Protokoll:
18112

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 112

  • date_rangeDatum: 18. Juni 2015

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:01 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 22:32 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/112 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 112. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 I n h a l t : Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10687 A Absetzung der Tagesordnungspunkte 6 b, 22 und 35 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10687 D Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . 10687 D Tagesordnungspunkt 5: Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin: zum Europäischen Rat am 25./26. Juni 2015 in Brüssel . . . . . . . . . . 10688 A Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin . . . . . . . 10688 A Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 10691 D Heike Baehrens (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 10694 C Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 10695 D Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 10698 D Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10699 C Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 10701 C Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE) (Erklärung nach § 30 GO) . . . . . . . . . . . . . 10704 D Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 10705 A Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10705 B Norbert Spinrath (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10706 C Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 10707 D Christian Petry (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10709 C Gunther Krichbaum (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 10710 D Rainer Arnold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10712 B Eckhardt Rehberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 10713 C Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10714 A Tagesordnungspunkt 6: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anhe- bung des Grundfreibetrags, des Kinderfreibetrags, des Kindergel- des und Kinderzuschlags Drucksachen 18/4649, 18/5011, 18/5244 10715 C – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/5245 . . . . . . . . . . . . . . 10715 C Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10715 D Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 10716 D Manuela Schwesig, Bundesministerin BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10717 D Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10719 B Markus Koob (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 10721 A Frank Junge (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10722 C Norbert Müller (Potsdam) (DIE LINKE) . . . . 10723 C Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU) . . . . . 10724 C Dr. Jens Zimmermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . 10725 C Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU) . . . . 10726 B Namentliche Abstimmung. . . . . . . . . . . . . . . . 10727 C Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10727 D Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 Tagesordnungspunkt 7: Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Ulle Schauws, Katja Keul, weiteren Abgeordneten und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Abschaffung des Eheverbots für gleichgeschlechtliche Paare Drucksache 18/5098 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10730 B in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 1: Antrag der Abgeordneten Harald Petzold (Ha- velland), Sigrid Hupach, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Ehe für gleichgeschlechtliche Paare – Der Entschließung des Bundesrates folgen Drucksache 18/5205 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10730 C Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10730 D Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU) . . . . 10732 A Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE) . . . 10734 A Dr. Johannes Fechner (SPD) . . . . . . . . . . . . . 10735 A Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10736 C Alexander Hoffmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . 10737 C Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10738 B Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD) . . . . . . . . . . . . 10740 A Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 10741 A Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . 10742 B Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10744 A Johannes Kahrs (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10744 C Tagesordnungspunkt 36: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Einführung einer Speicherpflicht und Höchstspeicherfrist für Verkehrs- daten Drucksache 18/5171 . . . . . . . . . . . . . . . . . 10745 D b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Protokoll vom 14. Oktober 2014 zur Änderung und Ergänzung des Abkommens vom 7. September 1999 zwischen der Bundesrepublik Deutsch- land und der Republik Usbekistan zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Ein- kommen und vom Vermögen Drucksache 18/5172 . . . . . . . . . . . . . . . . . 10746 A c) Antrag der Abgeordneten Katharina Dröge, Kerstin Andreae, Katja Keul, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bußgeld- umgehung bei Kartellstrafen verhin- dern – Gesetzeslücke schließen Drucksache 18/4817 . . . . . . . . . . . . . . . . . 10746 A d) Antrag der Abgeordneten Ralph Lenkert, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Kältemittel R1234yf aus dem Verkehr ziehen Drucksache 18/4840 . . . . . . . . . . . . . . . . . 10746 D e) Antrag des Präsidenten des Bundesrech- nungshofes: Rechnung des Bundesrech- nungshofes für das Haushaltsjahr 2014 – Einzelplan 20 – Drucksache 18/5020 . . . . . . . . . . . . . . . . . 10746 B Zusatztagesordnungspunkt 2: Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Claudia Roth (Augsburg), Uwe Kekeritz, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Menschenrechte in der neuen Nachhaltigkeits- und Entwick- lungsagenda der Vereinten Nationen stär- ken Drucksache 18/5208 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10746 B Tagesordnungspunkt 37: a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 17. September 2012 zwischen der Regierung der Bundesre- publik Deutschland und der Regierung der Vereinigten Republik Tansania über den Fluglinienverkehr Drucksachen 18/4896, 18/5150. . . . . . . . . 10746 C b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu der Ver- einbarung vom 1. April 2015 über die Beteiligung Islands an der gemeinsa- men Erfüllung der Verpflichtungen der Europäischen Union, ihrer Mitglied- staaten und Islands im zweiten Ver- pflichtungszeitraum des Protokolls von Kyoto zum Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaän- derungen (Vereinbarung zur gemeinsa- men Kyoto-II-Erfüllung mit Island) Drucksachen 18/4895, 18/5242. . . . . . . . . 10746 D Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 III c)–g) Beratung der Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersich- ten 197, 198, 199, 200 und 201 zu Peti- tionen Drucksachen 18/5114, 18/5115, 18/5116, 18/5117, 18/5118 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10747 A Zusatztagesordnungspunkt 3: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Äußerungen der EU-Kommission über die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens zur Pkw-Maut 10747 C Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10747 C Alexander Dobrindt, Bundesminister BMVI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10748 D Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 10750 C Sebastian Hartmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 10751 D Steffen Bilger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 10752 D Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 10754 A Heinz-Joachim Barchmann (SPD) . . . . . . . . . 10754 D Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10756 A Andreas Scheuer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 10757 A Andreas Schwarz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10758 B Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 10759 B Arnold Vaatz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 10760 B Tagesordnungspunkt 8: Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bericht der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religions- und Glaubensfreiheit Drucksache 18/5206 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10761 C Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 10761 C Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 10763 A Kerstin Griese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10764 A Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10765 C Dr. Franz Josef Jung (CDU/CSU) . . . . . . . . . 10766 C Dietmar Nietan (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10767 D Tagesordnungspunkt 9: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prä- vention (Präventionsgesetz – PrävG) Drucksachen 18/4282, 18/5261 . . . . . 10768 D – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/5262 . . . . . . . . . . . . . . 10768 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit – zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Wöllert, Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W. Birkwald, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Gesundheitsförderung und Prävention konsequent auf die Verminderung sozial bedingter ge- sundheitlicher Ungleichheit ausrich- ten – zu dem Antrag der Abgeordneten Kordula Schulz-Asche, Maria Klein- Schmeink, Dr. Harald Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Gesundheit für alle ermöglichen – Gerechtigkeit und Teilhabe durch ein modernes Gesundheitsförderungsgesetz Drucksachen 18/4322, 18/4327, 18/5261 . 10768 D Ingrid Fischbach, Parl. Staatssekretärin BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10769 A Birgit Wöllert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 10770 B Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 10771 B Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10772 B Rudolf Henke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 10773 C Helga Kühn-Mengel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 10775 A Erich Irlstorfer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 10776 A Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Katja Kipping, Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Armuts- und Reich- tumsbericht qualifizieren und Armut be- kämpfen Drucksache 18/5109 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10777 C Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 10777 D Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 10779 B Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . 10779 D Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . 10781 B Daniela Kolbe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10782 C IV Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU) . . . . . . . 10783 D Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD) . . . . . . . . . 10785 B Tagesordnungspunkt 11: Vereinbarte Debatte: Entwicklungszusam- menarbeit mit Afrika – Perspektiven für unseren Nachbarkontinent . . . . . . . . . . . . . 10786 C Dr. Gerd Müller, Bundesminister BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10786 C Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 10788 C Michaela Engelmeier (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 10789 C Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10790 D Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 10792 A Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . 10792 D Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10793 C Gabi Weber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10794 B Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Ekin Deligöz, Christian Kühn (Tübingen), weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: In die Zukunft in- vestieren – Ein Wissenschaftswunder initiieren Drucksache 18/5207 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10795 B Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10795 C Cemile Giousouf (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 10797 A Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 10798 D Dr. Simone Raatz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10800 A Dr. Philipp Lengsfeld (CDU/CSU) . . . . . . . . 10801 C Oliver Kaczmarek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 10803 B Tagesordnungspunkt 13: Antrag der Abgeordneten Ulrich Petzold, Michael Kretschmer, Marco Wanderwitz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Siegmund Ehrmann, Burkhard Blienert, Marco Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: UNESCO-Weltkulturerbe dauerhaft sichern Drucksache 18/5216 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10804 C Dr. Maria Böhmer, Staatsministerin AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10804 D Sigrid Hupach (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 10805 D Siegmund Ehrmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 10806 C Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10807 D Ulrich Petzold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 10808 C Tagesordnungspunkt 14: a) Antrag der Abgeordneten Niema Movassat, Caren Lay, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten Uwe Kekeritz, Claudia Roth (Augsburg), Tom Koenigs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Herkunft von Konfliktrohstoffen konse- quent offenlegen Drucksache 18/5107 . . . . . . . . . . . . . . . . . 10809 C b) Antrag der Abgeordneten Niema Movassat, Caren Lay, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Unternehmen in die Ver- antwortung nehmen – Menschenrechts- schutz gesetzlich regeln Drucksache 18/5203 . . . . . . . . . . . . . . . . . 10809 C Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 10809 D Dr. Herlind Gundelach (CDU/CSU) . . . . . . . 10810 D Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10812 B Klaus Barthel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10813 A Tagesordnungspunkt 15: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2013/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über den Jahresabschluss, den konsolidierten Ab- schluss und damit verbundene Berichte von Unternehmen bestimmter Rechtsfor- men und zur Änderung der Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates (Bilanzrichtlinie-Umsetzungsge- setz – BilRUG) Drucksachen 18/4050, 18/4351, 18/5256 . . . . 10814 C Metin Hakverdi (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10814 D Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 10815 C Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 10816 B Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10817 B Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10818 A Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 10818 D Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 V Tagesordnungspunkt 16: a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Luise Amtsberg, Volker Beck (Köln), wei- teren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von Transparenz und zum Diskriminierungsschutz von Hinweis- geberinnen und Hinweisgebern (Whist- leblower-Schutzgesetz) Drucksachen 18/3039, 18/5148 . . . . . . . . 10819 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder, Andrej Hunko, Caren Lay, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Gesellschaftliche Bedeutung von Whistleblowing anerkennen – Hinweis- geberinnen und Hinweisgeber schützen Drucksachen 18/3043, 18/5148 . . . . . . . . 10820 A Markus Paschke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10820 B Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 10821 B Wilfried Oellers (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 10822 B Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10823 B Wilfried Oellers (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 10824 C Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10824 C Kerstin Tack (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10825 A Alexander Hoffmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . 10825 D Tagesordnungspunkt 17: a) Antrag der Abgeordneten Sibylle Pfeiffer, Sabine Weiss (Wesel I), Frank Heinrich (Chemnitz), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Bärbel Kofler, Axel Schäfer (Bochum), Heinz-Joachim Barchmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Entwicklungsfi- nanzierung vor dem Hintergrund uni- verseller Nachhaltigkeitsziele Drucksache 18/5093 . . . . . . . . . . . . . . . . . 10827 B b) Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz, Claudia Roth (Augsburg), Anja Hajduk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Addis Abeba zum Erfolg führen – Einsatz für eine gerechte internationale Entwick- lungs- und Klimafinanzierung Drucksache 18/5151 . . . . . . . . . . . . . . . . . 10827 B Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10827 C Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 10829 A Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10830 A Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10832 A Tagesordnungspunkt 18: Antrag der Abgeordneten Dr. Axel Troost, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Solidaritätszuschlag für gleichwertige Le- bensverhältnisse in ganz Deutschland ver- wenden Drucksache 18/5221 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10833 A Tagesordnungspunkt 19: a) – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Arnold Vaatz, Erika Steinbach, Elisabeth Winkelmeier- Becker, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Dr. Rolf Mützenich, Frank Schwabe, Dr. Johannes Fechner, weiteren Abgeordneten und der Frak- tion der SPD eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes über die Rechtsstellung und Aufgaben des Deutschen Insti- tuts für Menschenrechte (DIMRG) Drucksachen 18/4421, 18/5198 . . . . . 10833 A – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes über die Rechtsstellung und Aufgaben des Deutschen Instituts für Menschen- rechte (DIMRG) Drucksachen 18/4893, 18/5198 . . . . . 10833 B – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Annette Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE sowie den Abgeordneten Tom Koenigs, Annalena Baerbock, Marieluise Beck (Bremen), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes über die Rechtsstellung und Aufga- ben des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMRG) Drucksachen 18/4798, 18/5198 . . . . . 10833 B – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Tom Koenigs, Annalena Baerbock, Marieluise Beck (Bremen), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Rechtsstellung VI Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 und Aufgaben des Deutschen Insti- tuts für Menschenrechte (DIMRG) Drucksachen 18/4089, 18/5198 . . . . . . 10833 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Ab- geordneten Tom Koenigs, Annalena Baerbock, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Menschen- rechtsförderung stärken – Gesetzliche Grundlage für Deutsches Institut für Menschenrechte schaffen Drucksachen 18/2618, 18/5198 . . . . . . . . 10833 C Dr. Karamba Diaby (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 10833 D Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 10835 A Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 10835 D Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10836 B Dr. Bernd Fabritius (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 10837 B Dr. Karamba Diaby (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 10838 B Dr. Bernd Fabritius (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 10838 C Tagesordnungspunkt 20: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales zu dem An- trag der Abgeordneten Jutta Krellmann, Norbert Müller (Potsdam), Klaus Ernst, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Aufwertung der Sozial- und Erzie- hungsdienste jetzt Drucksachen 18/4418, 18/5149 . . . . . . . . . . . 10839 C Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Internationalen Jugend- und Schüler- austausch als Fundament in der Auswärti- gen Kultur- und Bildungspolitik verankern Drucksache 18/5215 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10839 D Tagesordnungspunkt 23: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen Drucksachen 18/4894, 18/5257. . . . . . . . . . . . 10840 A Tagesordnungspunkt 24: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Rechts des An- geklagten auf Vertretung in der Berufungs- verhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe Drucksachen 18/3562, 18/5254. . . . . . . . . . . . 10840 B Tagesordnungspunkt 25: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der internatio- nalen Rechtshilfe bei der Vollstreckung von freiheitsentziehenden Sanktionen und bei der Überwachung von Bewährungsmaß- nahmen Drucksachen 18/4347, 18/5255. . . . . . . . . . . . 10840 C Tagesordnungspunkt 26: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung zu dem An- trag der Abgeordneten Sibylle Pfeiffer, Sabine Weiss (Wesel I), Frank Heinrich (Chemnitz), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab- geordneten Gabriela Heinrich, Dr. Bärbel Kofler, Axel Schäfer (Bochum), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Entwicklungspolitische Chancen der Urbanisierung nutzen Drucksachen 18/4425, 18/5130. . . . . . . . . 10841 A b) Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Urbanisierung in den Ländern des Südens – Staatliche und kommunale Funktionen stärken, Privatisierung ver- hindern Drucksache 18/5204 . . . . . . . . . . . . . . . . . 10841 A Tagesordnungspunkt 27: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 25. Januar 1988 über die gegenseitige Amtshilfe in Steuer- sachen und zu dem Protokoll vom 27. Mai 2010 zur Änderung des Übereinkommens über die gegenseitige Amtshilfe in Steuer- sachen Drucksachen 18/5173, 18/5220 . . . . . . . . . . . 10841 C Nächste Sitzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10841 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten. . . . . . 10843 A Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 VII Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Lothar Binding (Heidelberg), Heike Baehrens, Sabine Dittmar, Karin Evers- Meyer, Angelika Glöckner, Ulrich Hampel, Marcus Held, Wolfgang Hellmich, Frank Junge, Cansel Kiziltepe, Helga Kühn-Mengel, Klaus Mindrup, Susanne Mittag, Ulli Nissen, Detlev Pilger, Mechthild Rawert, Bernd Rützel, Udo Schiefner, Dr. Dorothee Schlegel, Ewald Schurer, Stefan Schwartze, Svenja Stadler, Kerstin Tack, Bernd Westphal, Waltraud Wolff (Wolmirstedt), Gülistan Yüksel (alle SPD) zu der namentlichen Ab- stimmung über den Änderungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Entwurf eines Gesetzes zur Anhebung des Grundfreibetrags, des Kinderfreibetrags, des Kindergeldes und des Kinderzuschlags (Ta- gesordnungspunkt 6 a). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10843 B Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Nina Scheer (SPD) zu der namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Entwurf eines Gesetzes zur Anhebung des Grundfreibetrags, des Kinderfreibetrags, des Kindergeldes und Kinderzuschlags (Tages- ordnungspunkt 6 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10843 D Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Nina Warken (CDU/CSU) zu der namentli- chen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Entwurf eines Gesetzes zur Anhebung des Grundfreibetrags, des Kinderfreibetrags, des Kindergeldes und des Kinderzuschlags (Tagesordnungspunkt 6 a) . . . . . . . . . . . . . . . . 10844 B Anlage 5 Berichtigung einer offenbaren Unrichtigkeit im Entwurf eines Bilanzrichtlinie-Umset- zungsgesetzes durch den Berichterstatter Metin Hakverdi (SPD) (Tagesordnungs- punkt 15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10844 B Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Solidaritätszuschlag für gleich- wertige Lebensverhältnisse in ganz Deutsch- land verwenden (Tagesordnungspunkt 18) . . . 10844 C Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 10844 C Alois Rainer (CDU/CSU). . . . . . . . . . . . . . . 10845 A Bernhard Daldrup (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 10845 D Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 10847 A Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10847 C Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Aufwertung der Sozial- und Erziehungsdienste jetzt (Tagesordnungs- punkt 20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10848 B Matthäus Strebl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 10848 B Gabriele Schmidt (Ühlingen) (CDU/CSU). . 10849 A Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . 10849 D Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 10851 B Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10851 D Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Internationalen Jugend- und Schüleraustausch als Fundament in der Aus- wärtigen Kultur- und Bildungspolitik veran- kern (Tagesordnungspunkt 21) . . . . . . . . . . . . 10852 D Dr. Thomas Feist (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 10852 D Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 10853 C Ulla Schmidt (Aachen) (SPD). . . . . . . . . . . . 10854 D Azize Tank (DIE LINKE). . . . . . . . . . . . . . . . 10855 C Beate Walter-Rosenheimer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10856 C Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (Tagesordnungspunkt 23) . . . . 10857 C Alexander Hoffmann (CDU/CSU) . . . . . . . . 10857 C Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . 10858 A Dirk Wiese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10859 B Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . 10860 B Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10860 D Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des VIII Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungsverhandlung und über die Anerken- nung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe (Tagesordnungspunkt 24). . . . . . . 10862 A Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . 10862 A Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 10863 C Dirk Wiese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10864 A Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . 10864 C Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10865 C Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der internationalen Rechtshilfe bei der Vollstre- ckung von freiheitsentziehenden Sanktionen und bei der Überwachung von Bewährungs- maßnahmen (Tagesordnungspunkt 25) . . . . . . 10867 A Alexander Hoffmann (CDU/CSU) . . . . . . . . 10867 A Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . 10867 D Dirk Wiese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10869 B Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 10870 A Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10871 A Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und des Bericht zu dem Antrag: Entwicklungspolitische Chan- cen der Urbanisierung nutzen – Antrag: Urbanisierung in den Ländern des Südens – Staatliche und kommunale Funktionen stärken, Privatisierung verhin- dern (Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b) . . . . . . 10872 C Peter Stein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 10872 C Gabriela Heinrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 10873 D Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 10875 A Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10876 B Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkom- men vom 25. Januar 1988 über die gegensei- tige Amtshilfe in Steuersachen und zu dem Protokoll vom 27. Mai 2010 zur Änderung des Übereinkommens über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen (Tagesordnungs- punkt 27) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10877 B Uwe Feiler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 10877 B Andreas Schwarz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 10878 A Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 10878 D Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10879 C Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10880 C Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10687 (A) (C) (D)(B) 112. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 Beginn: 9.01 Uhr
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    1) Anlage 12 2) Anlage 13 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10843 (A) (C) (D)(B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 18.06.2015 Baerbock, Annalena BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 18.06.2015 Dinges-Dierig, Alexandra CDU/CSU 18.06.2015 Dröge, Katharina BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 18.06.2015 Gleicke, Iris SPD 18.06.2015 Groneberg, Gabriele SPD 18.06.2015 Groß, Michael SPD 18.06.2015 Hartmann (Wackern- heim), Michael SPD 18.06.2015 Ilgen, Matthias SPD 18.06.2015 Karawanskij, Susanna DIE LINKE 18.06.2015 Krellmann, Jutta DIE LINKE 18.06.2015 Kunert, Katrin DIE LINKE 18.06.2015 Müller (Chemnitz), Detlef SPD 18.06.2015 Silberhorn, Thomas CDU/CSU 18.06.2015 Weinberg, Harald DIE LINKE 18.06.2015 Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Lothar Binding (Heidel- berg), Heike Baehrens, Sabine Dittmar, Karin Evers-Meyer, Angelika Glöckner, Ulrich Hampel, Marcus Held, Wolfgang Hellmich, Frank Junge, Cansel Kiziltepe, Helga Kühn- Mengel, Klaus Mindrup, Susanne Mittag, Ulli Nissen, Detlev Pilger, Mechthild Rawert, Bernd Rützel, Udo Schiefner, Dr. Dorothee Schlegel, Ewald Schurer, Stefan Schwartze, Svenja Stadler, Kerstin Tack, Bernd Westphal, Waltraud Wolff (Wolmirstedt), Gülistan Yüksel (alle SPD) zu der namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen zum Entwurf eines Gesetzes zur Anhebung des Grundfreibetrags, des Kin- derfreibetrags, des Kindergeldes und Kinderzu- schlags (Tagesordnungspunkt 6 a) Der Deutsche Bundestag stimmt heute in zweiter und dritter Lesung über den Gesetzentwurf der Bundesregie- rung zur Anhebung des Grundfreibetrags, des Kinder- freibetrags, des Kindergeldes und Kinderzuschlags ab. Mit dem Gesetz wird den Ergebnissen des 10. Existenz- minimumberichts der Bundesregierung Rechnung getra- gen und sowohl der Grundfreibetrag als auch der Kinderfreibetrag für 2015 und 2016 erhöht. Zusätzlich konnte die SPD eine weitreichende Entlastung der Al- leinerziehenden in das Paket hineinverhandeln. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fordert in ihrem Änderungsantrag eine rückwirkende Anhebung von Kin- derfreibetrag und Kindergeld für das Jahr 2014. Eine rückwirkende Anhebung des Kinderfreibetrags ist aus verfassungsrechtlichen Gründen von großer Bedeutung. Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist das Existenz- minimum steuerlich zu verschonen. Im Rahmen des Ge- setzes zur Bekämpfung der kalten Progression wurde das für 2014 festgelegte Existenzminimum der Erwachsenen durch eine Anhebung des Grundfreibetrags steuerfrei ge- stellt. Eine entsprechende Steuerfreistellung des Kinder- existenzminimums durch eine Anhebung des Kinderfrei- betrags unterblieb dagegen. Um eine entsprechende Entlastung von Familien zu erreichen, die von der Anhe- bung des Kinderfreibetrags nicht oder nur in geringem Maße profitieren, erfolgte bisher gleichzeitig eine rück- wirkende Anhebung des Kindergeldes. Die Koalitionsfraktionen von CDU, CSU und SPD konnten sich nicht auf eine Anhebung von Kinderfreibe- trag und Kindergeld verständigen. In einer Koalition ist nur möglich, was alle Koalitionspartner beschließen, denn SPD und CDU/CSU haben sich verständigt, im Deutschen Bundestag nicht gegeneinander abzustim- men. Aus diesem Grund unterbleibt nun leider die Anhe- bung des Kinderfreibetrages und des Kindergeldes. Bei- des bedauern wir sehr. Aus diesem Grund lehnen wir den Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unter Drucksache 18/5259 ab. Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Nina Scheer (SPD) zu der namentlichen Abstimmung über den Ände- rungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen zum Entwurf eines Gesetzes zur Anhebung des Grundfreibetrags, des Kinderfreibetrags, des Kindergeldes und Kinderzuschlags (Tages- ordnungspunkt 6 a) Der Deutsche Bundestag stimmt heute in zweiter und dritter Lesung über den Gesetzentwurf der Bundesregie- rung zur Anhebung des Grundfreibetrags, des Kinder- freibetrags, des Kindergeldes und Kinderzuschlags ab. Anlagen 10844 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) Mit dem Gesetz wird den Ergebnissen des 10. Existenz- minimumberichts der Bundesregierung Rechnung getra- gen und sowohl der Grundfreibetrag als auch der Kinderfreibetrag für 2015 und 2016 erhöht. Zusätzlich konnte die SPD eine weitreichende Entlastung der Alleinerziehenden in das Paket hineinverhandeln. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fordert in ihrem Änderungsantrag eine rückwirkende Anhebung von Kinderfreibetrag und Kindergeld für das Jahr 2014. Eine rückwirkende Anhebung des Kinderfreibetrags ist aus verfassungsrechtlichen Gründen von großer Bedeutung. Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist das Existenz- minimum steuerlich zu verschonen. Im Rahmen des Ge- setzes zur Bekämpfung der kalten Progression wurde das für 2014 festgelegte Existenzminimum für Erwachsene durch eine Anhebung des Grundfreibetrags steuerfrei ge- stellt. Eine entsprechende Steuerfreistellung des Kinder- existenzminimums durch eine Anhebung des Kinderfrei- betrags unterblieb dagegen. Um eine entsprechende Entlastung von Familien zu erreichen, die von der Anhe- bung des Kinderfreibetrags nicht oder nur in geringem Maße profitieren, erfolgte bisher gleichzeitig eine rück- wirkende Anhebung des Kindergeldes. Die Koalitionsfraktionen von CDU, CSU und SPD konnten sich nicht auf eine Anhebung von Kinderfrei- betrag und Kindergeld verständigen. In einer Koalition ist nur möglich, was alle Koalitionspartner beschließen. Aus diesem Grund unterbleibt nun leider die Anhebung des Kinderfreibetrags und des Kindergeldes. Ich erwarte, dass trotz der bisher nicht erfolgten Eini- gung in der Koalition auch aufseiten des Koalitionspart- ners weiter auf eine verfassungskonforme Handhabung des Kinderfreibetrags hingewirkt wird. Vor diesem Hintergrund lehne ich den Änderungs- antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unter Druck- sache 18/5259 ab. Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Nina Warken (CDU/CSU) zu der namentlichen Abstimmung über den Ände- rungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Entwurf eines Gesetzes zur Anhe- bung des Grundfreibetrags, des Kinderfreibe- trags, des Kindergeldes und Kinderzuschlags (Tagesordnungspunkt 6 a) Ich erkläre, dass mir ein Fehlwurf unterlaufen ist. Ich gebe hiermit zu Protokoll, dass mein Votum Nein lautet. Anlage 5 Berichtigung einer offenbaren Unrichtigkeit im Entwurf ei- nes Bilanzrichtlinie-Umsetzungsgesetzes durch den Berichterstatter Metin Hakverdi (SPD) (Ta- gesordnungspunkt 15) In Artikel 7 des Entwurfs des Bilanzrichtlinie-Umset- zungsgesetzes (Bundestagsdrucksache 18/5256) wird im Änderungsbefehl sowie in der einzufügenden Über- gangsbestimmung jeweils die Angabe „§ 5“ durch die Angabe „§ 6“ ersetzt. