macht, wie gerade dem Problem der Bürokratisierung
entgegengewirkt werden kann. Wir sind jetzt dabei,
diese Ergebnisse umzusetzen. Wenn die Ergebnisse, die
auch der Pflegebeauftragte der Bundesregierung jetzt
sehr vehement in die Öffentlichkeit trägt, umgesetzt sein
werden, haben wir an dieser Stelle schon eine deutliche
Entlastung.
Ich sage noch einmal: Wir wollen jetzt keinen
Schnellschuss, auch wenn der Bürokratieaufwand gleich
bleibt oder es zu noch mehr Bürokratie kommt. Viel-
mehr wollen wir ein fundiertes System, das dann das alte
ablöst.
Ich sehe keine weiteren Nachfragen.
Wir kommen dann zur Frage 27 der Kollegin
Scharfenberg:
Wie will die Bundesregierung bis zur Überarbeitung des
Bewertungssystems für Pflegeeinrichtungen gewährleisten,
dass Pflegebedürftige und deren Angehörige sich ein aussage-
kräftiges Bild von einzelnen Pflegeeinrichtungen machen
können und nicht von einer guten Gesamtnote über Defizite in
der Pflege getäuscht werden?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
I
Danke, Frau Präsidentin. – Liebe Frau Kollegin, die
von den Vereinbarungspartnern nach § 115 Absatz 1 a
Elftes Buch Sozialgesetzbuch getroffenen Pflege-Trans-
parenzvereinbarungen für den ambulanten bzw. für den
stationären Bereich sehen bisher Noten für die einzelnen
Qualitätsbereiche und eine Gesamtnote vor. Im ambu-
lanten Bereich werden zusätzlich Noten für die einzel-
nen Kriterien dargestellt. Die Bereichs- und Gesamt-
noten ermöglichen derzeit keine differenzierten und
vergleichenden Aussagen hinsichtlich der Qualität von
Pflegeeinrichtungen. Regelungen zur Entwicklung eines
neuen, wissenschaftlich fundierten Verfahrens zur Qua-
litätsmessung und -darstellung und damit zur Über-
arbeitung des Bewertungssystems sind in dem vom
Bundesministerium für Gesundheit vorgelegten Referen-
tenentwurf eines zweiten Pflegestärkungsgesetzes ent-
halten.
Die Fragestellung unterstellt, dass es einen fachlich
einfachen und zeitlich kurzen Weg zu einer Zwischenlö-
sung gebe, die auch einen sinnvollen Übergang zur Ent-
wicklung eines neuen Prüf- und Bewertungssystems dar-
stellt. Aus Sicht der Bundesregierung gilt es aber,
sorgfältig abzuwägen, ob für einen begrenzten Über-
gangszeitraum zusätzliche Ressourcen der Selbstverwal-
tung und in den Einrichtungen in die kurzfristige Neu-
ordnung des bestehenden Systems gesteckt werden
sollen und oder ob die wichtigen und herausfordernden
Arbeiten an einem grundlegend neuen Instrument sofort
im Vordergrund stehen müssen.
Frau Kollegin Scharfenberg.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015 11005
(C)
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Vielen Dank. – Dazu hätte ich eine Nachfrage. Defi-zite in der Pflege werden ja mit anderen Dingen wie ei-ner guten Gesamtnote quasi wettgemacht. Uns geht esdarum, dieses System auszusetzen. Es soll jetzt nicht un-bedingt schnell etwas anderes entwickelt werden, son-dern wir wollen, dass dieses System erst einmal ausge-setzt wird, bis etwas Neues entwickelt ist. Darum frageich noch einmal: Wir erleben derzeit einen Pflegenot-stand. Es gibt Personalmangel, Pfleger, die am Bodensind, und Pflegekräfte, die ständig über ihre eigenenGrenzen gehen bzw. gehen müssen. Am letzten Mitt-woch gab es Demonstrationen von Verdi. Die Pflege-kräfte haben aufbegehrt. In der Charité wurde gestreikt.In Pflegeheimen und stationären Altenheimeinrichtun-gen ist der Zustand nicht anders. Sind denn in diesemZusammenhang Pflegenoten wie „sehr gut“ bzw. „einskomma irgendwas“, die quasi paradiesische Zustände inder Pflegelandschaft suggerieren, nicht wirklich kontra-produktiv?I
Frau Kollegin, ich gebe Ihnen recht. Wir werden ja
ein neues System erarbeiten, weil die Pflegenoten, so
wie sie heute existieren, kaum Aussagekraft haben. Man
muss in die Einzelbenotung gehen. Deswegen werden
wir mit Vehemenz und Kraft dafür sorgen, dass wir zu
einer Benotung bzw. Bewertung kommen, die wirklich
transparent ist und vor allen Dingen denjenigen nützt,
die diese Informationen für ihre Entscheidung, welches
Heim sie aufsuchen sollen, wirklich benötigen.
Vielen Dank. – Vielen Dank auch Ihnen, Frau Kolle-
gin Fischbach.
Alle weiteren Fragen aus diesem Geschäftsbereich
und aus den weiteren Geschäftsbereichen werden
schriftlich beantwortet.
Wir sind damit am Ende der heutigen Fragestunde an-
gelangt.
Ich rufe dann den Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Rolle des Bundes beim Tarifkonflikt bei der
Deutschen Post AG
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Sabine
Zimmermann, Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Linke war in den letzten Wochen auf ver-schiedenen Streikkundgebungen der Kolleginnen undKollegen der Post. Ich finde, wir sollten hier heute zual-lererst den Kolleginnen und Kollegen Respekt für ihrenKampf zollen;
denn sie kämpfen nicht nur für sich, sondern auch für dieBeschäftigten der Posttochter DHL Delivery, welchedieselbe Arbeit machen, aber mit deutlich schlechterenLöhnen abgespeist werden.Millionen Beschäftigte haben in den vergangenenJahren die Erfahrung gemacht, ausgegliedert zu werden,für weniger Geld und natürlich zu schlechteren Bedin-gungen arbeiten zu müssen. Der Streik der Kolleginnenund Kollegen ist auch ein Zeichen, dass diesesLohndumping endlich ein Ende haben muss.
Meine Damen und Herren, nun haben wir heute eineInformation bekommen, die eine bodenlose Frechheitist. Es gibt Hinweise darauf, dass die Arbeitsagentur fürdie Post Streikbrecher sucht. Ich will Ihnen hier dieAnzeige – ich habe sie extra groß kopiert – für das Post-frachtzentrum Magdeburg zeigen und aus dem Stellen-angebot der Arbeitsagentur zitieren: Wir suchen Post-sortierer für einen befristeten Einsatz von zwei bis dreiMonaten. – Die Krönung ist, dass das Ganze für8,20 Euro im Rahmen von Leiharbeit geschehen soll, fürdie der Mindestlohn überhaupt nicht gilt. Wenn das hierin Deutschland so passiert, ist das eine große Sauerei,meine Damen und Herren. Ich fordere eine klare Stel-lungnahme der Bundesregierung, die leider nicht anwe-send ist.
Die Streikenden werden unter Druck gesetzt, und eswird mit weiteren Ausgründungen gedroht. Wissen Sie,was die Beschäftigten von ihren Vorgesetzten gesagt be-kommen: Wenn Du mein Sohn wärst, würde ich Dichzur Arbeit prügeln. – Oder: Wenn Sie den Vertrag zu denschlechteren Bedingungen nicht unterschreiben, dannmelden wir das dem Jobcenter, und dann kriegen Sienoch eine Sperrfrist obendrauf. – Das, meine Damen undHerren, ist Erpressung. Ich bin entsetzt, dass so etwas ineinem Unternehmen in Deutschland, bei dem die Regie-rung im Aufsichtsrat sitzt, möglich ist.
Es muss Schluss sein damit, dass sich das Manage-ment mit derart simplen Rezepten wie brutalemLohndumping eine goldene Nase verdient. Das Einkom-men von Postchef Frank Appel hat sich in diesem Jahrum über 50 Prozent erhöht. Wofür eigentlich? Wir redenhier von 5,2 Millionen Euro Einkommen. Und diejeni-gen, die die Leistung für das Unternehmen erbringen,sollen auf bis zu 20 Prozent des Lohnes verzichten. Dasdarf doch wohl nicht wahr sein.
Weil die Kolleginnen und Kollegen so viel leisten,zeigt dieser Streik auch Wirkung. Die Post kann noch soviele Autos leer durch Hamburg fahren lassen oder Hal-len für nicht ausgelieferte Pakete anmieten: Die Men-schen merken, dass die Briefe und die Pakete nicht mehr
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11006 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015
Sabine Zimmermann
(C)
(B)
so ankommen, wie sie es gewohnt waren. Dass sich diePost aber jenseits legaler Möglichkeiten alles Möglicheeinfallen lässt, diesen Streik zu unterlaufen, ist unglaub-lich.