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Solidaritätszuschlag für gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland verwenden (Tagesordnungs- punkt 18) Olav Gutting (CDU/CSU): Der Deutsche Bundestag hat den Solidaritätszuschlag 1995 eingeführt, damit alle Bevölkerungsgruppen einen solidarischen finanziellen Beitrag in Form einer Ergänzungsabgabe zur Bewälti- gung der einheitsbedingten Kosten tragen. Ich glaube, wir sind uns hier alle einig, wenn ich sage: Der Soli und die Einheit sind eine beispiellose Erfolgs- geschichte, bei der alle Steuerzahler – egal ob aus den al- ten oder neuen Bundesländer – zum Abbau der teilungs- bedingten Folgen beigetragen haben. Aber jede gute Geschichte sollte auch mal zu Ende gehen. Auch wenn der Soli für sich genommen keine Befristung enthält, halte ich die dauerhafte Belassung für verfassungsrecht- lich bedenklich. Bereits bei der ersten Einführung 1991 war eine Be- fristung vorgesehen. Damit kann man feststellen, dass sowohl aus historischer Sicht als auch wegen seiner Aus- gestaltung und Funktion eine dauerhafte Geltung nicht vorgesehen ist. Man muss kein Hellseher zu sein, um zu wissen, dass auch nach dem Auslauf des Solidarpaktes II nach 2019 weiter erhebliche Belastungen des Bundes für die neuen, aber auch die alten Bundesländer kommen. Wie wir diese Belastungen des Bundes und die Finanzausstattung der Länder ab 2020 interessengerecht lösen, steht auf un- serer Agenda für die laufende Legislaturperiode ganz oben. Dabei sind wir weiterhin dem Ziel Erreichung gleich- wertiger Lebensverhältnisse verpflichtet. Bereits im Koalitionsvertrag haben wir die Einrichtung einer Bund- Länder-Finanzkommission unter Einbeziehung von Ver- tretern der Kommunen vereinbart. Wir wissen, dass den Ländern die Verteilung der Auf- gaben zwischen Bund und Ländern sowie die zukünftige finanzielle Ausstattung der finanzschwachen Länder im Rahmen des Finanzausgleichs besonders wichtig sind. Eine Lösung dieser Fragen kann nur im Rahmen der anstehenden Bund-Länder-Verhandlungen erfolgen, die durch eine Festschreibung der Solimittel im Rahmen eines Solidarpaktes III speziell für strukturschwache Regionen nicht einfacher würde. Das Einzige, was wir mit dem Antrag der Linken er- reichen, wäre, dass wir an einem verfassungsrechtlich unsicheren Status festhalten würden. Die Verhandlungen über die zukünftige Finanzaus- stattung der Länder werden schwierig werden. Wir wis- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10845 (A) (C) (D)(B) sen, dass die Länder – egal unter welcher Regierung – von liebgewonnenen Einnahmequellen nicht mehr weg- zubekommen sind. Die Länder wollen heute auch nichts mehr davon wissen, dass diesen im Zusammenhang mit der Einführung des Solis Anfang der 90er-Jahre ein er- höhter Anteil an der Umsatzsteuer zugesprochen wurde. Zur Ehrlichkeit bei jeder Solidebatte gehört, dass wir den Soli nicht auf einen Schlag abschaffen können. Dies muss haushaltsverträglich geschehen. Uns geht es bei der Debatte um den Soli in der Perspektive um eine echte Abschaffung und nicht um ein Wegtricksen. Eine vollständige Integration in den allgemeinen Einkom- mensteuertarif – wie von manchem Bundesland ge- wünscht – ist lediglich eine versteckte Steuererhöhung zum überwiegenden Nutzen der Länder. Wir wollen den schrittweisen Abbau des Solis ab 2020. Wir werden dafür im Rahmen der Diskussionen der Bund-Länder-Finanzen eine haushaltsverträgliche und verfassungsfeste Lösung finden. Ihr Antrag wird dem nicht gerecht, sodass wir diesen ablehnen werden. Alois Rainer (CDU/CSU): Mit der erstmaligen Ein- führung des Solidaritätszuschlags 1991 wurde ein Zu- schlag zur Einkommensteuer erhoben. Die Grundlage dafür war die Finanzreform von 1955, die dem Bund nach Artikel 106 I Nummer 6 GG das Recht einräumt, eine Ergänzungssteuer zur Einkommen- und Körper- schaftsteuer zu erheben. Die Möglichkeit dieser Ergän- zungsabgabe wurde bis jetzt zweimal genutzt, zum einen in den 70er-Jahren und zum anderen 1991, um die neuen Bundesländer bei den notwendigen Investitionen zu un- terstützen. Nach fast 25 Jahren der Wiedervereinigung und dem damit verbundenen zeitlichen Abstand ist es meines Er- achtens richtig, dass wir uns mit der Frage auseinander- setzen, ob der Solidaritätszuschlag überhaupt noch dem ursprünglichen Zweck dienlich ist. Völlig ausgenommen ist hierbei zunächst die juristische Bewertung der Sache. Denn erfreulicherweise wurde mit den Mitteln aus dem Solidaritätszuschlag in den letzten 25 Jahren Erstaunli- ches geleistet. Ob das nun verfassungsmäßig ausreicht und das Ziel „Aufbau Ost“ erreicht ist und damit dann die Ergänzungsabgabe wegfällt, kann derzeit nicht genau gesagt werden. Wichtig ist meines Erachtens eine Prüfung der gesam- ten Finanzverteilung zwischen Bund und Ländern mit besonderem Blick auf die der Kommunen. Die Neurege- lung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen ist momentan in der Beratung. In Ihrem Antrag sprechen Sie davon, einen Teil der Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag für die kom- munale Daseinsvorsorge zu nutzen. Hierzu möchte ich grundsätzlich auf unser föderales System hinweisen, in dem die Länder für die finanzielle Ausstattung der Kom- munen verantwortlich sind. Weiter möchte ich nicht un- erwähnt lassen, dass die jetzige Bundesregierung die Kommunen so stark unterstützt, wie es keine andere Bundesregierung je zuvor getan hat: erstens 1 Milliarde jährlich, aufgeteilt über KDU, Umsatzsteuer, zweitens 2017 zusätzlich 1,5 Milliarden, drittens Investitionspro- gramm für finanzschwache Kommunen in Höhe von 3,5 Milliarden und viertens Unterstützung bei den Kitas. Wir müssen mit der bevorstehenden Finanzverfas- sungsreform eine Antwort darauf finden, ob der Finan- zierungsbedarf aus dem Wiedervereinigungsprozess ab- geschlossen ist und damit auch mit Blick auf die Schuldenbremse die Handlungsfähigkeit aller staatlichen Ebenen – Bund, Länder und Gemeinden – gewährleistet bleibt. Deswegen ist es auch so wichtig, dass wir eine vernünftige Lösung beim Thema der Bund-Länder-Fi- nanzbeziehungen für die Verteilungssituation finden, und ich bin mir sicher, dass wir diese finden werden. Voreilige Beschlüsse und Entscheidungen nutzen nie- mandem. Fest steht jedoch, dass der Solidarpakt II zum Aufbau der ostdeutschen Bundesländer und zur Bewälti- gung der einheitsbedingten Lasten 2019 ausläuft. Wenn das Ziel des Aufbaus der neuen Bundesländer und der Bewältigung der durch die Einheit bedingten Lasten erreicht ist, dann wird es mit Sicherheit schwerer werden, das Solidaritätszuschlagsgesetz rechtlich, aber auch gesellschaftlich aufrechtzuerhalten. Daher wäre zum Beispiel ein etappenweiser Ausstieg eine Lösung, um die Bürgerinnen und Bürger steuerlich zu entlasten und das Vertrauen in die Politik zu stärken. Der Solidari- tätszuschlag darf sich nicht per se zu einer dauerhaften Steuer entwickeln. Dafür war die Möglichkeit der Ergän- zungsabgabe im Artikel 106 I Nummer 6 ursprünglich nicht gedacht. Bernhard Daldrup (SPD): Ja, es ist zutreffend: Der Solidaritätszuschlag ist zeitlich unbefristet, der Solidar- pakt nicht. Es gibt keine Zwangläufigkeit, den Solidari- tätszuschlag einzustellen, ebenso wenig wie eine Ver- pflichtung, ihn fortzuführen. Weil das so ist und er zur Disposition gestellt worden ist, will die Fraktion der Lin- ken eine Positionierung erzwingen. Ihr gutes Recht! Doch will man den Solidaritätszuschlag fortführen, braucht er eine besondere Begründung, um verfassungs- fest zu bleiben. Jedenfalls ist das Volumen des Solidari- tätszuschlags für den Bundeshaushalt und die daraus fi- nanzierten Aufgaben unverzichtbar – das jedenfalls war die Meinung nicht nur, aber besonders wahrnehmbar der Kanzlerin im Wahlkampf. Sollte er entfallen, müsste er- klärt werden, wie dieses Volumen auf anderem Weg ge- sichert werden kann. Denn auch wenn in wenigen Jahren die Mittel nicht mehr für den Solidarpakt verwandt werden, bleibt den- noch der Auftrag des Grundgesetzes an den Bund, gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen. Der Antrag der Fraktion Die Linke nennt Instrument und Aufgabe: erstens den Solidaritätszuschlag und zwei- tens die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland: Der Solidaritätszuschlag ist ein Mittel, mit dem ein besonderer Zweck finanziert werden soll. Während „Die Linke“ ihn auch nach 25 Jahren noch zur wei- 10846 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) teren Finanzierung der Deutschen Einheit fortfüh- ren möchte, sehen einzelne Unionskollegen diese Einnahmen des Bundes als Objekt der Begierde der Länder. Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland ist demgegenüber ein Verfassungsziel. Das Grundgesetz fordert, dass die sozioökonomi- schen Bedingungen in den Regionen Deutschlands nicht zu weit auseinanderdriften dürfen. Es ist die räumliche Seite des Sozialstaatsgebotes. Fazit: Über das Instrument kann man streiten, über das Ziel nicht. Der Gleichwertigkeit der Lebensverhält- nisse sind wir verpflichtet – dies ist in diesem Hause auch Konsens. Nun will die Linke einen Beschluss zur Beibehaltung des Solidaritätszuschlags, obwohl die Abschaffung noch gar nicht beschlossen ist. Nicht nur die Bundeskanzlerin verteidigte den Soli mit dem Verweis auf die Finanzierung des Aufbaus Ost. Auch aus dem Westen trat Armin Laschet von der CDU in NRW explizit für eine Fortschreibung des „Soli“ ohne Regionalbegrenzung ein: „2019, wenn der Solidarpakt für den Aufbau Ost endet, sollten die Mittel aus dem So- lidaritätszuschlag zweckgebunden und nach Priorität vergeben werden“ (Die Welt). Frau Kamp-Karrenbauer wird das kaum anders sehen. Kommen wir zur Zukunft: Finanzminister Dr. Schäuble ist offenkundig weit von einer abrupten Abschaffung des Solis entfernt. Just Dienstagmorgen im Finanzausschuss brachte er den Gedanken ins Spiel, den heutigen Auf- schlag auf die Einkommensteuer in Höhe von 5,5 Pro- zent jährlich um 0,5 Prozent zu verringern. Dann würden elf Jahre vergehen, bis der Soli ausgelaufen ist; man würde voraussichtlich das Jahr 2030 zählen. Allein die inflationsbedingten Mehreinnahmen des Fiskus würden die Ausfälle ausgleichen. Auch in den bisherigen Posi- tionen zu den Bund-Länder-Verhandlungen ist von einer kurzfristigen Abschaffung nicht die Rede. Deshalb eine Warnung an alle, die glauben, den Soli zum Programm der Steuersenkung machen zu können. Allen Beteiligten ist bekannt, dass die damit verbunde- nen Aufgaben weiterhin finanziert werden müssen. Heute fließen die Einnahmen aus dem Soli, rund 15 Milliarden Euro, zum Großteil in den Bundeshaushalt und leisten zur derzeitigen „schwarzen Null“ einen er- heblichen Beitrag. Schließlich sind die Ausgaben für den Solidarpakt II kontinuierlich gesunken. Waren diese 2011 noch mit rund 13 Milliarden so hoch wie die dama- ligen Einnahmen aus dem Soli, wurden 2014 nur noch gut 7,5 Milliarden für den Solidarpakt II ausgegeben. Das Aufkommen des Solis fließt also schon heute in den Bundeshaushalt und wird dort flexibel verwendet und trägt dazu bei, dass keine Schulden aufgenommen werden mussten. Mit der Haushaltssolidität ist aber dennoch der Auf- trag zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse verbunden. Es geht nicht mehr nur um die Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse. Seit 1994 spricht das Grundgesetz von gleichwertigen Lebensverhältnis- sen als Auftrag des Bundes. Bezugspunkt war natürlich die Herstellung der Deutschen Einheit in räumlicher und sozialstaatlicher Hinsicht, was bis heute auch aktuell ge- blieben ist, allerdings mit der Veränderung, dass die Dis- paritäten nicht nur zwischen West und Ost, sondern je nach Lage in ganz unterschiedlichen Regionen zwi- schen, ja sogar innerhalb von Bundesländern gilt. Der Bedarf ist da, die Aufgabe mithin ebenso, aber nicht mehr nach Himmelsrichtung und einem Ost-West- Schema, sondern nach Bedürftigkeit. In den Kommunen explodieren die Sozialausgaben, wichtige Investitionen in Breitband, Kinderbetreuung und Infrastruktur hingegen bleiben liegen. Geeignete In- strumente sind deshalb gefragt. Die Koalition hat mit zahlreichen Maßnahmen auf die Forderung nach Entlastung von Sozialausgaben und Stärkung der Investitionskraft den Kommunen geholfen. Das Kommunalinvestitionspaket in Höhe von 3,5 Mil- liarden ist das jüngste Beispiel in einer Reihe von Maß- nahmen. Auch den Ländern sind Hilfen zugutegekom- men, denken Sie an die BAföG-Entlastung oder die zusätzlichen 10 Milliarden Investitionen in die Verkehrs- infrastruktur, etc. Die Reform der Bund-Länder-Finanzbeziehungen er- schöpft sich nicht in der Frage der Fortführung des Solis bzw. seiner Abschaffung. Auch die letzte Positionsbe- schreibung des Bundes erklärt lediglich den Beginn des stufenweisen Abbaus des Solidaritätszuschlags nach 2020. Mehr nicht. Es geht im Kern um einen gerechteren horizontalen Finanzausgleich – in erster Linie Sache der Länder – und im vertikalen Finanzverbund um die Frage, inwieweit der Bund die Finanzkraft von Ländern und Kommunen stärken kann. Ob dazu auch ein bundesseitiges Investi- tionsprogramm geeignet ist, falls sich Bund und Länder nicht einigen sollten, wie dies Herr Dr. Schäuble im letz- ten Finanzausschuss andeutete, kann nur im Lichte der Ergebnisse der Verhandlungen zwischen Bund und Län- dern beurteilt werden. Angefangen von Infrastrukturfinanzierung bis zur Stärkung der Investitionskraft der Kommunen und be- sonderen Hilfen für die am höchsten verschuldeten Län- der gibt es gute Gründe, am Solidaritätszuschlag festzu- halten. Auch die Struktur des Solidaritätszuschlags sollte im Blick bleiben, weil angesichts von Freigrenzen der Soli bis zu 11 Millionen Menschen gar nicht betrifft. Wichtiger als das Instrument ist uns aber das Ziel: Wer gleichwertige Lebensbedingungen schaffen will, muss die Frage der Finanzierung beantworten. Dabei ist – wie es der Soli auch vorsieht – die Leistungsfähigkeit der Steuerzahler zu berücksichtigen. Artikel 72 des Grundgesetzes ist die normative Stütze einer Steuer- und Finanzpolitik, die sich den Aufgaben des regionalen Ausgleiches und der Umverteilung aktiv stellt. Da die Verhandlungen zu den Bund-Länder-Finanz- beziehungen laufen und die Koalition selbst bereits mit Anträgen zur Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10847 (A) (C) (D)(B) in Deutschland befasst ist, werden wir hoffentlich in der zweiten Jahreshälfte konkret über die Zielsetzungen auch Ihres Antrages erneut diskutieren. Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Im Rahmen der Ver- handlungen um die Neugestaltung des Länderfinanzaus- gleiches verdichten sich die Befürchtungen, dass der Bundesfinanzminister den Solidaritätszuschlag ab 2019 schrittweise abschaffen will. Unterstützung hat er hierfür schon von Olaf Scholz, dem sozialdemokratischen Re- gierungschef des Bundeslandes Hamburg, erhalten. Die- ses Vorhaben muss mit aller politischen Entschiedenheit verhindert werden. Dazu dient unser heute eingereichter Antrag. Der Solidaritätszuschlag ist eine Bundessteuer ohne Verfallsdatum. Seine Einnahmen sind haushaltsrechtlich nicht zweckgebunden, sondern frei verwendbar. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach die Verfassungsgemäßheit des Solidaritätszuschlags – Soli – unterstrichen und Verfassungsbeschwerden und Nor- menkontrollanträge in den letzten Jahren stets zurück- gewiesen. Diese Argumentation unterstützt auch ein jüngstes Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages. Zu neuerlichen Bedenken, der Soli stelle grundsätzlich ein juristisches Haushaltsrisiko dar, gibt es daher keinen Anlass. Eine ersatzlose schrittweise Abschaffung des Solida- ritätszuschlags ab 2019 würde einen einschneidenden Einnahmeausfall von mindestens 19 Milliarden Euro jährlich für den Bund darstellen. Aufgrund der spezifischen Ausgestaltung des Solida- ritätszuschlags würden von seinem Wegfall vor allem Gutverdiener und Kinderlose profitieren. Zudem wäre eine solche Schwächung des finanziellen Spielraums des Staates unverantwortlich angesichts der fortschreiten- den wirtschaftlichen Abkopplung strukturschwacher Gebiete in Ost und West. Es wäre daher falsch, den Solidaritätszuschlag abzuschaffen oder in Stufen zurück- zufahren – er wird nach wie vor dringend gebraucht. Das Solidaritätszuschlagsgesetz 1995 wurde mit der Herstellung der Einheit Deutschlands, der langfristigen Sicherung des Aufbaus in den neuen Ländern, der Neu- ordnung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs und der Entlastung der öffentlichen Haushalte begründet. Der Solidaritätszuschlag dient also nicht ausschließlich dem Aufbau Ost, sondern sieht ebenso die Nutzung zur Haus- haltsentlastung vor und ist Bestandteil des allgemeinen Länderfinanzausgleichs. Nichts spricht dagegen, ihn weiterhin in diesem Sinne einzusetzen, vor allem angesichts der strukturellen Aus- einanderentwicklung von strukturschwachen und struk- turstarken Regionen im Bundesgebiet. Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, der Solida- ritätszuschlag kann durch den Bundestag nur abgeschafft werden, wenn ihr dieser Entscheidung zustimmt. Im Ge- gensatz zu vielem, was ihr in der Großen Koalition mit der CDU/CSU mitgetragen habt, „weil es im Koalitions- vertrag vereinbart wurde“, sind die Entscheidungsmög- lichkeiten hier anders. Von der Abschaffung des Solida- ritätszuschlags steht nichts im Koalitionsvertrag. Wenn ihr schon mit jedem Verzicht auf Steuererhö- hungen eure Versprechungen aus dem Wahlkampf 2013 gebrochen habt und damit zur weiteren Unterfinanzie- rung der öffentlichen Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden beitragt, solltet ihr die Hände von der größ- ten Steuersenkung der letzten Jahre lassen. Ab 2019 wird die Schuldenbremse für die Bundeslän- der scharfgeschaltet – in diesen Zeiten Steuersenkungen zusammen mit der CDU/CSU zu beschließen, ist ein Vergehen an der Zukunft. Sollte es wirklich so weit kommen, wird die Linke zusammen mit Gewerkschaf- ten, Wohlfahrtsverbänden und vielen anderen zu Besu- chen in euren Partei- und Abgeordnetenbüros aufrufen. 20 Milliarden Euro Steuersenkung müsst ihr dann den Bürgerinnen und Bürgern erklären. Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem Antrag, den Solida- ritätszuschlag beizubehalten. Auch wir sind uns nicht sicher, dass so ohne weiteres auf die Einnahmen des Solis verzichtet werden kann, wie Herr Schäuble dies behauptet. Der Finanzminister verspricht große Steuer- senkungen, anstatt wirksam und nachhaltig die Altschul- denproblematik der Länder und Kommunen anzugehen. Zwar bietet Schäuble den Ländern Unterstützung an, aber das reicht nicht, um die finanzielle Tragfähigkeit nach Einführung der Schuldenbremse zu gewährleisten. Tatsächlich ist dieser Tag eine gute Gelegenheit, über einen Antrag zum Solidaritätszuschlag zu diskutieren; denn eigentlich sollte heute der große Durchbruch bei den Bund-Länder-Finanzbeziehungen gelingen. Die Kanzlerin hat sich mit den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten getroffen, um eine Reform der Bund-Länder-Finanzbezie- hungen auf den Weg zu bringen. Anstatt sich zumindest auf einen Minimalkonsens ei- nigen zu können, sind die festgefahrenen Verhandlungen wohl abermals vertagt worden. Doch die im Koalitions- vertrag vollmundig angekündigte große Reform der Finanzbeziehungen rückt damit in die Ferne. Wichtige Wahlkämpfe in den Ländern rücken näher, und zu glau- ben, dass man sich unter diesen Bedingungen auf einen großen Wurf einigen kann, bedarf einiger politischer Na- ivität. Es war ein großer Fehler von Frau Merkel, Herrn Schäuble und Herrn Gabriel, eine so bedeutende Reform in Hinterzimmern verhandeln zu wollen. Eine Kommis- sion wie im Koalitionsvertrag vorgesehen – gerne auch im überschaubaren Format – wäre die bessere Variante gewesen. Den Preis dieser gescheiterten Strategie zahlen die Regionen und Länder, die mit Strukturschwächen und Altschulden zu kämpfen haben. Auch für die großen Infrastrukturinvestitionen, etwa im Verkehrsbereich, gibt es damit weiterhin keine Planungssicherheit. Ich kann nur an die Regierung appellieren, aus diesem Scheitern zu lernen und zumindest jetzt eine transparente Diskussion zuzulassen. Denn eine Reform ist dringend nötig, da die jetzigen Regelungen im Jahr 2019 auslau- 10848 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) fen. Das Grundgesetz stellt die Aufgabe, gleichwertige Lebensverhältnisse im Bundesgebiet herzustellen. Die derzeitige Struktur des Länderfinanzausgleiches wird diesen Herausforderungen nicht mehr gerecht und ist schon gar nicht auf die zukünftige demografische- und sozialräumliche Entwicklung vorbereitet. Viele Kommu- nen leiden unter einer maroden Infrastruktur, hohen Schuldenständen und einem immensen Investitionsstau. Dabei geht die Schere zwischen armen und reichen Kommunen immer weiter auseinander. Hinzu kommt, dass ab dem Jahr 2020 die Schuldenbremse auch für die Bundesländer gilt. Alleine werden viele Länder ihr Alt- schuldenproblem nicht lösen können. Nun muss es weiter darum gehen, zukunftsfähige Reformvorschläge zu erarbeiten. Ziel muss es sein, fi- nanzschwache Länder und Regionen solidarisch zu un- terstützen – und zwar unabhängig von Himmelsrichtun- gen. Eine strukturelle Reform der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern muss die wachsende wirt- schaftliche Ungleichheit zwischen armen und reichen Regionen angemessen ausgleichen, um unserem Verfas- sungsauftrag gerecht zu werden. Hierzu gehört die Lösung der Altschuldenproblematik zahlreicher Länder und Kommunen durch einen Altschuldenfonds genauso wie die dauerhafte Unterstützung der finanz- und wirtschaftsschwachen Regionen in den neuen Bundes- ländern. Den Umsatzsteuervorwegausgleich zu refor- mieren und im Gegenzug die kommunale Finanzkraft stärker in die Bund-Länder-Finanzbeziehungen einzube- ziehen, halten wir für einen bedenkenswerten Vorschlag: Er birgt die Chance, das komplexe Ausgleichssystem einfacher und verständlicher zu machen. Ein solcher Reformschritt ist aber nur akzeptabel, wenn sich die neuen Bundesländer auf eine Kompensation ihrer Fi- nanzkraft durch den Bund verlassen können. Aber auch dieses Vertrauen hat die ostdeutsche Kanzlerin mit ihrer Hinterzimmerpolitik nicht herstellen können. Die Kollegen aus der Großen Koalition sollten aus ih- rem Scheitern lernen: Bei einem so bedeutsamen Projekt wie der Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehun- gen hilft es nichts, sich hinter verschlossenen Türen zu verschanzen. Wenn überhaupt noch eine Einigung erzielt werden kann, dann mit einer Öffnung der Diskussion. Wir jedenfalls sind gerne bereit, diese Plenumsdebatte als Anfang hierfür zu sehen und gemeinsam über eine kluge Neuordnung der Finanzbeziehungen zu diskutie- ren. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Aufwertung der So- zial- und Erziehungsdienste jetzt (Tagesord- nungspunkt 20) Matthäus Strebl (CDU/CSU): Wir sprechen heute wieder einmal – wie schon im Frühjahr – über den An- trag der Fraktion Die Linke „Aufwertung der Sozial- und Erziehungsberufe jetzt“. An der Situation der weit über 700 000 Menschen, die in diesen Bereichen arbeiten, hat sich seitdem nichts oder doch nur wenig geändert. In der Zwischenzeit hat es jedoch einen Arbeitskampf gegeben, der zunehmend härter geführt wurde. Die Arbeitsniederlegungen der vergangenen Wochen haben gezeigt, dass die Anliegen der Erzieherinnen, Er- zieher sowie von Pflegekräften in der Bevölkerung auf breite Zustimmung stoßen. Dies ist umso bemerkens- werter, als ja viele Eltern, ledige besonders, Schwierig- keiten hatten, ihre Kinder in die Horte und Kitas zu brin- gen und selbst zur Arbeit zu fahren. So manchem wird hier erstmals die Wichtigkeit und Bedeutung dieser Be- rufszweige mit ihren Menschen bewusst geworden sein. Verständnis für die Forderungen – wenn auch nicht unbedingt für den Streik – brachte im Übrigen auch die Politik auf. Und das ist bekanntermaßen nicht bei allen Arbeitsniederlegungen so. Ich räume ein, dass es die Linke hervorragend ver- standen hat, die Situation der in den Sozial- und Erzie- hungsberufen Tätigen für ihre Zwecke zu nutzen. Zunächst einige wenige Zahlen: In Deutschland gibt es rund 53 000 Kindertageseinrichtungen, mehr als 3,2 Millionen Kinder werden dort betreut. Die meisten Kitas werden jedoch von freien Trägern wie der Caritas oder der Arbeiterwohlfahrt unterhalten. Hinzu kommen Werkstätten und Einrichtungen für Behinderte. Heil- pädagogen, Sozialarbeiter und Sozialpädagoginnen im allgemeinen Sozialdienst, in Jugendzentren, an offenen Ganztagsschulen sowie in Heimen für Kinder und Ju- gendliche haben ebenfalls mit Arbeitsniederlegungen für ihre Anliegen demonstriert. Der Streik hat allerdings nur die Kitas öffentlicher, also kommunaler Träger, getroffen, und das sind deutsch- landweit etwa 17 500 Einrichtungen. Wer würde bestrei- ten, dass die Beschäftigten in diesen Einrichtungen einen äußerst schweren Job haben und von uns wohl kaum ei- ner mit ihnen tauschen möchte? Jedem Einzelnen gön- nen wir bessere Arbeits- und Lebensbedingungen. Aber wer das Anliegen der Linken näher betrachtet, wird feststellen, dass es sich um eine gut verpackte Mo- gelpackung handelt. Ich möchte das anhand einiger weniger Punkte nach- weisen: Ich habe auch hier im Deutschen Bundestag schon mehrfach betont, dass ich sehr wohl für eine Aufwertung der Sozial- und Erzieherberufe bin. Ich weiß aber auch, dass Zuständigkeit und Verantwortung hierfür überwie- gend bei den Ländern und Kommunen zu finden sind. Wenn der Bundestag dem Antrag der Linken folgen würde, hätte dies also wahrscheinlich gar keine Folgen, da dieses Hohe Haus überhaupt nicht zuständig ist. Weiter verlangen die Antragsteller beispielsweise eine Antistressverordnung. Diese Forderung aber ist längst überholt. Denn im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD wird dem psychischen Gesundheitsschutz ein hoher Stellenwert eingeräumt. Hier ist also schon eine Menge Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10849 (A) (C) (D)(B) geschehen. Ich gestehe zu, dass wir noch längst nicht am Ziel sind. Geradezu symptomatisch für die Nachfolger einer früheren Staatspartei ist der Ruf nach neuen Gesetzen, hier nach einem Kitaqualitätsgesetz und nach einer Sachverständigenkommission. Aber auch hier sind die Antragsteller nicht auf neuestem Stand: Bereits Ende des vergangenen Jahres haben sich Bund und Länder auf eine Weiterentwicklung des Qualitätsprozesses verstän- digt. Nahezu alle Themen, die die Linken in ihrem Antrag nun verlangen, sind demnach schon im Fluss oder gar er- ledigt. Dass es bei dem Antrag hauptsächlich um Bau- ernfängerei geht, wird deutlich, wenn man sieht, dass Kostenrechnungen überhaupt nicht angestellt wurden. Ein solches Verfahren ist nicht akzeptabel. Die Große Koalition lehnt den Antrag daher ab. Gabriele Schmidt (Ühlingen) (CDU/CSU): Die Union unterstützt das Anliegen einer Aufwertung der Sozial- und Erziehungsberufe ausdrücklich! Das haben wir immer getan, schauen Sie sich die Gesetzgebung nur der laufenden Legislaturperiode an! Die Aufwertung geht nicht nur, aber natürlich auch über den Geldbeutel. Die Sozial- und Erziehungsberufe sind, wie die Pflege- berufe, in Deutschland eindeutig zu gering vergütet. In erster Linie liegt es jedoch in der Verantwortung von Tarifvertragsparteien, für eine leistungsgerechte Vergütung zu sorgen. Der Antrag der Linksfraktion lässt dies völlig außer Acht. Die Forderungen ignorieren die Strukturverantwortung von Ländern, Kommunen und Einrichtungsträgern. Das Ganze muss mit Augenmaß geschehen, da wir die Kommunen und andere Träger fi- nanziell nicht überfordern dürfen. Die Bundesregierung bleibt jedoch nicht untätig – im Gegenteil. Am 6. November letzten Jahres hat sich das Bundesfamilienministerium mit den Fachministern so- wie den zuständigen Vertretern des Bundes, der Länder und der Kommunen auf einen Fahrplan für länderüber- greifende verbindliche Qualitätsstandards geeinigt. Qua- litätsziele sollen unter anderem für Personalschlüssel, die mittelbare pädagogische Arbeitszeit sowie Fragen der Qualifizierung der Fachkräfte festgelegt werden. Die im Dezember 2014 gebildete Arbeitsgruppe „Frühe Bil- dung weiterentwickeln und Finanzierung sicherstellen“ hat ihre Arbeit bereits aufgenommen und soll nächstes Jahr einen Bericht vorlegen. Es wäre daher ratsam, die Ergebnisse abzuwarten. Was die Teilzeit angeht, kann ich nur das im Aus- schuss letzte Woche Gesagte wiederholen und die Linksfraktion bitten, sich endlich mit der Realität anzu- freunden. Teilzeit ist keine Schikane oder Sparsamkeit der Trägereinrichtungen oder Kommunen, sie entspricht vielmehr ganz überwiegend dem Wunsch von Arbeit- nehmerinnen und Arbeitnehmern. Flexible Arbeitszeit- modelle muss es auch weiterhin geben, mit Teilzeit kann sehr viel besser und gewünscht Rücksicht genommen werden auf die individuelle Lebensplanung und die wechselnde familiäre Situation der Erzieherinnen und Erzieher. Was wir nicht wollen – und das haben wir im Koali- tionsvertrag auch vereinbart, einzudämmen –, ist die un- freiwillige Teilzeit. Wer sich jedoch freiwillig für die Teilzeit entscheidet, soll es ohne Einschränkungen auch weiterhin tun dürfen. Wir lassen im Gegensatz zu Ihnen den Menschen die Wahl im Sinne ihrer persönlichen Le- bensplanung. Wichtig ist einzig und allein die Möglich- keit des Wechsels zwischen unterschiedlichen Arbeits- zeitmodellen. Weiter fordern Sie für „jede Stunde Arbeit volle Sozi- alversicherungspflicht“. Auch diese Forderung geht an der Realität und den Bedürfnissen der Arbeitswelt, ins- besondere der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, vorbei. Meist wird diese Möglichkeit des Minijobs ge- nutzt, um auf eine unkomplizierte Art und Weise sich neben dem Vollzeitjob etwas dazuzuverdienen. Das Ziel, der Schwarzarbeit entgegenzuwirken, wurde mit diesem Instrument ebenfalls erfolgreich erreicht. So ist die Zahl angemeldeter Minijobs in Privathaushalten von rund 30 000 Mitte 2003 auf rund 285 000 Ende 2015 gestie- gen. Das sind doch nicht alles geknechtete, ausgebeutete Proletarier, die im finanziellen Elend versinken. Das sind Tausende von Menschen: Studenten, Rentner, Haus- frauen und -männer und – ja – auch versicherungspflich- tig Beschäftigte. Natürlich muss Missbrauch verhindert und verfolgt werden. Aber das Instrument an sich ist gut und wichtig – übrigens auch in den Erziehungs- und So- zialberufen. Im weit auseinandergezogenen Wahlkreis Waldshut- Hochschwarzwald, wo ich herkomme, gibt es viele Teil- zeitkräfte, die in den Sozialstationen die Vollzeitkräfte in ihrer wichtigen Aufgabe unterstützen und ergänzen. Ohne sie, auch ohne die Minijobberinnen, könnten die Sozialstationen ihre Aufgabe gar nicht erfüllen. Es wäre schön, wenn die Fraktion Die Linke dies einfach mal ak- zeptieren könnte. Wir wollen den Gesundheitsschutz in den Betrieben weiter stärken, genau wie die Linke, die das in dem vor- liegenden Antrag fordert. Ob eine Antistressverordnung dazu geeignet wäre, eine solche Wirkung zu erzielen, ist zumindest fraglich. Dazu braucht es fundierte wissen- schaftliche Erkenntnisse, die uns derzeit nicht vorliegen. Wir dürfen nicht vergessen, dass Menschen unterschied- lich sind, dass jeder Mensch Stress anders empfindet. Eine Standardisierung in Form einer Verordnung wäre aus meiner Sicht daher wenig zielführend. Eine entspre- chende Regulierung würde zudem die Arbeitgeber vor neue Herausforderungen stellen, auf jeden Fall ein Mehr an Bürokratie bedeuten – noch mehr Bürokratie. Das lehnen Sie doch sonst immer – zu Recht – ab, liebe Kol- leginnen und Kollegen. Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Vier Wochen lang ha- ben Beschäftigte aus den Sozial- und Erziehungsdiens- ten für eine Aufwertung ihrer Arbeit gestreikt. Das war einer der bisher längsten Streiks dieser Berufsgruppen in der Geschichte der Bundesrepublik. 10850 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) Zurzeit sind die Streiks ausgesetzt, denn das Verfah- ren befindet sich in der Schlichtung. Obwohl die Belas- tungen für Eltern und Kinder während des Streiks hoch waren, ist die Unterstützung für die Streikenden nach wie vor ungebrochen: Fast 70 Prozent der Bevölkerung stehen hinter den Forderungen und zeigen sich solida- risch mit den Beschäftigten. Die Wertschätzung für Er- ziehungs- und Sozialberufe ist in der Bevölkerung also vorhanden. Aber Solidarität allein reicht nicht. Die Wertschät- zung muss sich in den Gehaltsabrechnungen widerspie- geln. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehen hinter den Streikenden und ihren berechtigten Forderungen. Das hat auch unser Vorsitzender Sigmar Gabriel beispielsweise am letzten Wochenende auf einer DGB-Kundgebung in Hannover noch einmal bekräftigt. Ich hoffe, dass die aktuell laufende Schlichtung eine ta- riflich gute Lösung für alle Beteiligten bringt. Beeinflussen können wir das hier im Bundestag aller- dings nicht, denn angestellt sind Erzieherinnen und Er- zieher in der Regel bei den Städten und Gemeinden – nicht beim Bund. Wir können aber dafür sorgen, dass klamme Städte und Gemeinden in die Lage versetzt wer- den, höhere Löhne und Gehälter bezahlen zu können. Wir spülen ihnen Geld in ihre Kassen. Gerade in der letzten Woche haben wir durchgesetzt, dass der Bund seine finanzielle Unterstützung für die Aufnahme von Flüchtlingen noch in diesem Jahr auf 1 Milliarde Euro erhöht. Und ab 2016 wird er sich dauer- haft an den Kosten der Länder und Kommunen beteili- gen. Darüber hinaus haben wir von Bundeseite aus weitere spürbare Entlastungen der Länder und Kommunen auf den Weg gebracht: Die Grundsicherung im Alter übernimmt der Bund bereits komplett. Das BAföG bezahlt der Bund seit dem 1. Januar. Ein Entlastungs- und Investitionspaket in Höhe von 5 Milliarden Euro wurde kürzlich für finanzschwache Kommunen beschlossen. Insgesamt kommen wir bis 2018 auf über 25 Milliar- den Euro, die wir an die Kommunen weiterreichen. Klar ist, die Städte und Gemeinden brauchen das Geld, um ihren Aufgaben für die Menschen vor Ort nachkommen zu können. Wichtig ist, dass endlich auch die Beschäftigten in den Erziehungs- und Sozialberufen mehr im Porte- monnaie haben. Es muss Schluss sein mit ungerechter Bezahlung der Altenpflegerinnen und Altenpfleger, Erzieherinnen und Erzieher, Kinderpflegerinnen und Kinderpfleger, Heilerzieherinnen und Heilerzieher, Sozi- alarbeiterinnen und Sozialarbeiter und Sozialpädagogin- nen und Sozialpädagogen. Sie verdienen mehr. Schauen wir uns doch einmal die fachlichen Anforde- rungen an die Erzieherinnen und Erzieher an. Sie sind in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen: von früh- kindlicher Erziehung bis begleitender Förderung in der Schule und von besonderer Sprachförderung, bei denen Sprachlerntagebücher geführt werden müssen, bis zu in- klusiver und interkultureller Arbeit mit behinderten Kin- dern und Kindern mit Migrationshintergrund. Hier wird stetig mehr verlangt, aber nicht entsprechend höher ent- lohnt. Hinzu kommen besondere Erschwernisse, die der Be- ruf mit sich bringt. Dazu haben das Bundesinstitut für Berufsbildung, BIBB, und die Bundesanstalt für Arbeits- schutz eine Studie erstellt und festgestellt, dass die höchste Belastung der Lärm ist. Teilweise steigt der Ge- räuschpegel in einer Kita über 80 bis 85 Dezibel; norma- lerweise sind Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei diesen Werten dazu verpflichtet, einen Gehörschutz zu tragen. Eine andere Belastung ist die Haltung. Kitas sind nun einmal für kleine Leute gebaut. Wer Kinder betreut, muss auf Dauer in gebückter, hockender, liegender oder Kopfüberstellung arbeiten. Eine Belastung sind auch die Anforderungen an Mul- titasking; das bedeutet, viele Kinder gleichzeitig im Blick behalten, für jede Sorge ein offenes Ohr, einen wa- chen Blick und eine helfende Hand haben. Und das alles unter dem Dauerbeschuss von zahlrei- chen Krankheitserregern, die dem Immunsystem einiges abverlangen. Zum Glück haben wir noch Menschen – meistens Frauen – die bereit sind, für relativ schlechte Bezahlung diese Anforderungen auf sich zu nehmen. Sie kümmern sich um das Wertvollste was wir haben, um unsere Kin- der. Das muss sich dann aber auch im Gehalt widerspie- geln. Eine Aufwertung der Sozial- und Erziehungsberufe ist deshalb überfällig. Darin, meine Damen und Herren der Linksfraktion, sind wir uns einig. Nur bitte, wenn Sie schon Forderungen aufstellen, dann aber die richtigen. Mit Ihrer Forderung zur Leiharbeit ändern Sie die Situa- tion jedenfalls nicht zum Besseren. Denn gerade einmal 0,3 Prozent der 1,2 Millionen Beschäftigten sind davon betroffen. Nun werden Sie wieder sagen, dass Sie diese Daten bei der Erstellung Ihres Antrags noch nicht gehabt ha- ben. Aber, so frage ich Sie: Warum haben Sie nicht auf die Antwort auf Ihre Kleine Anfrage an die Bundesregie- rung gewartet? Denn darin stehen diese Zahlen schwarz auf weiß. Aber auch ohne diese konkreten Zahlen hätten Sie wissen können, dass Leiharbeit kein Problem in diesen Berufsgruppen ist. Ich jedenfalls kenne keine einzige Kita, die mit Leiharbeiterinnen arbeitet. In Ihrem Antrag listen Sie allgemeine Forderungen auf, ohne die Besonderheiten dieser spezifischen Berufs- gruppen zu berücksichtigen. Und wichtige Forderungen fehlen. Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen. Wo zum Beispiel steht in Ihrem Antrag etwas zum Thema gleicher Lohn für gleiche Arbeit für Frauen und Männer? Im Bereich Erziehung und Unterricht beträgt die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10851 (A) (C) (D)(B) Lohnlücke fast 13 Prozent. Das ist besonders schlimm, denn Erziehungs- und Sozialberufe sind mit 84 Prozent eine typische Frauendomäne, und dann verdienen die wenigen Männer für die gleiche Arbeit auch noch deut- lich mehr als die vielen Frauen. Mit dieser Lohndiskri- minierung muss endlich Schluss sein. Wir packen das Thema an und werden gemeinsam mit CDU und CSU ein Gesetz für Lohngerechtigkeit auf den Weg bringen. Mehr Geld bedeutet auch mehr Rente, das ist ein ganz wichtiger Aspekt. Viele Erzieherinnen haben einen ge- ringen Lohn, viele arbeiten darüber hinaus nur in Teil- zeit. Das wirkt sich dann natürlich noch negativer auf die Rente aus. Es wäre gut, wenn sich Frauen und Männer die Familienarbeit partnerschaftlich teilen würden. Dann kann Teilzeitarbeit sinnvoll sein. Es muss aber sicherge- stellt sein, dass es eine Möglichkeit zur Rückkehr auf die alte Arbeitszeit gibt. Wir werden deshalb noch in diesem Jahr ein Rück- kehrrecht von Teil- in Vollzeit einführen, um zeitweise Teilzeit zum Beispiel zur Betreuung der Kinder zu er- möglichen. Und natürlich kämpfen wir als SPD generell für gute Arbeit und bessere Arbeitsbedingungen. Im Koalitions- vertrag haben wir dazu eine Menge verankern können. Darunter auch viele im Antrag der Linken angespro- chene Themen. So haben wir den Mindestlohn umge- setzt. Wir werden den Missbrauch bei Leiharbeit und Werkverträgen noch in diesem Jahr mit einer Gesetzes- initiative bekämpfen. Wir werden den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz verbessern und eine neue Arbeitsstätten- verordnung umsetzen. Auch was die Kitaqualität anbe- langt, sind wir aktiv. Im November hat Familienministerin Manuela Schwesig alle Akteurinnen und Akteure an einen Tisch geholt: die Fachministerinnen und -minister der Länder, die Kommunalen Spitzenverbände und die verantwortli- chen Verbände und Organisationen. Ihr Ziel ist es, ge- meinsame Qualitätsziele in der Kindertagesbetreuung zu entwickeln. Hierbei geht es insbesondere um die The- men Fachkraft-Kind-Schlüssel und die Qualifizierung von Fachkräften. Wichtig ist natürlich auch die Finanzie- rung. Deshalb hat sich eine Arbeitsgruppe „Frühe Bil- dung weiterentwickeln und Finanzierung sicherstellen“ gegründet. Sie wird Vorschläge auf den Tisch legen, wie gute Qualität in den Kitas bezahlt werden kann. Ich bin überzeugt davon, dass alle gemeinsam – Bund, Länder und Kommunen – für eine einheitlich gute Ki- taqualität und gute Arbeitsbedingungen sorgen können. Das ist der richtige Weg. Jutta Krellmann (DIE LINKE): Nach wie vor kämp- fen die Beschäftigten in den Sozial- und Erziehungsbe- rufen um eine Aufwertung ihrer Tätigkeit. Nachdem sich die kommunalen Arbeitgeberverbände leider kein Stück bewegt haben, wurde nach wochenlangen Streiks nun die Schlichtung eingeleitet. Ich hoffe, dass es zu einer echten Verbesserung für die Beschäftigten kommt – denn das haben sie verdient! Die Anforderungen in den Sozial- und Erziehungsbe- rufen sind in den letzten Jahren stetig gestiegen, ohne dass sich das in angepassten Arbeitsbedingungen oder im Gehalt widerspiegelt. Es ist höchste Eisenbahn, hier etwas zu tun. Viele Bürgerinnen und Bürger sehen das genauso, und es freut mich sehr, dass die Beschäftigten in der laufenden Tarifrunde so viel Unterstützung erfah- ren. Da können die Arbeitgeberverbände und die Große Koalition noch so gegen Gewerkschaften und deren Ver- antwortung für das Zusammenbrechen von öffentlicher Infrastruktur durch Streiks wettern – die Gesellschaft weiß es besser und bringt es auch zum Ausdruck. Wer eine gut arbeitende öffentliche Infrastruktur auch im So- zial- und Erziehungsbereich haben will, der muss sie auch finanziell und personell gut ausstatten. Das ist die Aufgabe von Bund, Ländern und Kommunen, und sie können sich nicht so einfach aus der Verantwortung steh- len. Die Tarifrunde zur Aufwertung der Sozial- und Erzie- hungsdienste ist noch nicht beendet. Aber eines zeigt sie schon jetzt – die Zeit, in der Tarifauseinandersetzungen, also der Kampf um bessere Arbeitsbedingungen, im stil- len Kämmerlein ohne Beachtung der Öffentlichkeit von- stattengehen, ist vorbei. Ohne Druck kein Ruck! Das ist die Voraussetzung, um in einer Schlichtung zu einem gu- ten Ergebnis zu kommen. Alles andere ist kollektives Betteln. Die Menschen machen sich wieder Gedanken darum, wie sie arbeiten wollen, und fordern nach Jahren der Zurückhaltung spürbare Verbesserungen. Und das eben nicht nur für den eigenen Hintern. Im Gegenteil. Sie interessieren sich wieder dafür, wie ihre Postboten entlohnt werden oder unter welcher Arbeitsverdichtung eigentlich der Kitaerzieher ihrer Kinder leidet. Die Men- schen denken wieder solidarisch, über das eigene Ar- beitsverhältnis oder die eigene Firma hinaus. Sie haben verstanden, dass nur durch gegenseitige Unterstützung bei dem Kampf um bessere Lebens- und Arbeitsbedin- gungen für alle ein Schuh daraus wird, der nicht drückt oder zu gesundheitlichen Schäden führt. Das ist eine gute Sache und muss uns als Parlamenta- rier darin bestärken, die politischen Rahmenbedingun- gen und deren Gesetzgebung zu hinterfragen, ob sie diese positive Entwicklung fördert oder ihr entgegen- steht. Helfen beispielsweise sachgrundlose Befristungen wirklich bei einem kontinuierlichen und quantitativen Ausbau der Kinderbetreuung? Fördern solch unsichere Arbeitsverhältnisse wirklich eine Berufswahl im Sozial- und Erziehungsbereich, wo es schon jetzt an qualifizier- tem Personal fehlt? Diese und ähnliche Fragen müssen wir uns stellen und sie auch beantworten, wenn wir die Beschäftigten der Sozial- und Erziehungsberufe und ihre Unterstützerinnen und Unterstützer ernst nehmen wol- len. Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Soziale Arbeit ist mehr wert. Das wissen die Be- schäftigten in den Sozial- und Erziehungsberufen schon lange. Jetzt reicht es ihnen aber mit den Sonntagsreden. Jetzt haben diese Beschäftigten, die in großer Mehrzahl Frauen sind, von Mai bis Juni fast einen Monat lang ge- 10852 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) streikt. Das ist enorm, und das verdient unsere Anerken- nung. Die gleichen Beschäftigten sind am letzten Wochen- ende zu Tausenden auf die Straßen gegangen, um ihrem Anliegen Nachdruck zu verleihen. Und sie wurden dabei von vielen Menschen unterstützt, deren Kinder in öffent- liche Kindergärten gehen oder in Schulen betreut wer- den. Ich habe großen Respekt vor diesen Streikenden. Denn für Menschen, die anderen Hilfe und Unterstüt- zung geben, für diese Menschen ist es nicht selbstver- ständlich, auf die Straße zu gehen. Für sie ist es auch nicht selbstverständlich, für die eigenen Anliegen zu kämpfen. Denn wenn sie das tun, dann lassen sie diejeni- gen alleine, denen sie sonst zur Seite stehen. Deshalb zeigt dieser Streik erstmals das Ausmaß, wie schlecht es um die Arbeitsbedingungen in den Sozialberufen bestellt ist. Hier muss endlich etwas passieren. Und ich hoffe, die Tarifparteien kommen mithilfe der beiden Schlichter zu einem akzeptablen und guten Ergebnis. Denn soziale Arbeit ist wirklich mehr wert. Der Streik und die Tarifverhandlungen sind natürlich Sache der Sozialpartner. Dennoch kann und muss auch die Politik etwas tun, um die sozialen Berufe aufzuwer- ten. Gerade wir sind gefragt, wenn es um bessere Ar- beitsbedingungen geht. Nur die Politik kann Rahmen- bedingungen schaffen – für gute und gesunde Arbeit auch in den Sozial- und Erziehungsberufen. Hier setzt der Antrag der Linksfraktion an. Und das ist gut so. Auch wenn wir nicht jede Forderung und jedes Detail unterstützen, stimmen wir diesem Antrag den- noch zu – denn die Richtung stimmt. Ein wichtiger Aspekt fehlt im Antrag ganz: die Forde- rung nach Entgeltgleichheit, und das ist mir ein besonde- res Anliegen. Frauen verlangen zu Recht, dass ihre päda- gogische Arbeit endlich genauso bezahlt wird wie die Facharbeit in anderen Bereichen. Heutzutage gelten die sozialen Dienste noch immer als Flopbranche, aber Chemie, Fahrzeugbau oder Metall als die Topbranchen. Männer, die sich um das Innenleben von Autos oder Ma- schinen kümmern, haben einen höheren Stellenwert und bessere Löhne als Frauen, die sich um Menschen küm- mern. Schlecht bezahlte Arbeit ist immer noch Frauensa- che. Das ist nicht fair und schon gar nicht gerecht. Dabei geht es nicht allein darum, dass Arbeit gleich bezahlt wird, sondern es geht um „Gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit“. Die SPD setzt in erster Linie nur auf mehr Transparenz in den Unternehmen. Das greift zu kurz und kann nur ein erster Schritt sein. Bringen Sie endlich ein Entgeltgleichheitsgesetz auf den Weg, das seinen Namen auch verdient. Frauen verdienen mehr! Es muss endlich Schluss sein mit der Entgeltdiskriminie- rung und es muss Schluss sein mit niedrigen Löhnen in frauenspezifischen Berufen. Aber zurück zum Antrag: Die Personalbemessung in sozialen Einrichtungen muss endlich dem tatsächlichen Bedarf entsprechen und darf sich nicht angeblichen Sachzwängen unterordnen. Notwendig sind mehr Stellen im sozialen Bereich. Als Folge würde es auch weniger unfreiwillige Teilzeit geben. Und natürlich sind verbind- liche Mindestqualitätsstandards für die öffentliche Kin- dertagesbetreuung längst überfällig. Denn hier geht es um die Bildungs- und Lebensperspektiven der Kleinsten in unserer Gesellschaft. Das muss uns das Geld wert sein. Wichtig sind darüber hinaus gute und stressreduzierte Arbeitsbedingungen. Denn soziale Arbeit kann an die Nerven gehen. Die Beschäftigten sind hier oft emotional gefordert. Es geht um Zuhören, Unterstützen und stark machen. Es müssen Konflikte bewältigt werden. Not- wendig sind Geduld und Einfühlungsvermögen. Man- ches geht auch unter die Haut. Oft ist die Zeit aber knapp. So entsteht Stress – und zwar Stress, der Kraft raubt und krank macht. Und deshalb brauchen wir end- lich eine Antistressverordnung. Notwendig ist ein Ar- beitsschutz, der die Belastungsgrenzen der Beschäftigten – gerade im sozialen Bereich – endlich in den Mittel- punkt stellt. Vor allem muss die sachgrundlose Befristung endlich abgeschafft werden – das kann ich der SPD-Fraktion nicht ersparen. Mir kann niemand erzählen, Arbeitgeber wären dann nicht mehr flexibel genug in ihrer Personal- planung. Es gibt eine ausreichend lange Probezeit. Kleine Betriebe sind vom Kündigungsschutz befreit. Und für die anderen gibt es noch immer die Befristung mit sachlichem Grund. Die Flexibilität für die Arbeitge- ber darf keine Einbahnstraße sein, denn den Preis für Be- fristungen zahlen die Beschäftigten, und der ist zu hoch. Die Menschen brauchen Sicherheit für ihre Lebenspla- nung. Das gilt natürlich auch für die Beschäftigten in den Sozial- und Erziehungsberufen. Anstatt den Antrag nach dem Motto „aus den Augen, aus dem Sinn“ abzulehnen, erwarte ich von den Regie- rungsfraktionen eigene Vorschläge. Nehmen Sie sich des Themas an – legen sie endlich etwas auf den Tisch. Auch Ihnen sollte soziale Arbeit mehr wert sein. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Internationalen Ju- gend- und Schüleraustausch als Fundament in der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik verankern (Tagesordnungspunkt 21) Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): Der Antrag über den internationalen Jugend- und Schüleraustausch umfasst ein zentrales Thema der deutschen Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik und ist an die wichtigste Zielgruppe unserer Gesellschaft, nämlich an die junge Generation, gerichtet. Als Obmann des Unterausschusses für Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik, ehemaliger Jugendbildungs- referent beim evangelischen Landesjugendpfarramt und Berater für den Schüler- und Jugendaustausch bei der Arbeitsgemeinschaft evangelische Jugend, aej, liegt mir dieses Thema sehr am Herzen. Ich kann aus persönli- chen Erfahrungen nur ausdrücklich für mehr internatio- nalen Jugend- und Schüleraustausch werben, und unser Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10853 (A) (C) (D)(B) Antrag ist dafür der richtige Weg. Während meiner Tä- tigkeit im Landesjugendpfarramt Sachsen bot ich vielen jungen Deutschen die Gelegenheit, sich unmittelbar mit jungen Menschen aus unterschiedlichen Ländern auszu- tauschen. Ebenfalls bot ich ihnen die Möglichkeit, ihre Heimat aus fremder Perspektive zu betrachten. Dieses enorme interkulturelle Lernpotenzial spricht unmittelbar dafür, den Jugend- und Schüleraustausch im internatio- nalen Rahmen auszuweiten und in die Arbeit der Aus- wärtigen Kultur- und Bildungspolitik angemessen einzu- binden. An erster Stelle bringt der kulturelle Austausch junge Menschen aus unterschiedlichen Kulturen näher zuei- nander, fördert das gegenseitige Verständnis, stärkt Tole- ranz und baut Hürden in Form von Stereotypen und Vor- urteilen ab. Den Alltag in den deutschen Gastfamilien zu erleben, sorgt in den meisten Fällen für ein positives Deutschland-Bild auf der individuellen Ebene und legt einen Grundstein für ein tieferes Verständnis unserer Lebensweise und Kultur. Damit ist der Schüler- und Ju- gendaustausch eine wichtige Investition in die Zukunft unseres Landes, da wir auf diese Weise oft lebenslange Freunde und quasi Botschafter unseres Landes gewin- nen. Ein nicht zu unterschätzender Faktor ist zudem die auf dem Jugendaustausch basierende Stärkung des Wirt- schafts- und Wissenschaftsstandortes Deutschland, denn wer einmal einen Bezug zu unserem Land hat, wird sich später auch überlegen, hier zu studieren oder zu arbeiten. Mit den Kollegen der Koalitionsfraktionen im Unter- ausschuss für Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik bin ich mir darüber einig, dass wir in gemeinsamer An- strengung den internationalen Jugend- und Schüleraus- tausch weiter fördern müssen. Um ihn als wichtigen Be- standteil der deutschen Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik nachhaltig und noch wirksamer zu ge- stalten, ist die Einbeziehung der deutschen Mittlerorga- nisationen, insbesondere des Auslandsschulwesens, des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und der Goethe-Institute sowie anderer Kulturaustauschprojekte der Länder und auch der Kirchen besonders wichtig. Deswegen werde ich mich für den gezielten Ausbau der Jugend- und Schüleraustauschprogramme einsetzen. Da- bei ist es für uns eine Selbstverständlichkeit, dass auch junge Menschen mit Behinderung gemäß Artikel 32 der UN-Behindertenrechtskonvention stärker in Austausch- programme einbezogen werden. Weiterhin erscheint es mir als besonders wichtig und sinnvoll, dass die aus diesen Austauschprogrammen er- standenen Alumninetzwerke gepflegt werden, um dauer- haft einen Mehrwert in der interkulturellen Verständi- gung zu schaffen. Ein gutes Beispiel für die Erreichung dieses Zieles ist das langjährig bewährte IPS-Programm des Deutschen Bundestages. In dessen Rahmen vergibt der Deutsche Bundestag jährlich Stipendien an politik- interessierte junge Menschen aus Mittel-, Ost- und Süd- osteuropa, Frankreich, Israel, den USA und dem arabi- schen Raum, um die kulturellen Beziehungen mit diesen Ländern zu festigen. Schlussfolgernd daraus wäre es be- grüßenswert, die im Rahmen der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik geförderten Jugend- und Schüler- austauschprogramme an bereits identifizierten Schwer- punktregionen der deutschen Außenpolitik auszurichten. Nicht zuletzt möchte ich hervorheben, dass die an Austauschprogrammen teilnehmenden Jugendlichen hier in Deutschland im schulischen, aber auch im beruflichen Feld Erfahrungen sammeln können, die ihnen helfen, Berufsperspektiven erheblich zu verbessern. Gerade die Erfahrung des funktionierenden Systems der dualen be- ruflichen Bildung – insbesondere unter Berücksichti- gung der dramatisch ansteigenden Zahlen der Jugendar- beitslosigkeit in anderen europäischen Ländern – kann Ideengeber sein für Veränderungen in der eigenen Hei- mat. Daher möchte ich dafür plädieren, bestehende Part- nerschaften effektiv auszubauen und gemeinsam mit den jeweiligen Staaten weiter zu vertiefen und sie durch die Unterstützung der deutschen Mittlerorganisationen zu flankieren. Das Erleben von Gemeinsamkeit, gemeinsames Le- ben, Lernen und Erfahren sind die Grundlage unserer ge- meinsamen Zukunft – in Europa und weltweit. Mit dem vorliegenden Antrag wollen wir auf dem Feld der Aus- wärtigen Kultur- und Bildungspolitik die Bedingungen verbessern, um unseren Kindern und Jugendlichen die Welt noch besser erfahrbar zu machen. Jürgen Klimke (CDU/CSU): Jugendaustausch ist nicht nur ein wichtiges politisches Querschnittsthema, es ist auch ein Thema, das mich persönlich bewegt: einer- seits als Vater von vier Kindern, der selbst an einem Jugendaustausch nach England teilgenommen hat, wei- terhin als Hamburger, als Bürger einer weltoffenen – weil von internationalen Kontakten lebenden – Stadt. Außerdem nehme ich seit vielen Jahren die Stipendia- ten des Internationalen Parlamentsstipendiums in mei- nem Büro auf und wähle im Rahmen des Parlamentari- schen Patenschaftsprogramms, PPP, Schüler für ein Auslandsjahr in den USA aus. Vor diesem Hintergrund hat es mich besonders betrof- fen gemacht, dass das Parlamentarische Patenschaftspro- gramm zwischen Bundestag und US-Kongress gefährdet ist. Begründet ist das darin, dass die USA ihren Anteil daran nicht weiter zahlen wollen, weil sie andere Priori- täten im Jugendaustausch setzen und mit weniger entwi- ckelten Staaten verstärkt zusammenarbeiten möchten. Das Parlamentarische Patenschaftsprogramm, das bisher paritätisch von beiden Seiten getragen wurde, ist jedoch mehr als ein Austauschprogramm. Es wurde 1983, zum 300. Jahrestag des Beginns der deutschen Einwanderung in Pennsylvania, ins Leben gerufen und ist schnell ein Symbol deutsch-amerikanischer Freund- schaft geworden. Das PPP ist ein Programm, das in jedem Jahr große politische und mediale Aufmerksamkeit erfährt, auch weil Bundestags- und Kongressabgeordnete es als Paten begleiten. Deshalb habe ich mich an das Bundeskanzler- amt gewandt und die Bundeskanzlerin um Unterstützung gebeten. Ich habe die Antwort erhalten, dass Angela Merkel dieses Thema auf dem letzten bilateralen Treffen mit Barack Obama angesprochen hat und die amerikani- 10854 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) sche Regierung noch einmal die Streichung der Mittel prüfen will. Die Bundeskanzlerin hat zudem, um ihre Verbundenheit mit dem Programm zu zeigen, alle dies- jährigen Stipendiaten zu einem gemeinsamen Fototer- min ins Kanzleramt eingeladen. Für diesen Einsatz bin ich ihr sehr dankbar. Ich erhoffe mir jedoch ausdrücklich, dass auch alle Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundestag über die Fraktionsgrenzen hinweg gemeinsam für den Erhalt des PPP eintreten und dies bei allen Gesprächen mit Vertre- tern des Kongresses und der amerikanischen Regierung thematisieren. Dafür möchte ich mich schon im Voraus bedanken. Doch lassen Sie mich nach dieser Vorrede zu unserem Antrag „Internationalen Jugend- und Schüleraustausch als Fundament in der Auswärtigen Kultur- und Bil- dungspolitik verankern“ kommen. In unserem Antrag haben wir den Jugendaustausch in seiner Bedeutung ausführlich gewürdigt, nicht nur den Aspekt der Völkerverständigung, des Abbaus von Vorur- teilen sowie der Bedeutung für sprachliche Kompeten- zen. Mir war es vielmehr immer ein Anliegen, herauszu- stellen, wie stark gerade ein längerer Austausch die persönliche Entwicklung voranbringt. Denn genau diese Entwicklung habe ich mehrfach erlebt: Die jungen Menschen, die eine längere Zeit im Aus- land erlebt haben, waren in ihrer Persönlichkeit entwi- ckelter, waren selbstbewusster und selbstständiger im Denken, sie waren politisch interessierter und viel stär- ker in der differenzierten Analyse von Problemen und der Suche nach Lösungen. Ich denke, dass viele von Ih- nen dies aus Ihrer täglichen Arbeit bestätigen können. Jugendaustausch ist deshalb aus der Sicht eines Außen- oder Europapolitikers, eines Wirtschafts- oder Bildungspolitikers, aber auch eines Familien- oder Sozialpolitikers ein Segen für unsere Gesellschaft, ein Segen für unser Land und eine sehr gute Sache auch und gerade für die Austauschschüler. Deshalb kann ich als Politiker daraus nur eine Konse- quenz ziehen, nämlich den Jugendaustausch wo immer es geht zu unterstützen. Das gestaltet sich in der Praxis jedoch gar nicht so einfach. Denn Jugendaustausch ist – wie schon am Anfang formuliert – eine echte Querschnittsaufgabe. Zuständig sind auf Bundesebene Auswärtiges Amt, das Familien- und Jugendministerium, das Bildungsministe- rium, das Sozialministerium sowie in gewisser Weise das Wirtschaftsministerium. Wenn man die verschiede- nen Aspekte – von Förderungen über Stipendien, von Visafragen bis zu Sozialleistungen – betrachtet, ergibt sich ein buntes Spektrum an Zuständigkeiten, das es den Jugendaustauschorganisationen nicht immer einfach macht, Anliegen an die richtige Stelle zu bringen. Das gilt insbesondere für bildungspolitische Fragen, für die die Bundesländer zuständig sind. Vor diesem Hintergrund sind Verbesserungen für Schüler- und Jugendaustausch mit dem politischen Ge- schäft des Bohrens dicker Bretter verbunden. Umso mehr freut es mich, dass es uns heute gelungen ist, mit unserem Antrag einige substanzielle Punkte einzubrin- gen: Lassen Sie mich kurz auf drei Aspekte eingehen: Austauschprogramme erreichen immer noch zu we- nige Jugendliche aus benachteiligten Familien, wo die Kinder vielleicht kein Abitur machen und die Eltern keine Akademiker sind. Wichtig ist es, gerade Jugendli- che aus bildungsferneren Familien zu erreichen, auch aus solchen Familien, wo die Eltern Hartz IV beziehen. Wichtig ist auch, dass es spezielle Angebote für Jugendliche mit Behinderung gibt. In allen diesen Berei- chen wollen wir mehr Angebote und eine Neuausrich- tung bestehender Programme. Die Visavergabe beim Jugendaustausch ist leider häu- fig bürokratisch und kompliziert. Oft werden unsinnige Anforderungen gestellt, die daraus resultieren, dass die Vorschriften der Vergabe nicht auf den Jugendaustausch ausgerichtet sind. Kosten und immer neue Vorgaben sowie lange Bearbeitungszeiten stellen echte Mobilitäts- hemmnisse dar. Hier fordern wir konkrete Erleichterun- gen. Gastfamilien leisten großartige Arbeit weitgehend un- bemerkt von der Öffentlichkeit. Sie nehmen einen Schü- ler oft ein ganzes Jahr unentgeltlich bei sich auf und bringen ihm unsere Kultur und Lebensart nahe. Sie sind Botschafter des Gastgeberlandes, genauso wie der Aus- tauschschüler Botschafter seines Landes ist. Wir wollen das Engagement stärker würdigen, zum Beispiel durch öffentliche Ehrungen, wir wollen aber auch Entlastungen für Gasteltern prüfen. In diesem Jahr fand erstmals eine Veranstaltung zur Ehrung von Gasteltern im Auswärti- gen Amt statt, eine gelungene Veranstaltung, an der Staatsministerin Böhmer teilgenommen hat. Das sollte fortgeführt werden. Jugendaustausch ist der Schlüssel für Völkerverständi- gung und den Abbau von Vorurteilen, für Persönlichkeits- entwicklung und die Übernahme weltweiter Verantwor- tung. Er verdient unsere volle politische Unterstützung. Dieser Antrag kann in diesem Sinne nur ein Anfang sein, lassen Sie uns darauf aufbauen und den Jugendaustausch weiter fördern und unterstützen. Ulla Schmidt (Aachen) (SPD): Junge Menschen, die die Chance haben, einige Zeit im Ausland zu verbringen, machen Erfahrungen, die nicht hoch genug einzuschät- zen sind: für ihre Persönlichkeitsentwicklung, ihre sprach- liche, soziale und ihre interkulturelle Kompetenz. Aber ein solcher Austausch bringt noch viel mehr: lebens- lange Freundschaften zwischen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern und zwischen unseren Ländern. Des- halb können wir ohne Scheu sagen: Der europäische und internationale Jugend- und Schüleraustausch ist in her- vorragender Weise geeignet, gegenseitiges Verständnis zwischen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen zu fördern, Toleranz zu stärken und ein positives Deutsch- landbild zu vermitteln. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10855 (A) (C) (D)(B) Tolle Beispiele bieten hierfür etwa das Deutsch-Fran- zösische und das Deutsch-Polnische Jugendwerk: Mit beiden Ländern verbindet Deutschland eine Geschichte, die insbesondere nach den Schrecknissen des Zweiten Weltkrieges und den brutalen mörderischen Erfahrungen mit Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus von Feindseligkeit und Aggression gegenüber Deutschland und den Deutschen geprägt war. Es ist erst 70 Jahre her, da galt in vielen Ländern: „Only a dead German is a good German.“ Es grenzt fast an ein Wunder, dass wir nun mit Frank- reich schon seit vielen Jahren und seit dem Ende des Kalten Krieges auch mit Polen ein so freundschaftliches Verhältnis pflegen. Beides hat viel mit der Arbeit der Jugendwerke zu tun. Auch deshalb will die Koalition den internationalen Jugend- und Schüleraustausch stärken und dazu unter anderem die bestehenden Programme besser vernetzen, Jugend- und Schüleraustauschprogramme in von der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik identifizierten Schwerpunktregionen intensivieren, neue Austauschpro- gramme mit den Staaten Südosteuropas innerhalb und außerhalb der EU initiieren, internationale Jugend- und Schülerbegegnungen an historischen Gedenkorten, im In- und Ausland stärken, darauf hinwirken, dass die staatlich geförderten Austauschprogramme, auch die der Träger der freien Jugendhilfe, in Deutschland bekannter gemacht werden und wichtige Akteure, wie das Aus- landsschulwesen und die Goethe-Institute, einbezogen werden, um beispielsweise Jugendlichen aus der ganzen Welt das erfolgreiche Modell der dualen beruflichen Ausbildung näherzubringen. Ein Punkt liegt mir besonders am Herzen: Der europäische und internationale Jugend- und Schüleraustausch bringt junge Leute aus verschiedensten Ländern und Kulturen zusammen und befördert dadurch gegenseitiges Verständnis und Akzeptanz. Leider haben junge Menschen mit Behinderungen bislang nur selten die Möglichkeit, an diesen Angeboten teilzunehmen. Die UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 geltendes Recht in Deutschland ist, fordert in Artikel 32, „sicherzustellen, dass die internationale Zusammenar- beit Menschen mit Behinderungen einbezieht und für sie zugänglich ist“. Deshalb will die Koalition junge Menschen mit Be- hinderungen künftig noch gezielter in den Austausch einbeziehen. Uns ist bewusst, dass uns dies vor neue He- rausforderungen stellt: So müssen beispielsweise Träger und Gastfamilien gewonnen werden, um junge Men- schen mit Behinderungen bei sich aufzunehmen. Aber wir packen es an! Der vorliegende Antrag ist eine gute Grundlage, um den internationalen Jugend- und Schüleraustausch zu stärken, und dazu gehört für uns Sozialdemokraten auch, zu prüfen, inwieweit Teilnehmende von Programmen der Jugend- und Schüleraustauschorganisationen von Gebühren für Visa und Aufenthaltstitel befreit werden und inwieweit Erleichterungen im Visa-Informationssys- tem VIS vorgenommen werden können. Azize Tank (DIE LINKE): Ich begrüße sehr, dass der vorliegende Antrag die Bedeutung des internationalen Jugend- und Schüleraustausches für die Auswärtige Bil- dungs- und Kulturpolitik ins Blickfeld nehmen möchte. Der internationale Jugendaustausch wird von zahlrei- chen Freiwilligen, engagierten Schulen und Jugendaus- tauschorganisationen getragen, deren nachhaltige Wir- kung für den interkulturellen Dialog und die aktive Vermittlung demokratischer Grundwerte oft nicht die ge- bührende Beachtung in der Öffentlichkeit findet. Des- halb möchte ich mich bei den vielen jungen Teilneh- merinnen und Teilnehmern und engagierten Betreuern sehr herzlich bedanken. Dieses anspruchsvolle Engagement wird allerdings durch viele sowohl bürokratische als auch strukturelle Hindernisse erschwert. Die Problematik der Visaver- gabe, die die Fraktionen der CDU/CSU und SPD in ih- rem Antrag ansprechen, ist nur eine von vielen. Dabei liegt die Visavergabe in der Hand der antragstellenden Regierungskoalition und könnte schnell verbessert wer- den. Meine sehr verehrten Damen und Herrn, weisen Sie doch endlich die deutschen Botschaften im Ausland an, Verpflichtungserklärungen der Jugendaustauschorgani- sationen anzuerkennen. Sorgen sie für einheitliche Krite- rien bei der Visavergabe und verzichten sie darauf, Sprachnachweise zu verlangen, die von Germanistikstu- denten an Hochschulen verlangt werden könnten, nicht aber von Schülerinnen und Schülern, die im Rahmen ei- ner Schulpartnerschaft zu Gastfamilien nach Deutsch- land kommen. Mit großer Sorge nehme ich zugleich zur Kenntnis, dass die verschiedenen Lebensrealitäten der Jugendlichen in dem Antrag nicht angemessen gewürdigt werden. Ge- nau diese aber stellen eine entscheidende Voraussetzung der Teilnahme junger Menschen an grenzüberschreiten- den Begegnungen dar. Prekäre Lebenssituationen, wie ein erschwerter Zugang zum sozialen Menschenrecht auf Bildung sowie Hindernisse bei der kulturellen Teilhabe in unserer Gesellschaft verstärken diese bestehenden Bildungsbenachteiligungen. Jugendliche Migrantinnen, sozial Benachteiligte so- wie Kinder mit Behinderungen bzw. Beeinträchtigungen sind aufgrund der gesellschaftlichen Rahmenbedingun- gen oft von der Teilnahme am Jugendaustausch ausge- schlossen. Menschen mit beschränktem Aufenthaltsrecht dürfen vielfach an Austauschprogrammen gar nicht teilnehmen. Hier entsteht in den Schulen ein Zweiklassensystem. Da- bei wäre es für eine echte gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund gerade wünschens- wert, dass sie gemeinsam mit ihren deutschen Mitschülern an geschichtspolitischen Bildungsreisen, die zum Bei- spiel das Thema Rassismus, soziale Ausgrenzung und Antisemitismus im Kontext der deutschen NS-Verbre- chen behandeln, teilnehmen. Wäre dies nicht weitaus effektiver für die von Ihnen geforderte Stärkung der „Willkommens- und Anerkennungskultur“, anstatt Ju- gendliche im Rahmen von internationalen Austausch- projekten als Botschafter misszuverstehen, die anstatt gemeinsamer Begegnung und eines Dialoges auf Augen- 10856 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) höhe vielmehr ein positives Deutschlandbild zu vermit- teln hätten? Jugendliche können nicht zu Missionaren des „erfolgreichen deutschen Modells der dualen berufli- chen Bildung“ instrumentalisiert werden, wenn gerade oftmals die Nichtteilnahme von sozial benachteiligten Jugendlichen und Schülern der beste Beweis ist, dass die duale Ausbildung kein Allheilmittel zur Lösung sozialer Verwerfungen ist. Interessierte Jugendliche können dabei den Freiwilli- gendienst als Gelegenheit zur Orientierung nach der Schule oft nicht in Anspruch nehmen, weil ihnen sonst Leistungen wie Arbeitslosengeld oder Wohngeld gestri- chen werden würden. Nach wie vor werden Menschen mit Behinderung in der Sozialgesetzgebung wie Emp- fänger staatlicher Fürsorgeleistungen und nicht wie aktive Bürger betrachtet. Eine Teilnahme an einem Workcamp oder einer Bildungsreise führt oft zu einem Ausschluss von Teilhabeleistungen. Diese Benachteili- gungen müssen beendet werden! In diesem Sinne ist es fraglich, wie sich die Regie- rungskoalitionen vorstellen, der von der Linken geteilten Forderung nachzukommen um – ich zitiere – „in beson- derer Weise … gezielt benachteiligte Jugendliche und junge Menschen mit Behinderung gemäß Artikel 32 der UN-Behindertenrechtskonvention“ einzubeziehen, wenn im gleichen Atemzug der Vorbehalt formuliert wird, dass dies nur „im Rahmen der verfügbaren Haushalts- mittel“ zu gewährleisten sei. Die verfügbaren Mittel müssen vielmehr aufgestockt werden. Es genügt nämlich nicht, die große Bedeutung des Deutsch-Französischen Jugendwerkes, DFJW, oder des Deutsch-Polnischen-Jugendwerk, DPJW, hervorzu- heben und zugleich zu vergessen, dass zum Beispiel das DPJW den notwendigen Bedarf und das Interesse der Ju- gendlichen an Austausch- und Begegnungsprojekten nicht vollumfänglich decken kann. Deshalb sollten die Mittel des DPJW aufgestockt werden. Die Linke teilt die Einschätzung, dass der Besuch von Gedenkstätten, an denen die Relevanz der Geschichte für die Gegenwart deutlich wird, gezielt unterstützt und gefördert werden muss. Dafür ist es unumgänglich, die langfristige Planungssicherheit der Gedenkstätten zu ge- währleisten. Viele Gedenkstätten-Mitarbeiter werden aufgrund der Notwendigkeit, fehlende Mittel für interna- tionale Jugend-Begegnung einzuwerben, mit zusätzli- chem Bürokratieaufwand konfrontiert. Dies hindert sie daran, ihre pädagogische Expertise in die Begegnungsar- beit einzubringen. Ein weiteres gutes Beispiel, dass durch finanzielle Unterstützung konkrete Ergebnisse er- zielt werden können, sind die Bemühungen um eine langfristige Sicherung der Bildungs- und Erinnerungsar- beit an den Gedenkorten der ehemaligen deutschen Ver- nichtungslager Sobibor und Bełżec als Ergänzung der Infrastruktur der bestehenden Gedenkstätten. Die Stif- tung „Polnisch-Deutsche Aussöhnung“ arbeitet dort eng mit deutschen und polnischen Bildungsträgern zusam- men, um die vergessene Geschichte der deutschen Lager der sogenannten Aktion Reinhardt aufzuarbeiten und diese Gedenkorte als wichtige Orte der Begegnung, Bil- dung und des gemeinsamen Dialoges zu entdecken. Fundierte Bildungsarbeit und interkulturelle Einbe- ziehung von Jugendlichen lässt sich jedoch nur durch Bereitstellung zusätzlicher Mittel bewerkstelligen. Hier sehen wir noch Nachholbedarf und werden entspre- chende Vorschläge unterbreiten. Nur so können die ge- nannten Vorhaben realisiert werden. Das Thema ist in seiner Gesamtheit von hoher Bedeutung, weshalb die Linke dem Antrag auch zustimmt. Beate Walter-Rosenheimer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Internationaler Jugend- und Schüleraus- tausch ist ein Thema, bei dem sich wahrscheinlich alle Fraktionen hier im Bundestag mehr oder weniger einig sind: Wir brauchen ihn, und wir wollen ihn stärken. Umso mehr bin ich irritiert, dass dieser Koalitionsantrag nun „holterdiepolter“ und ohne ordentliche Beratung in den Ausschüssen ins Plenum kommt und sofort abge- stimmt werden soll. Wir debattieren hier nicht über einen politischen Not- fall. Es kommt bei der Entscheidung nicht auf jede Mi- nute an. Nein. Es geht um internationalen Jugendaus- tausch. Den wollen wir schon lange stärken. Das hätten wir ohne Probleme auch gemeinsam in den Ausschüssen hinbekommen. Mit dieser unnötigen Sofortabstimmung bekleckert sich die Koalition in unseren Augen nicht mit Ruhm. Wir dürfen schon mal nachfragen: Um was geht es Ihnen hier heute eigentlich? Die Inhalte des Antrags unterstützen wir in großen Teilen. Auch wir wollen Jugend- und Schüleraustausch- programme stärken und die Voraussetzungen dafür schaffen, dass einmal gewonnene Erfahrungen und Kon- takte nicht verloren gehen. Die Stärkung einer Alumni- kultur ist da eine gute Sache. Aber wir sagen klar: Für uns Grüne ist Jugendaus- tausch keine einseitige Veranstaltung. Wir wollen nicht einfach nur junge Deutsche ins Ausland schicken. Wir wollen ganz gezielt auch, dass junge Menschen aus an- deren Ländern nach Deutschland kommen. Wertever- mittlung muss eine große Rolle spielen. Wir wollen ei- nen Austausch zu fundamentalen Säulen unserer Kultur wie Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Menschen- rechte. Dazu müssen junge Menschen zusammenkom- men, miteinander auf Augenhöhe reden und im besten Fall auch mal den Alltag der jeweils anderen kennenler- nen. Die im Antrag der Koalition angesprochenen Visums- erleichterungen sind ein Kernstück grüner Forderungen seit Jahren. Wir müssen dafür sorgen, dass Teilneh- mende in Jugendaustauschprogrammen nicht vor riesi- gen bürokratischen Hürden stehen und ein tolles Vorha- ben des internationalen Dialogs an der Verzögerung von Visumsentscheidungen scheitert. Das ist natürlich nicht nur ein Problem in Deutschland. Aber hier können wir aktiv werden und mit gutem Beispiel vorangehen. Wir sollten die deutschen Behörden darauf einstellen, den Zugang zu Visa für Jugendliche aus anderen Ländern zum Zwecke des Austausches so leicht wie möglich zu gestalten. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10857 (A) (C) (D)(B) Der Antrag der Koalition wäre also kein schlechter Aufschlag, wenn wir ihn gemeinsam hätten beraten, aber vor allem auch weiterentwickeln können. Ein Beispiel: Die Koalition fordert in ihrem Antrag, neue Austauschprogramme mit den Ländern Südosteu- ropas innerhalb und außerhalb der EU zu initiieren. Die- sen Vorschlag können wir Grüne unterstützen. Und ich möchte darüber hinausgehen. Wir brauchen im Sinne der europäischen Einigung auch mehr Austausch mit den Ländern Osteuropas. Ich war an den vergangenen beiden Wochenenden in der Ukraine und in Polen, um in den Hauptstätten Kiew und Warschau die Demonstrationen für gleiche Rechte von Lesben, Schwulen und anderen sexuellen Minderheiten zu unterstützen und die politi- schen Aktivistinnen und Aktivisten vor Ort kennenzuler- nen. Ich kann Ihnen sagen: Die Stimmung besonders in Kiew war mehr als aufgeheizt. Grund war eine große Gruppe teilweise gewaltbereiter Gegendemonstranten und Neonazis, die alles rund um das Thema Homosexua- lität als Teufelszeug und westliche Propaganda und euro- päischen Sittenverfall darstellen. Demgegenüber gab es glücklicherweise vor Ort auch eine Menge aufgeschlossener Leute, die die Werte von Menschenrechten, Minderheitenrechten und Demokra- tie teilen. Ich habe viel diskutiert, auch sehr viel mit jun- gen Menschen – mit den Vertreterinnen und Vertretern einer neuen Generation, die unsere liberalen Werte tei- len. Sie haben ein riesiges Interesse daran, zu erfahren, wie in Deutschland demokratische, transparente und die Grundrechte schützende Politik gemacht wird und Zivil- gesellschaft, Kultur und Wirtschaft funktionieren. Sie sollten noch viel mehr die Möglichkeit haben, im Rah- men von Jugendaustauschprogrammen problemlos nach Deutschland zu kommen. Aber auch junge Menschen hierzulande können und sollten eine Menge lernen und ihren Horizont erweitern. Darum ist es genauso wichtig, dass junge Deutsche unter anderem nach Osteuropa gehen, die jeweilige Sprache lernen und verstehen, wie die Gesellschaften funktionie- ren, wie Menschen dort leben und welche Werte sie tei- len. Gerade vor dem Hintergrund wachsender interna- tionaler Spannungen muss es für uns heißen: Mehr Verständigung bringt mehr Verständnis. Besonders für die heutigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist der Austausch so wichtig. Sie werden die politische Zukunft Europas für die nächsten Jahr- zehnte prägen, wenn wir, liebe Kolleginnen und Kolle- gen, schon lange nichts mehr zu melden haben. Wir kön- nen aber schon heute positiven Einfluss nehmen und die Weichen dafür stellen, indem wir internationalem Ju- gendaustausch in Europa und weltweit einen besonderen Platz einräumen. Daran sollten wir gemeinsam denken, dafür müssen wir gemeinsam arbeiten. Leider stellen Sie von der Koalition ganz wesentliche Punkte Ihres Antrags unter den Vorbehalt der verfügba- ren Haushaltsmittel, verraten aber in keiner Silbe, um wie viel Geld es sich genau handeln wird. Wie viel Un- terstützung soll es denn wirklich für die Erweiterung des internationalen Schüler- und Jugendaustausches geben? Kein Wort von Ihnen. Ich hoffe im Sinne des internatio- nalen Jugendaustausches sehr, dass es sich hier nicht nur um einen Alibiantrag handelt. Schöne Formulierungen allein reichen nämlich nicht, wenn gute Programme we- gen Geldmangels letztendlich doch nicht zustande kom- men. Erwarten Sie wirklich, dass wir da zustimmen? Ich muss Sie leider enttäuschen. Eine Debatte in den Aus- schüssen hätte auch in Fragen der Finanzierung für Klar- heit sorgen können. Das wollen Sie anscheinend nicht. Darum können wir diesem in der Sache begrüßenswer- ten Antrag nicht zustimmen und enthalten uns. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än- derung des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (Tagesordnungs- punkt 23) Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Mit dem Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen setzen wir zunächst einmal Rahmenbeschlüsse des Rates der Europäischen Gemein- schaft um. Viel wichtiger erscheint mir jedoch, dass wir über diese formale Aufgabe hinaus die Rechte des Beschul- digten in einem Ermittlungsverfahren stärken. Ausge- wogen und sachorientiert verbessern wir die Rahmen- bedingungen zur gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen über Auflagen und Überwachungsmaß- nahmen zur Vermeidung der Untersuchungshaft. So soll zukünftig die Möglichkeit bestehen, Auflagen und Überwachungsmaßnahmen zur Vermeidung einer Untersuchungshaft im Heimatland zu erfüllen, selbst wenn die Festnahme und das Ermittlungsverfahren im Ausland erfolgten bzw. eingeleitet wurden. Ein Bundes- bürger, der zum Beispiel in Frankreich im Rahmen eines dort eingeleiteten Ermittlungsverfahrens zunächst fest- genommen wurde, kann nun die Auflagen, die ihm zur Vermeidung der Untersuchungshaft in Frankreich ge- macht wurden, auch in Deutschland erfüllen. Somit ist also die Rückkehr in das Land möglich, in dem der Be- schuldigte seinen Wohnsitz hat, indem er dort Auflagen wie Hinterlegung einer Geldleistung oder Hausarrest er- füllt. So soll dem Beschuldigten weiterhin die Möglichkeit eröffnet werden, so weit als möglich seine sozialen Kon- takte zu pflegen. Wenn es die Entscheidung um die Vermeidung der Untersuchungshaft ermöglicht, soll der Beschuldigte auch in die Lage versetzt werden, zum Bei- spiel seinen beruflichen Verpflichtungen nachzukom- men. So werden die Fälle vermieden, in denen der Beschuldigte zwar nicht in Untersuchungshaft muss, sich das aufgezwungene Fernbleiben vom Arbeitsplatz aufgrund des verpflichtenden Auslandsaufenthalts aber als existenzgefährdend auswirkt. Die gesamte Reichweite der Neuregelung kann man sich meines Erachtens zudem erst dann vor Augen füh- 10858 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) ren, wenn man sich vergegenwärtigt, dass ein Haftgrund für die Untersuchungshaft vor allem auch die Flucht- gefahr ist. Gerade dieser Haftgrund ist aber so gut wie immer den Situationen immanent, in denen jemand bei einem Auslandsaufenthalt festgenommen wird. So wird die Neuregelung gerade in der Praxis eine erhebliche Verbesserung erzielen. Insgesamt ist diese Zielrichtung richtig und wichtig. Sie muss jedoch auch ihre Grenzen haben: Trotz aller Erleichterung darf eine Neuregelung nicht dazu führen, dass sich ein Beschuldigter letztlich immer das Land aussucht, in dem die Auflagen und Überwa- chungsmaßnahmen am geringsten sind. Deshalb war darauf zu achten, dass auch in dem Land, in dem der Beschuldigte während des Ermittlungsverfahrens auf seinen Wunsch verweilt, exakt die Auflagen und Über- wachungsmaßnahmen gelten, die angeordnet wurden. Insgesamt eine – wie ich finde – praxistaugliche Re- gelung. Deshalb bitte ich um Zustimmung. Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): I. Mit dem Gesetz soll der Rahmenbeschluss zur gegenseitigen An- erkennung auf Entscheidungen über Überwachungsmaß- nahmen als Alternative zur Untersuchungshaft umge- setzt werden. Mit ihm wird das Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen geändert. Der zugrunde liegende Rahmenbeschluss bezweckt die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen An- erkennung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäi- schen Union auf Entscheidungen über Überwachungs- maßnahmen als Alternative zur Untersuchungshaft. Durch die Einschränkung „als Alternative zur Unter- suchungshaft“ wird aus dem Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses die Außervollzugsetzung eines Unterbringungsbefehls nach § 126 a Absatz 1 und 2, § 116 Absatz 3 StPO ausgenommen wie auch die Über- wachungsmaßnahmen im Rahmen der Strafvollstre- ckung, insbesondere der Strafaussetzung zur Bewährung gemäß §§ 56 ff. StGB und der Führungsaufsicht gemäß §§ 68 ff. StGB. Für die Anwendbarkeit des Rahmenbeschlusses ist er- forderlich, dass die Voraussetzungen aus Artikel 4 Buch- stabe a Rahmenbeschluss erfüllt sind. Danach muss eine rechtskräftige Entscheidung vorliegen, die während ei- nes Strafverfahrens von einer zuständigen Behörde des Anordnungsstaats im Einklang mit dem innerstaatlichen Recht und den innerstaatlichen Verfahren dieses Staates getroffen wurde und mit der gegen eine natürliche Per- son als Alternative zur Untersuchungshaft eine oder mehrere Überwachungsmaßnahmen verhängt werden. Im Rahmenbeschluss werden in Artikel 1 allgemein verbindliche Regeln festgelegt, nach denen ein Mitglied- staat eine in einem anderen Mitgliedstaat als Alternative zur Untersuchungshaft erlassene Entscheidung über Über- wachungsmaßnahmen anerkennt, die einer natürlichen Person auferlegten Maßnahmen überwacht und die be- troffene Person bei Verstößen gegen diese Maßnahmen dem Anordnungsstaat übergibt. Hierbei sind die Aner- kennung einer Entscheidung über Überwachungsmaß- nahmen, die Bewilligung der Übernahme der Überwa- chung und die Vollstreckung der Maßnahmen umfasst. Eines der Ziele des Rahmenbeschlusses ist es, ein ef- fizientes Verfahren zu gewährleisten und insbesondere sicherzustellen, dass die betroffene Person vor Gericht erscheint, wie es Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe a des Rahmenbeschlusses vorsieht. Erreicht werden soll dieses Ziel dadurch, dass der Rahmenbeschluss die Möglich- keit schafft, beschuldigte Personen im Vollstreckungs- staat zu überwachen. Bislang konnte dies nur dadurch erreicht werden, dass ein Haftbefehl gegen die beschul- digte Person erlassen und sie in Untersuchungshaft ge- nommen wurde oder seitens der Behörden auf das pflichtgemäße Erscheinen zum Hauptverhandlungster- min vertraut wird. Des Weiteren soll während eines Ermittlungsverfah- rens – soweit angebracht – die Anwendung von Maßnah- men ohne Freiheitsentzug in Bezug auf Personen geför- dert werden, die ihren Aufenthaltsort nicht in dem Mitgliedstaat haben, in dem das Verfahren stattfindet. Es soll der Gefahr entgegengewirkt werden, dass Gebiets- fremde eher in Untersuchungshaft genommen werden als Gebietsansässige. Dahinter verbirgt sich die An- nahme, dass ein Gericht bei Ersteren möglicherweise schneller zu der Annahme gelangt, es bestehe eine Fluchtgefahr. Maßnahmen ohne Freiheitsentzug sollen selbst dann gefördert werden, wenn nach dem Recht des betroffenen Mitgliedstaates Untersuchungshaft nicht von Anfang an verhängt werden könnte. In einigen Mitgliedstaaten wird in einem Ermittlungs- verfahren anfangs kein Haftbefehl erlassen, der dann gegebenenfalls gegen Auflagen und Weisungen außer Vollzug gesetzt wird. Vielmehr werden zunächst aus- schließlich Überwachungsmaßnahmen verhängt. Der Er- lass eines Haftbefehls kommt erst dann in Betracht, wenn die betroffene Person gegen die Maßnahmen ver- stoßen hat. Auch in einem solchen Fall soll der Anwen- dungsbereich des Rahmenbeschlusses eröffnet sein. Der Rahmenbeschluss ist also anwendbar, unabhängig da- von, ob Untersuchungshaft vermieden wird, weil ein be- stehender Haftbefehl außer Vollzug gesetzt oder erst gar nicht erlassen wird. Schließlich wird als Ziel des Rahmenbeschlusses die Verbesserung des Schutzes der Opfer und der Allge- meinheit genannt. Mit dem Rahmenbeschluss wird somit das Spannungsverhältnis zwischen der für eine beschul- digte Person geltenden Unschuldsvermutung und der staatlichen Pflicht, seine Bürger zu schützen sowie die Durchführung eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens zu gewährleisten, ausgeglichen. II. Obwohl der Bundesrat noch an zwei Punkten Än- derungen des Gesetzentwurfes vornehmen wollte, wird der Gesetzestext nun in seiner ursprünglichen Form ver- abschiedet. Der Bundesrat hatte am 08. Mai 2015 zu dem Gesetz- entwurf eine Stellungnahme abgegeben. Zu dieser Stel- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10859 (A) (C) (D)(B) lungnahme erließ die Bundesregierung eine Gegenäuße- rung. Erstens. Der Bundesrat schlägt eine Änderung vor, die sowohl die Bewilligung ein- und ausgehender Ersu- chen als auch die gerichtliche Zuständigkeit für die Ent- scheidung über die Zulässigkeit sowie die Überwachung von Maßnahmen bei eingehenden Ersuchen betrifft. Bei dem Gesetzentwurf zur Verbesserung der internationalen Rechtshilfe bei der Vollstreckung von freiheitsentziehen- den Sanktionen und bei der Überwachung von Bewäh- rungsmaßnahmen hatte der Bundesrat den gleichen Ein- wand erhoben. Da dieses Gesetzesvorhaben wie das vorliegende am heutigen Tag verabschiedet wird, kann an dieser Stelle auf meine dortigen Ausführungen Bezug genommen werden. Die Gründe, den Änderungsvor- schlag des Bundesrates auch hier abzulehnen, werde ich daher nur kurz umreißen. Dem Bundesrat ist zwar darin zuzustimmen, dass die geplante Regelung eine Abkehr von der bisherigen Zu- ständigkeitsregelung im Rechtshilferecht in Strafsachen darstellt. Diese Abkehr ist jedoch bewusst vollzogen worden. Denn sie stellt eine konsequente Folge aus dem Zusammenwachsen Europas im justiziellen Bereich dar. Aufgrund des besonderen Vertrauens in die jeweili- gen anderen Rechtssysteme und zum Schutz des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist eine Über- wachungsanordnung eines Gerichts eines anderen Mit- gliedstaates der Europäischen Union anzuerkennen und auszuführen, wenn keiner der im Rahmenbeschluss ab- schließend aufgezählten Versagungsgründe gegeben ist. Dies ist unter anderem der Sinn der Rechtsinstrumente der gegenseitigen Anerkennung, zu denen auch der hier umgesetzte Rahmenbeschluss gehört. Zweitens fordert der Bundesrat in seiner Stellung- nahme, die vorgesehenen Vorschriften zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses komplementär zum Ausliefe- rungsrecht in den Achten Teil des IRG einzuordnen. Bei der Übernahme einer Überwachungsanordnung handelt es sich allerdings nicht um eine der Auslieferung vergleichbare Gestaltung, da die zu überwachende Per- son ohne Zwang in den Vollstreckungsstaat reist. Auch ist die wesentliche Aufgabe der Überwachung nach der Grundsatzentscheidung im Vollstreckungsstaat durchzu- führen, während im Auslieferungsverfahren nach der Überstellungsentscheidung der Ausstellungsstaat tätig werden muss. Der Änderungsvorschlag des Bundesrates kann daher nicht unterstützt werden. III. Der vorliegende Gesetzentwurf stellt eine gelun- gene und ausgewogene Umsetzung der genannten Rah- menbeschlüsse dar. Somit darf ich um Zustimmung für den vorgelegten Gesetzentwurf werben. Dirk Wiese (SPD): Mit dem Gesetzentwurf wird der Rahmenbeschluss Überwachungsanordnung vom 23. Oktober 2009 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen über Überwachungsmaßnahmen als Alternative zur Un- tersuchungshaft in deutsches Recht umgesetzt. Lassen Sie mich kurz ein paar Sätze zum Hintergrund sagen. Bei dem Rahmenbeschluss Überwachungsanord- nung handelte es sich um das zehnte Rechtsinstrument des „Maßnahmenprogramms zur Umsetzung des Grund- satzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Ent- scheidungen in Strafsachen“. Kennzeichnend für das Prinzip der gegenseitigen An- erkennung sind insbesondere der Grundsatz der gegen- seitigen Unterstützungspflicht sowie die Einführung von standardisierten Formularen, der überwiegende Verzicht auf die Überprüfung der dem Ersuchen zugrunde liegen- den ausländischen Entscheidung und der Wegfall der Umwandlung der ausländischen Entscheidung. Bislang fehlte im grenzüberschreitenden europäi- schen Raum ein einheitliches Instrument für eine effek- tive Überwachung der Auflagen und Weisungen bei Au- ßervollzugssetzung eines Haftbefehls. Mit dem heute zu beschließenden Gesetzentwurf schaffen wir nunmehr eine entsprechende Regelung zur Übergabe bzw. Über- nahme von Überwachungsmaßnahmen zur Vermeidung von Untersuchungshaft. Lassen Sie mich das kurz an einem Bespiel verdeutli- chen – ich spinne einfach mal den fiktiven Fall weiter, den der Kollege Ströbele neulich in der ersten Lesung zu den Abwesenheitsentscheidungen so schön vorgetragen hat –: Weil dem Politiker P die Themen ausgegangen sind, er sonst noch kaum Beachtung in der Öffentlichkeit fin- det und er außerdem das dringende Bedürfnis verspürt, das Sommerloch zu füllen, beschließt er, mit seiner Hanfpflanze in das europäische Land x zu fahren und dort am Strand Fotos von sich und der Hanfpflanze zu machen und diese Bilder dann an Kolleginnen und Kol- legen mit Urlaubsgrüßen aus der Ferne zu schicken. Da- mit möchte P natürlich für die europaweite Legalisie- rung des Hanfes eintreten. Leider wird P sehr schnell von der Realität eingeholt, denn obwohl P die Rechts- lage in dem Land X von seiner fleißigen Referentin R hat prüfen lassen, übersieht die studierte Politikwissen- schaftlerin leider, dass in dem Land X jeglicher Besitz und die Einfuhr von Hanf jedweder Art unter Strafe ste- hen. Es kommt also, wie es kommen musste: P packt voller Vorfreude die Hanfpflanze am Strand aus, aber schneller als sein Fotoapparat klicken die Handschellen von herbeigeeilten Ordnungshütern, die den Politiker P festnehmen. Nun stellen wir uns vor, dass die Rechtslage in Land X aber so ist, dass P eigentlich nicht in Untersu- chungshaft verbleiben müsste, wenn er Staatsbürger des Landes X wäre und gewisse Voraussetzungen wie festen Wohnsitz etc. erfüllen würde. Nach alter Rechtslage würde P aber zweifelsohne dennoch im Land X wegen Fluchtgefahr in Untersuchungshaft verbleiben müssen, da es bisher kein Abkommen auf europäischer Ebene für solche Fälle gab. Zukünftig können aber, dank des heute hier zu verabschiedenden Gesetzentwurfs, die Überwa- chungsmaßnahmen im Rahmen des Ermittlungsverfah- rens gegen P im europäischen Land X durch Deutschland übernommen werden. P ist damit von der Untersuchungs- haft befreit und kann, sehr zu seinem Unmut natürlich 10860 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) ohne seine heiß geliebte Hanfpflanze, nach Deutschland zurückkehren und hat, wenn auch anders als gedacht, sein Ziel erreicht, denn er ist endlich wieder Thema in den Medien. Neben dem hier geschilderten Fall ist das natürlich auch umgekehrt möglich, das heißt die Übertragung deutscher Überwachungsmaßnahmen ist auch an andere europäische Mitgliedstaaten möglich. Der Gesetzentwurf schafft für die Verfahren selbst na- türlich die erforderlichen rechtsstaatlichen Standards; so werden die betroffenen Personen beispielsweise ange- hört und haben das Recht, Beschwerde einzulegen. Das Gericht hat überdies im Rahmen seiner Ermessensaus- übung die Pflicht, Maßnahmen, die nach deutschem Recht nicht zulässig sind, entsprechend anzupassen. Gleiches gilt für Maßnahmen, die nicht hinreichend be- stimmt sind. Außerdem hat das Gericht die zu überwa- chenden Maßnahmen in seinem Beschluss genau zu be- stimmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, durch die Harmoni- sierung von Überwachungsmaßnahmen im Rahmen von Ermittlungsverfahren tragen wir insbesondere dem Grundsatz der Unschuldsvermutung sowie der Verhält- nismäßigkeit Rechnung und stärken somit den Schutz der Grundrechte im europäischen Strafrechtsraum. Zukünftig wird unnötige Untersuchungshaft für Per- sonen, die in einem EU-Mitgliedstaat beschuldigt wer- den und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem ande- ren Mitgliedstaat haben und denen allein deshalb eine U-Haft droht, vermieden werden. Damit stellt der Gesetzentwurf für alle betroffenen Personen eine deutliche Verbesserung und Entlastung zur bisherigen Rechtslage dar. Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Mit dem vorge- legten Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die inter- nationale Rechtshilfe in Strafsachen soll der Rahmen- beschluss 2009/829/JI des Rates vom 23. Oktober 2009 über die Anwendung – zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union – des Grundsatzes der gegen- seitigen Anerkennung auf Entscheidungen über Überwa- chungsmaßnahmen als Alternative zur Untersuchungs- haft (ABl. L 294 vom 11. November 2009, Seite 20) umgesetzt werden. Der Rahmenbeschluss regelt als Alternative zur Un- tersuchungshaft – aber auch außerhalb des Eröffnungs- bereichs von Untersuchungshaft – den Transfer von Überwachungsmaßnahmen ohne Freiheitsentzug – zum Beispiel eine Verpflichtung, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten oder sich zu bestimmten Zeiten bei einer bestimmten Behörde zu melden – von dem Mitglied- staat, in dem der Gebietsfremde verdächtigt wird, eine Straftat begangen zu haben, an den Mitgliedstaat, in dem er einen Wohnsitz hat. Somit soll ein Verdächtiger einer Überwachungsmaßnahme in seinem Heimatmitglied- staat unterzogen werden können, bis das Verfahren in dem anderen Mitgliedstaat stattfindet, anstatt im Anord- nungsstaat in Untersuchungshaft genommen zu werden oder dort einer Überwachungsmaßnahme ausgesetzt zu sein. Nun ist es grundsätzlich immer richtig, wenn Haft und vor allem Untersuchungshaft vermieden wird. Inso- weit ist er im Hinblick auf die Unschuldsvermutung ein konstruktiver Beitrag zur Stärkung der Beschuldigten- rechte und zu begrüßen. Aber, es kommt immer ein Aber, der Gesetzentwurf kann das Problem nicht lösen, dass in den Mitgliedstaa- ten sehr unterschiedliche Eingangsschwellen zur Ver- hängung von Untersuchungshaft bestehen und einige Mitgliedstaaten unterhalb der Haftschwelle freiheits- beschränkende Überwachungsmaßnahmen anordnen können, was zur Konsequenz haben kann, dass im Voll- streckungsstaat Auflagen wegen des Tatverdachts hin- sichtlich eines Delikts überwacht werden müssen, das unterhalb der Haftschwelle liegt. Bei Verstößen gegen die Auflagen ergäbe sich die weitere Konsequenz, dass der Vollstreckungsstaat den Beschuldigten im Falle des Erlasses eines Haftbefehls im Anordnungsstaat an diesen übergeben müsste. Während zum Beispiel in Deutsch- land die Haftschwelle erreicht sein muss, um den Haft- befehl unter Auflagen außer Vollzug zu setzen – Substi- tutionsmodell –, existiert zum Beispiel in England/ Wales, Italien und Polen ein Stufenmodell, wonach auch unterhalb der Anordnungsschwelle von Untersuchungs- haft freiheitsbeschränkende Maßnahmen zur Sicherung des Prozesses verhängt werden können. Sie sehen si- cherlich selbst, dass dies ein gravierendes Problem dar- stellt. Zwar sieht Artikel 21 Absatz 3 RB EuÜA vor, dass die Pflicht zur Rücküberstellung des Beschuldigten bei Bagatelltaten, die im Höchstmaß von weniger als zwölf Monaten Freiheitsstrafe bedroht sind, durch die Mitgliedstaaten abdingbar ist. Von der Abdingung hat Deutschland bislang keinen Gebrauch gemacht. Genau das wäre aber eine Voraussetzung um unsere Zustim- mung zu diesem Gesetzentwurf zur erlangen. Darüber hinaus bleibt noch das Problem, dass der Rahmenbeschluss grundsätzlich eine Pflicht des Vollstreckungsstaats zur Anerkennung von Überwa- chungsmaßnahmen vorsieht, die nur in begrenzten Fäl- len – Artikel 15 RB EuÜA – vom Vollstreckungsstaat zurückgewiesen werden können. Dies führt wiederum – wie schon beim Europäischen Haftbefehl etc. –, dazu, dass Deutschland Vollstreckungsmaßnahmen auch bei Taten, die nach deutschem Recht gar nicht strafrechtlich sanktioniert sind, durchführen muss. Wir finden dies verfassungsmäßig sehr bedenklich, wenngleich es sich bei diesem konkreten Rahmenbeschluss um eine Er- leichterung – Überwachungsmaßnahmen als milderes Mittel zur Untersuchungshaft – handelt. Aus unserer Sicht wäre es ausgesprochen sinnvoll, all diese Aspekte noch einmal in einem Berichterstatter/innengespräch zu besprechen. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Wir verhandeln hier heute Nacht gleich zwei Gesetze im Rahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen. Bei beiden geht es überwiegend um die Um- setzung verschiedener europäischer Rahmenbeschlüsse. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10861 (A) (C) (D)(B) Ziel des einen Rahmenbeschlusses ist die Vermeidung unnötiger Untersuchungshaft bei Personen mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, die einer Straftat verdächtigt werden, die in einem anderen Mitgliedstaat verfolgt wird. Etwa: Die Person X hat die deutsche Staatangehörig- keit und wohnt für drei Monate in Italien. Ihren Lebens- mittelpunkt – Familie, Freunde und ihre Arbeit – hat die Person aber weiterhin in Deutschland. Während des Aufenthalts in Italien wird X in einen Betrugsfall verwi- ckelt und ein Ermittlungsverfahren gegen sie eingeleitet. Um die Verhängung einer Untersuchungshaft zu vermei- den, wird X die Auflage erteilt, sich wöchentlich auf der örtlichen Polizeidienststelle zu melden. Inzwischen musste X aber wieder nach Deutschland zurückkehren, sie muss zurück zu ihrer Familie und auch zu ihrer Arbeitsstelle, will sie diese nicht verlieren. Durch den Gesetzentwurf können die in Italien ver- hängten Auflagen nun auch unter bestimmten Vorausset- zungen – zum Beispiel Einverständnis der betroffenen Person – in Deutschland überwacht werden. Für X ist das ein erheblicher Vorteil – sie kann sich nun einfach wöchentlich bei der Polizeidienstelle in der Nähe ihrer Heimatstadt melden. Auch wir begrüßen diese Möglichkeit, dass Auflagen und Weisungen, die ein anderer EU-Mitgliedstaat gegen eine Person zur Vermeidung der Untersuchungshaft ver- hängt hat, so auch in Deutschland überwacht werden können. Im vorliegenden Gesetzentwurf wurden im Gegensatz zur Vollstreckungsübernahme, die wir zwei Tagesord- nungspunkte weiter noch behandeln werden, Anregun- gen der Bundesrechtsanwaltskammer aufgenommen: Im Vergleich zum Vorentwurf wurde zum Beispiel gestri- chen, dass der Beschuldigte über verschiedene Zulässig- keitshindernisse, wie Straflosigkeit nach deutschem Recht oder Schuldunfähigkeit, frei disponieren konnte und durch seine Zustimmung diese Hindernisse überwun- den wurden. Dieser problematische Teil ist nun nicht mehr enthalten. Die genannten Zulässigkeitshindernisse gelten. Ein paar Grundprobleme bleiben gleichwohl beste- hen: Die EU-Mitgliedstaaten haben unterschiedliche Eingangsschwellen zur Verhängung von Untersuchungs- haft. In einigen Mitgliedstaaten können freiheitsbe- schränkende Überwachungsmaßnahmen auch schon un- terhalb der Haftschwelle angeordnet werden. Mögliche Folge ist, dass beispielsweise in Deutschland Auflagen zu einem möglicherweise begangenen Delikt überwacht werden müssen, das hierzulande unterhalb der Haft- schwelle liegt. Verstößt nun der Tatverdächtige, zum Beispiel die X aus dem oben genannten Beispiel, gegen die ihr auferlegte Meldepflicht, müsste Deutschland sie an Italien übergeben, sofern es einen Haftbefehl erlässt. Im Rahmen der internationalen Rechtshilfe ergeben sich immer wieder Probleme daraus, dass EU-Mitglied- staaten unterschiedliche Verfahrensordnungen und Min- deststandards haben. In dem eben genannten Fall ist es dennoch vertretbar, wenn Deutschland die Überwachung übernimmt – selbst wenn X im Falle eines Verstoßes gegen die Auflagen wieder nach Italien geschickt werden müsste. Denn letztlich wäre sie dann nicht schlechter gestellt, als wenn das Instrument der Überwachungsübernahme nicht exis- tieren würde. Anders ist es im Falle der Vollstreckung von Haft aus Urteilen, die die Höchststrafe nach deut- schem Recht übersteigen, oder Haft aus Urteilen zu De- likten, die nach deutschem Recht nicht strafbar sind. Hier liegt ein sehr viel intensiverer Eingriff vor als bei Überwachung von bestimmten Auflagen. An einigen Stellen sehen wir dennoch Nachbesse- rungsbedarf. Damit nicht jeder kleinere Verstoß gegen eine Über- wachungsmaßnahme dazu führt, dass der Anordnungs- staat unterrichtet wird und unter Umständen um Ausliefe- rung des Tatverdächtigen ersucht, sollte § 90 w IRG-E, der die Durchführung der Überwachung regelt, geändert werden. Statt eines einfachen Verstoßes gegen jede Überwachungsmaßnahme sollten nur schwerwiegende oder grobe Verstöße erheblich sein. Das entspricht dem § 116 Absatz 4 StPO. Ansonsten müsste X, der einen Meldetermin ver- schläft, fürchten, dass dies umgehend der zuständigen italienischen Behörde gemeldet würde. Das wäre unver- hältnismäßig und erzeugt nur unnötigen Aufwand. Warum die Zustimmung der zu überwachenden Per- son entbehrlich ist, wenn die Person bereits in den Voll- streckungsstaat zurückgekehrt ist, leuchtet auch nicht ein. Das Ermittlungsverfahren gegen X läuft – sie will aber gar nicht längerfristig nach Deutschland zurückkeh- ren, sondern ist nur für einen Wochenendbesuch nach Deutschland gekommen. Soll sie damit konkludent ihr Einverständnis zur Übernahme der Meldeauflagen erteilt haben? Das erscheint unbillig. Auch in diesen Fällen hätte die Bundesregierung weiterhin die Einholung der Zustimmung vorsehen sollen. Widersprüchlich ist, dass die Überwachung in Steuer-, Zoll- und Währungsangelegenheiten nach der einen Vor- schrift zulässig ist, wenn deutsches Recht keine solche Bestimmungen enthält. Andererseits sollen aber nur dann Überwachungsmaßnahmen zulässig sein, wenn auch nach deutschem Recht eine Strafe verhängt werden könnte. Warum diese Ausnahme in Steuer-, Zoll- und Wäh- rungsangelegenheiten gilt, lässt sich allenfalls mit dem Vorliegen einheitlicher europäischer Vorschriften für diese Bereich erklären. Die vorgelegte Regelung zur Übernahme der Überwa- chung von Auflagen und Weisungen wahrt die Interes- sen von Betroffenen überwiegend, ohne zu erheblicher Verletzung des deutschen Rechts zu führen. Deshalb stimmen wir zu. 10862 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär- kung des Rechts des Angeklagten auf Vertre- tung in der Berufungsverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe (Tagesordnungspunkt 24) Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): I. Am 15. Ja- nuar 2015 debattierten wir in erster Lesung zu diesem Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag. Im parlamenta- rischen Verfahren war es möglich, den zunächst vorge- legten Gesetzentwurf an entscheidenden Stellen noch zu verändern und zu verbessern. Der heute zu verabschie- dende Gesetzestext ist nun ausgewogen und gelungen. In dem Gesetz geht es um Folgendes: Nach § 329 Absatz 1 Satz 1 der Strafprozessordnung, StPO, ist eine Berufung des Angeklagten ohne Verhand- lung zur Sache zu verwerfen, wenn der Angeklagte zu Beginn der Berufungshauptverhandlung ohne genü- gende Entschuldigung nicht erscheint. Bislang galt das auch dann, wenn für ihn ein Verteidiger mit schriftlicher Vollmacht erschienen war, jedoch keiner der wenigen Ausnahmefälle vorlag, in denen die Strafprozessordnung eine Vertretung des Angeklagten im Hauptverhandlungs- termin zulässt. Mit Urteil vom 8. November 2012 hat der Europäi- sche Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass die Verwerfung einer Berufung nach § 329 Absatz 1 Satz 1 StPO im Fall des Erscheinens eines Verteidigers des Angeklagten eine Verletzung des durch Artikel 6 Absatz 1 EMRK garantierten Rechts auf ein faires Ver- fahren in Verbindung mit dem durch Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c EMRK garantierten Recht des Angeklagten, sich durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen, darstelle. Am 26. Februar 2009 hat der Rat der Europäischen Union ferner den Rahmenbeschluss zur Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und zur Förderung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Aner- kennung auf Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht erschienen ist, verabschiedet. Dieser Rahmen- beschluss hat zum Ziel, die Regelungen der gegenseiti- gen Anerkennung beziehungsweise der Vollstreckung von Abwesenheitsentscheidungen, die bereits in den Instrumenten zur gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen vorhanden sind, zu ergänzen und zu vereinheitlichen und damit die Rechte der betroffenen Person zu stärken. § 329 StPO und § 340 StPO wurden daher im Hin- blick auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dahin gehend geändert, dass eine Ver- werfung der Berufung des Angeklagten nicht mehr erfol- gen darf, wenn statt des Angeklagten ein entsprechend bevollmächtigter und vertretungsbereiter Verteidiger in einem Termin zur Berufungshauptverhandlung erschie- nen ist. Anstelle der nicht mehr zulässigen Verwerfung soll in Anwesenheit des Verteidigers ohne den Ange- klagten verhandelt werden, soweit nicht besondere Gründe dessen Anwesenheit erforderlich machen. Besonders wichtig war bei der Neuregelung, dass sich diese an den Grundsätzen des deutschen Strafprozess- rechts messen lassen kann. Dies gilt insbesondere bei der jetzt vorliegenden Regelung, nach der beim Ausbleiben des Angeklagten eine Berufungsverhandlung grundsätz- lich möglich wird, wenn er sich durch einen Verteidiger mit schriftlicher Vertretungsvollmacht vertreten lässt. II. Im Folgenden werde ich mich darauf beschränken, die Änderungen seit dem vorgelegten Gesetzentwurf darzustellen. Diese betreffen den § 329 Absatz 2, 3 und 4 und den § 340 StPO. 1. Mit den neu gefassten Vorschriften über das Ver- fahren bei unentschuldigter Abwesenheit des Angeklag- ten soll klargestellt werden, dass die Durchführung der Hauptverhandlung ohne den Angeklagten in diesen Fäl- len nicht der gesetzliche Regelfall ist. Vielmehr ist eine Anwesenheit des Angeklagten auch künftig für eine Sachentscheidung des Berufungsgerichts immer dann erforderlich, wenn eine solche Entscheidung allein auf- grund der vom anwesenden Verteidiger für den Ange- klagten abgegebenen Erklärungen nicht möglich ist. In den zulässigen Grenzen soll zudem die Möglichkeit ei- ner Verwerfung der Berufung des Angeklagten in den Fällen geschaffen werden, in denen seine Anwesenheit trotz der Vertretung durch einen Verteidiger für eine Sachentscheidung erforderlich ist und er einer Ladung zu einem Fortsetzungstermin unentschuldigt keine Folge leistet. 2. In § 329 Absatz 2 StPO-E soll der Begriff der „be- sonderen Gründe“, der auf eine Ausnahmeregelung hin- deuten könnte, durch eine neutrale Formulierung ersetzt werden. Das Gericht hat danach stets zu prüfen, ob die Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung erforderlich ist. Hierfür muss es sämtliche Gesichts- punkte, insbesondere auch die vom Verteidiger für den Angeklagten abgegebenen Erklärungen, berücksichti- gen. Es kann dabei auf die zu § 236 StPO entwickelten Grundsätze zurückgreifen, die in den bereits nach gel- tendem Recht zulässigen Fällen von Abwesenheits- verhandlungen das Erzwingen des persönlichen Erschei- nens des Angeklagten ermöglichen und zugleich begrenzen. Die vorgeschlagenen Änderungen in § 329 Absatz 3 und 4 StPO-E sollen einerseits klarstellen, dass das Berufungsgericht die Notwendigkeit des persönli- chen Erscheinens des Angeklagten während des gesam- ten Verlaufs der Berufungshauptverhandlung prüfen und feststellen kann. Dies ermöglicht es insbesondere, die Ausführungen des Verteidigers in diese Prüfung einzu- beziehen. Kann die Hauptverhandlung danach nicht ohne Anwesenheit des Angeklagten durch eine eigene Sachentscheidung des Gerichts abgeschlossen werden, soll es für die Fälle, in denen die Staatsanwaltschaft Be- rufung eingelegt hat oder in denen das Verfahren nach einer Zurückverweisung erneut zu verhandeln ist, nach Absatz 3 dabei bleiben, dass der Angeklagte vorgeführt oder verhaftet werden kann, soweit dies verhältnismäßig Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10863 (A) (C) (D)(B) ist, also insbesondere nicht zu erwarten ist, dass der Angeklagte in einem neuen Termin allein aufgrund nochmaliger Ladung freiwillig erscheinen wird. Ist dagegen über eine vom Angeklagten eingelegte Berufung zu entscheiden, wird vorgeschlagen, in Absatz 4 anstelle der Vorführung oder Verhaftung eine Unterbre- chung der Hauptverhandlung vorzusehen und den Ange- klagten zum Fortsetzungstermin unter ausdrücklicher Anordnung seines persönlichen Erscheinens zu laden. Hierdurch soll es dem Gericht ermöglicht werden, die Berufung im Fortsetzungstermin, zu dem der ordnungs- gemäß geladene Angeklagte erneut nicht erschienen ist, zu verwerfen, ohne dass dabei das Recht des erschiene- nen Verteidigers auf Vertretung des Angeklagten in der Hauptverhandlung verletzt wird. Der Verteidiger hatte nämlich in dem Hauptverhandlungstermin die Gelegen- heit, für den Angeklagten umfassend vorzutragen. Diese Möglichkeit ist ihm, wenn er in dem Fortsetzungstermin erscheint, nochmals einzuräumen. Die Möglichkeiten ei- ner Vertretung enden aber dort, wo die persönliche An- wesenheit des Angeklagten für eine Sachentscheidung erforderlich ist. Das kann beispielsweise der Fall sein, wenn das Gericht zum Beispiel einen Abgleich der Per- son des Angeklagten mit einem Lichtbild vornehmen oder ihn mit einem Zeugen konfrontieren muss, um die Identität des Angeklagten zu klären. Die Anwesenheit des Angeklagten kann ferner erforderlich sein, wenn der Vortrag des Verteidigers für das Gericht erkennbar lü- ckenhaft ist oder Widersprüche aufweist. Schließlich kann auch der persönliche Eindruck vom Angeklagten für die Urteilsfindung des Gerichts wesentlich sein. Die vorgeschlagene Regelung trägt dem Rechnung. Außerdem können freiheitsbeschränkende Zwangsmaß- nahmen gegen den Angeklagten vermieden werden, sodass die vorgeschlagene Lösung dem Verhältnis- mäßigkeitsgrundsatz in besonderer Weise gerecht wird. Schließlich gewährleistet die Regelung, wonach eine Verwerfung nur bei einer Unterbrechung, nicht auch bei einer Aussetzung und Neuterminierung möglich ist, nicht nur die Einhaltung des Rechts auf effektive Vertei- digung in dem jeweiligen Termin, sondern trägt zugleich zu einer Verfahrensbeschleunigung bei. 3. Die vorgeschlagene Änderung des § 340 StPO, Vorschrift über die Einschränkung der Revisionsgründe bei einer Abwesenheitsentscheidung, übernimmt zu- nächst die geänderte Terminologie des § 329 Absatz 2 StPO-E. Sie umschreibt sodann genauer als die im Regierungsentwurf vorgesehene Regelung, dass die Beschränkung der Verfahrensrüge nur in den Fällen zur Anwendung gelangt, in denen nach § 329 Absatz 2 StPO-E verfahren wurde. III. Nachdem an dem zunächst vorgelegten Gesetz- entwurf an wichtigen Stellen Änderungen vorgenommen wurden, ist es nun gelungen, einen ausgewogenen Ge- setzentwurf vorzulegen. Somit darf ich um Zustimmung für den Gesetzentwurf werben. Ich darf aber an dieser Stelle auch noch einmal Dank an alle sagen, die mit den parlamentarischen Beratungen betraut waren. Der nun vorliegende Gesetzentwurf war in seiner Ausgewogenheit nur realisierbar, weil die Zu- sammenarbeit effizient und ergebnisorientiert ablaufen konnte. Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Heute debattieren und beschließen wir die Umsetzung eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Es geht um die Frage, ob sich der Angeklagte in der Berufungs- verhandlung durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen kann. Für einen Strafprozess in Deutschland gilt der Grund- satz, dass kein Urteil gefällt wird, wenn der Angeklagte in der Verhandlung nicht anwesend war. Dieses Prinzip hat sich als richtig erwiesen: Für den Angeklagten geht es um die Sicherstellung des Grundrechts auf rechtliches Gehör. Dem Gericht wird die Chance eingeräumt, die Wahrheit zu finden. Dazu soll sich das Gericht auch ei- nen persönlichen Eindruck vom Angeklagten verschaf- fen können. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Men- schenrechte besagt, dass der Grundsatz des Rechts auf ein faires Verfahren verletzt sei, wenn ein verteidigungs- bereiter Verteidiger, der bevollmächtigt worden ist, in der Berufungsverhandlung nicht verhandeln kann, son- dern das Verfahren durch Urteil abgewiesen wird. Das Urteil kann nicht durch eine geänderte Recht- sprechung der Gerichte umgesetzt werden, da es dem vorgenannten Prinzip in einer Mehrzahl von niederge- schriebenen Regelungen in unserer Strafprozessordnung widerspricht. Es ist Aufgabe des parlamentarischen Gesetzgebers, eine Änderung des Gesetzestextes vorzu- nehmen und damit eine Regelung zu treffen, die die Vor- gaben des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umsetzt. In dem vorliegenden Gesetzentwurf und insbesondere im Änderungsantrag der Regierungsfraktionen gelingt der Spagat zwischen der Umsetzung des Urteils, ohne das Prinzip der Anwesenheit des Angeklagten in der Be- rufungsverhandlung im deutschen Recht aufzugeben. Nunmehr ist die Abwesenheit des Angeklagten in der Berufungsverhandlung möglich. Für eine gerechte Sach- entscheidung bleibt es aber den Gerichten offen, die Notwendigkeit des persönlichen Erscheinens des Ange- klagten festzustellen. Den Gerichten wird ein umfassen- des Prüfungsrecht eingeräumt, das die Feststellung der Notwendigkeit des persönlichen Erscheinens im Verlauf des ganzen Verfahrens möglich macht. Dies bedeutet, dass auch nach Beginn eines Verfahrens das Erscheinen des Angeklagten noch festgestellt werden kann. Das persönliche Erscheinen des Angeklagten wird vor allem dort notwendig sein, wo die Ausführungen des Verteidigers für die Wahrheitsfindung nicht genügen. In diesem Zusammenhang sollten wir uns nochmals vor Augen führen, dass ein Rechtsanwalt niemals einen Angeklagten ersetzen kann. Der Verteidiger spricht für den Angeklagten und nimmt seine Interessen in der Ge- richtsverhandlung wahr. Er ist aber zugleich Organ der Rechtspflege. Der Grundsatz der Selbstbelastungsfrei- heit, der auch das Recht zur Lüge umfasst, gilt in unein- 10864 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) geschränktem Maß nur für den Betroffenen eines Straf- verfahrens. Diesen Grundsatz gilt es zu wahren. Ich hoffe, dass die Gerichte von diesem Prüfungsrecht zur Notwendigkeit der Anwesenheit des Angeklagten in der Berufungsverhandlung umfassend Gebrauch ma- chen. Ich bin weiterhin überzeugt, dass eine gerechte Wahrheitsfindung, abgesehen von Ausnahmefällen, nur mit einem anwesenden Angeklagten möglich ist. Das in der Strafprozessordnung verankerte Prinzip der Anwe- senheit des Angeklagten hat sich bewährt und bean- sprucht weiterhin Geltung. Dirk Wiese (SPD): Wie bereits in der ersten Lesung von mir dargestellt, sind die Kernstücke des vorliegen- den Gesetzentwurfes die Umsetzung des Neziraj-Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die Neuregelung des § 329 StPO sowie die Umsetzung des EU-Rahmenbeschlusses „Abwesenheitsentscheidun- gen“ des Rates aus dem Jahre 2009. Entsprechend der Urteilsvorgabe des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte soll künftig ein Nicht- erscheinen des Angeklagten nicht mehr zwingend zur Verwerfung der Berufung führen, sofern ein nachweis- lich zur Vertretung bevollmächtigter Verteidiger an sei- ner statt erscheint und eine Anwesenheit des Angeklag- ten nicht aus besonderen Gründen erforderlich ist. Ich habe bereits in der letzten Lesung angekündigt, dass wir die Kritik an dem Gesetzentwurf in seiner ur- sprünglichen Fassung ernst nehmen. Deswegen hat sich nunmehr für diesen Gesetzentwurf das Struck’sche Ge- setz bewahrheitet, denn auch dieses Gesetz wird den Bundestag nicht so verlassen, wie es hineingekommen ist. Wir haben uns in den Ausschussberatungen insbeson- dere der Vorschriften zur Vertretung in der Berufungs- hauptverhandlung angenommen, und das Ergebnis ist der Änderungsantrag, den wir heute hier vorlegen. Da- nach soll das grundsätzliche Regelungskonzept zwar beibehalten werden. Künftig werden die Berufungsge- richte also in allen Fällen, in denen die Anwesenheit des Angeklagten für die Entscheidung nicht erforderlich ist, die Berufungshauptverhandlung mit dem als Vertreter erschienenen Verteidiger durchführen können. Ist die Anwesenheit des Angeklagten jedoch erforder- lich, so kann die Sicherstellung seiner Anwesenheit in einem Folgetermin, seine Vorführung oder Verhaftung, angeordnet werden. § 329 Absatz 2 StPO-E haben wir gegenüber dem ursprünglichen Entwurf aber dergestalt angepasst, dass klar wird, dass der Gesetzgeber keine dieser beiden Optionen als gesetzlichen Regelfall aus- gestalten will. Lassen Sie mich hier auch noch einmal ausdrücklich klarstellen, dass hier kein Recht auf Abwesenheit des Angeklagten in der Berufungshaupt- verhandlung begründet werden soll. Ferner haben wir die Möglichkeit geschaffen, in engen Grenzen auch weiterhin eine Verwerfung der Be- rufung zu ermöglichen, indem wir in § 329 Absatz 4 StPO-E die Möglichkeit geschaffen haben, die Haupt- verhandlung zu unterbrechen und die Berufung im Fort- setzungstermin zu verwerfen, wenn der Angeklagte dort erneut unentschuldigt nicht erscheint. Das ist ein guter Kompromiss, mit dem wir den zwingend erforderlichen Vorgaben des EGMR-Urteils „Neziraj“ gerecht werden. Ich darf an dieser Stelle noch mal ausdrücklich darauf hinweisen, dass die bisherige Verwerfungslösung nach diesem Urteil nicht beibehalten werden darf – und wir gleichzeitig auch den Kritikern am ursprünglichen Ge- setzentwurf entgegenkommen. Mit der Neureglung bieten wir den Berufungsgerich- ten künftig drei praktikable Handlungsoptionen: Erstens das „Durchverhandeln“ mit dem erschienenen Verteidiger, zweitens die Vorführung oder Verhaftung des unentschuldigt nicht erschienenen, aber für eine Sachentscheidung zwingend benötigten Angeklagten und drittens die Unterbrechung der Hauptverhandlung und Verwerfung bei neuerlichem unentschuldigtem Aus- bleiben. Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Bereits am 15. Ja- nuar 2015 haben wir im Plenum über dieses Thema ge- sprochen. Der Gesetzentwurf soll das Recht des oder der Angeklagten auf Vertretung in Berufungsverhandlungen stärken. Gleichzeitig soll der Rahmenbeschluss über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe umgesetzt werden. Der Europäische Ge- richtshof für Menschenrechte hat mit Urteil vom 8. No- vember 2012 entschieden, dass das in Artikel 6 Absatz 3 der EU-Menschenrechtskonvention garantierte Recht des Angeklagten, sich in einer Strafsache durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen, dann ver- letzt ist, wenn das Gericht die Berufung des abwesenden Angeklagten trotz Erscheinens eines von ihm bevoll- mächtigten Verteidigers als Vertreter verwirft. Vor die- sem Hintergrund ist der § 329 StPO unstreitig zu ändern. Ich hatte bereits in der ersten Lesung ausgeführt, dass das, was sie vorschlagen, nicht komplett falsch ist. Ge- rade wenn ich mir das Protokoll der damaligen Debatte noch einmal ansehe, muss ich aber feststellen, dass nicht alle aufgeworfenen Fragen geklärt werden konnten. Ich hatte bereits in der ersten Lesung die Änderung des § 329 Absatz 1 Satz 2 StPO angesprochen. In ihm ist vorgesehen, dass unter bestimmten Bedingungen die Berufung des Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache dennoch verworfen werden kann. Dies ist der Fall, wenn der vertretungsberechtigte Verteidiger aus irgendeinem Grund den Saal verlässt, wenn der Angeklagte selber im Prozess anwesend war und während der Verhandlung geht und wenn er sich drittens extra verhandlungsunfä- hig macht und deshalb nicht erscheinen kann. Der Kol- lege Ströbele hatte in der ersten Lesung vorgeschlagen, diese Ausnahmen wieder zu streichen. Dem stimme ich zu, denn es würde dem EGMR-Urteil besser gerecht werden. Nun kann ich Ihre Begründung, es solle verhindert werden, dass ein Verfahren verzögert und eine weitere Verhandlung vereitelt wird, aber durchaus nachvollzie- hen. Deshalb hatte ich vorgeschlagen, dass in diesen Fäl- len zunächst eine Zweitansetzung vorgeschrieben wird. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10865 (A) (C) (D)(B) Wenn eine Zweitansetzung gesetzlich festgeschrieben wird und auch zu dieser niemand erscheint, dann wäre es aus meiner Sicht nachvollziehbar, ohne Verhandlung zur Sache zu entscheiden. Dann wären die Einschränkungen, die Sie vornehmen, auch nicht so gravierend. Denn dann kann tatsächlich davon ausgegangen werden, dass der Angeklagte oder der Rechtsanwalt, der den Angeklagten vertritt, kein Interesse mehr am Verfahren hat. In meinen Augen hätte das die Option eröffnet, die Ausnahmen nicht zu streichen und trotzdem dem von Ihnen formu- lierten Interesse an einer Verhinderung einer Verfahrens- verzögerung gerecht zu werden. Die Zweitansetzung wäre also ein sinnvoller Kompromiss geworden. Leider haben Sie weder den Vorschlag des Kollegen Ströbele noch meinen Vorschlag in Ihrem Änderungsantrag auf- gegriffen. Die nach § 329 Absatz 4 StPO mögliche Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten, der nicht entschuldigt fehlt und auch nicht durch einen Verteidiger vertreten wird, finde ich aber höchst problematisch. Denn die vor- geschlagene Regelung vernachlässigt, dass die Anwe- senheit des Angeklagten während der Verhandlung eine sehr wichtige Voraussetzung für ein faires Verfahren ist. So wird der verfassungsrechtliche Anspruch auf rechtli- ches Gehör verwirklicht und abgesichert, dass der Ange- klagte nicht zum bloßen Objekt staatlichen Handelns wird. Zugleich dient dies auch der Wahrheitsfindung, weil sich der Richter einen Eindruck von dem Angeklag- ten und seiner etwaigen Einlassung machen kann und weil der persönliche Eindruck für die Rechtsfolgenbe- stimmung maßgeblich ist. Das gilt vor allem bei Jugend- lichen und Heranwachsenden, da für die verschiedenen Sanktionsformen ihre Anwesenheit besondere Bedeu- tung hat – zum Beispiel Verwarnung –, aber auch weil das Verfahren selbst erzieherisch auf sie einwirken soll. Die Ausnahmen vom Anwesenheitsgrundsatz in derzei- tiger Form sind schon nicht unproblematisch, erst recht stellt deshalb die Ausweitung ein Problem dar. Das Problem hat der Änderungsantrag der Koalition abgeschwächt, in dem er nun ausdrücklich vorsieht, dass das Gericht auf die Anwesenheit durch Vorführung be- stehen kann. Gelöst ist das Problem aber nicht, denn es verbleibt im Ermessen des Gerichts; zudem wäre eine Neuterminierung schonender als eine Verhaftung zwecks Vorführung des Angeklagten. Der Kollege Sensburg hat in der damaligen Debatte auf ein weiteres Problem verwiesen, welches durch die Vertretung des Angeklagten durch einen Verteidiger auf- tritt, jedenfalls dann, wenn der Verteidiger in der Sache Einlassungen für den Angeklagten macht. Wie ist das mit seiner Stellung als unabhängiges Organ der Rechts- pflege zu vereinbaren? Auch die Bundesrechtsanwalts- kammer hat in ihrer Stellungnahme ähnliche Fragen auf- geworfen. Hier gab es zumindest teilweise Abhilfe, denn bei Einlassungen zur Sache kann das Gericht wegen Er- forderlichkeit der Anwesenheit des Angeklagten gemäß dem Änderungsantrag der Koalition nun das Erscheinen des Angeklagten für den Fortsetzungstermin anordnen und, wenn er dann nicht erscheint, verwerfen. Das ist zwar eine Abschwächung des vom EGMR aufgestellten Vertretungsgrundsatzes. Sie ist aber wegen der Bedeut- samkeit des Anwesenheitsgrundsatzes und des häufig notwendigen persönlichen Eindrucks des Gerichts vom Angeklagten nachvollziehbar. Ich hätte mir auch noch gewünscht, dass die vom Kol- legen Ullrich aufgeworfene Frage, wie konkret die Be- vollmächtigung des Verteidigers für den Fall, dass er für den Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung auftreten soll, aussehen soll, noch genauer geklärt wor- den wäre. Doch mit dem Gesetzentwurf geht es nicht nur um § 329 StPO. Der EU-Rahmenbeschluss zu Abwesen- heitsentscheidungen aus dem Jahr 2009 wird durch Än- derungen in den §§ 83, 87 b und 88 a des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen umgesetzt. Es werden abschließend die Fälle geregelt, in denen aus- nahmsweise eine Verpflichtung zur Anerkennung und Vollstreckung einer Abwesenheitsentscheidung besteht. Auch diese Regelung ist nicht ganz unkompliziert, da sie eine gegenseitige Anerkennung und Auslieferung er- möglicht, obwohl in vielen Mitgliedstaaten keine so strengen Regeln für die Anwesenheit des Angeklagten gelten. Die Linke begrüßt ausdrücklich die leichte Anhebung bei Teilen der Rechtsanwaltsvergütung. Angesichts der Balance von Vor- und Nachteilen der Regelung wird sich die Fraktion Die Linke enthalten. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, der das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschen- rechte vom 8. November 2012 Neziraj versus Deutsch- land umsetzt, haben wir uns schon intensiv befasst: An- fang des Jahres haben wir in einer ersten Lesung die verschiedenen positiven Veränderungen wie auch kriti- schen Punkte diskutiert. Im Februar kamen wir zu einem sogenannten Berichterstattergespräch zusammen, in dem uns verschiedene Sachverständige aus Wissenschaft und Praxis ihre fachliche Einschätzung zum Gesetzentwurf gaben. Überwiegend besteht wohl Einigkeit, dass die Ziel- richtung des Gesetzes eine Gute ist: Die Berufung des Angeklagten darf nicht mehr automatisch verworfen werden, wenn anstelle des Angeklagten ein entspre- chend bevollmächtigter und vertretungsbereiter Verteidi- ger in einem Termin zur Berufungshauptverhandlung er- scheint. Dann kann in Abwesenheit des Angeklagten verhandelt werden – soweit „die Anwesenheit des Ange- klagten nicht erforderlich ist“. Das finde ich begrüßens- wert. Bislang galt, dass die Berufung des Angeklagten ohne Verhandlung zu verwerfen ist, wenn er zu Beginn der Hauptverhandlung ohne genügende Entschuldigung nicht erscheint. Und das sogar dann, wenn ein schriftlich bevollmächtigter Verteidiger anwesend war. Eine Vertretung durch einen bevollmächtigten Vertei- diger war nur in einigen Ausnahmefällen möglich – die Regel war also die sofortige Verwerfung der Berufung. 10866 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) In seiner Entscheidung hatte der Europäische Ge- richtshof zwar betont, dass die Anwesenheit des Ange- klagten durchaus eine große Bedeutung für den Strafpro- zess habe – er nennt dabei unter anderem die Stichworte „Gewährung rechtlichen Gehörs“, „Abgleich der Aussa- gen vom Angeklagten und Zeugen“. Demgegenüber sei ebenso von grundlegender Bedeutung das Recht des An- geklagten, „sich selbst zu verteidigen“ oder sich „durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen“. Dieses Recht soll ein Angeklagter nicht schon deshalb verlieren, weil er nicht zur Verhandlung erscheint. Die legitime Forderung nach der Anwesenheit des Angeklagten in der Verhandlung könne durch andere, weniger einschneidende Mittel als mit der Verwerfung des Rechtsmittels durchgesetzt werden. Wenn ich mir diese Argumente im Urteil des Ge- richtshofs anschaue, dann bleiben meine Bedenken in Bezug auf den § 329 Absatz 1 Satz 2 Nummer 1 bis 3 des vorliegenden Gesetzentwurfs. Diese habe ich auch schon zur ersten Lesung geäußert und möchte sie hier nochmals wiederholen: Warum soll in den dort aufgeführten Fällen gleich eine Verwerfung des Berufungsverfahrens möglich sein? Wäre nicht eher ein milderes Mittel, zum Beispiel Ab- setzen des Termins, angemessen? Im Falle des § 329 Absatz 1 Nummer 1 StPO-E soll eine Verwerfung der Berufung unter anderem schon möglich sein, wenn „sich der Verteidiger ohne genü- gende Entschuldigung entfernt hat ... oder der Verteidi- ger den ohne genügende Entschuldigung nicht anwesen- den Angeklagten nicht weiter vertritt“. Angenommen, der Angeklagte ist – aus welchen Gründen auch immer – nicht zur Verhandlung erschie- nen und sein Anwalt sagt zu Beginn der Verhandlung: „Mir reicht’s – ich lege das Mandat nieder“ und geht. Nach dem Gesetzentwurf müsste sich der Angeklagte das Verhalten seines Verteidigers zurechnen lassen. Das mag im Zivilprozess zwar so gelten, nicht aber im Straf- prozess. In der Begründung führen Sie aus, dass die Verwer- fung in einem solchen Fall allein durch den Umstand ge- rechtfertigt sein soll, dass der Angeklagte seiner trotz Vertretungsmöglichkeit grundsätzlich fortbestehenden Pflicht zum Erscheinen ohne genügende Entschuldigung nicht nachgekommen ist. Es ist bedauerlich, dass in dem genannten Beispielfall nicht ein weniger einschneidendes Mittel gewählt wurde bzw. der Angeklagte nicht die Chance auf einen zweiten Termin für die Verhandlung bekommen soll und sich in der Zwischenzeit um einen Ersatzverteidiger bemühen kann. Nummer 2 des § 329 Absatz 1 StPO-E sieht ebenfalls eine Verwerfung unter anderem vor, wenn der Ange- klagte sich ohne genügende Entschuldigung entfernt hat. Wenn ich das richtig sehe, ist das eine nachteilige Verän- derung gegenüber der geltenden Rechtslage. „Entfernt sich der zunächst erschienene Angeklagte nachträglich eigenmächtig, so stellt dies“ – und jetzt zitiere ich wie- der aus der Begründung zum Gesetzentwurf – „künftig bei einer von ihm eingelegten Berufung auch keinen An- wendungsfall von § 231 Absatz 2 StPO mehr dar, nach dem eine Verurteilung in der Sache selbst in Abwesen- heit des Angeklagten ergehen darf, wenn dieser ,über die Anklage schon vernommen war und das Gericht seine fernere Anwesenheit nicht für erforderlich erachtet‘ oder andernfalls ein Fortsetzungstermin anberaumt werden muss, bei dem die Teilnahme eines unter Umständen nicht mehr rechtsmittelinteressierten Angeklagten mit Zwangsmitteln herbeigeführt werden müsste. Hier ist künftig zu verwerfen“. Eine solche Schlechterstellung lehnen wir ab. Außerdem erscheint es doch sehr merkwürdig, in einem Gesetzentwurf, der auf Grundlage des EGMR- Urteils die Angeklagtenrechte stärken will und dies in ei- nigen Fällen auch tut, sie gleichzeitig durch die Hintertür zu schwächen. Auch bezüglich § 329 Absatz 1 Nummer 3 des Geset- zesvorschlags ergeben sich einige Schwierigkeiten. Danach ist die Berufung zu verwerfen, wenn sich „der Angeklagte vorsätzlich und schuldhaft in einen seine Verhandlungsfähigkeit ausschließenden Zustand versetzt hat und kein Verteidiger mit schriftlicher Vertretungs- vollmacht anwesend ist“. Dies ist eine dem § 231 a Ab- satz 1 Satz 1 StPO geltende Fassung nachgebildete Fall- konstellation. Anders jedoch als bei § 231 a StPO soll es hier nach dem Entwurf allerdings unerheblich sein, ob der Angeklagte wusste, dass er dadurch gegebenenfalls die ordnungsgemäße Fortsetzung der Verhandlung ver- hindert. Sie begründen dies damit, dass er bereits zu ei- nem früheren Zeitpunkt, in dem er noch verhandlungsfä- hig war, über die entsprechenden rechtlichen Folgen des § 329 StPO-E in der Rechtsmittelbelehrung nach § 35 a Satz 2 StPO hingewiesen worden sein muss. Warum dies ein Grund für eine Abweichung im Verhältnis zu § 231 a StPO sein soll, erschließt sich nicht. Eine weitere Abweichung zu § 231 a StPO ist, dass die Verhandlung dann nicht trotzdem in Abwesenheit des Angeklagten fortgesetzt oder durchgeführt, sondern verworfen wird. Sicherlich ist es eine berechtigte Frage, wie der Rechtsstaat damit umgehen soll, wenn sich je- mand zielgerichtet in einen verhandlungsunfähigen Zu- stand versetzt. Ob dies dann gleich die Verwerfung der Berufungsverhandlung zur Folge haben sollte, ist zwei- felhaft. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfrak- tionen, Sie haben kürzlich einige Änderungen an diesem Gesetz vorgeschlagen, die überwiegend gut waren. Des- halb haben wir ihnen im Rechtsausschuss zugestimmt. Warum Sie allerdings die genannten Schwierigkeiten, die sich aus dem § 329 Absatz 1, Nummer 1 bis 3 StPO-E er- geben, damit nicht gleich mit ausgeräumt haben, ver- stehe ich nicht. Bereits zur ersten Lesung hatte auch ich diese Problempunkte genannt. Es wäre durchaus möglich gewesen, in diesen Fall- konstellationen mildere Mittel als die Verwerfung vorzu- sehen. Insbesondere die oben angesprochene Schlechter- stellung im Vergleich zur geltenden Rechtslage hätten Sie rückgängig machen müssen und können. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10867 (A) (C) (D)(B) Bei allem guten Willen und trotz der tatsächlich zu er- wartenden Verbesserungen der Angeklagtenrechte in der Berufungsverhandlung können wir daher leider nur mit „Enthaltung“ zu diesem Gesetz stimmen. Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes- serung der internationalen Rechtshilfe bei der Vollstreckung von freiheitsentziehenden Sank- tionen und bei der Überwachung von Bewäh- rungsmaßnahmen (Tagesordnungspunkt 25) Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Mit dem Gesetz zur Verbesserung der internationalen Rechtshilfe bei der Vollstreckung freiheitsentziehender Sanktionen und bei der Überwachung von Bewährungsmaßnahmen setzen wir nicht nur Rahmenbeschlüsse des Rates der Europäi- schen Gemeinschaft um. Vielmehr verbessern wir ausgewogen und sachorientiert die Rahmenbedingungen zum Beispiel bei Haftangelegen- heiten mit einer „grenzüberschreitenden Dimension“. So soll es zukünftig die Möglichkeit der Überstellung in das Heimatland zum Zwecke des Haftantritts geben. Ein Bundesbürger, der zum Beispiel in Irland zu einer Frei- heitsstrafe verurteilt wurde, kann nun die Überstellung nach Deutschland beantragen, um hier seine Strafe anzu- treten. Die damit verfolgten Ziele liegen, so denke ich, auf der Hand: So soll zum einen zum Beispiel die Besuchs- situation verbessert werden. Zum anderen soll sich aber auch die Möglichkeit eröffnen, sich unwürdigen Haftbe- dingungen zu entziehen. So erfüllen wir als Gesetzgeber letztlich auch unsere Fürsorgepflicht, die wir gegenüber Menschen haben, die in Deutschland ihren Lebensmit- telpunkt haben. Wir wollen ein Entgegenkommen for- mulieren bei extrem schlechten Haftbedingungen und bei gerade längeren Freiheitsstrafen. Diese Idee, die ich richtig und wichtig finde, muss je- doch auch ihre Grenzen haben: So soll die Regelung nur ein einmaliges Wahlrecht beinhalten – und das Wahlrecht ist dann ausgeschlossen, wenn in diesem Land bereits schon einmal eine Verurtei- lung vorgelegen hat. Denn trotz aller Richtigkeit kann das Gesetz nicht die Möglichkeit eines „Prison-Shop- ping“ eröffnen, wie es Kollege Dr. Sensburg so trefflich formulierte. Deshalb sehe ich auch für die hier formulierten Wün- sche der Grünen keinen Raum, insbesondere für die Fälle von Verurteilungen im Ausland bei Taten, die bei uns nicht strafbar sind bzw. deren Strafmaß bei uns weit- aus niedriger ist als in dem Land, wo die Verurteilung er- folgte. Man muss sich auch vor Augen führen, dass es juris- tisch-dogmatisch bei diesem Gesetz um die Ebene der Vollstreckung geht und nicht um die materiell strafrecht- liche Seite oder die Ebene der Strafzumessung. Es wäre auch naiv zu glauben, dass wir den anderen Staaten un- sere Regelungen zum materiellen Strafrecht oder zur Strafzumessung „überstülpen“ könnten. Ich war dem Ministerium sehr dankbar, dass es die schwierige Situation im Einzelfall anhand eines aktuel- len Beispiels nochmals dargelegt hat: Da sitzt ein Mann seit 28 Jahren in den USA in Haft. Bei uns wäre schon lange die Frage des Halbstrafenerlasses zu stellen. Die amerikanischen Behörden verweigern aber ausdrücklich eine Überstellung unter diesen Bedingungen. Diese Haltung ist auch unter Beachtung der nationalen, souve- ränen Rechtssetzungsbefugnis einer jeden Nation zu respektieren. Ein jeder Rechtstaat hat die freie Berechti- gung, in seinem Hoheitsgebiet zu definieren, was er strafwürdig einstuft und was nicht. Und ein jeder Recht- staat hat die eigene Kompetenz, die Rechtsfolgenseite unter den Aspekten der Prävention, der Schuld und der Sühne eigenständig zu formulieren. Und nun haben wir die Wahl: Akzeptieren wir die Be- dingungen der amerikanischen Justizbehörden und errei- chen so zumindest die Besserstellung durch die deutschen Haftbedingungen und die optimierte Besuchssituation oder sperren wir uns mit der Folge, dass einzig Leidtra- gender der Gefängnisinsasse ist. An diesem Beispiel zeigt sich sehr deutlich, dass man immer viel fordern kann. Man muss sich aber auch Ge- danken machen, ob die Forderung gemessen an der Pra- xis auch realistisch ist. Deshalb kann ich das angekündigte Abstimmungsver- halten der Grünen in diesem Punkt nicht nachvollziehen. Wir wollen hier eine Begünstigung für den Verurteilten und keine Regelung, die ihn faktisch benachteiligt. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt der Gesetzentwurf auch bei der Überwachung von Bewährungsmaßnah- men. Beim Haftvollzug darf auch die Frage der Resozia- lisierung nicht ausgeblendet werden. Gerade Bewäh- rungsmaßnahmen sind ein beliebtes Instrument, einem Straftäter den Weg zurück in die Mitte der Gesellschaft zu ermöglichen. Deshalb muss die Möglichkeit eröffnet werden, Bewährungsmaßnahmen auch im Heimatland zu absolvieren. Auch dies gelingt dem vorliegenden Entwurf, wes- halb ich um Zustimmung bitte. Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): I. Mit dem Ge- setz zur Verbesserung der internationalen Rechtshilfe bei der Vollstreckung von freiheitsentziehenden Sanktionen und bei der Überwachung von Bewährungsmaßnahmen sollen drei Rahmenbeschlüsse der EU umgesetzt wer- den. Hierzu sind wir als Mitgliedstaat verpflichtet, und wir machen dies auch gerne. Die Rahmenbeschlüsse sollen durch Änderungen des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsa- chen, dem IRG, umgesetzt werden. Zudem sollen aus diesem Anlass weitere Änderungen im Recht der Voll- streckungshilfe vorgenommen werden. Insbesondere soll die Grundlage dafür geschaffen werden, dass die Bun- 10868 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) desrepublik Deutschland die Vollstreckung bestimmter weiterer freiheitsentziehender Sanktionen übernehmen kann. Dabei handelt es sich zum einen um freiheitsentzie- hende Sanktionen, deren Höhe das nach deutschem Recht angedrohte Höchstmaß übersteigt, und zum ande- ren um freiheitsentziehende Sanktionen, die in einem ausländischen Verfahren verhängt wurden, in dem be- stimmte rechtsstaatliche Mindestgarantien verletzt wor- den sind. Die Vollstreckung solcher freiheitsentziehen- den Sanktionen soll allerdings nur übernommen werden, wenn sie nicht gegen die wesentlichen Grundsätze der deutschen Rechtsordnung verstößt. Bei den Beratungen zu dem Gesetzentwurf zur Ver- besserung der internationalen Rechtshilfe bei der Voll- streckung von freiheitsentziehenden Sanktionen und bei der Überwachung von Bewährungsmaßnahmen ergab sich die Notwendigkeit, im Rahmen eines Anhangs auch eine Änderung des Jugoslawien-Strafgerichtshof-Geset- zes und des Ruanda-Strafgerichtshof-Gesetzes vorzu- nehmen. Die Änderung in diesem letztgenannten Gesetz ist zeitlich dringend erforderlich und wird deshalb an das vorliegende Gesetzgebungsverfahren angehängt. In der gebotenen Kürze darf ich im Folgenden aus- führen, welche Regelung insofern vorgenommen wird. Mit der Resolution 1966 (2010) vom 22. Dezember 2010 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen wurde als Nachfolgeorganisation für den Internationalen Strafge- richtshof für das ehemalige Jugoslawien – IStGHJ – und für den Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda – IStGHR – der Internationale Residualmechanismus für Ad-hoc-Strafgerichtshöfe geschaffen. Der Internatio- nale Residualmechanismus ist ein internationaler Ge- richtshof, der die materiellen, territorialen, zeitlichen und personenbezogenen Zuständigkeiten sowie die Rechte, die Pflichten und die wesentlichen Funktionen des seit 1993 bestehenden Internationalen Strafgerichts- hofs für das ehemalige Jugoslawien, ICTY, und des 1994 gegründeten Internationalen Strafgerichtshofs für Ru- anda, ICTR, übernimmt. Der Residualmechanismus besteht laut Resolution 1966 (2010) aus zwei Abteilungen. Die Abteilung für den IStGHR hat ihre Tätigkeit am 1. Juli 2012 aufge- nommen. Die Abteilung für den IStGHJ begann ihre Ar- beit am 1. Juli 2013. Nach außen tritt aber einheitlich der Residualmechanismus auf, sodass im Normtext nicht zwischen den Abteilungen differenziert werden muss. Der Mechanismus führt die verbliebenen Aufgaben des IStGHJ und des IStGHR gemäß den in Anlage 2 der Re- solution 1966 (2010) festgelegten Übergangsregelungen fort. Die Organe des Mechanismus werden in Artikel 4 der Anlage 1 der Resolution 1966 (2010) aufgeführt. Hierzu zählen die Kammern – Strafkammer und Berufungskam- mer –, der Ankläger sowie die Kanzlei. Wir im Deut- schen Bundestag tun gut daran, diesem Gesetz zuzustim- men. Im Folgenden soll nun vertieft auf das Gesetz zur Verbesserung der internationalen Rechtshilfe bei der Vollstreckung von freiheitsentziehenden Sanktionen und bei der Überwachung von Bewährungsmaßnahmen ein- gegangen werden. II. Obwohl der zunächst von der Bundesregierung eingebrachte Gesetzentwurf bereits viele wichtige Aspekte beachtet hatte, waren nach intensiver Auseinan- dersetzung insbesondere mit den Empfehlungen des Bundesrates noch wichtige Änderungen vorzunehmen. Der Bundesrat hatte am 19. Februar 2015 Empfehlun- gen der Ausschüsse zu dem Gesetzentwurf vorgelegt. Zu dieser Stellungnahme erließ die Bundesregierung eine Gegenäußerung. Schließlich wurden im parlamentari- schen Verfahren noch einige Änderungen vorgenommen. 1. Der Gesetzentwurf sieht die Übertragung der Bewilligungszuständigkeit für ein- und ausgehende Er- suchen auf die Staatsanwaltschaften beziehungsweise die Vollstreckungsbehörden vor. Diese originäre Zustän- digkeitsübertragung bedeutet eine grundlegende Abkehr von der bisherigen Systematik des IRG. Die vom Bundesrat bevorzugte bisherige Systematik, nach der die Entscheidung über die zuständigen Bewilli- gungsbehörden im Rahmen des strafrechtlichen Rechts- hilfeverkehrs mit EU-Mitgliedstaaten durch die Länder getroffen werden, ermöglicht es, die unterschiedlichen Strukturen und bei den einzelnen Behörden vorhandenen fachlichen Kompetenzen zu berücksichtigen. Aus die- sem Grund empfahl der Bundesrat hier eine Änderung. Die vom Bundesrat vorgeschlagene Änderung, die darauf abzielt, die Bewilligungszuständigkeit der Bun- desregierung beziehungsweise den Landesregierungen zuzuweisen, erscheint nicht geboten. Dem Bundesrat ist zwar darin zuzustimmen, dass die geplante Regelung eine Abkehr von der bisherigen Zuständigkeitsregelung im Rechtshilferecht in Strafsachen darstellt. Diese Ab- kehr ist jedoch bewusst vollzogen worden. Denn sie stellt eine konsequente Folge aus dem Zusammenwach- sen Europas im justiziellen Bereich dar. Aber auch aus praktischen Gründen ist die Ansied- lung der Bewilligungszuständigkeit bei den Staats- anwaltschaften richtig; denn die Staatsanwaltschaft be- reitet schon nach den bestehenden Vorschriften im Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen die gerichtliche Entscheidung über die Vollstreckbarkeit eines ausländischen Urteils vor. Es ist daher sachgerecht und folgerichtig, dass sie auch die nach außen wirkende Bewilligungsentscheidung trifft. Der Änderungsvor- schlag des Bundesrates muss insofern abgelehnt werden. Hier wird auch nach intensiven parlamentarischen Bera- tungen an der Ausgangsregelung festgehalten. 2. § 84 b Absatz 2 IRG-E eröffnet die Möglichkeit, auf Antrag der betroffenen Person die Vollstreckung ei- ner ausländischen freiheitsentziehenden Sanktion, ob- wohl die Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 84 b Ab- satz 1 IRG-E nicht gegeben sind, gleichwohl für zulässig zu erklären. Der Bundesrat hat angeregt, diese Möglich- keit auf die Verjährung gemäß Nummer 4 zu beschrän- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10869 (A) (C) (D)(B) ken. Dies ist auch aus meiner Sicht nachvollziehbar, und wir sollten auch als Deutscher Bundestag diesem Ände- rungswunsch folgen. Daher ist es so nun auch im vorlie- genden Änderungsvorschlag geregelt. 3. Der Bundesrat empfiehlt eine Änderung dahin gehend, dass eine Regelung geschaffen wird, die die Möglichkeit eröffnet, mit Einverständnis der betroffenen Person die Vollstreckung ausländischer Entscheidungen zu übernehmen, die das Höchstmaß der in der Bundes- republik Deutschland angedrohten Sanktion übersteigen. Da auch dieser Vorschlag nachvollziehbar und damit zu unterstützen ist, wurde er im parlamentarischen Verfah- ren übernommen und in das Gesetz eingearbeitet. 4. Der Bundesrat schlägt weiter vor, das Absehen von der Vollstreckung im Falle der Flucht der verurteilten Person in das Ermessen der deutschen Vollstreckungs- behörden zu stellen. Auch diese Änderung unterstütze ich, und daher wurde sie ebenfalls in den Änderungsvor- schlag aufgenommen. 