Ich kann es nicht anders sagen: Es regt mich auf, wennich sehe, wie man hier mit Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmern umgeht.Ich will Ihnen hier zwei weitere Bilder zeigen, die ichebenfalls extra auf Großformat kopiert habe. Diese zei-gen nicht etwa Baucontainer, sondern Container, welchedie Post für slowakische Streikbrecher beim Postverteil-zentrum in Greven-Reckenfeld –
Nehmen Sie jetzt bitte die Blätter wieder runter! Sie
haben sie gezeigt, aber nun nehmen Sie sie bitte wieder
runter. Es gelten für alle hier im Haus gleiche Bedingun-
gen.
– angemietet und auf dem Gelände eines Gartenbau-
betriebs in Hörstel aufgestellt hat. Die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer zahlen sogar noch Miete für diese
„Luxuswohnungen“. Das ist eine Frechheit. So etwas
kann man nicht verstehen.
Bei alldem schweigt die Bundesregierung – und duldet
es noch dazu.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union und
von der SPD, Sie haben vor etwa 20 Jahren die Privati-
sierung der Post auf den Weg gebracht. Nun müssen Sie
zugeben, dass dieser Konflikt ein Ergebnis dieser Ent-
scheidung ist. Das Unternehmen arbeitet profitabel; aber
um die Gewinne zu erhöhen, ist jedes Mittel recht. In
den vergangenen zehn Jahren wurden 8 Milliarden Euro
an die Aktionäre ausgeschüttet – Geld, das bei den Löh-
nen und den Arbeitsbedingungen abgeknapst wurde und
bei der Modernisierung des Unternehmens fehlt.
Es ist ein Skandal, dass die Bundesregierung dem
Post-Vorstand für eine solche Unternehmenspolitik freie
Hand lässt.
Ich muss schon fragen – diese Frage müssen Sie sich ge-
fallen lassen –: Wofür sind Sie eigentlich gewählt wor-
den? Für die Millionen Beschäftigten, die unter anderem
auch bei der Post arbeiten, oder für einzelne Vorstands-
mitglieder, die für Millioneneinkünfte stehen?
Für die Linke ist klar: Wir sagen Nein zum Lohndum-
ping bei der Post und Ja zum Streik der Kolleginnen und
Kollegen. Wir unterstützen sie innerhalb und außerhalb
des Parlamentes.
Danke.
Vielen Dank. – Da einige Kolleginnen und Kollegen
der Fraktion Die Linke so verstört zu mir herüberge-
schaut haben, will ich sagen: Die Regeln, die wir hier
haben, haben wir alle gemeinsam beschlossen – ein-
schließlich der Fraktion Die Linke.
Nächster Redner ist Tobias Zech, CDU/CSU-Frak-
tion. – Bitte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ha-ben uns vor drei Monaten hier im Deutschen Bundestagschon einmal mit diesem Thema, der Tarifauseinander-setzung bei der Deutschen Post, beschäftigt. Ich habeschon damals für die Union gesprochen und gesagt, dassich die Diskussion hier nicht für angemessen halte.Heute haben Sie das Thema wieder auf die Tagesord-nung gesetzt. Meine Damen und Herren von den Linken,ich muss Ihnen sagen: Aus meiner Sicht geschah daswiederum grundlos.Auch wenn ich diese Debatte hier ungeeignet finde,gibt sie mir doch zumindest die Möglichkeit, ein paarDinge klarzustellen.Es handelt sich beim Konflikt zwischen Verdi und derDeutschen Post ganz klar um eine ganz klassische Aus-einandersetzung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitge-ber. Sie hat hier im Plenum des Deutschen Bundestagesnichts, aber auch gar nichts zu suchen.
Wir sprechen hier im Deutschen Bundestag immerwieder gerne von der Tarifautonomie. Sie bedeutet, auto-nom und damit frei von staatlichen Eingriffen zu han-deln. Das gilt übrigens für alle. Das heißt, auch wenn derBund Anteilseigner ist, gibt uns das bei weitem nochnicht das Recht, uns in jede Verhandlung und in jedenKonflikt von Unternehmen, an denen wir beteiligt sind,einzumischen. Was Sie hier machen, ist nichts anderesals ein politisches Schaulaufen ohne inhaltliche Sub-stanz.
Welches Zeichen möchten Sie denn setzen? Wir ha-ben über hundert Beteiligungen. Wollen Sie in Zukunftbei jeder Streitigkeit zwischen Arbeitnehmern und Ar-beitgebern in den Unternehmen, an denen wir beteiligtsind, den Deutschen Bundestag bemühen? Das kanndoch nicht Ihr Ernst sein.
Es ist klar, warum Sie das wollen. Sie können nämlichüberhaupt kein Fan von Tarifautonomie sein, weil fürSie staatliches Handeln wohl immer noch die oberste al-ler Prämissen ist.Ich möchte drei Punkte herausgreifen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015 11007
Tobias Zech
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Erstens. Die Situation der Arbeitnehmer sehen wirhier sehr wohl, und die nehmen wir hier auch ernst.
Man muss aber auch sehen, welche Folgen die Grün-dung der DHL Delivery GmbH langfristig hat. Die Postbaut unbefristete Arbeitsverhältnisse auf.
– Das ist so; das ist die Wahrheit. – Die Deutsche Postzahlt die Tariflöhne auch bei der DHL Delivery GmbHnicht im luftleeren Raum, sondern gemäß den zwischenVerdi und der Speditions- und Logistikbranche ausge-handelten Flächentarifverträgen. Auch das ist die Wahr-heit.
Dazu kommen noch Zahlungen zum Ausgleich und Zah-lungen im Niedriglohnbereich. Auch das ist die Wahr-heit. Ich hätte mir von Ihnen ganz gerne gewünscht, dassSie das hier auch so sagen.Zweitens geht es auch um die Situation der Arbeitge-ber. Wir möchten hier im Land Unternehmen haben, dienachhaltig und wirtschaftlich langfristig denken. Dasheißt, dass wir die Deutsche Post so aufstellen müssenund dass der Post-Vorstand alles dafür tut, dass das Un-ternehmen langfristig wirtschaftlich erfolgreich seinwird. Das ist nicht nur den Kunden in Deutschland, son-dern vor allem auch den Arbeitnehmern, die Sie hier zuvertreten meinen, geschuldet, weil der Vorstand nur dannlangfristig gute Arbeitsplätze garantieren kann. Auchhier muss man die Deutsche Post unterstützen.Drittens. Da wir das Plenum schon bemühen, möchteich die untragbare Situation für die Bürgerinnen undBürger noch ansprechen. Nicht nur Briefe und Zeitungenkommen nicht mehr an, sondern teilweise werden auchMedikamente nicht zugestellt. Labor- und Arztberichtekommen nicht an. Rechnungen werden nicht fristgerechtzugestellt.
Ein kleiner Handwerksbetrieb wird unter Liquiditätsein-bußen leiden, weil es keine Zahlungseingänge gibt. Dasist die Politik, die Sie hier betreiben.
Es kann doch nicht Ihr Ernst sein, zu sagen, dass dassinnvoll ist.
Inzwischen leiden auch Schwerbehinderte unter demStreik, weil sie ihre Wertmarken für eine freie Fahrt mitBus und Bahn nicht bekommen. Ihnen geht es um Ideo-logie, nicht um die Menschen in diesem Land. Auch dasmuss man einmal deutlich sagen.
Ich sehe, ich muss zum Ende kommen. Deswegen nurnoch ganz kurz: Die Arbeitsplätze, die die Deutsche Postaufbaut, gehören zu den bestbezahlten in der Branche;auch das ist korrekt. Ich plädiere für Folgendes: LassenSie Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Ruhe verhandeln.Wir als Politiker dürfen uns nicht einmischen.
Das ist Tarifautonomie. Die Tarifpartner sollen das re-geln; dafür gibt es sie.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Beate Müller-Gemmeke, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Die Deutsche Post AG ist Marktfüh-rer. Der Umsatz steigt. Im letzten Jahr ist die Dividendeder Aktionäre um 6 Prozent erhöht worden. Der Vor-standsvorsitzende erhielt satte 9,6 Millionen Euro. Dasist ein Plus von 21,5 Prozent. Das Unternehmen ist alsokerngesund. Gleichzeitig hat die Post 49 Regionalgesell-schaften gegründet. Die Paketzustellung mit 14 000 Stel-len wird ausgelagert. Hier gilt nur der Logistiktarifver-trag. Herr Zech, das sind keine neuen Jobs. Das sindausgelagerte Jobs. Nehmen Sie das endlich einmal zurKenntnis. Das ist doch nicht so schwer zu verstehen.
Die ganze Sache ist mit externen Beratern von langerHand vorbereitet worden. Es wurden Tausende befristeteJobs geschaffen. Die Beschäftigten werden jetzt in dieRegionalgesellschaften nach dem Motto gedrängt: Ge-haltskürzung oder Kündigung. Die Beschäftigten derPost streiken zu Recht; denn hier wird ein gesundes Un-ternehmen zulasten der Beschäftigten zerlegt. Die Posthat jeglichen Anstand verloren. Das ist nicht akzeptabel.