5. Schließlich schlägt der Bundesrat die Änderung des § 90 c Absatz 2 IRG-E vor. Dieser eröffnet die Möglich- keit, auf Antrag der betroffenen Person die Überwa- chung einer ausländischen Bewährungsmaßnahme, bei der die Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 90c Absatz 1 IRG-E nicht gegeben sind, gleichwohl für zulässig zu er- klären. Der Bundesrat regt an, diese Möglichkeit auf die Verjährung zu beschränken. Die Beschränkung auf die Verjährung stellt eine deut- lichere Abgrenzung in den genannten Fällen dar und schafft insoweit Klarheit. Die Regelung wird daher durch den vorliegenden Änderungsvorschlag unterstützt. III. Nachdem an dem zunächst vorgelegten Gesetz- entwurf noch an vier wichtigen Stellen Änderungen vorgenommen wurden, die auch durch die Länder unter- stützt und gefordert wurden, ist es nun gelungen, einen ausgewogenen Gesetzentwurf vorzulegen. Zudem konn- ten noch die Änderungen des Jugoslawien-Strafgerichts- hof-Gesetzes und des Ruanda-Strafgerichtshof-Gesetzes wie oben vorgestellt in diesem Gesetzentwurf umgesetzt werden. Nachdem wir auch der Opposition eine Verlängerung der Beratungen zugestanden haben und die Abstimmung auf diese Woche verschoben haben, darf ich um Zustim- mung für den vorgelegten Gesetzentwurf werben. Dirk Wiese (SPD): Mit dem vorliegenden Gesetz- entwurf der Bundesregierung setzen wir drei Rahmen- beschlüsse des Rates in nationales Recht um. Technisch erfolgt dies durch Änderungen am Gesetz über die in- ternationale Rechtshilfe in Strafsachen. Zielsetzung des Gesetzesvorhabens ist es, dass die Bundesrepublik Deutschland die Vollstreckung bestimmter im Ausland verhängter freiheitsentziehender Sanktionen überneh- men kann. Dabei handelt es sich zum einen um freiheits- entziehende Sanktionen, deren Höhe das nach deut- schem Recht angedrohte Höchstmaß übersteigt, und zum anderen um freiheitsentziehende Sanktionen, die in ei- nem ausländischen Verfahren verhängt wurden, in dem bestimmte rechtsstaatliche Mindestgarantien verletzt worden sind. Lassen Sie mich kurz die drei Kernpunkte des Gesetz- entwurfs aufzeigen: Erstens. Künftig besteht die Pflicht, die Vollstreckung einer im EU-Ausland verhängten freiheitsentziehenden Sanktion zu übernehmen, sofern sie sich gegen deutsche Staatsangehörige richtet, die ihren Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik Deutschland haben bzw. die ver- pflichtet sind, in die Bundesrepublik Deutschland auszu- reisen. Diese Pflicht besteht auch, wenn die freiheitsent- ziehende Sanktion im EU-Ausland gegen Ausländer verhängt wurde, die ihren rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. In bestimmten Fällen ist außerdem die Zustimmung der verurteilten Person über die bisherige Regelung in § 49 Absatz 2 IRG hinaus nicht mehr erforderlich. Eine Ab- lehnung der Übernahme der Vollstreckung ist dabei nur aus den im Gesetz genannten Gründen zulässig: beispiels- weise, dass gegen eine Person mit deutscher Staatsange- hörigkeit vollstreckt werden soll, die ihren gewöhnlichen Wohnsitz nicht in der Bundesrepublik Deutschland hat, oder dass die Dauer der Bewährungsmaßnahme oder der alternativen Sanktion weniger als sechs Monate beträgt. Zweitens. Deutsche Behörden dürfen zukünftig die Überwachung von im Ausland verhängten Bewährungs- maßnahmen übernehmen. Im Verhältnis zu anderen EU- Mitgliedstaaten wird hierbei teilweise eine Pflicht zur Übernahme der Überwachung eingeführt. Auch die Fol- geentscheidungen, also die Entscheidung, weitere Aufla- gen oder Weisungen zu erteilen bzw. Entscheidungen nachträglich zu ändern oder aufzuheben, die Strafausset- zung zu widerrufen oder die Strafe zu erlassen, werden dann im Vollstreckungshilfeverkehr mit Mitgliedstaaten der Europäischen Union regelmäßig von deutschen Ge- richten übernommen werden können. Drittens. Wie bereits erwähnt, soll künftig die Voll- streckung von freiheitsentziehenden Sanktionen, die über das nach deutschem Recht angedrohte Höchstmaß hinausgehen, sowie von freiheitsentziehenden Sanktio- nen, in deren zugrunde liegenden ausländischen Verfah- ren bestimmte rechtsstaatliche Mindestgarantien verletzt worden sind, unter bestimmten, abschließend geregelten Voraussetzungen übernommen werden können. Wegen der Abweichungen zum deutschen Recht sind folgende Voraussetzungen für eine Vollstreckung dabei aber zwin- gend erforderlich. Die Vollstreckung dieser freiheitsent- ziehenden Sanktionen darf nicht gegen die wesentlichen Grundsätze der deutschen Rechtsordnung verstoßen. Außerdem ist die Grundvoraussetzung für die Über- nahme der Vollstreckung solcher freiheitsentziehenden Sanktionen immer das Einverständnis der verurteilten Person. Hiermit schaffen wir die notwendigen rechts- staatlichen Hürden für ein solches Übernahmeverfahren von im Ausland verhängten Sanktionen. Auch für den vorliegenden Gesetzentwurf gilt das Struck’sche Gesetz. So wird auch dieser Entwurf den Bundestag nicht so verlassen, wie er hineingekommen ist. Denn wir haben nach den Beratungen im Ausschuss 10870 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) noch einmal nachgebessert und zeigen, dass wir die Kritik von Verbänden und Praktikern ernst nehmen. Das Ergebnis finden Sie in dem Änderungsantrag, den wir auch heute beschließen wollen. Wir lösen damit insbe- sondere problematische Fallkonstellationen, in denen die verurteilte Person aus der Haft geflohen ist, sowie Fälle, denen ein Abwesenheitsurteil zugrundeliegt oder bei de- nen gegen den Grundsatz „ne bis in idem“ verstoßen würde. Dadurch gelingt es uns, die Regelungen über die Sanktionsübernahme abzurunden, und mit Stolz können wir heute sagen, dass wir einen Gesetzentwurf vorlegen, der der Fürsorgepflicht Deutschlands gegenüber den ei- genen Bürgerinnen und Bürgern gerecht wird. Denn zu- künftig können im Ausland verhängte Strafen nunmehr auch in Deutschland und damit in einer vertrauten Um- gebung vollstreckt werden, was überdies auch einen positiven Effekt auf die Resozialisierung der Straftäter haben wird und damit auch der Allgemeinheit dienlich ist. Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Mit diesem Gesetz- entwurf sollen drei Rahmenbeschlüsse des Rates umge- setzt werden, der Rahmenbeschluss 2008/909/JI vom 27. November 2008 – Grundsatz, dass freiheitsentzie- hende strafrechtliche Urteile in den jeweils anderen EU-Mitgliedstaaten anerkannt und vollstreckt werden –, der Rahmenbeschluss 2008/947/JI vom 26. Februar 2009 – Grundsatz, dass Bewährungsmaßnahmen und alterna- tive Sanktionen aufgrund von strafrechtlichen Urteilen in den jeweils anderen EU-Mitgliedstaaten überwacht werden – und der Rahmenbeschluss 2009/299/JI vom 27. Februar 2009 – im Wesentlichen Grundsatz, dass Entscheidungen, die im Anschluss an eine strafrechtli- che Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht erschienen ist, in den jeweils anderen EU- Mitgliedstaaten anerkannt werden –. Die Umsetzung soll in Deutschland durch Änderun- gen des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen, IRG, erfolgen. Darüber hinaus sollen noch weitere Änderungen im Recht der Vollstreckungshilfe vorgenommen werden, zum Beispiel zur Ermöglichung der Vollziehung freiheitsentziehender Sanktionen, deren Höhe das nach deutschem Recht angedrohte Strafmaß übersteigt oder wo das zugrunde liegende ausländische Verfahren sogar bestimmte rechtstaatliche Mindestga- rantien verletzt hat. Im Grunde stellt der Gesetzentwurf eine Einführung eines europäischen Strafrechts durch die Hintertür dar. Als Konsequenz der Lissabon-Entscheidung des Bun- desverfassungsgerichts muss das Strafrecht als Kernbe- fugnis aber bei der Bundesrepublik als Mitgliedstaat der EU verbleiben, solange das Grundgesetz Geltung hat. Ein europäisches Strafrecht ist daher nur denkbar, wenn die Bundesrepublik sich eine neue gesamtdeutsche Ver- fassung gibt, die auch eine weitgehende Übertragung von Hoheitsbefugnissen auf die EU erlaubt, oder wenn alle Staaten der EU die an den Grundrechten der Bun- desrepublik orientierten Kernelemente und Grundideen des deutschen Straf- und Strafprozessrechts überneh- men. Beides ist gegenwärtig nicht der Fall und auch nicht absehbar. Mit dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, wie es in diesem Gesetzentwurf vorgesehen ist, werden die sehr unterschiedlichen Rechtsstandards und Rechtsgrund- sätze in Strafverfahren in den europäischen Mitgliedstaa- ten als gleichwertig behandelt, obwohl die Anforderun- gen – etwa an Beweisverfahren, Beweiserhebungen und Beweisverwertungen – sehr unterschiedlich sind. Unterschiedlich sind auch die Straftatbestände. Es be- stehen in Europa erhebliche Unterschiede bei der Beur- teilung der Frage, welches Verhalten überhaupt als straf- würdig zu erachten ist. Die Anerkennung und Vollstreckung einer strafrecht- lichen Entscheidung eines anderen Mitgliedstaates kann dabei auch zur Folge haben, dass die Bundesrepublik Delikte anerkennt, die sie in der eigenen Rechtsordnung nicht kennt, die ihr Parlament bewusst nicht für straf- würdig befindet, wie beispielsweise den straflosen Schwangerschaftsabbruch. Überdies scheint höchst fraglich, dass ausländische Urteile gegen eine entsprechend § 19 StGB schuldunfä- hige Person oder eine nach § 3 unseres Jugendgerichts- gesetzes strafrechtlich nicht verantwortliche Person voll- streckt werden sollen, wenn die verurteilte Person dies beantragt hat, wobei dieser Antrag gleichzeitig nicht zu- rückgenommen werden kann. Mir stößt da insbesondere die unterschiedliche Altersgrenze der Strafmündigkeit in Europa auf. Ich möchte keine langjährige Freiheitsstrafe gegen Kinder vollstrecken, die als 13-Jährige zu Haft- strafen verurteilt worden sind, wie dies in Frankreich möglich ist. Ähnliches gilt bei der Frage einer etwaigen zur Be- währung auszusetzenden Reststrafe. Bei einer Vollstre- ckung eines ausländischen Urteils kann bei allen noch so günstigen Prognosen des Verurteilten die Vollstreckung der Reststrafe nicht zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn der verurteilende Staat nicht zustimmt. Der Grundrechtseingriff eines Staates gegenüber sei- nen Bürgerinnen und Bürgern kann nicht auf der Grund- lage des Rechts eines anderen Staates vorgenommen werden. Es ist zumindest auf dem Gebiet des Strafrechts eine unverzichtbare Bedingung der Demokratie, dass die Bürgerinnen und Bürger nur solchen Eingriffen in ihre Freiheit ausgesetzt sind, auf deren Regelung sie durch parlamentarische Rechtsetzung Einfluss nehmen konn- ten. Das erkennt auch das Bundesverfassungsgericht an, wenn es in seiner Lissabon-Entscheidung ausführt: „Das Strafrecht in seinem Kernbestand dient nicht als rechtstechnisches Instrument zur Effektuierung einer in- ternationalen Zusammenarbeit, sondern steht für die be- sonders sensible demokratische Entscheidung über das rechtsethische Minimum.“ Daher kann selbst bei der positiven Intention des Ge- setzentwurfs, ausländische Strafurteile aus humanitären Gründen im Inland vollstrecken zu können, dem Gesetz- entwurf in seiner Gänze nicht zugestimmt werden. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10871 (A) (C) (D)(B) Dem Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grüne wird meine Fraktion zustimmen, da er die wesentlichen Bedenken auch meiner Fraktion aufgegrif- fen hat und versucht, das unterschiedliche Straf- und Prozessrecht in, wie sie es selbst beschreiben, „mög- lichst schonender Weise in Einklang“ zu bringen. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Stellen sie sich vor: Der deutscher Staatsbürger D begeht im Land X einen Raub. Er wird gefasst, kommt vor Gericht und wird zu einer Haftstrafe verurteilt. Allerdings kam das Urteil gegen D unter rechtsstaats- widrigen Umständen zustande. Ihm wurde kein Rechts- anwalt zugeordnet und er hatte auch keine Möglichkeit, sich einen zu suchen, da er die Landessprache nicht be- herrscht. Schließlich musste er sich notdürftig selbst ver- teidigen. Hinzu kommt, dass im Land X der D 25 Jahre in Haft muss. In Deutschland können für Raub nur maxi- mal 15 Jahre verhängt werden. D möchte daher, dass seine Haftstrafe in Deutschland vollstreckt wird, auch wenn das Urteil rechtswidrig zu- stande kam und er mit einer viel höheren Strafe belegt wurde, als sie in Deutschland für die dieselbe Tat mög- lich ist. Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf soll genau dies passieren können: Gegen deutsche Staatsangehörige im Ausland ergangene Strafurteile sollen aus humanitä- ren Gründen leichter im deutschen Inland vollstrecken werden können. Diese Grundintention begrüßen wir aus- drücklich. Nach dem Gesetzentwurf könnte Deutschland die Vollstreckung der Haftstrafe des D übernehmen, obwohl die gegen ihn im Land X verhängte Strafe höher ist als die Höchststrafe für einen Raub hierzulande. Auch die Tatsache, dass das Urteil gegen D rechtsstaatswidrig zu- stande kam, würde einer Vollstreckung nicht entgegen- stehen. Voraussetzung dafür ist, dass D zustimmt. Nun kommt der problematische Teil: Übernimmt Deutschland die Vollstreckung eines Strafurteils, das im Ausland unter rechtsstaatswidrigen Bedingungen zustande gekommen ist, wird dadurch das Urteil legitimiert, obwohl es rechtsstaatlichen Min- destgarantien unserer Rechtsordnung widerspricht. Der Mangel soll durch die Zustimmung des Verurteilten ge- heilt werden. Nach deutschem Verfassungsverständnis darf die Rechtsordnung aber nicht zur Disposition des Beschul- digten stehen. Mag die dahinterstehende Intention noch so gut gemeint und nachvollziehbar sein – es bleibt höchst problematisch. Hier hätte die Bundesregierung einen anderen Weg finden müssen. Im Zusammenhang mit der erforderlichen Zustim- mung des Verurteilten zur Vollstreckung von konven- tionswidrig ergangenen Urteilen ergeben sich zusätzliche Schwierigkeiten. Kann denn wirklich garantiert werden, dass seine Zustimmung von einem „freien Willen“ getra- gen wird? Selbst wenn die Aussicht, im deutschen Straf- vollzug untergebracht zu sein, im Vergleich zu anderen Ländern häufig noch das kleinere Übel darstellt, so wird die Entscheidung oft nicht unter Abwägung aller rele- vanten Gesichtspunkte vorgenommen werden können und der Betroffene unter erheblichem Druck stehen. Das einmal erklärte Einverständnis zur Vollstre- ckungsübernahme in Deutschland kann nämlich nicht widerrufen werden. Damit werden die Handlungsmög- lichkeiten und Rechte des Verurteilten unnötig stark be- schnitten. Es gibt viele Gründe, warum D aus unserem Beispiel- fall seine Strafe nun doch im Urteilsstaat X verbüßen möchte. Sei es, Familienmitglieder können nicht mit nach Deutschland kommen, sei es, die Chancen einer früheren Haftentlassung stehen dort letztlich doch besser als in Deutschland – wegen Amnestie oder Strafverkür- zung, wie sich aus nachträglicher Rechtsberatung ergibt. Der Argumentation, durch die Widerrufsmöglichkeit entstünde eine Art „Vollstreckungstourismus“ kann ich nicht folgen. Übernimmt Deutschland die Vollstreckung rechtswid- rig zustande gekommener Urteile, mag das zwar unter Fürsorgegesichtspunkten gegenüber dem im Ausland Verurteilten vertretbar sein. Allerdings müssten in solchen Fällen Kompensationsmodalitäten vorgesehen werden, zum Beispiel im Rahmen der Ausgestaltung des Strafvollzugs, zum Beispiel in Form einer vorzeitigen Haftentlassung oder Ähnlichem. Ausdrücklich ist so et- was nicht vorgesehen. Auch die Übernahme der Vollstreckung von Freiheits- strafen über die Dauer hinaus, die das deutsche Straf- recht vorsieht, weckt verfassungsrechtliche Zweifel und sollte daher nach unserer Ansicht nicht vorgesehen wer- den. Daher haben wir gestern im Rechtsausschuss einen dahin gehenden Entschließungsantrag gestellt, der auch all die anderen hier genannten Problempunkte miteinbe- zieht. Ein weiteres Fallbeispiel hat das Justizministerium selbst dem Rechtsausschuss schriftlich genannt: Ein deutscher Staatsangehöriger wird in Spanien we- gen unerlaubten Besitzes von 30 Gramm Haschisch zu zehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Nach dem in Deutschland geltenden Betäubungsmittelgesetz (§ 29 Absatz 1 Nummer 3) beträgt die Höchststrafe für solch ein Delikt fünf Jahre. Nach dem Gesetzentwurf – so schrieb uns das Bundesjustizministerium – müsste das zuständige deutsche Gericht die Freiheitsstrafe daher auf fünf Jahre ermäßigen. Allerdings kann die zuständige spanische Behörde Bedingungen für die Vollstreckung in Deutschland stellen. In dem Beispiel des Ministeriums verlangt sie, dass Deutschland mindestens sieben Jahre der Strafe vollstrecken soll. Aber wird ein deutsches Gericht für den unerlaubten Besitz von 30 Gramm Haschisch einen Freiheitsentzug von sieben Jahren vollstrecken lassen? Wohl kaum, zu- mal der Besitz von 30 Gramm niemals mit fünf Jahren sanktioniert würde. 10872 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) Die Orientierung an Höchststrafen in Deutschland zur „Ermäßigung“ und Findung eines „Mittelwerts“ ist kein zulässiger Strafzumessungsgrund. Wenn überhaupt müsste sich das Gericht an den in Deutschland üblicher- weise verhängten Strafen für den jeweiligen Einzelfall orientieren. Die Vollstreckungsübernahme von Freiheitsstrafen über die Dauer hinaus, die das deutsche Strafrecht vor- sieht, kann auch mit Zustimmung des Verurteilten nicht in Betracht kommen. Noch mehr muss dies gelten, wenn ein Strafurteil im Ausland auf Grundlage eines Verhaltens ergeht, welches nach deutschem Recht gar nicht strafwürdig ist, zum Beispiel ein nach deutschem Recht strafloser Schwan- gerschaftsabbruch. Übernimmt Deutschland hier die Vollstreckung, dann sitzt eine Person in einem deutschen Gefängnis, die dort nach deutschem Recht nicht sitzen würde und vor allem nicht dürfte. Das kann nicht sein. Das ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Es wäre unbillig und ein fatales Signal in die Rich- tung des Urteilsstaats. Deutschland muss klar für die Einhaltung rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Standards einstehen. Warum die Übernahme der Vollstreckungshilfe über- wiegend nur für deutsche Staatsangehörige vorgesehen ist und nicht auch für Personen, die in der Bundesrepu- blik Deutschland rechtmäßig auf Dauer ihren gewöhnli- chen Aufenthalt haben, ist nicht nachvollziehbar. Wir haben in unserem Entschließungsantrag dafür plädiert, die Möglichkeit der Vollstreckungsübernahme zu erwei- tern. Auch die Regelung, die dem Urteilsstaat die Möglich- keit einräumt, die Aussetzung des Strafrestes zur Be- währung von seiner Zustimmung abhängig zu machen, ist nicht nachvollziehbar. Die Bundesrechtsanwaltskam- mer führt in ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf aus, ein ausländischer Staat sei aufgrund der strikten deutschen Rechtslage ohne diese Regelung wohl dazu bereit, auf die Festlegung einer Mindestvollstreckungs- dauer zu verzichten. Durch die gesetzliche Verankerung hätten die anderen Staaten nun überhaupt erst die Mög- lichkeit, solche Bedingungen gegenüber Deutschland zu stellen. Wir erkennen die Grundintention des Gesetzes an und sehen natürlich auch, dass der Staat gegenüber seinen Bürgern eine Fürsorgepflicht hat. Insbesondere wenn diese im Ausland unter rechtsstaats- und/oder menschen- rechtswidrigen Bedingungen zu einer Freiheitsstrafe ver- urteilt werden, muss es die Möglichkeit geben, darauf hinwirken zu können, dass die Strafe in Deutschland vollstreckt werden kann. Aber die Strafverbüßung in Deutschland darf nicht damit ermöglicht werden, dass Urteile, die mit deutschem Recht nicht übereinstimmen, vollstreckt werden. Wir stimmen dem Gesetz deshalb nicht zu, sondern enthalten uns. Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Antrag: Entwicklungspolitische Chancen der Urbanisierung nutzen – Antrag: Urbanisierung in den Ländern des Südens – Staatliche und kommunale Funk- tionen stärken, Privatisierung verhindern (Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b) Peter Stein (CDU/CSU): Ich freue mich außeror- dentlich, dass unser Antrag „Entwicklungspolitische Chancen der Urbanisierung nutzen“ in die finale Lesung geht. Lassen Sie mich diese Gelegenheit nutzen, die wichtigsten Punkte noch einmal herauszustreichen: Ziel des Antrages ist erstens, die Chancen und He- rausforderungen der Urbanisierung klar zu benennen und ihnen so die Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die sie verdienen. Zweitens. Der Antrag formuliert tatsächlich umfas- sende Arbeitsaufträge an verschiedene Adressaten. Warum haben wir den Antrag gemacht? 2050 werden wahrscheinlich über 9,5 Milliarden Menschen auf diesem Planeten leben. Zwei Drittel da- von, also über 6 Milliarden, werden in Städten leben. Bereits heute sind es über 50 Prozent der Weltbevölke- rung. Dieses rasante Städtewachstum findet seine Ursache in verschiedensten Gründen: Bevölkerungswachstum, Krisenfolgen, aber auch Ergreifen persönlicher Chancen aufgrund verbesserter Bildung. Als Konsequenz sind wirtschaftliches Wachstum und Mittelstand oft am sel- ben Platz anzutreffen wie hoffnungslose Armut. Die Urbanisierung ist besonders ein Thema für die EZ, weil 90 Prozent der Verstädterung in Schwellen- und Entwicklungsländern stattfindet und weil weit über die Hälfte der Stadtbewohner unter 18 Jahre sind und es auch in Zukunft sein werden. Der Zeitpunkt, das Thema auf den politischen Agen- den weltweit anzupacken, ist günstig wie nie: Mit der nächstes Jahr anstehenden UN-Habitat-III-Konferenz in Ecuador ist dazu ein wichtiger Termin aufgerufen, aus dem heraus eine „Neue Urbane Agenda“ entstehen soll. In diesem Kontext begrüße ich außerordentlich, dass die Bundesregierung ein eigenes Urbanisierungskonzept erarbeitet hat. Die „Leitlinien der Bundesregierung zur internationalen Zusammenarbeit für nachhaltige Urbani- sierung – Partner in einer Welt der Städte“ werden es uns erleichtern, uns mit unseren europäischen Partnern ab- zustimmen und für den Habitat-, aber auch den SDG- Prozess einheitliche europäische Positionen zu entwi- ckeln. Wir als Bundesrepublik haben allen Grund, uns ein- zubringen: Wir in Deutschland haben eine hohe Exper- tise, was Planer und Ingenieure, Architekten und Ent- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10873 (A) (C) (D)(B) wickler im internationalen Einsatz betrifft. Viele internationale Projekte laufen weltweit unter deutscher technischer und finanzieller Begleitung, und unsere Leistungen sind weiterhin nachgefragt und willkommen. Als Ingenieur liegt mir dabei besonders eine voraus- schauende Planung am Herzen. Bauliche Strukturen schreiben über lange Zeiträume hin fest, wie inklusiv, wie wirtschaftlich erfolgreich, energieeffizient und nach- haltig sich ein Stadtteil entwickeln wird. Wir in Deutschland arbeiten mit unseren Instrumen- ten der Raumordnung und Bauleitplanung vorbildlich auf diesem Gebiet. Dieses Wissen muss auch durch ei- nen Rahmen aus GIZ, KfW und den anderen Durchfüh- rungsorganisationen und auch durch das Agieren der Bundesregierung weitergegeben werden. Ich würde mir zum Beispiel auch einen Ausbau unseres SES wünschen. Ich wünsche mir auch mehr Initiativen im Bereich Katasterwesen und Bodenrechtssicherung. Außerdem sollten wir unsere bilateralen Beziehungen noch aktiver pflegen. Unsere Wirtschaft ist offen und transparent, auch wir sollten sie im eigenen Interesse stärker mit einbeziehen. Auf internationaler Ebene wäre ein Ziel, für das wir uns einsetzen sollten, vielleicht sogar eine bei den Ver- einten Nationen angesiedelte Einheit, ich nenne sie gerne „Planer mit Blauhelmen“, die, quasi als „Peace- keeper“, Städten wie Staaten in den kritischen Brenn- punkten grundlegende, neutrale, fachlich hoch fundierte Hilfe leistet. Diese Hilfe setzt beispielsweise planerische Standards zu Lücken für nachträgliche Infrastruktur wie Nahverkehr, Schulen oder ärztliche Versorgung, wenn dazu zunächst nicht die Mittel da sind, aber gewährleis- tet sein muss, dass dies später nachgerüstet werden kann. Insgesamt sollte sich die deutsche EZ, meiner Mei- nung nach, auf die sogenannten Klein- und Mittelstädte konzentrieren. Entscheidend dabei ist nämlich, dass in absoluten Zahlen die meisten Menschen nicht in den Megacities, sondern zu fast 90 Prozent in den kleineren Zentren leben. Wir sollten daher auch einen dezentralen Ansatz för- dern, der Eigeninitiative von Kommunen und Städten unterstützt. Solche Ansätze sind flexibler und unbüro- kratischer zu realisieren als Programme alleine auf Staatsebene. Wir wollen dazu besonders kommunale Partnerschaften fördern, die kommunales Know-how in einen Austausch zu bringen helfen. Ein extrem wichtiger Punkt ist, dass wir den Klima- wandel durch CO2-Minderung gerade in den Städten bekämpfen und uns gleichzeitig jetzt schon auf seine un- vermeidlichen Auswirkungen einstellen. Die KfW ist ein gutes Beispiel für einen Player, der auf diesem Gebiet bereits aktiv ist. Wir statten den Green Climate Fund mit Milliarden aus, wir haben hohe Expertise in Küsten- schutz und Hochwasserprävention, wir sind gut in For- schung und Ausbildung, wir wissen, wie wichtig gute Verwaltungsführung ist. Bei all den Überlegungen zur Zukunft der Stadt soll- ten wir nie die symbiotische Verbindung zwischen einer Stadt und ihrem Umland vergessen. Bestimmte Einrich- tungen benötigen einen urbanen Rahmen, eine städtische Infrastruktur: Hochschulen, Regierung, Flughäfen, me- dizinische Zentren usw. Andere Dinge, in erster Linie natürlich die Landwirtschaft, finden weiter auf dem Land statt. 80 Prozent des Bevölkerungswachstums findet in ur- banen Räumen statt, 20 Prozent jedoch weiterhin auf dem Land. Das bedeutet also, dass es auch auf dem Land weiterhin zu Verdichtungen kommt und auch zukünftig kleine urbane Zentren entstehen können, nicht nur in großen Ballungsgebieten. Ich denke, dass wir in Anbetracht der enormen Ge- schwindigkeit, mit der die Urbanisierung voranschreitet, mit allen Auswirkungen auch auf den ländlichen Raum, auf das regionale Wirtschaftswachstum, die Bevölke- rungskontrolle und auf unser Klima, eine höhere Tak- tung der UN-Habitat-Konferenzen brauchen können. Alle 20 Jahre halte ich unter aktueller Betrachtung für zu wenig. Die alle zwei Jahre stattfindenden World- Urban-Foren haben leider bisher nicht die starke ins- besondere öffentliche und politische Wirkung, die wir benötigen. Schließen möchte ich mit einem Punkt, der seine Ursachen auch in der fortschreitenden ungeordneten Ur- banisierung hat: der Migrations- und Flüchtlingsfrage. Stadtentwicklung, Umweltschutz, soziale Standards und Menschenrechte sind global vergleichbar, ebenso wie die Sehnsüchte und Hoffnungen gerade junger Men- schen auf eine gute Zukunft. Es sind meist die Mittello- sen, die die Stadtränder – oft in prekären Lagen – mit Armut füllen. Flüchtlinge verlassen zuerst ihr Dorf auf der Suche nach Perspektive und später dann die Stadt, in der sie gelandet sind. Funktionierende Städte, die ihren neuen Bewohnern Ausbildung und berufliche Zukunft bieten können, sind daher ein wesentlicher Helfer im Anliegen der Bundesregierung, aber auch der Heimat- länder der Betroffenen, die Fluchtursachen zu bekämp- fen. Mit unseren Entscheidungen von heute nehmen wir massiven Einfluss darauf, wie die Leute von morgen und übermorgen leben werden, bei uns in Europa und in der Welt. Unser Antrag soll einen winzigen Teil dazu beitra- gen. Gabriela Heinrich (SPD): Bereits in der ersten Le- sung des vorliegenden Antrags haben wir deutlich ge- macht, dass die Urbanisierung in Entwicklungsländern ein entscheidendes Thema ist, das bisher noch nicht aus- reichend auf der Agenda ist. Die Stadtbevölkerung in Entwicklungs- und Schwellenländern wird um über 2 Milliarden Menschen bis zum Jahr 2050 wachsen. Nur wenn wir darauf angemessen reagieren, können wir ne- gative Entwicklungen vermeiden und die Chancen der Urbanisierung nutzen. Denn wenn wir Urbanisierung nicht gestalten, werden wir die Armut in der Welt nicht mindern können, keine Fortschritte bei der Reduzierung von Mütter- und Kin- dersterblichkeit, bei der Versorgung mit Trinkwasser und sanitären Anlagen sowie bei der Gesundheitsversorgung erreichen. Ohne nachhaltige Energieversorgung in den 10874 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) Städten werden wir auch das Ziel, die globale Erwär- mung auf maximal 2 Grad zu beschränken, nicht errei- chen. Und wir werden den globalen Flächenverbrauch – und damit den Verlust von Biodiversität – nicht stop- pen können, wenn sich die Städte ungeplant und weit- räumig ausbreiten, weil es an kompakter Stadtplanung bzw. überhaupt an Stadtplanung mangelt. Um die Urbanisierung in Entwicklungs- und Schwel- lenländern erfolgreich zu gestalten, müssen wir interna- tional vorgehen. Eine große Chance ist dabei die „New Urban Agenda“, die im nächsten Jahr auf der Habitat- III-Konferenz beschlossen werden soll. Wir begrüßen und unterstützen mit unserem Antrag ausdrücklich die Forderungen der Generalversammlung der Vereinten Nationen für diese „New Urban Agenda“. Dazu gehören unter anderem die Entwicklung nationaler Urbanisierungskonzepte sowie partizipative und inte- grierte Stadtentwicklung zugunsten kompakter Städte. Die Menschen brauchen eine bessere Infrastruktur, sie wollen gleichberechtigt leben und dass ihre Menschen- rechte beachtet werden. Bessere Wohn- und Lebensbe- dingungen und die Verringerung von Ungleichheit sowie eine lebenswerte Umwelt und kulturelle Teilhabe müs- sen das Ziel sein. Deutschland muss die Habitat-III-Agenda dafür nut- zen, für die integrative und partizipatorische Stadtent- wicklung zu werben und auch dafür, dass Kommunen weltweit mehr Einnahme- und Haushaltshoheit erhalten. Die Kommunen müssen Akteure werden, wenn sie ge- stalten sollen. Dazu sind eigene Finanzmittel unerläss- lich. Deswegen fordern wir mit unserem Antrag die Bundesregierung auf, gegenüber unseren Partnern für Dezentralisierung zu werben und sich für die Entwick- lung entsprechender nationaler Urbanisierungskonzepte einzusetzen. Wir wollen außerdem, dass die Bundes- regierung die „New Urban Agenda“ auf der dritten Kon- ferenz für Entwicklungsfinanzierung in Addis Abeba thematisiert und konkrete Vorschläge zur Schaffung ge- eigneter Finanzierungsmechanismen zur Gestaltung der Urbanisierung vorbereitet werden. Für die SPD-Bundestagsfraktion war es ganz wichtig, dass wir mit dem Antrag die Slums und ihre Bewohne- rinnen und Bewohner einbeziehen und gerade für sie auf Verbesserungen drängen. Dies auch vor dem Hinter- grund, dass sich die Zahl der Slumbewohner von heute 1 Milliarde bis zum Jahr 2050 verdreifachen wird. In den Slums ist die Unsicherheit über die Eigentums- und Nut- zungsrechte besonders hoch. Das macht die Entwicklung eines Slums mit besseren Lebensbedingungen noch schwieriger. Wir fordern deswegen, dass die Lebensbe- dingungen der Slumbewohnerinnen und -bewohner auf die Habitat-III-Agenda gesetzt werden. Die Habitat-III- Agenda muss aber auch die Personalqualifizierung für die Bereiche Planung, Kataster und Bodenrecht sowie (Einwohner-)Statistik einschließlich der Registrierung von Geburten umfassen. Wenn man nicht weiß, welches Grundstück wem ge- hört, wie soll man dann die Stadt planen? Wenn ein Kind nicht in einer Stadt registriert ist, wie soll es dann an Leistungen kommen und wie soll der Bedarf an Schulen und Gesundheitsdienstleistungen ermittelt werden? Und dass Frauen in vielen Ländern überhaupt kein Land be- sitzen oder erben dürfen, ist ein Entwicklungshemmnis, das wir beseitigen müssen. Eine weitere internationale Chance ist die Erarbeitung der Post-2015-Agenda. Hier setzen wir uns für ein ei- genständiges globales Nachhaltigkeitsziel mit Stadt- bezug ein. Und wir wollen die Urbanisierung auf euro- päischer Ebene stärker berücksichtigen und fordern deswegen die Bundesregierung auf, sich für eine neue Urbanisierungsstrategie der EU einzusetzen. Wir wollen auf EU-Ebene Urbanisierungspartnerschaften mit Län- dern und Kommunen des globalen Südens. Natürlich geht es uns mit unserem Antrag auch da- rum, dem Thema Urbanisierung in der deutschen Ent- wicklungszusammenarbeit ein stärkeres Gewicht zu ver- leihen. Wir fordern, dass Klein- und Mittelstädte beim Aufbau demokratischer, partizipativer und leistungsfähi- ger kommunaler Selbstverwaltung sowie bei der Stadt- planung unterstützt werden. Und wir fordern, dass dabei Good-Governance-Prinzipien wie die Einbeziehung der Zivilgesellschaft, Gleichberechtigung der Geschlechter, diskriminierungsfreier Zugang zu öffentlichen Dienst- leistungen, Menschen-, Kinder- sowie Minderheiten- rechte im Vordergrund stehen. Es war ein wesentlicher Punkt der Anhörung zum Thema Urbanisierung, die wir letztes Jahr im Ausschuss durchgeführt hatten, dass Stadtplanung immer mit der Bevölkerung zusammen ge- macht werden muss. Die partizipative Stadtplanung ist nicht nur demokratischer, sondern vermeidet auch Geisterstädte. Deswegen haben wir sie fest in unserem Antrag verankert. Ich muss gestehen, dass ich die in der Ausschussbera- tung vorgetragene Kritik der Opposition, der Antrag be- schäftige sich zu wenig mit dem ländlichen Raum und den Ursachen für die Wanderung vom Land in die Stadt, nicht teile. Man kann Urbanisierung nicht auf die glo- bale Handelspolitik verkürzen, wie es der Antrag der Linken macht. Wir beschäftigen uns mit den Gründen für Wanderung – das sind vor allem Armut, Hunger und Perspektivlosigkeit –, mit zahlreichen anderen Anträgen und Initiativen, nicht zuletzt auch bei der Entwicklung neuer globaler Nachhaltigkeitsziele. In unserem Antrag fordern wir zudem gerade, dass der räumliche Zusam- menhang in Städtesystemen und Stadt-Land-Beziehun- gen berücksichtigt wird. Das ist ein ganz wichtiger Punkt: Es nützt nichts, wenn zum Beispiel im ländlichen Raum die landwirtschaftliche Produktion aufgebaut wird, die Wege in die Städte aber so schlecht ausgebaut sind, dass die landwirtschaftlichen Produkte verdorben sind, wenn sie in der Stadt ankommen. Wir fordern, dass die Zusammenarbeit deutscher Kommunen mit Kommunen in Entwicklungs- und Schwellenländern stärker gefördert und das Projekt „50 Kommunale Klimapartnerschaften“ fortgeführt wird. Die Servicestelle der Kommunen in der Einen Welt soll weitere Konzepte für kommunale Entwicklungspartner- schaften entwickeln. Wir fordern zudem im Rahmen der Sonderinitiative „Fluchtursachen bekämpfen – Flücht- linge reintegrieren“ ein Modul für Flüchtlingsstädte. Das Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10875 (A) (C) (D)(B) Lager Dadaab in Kenia zum Beispiel besteht seit über 20 Jahren und beherbergt etwa 400 000, meist aus Soma- lia stammende Flüchtlinge ohne Perspektive und ausrei- chende Infrastruktur. Wir müssen hier stärker unterstüt- zen. Urbanisierung findet in den Entwicklungsländern statt. Unsere Aufgabe ist es, jetzt die Urbanisierung zu gestalten und ihre entwicklungspolitischen Chancen zu nutzen, damit Urbanisierung für die Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenländern zu einem besseren Leben führt und nicht zu Armut und Perspektivlosigkeit in einen Slum. Heike Hänsel (DIE LINKE): Die Mehrheit der Men- schen weltweit lebt in Städten. Das gilt mittlerweile auch für viele Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Mit steigender Tendenz. Deshalb ist es sinnvoll, dass wir uns mit den entwicklungspolitischen Herausforderungen und Chancen befassen, die die Verstädterung mit sich bringt. Die Koalition listet in ihrem Antrag einige de- mografische Trends auf, die auch Gegenstand der Anhö- rung zur Urbanisierung im Entwicklungsausschuss am 12. November 2014 waren. Doch Verstädterung lässt sich nicht rein numerisch erfassen, sie ist ein gesellschaftlicher Prozess, eine an- dauernde Auseinandersetzung zwischen Interessen um Boden und andere städtische Ressourcen. Wenn wir wis- sen, wie viele Menschen jährlich in die Städte ziehen, wie viele dort geboren werden, wie hoch ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung eines Landes ist, wie viele da- von in Slums leben und so weiter, dann wissen wir noch nicht viel über die Zusammenhänge: Warum verlassen Menschen ihre ländliche Heimat? Warum bieten ihnen die Städte keine echte wirtschaftliche Alternative? Wa- rum leben die Menschen auf dem Land wie in der Stadt unter prekären, oft menschenunwürdigen Bedingungen? Wer gestaltet den öffentlichen Raum? Wer entscheidet, wo und wie viele Wohnhäuser gebaut werden, wo Grün- flächen und wo Einkaufszentren hinkommen, wer wo zu welchem Preis wohnen oder bauen darf? Warum ist der Staat in vielen Ländern so schwach, warum die Versor- gung mit elementaren Dienstleistungen nicht gesichert? Die Städte in Asien, Afrika und Lateinamerika wach- sen unter ganz anderen Bedingungen als die europäi- schen Städte im Zeitalter der Industrialisierung. Deshalb bringt es auch nur bedingt etwas, wenn wir mit unseren Planungsinstrumenten und mit unseren Ansprüchen an Regularien und Entscheidungsprozesse, mit Good Governance und anderen „segensreichen“ Konzepten aus dem Norden auf die Städte im Süden zugehen, wenn wir nicht auch die Rahmenbedingungen verändern. Wir erleben es ja auch in Europa, dass selbst die bes- ten politischen Vorsätze und Beteiligungsverfahren wir- kungslos sind, wenn den Kräften des Marktes zu viel Raum gegeben wird. Auch in Europa ist Verstädterung immer mit Verdrängung und dem Widerstand dagegen verbunden. Auch in deutschen Städten sind Zwangsräu- mungen, Mietwucher, Verdrängung angestammter Be- völkerung, Gentrifizierung Probleme, die viele Men- schen umtreiben. Unnütze Großprojekte wie Stuttgart 21 zerstören sogar Urbanität. Shopping Malls entfremden Menschen ihrer eigenen Stadt. Die himmelschreiende Ungleichheit, die gerade in den Städten des Südens, zu- nehmend aber auch in europäischen Städten so deutlich sichtbar wird, wird von der Koalition in keiner Weise ins Zentrum ihrer Überlegungen gerückt. Stattdessen bezieht sich der Antrag der Koalition auf technokratische Konzepte wie das der „Smart Cities“, das den Klima- und Energiehaushalt regulieren soll. Ich setze da ein Fragezeichen. Unter den politischen und vor allem wirtschaftlichen Kräfteverhältnissen, die wir vor- finden, kann das auch heißen: Big Data als Planungs- grundlage ersetzt die politische und soziale Auseinan- dersetzung um die Gestaltung des öffentlichen Raumes. Politische Entscheidungen werden technokratisiert und damit vermeintlich „unpolitisch“. Lückenlose Erfassung von Nutzungsmustern ermöglicht zwar maximale Effi- zienz im Angebot von Dienstleistungen und Konsumgü- tern oder bei der Energienutzung, aber im schlimmsten Fall auch Totalüberwachung. Global agierende private Investorengruppen haben in der Stadtentwicklung längst das Ruder übernommen. Ihre Profitinteressen formen unsere Städte weltweit und vereinheitlichen ihr Antlitz. Ob in Belgrad, Dubai oder Münster – überall entstehen dieselben Malls, Bürohoch- häuser, Erlebnislandschaften, finden dieselben Ausgren- zungs- und Verdrängungsmechanismen statt. So gibt es Investorengruppen, die dieselben Großstadtprojekte in Belgrad und in afrikanischen Städten anbieten. Antwor- ten darauf werden auch in Deutschland gerade diskutiert: öffentlicher Wohnungsbau, Sozialbindung von Wohn- raum, Privatisierungsstopp – das wären wichtige Maß- nahmen, die bei der Koalition nicht vorkommen. Die Linksfraktion stellt in ihrem Antrag deshalb drei Ziele in den Mittelpunkt, die wir im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit und im Hinblick auf die Entwicklung unserer Städte erreichen wollen: Erstens wollen wir den Austausch zwischen den Kommunen darüber stärken, wie die Bevölkerung und ihre politischen Vertretungen die Oberhoheit über die Stadtentwicklung von den kommerziellen Investoren zu- rückerobern können, wie Privatisierung gestoppt und privatisierte Daseinsvorsorge wieder in öffentliche Ver- antwortung überführt werden kann. Zweitens wollen wir die Mittel der Entwicklungszu- sammenarbeit gezielt dafür einsetzen, kommunale und staatliche Versorgungs- und Wohnungsbauunternehmen aufzubauen und öffentliche Investitionen in die städti- sche Infrastruktur zu erhöhen. Wir brauchen drittens andere wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen. Wie sich der Freihandel, das Dogma der letzten 30 Jahre in den internationalen Wirt- schaftsbeziehungen, auf die Entwicklung sowohl des ländlichen, als auch des städtischen Raums auswirkt, sehen wir heute an vielen Beispielen. Bauern verlieren ihre Existenzgrundlagen, Städte verkommen zu großen Marktplätzen, auf denen importierte Billigwaren gehan- delt werden. Eine eigenständige Wertschöpfung kann kaum noch stattfinden. Eine andere Handelspolitik muss 10876 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) darauf ausgerichtet sein, die bäuerlichen Existenzgrund- lagen im ländlichen Raum zu schützen und weiterzuent- wickeln. Sie muss lokale Wirtschaftskreisläufe beför- dern, die den ländlichen und den städtischen Raum in einer produktiven Weise verknüpfen und für die Men- schen Einkommensquellen schaffen. Junge Industrien müssen vor Verdrängungswettbewerb geschützt, öffent- liche Daseinsvorsorge darf nicht den Profitinteressen privater Anbieter ausgesetzt werden. Widerstand der Stadtbewohnerinnen und -bewohner gegen neoliberale Dogmen kann erfolgreich sein: Die spanische Bewegung gegen Zwangsräumungen hat bei den Kommunalwahlen in diesem Frühjahr die politische Landschaft verändert. Ich freue mich, dass sie jetzt sogar die Bürgermeisterin von Barcelona stellt. In Athen bil- den sich solidarische Netzwerke, die ihre gegenseitige Unterstützung in der Not mit Widerstand gegen die okt- royierte Sparpolitik der EU verbinden. In Venezuela werden kommunale Räte gegründet und sind staatlich unterstützte soziale Programme fester Bestandteil der Stadtentwicklung. Und nicht zuletzt: In Berlin ist der Mietervolksentscheid auf den Weg gebracht worden und hat, mit Unterstützung durch die Linke, die erste Unter- schriftenhürde deutlich überschritten. Die Stadt sind wir, und wir müssen uns den öffentlichen Raum wieder an- eignen und gleichzeitig für eine nachhaltige Politik ein- treten, die im Süden auch menschliche Entwicklung er- möglicht, dafür sind solidarische Städteverbindungen ein gutes Beispiel. Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): In urbanen Zentren kumulieren Gegenwartspro- bleme; sie sind der Nukleus einer Welt, die sich rasant weiterdreht. In den Städten entscheidet sich also zuerst, wie die Menschen in der Gesellschaft leben, wie sie Ge- sellschaft begreifen. Wir haben es heute mit einem bei- spiellosen Trend zur Verstädterung zu tun: Bis 2050 wird sich weltweit die Bevölkerung in Städten auf 6 Milliar- den Menschen verdoppelt haben. So werden 80 Prozent des zukünftigen Energiebedarfs von Städten generiert, bereits heute nutzen Städte 70 Prozent der zur Verfügung stehenden Energie und produzieren 70 Prozent des weltweit ausgestoßenen CO2. Städtischer Klimaschutz ist eine riesige Aufgabe, von deren Erfolg es abhängen wird, wie heftig uns der Kli- mawandel am Ende treffen wird. Weltweit stehen Städte also vor der Aufgabe, mit dem Klimawandel umzugehen und extreme Klimaereignisse wie Hitzewellen oder Starkregen zu bewältigen. Die Frage, die sich heute für unsere Zukunft mit am dringendsten stellt, stellt sich also ganz besonders in den Städten – und zwar weltweit: Wie können wir emissions- frei, sozial gerecht und nachhaltig leben und arbeiten? Für den Wissenschaftlichen Beirat Globale Umwelt- veränderungen der Bundesregierung gehören die ur- banen Räume zu einem der drei Hauptpfeiler – neben der Energie- und der Landnutzung –, an denen die Politik für eine nachhaltige Zukunft und eine sozial-ökologische Transformation ansetzen sollte. Für die nachhaltige Entwicklung von urbanen Räumen geht es um den Aspekt des Klimaschutzes, den Aspekt der Inklusion aller in einer Stadt lebenden Men- schen sowie den Aspekt der kulturellen Vielfalt. Alle Bewohner einer Stadt müssen als „Bürger“ aner- kannt werden, unabhängig vom Status ihrer Siedlung. Angesichts des schnellen urbanen Wachstums ist eine kluge und vorausschauende Planung von Städten daher zentral. Etwa 30 Prozent der Stadtbewohner in Entwicklungs- ländern leben in informellen Siedlungen ohne Basis- dienstleistungen. Sie haben darüber hinaus kaum Mit- wirkungs- oder Entscheidungsbefugnisse, beispielsweise bei Wahlen. Sie sind Städter, aber keine Bürger. Sie erle- ben, dass die lokale Verwaltung sie nicht als Anspruchs- träger von Rechten anerkennt. Für diese Menschen ist es unabdingbar, dass Stadtplanungsvorhaben ihre Belange hinsichtlich des Zugangs zu Land berücksichtigen, ihr Knowhow einbeziehen und ihre Ansprüche auf Zugang zu Land, auf dem sie bereits siedeln, im Sinne ihrer Rechtssicherheit bestätigt werden. Auch der Schutz, die Förderung und der Erhalt der kulturellen Vielfalt sind eine entscheidende Vorausset- zung für eine nachhaltige Entwicklung zugunsten gegen- wärtiger und künftiger Generationen. Entwicklung ohne Berücksichtigung der kulturellen Dimension ist undenk- bar – darüber stimmen internationale Forschung und Entwicklungspolitik mittlerweile überein –, die kultu- relle Säule ist ein anerkanntes Element der Nachhaltig- keit. Kultur und integrierte Stadtentwicklung gehören zusammen. Daneben müssen die Städte der Zukunft klar zu Ak- teuren der Außenpolitik werden und zu Akteuren für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsagenda. Dort wird im vorgeschlagenen Nachhaltigen Entwicklungsziel 11 der Open Working Group gefordert: Make cities and human settlements inclusive, safe, resilient and sustainable! Neue Herausforderungen sind entstanden durch den Anstieg der Urban Refugees, also von Flüchtlingen, die in Städten Schutz und Aufnahme finden, vor allem in den Entwicklungsländern. Der Großteil von ihnen – ge- schätzt sind das aktuell über 80 Prozent – findet Auf- nahme in privater Unterbringung. Dieser Trend hat sich vor allem im Kontext der Syrien-Flüchtlingskrise ver- schärft: Hauptaufnahmeländer wie Libanon, Jordanien und Irak sind bereits bis zu 80 Prozent urbanisiert. Durch diese hohe Zahl von Flüchtlingen lastet auf den aufneh- menden Gemeinden zunehmender Druck. Lokale Infrastruktur muss unterstützt und lokale Verwaltungen müssen gestärkt werden, um sich wirksam mit Fragen der Raumordnung, Planung und Landnutzung auseinan- derzusetzen. Hinzu kommen die sich verstetigenden „Zeltstädte“, die sich häufig zu informellen städtischen Strukturen weiterentwickeln. Das älteste Flüchtlingslager der Welt, das Lager Dadaab in Kenia, besteht zum Beispiel seit über 20 Jahren. Zwei Drittel aller Flüchtlinge, die in Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10877 (A) (C) (D)(B) Flüchtlingslagern Aufnahme finden, verbringen dort durchschnittlich 17 Jahre. Aus temporären Flüchtlings- lagern werden zum Teil also informelle Siedlungen mit städtischem Charakter. Diese informellen Flüchtlings- siedlungen weisen viele Ähnlichkeiten und identische Herausforderungen mit den „klassischen“ Slums in Ent- wicklungs- und Schwellenländern auf. Die Urbanisierung stellt die Politik und die Entwick- lungszusammenarbeit vor große Herausforderungen. Das Bewältigen dieser Herausforderungen ist zentral für das Ziel, eine nachhaltige Entwicklung in allen Regio- nen der Welt möglich zu machen. Daher erfordert dieser Trend einen neuen globalen Gesellschaftsvertrag. Dieser Gesellschaftsvertrag kombiniert eine Kultur der Acht- samkeit – aus ökologischer Verantwortung –, mit einer Kultur der Teilhabe – als soziale und demokratische Ver- antwortung – und einer Kultur der Verpflichtung gegen- über zukünftigen Generationen – Zukunftsverantwor- tung. Doch im Bereich sozialer Sicherheit, nachhaltiger Energie und Klima scheinen die bisherigen Anstrengun- gen der Bundesregierung nicht ausreichend, und auch in Ihrem Antrag wird eine Veränderung der Schwerpunkt- setzung nicht erkenntlich. Dennoch teilen wir viele Ihrer Punkte. Auch der Antrag der Linken enthält viele rich- tige und wichtige Punkte, doch die zum Teil sehr un- differenzierten und pauschalisierenden Forderungen bringen uns dazu, uns auch bei diesem Antrag zu enthal- ten. Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 25. Januar 1988 über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen und zu dem Protokoll vom 27. Mai 2010 zur Änderung des Übereinkommens über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen (Tagesordnungs- punkt 27) Uwe Feiler (CDU/CSU): In den folgenden Minuten möchte ich mich im Rahmen der ersten Lesung einem wichtigen und in meinen Augen sehr bedeutenden steu- erlichen Thema zuwenden. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll ein weiterer Schritt zur erfolgreichen Zusammenarbeit und zur erwei- terten Kommunikation auf internationaler Ebene ge- schaffen werden und vonseiten der Bundesrepublik Deutschland eine Botschaft des grenzüberschreitenden Zusammenwirkens ausgesandt werden. Folglich ist es im Zeitalter der Globalisierung von unabdingbarer Bedeutung, einen einheitlichen Rahmen zur Amtshilfe in Steuersachen festzulegen, um eine Bekämpfung des weltweiten Steuerbetrugs sowie die Si- cherung der Steuereinnahmen zu gewährleisten. Aus meinem persönlichen Werdegang kann ich Ihnen ans Herz legen, wie notwendig ein intakter Austausch von Informationen in Steuersachen ist. Staatseinnahmen basieren nicht nur auf der Anwen- dung der steuerlichen Gesetzestexte – nein, sie sind ein Resultat aus der Kenntnis von Besteuerungsgrundlagen und deren tatbestandsmäßiger Verknüpfung. Als großen Wegweiser zur Amtshilfe in Steuersachen betrachte ich die Unterzeichnung der globalen Standards hier in Berlin am 29. Oktober 2014. Es handelte sich um den Abschluss eines mehrseitigen Vertrages zwischen 50 Staaten, welcher basierend auf dem Übereinkommen für die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen von 1988 und dem Abkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika, dem sogenannten „Foreign Account Tax Com- pliance Act“, FATCA, gefertigt wurde. Seit diesem Tag trägt die Bundesrepublik Deutsch- land gewisse Übermittlungsverpflichtungen gegenüber den anderen Vertragsstaaten. Diese Pflichten beinhalten den Austausch von Daten wie Name, Anschrift, Steuer- identifikationsnummer, Kontonummer und Jahresend- salden der Finanzkonten. Zur Untermauerung der dringenden Umsetzung und des gemeinsamen Handelns der Staaten kam es am 9. Dezember 2014 zur Übernahme der benannten Verpflichtungen in die EU-Amtshilferichtlinie, mit dem Privileg, den Austausch erstmals für die Besteuerungs- zeiträume ab 2016 zum 30. Juni 2017 vonseiten der Staaten zu ermöglichen. Folglich betone ich die Wichtigkeit einer schnellen Einigung vonseiten des Bundestages, um den beteiligten Finanzinstitutionen und Behörden ein Zeitfenster zu er- öffnen, damit eine rechtzeitige Umsetzung gesichert ist. Auch in dieser Thematik sollte Deutschland eine Vor- bildfunktion einnehmen und schnellstmöglich hoheitlich handeln. Der vorliegende Gesetzentwurf umfasst 17 Paragra- fen und legt Melde- und Sorgfaltspflichten der Finanz- institute sowie Zuständigkeiten fest. Hervorzuhebende Pflichten der Finanzinstitute sind die Wahrung der datenschutzrechtlichen Vorgaben, die Erhebung der steu- erlichen Ansässigkeit des Kontoinhabers und die Ermitt- lung des Kontosaldos zum 31. Dezember des jeweiligen Kalenderjahres. In Bezug auf die Verfahren zur Ermittlung der Daten erfordert das Gesetz eine differenzierte Betrachtungs- weise für bestehende sowie neu eröffnete Konten von natürlichen Personen oder Rechtsträgern. Eine entsprechende Behandlung von natürlichen Per- sonen soll sich nach einem geringeren oder hohen Wert richten. Hier spricht das Gesetz konkrete Indizien an, die im Rahmen der Einzelfallbetrachtung ausgewertet wer- den müssen. Weiterhin wird ein Augenmerk auf Konten von Rechtsträgern gesetzt, die einen Saldo von mehr als 250 000 USD zum 31. Dezember 2015 aufweisen. Zuständig für den internationalen Austausch ist neben dem Bundesministerium der Finanzen das Bundeszen- tralamt für Steuern. Zum prognostizierten Aufgabenbe- 10878 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) reich gehören die Übermittelung der Informationen über Finanzkonten an andere Staaten, die Annahme und die Weiterleitung an die Landesfinanzverwaltungen, die Speicherung der Daten für einen Zeitraum von 15 Jahren und letztendlich die Prüfung der festgelegten Melde- und Sorgfaltspflichten der Finanzinstitute. Aufmerksam mache ich Sie über die mir bekannten eingeschätzten Aufwendungen für die Wirtschaft in Höhe von 386 Millionen Euro und einen Erfüllungsauf- wand der Verwaltung mit einer Summe von insgesamt 25 Millionen Euro für 2015 bis 2019. Trotz der bevorstehenden Kosten und des Bürokratie- aufwands möchte ich mich abschließend ganz klar für dieses Gesetz zur Sicherung einer rechtmäßigen Besteu- erung aussprechen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und für das erfolgreiche und engagierte Zusammenwirken im Finanzausschuss. Andreas Schwarz (SPD): Vor wenigen Tagen fei- erte die Unterzeichnung der Magna Carta ihren 800. Ge- burtstag. Auch von uns herzliche Glückwünsche zu die- sem Jubiläum! Diese „Urkunde der Freiheiten“ war ein vom englischen Adel erzwungener Vertrag gegen die Willkür des herrschenden Königs. Die Magna Carta sollte unter anderem vor maßlosen Steuerforderungen der Krone schützen. 800 Jahre später können wir für Deutschland vermel- den, dass die Steuerlast für manche Leute hier und da durchaus etwas geringer ausfallen könnte, aber eben kei- nesfalls maßlos ist. Maßlos ist vor allem die kriminell anmutende Energie, mit der jährlich viele Milliarden Euro am Fiskus vorbei ins Ausland geschleust werden. Ich rede hier nicht von legal und transparent ins Ausland transferierten Summen, die zur Geldanlage oder für In- vestitionen eingesetzt werden. Niemand möchte in einer globalen Welt den freien Kapitalverkehr einschränken, aber es muss eben auch hier Regeln und Kontrolle ge- ben. Uns geht es um das illegal ins Ausland transferierte Geld. Wir müssen Steuerbetrug noch konsequenter als bisher bekämpfen. Daher begrüßen wir, dass wir mit dem Gesetzentwurf in Zukunft mehr Möglichkeiten haben werden, schwar- zen Schafen besser auf die Spur zu kommen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf und der natio- nalen Umsetzung des OECD-Standards stehen uns end- lich deutlich bessere Instrumente und Regularien zur Verfügung. Aber der Reihe nach. Ein funktionierender Staat kostet viel Geld. Durch immer mehr Aufgaben, die Bund, Länder und Gemein- den zu bewältigen haben, geraten die Haushalte immer weiter unter Druck, mancherorts so stark, dass durch Haushaltskürzungen viele wichtige Aufgaben nicht mehr ausreichend finanziert werden können. Es mangelt also nicht an Aufgaben, die es zu meistern gilt. Nein, es man- gelt an Geld! Ein funktionierendes Gemeinwesen liegt im Interesse von uns allen. Folglich liegt es auch in unserem Interesse, dass es mit ausreichend finanziellen Mitteln ausgestattet ist. Dafür müssen dem Staat auch diese Geldmittel zuflie- ßen. Nun gibt es aber Menschen und Unternehmen, die sich weigern, ihren gerechten Anteil an der Finanzierung unseres Staates zu leisten. Viel zu lange haben wir mit ansehen müssen, dass viele Milliarden Euro am Fiskus vorbei ins Ausland ge- schleust wurden und durch Steuerhinterziehung drin- gend erforderliche Mittel für die Finanzierung des Ge- meinwesens nicht zur Verfügung standen. Diesem Treiben können wir nicht tatenlos zusehen. Und das tun wir auch nicht. Zuletzt haben wir beispielsweise auf nationaler Ebene die strafbefreiende Selbstanzeige verschärft. Das war ein wichtiger Schritt. Aber uns allen ist völlig klar, dass wir dem Problem der Steuerhinterziehung nur inter- national wirklich begegnen können. Es existieren ja internationale Abkommen und Rege- lungen, um der Steuerflucht zu begegnen. Das ist gut und richtig. Es hat sich aber herausgestellt, dass diese In- strumente dringend der Überarbeitung bedurften. In ei- ner globalisierten Welt brauchen wir noch innovativere und praktikablere Instrumente. Deshalb sind wir davon überzeugt, dass mit dem neuen OECD-Standard mehr Möglichkeiten bestehen, die weltweite Steuerhinterziehung noch konsequenter zu bekämpfen und zu unterbinden als bisher. Durch den Ge- setzentwurf wird dem Umstand Rechnung getragen, dass wir nur durch verstärkte internationale Zusammenarbeit vorankommen. Das gilt eben ganz besonders auch für die Steuerpolitik. Wir verlieren jedes Jahr Milliarden an Steuereinnah- men. Dies ist Betrug an der Allgemeinheit und ungerecht gegenüber den Menschen und Unternehmen, die ihrer Steuerpflicht in vollem Umfang nachkommen. Es kann nicht angehen, dass sich Menschen oder Unternehmen vor ihrer Steuerpflicht drücken; schließlich nutzen sie auch sonst gerne die Infrastruktur, die ihnen von staatli- cher Seite zur Verfügung gestellt wird. Deshalb ist es auch folgerichtig, dass das Steuerge- heimnis auf internationaler Ebene fällt. Allzu oft diente es als Deckmantel für Steuerhinterziehung. Sogar die Schweiz hat das längst akzeptiert. Deshalb ist es auch im Interesse der ehrlichen Menschen und Unternehmen, endlich ernst zu machen und auch im Bereich des Daten- austauschs von Steuerdaten den OECD-Standard in Deutschland zu beschließen. Unser Gemeinwesen kann nur auskömmlich finan- ziert werden, wenn alle nach ihrer Leistungsfähigkeit ih- ren Steueranteil entrichten und dieses Geld auch dem Gemeinwesen zufließt. Der vorliegende Gesetzentwurf bringt uns hier ein gu- tes Stück voran. Deshalb findet er die volle Unterstüt- zung der SPD-Bundestagsfraktion. Richard Pitterle (DIE LINKE): Eine „höchst nützli- che Entwicklung“, wie es im Abkommen und im Gesetz- entwurf heißt, ist der internationale, wohl eher unge- hemmte Kapitalverkehr mit Sicherheit nicht. Richtig Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10879 (A) (C) (D)(B) ist der Befund, dass zu den vielfältigen Schattenseiten des freien Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs auch die Steuervermeidung und Steuerhinterziehung zu zählen sind. Steuerflucht und Steuerhinterziehung sind in einer globalisierten Welt ein zunehmend ernstes Pro- blem, dessen Lösung nur in einer Zusammenarbeit von allen betroffenen Staaten zu finden ist. Das Abkommen über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen ist ein Schritt in die richtige Richtung. Es ist ein bedeutender symbolischer Akt. Mit ihm unter- streichen die immerhin mehr als 70 Staaten, die das Ab- kommen schon unterzeichnet haben, ihren Willen zur gemeinsamen Bekämpfung der Steuerhinterziehung. Das Abkommen existiert seit mehr als 20 Jahren. Dass sich nun auch Deutschland entschieden hat, das Abkommen zu ratifizieren, war ein mehr als überfälliger Schritt. Ob das Abkommen mehr als dieser symbolische Akt ist, muss sich erst noch zeigen. Zwar klingen die Mög- lichkeiten in dem Abkommen sehr weitreichend und um- fassend: Vorgesehen sind der Informationsaustausch, die Möglichkeit gleichzeitiger Steuerprüfungen und die Teil- nahme an Steuerprüfungen im Ausland, die Amtshilfe bei der Beitreibung von Steuerforderungen und nicht zuletzt die Hilfe bei der Zustellung von Schriftstücken. Das um- fassende Recht, Vorbehalte zu erklären, Ausnahmerege- lungen, technische, rechtliche und finanzielle Hemmnisse, Sprachbarrieren und kulturelle Unterschiede erleichtern die Zusammenarbeit nicht. Dabei will ich nicht mit dem Finger auf andere zei- gen: Wir haben in Deutschland eine gewaltige Lücke bei der personellen und sachlichen Ausstattung der Finanz- verwaltung. Die Ressourcen reichen nicht einmal, um in Deutschland nennenswerte Steuerprüfungen durchzu- führen und für Steuergerechtigkeit zu sorgen – 2013 lag die Quote bei gerade einmal 2,4 Prozent aller Betriebe. Allein diese Prüfungen haben 17 Milliarden Euro Mehr- einnahmen erzielt. Und selbst unter den Mitgliedstaaten der Europäi- schen Union gibt es regelmäßig Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit. So existiert zwar eine Amtshilfericht- linie in Steuersachen. Nur sind viele Details bei der Zu- sammenarbeit höchst umstritten und binden Verwal- tungsressourcen bei der Klärung. Ich begrüße ausdrücklich, dass die Bundesrepublik Deutschland von der Vorbehaltserklärung nach Arti- kel 30 Gebrauch macht und jegliche Amtshilfe bei der Beitreibung von Steuerforderungen und Geldbußen ver- weigert. Steuerforderungen anderer Staaten wie eigene Forderungen zu behandeln, setzt das sichere Wissen vo- raus, dass die zu vollstreckenden Entscheidungen nach den gleichen hohen rechtsstaatlichen Maßstäben zu- stande gekommen sind, wie wir sie in Deutschland anle- gen. Nicht bei allen Vertragsstaaten dieses Abkommens würde ich dafür meine Hand ins Feuer legen wollen. Selbst bei einigen Mitgliedstaaten der europäischen Union müssen wir leider noch heute Vorbehalte bei dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Ent- scheidungen mit Straf- und Eingriffscharakter aufrecht- erhalten. Das Abkommen über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen offenbart vor allem, dass die langfristige Lösung von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung nur in weltweiten Mindeststandards bei der Besteuerung und der Bekämpfung des Steuerwettbewerbs selbst zu finden sein wird. Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In den vergangenen Jahren erlebten wir eine Vielzahl an Steuer- hinterziehungsskandalen, die das Verstecken von Gel- dern in sogenannten Steueroasen, auf Offshorekonten oder in Offshorefirmen zum Hintergrund hatten. Be- zeichnend war, dass die Informationen zu den Steuerbe- trügern nicht auf offiziellem Wege zugänglich waren und dass sie auch nicht von deutschen Steuerfahndern aufgedeckt wurden. Es bedurfte engagierter Journalisten, die auf das nach wie vor immense Ausmaß an Steuerhin- terziehung aufmerksam machten. Lux-Leaks, Commerz- bank-Leaks und Swiss-Leaks glichen sich in diesem Punkt. Ein Grund, weshalb die rot-grüne Mehrheit im Bun- desrat vor drei Jahren das von Finanzminister Schäuble forcierte Steuerabkommen mit der Schweiz abgelehnt hat, war, dass Deutschland dauerhaft keinerlei Handhabe gegen die Schweiz besessen hätte, um an Informationen zu deutschen Staatsbürgern mit Vermögen in der Schweiz zu gelangen. Steuerhinterzieher hätten sich dau- erhaft – dem Schweizer Bankgeheimnis sei Dank – in ih- rer Anonymität sicher gefühlt. Schäubles mit der Schweiz verhandeltes Steuerab- kommen war – um es mit den Worten des ehemaligen Abgeordneten im Schweizer Nationalrat Jean Ziegler wiederzugeben – eine „Einladung an die Kriminellen“, ein Kotau vor dem System der organisierten Steuerhin- terziehung. Steuerhinterziehern im Rahmen dieses Ab- kommens Anonymität zuzusichern, während sich jeder redliche Steuerzahler dem Finanzamt offenbaren muss, war schlicht inakzeptabel. Was seit der Ablehnung des Steuerabkommens durch die rot-grüne Mehrheit in den Ländern plötzlich in Sa- chen Zusammenarbeit gegen Steuerhinterziehung geht mit der Schweiz, macht zum einen deutlich, wie wichtig die Ablehnung war, und zum anderen, welchen Unter- schied ein konsequenter Kampf gegen Steuerhinterzie- hung macht, denken wir nur an die Fälle wie Hoeneß und andere. Der heute vorliegende Gesetzentwurf zum Abkom- men über die gegenseitige Amtshilfe ist in diesem Sinne ein grundlegender Schritt in die richtige Richtung, den wir begrüßen. Besonders die vorliegenden Regelungen zum Informationsaustausch. Denn ein vereinfachter Austausch von Informationen zwischen Staaten ist der zentrale Schlüssel, um das Verstecken von Geldern vor dem Fiskus zu erschweren. Durch die mit diesem Gesetz erfolgende Ratifizierung des Übereinkommens über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen wird die Voraus- setzung für den automatischen Informationsaustausch geschaffen. 10880 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) Da für die konkrete Ausgestaltung eines automati- schen Informationsaustauschs inzwischen auch ein Refe- rentenentwurf vorliegt – es handelt sich um den „Refe- rentenentwurf für die Ratifizierung der Mehrseitigen Vereinbarung vom 29. Oktober 2014 zwischen den zu- ständigen Behörden über den automatischen Austausch von Informationen über Finanzkonten“ – und dessen Ra- tifizierung auch von zahlreichen anderen Staaten ange- kündigt wurde, scheint die Hoffnung auf eine endlich substanzielle Verbesserung im Kampf gegen Steuerhin- terziehung berechtigt. Allerdings stellt sich immer dringender die Frage, wa- rum die Bundesregierung nicht auch national das macht, was sie ändern kann, um Steuerhinterziehung besser zu bekämpfen. Ein Thema ist dabei das geltende, unzurei- chend wirkende Geldwäschegesetz. Überhaupt nicht zu verstehen ist die Weiterexistenz der Abgeltungsteuer und des steuerlichen Bankgeheim- nisses in Deutschland. Steinbrücks berühmtes Zitat „Lie- ber 25 Prozent von x als 45 Prozent von nix“ wirkt wie ein Anachronismus aus längst vergangenen Zeiten. Die massive Privilegierung von Kapitaleinkommen gegen- über Arbeitseinkommen war immer schon ungerecht, sie wurde lediglich begründet mit dem Argument, man könne gegen illegale Kapitalflucht nichts machen. Das Argument zieht nicht mehr. Die Abgeltungsteuer ist heute in meiner Sicht nicht nur ungerecht, sondern klar verfassungswidrig. Warum macht die Bundesregierung nicht ihre Hausaufgaben in Sachen Steuerhinterziehung? Es gibt keinen Grund, zu warten! Eine weitere wichtige nationale Leerstelle in Deutsch- land zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung ist die Effi- zienz der Steuerverwaltungsstrukturen. Gerade den im- mer komplexer werdenden Steuervermeidungsstrategien von multinationalen Unternehmen kann nur eine starke Steuerverwaltung entgegentreten. Zahlreiche Staaten ha- ben hier bereits gehandelt, indem sie in ihren Steuerver- waltungen Spezialeinheiten für große Konzerne und reiche Bürger und Bürgerinnen geschaffen haben. In Deutschland steht dieser Schritt noch aus. Auch deswe- gen sind die Finanzämter den großen Steuerabteilungen der Konzerne oft hoffnungslos unterlegen. Es macht da- her Sinn, in einem ersten Schritt die Zuständigkeit für große Unternehmen und für Einkommensmillionäre auf den Bund zu übertragen. Die neu zu schaffende Spe- zialeinheit für diese besonders wichtigen Steuerfälle muss personell und technisch auf Augenhöhe mit den Steuerabteilungen der Konzerne gebracht werden. Sie sollte über eine internationale Steuerfahndung verfügen und Steuerhinterziehung und Steuervermeidung auch wissenschaftlich analysieren, um Abwehrstrategien und Empfehlungen für den Gesetzgeber zu entwickeln. Eine solche Einheit kann die Informationen bündeln und auch im Rahmen eines internationalen Informationsaustau- sches gezielt zur Verfügung stellen bzw. anfordern. Wir haben dazu einen Antrag eingebracht. Abschließend bleibt die Frage, warum zu dem zu- grundeliegenden Abkommen von 1988 erst heute, im Jahr 2015, ein Gesetzentwurf eingebracht wird. Andere Länder, darunter die Niederlande und Großbritannien, haben das Abkommen schon vor Jahren ratifiziert. Deutschland hier an der Seite von Liechtenstein und der Schweiz zu finden, die das Übereinkommen über die ge- genseitige Amtshilfe in Steuersachen bisher ebenfalls noch nicht ratifiziert haben, wirft kein gutes Licht auf das Bemühen der Finanzminister um den Kampf gegen Steuerhinterziehung in den vergangenen Jahren. Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister der Finanzen: Mit dem vorliegenden Ge- setzentwurf soll das von der Bundesrepublik Deutsch- land unterzeichnete Übereinkommen vom 25. Januar 1988 über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen und das Protokoll vom 27. Mai 2010 zur Änderung des Übereinkommens über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen in deutsches Recht umgesetzt werden. Gleichzeitig sieht der Gesetzentwurf in Artikel 2 vor, dass das Bundesministerium der Finanzen ermächtigt wird, Änderungen und Ergänzungen der Anlage A zum Übereinkommen, Steuern, für die das Übereinkommen gilt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bun- desrates in Kraft zu setzen. Das vorliegende Übereinkommen ist das erste und einzige mehrseitige weltweite Regelungswerk über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen, das sich insbe- sondere durch seinen zeitgemäßen umfassenden Ansatz auszeichnet. Dieses Übereinkommen ist das Ergebnis gemeinsamer Arbeit auf Ebene des Europarates und der OECD. Das zu dem Übereinkommen vereinbarte Protokoll von 2010 geht zurück auf den G-20-Gipfel von 2009 in London. Seinerzeit hat man sich darauf verständigt, den Informationsaustausch auf Ersuchen für alle Länder zu öffnen, einschließlich der Entwicklungsländer. Dies ist aus deutscher Sicht ein ganz wichtiger Punkt. Denn wie für alle anderen Staaten ist es auch für diese Staaten wichtig, auf rechtsstaatlichem Wege über die für die Durchsetzung des Steueranspruchs wesentlichen Infor- mationen verfügen zu können. Mit dem Übereinkommen verpflichten sich die Ver- tragsparteien untereinander, Amtshilfe in Steuersachen zu leisten. Die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen dient dem Ziel einer ordnungsgemäßen Ermittlung der Steuerpflicht und damit der Bekämpfung von Steuerhin- terziehung und Steuervermeidung sowie der Unterstüt- zung der Steuerpflichtigen bei der Wahrnehmung ihrer Rechte, insbesondere im Hinblick auf ein ordnungsge- mäßes rechtliches Verfahren, das in allen Staaten als für Steuersachen geltend anerkannt werden soll, sowie ei- nem Schutz gegen Ungleichbehandlung und Doppelbe- steuerung. Mit dem Gesetz wird zugleich ein einheitlicher Rechtsrahmen für die Amtshilfe in Steuersachen mit den Unterzeichnerstaaten geschaffen. Die Amtshilfe umfasst die Möglichkeit gleichzeitiger Steuerprüfungen und der Teilnahme an Steuerprüfungen im Ausland, die Amtshilfe bei der Beitreibung, ein- schließlich Sicherungsmaßnahmen, sowie die Zustellung von Schriftstücken. Ferner können zwei oder mehr Ver- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10881 (A) (C) (D)(B) tragsparteien für Fallkategorien und nach Verfahren, die sie einvernehmlich festlegen, bestimmte Informationen automatisch austauschen. Zur Wahrung des Datenschutzes sieht das Überein- kommen die Abgabe einer Erklärung durch den jeweili- gen Vertragsstaat zum Schutz der personenbezogenen Daten und Grenzen der Verpflichtung zur Amtshilfe vor. Die Bundesrepublik Deutschland wird eine solche Aus- legungserklärung, die den deutschen Anforderungen Rechnung trägt, gemeinsam mit der Ratifikationsur- kunde abgeben. Der Schutz der Rechte der Steuerpflich- tigen wird damit sowie durch Nennung von Schutzbe- stimmungen im Sinne des Artikels 22 Absatz 1 des Übereinkommens gewährleistet. Durch die Bezugnahme in der Auslegungserklärung auf den deutschen und euro- päischen Grund- und Menschenrechtsstandard wird die Nutzung übermittelter Steuerdaten entsprechend dem hierin verbürgten Schutzniveau sichergestellt. Insbeson- dere wird jedwede Nutzung der Steuerdaten in Strafver- fahren ausgeschlossen, die zur Verhängung der Todes- strafe oder zur Missachtung des menschenrechtlichen Mindeststandards führen könnten. Damit soll sicherge- stellt werden, dass die Amtshilfe unter Einhaltung dieser Bedingungen erfolgt. Das Übereinkommen sieht in Artikel 6 die Möglich- keit des automatischen Informationsaustauschs in Steu- ersachen auf der Basis einvernehmlicher festgelegter Fallkategorien und Verfahren vor. Die am 29. Oktober 2014 in Berlin am Rande der Jahrestagung des Global Forum von der Bundesrepublik Deutschland sowie wei- teren 50 Staaten und Gebieten unterzeichnete „Mehrsei- tige Vereinbarung zwischen den zuständigen Behörden über den automatischen Austausch von Informationen über Finanzkonten“ ist eine solche einvernehmliche Festlegung auf Grundlage von Artikel 6 des Überein- kommens. Zwischenzeitlich wurde die Vereinbarung von mehr als 60 Staaten unterzeichnet. Für diese mehr- seitige Vereinbarung ist die Zustimmung des Gesetzge- bers im Rahmen eines gesonderten Gesetzgebungsver- fahrens erforderlich. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf und den Ihnen noch gesondert zur Entscheidung vorzulegenden weite- ren Gesetzentwürfen zur steuerlichen Amtshilfe tragen wir maßgeblich auf rechtsstaatliche Weise dazu bei, dass die Steueransprüche des Staates gesichert werden kön- nen und zugleich die Chancen auf Steuerhinterziehung geringer werden. Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de 112. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 5 Regierungserklärung zum Europäischen Rat TOP 6 Grundfreibetrag, Kinderfreibetrag, -geld, -zuschlag TOP 7, ZP 1 Eheverbot für gleichgeschlechtliche Paare TOP 36, ZP 2 Überweisungen im vereinfachten Verfahren TOP 37 Abschließende Beratungen ohne Aussprache ZP 3 Aktuelle Stunde zur Pkw-Maut TOP 8 Weltweite Lage der Religions- und Glaubensfreiheit TOP 9 Gesundheitsförderung und Prävention TOP 10 Armuts- und Reichtumsberichterstattung TOP 11 Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika TOP 12 Investitionen in die Wissenschaft TOP 13 Sicherung des UNESCO-Weltkulturerbes TOP 14 Herkunft von Konfliktrohstoffen und Menschenrechte TOP 15 Bilanzrichtlinie-Umsetzungsgesetz TOP 16 Schutz von Whistleblowern TOP 17 Entwicklungsfinanzierung TOP 18 Solidaritätszuschlag TOP 19 Deutsches Institut für Menschenrechte TOP 20 Aufwertung der Sozial- und Erziehungsdienste TOP 21 Internationaler Jugend- und Schüleraustausch TOP 23 Internationale Rechtshilfe in Strafsachen TOP 24 Strafprozessrecht (Abwesenheitsentscheidungen) TOP 25 Internationale Rechtshilfe bei Freiheitsentzug TOP 26 Entwicklungspolitische Chancen der Urbanisierung TOP 27 Übereinkommen über Amtshilfe in Steuersachen Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1811200000