Die Post begeht hier einen ganz klaren Fall von Tarif-flucht: von einem guten in einen schlechten Tarifvertrag.Die Post zerschlägt damit auch die Mitbestimmung. Dasalles zerstört Vertrauen.Es geht noch weiter – das wurde schon angesprochen –:Die Beschäftigten wurden systematisch unter Druck ge-setzt, sich nicht an den Streiks zu beteiligen. Beamte
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11008 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015
Beate Müller-Gemmeke
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wurden als Streikbrecher eingesetzt, und der Post ist je-des Mittel recht, den Streik zu neutralisieren, etwa mitWerkverträgen und Leiharbeitskräften. Jetzt gibt es auchnoch Sonntagsarbeit, und zwar rechtswidrig. Wenn dabeijetzt die Bundesagentur für Arbeit mithilft, dann ist dasunglaublich. All das ist unanständig.
Das ist nicht demokratisch. So wird die Sozialpartner-schaft aufgekündigt. Das muss aufs Schärfste kritisiertwerden.
Normalerweise sage auch ich, dass sich die Politik beiTarifverhandlungen raushalten muss. Aber in diesemFall ist die Debatte richtig und auch wichtig; denn beider Post trägt nun einmal auch die Bundesregierung Ver-antwortung.
Herr Zech, nehmen Sie das endlich zur Kenntnis.
Die Bundesregierung ist immer noch größter Anteilseig-ner bei der Post. Der Bund hat zwei Sitze im Aufsichts-rat. Ich frage Sie: Wann hören wir endlich etwas von derArbeitsministerin?
Wann hören wir endlich einmal etwas von dem sozialde-mokratischen Wirtschaftsminister?
Wann mischt sich die Bundesregierung endlich ein? Ver-antwortung sieht anders aus.
Diese Verantwortung vermisse ich nicht nur in demaktuellen Tarifvertrag, sondern auch in der Zeit davor.Schon im März habe ich bei der Bundesregierung nach-gefragt, wann die Bundesregierung über die Regionalge-sellschaften informiert war und wie sich die zwei Vertre-ter im Aufsichtsrat dazu verhalten haben. Die Antwortwurde mir verweigert. Die Bundesregierung verstecktsich hinter Verschwiegenheitspflichten und fühlt sichlaut ihren Aussagen für die Beschäftigten nicht zustän-dig. Es bleibt also im Dunkeln, seit wann die Bundesre-gierung über die Regionalgesellschaften Bescheid weiß.Vor allem sehen wir auch die Frage der Verschwiegen-heitspflichten anders. Deshalb klagen wir auch wegenanderer ähnlicher Fälle vor dem Bundesverfassungsge-richt.Natürlich muss die Bundesregierung uns Abgeordne-ten Fragen über Unternehmen beantworten, an denen derBund beteiligt ist. Natürlich hat die Öffentlichkeit dasRecht, zu erfahren, wie sich die Bundesregierung in Auf-sichtsräten verhält, und natürlich können die Menschenerwarten, dass sich die Bundesregierung für das Wohlder Beschäftigten einsetzt. Denn Eigentum verpflichtet.
Bevor Sie noch Atemnot bekommen, Herr Zech: DerKonflikt bei der Post ist kein normaler Tarifkonflikt,sondern es geht um mehr. Es geht um Anstand, Fairnessund kollektive und individuelle Arbeitnehmer- und Ar-beitnehmerinnenrechte. Es geht um Partnerschaft undum Vertrauen in der Arbeitswelt. All dies interessiert dieKonzernleitung zurzeit wenig, und das in einem Unter-nehmen, an dem der Bund beteiligt ist.
Die Bundesregierung sollte also endlich gesellschaftli-che Verantwortung übernehmen und Partei ergreifen.Denn die Beschäftigten der Post haben Unterstützungund Solidarität verdient.
Ich komme zum Schluss. Die Deutsche Post AGsollte endlich auf eine nachhaltige Unternehmenspolitiksetzen. Wichtig sind nicht immer nur steigende Dividen-den, sondern ein guter und verlässlicher Service und eingutes Image durch engagierte Beschäftigte. Die Postmuss also endlich zu einem fairen Umgang mit den Be-schäftigten und den Gewerkschaften zurückfinden undihrer Vorbildfunktion gerecht werden. Alles andere istnicht akzeptabel.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt Ewald
Schurer das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Angesichts der ökonomi-schen Daten des Unternehmens Deutsche Post DHLkönnte man durchaus sagen: Bei 3 Milliarden Euro Be-triebsgewinn und einer hohen und guten Rendite von8,3 Prozent in den letzten Jahren hätte das Managementder Post auch zu einer anderen Entscheidung kommenkönnen und müssen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015 11009
Ewald Schurer
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Ich halte es auch als Abgeordneter der Großen Koali-tion – das ist kein Widerspruch – für richtig, dass wirpolitisch in der Lage sind, so einen Vorgang zu bewer-ten. Dabei spielen auch das Tarifrecht und – das kannman nicht leugnen – die Beteiligung des Bundes eineRolle. Im Übrigen haben alle bisherigen Qualitätstests,die evident waren, ergeben: Die Post und DHL sind imBrief- und Paketbereich qualitativ die Nummer eins,auch deswegen, weil man die Menschen vernünftig be-zahlt bzw. bezahlt hat. Das muss man konstatieren dür-fen. Insofern kann ich mich mit den Kolleginnen undKollegen solidarisieren, die seit 48 Tagen streiken, undzwar nicht just for fun oder weil sie sozusagen wild ge-worden sind; es geht vielmehr um Existenzen.
Wir alle diskutieren immer wieder in vielen Zusam-menhängen wie der Familienpolitik die Möglichkeitengerade auch junger Menschen der mittleren Generation,zum Beispiel eine Familie zu gründen, soziale Sicherhei-ten zu bekommen und den Weg ins Leben zu finden. Ge-nau dem widerspricht dieses strategische Handeln in vol-ler Gänze. Das muss man zugeben, und das kann manfraktionsübergreifend, aber auch als Mitglied der Regie-rungskoalition tun, ohne sich irgendetwas zu vergeben.
Deswegen bin ich der festen Meinung, dass die Postmit der Ausgründung von 49 Regionalgesellschaften de-zidiert die falsche Entscheidung getroffen hat.
Mit guter und auskömmlicher Bezahlung wäre das Un-ternehmen morgen und auch noch in fünf Jahren qualita-tiv und quantitativ der Spitzenreiter im Bereich Briefeund Pakete und könnte das gut verkaufen.Dass man jetzt auf das Lohngefüge der sonstigen Lo-gistikleister im Wettbewerb setzt, die zum Teil nur imMindestlohnbereich agieren, ist strategisch vor allenDingen dann nicht zu verstehen, wenn – das ist ange-sprochen worden – ein Spitzenmanager wie Herr Appelnach einer Erhöhung um über 20 Prozent nun 9,5 Millio-nen Euro verdient. Das kommt nicht gut an, und es zer-stört Vertrauen bei der eigenen Belegschaft und, wie ichweiß, auch bei Kolleginnen und Kollegen der CSU,CDU und der SPD genauso wie bei der Opposition. Das,was dort gemacht wird, ist ökonomisch widersinnig undgeht zulasten der Menschen.
Allen schlechten Beispielen aus der sogenanntenfreien Wirtschaft, die manchmal unter Wettbewerbs-druck gar nicht so frei ist, muss man nicht folgen, vor al-len Dingen dann, wenn man einen öffentlichen Anteil zuverteidigen hat.
Als Haushälter der SPD-Bundestagsfraktion und Mit-glied des Ausschusses für Arbeit und Soziales hätte ichmir gewünscht – das ist keine Fundamentalkritik, wohlaber eine bewusste Erwähnung –, dass das federführendeBMF dazu ein öffentliches Statement abgibt; das wärekein Fehler gewesen.
Ich darf der Opposition allerdings entgegenhalten:Nicht alles – so sagte mir der Kollege Klaus Barthel –,was nicht in den Zeitungen steht und nicht vertont wird,ist nicht geschehen. Es gab politisches Insistieren von-seiten der Fachministerien. Allerdings hat sich dann dasManagement von DHL und Deutscher Post eben andersentschieden. Nun zu beklagen, dass Verdi als Verkörpe-rung der Arbeitnehmerschaft versucht, dagegenzuhalten,um die genannten Niedriglohntendenzen zu unterbinden,ist ein bisschen verlogen;
denn man hätte zuvor gemeinsam mit der Gewerkschaftund der Vertretung der Arbeitnehmer ein anderes Unter-nehmenskonzept erarbeiten und auf die 49 Ausgründun-gen verzichten können.
Ich bin darüber sehr unglücklich und sage deshalb:Reformen – auch im ökonomischen Sinne – müssennicht immer in die Billigschiene münden. Diesen Beweiserbringt oft der Mittelstand. Ich kenne viele Mittelständ-ler, die im Qualitätsbereich, im Servicebereich oder inder Produktion – auch in der Metallindustrie – tätig sindund dezidiert sagen: Ich setze mich mit qualitativ höher-wertigen Produkten, höherem Lohn und höheren Sozial-leistungen von meinen Wettbewerbern ab. – Immer mehrUnternehmen in der Marktwirtschaft machen das. Sietun das bewusst, weil sie wissen, dass das ein Qualitäts-merkmal ist.
Insofern hat die Deutsche Post bzw. DHL eine unter-nehmerische Fehlentscheidung getroffen, die man auchim Parlament als solche bezeichnen darf.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt Albert Weiler.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren aufder Tribüne! Die heutige Aktuelle Stunde erinnert mich
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11010 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015
Albert Weiler
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sehr an den 25. März, als wir über das Gleiche debattierthaben. Ich erinnere an den Film Und täglich grüßt dasMurmeltier. Damals waren sieben Abgeordnete der Lin-ken anwesend, heute sind es immerhin zwölf. Es gibtalso eine gewisse Vermehrung. Sie werden besser. Aberman muss sich das einmal vorstellen: Die Linken bean-tragen diese Aktuelle Stunde und sitzen dann mit zwölfHanseln da. Das ist schon sehr merkwürdig.
– In Bayern sagt man Hansel.Da hier ein paar Behauptungen aufgestellt wurden,die nicht so gut sind, möchte ich eine Anzeige der Deut-schen Post zitieren, die an die Gewerkschaft gerichtetist:Liebe ver.di, Deutschland fragt sich nach 48 Streik-tagen, worum es Euch beim Post-Streik eigentlichgeht. Wir auch! Ihr habt den Tarifvertrag zur Wo-chenarbeitszeit gekündigt, um streikfähig zu sein,aber über unser konkretes Angebot wolltet Ihr nichtverhandeln? Ihr kämpft gegen die neuen Regional-gesellschaften, obwohl wir dort 6 500 Menschenmit unbefristeten Arbeitsverträgen zu Euren eige-nen Tarifkonditionen eine Zukunft geben? Ihr for-dert 140 000 Postmitarbeiter zum Streik auf, dievon den Regionalgesellschaften nicht betroffen sindund für die sich nichts ändert?
Im Interesse unserer Mitarbeiter und Kunden hof-fen wir auf den Beginn konstruktiver Verhandlun-gen, damit wir gemeinsam die Zukunft unseres Un-ternehmens sichern können! Nur so bleiben wir:Die Post für Deutschland.Wir von der CDU/CSU wollen die Post für Deutschlanderhalten und sie nicht kaputtmachen.Am 25. März hatte ich abschließend gesagt, dassVerdi als Tarifverhandlungspartner gefragt ist, wenn esdarum geht, weiterhin positive Tarifverträge für alle Mit-arbeiterinnen und Mitarbeiter der Post- und der Paket-branche auszuhandeln, nicht der Deutsche Bundestagund erst recht nicht die Bundesregierung.
– Danke schön.
Dass Gewerkschaften Streik als Druckmittel einset-zen, ist legitim. Wir garantieren das im Grundgesetz.Auch das sollten Sie einmal lesen. Der Streik ist das Mit-tel der Gewerkschaften, um ihren Forderungen Nach-druck zu verleihen. Allerdings darf eine Gewerkschaftnicht mit überzogenen Forderungen und ziemlich kom-promisslos den Arbeitskampf bis ins Unermessliche füh-ren. Das haben wir zuletzt bei dem Streik bei der Bahngesehen.Die erste Forderung von Verdi nach Senkung der Wo-chenarbeitszeit bei gleichzeitig vollem Lohnausgleichund die zusätzliche Forderung nach einer Erhöhung derTarifgehälter gingen an der Wirklichkeit vorbei. Diesehätten eine Lohnerhöhung von insgesamt 12,5 Prozentund damit eine zusätzliche Personalkostensteigerungvon 600 Millionen Euro bedeutet. Auch die neue Forde-rung bedeutet eine zusätzliche Erhöhung der Personal-kosten von 300 Millionen Euro. Damit wird die Post/DHL kaputtgemacht. Das kann doch nicht das Ziel sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfrak-tion, ich bin mir gar nicht so sicher, ob Sie sich mit derAktuellen Stunde bei Verdi Freunde machen. Auf derWebseite der Gewerkschaft Verdi können Sie ganz klarnachlesen – das sollten Sie wirklich einmal tun –, was indem offiziellen Verdi-Lexikon unter dem Begriff Tarif-autonomie steht. Ich zitiere:Tarifautonomie bedeutet, dass in Deutschland Ar-beitgeber und Arbeitnehmer/innen die Bestimmun-gen zu Urlaub, Gehalt, Arbeitszeiten und vielenweiteren Arbeitsbedingungen selbstständig aushan-deln.Jetzt kommt der entscheidende Satz:Die Politik hält sich heraus.So schreibt Verdi.
Ich wundere mich jedoch sehr. Schaue ich in die Rei-hen der Linken, sehe ich zahlreiche Gewerkschafter undGewerkschaftslobbyisten, die es eigentlich besser wis-sen müssten: Herrn Ernst – er ist heute nicht da –, jahre-lang als Gewerkschaftssekretär und später als gewählterErster Bevollmächtigter der IG Metall tätig, FrauZimmermann, bezahlte Gewerkschafterin, und FrauKrellmann, bezahlte Gewerkschafterin der IG Metall,Frankfurt am Main.
1 000 Euro im Monat nebenbei sind auch nicht schlecht,sage ich einmal.
Sie fallen mit Ihrem Antrag auf diese Aktuelle StundeVerdi ganz offen in den Rücken und untergraben damitdas offizielle Verdi-Konzept, das sich auf Tarifautono-mie stützt. Wir haben circa 70 000 bestehende Tarifver-träge in unserem Land. Der wirtschaftliche Erfolg derdeutschen Unternehmen beweist, dass unser System imGrundsatz gut funktioniert. Diese Form der Lohnfindung– ich werbe ausdrücklich dafür – ist ein Grundpfeiler un-serer sozialen Markwirtschaft.Ich komme zum Ende. Tarifverträge gehören in dieHand der Gewerkschaften und der Arbeitgeber. Ich bitte
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015 11011
Albert Weiler
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Sie, das nun endlich zu verstehen und auch zu akzeptie-ren, damit wir nicht noch ein drittes Mal zu dem glei-chen Thema debattieren.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Weiler. – Wir alle lieben
die lebendigen parlamentarischen Debatten. Aber viel-
leicht können wir uns für die Zukunft darauf verständi-
gen, dass hier unten im Saal Frauen und Männer, Abge-
ordnete bzw. Menschen sitzen. Das wäre ganz schön.
Nächste Rednerin ist Jutta Krellmann, Fraktion Die
Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Herr Weiler, wir haben am 25. März überdiese Frage geredet. Ich persönlich komme aus Nieder-sachsen, nicht aus Frankfurt. Frankfurt liegt in Hessen.Meine IG-Metall-Verwaltungsstelle ist Alfeld-Hameln-Hildesheim. Darauf bin ich sehr stolz.
Als Gewerkschafterin, Herr Weiler, muss ich sagen,dass mir die Galle überläuft, wenn ich sehe, wie das legi-time Recht der Postbeschäftigten mit Füßen getretenwird, nämlich das Recht auf Streik. Es ist überhauptnicht in Ordnung, was da passiert.
Während die Bundesregierung beharrlich schweigt,kommen bei dem Arbeitgeber Post alle möglichen neuenSauereien und Schweinereien zum Vorschein. MeineKollegin hat eben schon Beispiele genannt. Ich kann dasnoch weiter ausführen. Es sind viele Dinge passiert. Esgab Ausschreibungen für befristete Stellen, für Leihar-beiter, Studierende werden mit extra Streikbrecherprä-mien geködert, Pakete werden von betriebsfremden Ta-xifahrern ausgeliefert, der Arbeitgeber Post missachtetwiederholt das Arbeitsverbot an Sonntagen.
Was ist hier eigentlich los in Deutschland? Sagen Siemir das doch einmal. Ich finde, es ist eine ziemliche Ka-tastrophe, was da passiert. Deutschlandweit werden ge-werkschaftsfeindliche Anzeigen in der Springer-Pressemit der Überschrift „Leere Briefkästen hat Deutschlandnicht verdient“
geschaltet. Mit solchen Geschichten wird gegen dieStreikenden Stimmung gemacht. Es ist richtig schäbig,was da passiert.
Aus meiner Sicht ist der Bund absolut gefragt, hiereinzugreifen. Er ist der größte Einzelaktionär – das istauch schon von anderen gesagt worden – bei der Postund damit für die Unternehmenspolitik verantwortlich.Natürlich hat der Bund da etwas zu sagen. Wenn manschweigt, macht man sich bei Gesetzesverstößen dochmit strafbar.
Wenn Arbeitgeber frech das Verbot der Sonntagsar-beit unterlaufen, dann muss auch die Bundesebene han-deln. Wer denn sonst?
Geht nicht, gibt’s nicht.Auf Länderebene allein kommen wir bei der Lösungdieser Probleme offenbar nicht weiter. Während man inBayern mit Sonntagsarbeit anscheinend keine Problemehat, drohen die zuständigen Ämter in Niedersachsen,Thüringen oder Brandenburg mit Bußgeldern. In Bayernist Streikbruch am Sonntag also erlaubt? Woandersnicht, und trotzdem wird es von der Post gemacht. Dasist eine weitere Sauerei. Die Länder drohen mit Bußgel-dern; aber im Grunde sind die Bußgelder am Ende vielzu niedrig in so einer Situation für so ein Unternehmen.
Weil der Arbeitgeber Post keine spürbaren Folgen fürsein strafbares Handeln fürchten muss, kann sich Pro-duktionschef Brinks hinstellen und im Grunde frech sa-gen: Auch unsere zweite Sonntagszustellung war eingroßer Erfolg. – Na toll, kann ich da nur sagen. Genau andieser Stelle kommt mir als Parlamentarierin die Gallehoch: Das Verbot der Sonntagsarbeit auf Länderebenedurchzusetzen, funktioniert offensichtlich überhauptnicht. Der Sonntag muss frei sein, hier und heute.
Dafür mit klaren Regelungen, konsequenter Umsetzungund regelmäßiger Überprüfung zu sorgen, das ist eineAufgabe des Bundes. Genau das haben die Beschäftigtenverdient.Was bedeutet es für die Zukunft, wenn Arbeitgeberglauben, dass Tarifverhandlungen ihnen das Recht ge-ben, Gesetze zu brechen? Was ist, wenn Arbeitgeberdann merken, dass solch ein Verhalten keine unmittelba-ren juristischen oder politischen Folgen hat? Wenn essein muss, rede ich noch zehnmal hier im Bundestagüber diese Situation, und zwar immer dann, wenn es not-wendig ist.
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11012 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015
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Das Tarifeinheitsgesetz konnten Sie hier vor sechsWochen gar nicht schnell genug durchwinken. Durchdieses Gesetz sollten vermeintlich ausufernde Tarifver-handlungen wieder in geordnete Bahnen gelenkt werden.Aber Pustekuchen! Das Gegenteil ist der Fall: Es warennicht die Streikenden bei der Bahn, die die Tarifautono-mie geschwächt haben, sondern es sind Arbeitgeber wiedie Post, die systematisch dafür sorgen, dass Tarifver-träge angegriffen, geschwächt und unterlaufen werden.
Mir läuft die Zeit davon.
Die ist schon davongelaufen.
Die Bundesregierung hat die Einschränkung des
Streikrechts sehr schnell auf den Weg gebracht. Dafür
Sorge zu tragen, dass Streiks garantiert sind, hat sie bis
heute nicht zustande gebracht. Auch ich fordere Frau
Nahles auf: Machen Sie den Mund auf. Sagen Sie, was
Sie von dieser Geschichte halten. Denn es ist nicht in
Ordnung, sich als Arbeitsministerin an dieser Stelle vor-
nehm zurückzuhalten und als jemand, dem das Unter-
nehmen im Grunde gehört, nicht zu sagen, dass man
diese Politik nicht in Ordnung findet.
Ich wünsche den Kolleginnen und Kollegen, die im
Streik sind, die unsere Diskussion hier möglicherweise
verfolgen, ansonsten viel Erfolg in ihrem Kampf.
Ich hoffe, dass sie an dieser Stelle ein gutes Ergebnis er-
zielen.
Vielen Dank an Sie alle, dass Sie mir zugehört haben.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Klaus
Barthel, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das istsehr wohl ein politisches Thema. Kollege Weiler, seienSie mir nicht böse: Sie haben unfreiwillig den Unter-schied zwischen einer Einheitsgewerkschaft und eineranderen Gewerkschaft klargemacht. In der Tat ist es so:Bei der Post streiken momentan über 30 000 Kollegin-nen und Kollegen und bald noch ein paar Tausend mehr,damit 6 000 Personen nicht aus einem Tarifvertrag aus-gegrenzt werden und den damit verbundenen Schutznicht verlieren.
Bei anderen Gewerkschaften wie bei der Gewerkschaftder Lokführer geht es explizit darum: Wir wollen etwashaben, und alle anderen dürfen es nicht haben. – Das istder Unterschied zwischen einer Einheitsgewerkschaftund diesem Streik und dem, was wir an anderer Stellediskutiert haben.
Die Führung dieses Unternehmens, von dem wirheute reden, verstößt gegen zentrale Ziele unseres Koali-tionsvertrags; auch deswegen ist es ein Thema für unshier. Im Koalitionsvertrag steht nämlich: gute Arbeit füralle, faire Bezahlung, starke Sozialpartnerschaft, allge-meinverbindliche Tarifverträge, Tarifeinheit und Mitbe-stimmung. Liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Ko-alition, daran sollten wir uns selber halten, auch in dieserAuseinandersetzung.Gegen diese Ziele verstößt der Vorstand dieses Unter-nehmens fundamental und auf perfide Weise.
Anstatt gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichenOrt zu bezahlen, werden in den Sortierzentren – dasmuss man sich einmal bildlich vorstellen – entweder di-cke Linien gezogen oder sogar Zäune errichtet, um dieeinen, die dieselbe Arbeit machen wie die anderen, vonden anderen zu trennen, um dann zu rechtfertigen, dassdie einen mehr Geld kriegen als die anderen. Das istdoch ein Aberwitz!
Es geht natürlich auch um die Flucht aus der Mitbe-stimmung, und es geht um Konfrontation statt um Part-nerschaft. Im Arbeitskampf werden nicht nur Werkver-träge und die Leiharbeit missbraucht, sondern es wirdsogar gegen unsere Verfassung verstoßen, meiner Mei-nung nach in zwei Punkten auf jeden Fall, einmal wennes um die Einhaltung des Postgeheimnisses geht. Ichkann mir kaum vorstellen, wie das Postgeheimnis einge-halten werden soll, wenn jede Menge Kräfte von außenkurzfristig hereingeholt werden und dort nicht nur ir-gendwelche Unternehmenskataloge sortieren, sondernden ganzen Postverkehr.Es wird zum anderen verstoßen gegen das Verbot derSonntagsarbeit. Das muss man einmal nachlesen. In un-serer Verfassung – Artikel 139 der Weimarer Verfassung,übernommen durch Grundgesetzartikel 140; Sie alle ha-ben das in Ihren Schubladen; darum brauche ich es nichthochzuhalten – heißt es – ich zitiere wörtlich –:Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feier-tage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seeli-schen Erhebung gesetzlich geschützt.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015 11013
Klaus Barthel
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So etwas steht auch in vielen Landesverfassungen.Deswegen ist es gut, dass viele sozialdemokratischeLandesminister und Landesregierungen gegen die Sonn-tagsarbeit jetzt vorgehen. Ich verstehe nicht, dass dasnicht alle tun; denn weder hat Streikbrecherarbeit amSonntag etwas mit seelischer Erhebung zu tun, noch gibtes irgendein öffentliches Interesse, dass Streikbrecheram Sonntag arbeiten. Das muss hier zum Thema Politikganz klar gesagt werden.
Ja, es ist richtig: Der Wettbewerb auf dem Brief- undPostmarkt ist hart und nicht immer fair. Die Erhebungender Bundesnetzagentur, die wir immer wieder durchfüh-ren lassen, haben deutlich gemacht, dass die Löhne imBriefsektor außerhalb der Deutschen Post AG noch vorzwei Jahren weit unter dem Mindestlohn lagen. Neue Er-hebungen, jetzt gerade fertiggestellt, zeigen: Bei denStichproben, die sowohl bei den Subunternehmen derPost wie auch bei den Wettbewerbern erhoben wordensind, haben nur gut die Hälfte der befragten Unterneh-men überhaupt geantwortet, obwohl sie gesetzlich dazuverpflichtet sind.
Da ist doch die Frage, ob sie nicht etwas zu verbergenhaben. Es ist deutlich geworden, dass noch 2013 bei die-sen Subunternehmen die durchschnittlichen Löhne deut-lich unter dem Mindestlohn von 8,50 Euro gelegen ha-ben und dass es einen starken Verdacht auf massenhafteScheinselbstständigkeit gibt.Umgekehrt ist aber auch wahr, dass wir mit dem Min-destlohn die Löhne bei den Wettbewerbern erhöht habenund damit die Schere langsam schließen. Wahr ist weiter,dass sich die Schere auch dadurch schließt, dass die Ge-werkschaften zu neuen Einstiegslöhnen bereit waren. Sieliegen jetzt nicht mehr bei 17 Euro, mit denen die PostAG überall winkt – das sind die alten Tarifverträge –,sondern nur noch bei 14 Euro. Auch dadurch wird dieSchere geschlossen.Wahr ist ferner, dass die Koalition jetzt darangehenwird, den Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgenzu bekämpfen.
Wahr ist auch – da sind wir jetzt dran –, dass wir im Ver-gaberecht soziale Standards einführen wollen, die eszum Beispiel ermöglichen und, wie wir meinen, sogarverbindlich vorschreiben,
dass bei der öffentlichen Vergabe zum Beispiel durchLandesjustizverwaltungen oder durch Kommunen ebennicht mehr der billigste Briefdienst zum Zuge kommt,sondern der, der sich an Tarifverträge hält.
Auch darauf könnte die Deutsche Post AG setzen, –
Herr Kollege Barthel.
– wenn sie mehr Wettbewerb will.
Da wir als Abgeordnete hier öffentlich etwas sagen
können, was Ministerinnen und Minister nicht sagen
können: Wir fordern den Vorstand der Post AG auf, sei-
nen Amoklauf gegen die Beschäftigten und die Gewerk-
schaft umgehend zu stoppen und dafür zu sorgen, dass
wir uns für dieses bundeseigene Unternehmen nicht
mehr schämen müssen.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege
Dieter Janecek, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Lieber Herr Zech, lie-ber Herr Weiler, ich bin kein Mitglied von Verdi, abertrotzdem ist mir als Mitglied des Wirtschaftsausschussesder Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ nichtfremd. Ich bin aber sehr befremdet darüber, dass Sie hierdie Legitimität dieser Debatte infrage stellen; denn Faktist: Der Bund ist hier mit 21 Prozent mit im Boot. Wirhaben Verantwortung, Sie haben Verantwortung, alsostellen Sie sich auch dieser Verantwortung!
Ich lese Ihnen nun etwas von Pricewaterhouse-Coopers vor. Die stehen uns Grünen ja nicht zwangsläu-fig nahe. Die haben 2010 etwas aufgeschrieben, was Sieals wirtschaftsnah Geltende ja sicher auch lesen, nämlichzur Frage von unternehmerischer Verantwortung, Corpo-rate Responsibility, insbesondere zu sozialen und ökolo-gischen Kriterien. Dort steht:Aufgabe des Aufsichtsrats ist es, die Führung derGeschäfte durch den Vorstand zu überwachen. …Sobald ein CR-Thema wesentlich für das Unterneh-men ist, gehört es zur originären Aufgabe des Auf-sichtsrats, sich damit zu beschäftigen …
Das war rein aus wirtschaftspolitischer Sicht argu-mentiert. Die Deutsche Post hat eine Entsprechungser-klärung zum Corporate-Governancekodex abgegeben.Auch dort steht, dass Vorstand und Aufsichtsrat zumWohle des Unternehmens eng zusammenarbeiten. Genau
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11014 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015
Dieter Janecek
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das erwarten wir heute durch diese Debatte, dass zumWohle des Unternehmens, zum Wohle der Beschäftigteneng zusammengearbeitet wird. Also geben Sie uns bitteauch Auskunft dazu und tun Sie nicht so, als wäre daseine Debatte, die wir hier nicht führen dürfen.
Was ist nun der Sachstand? Warum sind wir heutehier? Weil der Vorwurf im Raum steht – da danke ichden Linken und auch Beate Müller-Gemmeke für die un-ermüdliche Aufklärungsarbeit der letzten Monate –, dassdie Post AG mit unlauteren Praktiken arbeitet. Das istdoch kein Vorwurf, den wir einfach ignorieren können.Deswegen ist es völlig richtig – und von mir aus gerne ineinem halben Jahr, in einem Jahr und in eineinhalb Jah-ren wieder, wenn das nicht eingestellt wird –, dass wirheute darüber reden.Wir, zum Beispiel meine Kollegin, haben immer wie-der Nachfragen an das BMF, an Staatssekretär Kampetergestellt. Die Antworten sind, ehrlich gesagt, eine Frech-heit, weil es keine Antworten auf die Fragen nach seinerRolle, nach der Rolle des BMF im Aufsichtsrat sind.
Und die ist vorhanden. Von daher können Sie nicht ein-fach sagen: Wir haben dazu keine Auskunft zu geben. –Sie haben sie gegenüber dem Parlament zu geben. Wel-ches parlamentarische Verständnis haben Sie denn?
Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt, mit dem wiruns beschäftigen müssen. Natürlich ist die Deutsche PostAG in einem internationalen Konkurrenzkampf und iminternationalen Wandel. Sie in der SPD und auch Minis-terin Nahles reden ja vom Grünbuch 4.0 bei der digitalenArbeit. Also: Wie wollen wir im Zeitalter der Digitalisie-rung Arbeit gestalten? Und das erste Signal, das wir jetztvon der Deutschen Post AG mitbekommen, ist, dassLöhne unter Druck geraten, dass entsprechende Stan-dards unter Druck geraten. Es ist nicht die Vorstellung,die wir von der digitalen Arbeit der Zukunft haben, dasssie eine Arbeit der Entrechtung wird.
Was wir also brauchen, sind aktive Aufsichtsräte, einaktives Beteiligungsmanagement bei den Bundesbeteili-gungen. Deswegen bitte ich Sie: Gestalten Sie, und hö-ren Sie auf mit dem kläglichen „Uns sind doch dieHände gebunden“. Wir wollen erst einmal Informationenüber Ihren Anteil in der Bundesregierung: Was habenSie getan? Was ist Ihre Haltung im Aufsichtsrat gewe-sen, auch in der Frage der künftigen Strukturierung der49 Ausgründungen? Diesbezüglich haben wir doch ei-nen Informationsanspruch. Bitte nehmen Sie das wahr.Nehmen Sie Ihre Position insgesamt wahr. Tragen Siedafür Verantwortung, und sichern Sie bitte zukunftsfä-hige Arbeitsplätze mit guten Standards und nicht das Ge-genteil.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt
Antje Lezius das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kollegen! Der aktuelle Streik bei derPost fügt sich nahtlos ein in zahlreiche Arbeitsniederle-gungen der letzten Zeit: der Lokführer, der Piloten undder Erzieher. Ich glaube, den Bürgern reicht es mittler-weile.
Aus diesem Grunde ist es wichtig, dass wir über dasSpannungsverhältnis zwischen Streikrecht und Daseins-vorsorge reden. Ich bin den Linken deswegen dankbar,dass wir diesen Punkt auf der Tagesordnung haben.
Ohne Frage, das Streikrecht ist ein wichtiges Mittelzur Durchsetzung von Arbeitnehmerinteressen. Aller-dings nutzt sich dieses Mittel sehr schnell ab, weil seineWirkung im Wesentlichen auf der Außenwahrnehmungberuht.
Streikende sind zur Durchsetzung ihrer Interessen auchdarauf angewiesen, dass die übrige Bevölkerung Ver-ständnis für ihre Position hat und diesen Streik als legi-tim empfindet. Dies ist aber nicht mehr der Fall, wenndieses letzte Mittel in der tarifpolitischen Auseinander-setzung zu oft oder unverhältnismäßig angewendet wird.
Wenn Verdi hier einen unbefristeten Streik ankündigt,dann sollten wir hinterfragen, ob hier eine Gewerkschaftnicht womöglich im eigenen Interesse handelt und nichtim Interesse der Arbeitnehmer, die sie zu vertreten hat.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015 11015
Antje Lezius
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Dieser Streik wird auf dem Rücken von Millionen Men-schen ausgetragen, die auf die Dienstleistungen der Postwie auch die der Lokführer oder der Erzieher angewie-sen sind.
Hunderttausende Arbeitnehmer konnten ihre Kindernicht mehr zur Kita bringen, ebenso konnten Hundert-tausende wegen des Lokführerstreiks ihre Familien nichtsehen oder versäumten wichtige Geschäftstermine.
Ich finde es problematisch, wenn Einkommen nichtmehr erwirtschaftet werden können und Existenzen inGefahr sind, weil manche Dienstleistungen nicht mehrerbracht werden.
Diejenigen, die zum Streik aufrufen, müssen sich fra-gen lassen:
Ist der Streik wirklich das letzte Mittel der Wahl? Hättenicht noch mehr verhandelt werden können? Denn eskostet viel, viel Geld. Streiks bedeuten immer auch einenimmensen wirtschaftlichen Schaden. Und der wirkt sichim Endeffekt natürlich auch wieder auf die Beschäftig-ten aus.
Nehmen wir zum Beispiel den Hamburger Hafen. Siehaben gesehen, wie der Hamburger Hafen durch dennicht mehr erfolgten Containertransport während desLokführerstreiks regelrecht lahmgelegt war.
Und somit kommen wir direkt zur Deutschen Post.Die Deutsche Post hatte in diesem Sinne angeboten, denBeschäftigten in der Paketzustellung zwar weniger Ent-gelt zu zahlen – übrigens nach dem von Verdi verhan-delten Logistiktarifvertrag –, sie dafür aber aus den be-fristeten Beschäftigungsverhältnissen in unbefristete zuüberführen.
Dieses Mehr an Sicherheit für die Beschäftigten ist zubegrüßen. Ich hätte nicht gedacht, dass sich die Linkeeinmal gegen unbefristete Arbeitsverhältnisse wendet,meine sehr geehrten Damen und Herren.
Unternehmen sind einerseits in der Fürsorgepflicht fürihre Arbeitnehmer, aber andererseits müssen sie im Hin-blick auf die Konkurrenz am Markt auch dafür sorgen,dass sie wettbewerbsfähig bleiben. Hierzu sind selbst-verständlich auch Umstrukturierungen nötig. Das sindunternehmensinterne Entscheidungen im Rahmen unse-rer Wirtschaftsordnung, bei denen sich der Staat nichteinmischen darf. Wir von der Unionsfraktion sind dage-gen der Meinung, dass sichere Arbeitsplätze den Men-schen helfen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, unddass dies auf jeden Fall besser ist als betriebsbedingteKündigungen.Sprechen wir zum Schluss doch einmal über die Ar-beitsverhältnisse der Zukunft. Wie sehen diese aus? Waskönnen wir tun, um geeignete Rahmenbedingungen fürgute Arbeit zu schaffen? In Zukunft werden sich die Ar-beitsverhältnisse grundlegend wandeln – das belegen dieFakten –, und zwar aus technischen, demografischen undgesellschaftlichen Gründen.
Arbeit wird sich zukünftig auch stärker an diese Ge-gebenheiten und an die geänderten Bedürfnisse der Men-schen anpassen müssen. So muss beispielsweise Teil-zeitarbeit kein Indiz für prekäre Beschäftigung sein. Siekann eine Möglichkeit sein, eine individuelle Work-Life-Balance herzustellen.Die Zukunft der Arbeit ist etwas, das die Tarifpartneroriginär betrifft. Sie sollten sie aktiv gestalten. Bei denGewerkschaften vermisse ich diesen in die Zukunft ge-richteten Gestaltungswillen. Stattdessen verkämpft sichVerdi gerade in Gefechten von vorgestern, um die eigeneExistenz zu rechtfertigen.Ich wünsche mir, dass die Gewerkschaften den Struk-turwandel in der Arbeitswelt begreifen und den Men-schen hier Hilfestellung geben; denn damit würden sieihre Bedeutung für die Zukunft unterstreichen, anstattsie infrage zu stellen.Danke schön.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Markus Paschke,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ichmöchte eines vorwegschicken, damit hier gar kein fal-scher Eindruck aufkommt: Mit den Sozialdemokratenwird das Streikrecht nicht angefasst.
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Markus Paschke
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Für diejenigen, die nicht so viel Erfahrung damit ha-ben: Ein Streik richtet sich nicht nach außen – es gehtnicht um die Außenwirkung –, sondern nach innen; dennnur, wenn er sich nach innen richtet, kann man in demUnternehmen oder in der Branche etwas verändern.
Ich kann ganz deutlich sagen: Die SPD-Fraktion undich unterstützen den Arbeitskampf der streikenden Män-ner und Frauen bei der Deutschen Post AG.
Tarifflucht geht gar nicht, und nichts anderes tut die Postin dieser Frage. Mit der Auslagerung von Tausenden Ar-beitsplätzen unterläuft sie einen gültigen Tarifvertrag.Sie versucht, tarifliche Vereinbarungen und die Mitbe-stimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zuumgehen, und sie tut das mit zunehmend fragwürdigenMethoden. Statt sich mit Verdi an einen Tisch zu setzenund vernünftig zu verhandeln, beweist die Deutsche PostKreativität nur beim Einsatz von Streikbrechern.
Den Hinweis auf noch schlechtere Arbeitsbedingun-gen bei Mitbewerbern finde ich, gelinde gesagt, zynisch.
Lohndumping und Scheinselbstständigkeit sollten wirgemeinsam bekämpfen und nicht als Argument für dieAbsenkung von Standards nutzen.
Es geht hier um den Wert der Arbeit. Gute Arbeitbraucht auch gute Löhne. Die befristet bei der Post be-schäftigten Zustellerinnen und Zusteller werden vor dieWahl gestellt: entweder weniger Geld oder Arbeitsamt.Das ist die klassische Wahl zwischen Pest und Cholera.Apropos Arbeitsamt: Die Agenturen für Arbeit dürfenbei Streiks nur sehr eingeschränkt vermitteln.
Die Arbeitnehmer müssen in den Vermittlungsangebotendarauf hingewiesen werden, dass der Betrieb bestreiktwird – das nur für diejenigen, die dies nicht wissen –,und können die Annahme der Arbeit verweigern.
Trotzdem – das ärgert mich – finden sich auf der Seiteder BA Dutzende Angebote von Leiharbeitsfirmen fürPostzusteller ohne solche Hinweise.
In diesem Zusammenhang kann ich nur sagen: Es wirdZeit, dass wir das, was wir im Koalitionsvertrag verein-bart haben, nämlich das Verbot, Leiharbeiter für Streik-brecherarbeiten einzusetzen, jetzt zügig umsetzen.
Die Agenturen, auf deren Seiten diese Stellenangebotezu finden sind, fordere ich auf, sie aus dem Netz zu neh-men und die Neutralität zu wahren.
Mit der Ausgründung von 49 Zustellgesellschaftenversucht die Post ganz klar, den gültigen Tarifvertrag zuumgehen und gleiche Arbeit ungleich zu bezahlen. Sieversucht, eine Zweiklassengesellschaft einzurichten.Dass die betroffenen Beschäftigten dagegen protestierenund streiken, kann ich gut verstehen. Mehr noch: Ich un-terstütze und ermutige sie ausdrücklich,
und ich wünsche den Streikenden viel Kraft für ihrenKampf um gute Arbeit.
Ich finde, es wird Zeit, ernsthaft eine Lösung zu su-chen, statt die Mitarbeiter am Sonntag arbeiten zu lassen.Damit wurde eine rote Linie überschritten. Ich sage demVorstand der Deutschen Post ganz klar: So etwas gehtgar nicht.
Die zuständigen Länder haben sich da klar positioniert.„NRW hält Sonntags-Zustellung für illegal“, „BerlinerSenat droht Post mit Zwangsgeld“, „Niedersachsen ver-bietet Sonntagszustellung“ – so titelten verschiedeneZeitungen, und ich sage: Das ist richtig so.
Der Streik der Postangestellten ist rechtmäßig, undrechtmäßiger Streik darf nicht durch rechtswidrige Maß-nahmen unterlaufen werden.
Das hat auch ein Unternehmen wie die Deutsche Post zubegreifen.Die Deutsche Post ist nicht nur ein Dienstleister untervielen, sondern sie steht in der Tradition eines Unterneh-mens der öffentlichen Daseinsvorsorge mit jahrzehnte-langer, vor allem bewährter Mitbestimmungskultur. Dashat sie bisher von anderen Unternehmen unterschieden,und das sollte sie auch zukünftig von anderen Unterneh-men unterscheiden.Vorstand und Aufsichtsrat haben nicht nur die Interes-sen der Aktionäre zu vertreten, sondern auch die der Ar-beitnehmer und der gesamten Gesellschaft; denn Eigen-
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Markus Paschke
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tum verpflichtet. Das ist ein wesentlicher Artikel unseresGrundgesetzes.
Keiner von uns will, dass sich eine Bundesregierungin einen Arbeitskampf einmischt. Aber ich erwarte, dassdie Vertreter des Bundes im Aufsichtsrat im Sinne unse-res Grundgesetzes agieren.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als Nächster hat jetzt Dr. André
Berghegger das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Dis-kussion über den Poststreik, das spüren wir gerade, istsehr emotional. Die Diskussion über Streiks in unseremLand wird fortgesetzt. In den letzten Wochen und Mona-ten waren verschiedene Bereiche betroffen, einige wur-den eben angesprochen. Das Unverständnis in der Be-völkerung wächst,
aber dafür gibt es ganz unterschiedliche Argumente.Die Arbeitnehmerseite argumentiert, dass es fraglichist, ob die getroffenen Maßnahmen angesichts des Kon-zernergebnisses der Deutschen Post rechtmäßig und zu-lässig sind. Es gibt aber auch die Seite der Kunden, dieimmer wieder anführen – die Probleme wurden vorhinschon geschildert –, dass Postsendungen nicht rechtzei-tig ankommen, dass Fristen ablaufen etc.Ich bin sehr gegen pauschale Vorverurteilung oder ge-gen pauschale Vorwürfe. Ich würde sagen, ein differen-zierter Blick auf die Situation lohnt sich immer. WelcheRolle spielt eigentlich der Bund in dieser Situation? Ichwürde sagen, es gibt verschiedene Dimensionen diesesThemas. Einige Aspekte möchte ich an dieser Stelle an-reißen.Die flächendeckende Versorgung mit Dienstleistun-gen im Postwesen gewährt der Bund durch verschiedeneGesetze. Der Bund hält an der Post AG – das haben wirgehört – über die KfW-Bank seit 2013 rund 21 Prozent.Die Post ist jedoch ein börsennotiertes Unternehmen,und das wiederum hat zur Folge, dass die Entscheidun-gen im Rahmen der Gesetze unternehmerisch getroffenwerden.
In § 76 Absatz 1 des Aktiengesetzes heißt es, dass derVorstand die Gesellschaft unter eigener Verantwortungzu leiten hat. Der Vorstand vertritt nämlich die Post AGbei den Tarifverhandlungen, und diese werden im Rah-men der Tarifautonomie nach dem Grundgesetz geführt.Der aktienrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz hatzur Folge, dass es keine Einflussnahme durch Anteils-eigner und keine Sonderrechte zulasten anderer Anteils-eigner geben soll; denn bei den Anteilseignern könnenverschiedene Interessen vorliegen. Die Bundesregie-rung hat im Gegenteil sogar die Pflicht zur Neutralität,auch bei Unternehmen mit Bundesbeteiligung.Der Aufsichtsrat – auch das haben wir mehrfach ge-hört – besteht aus 20 Vertretern, 10 von der Arbeitneh-merseite und 10 Anteilseigner, davon 2 vom Bund. Manhat also keine rechtliche Mehrheit im Aufsichtsrat.
Deshalb bewerte ich die rechtliche Dimension so, dasses keine rechtlich zulässige Einflussmöglichkeit, keineBeeinflussung durch den Bund gibt.Aber worum geht es inhaltlich? Inhaltlich reden wirvon der zukunftsfähigen Ausrichtung des Post- und Pa-ketbereiches bei stark wachsendem Paketgeschäft, ins-besondere im Geschäftskundenbereich. Hier geht esauch um die langfristige Schaffung und Sicherung vonArbeitsplätzen in einem starken Wettbewerb in der Bran-che.
In den nächsten Jahren sollen bis zu 10 000 neue un-befristete und sozialversicherungspflichtige Stellen imPaketgeschäft geschaffen werden.
Jedes Privatunternehmen würde in dieser Gemengelageversuchen – in Anführungszeichen –, „schlank zu wer-den“, das heißt, einen Blick auf die Kosten zu werfen.Deswegen habe ich im Grundsatz Verständnis für einigeVerhaltensweisen der Post. Man muss nämlich auch be-achten, dass die Deutsche Post AG in dieser Branche daseinzige Unternehmen ist, das staatlich reguliert ist. DiePreisgestaltung ist also eingeschränkt. Wettbewerbsfä-hige Löhne spielen sicherlich eine Rolle. Die Personal-kosten bei der Deutschen Post, von der Arbeitnehmer-seite bisher unbestritten, liegen im Durchschnitt deutlichüber denen der Wettbewerber.Aber hier geht es um Ausgliederungen, um Tochter-unternehmen, für die andere Tarifverträge gelten.
Auch diese Tarifverträge wurden mit Verdi ausgehan-delt, und auch hier sind die Löhne höher als bei denWettbewerbern. Der Durchschnittslohn in den Regional-gesellschaften liegt bei knapp 13 Euro pro Stunde. Des-wegen kann bei dieser Konstellation in rechtlicher Hin-sicht sicherlich nicht von einer Tarifflucht gesprochenwerden.
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11018 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015
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Bestehende Arbeitsverträge bleiben unberührt; inso-weit kommt es nicht zu finanziellen Einbußen. Es kommtin dieser Zeit nicht zu betriebsbedingten Kündigungen.Arbeitnehmer, deren befristete Arbeitsverträge auslau-fen, werden angesprochen, und ihnen wird eine unbefris-tete Anstellung angeboten.
6 500 neue Mitarbeiter sind bis jetzt geworben wor-den. Da es viele Bewerbungen aus dem freien Arbeits-markt gibt – –
– Lassen Sie mich doch einmal ausreden.
– Dann reden Sie nicht dazwischen. – Angesichts dieservielen Bewerbungen muss diese Konstruktion also einegewisse Attraktivität haben.
Die Mitbestimmung wird aus meiner Sicht nicht aus-gehöhlt; denn rechtlich – ich bin immer nur bei derrechtlichen Ebene – fällt es in die Organisationshoheiteines Unternehmens, Tochterfirmen zu gründen. Wenndiese nicht mitbestimmungspflichtig sind, wie das hierder Fall ist, dann ist das sehr bedauerlich – das sehe ichauch so –, aber es ist rechtlich nicht zu beanstanden.Ich komme immer wieder darauf zurück: Der Bundhat hier keinen Einfluss. Die Tarifverhandlungen sindSache der Sozialpartner. Ich sage es aber ausdrücklich:Man muss nicht alles, was man tarifvertraglich machenkann, auch machen. Meine Bitte an alle Beteiligten lau-tet deshalb, mit den gegenseitigen Vorwürfen aufzuhö-ren, sich an einen Tisch zu setzen und nach einer Lösungzu suchen, die sowohl für die Arbeitnehmer als auch fürdie Unternehmen sinnvoll ist.
Wir sind als Bund nicht die Arbeitgebervertretung derDeutschen Post. Wir sind aber genauso wenig die Ar-beitnehmervertretung der Deutschen Post.
Ich hoffe, dass es zeitnah eine gute Lösung gibt.Vielen Dank fürs freundliche Zuhören.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Axel
Knoerig, CDU/CSU-Fraktion.
Werte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dasist nun schon das dritte Mal, dass die Linke eine Ak-tuelle Stunde zum Tarifkonflikt bei der Post beantragt.
Letzte Woche haben Sie eine andere Priorisierung vorge-zogen und Ihren Antrag dazu zurückgezogen.
Auch heute geht es nur um einen Schaufensterantrag,
der mich an dem politischen Grundwissen der Linkenzweifeln lässt.
Wir müssen immer wieder fragen, inwiefern der Bundhier eine tragende Rolle spielt. Ich wiederhole es gerneund fasse es noch einmal zusammen:
Erstens. Der Bund ist zwar über die Kreditanstalt fürWiederaufbau mit 21 Prozent an der Post beteiligt, docher hat keinerlei Einfluss auf das Geschäftsgebaren unddie Betriebsorganisation des Unternehmens.
Zweitens. Dieser Konflikt ist ausschließlich Sache derTarifpartner. Tarifpartner sind die Deutsche DHL Groupund die Gewerkschaft Verdi.
Drittens. In einer sozialen Marktwirtschaft mischensich Staat und Politik nicht in Tarifangelegenheiten ein,und das ist auch gut so.Auf Ihr Verlangen hin wollen wir das heute trotz alle-dem tun. Dabei muss man das Thema genau reflektieren:Die Post hat unter dem Namen DHL Delivery 49 regio-nale Tochtergesellschaften gegründet. Verdi sieht darineinen Verstoß gegen den laufenden Beschäftigungspakt,der jegliche Fremdvergabe, auch konzernintern, aus-schließt.
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Axel Knoerig
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Verdi hat daraufhin Tarifverhandlungen abgelehnt. DiePost hat deshalb den Tarifvertrag des Arbeitgeberver-bandes SPEDLOG für die Tochterfirmen übernommen.Die Gewerkschaft wertet dies als Flucht aus dem Haus-tarifvertrag und ist daher nach gescheiterten Verhandlun-gen in den unbefristeten Streik getreten.
Fremdvergabe und Tarifflucht – das sind also dieStreitpunkte in diesem Konflikt. Dabei sind folgendeFakten zu berücksichtigen:Erstens. Die Paketbranche ist hart umkämpft und zu-gleich streng reguliert durch die Bundesnetzagentur. Da-durch besteht nur geringer Spielraum in der Preisgestal-tung. Da die Post die höchsten Paketpreise hat, muss sieihre Personalkosten senken, um gegen die billigere Kon-kurrenz bestehen zu können.
Zweitens. Traditionell werden bei der Post die höchs-ten Löhne gezahlt. Im Durchschnitt sind es 17,72 Europro Stunde.
Bei Hermes, GLS und DPD gilt hingegen nur der Min-destlohn.Drittens. Die Mitbewerber – auch das ist entscheidend– erledigen die gesamte Paketzustellung über Fremdver-gabe, während die Deutsche Post 95 Prozent ihres Paket-geschäfts selbst verwirklicht.Viertens. Im Vergleich zur Konkurrenz ist die Postauch der attraktivere Arbeitgeber, weil sie unbefristeteArbeitsverträge statt Zeitverträge anbietet.Genauso ist aber auch die Post gefordert, ihre Mitar-beiter am guten Geschäft der letzten Jahre, vor allem be-dingt durch den Internetboom, teilhaben zu lassen.Schließlich wurde im Bereich „Post – eCommerce – Par-cel“ eine überdurchschnittliche Rendite von 8,3 Prozenterzielt. Von daher kann es nicht sein, dass die DHL-Be-schäftigten je nach Region jährliche Verluste von 2 000bis 5 700 Euro hinnehmen müssen.
Meine Botschaft an die Deutsche Post lautet deshalb:Wer Marktanteile und Gewinne erhöht, muss auch dieMitarbeiter fair entlohnen und darf keine Zweiklassen-belegschaft schaffen.
Meine Botschaft an Verdi lautet: Wer erst eine36-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich fordertund dann wieder zu 38,5 Stunden zurückkehrt, ver-schenkt mit überzogenen Forderungen gute Argumente.Noch etwas wird in diesem Konflikt deutlich: Tarif-verhandlungen mit ehemaligen Staatsbetrieben wie Post,Bahn und Lufthansa sind immer mehr durch härtereFronten geprägt. In diesem Fall sind bereits sechs Ver-handlungsrunden gescheitert. Die langen Auseinander-setzungen schaden nicht nur den betroffenen Branchen,sondern unserer gesamten Wirtschaft. In meinem Wahl-kreis haben mittelständische Unternehmen seit Wochenkeine Post mehr erhalten.
Am Freitag werden nun endlich die Gespräche wiederaufgenommen. Das ist sehr gut. Dafür gilt einmal mehrder altbewährte Ratschlag von Ludwig Erhard: HaltetMaß!Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir
sind damit nicht nur am Schluss der Aktuellen Stunde
angekommen, sondern auch am Schluss unserer heuti-
gen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 2. Juli 2015,
9 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen allen noch einen schönen
Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.