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich zu unserer Plenarsitzung.

Ich darf Sie auf einige Vereinbarungen zur Erweite-
rung bzw. Umstellung unserer Tagesordnung aufmerk-
sam machen. Sie finden die Erweiterungsvorschläge in
der Zusatzpunkteliste:

ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Petzold (Havelland), Sigrid Hupach, Jan Korte,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Ehe für gleichgeschlechtliche Paare – Der
Entschließung des Bundesrates folgen

Drucksache 18/5205
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-
fahren


(Ergänzung zu TOP 36)


Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Claudia Roth (Augsburg), Uwe
Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Menschenrechte in der neuen Nachhaltig-
keits- und Entwicklungsagenda der Verein-
ten Nationen stärken

Drucksache 18/5208
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:

Äußerungen der EU-Kommission über die
Einleitung eines Vertragsverletzungsverfah-
rens zur Pkw-Maut

ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
DIE LINKE:

Rolle des Bundes beim Tarifkonflikt bei der
Deutschen Post AG

Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratun-
gen, soweit erforderlich, abgewichen werden.

Die Tagesordnungspunkte 6 b – hier geht es um die
Beschlussfassung über zwei Anträge zur Entlastung
bzw. Stärkung von Alleinerziehenden –, 22 – hier geht es
um die Änderung des Weingesetzes – und 35 – hier geht
es um die abschließende Beratung des Bürokratieentlas-
tungsgesetzes sowie die Beschlussfassung über den An-
trag mit dem Titel „Bürokratie gezielt abbauen statt Still-
stand manifestieren“ – sollen abgesetzt werden.

Schließlich mache ich noch auf eine nachträgliche
Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunkte-
liste aufmerksam:

Der am 21. Mai 2015 (106. Sitzung) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus-
schuss für Wirtschaft und Energie (9. Ausschuss) zur
Mitberatung überwiesen werden:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Protokollerklärung zum Gesetz zur
Anpassung der Abgabenordnung an den Zoll-
kodex der Union und zur Änderung weiterer
steuerlicher Vorschriften

Drucksache 18/4902
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Ich frage Sie, ob Sie mit diesen Veränderungen bzw.
Vereinbarungen einverstanden sind. – Das ist offensicht-
lich der Fall. Also können wir so verfahren.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:

Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin

zum Europäischen Rat am 25./26. Juni 2015
in Brüssel

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung 96 Minuten vorgesehen. – Auch dazu höre und sehe
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Merkel.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1811200100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Vor anderthalb Wochen ha-
ben wir beim G-7-Gipfel in Elmau über die globalen He-
rausforderungen unserer Zeit beraten. Wir haben wich-
tige Beschlüsse gefasst: Das gilt für den Klimaschutz.
Das gilt für die Stärkung der weltweiten Gesundheitssys-
teme, und das gilt für den Kampf gegen Hunger und
Mangelernährung, um nur einige wenige Beispiele zu
nennen.

Jetzt gilt es, an der Umsetzung dieser Beschlüsse wei-
terzuarbeiten:


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das stimmt! Das wäre mal was!)


im Kreise der G 7, aber auch im Rahmen der G 20, in
den Vereinten Nationen und in der Europäischen Union;
denn auch in der Europäischen Union stehen wir vor
enormen inneren wie äußeren Herausforderungen, die
alle mehr oder weniger gleichzeitig bewältigt werden
müssen.

Der Europäische Rat wird sich in der kommenden
Woche gleich mit mehreren dieser Herausforderungen
beschäftigen. Da ist zum einen die Migrations- und
Flüchtlingspolitik. Das Flüchtlingshilfswerk der Verein-
ten Nationen geht davon aus, dass seit Jahresbeginn
mehr als Hunderttausend Menschen den Versuch unter-
nommen haben, über das Mittelmeer nach Europa zu ge-
langen.

Die Tragödien, die sich dabei immer wieder abspie-
len, machen uns alle zutiefst betroffen. Deshalb waren
wir uns im April dieses Jahres beim Sondertreffen der
Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union ei-
nig, dass alles, aber auch wirklich alles getan werden
muss, um Menschenleben zu retten. Dazu haben wir uns
auf eine umfassende Gesamtstrategie verständigt, die an
vielen Stellen gleichzeitig ansetzt.

Die mit Abstand dringlichste Aufgabe ist die Verbes-
serung der Seenotrettung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die finanziellen Mittel für die von Frontex geführten
Mittelmeeroperationen Triton und Poseidon haben wir
verdreifacht. Frontex hat Ende Mai beschlossen, auch
das Einsatzgebiet von Triton zu erweitern. Wir haben
sehr kurzfristig zusätzliche Einsatzkräfte zur Verfügung
gestellt, um schneller mit Hilfe vor Ort zu sein. Auch
Deutschland hat hierzu einen wichtigen Beitrag geleis-
tet. Mein ausdrücklicher Dank gilt den Besatzungen der
beiden deutschen Marineschiffe, die in wenigen Wochen
fast 4 000 Menschen aus akuter Seenot retten konnten.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Doch die gesamteuropäische Verantwortung endet
nicht bei der Seenotrettung. Auch bei der Aufnahme von
Flüchtlingen sollte Solidarität zwischen den Mitglied-
staaten eine Selbstverständlichkeit sein. Es kann nicht
sein, dass drei Viertel aller Asylbewerber von nur fünf
Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufgenommen
werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Alle Mitgliedstaaten stehen in der Verantwortung, sich
in angemessenem Umfang an der Aufnahme von Flücht-
lingen zu beteiligen.

Solidarität und Verantwortung müssen Hand in Hand
gehen. Die Europäische Kommission hat hierzu Vor-
schläge vorgelegt. Wie die Beratungen der Innenminister
in dieser Woche gezeigt haben, wird es noch vertiefter
Diskussionen bedürfen, um im Kreis der Mitgliedstaaten
hierzu eine Einigung zu erzielen.

Deutschland ist weiterhin bereit, seinen Beitrag zu
leisten. Aber wir machen auch unmissverständlich klar,
dass alle Mitgliedstaaten das gemeinsame europäische
Asylsystem gleichwertig umsetzen und anwenden müs-
sen. Wir brauchen gleichwertige EU-weite Standards bei
der Aufnahme und bei den Asylverfahren.

Gleichzeitig werden wir weiter daran arbeiten, effek-
tiver gegen Schlepperbanden vorzugehen. Auch hierzu
haben wir im April Beschlüsse gefasst, die jetzt im Ein-
klang mit dem Völkerrecht umgesetzt werden müssen.

Darüber hinaus müssen wir weiter die Ursachen von
Flucht und Vertreibung bekämpfen, auch wenn dies, wie
wir alle wissen, einen sehr langen Atem erfordert. Die
Bundesregierung wird in den nächsten Jahren 8,3 Mil-
liarden Euro mehr für Entwicklungshilfe ausgeben. Das
ist ein Beitrag genau zur Bekämpfung von Fluchtursa-
chen. Aber das reicht natürlich nicht aus. Die Zusam-
menarbeit mit den Herkunfts- und Transitstaaten ist ent-
scheidend. Es geht darum, die dortigen Lebensumstände
zu verbessern. Aber es geht auch darum, die Rückfüh-





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)


rung von Migranten ohne Bleiberecht zu beschleunigen
und so die Anreize für irreguläre Migration zu reduzie-
ren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir wollen im Herbst unsere afrikanischen Partner
nach Malta zu einem Gipfeltreffen mit den Staats- und
Regierungschefs der Europäischen Union einladen, um
über gemeinsame Ansätze zu beraten. Mitverantwortlich
für Flucht und Vertreibung, Schleuserkriminalität und
Menschenhandel ist die instabile Lage in Libyen und
vielen anderen Herkunfts- und Transitstaaten. Sie wird
darüber hinaus von Terrorgruppen für ihre verbrecheri-
schen Zwecke ausgenutzt. Der Terrorismus ist eine Gei-
ßel für die Millionen Menschen, die in den Konfliktge-
bieten Syrien und Irak leben, und er bedroht auch uns in
Europa. Die abscheulichen Anschläge von Paris und Ko-
penhagen haben uns das Anfang des Jahres einmal mehr
schrecklich vor Augen geführt.

Hinzu kommt, dass sich viele junge Europäer aufsei-
ten terroristischer Gruppierungen an den Konflikten in
Syrien und Irak beteiligen. Sie tragen damit aktiv zur
Destabilisierung der Region bei, und sie bedrohen im
Falle ihrer Rückkehr unsere eigene innere Sicherheit.

Wir werden uns deshalb in der kommenden Woche im
Europäischen Rat mit der Umsetzung der Beschlüsse be-
fassen, die wir im Februar als Reaktion auf die An-
schläge in Paris getroffen haben. Dazu gehören der kon-
krete Schutz der Bürgerinnen und Bürger, Maßnahmen
gegen Radikalisierung und die Zusammenarbeit mit un-
seren internationalen Partnern. Wir müssen sicherstellen,
dass die innere und die äußere Dimension der europäi-
schen Sicherheitspolitik sinnvoll ineinandergreifen. Des-
halb wollen wir beim Europäischen Rat nicht nur eine
neue Strategie zur inneren Sicherheit beschließen. Wir
werden auch eine Bestandsaufnahme der Gemeinsamen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik vornehmen. Sie
steht ausdrücklich nicht in Konkurrenz, sondern in be-
wusster und klarer Ergänzung zur NATO. Das zeigen
nicht zuletzt die mehr als 30 Einsätze, mit denen die Eu-
ropäische Union seit 2003 erfolgreich zur Wahrung von
Sicherheit, Frieden und Stabilität beigetragen hat.

Gleichzeitig hat sich aber in dieser Zeit das sicher-
heitspolitische Umfeld, in dem wir uns als Europäische
Union bewegen, stark verändert. Unverändert große
Sorge bereitet uns die Lage in der Ukraine. Ebenso un-
verändert bin ich zutiefst davon überzeugt, dass dieser
Konflikt nur politisch gelöst werden kann. Das Minsker
Maßnahmenpaket setzt hierfür klare Wegmarken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


Beim Europäischen Rat im März haben wir vereinbart,
die Sanktionen gegen Russland zu verlängern und eng
mit der Umsetzung des Minsker Pakets zu verknüpfen.
Russland muss zeigen, dass es den darin enthaltenen
Verpflichtungen nachkommt.

Neben der Lage in der Ukraine zeigen uns aber auch
die Entwicklungen in Nordafrika sowie im Nahen und
Mittleren Osten, dass die außen- und sicherheitspoliti-
schen Krisen näher an unsere, an die europäischen Gren-
zen heranrücken. Deshalb werden wir uns beim Europäi-
schen Rat auch damit befassen, wie wir die Europäische
Sicherheitsstrategie, die seit 2003 die Grundlage für das
Außenhandeln der Europäischen Union bildet, an die
veränderten Gegebenheiten anpassen können.

Neben den vielen außen- und sicherheitspolitischen
Krisen hat Europa erhebliche innere Herausforderungen
zu bewältigen. So ist offensichtlich, dass in einer Wäh-
rungsunion die Koordinierung der von den Mitgliedstaa-
ten betriebenen Wirtschaftspolitik eine zentrale Rolle
spielt. Im Kern geht es darum, die besondere Konstruk-
tion der Euro-Zone dauerhaft zum Erfolg zu führen: auf
der einen Seite eine gemeinsame Geldpolitik, aber auf
der anderen Seite Mitgliedstaaten, die für ihre Wirt-
schaftspolitik weitgehend selbst verantwortlich sind. Der
Europäische Rat hat daher im Dezember des letzten Jah-
res die Präsidenten der Europäischen Kommission, des
Euro-Gipfels, der Euro-Gruppe und der Europäischen
Zentralbank beauftragt, dem Europäischen Rat im Juni
über die Bedeutung der wirtschaftspolitischen Koordi-
nierung für das reibungslose Funktionieren der Wirt-
schafts- und Währungsunion zu berichten.

Deutschland und Frankreich werden beim Europäi-
schen Rat gemeinsam dafür werben, sich bei der Fortent-
wicklung der Wirtschafts- und Währungsunion zunächst
auf Maßnahmen zu konzentrieren, die im Rahmen der
bestehenden Verträge umgesetzt werden können. Dazu
gehört insbesondere eine weitere Stärkung der bereits
stattfindenden wirtschaftspolitischen Koordinierung im
Rahmen des Europäischen Semesters. Das ist ein erster
Schritt in die Richtung, dass die länderspezifischen
Empfehlungen in diesem Jahr konkreter formuliert sind
als in den Vorjahren. Ich finde es sehr gut, dass die Kom-
mission das so gemacht hat. Weitere Schritte können und
müssen jedoch folgen. Davon sind Deutschland und
Frankreich überzeugt.

Wir wollen, dass sich die wirtschaftspolitische Koor-
dinierung auf diejenigen Politikbereiche konzentriert,
die für das Funktionieren der Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion entscheidend sind. Wir wollen einen qualita-
tiv neuen Prozess zwischen der europäischen Ebene und
den einzelnen Mitgliedstaaten, einen Prozess, der zu
konkreten und im jeweiligen Mitgliedstaat zu demokra-
tisch legitimierten Umsetzungsmaßnahmen führt. Das
übergreifende gemeinsame Ziel von Deutschland und
Frankreich ist, Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und
Beschäftigung zum Wohle der Menschen in Europa
möglichst schnell weiter zur stärken.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dazu müssen zum einen die Strukturreformen in den
Mitgliedstaaten fortgesetzt werden. Zum anderen müs-
sen gleichzeitig nationale Anstrengungen bestmöglich
durch europäische Anstrengungen begleitet und unter-
stützt werden.





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)


Ein Beispiel dafür ist die Digitale Agenda. Gerade für
Deutschland als Industrienation bietet die Digitalisie-
rung enorme Chancen. Sie stellt uns aber auch vor zahl-
reiche Herausforderungen, die wir europäisch deutlich
besser lösen können als alleine. Dazu gehören der Netz-
ausbau, die Netzneutralität, der Schutz des geistigen Ei-
gentums und nicht zuletzt der Datenschutz. Ich begrüße
sehr, dass sich die Innenminister in dieser Woche auf
eine Datenschutz-Grundverordnung geeinigt haben. Da-
mit werden ein europaweit hohes Schutzniveau für die
Bürgerinnen und Bürger und Rechtssicherheit für die
Unternehmen geschaffen. Jetzt wird es darum gehen, die
Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament zügig
zum Abschluss zu bringen, damit dieses Ziel auch wirk-
lich erreicht werden kann.

Genau dasselbe gilt auch für das sogenannte EU-Tele-
kommunikationspaket. Auch hier brauchen wir rasche
Fortschritte; denn nur durch die Schaffung eines echten
digitalen Binnenmarkts wird es uns gelingen, auch in
Europa einen Heimatmarkt für starke digitale Player zu
schaffen, die sich mit ihren Innovationen weltweit dann
auch durchsetzen können. Wir müssen also die Vorteile
des europäischen Binnenmarkts auf den digitalen Markt
ausdehnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ein zweites Vorhaben, von dem wir uns wichtige
wirtschaftliche Impulse versprechen, ist das Transatlan-
tische Freihandelsabkommen zwischen Europa und den
USA. Unser Ziel ist und bleibt es, hierfür bis Ende 2015
den politischen Rahmen festzulegen. Wir haben deshalb
beim G-7-Gipfel mit Präsident Obama vereinbart, die
Arbeit an allen Themen umgehend zu beschleunigen, um
baldmöglichst Einvernehmen über die Grundzüge eines
solchen Abkommens zu erzielen.

Meine Damen und Herren, wann immer wir in der
Europäischen Union über mehr Wettbewerbsfähigkeit
sprechen, ist das Vereinigte Königreich ein natürlicher
Verbündeter. Das ist ein Grund, aber bei weitem nicht
der einzige, weshalb ich mir Großbritannien weiterhin
als aktiven Partner in einer starken Europäischen Union
wünsche.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zunächst einmal ist es selbstverständlich die Ent-
scheidung Großbritanniens selbst, sich darüber klar zu
werden, welche Rolle es in Europa spielen will. Damit
umzugehen, ist dann eine Angelegenheit, die alle EU-
Partner betrifft. Wir werden deshalb beim Europäischen
Rat Präsident Tusk beauftragen, diesen Prozess in die
Hand zu nehmen. Ich erwarte nicht, dass es schon beim
Europäischen Rat in der kommenden Woche eine ver-
tiefte inhaltliche Auseinandersetzung mit konkreten bri-
tischen Anliegen geben wird. Ich werde aber dafür wer-
ben, dass, wenn der Zeitpunkt für diese vertiefte
Diskussion gekommen sein wird, wir uns ernsthaft und
gewissenhaft mit den Anliegen Großbritanniens aus-
einandersetzen. Das steht nicht im Widerspruch dazu,

dass dabei Grundprinzipien der europäischen Integration
wie das Prinzip der Freizügigkeit und das Prinzip der
Nichtdiskriminierung nicht zur Disposition stehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist im Übrigen nicht das erste Mal, dass ein Mit-
gliedstaat Klärungsbedarf bezüglich seiner Rolle in der
Europäischen Union sieht. Ein Blick zurück in die Ge-
schichte der europäischen Integration zeigt, dass es am
Ende noch jedes Mal gelungen ist, gute und einvernehm-
liche Lösungen zu finden. Das war 1992 für Dänemark
der Fall genauso wie 2008 für Irland. Ich bin zuversicht-
lich, dass uns das auch dieses Mal gelingen kann.

Nicht auf der Tagesordnung des Europäischen Rates,
zu dem ich heute diese Regierungserklärung abgebe,
steht Griechenland. Ich kann und ich will auch den Fi-
nanzministern, die heute Abend in der Euro-Gruppe zu-
sammenkommen, nicht vorgreifen. Ich möchte deshalb
nur ein paar grundsätzliche Sätze dazu sagen.

Seit Beginn der europäischen Staatsschuldenkrise
verfolgt Deutschland ein klares Ziel: Europa soll stärker
aus der Krise hervorgehen, als es in sie hineingekommen
ist. Auf diesem Weg sind wir weit vorangekommen. Wie
weit, das lässt sich auch daran ablesen, dass Europa
heute ganz anders mit der gegenwärtigen Lage in Grie-
chenland fertig wird, als das vor fünf Jahren, zu Beginn
unserer Reformmaßnahmen, der Fall gewesen wäre.


(Zuruf des Abg. Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das wird in diesen Tagen durchaus von vielen aner-
kannt.

Europa ist also – das ist unstrittig – robuster gewor-
den, und das liegt auch daran, dass wir bei allem, was
wir für die jeweils von der Krise betroffenen Länder ge-
tan haben und weiter tun, immer auch das Ganze im
Blick hatten und haben, und das ist die Europäische
Wirtschafts- und Währungsunion. Es geht dabei immer
um zweierlei – beides bedingt einander –: zum einen da-
rum, das zu beachten, was den Euro in den letzten fünf
Jahren stärker und robuster gegen Krisen gemacht hat
– das sind Reformen nach dem Prinzip „Leistung gegen
Gegenleistung, Solidarität gegen Eigenverantwortung“ –,
zum anderen darum, zu beachten, dass der Euro und die
Idee derer, die ihn erfunden haben, immer weit mehr war
als eine Währung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Entscheidung für eine gemeinsame Währung in
Europa stand und steht symbolisch für die Idee der euro-
päischen Einigung wie keine andere europäische Ent-
scheidung.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hoffentlich weiß das Ihre Fraktion!)


Deshalb war und ist es richtig und unverzichtbar, dass
wir alle Schritte, auch die zur Lage in Griechenland,





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)


stets sehr genau überlegt haben und weiter sehr genau
überlegen. Griechenland ist in den letzten fünf Jahren
ein beispielloses Maß an europäischer Solidarität zuteil-
geworden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Ach!)


Griechenland ist nicht das einzige Land in der Euro-
Zone, das in den letzten Jahren auf europäische Unter-
stützung angewiesen war. Dabei galt immer der Grund-
satz: Hilfe im Gegenzug für eigene Anstrengungen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Widerspruch bei der LINKEN)


Anders als in Griechenland haben Irland, Spanien und
Portugal ihre Hilfsprogramme inzwischen erfolgreich
abgeschlossen und stehen wieder auf eigenen Beinen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Auch Zypern ist auf einem guten Weg. Diese Länder ha-
ben ihre Chance genutzt. Sie haben durch schmerzhafte
Strukturreformen die Grundlage für neues Wachstum,
für neue Wettbewerbsfähigkeit und neue Arbeitsplätze
geschaffen, auch wenn der Weg dahin nicht einfach war
und die Länder auch heute noch mit den Folgen der er-
forderlichen Anpassungen zu kämpfen haben.

Ich füge hinzu: Auch Griechenland war bereits auf ei-
nem guten Weg;


(Zurufe von der LINKEN)


aber abgeschlossen war dieser Weg noch lange nicht.
Immer wieder jedoch wurden leider einige notwendige
Strukturreformen verschleppt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Diese Reformen sind aber nicht nur Voraussetzung da-
für, dass das zweite Programm erfolgreich abgeschlos-
sen werden kann, sondern sie sind auch Voraussetzung
dafür, dass die Hilfe zur Selbsthilfe nachhaltige Wirkung
zeigen kann.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


In der Wirtschafts- und Währungsunion gehen Eigen-
verantwortung und Solidarität Hand in Hand.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: „Solidarität“ sagen Sie?)


In diesem Geiste haben sich die Finanzminister in der
Euro-Gruppe am 20. Februar 2015 mit der griechischen
Regierung auf eine Grundlage für die weiteren Arbeiten
geeinigt.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Finanzpolitischer Massenmord!)


Diese Vereinbarung sollte es der griechischen Regierung
erlauben, im Rahmen des laufenden Programms und auf

der Grundlage der darin enthaltenen Bedingungen ihre
eigenen Schwerpunkte zu setzen.

Die griechische Regierung hat sich in dieser Verein-
barung zu umfassenden Strukturreformen verpflichtet.
Diese müssen jetzt entschlossen angegangen werden.
Die Europäische Kommission, die Europäische Zentral-
bank und der Internationale Währungsfonds müssen dies
bestätigen. Darüber hinaus bekräftigt die griechische Re-
gierung in der Vereinbarung vom 20. Februar 2015 – ich
zitiere – „ihre eindeutige Zusage, ihre finanziellen Ver-
pflichtungen gegenüber all ihren Gläubigern vollständig
und fristgerecht zu erfüllen“.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, es bleibt dabei, die Bemü-
hungen Deutschlands sind darauf gerichtet, dass Grie-
chenland in der Euro-Zone bleibt. Wir wollen, dass die
Menschen in Griechenland wie die Menschen in Irland,
Spanien, Portugal und Zypern die Perspektive auf eine
bessere Zukunft erhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Ich bin unverändert überzeugt: Wo ein Wille ist, ist
auch ein Weg.


(Zuruf von der LINKEN: Das stimmt!)


Wenn die politisch Verantwortlichen in Griechenland
diesen Willen aufbringen, dann ist eine Einigung mit den
drei Institutionen immer noch möglich.


(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Genau!)


Sie wäre die notwendige Grundlage für die anschließen-
den Entscheidungen in der Euro-Gruppe genauso wie
auch hier im Deutschen Bundestag.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen,
meine Damen und Herren, wir alle spüren es: Die Euro-
päische Union steht vor einer Vielzahl zum Teil gra-
vierender äußerer und innerer Herausforderungen.
Deutschland wird weiter hart dafür arbeiten, diese He-
rausforderungen zu meistern, und zwar im europäischen
Geist und in gewohnter enger Zusammenarbeit mit
Frankreich wie mit allen anderen europäischen Partnern.

Herzlichen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1811200200

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält der Kol-

lege Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN – Thomas Oppermann [SPD]: Abschiedsrede?)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811200300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun-

deskanzlerin, Sie haben zu Beginn über die Flüchtlinge
gesprochen. Wegen der Begrenztheit meiner Zeit will ich





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)


dazu nur zwei, drei Sätze sagen. Erstens. Ich glaube, in
Anbetracht unserer Geschichte wissen wir alle, dass wir
verpflichtet sind, Flüchtlinge ausschließlich anständig zu
behandeln, in jeder Hinsicht.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Zweite. Was mich freut, ist, dass es aus Solidarität
mit den Flüchtlingen am 20. Juni eine große Demonstra-
tion in Berlin geben wird, um zu erreichen, dass wir end-
lich anders mit ihnen umgehen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein dritter Hinweis. Wir dürfen nicht nur über Verteilung
und Bedingungen reden; wir müssen endlich auch ein-
mal über die Fluchtursachen und darüber reden, wie man
Kriege, Not, Hunger und Elend auf der Welt beseitigen
kann; das wäre das Entscheidende.


(Beifall bei der LINKEN – Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: Machen wir doch!)


Lassen Sie mich etwas zur Ukraine-Krise und zu den
Beziehungen der Europäischen Union zu Russland sa-
gen. Minsk II war eine Hoffnung, ist aber akut gefährdet.
Die Kämpfe in der Ostukraine flammen wieder auf.
Aber es ist folgendes Interessante zu beobachten: Die
OSZE-Leute, die dort eingesetzt sind, insbesondere die
Schweizer Botschafterin Heidi Grau, sagen: Beide Sei-
ten suchen eine militärische Lösung. Beide Seiten verlet-
zen das Abkommen Minsk II.


(Unruhe)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1811200400

Einen Augenblick, bitte, Herr Gysi.

Es wäre ganz schön, wenn diejenigen, die jetzt tat-
sächlich oder vermeintlich Dringenderes vorhaben, das
auch möglichst geräuschlos realisieren würden, sodass
die notwendige Aufmerksamkeit im Plenum erhalten
bleibt.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das Mikro ist zu leise!)


– Das steuern wir noch einmal nach; okay.

Bitte.


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811200500

Sagen Sie im Ernst, Herr Präsident, ich sei bisher

nicht zu verstehen gewesen? Dann muss ich ja alles wie-
derholen.


(Heiterkeit – Volker Kauder [CDU/CSU]: Bitte!)


– Nein, nein, ich weiß, Herr Kauder.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1811200600

Mindestens unsere Protokollführer haben alles mitbe-

kommen. Es bleibt erhalten.


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811200700

Alles klar. Aber ob das reicht, Herr Präsident?

Noch zu diesem Konflikt. Die OSZE-Beobachter, ins-
besondere die Schweizer Botschafterin Grau, sagen also:
Beide Seiten verletzen das Abkommen. Beide Seiten
sind schuld. – Und was sagt meine Regierung? Was
sagen Sie, Frau Bundeskanzlerin? Immer nur: Die rus-
sische Seite ist schuld. – Ich habe noch nie Kritik an
der ukrainischen Regierung, an dem Präsidenten
Poroschenko gehört, sondern nur an Putin. Diese Einsei-
tigkeit – das will ich ganz klar sagen – können wir uns
nicht leisten.


(Beifall bei der LINKEN – Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Auf wessen Territorium wird gekämpft, Herr Gysi?)


– Hören Sie zu! – Es gibt nur Sanktionen gegen Russ-
land. Es gibt nur Einreiseverbote und Vermögenssperren
für Russen, niemals irgendwelche Maßnahmen gegen
die Ukraine.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Auf wessen Territorium wird denn gekämpft?)


Natürlich ärgere ich mich darüber, wenn deutsche Politi-
ker jetzt nicht mehr nach Russland reisen können. Aber
vielleicht sollten wir als Erstes das Einreiseverbot für
den Präsidenten des russischen Parlaments aufheben, ge-
rade für Deutschland.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich sage Ihnen noch etwas: Wenn Sie vermitteln wol-
len, Frau Bundeskanzlerin, dann müssen Sie beide Sei-
ten verstehen und auch beide Seiten kritisieren. Die Ein-
seitigkeit muss endlich überwunden werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Natürlich weiß ich, dass Russland die Krim völker-
rechtswidrig vereinnahmt hat. Ich weiß, dass das nicht
die Ukraine war, sondern Russland. Ich sehe sehr wohl
diesen Unterschied. Aber ich muss Ihnen auch sagen:
Deutschland hat das Völkerrecht beim Jugoslawien-
Krieg gebrochen, mit anderen Ländern zusammen. Die
USA und andere Länder haben das Völkerrecht beim
Irakkrieg gebrochen. Wir sind ja hier nur noch von Völ-
kerrechtsverletzern umgeben; das ist das Problem. Wir
müssen wieder zurückkehren zum Völkerrecht.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir dürfen nicht vergessen: Für Russland ist die Eu-
ropäische Union der wichtigste Handelspartner. 50 Pro-
zent seines Handels betreibt Russland mit der EU. Jetzt
beginnt Russland, sich auf Asien und Lateinamerika zu
konzentrieren. Möglicherweise gibt es sogar einen posi-
tiven Nebeneffekt, weil die Russen anfangen, die Pro-
duktion zu entwickeln, um nicht ganz einseitig von Roh-
stoffen abhängig zu sein. Aber die NATO und vor allem
die USA wollen Osteuropa aufrüsten. All das eskaliert.
Nun regen sich Außenminister Kerry, Außenminister
Steinmeier und andere darüber auf, dass es Pläne Russ-
lands für die Modernisierung der Atomwaffen gibt. Ich
verstehe die Aufregung, aber ich sage Ihnen klipp und
klar: Angesichts der Aufrüstung Osteuropas war doch





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)


mit einer solchen Antwort zu rechnen. Wenn man russi-
sche Manöver nicht will, muss man die eigenen Manö-
ver einstellen. Was soll eigentlich dieser gegenseitige
Aufrüstungswahnsinn?


(Beifall bei der LINKEN)


Wir alle sollten eines nicht vergessen: die ungeheuren
Leistungen des russischen Volkes im Zweiten Weltkrieg
und im Kampf gegen die Nazidiktatur.


(Zuruf des Abg. Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir sollten auch nicht vergessen, dass Russland das
größte und militärisch stärkste Land Europas ist, über
zahlreiche Atomwaffen verfügt, ständiges Mitglied des
UN-Sicherheitsrates mit Vetorecht ist. Bei einem sol-
chen Land brauchen wir auf gar keinen Fall Eskalation,
sondern endlich Deeskalation; denn Frieden und Sicher-
heit in Europa gibt es nicht ohne, geschweige denn ge-
gen Russland.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Lassen Sie mich etwas zu Griechenland sagen, um
hier endlich einmal mit bestimmten Verzerrungen und
Unwahrheiten aufzuräumen.


(Beifall der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])


Erstens. Der größte Fehler bestand darin, die Banken
in Griechenland nicht pleitegehen zu lassen, ihnen über
eine Neuverschuldung des Landes Geld hinterherzuwer-
fen. Bei einer Bankenpleite hätte man den Bürgerinnen
und Bürgern Griechenlands und auch den kleinen und
mittleren Unternehmen ihre Guthaben erstatten können.
Die Großgläubiger hätten eben Pech gehabt. Sie haben
sich verzockt. „Na und?“, kann ich nur sagen. Zu den
Großgläubigern gehörten auch französische und deut-
sche Banken. Die sind alle befriedigt worden. Nicht die
Griechinnen und Griechen haben das Geld bekommen,
sondern nur die Banken. Ich muss einmal sagen: In
Deutschland können die Bürgerinnen und Bürger und
die kleinen und mittleren Unternehmen nur davon träu-
men, dass die Bundesregierung kommt und ihre Schul-
den bezahlt. Nur die Banken können sich darauf verlas-
sen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist ja ganz egal, wie viel Schulden sie machen, immer
bezahlen wir alle dafür.

Zweitens. Das letzte Mal, dass an Griechenland Geld
geflossen ist – das muss man auch einmal sagen –, war
im August 2014. Da gab es die jetzige Regierung noch
gar nicht. Aber die jetzige Regierung hat schon über
7 Milliarden Euro an Schulden zurückgezahlt; das ist die
Wahrheit. Wer hat überhaupt das Ganze angerichtet? Das
waren die Schwester- und Bruderparteien von CDU,
CSU und SPD in Griechenland, nämlich die Konservati-
ven und die Sozialdemokraten. Das muss man auch ein-
mal klar sagen.


(Beifall bei der LINKEN)


Drittens. Die Troika hat Auflagen erteilt und dramati-
sche Kürzungen gefordert. Was war das Ergebnis? Die
Diktate führten Griechenland in eine tiefe soziale und
wirtschaftliche Krise, sie führten zu einem Zusammen-
bruch des Gesundheitssystems, zu einem Anstieg der
Arbeitslosigkeit auf 25 Prozent, der Jugendarbeitslosig-
keit auf über 50 Prozent, zu Armut, zur Senkung der
Einkommen um ein Drittel, zur Kürzung der Renten, zur
Kürzung der Investitionen. Diese Krise war allerdings
kaum Resultat der griechischen Politik, sondern in erster
Linie Resultat der Politik der Troika, hinter der sich ja
auch die Bundesregierung versteckt; das ist doch die
Wahrheit.


(Beifall bei der LINKEN)


Was ist das Ergebnis? Ein Anstieg der Schulden von
127 Prozent auf heute 176 Prozent der Wirtschaftsleis-
tung, also alles gar nicht machbar. Frau Merkel, Herr
Gabriel und Herr Schäuble, auch Sie müssen doch end-
lich einmal eines begreifen: Die Mehrheit der Griechin-
nen und Griechen hat in einer demokratischen Wahl
diese Politik abgewählt.


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Die bereuen das aber! – Max Straubinger [CDU/ CSU]: Und die Schulden? Davon sind die Schulden nicht verschwunden!)


Sie verlangen aber, dass die neue Regierung, die nicht
mehr von Ihren Schwester- und Bruderparteien gestellt
wird,


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Mit den extremen Rechten zusammen! Sagen Sie da mal was zu!)


die den ganzen Schlamassel angerichtet haben, die Poli-
tik der Vorgängerregierung übernimmt.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Mit den Ultrarechtsaußen eine Regierung bilden!)


Begreifen Sie denn nicht, dass Sie die Demokratie ge-
fährden?


(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der CDU/CSU)


Ich werde Ihnen auch sagen, warum. Sie sagen den Leu-
ten:


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ach! Die Koalition mit den extremen Rechten ist in Ordnung! Ganz neue Töne von Ihnen!)


Ihr könnt wählen, wen Ihr wollt, es spielt überhaupt
keine Rolle; wir sorgen dafür, dass die bisherige Politik
fortgesetzt wird. Da fragen sich die Griechinnen und
Griechen, warum sie überhaupt anders gewählt haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Das geht nicht. Sie müssen den Wechsel akzeptieren.


(Beifall bei der LINKEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Sagen Sie mal was zu den Nazis in der griechischen Regierung!)






Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)


Viertens. Viele fragen sich, warum die Regierung in
Griechenland nicht längst die reichen Griechinnen und
Griechen angemessen besteuert und das Hinaustragen
des Euro aus Griechenland wegen der Grexit-Diskussion
nicht unterbindet. Ich habe mich das auch gefragt. Aber
stimmt es denn, Herr Schäuble, dass die Troika, Sie und
andere Finanzminister für den Fall der Besteuerung der
Reichen und des Verbotes des Heraustragens des Euro
mit dem Abbruch der Gespräche gedroht haben,


(Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister: Nein!)


und zwar mit der Begründung, dass das nur im Komplex
ginge


(Zurufe von der LINKEN: Aha!)


und nicht eine einzelne Maßnahme vorher getroffen wer-
den darf?


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da hat die Regierung gestern anders unterrichtet! Da hätten Sie zuhören müssen!)


Das wäre – das muss ich Ihnen sagen – unverantwort-
lich, weil es höchste Zeit wird, die reichen Griechinnen
und Griechen angemessen zu besteuern und das Heraus-
tragen des Euro zu verhindern.


(Beifall bei der LINKEN – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wurde gestern ausdrücklich anders gesehen!)


Fünftens. Die griechische Regierung ist zum Sparen
bereit, nur nicht dort, wo Sie es gerne hätten. Das ist das
Problem. Entgegen der Darstellung hat sie alle Rüs-
tungsprogramme eingefroren. Übrigens hat unsere Rüs-
tungsindustrie kräftig an den Programmen verdient.
10 Prozent aller Rüstungsexporte von 1974 bis 2009 gin-
gen nach Griechenland, und zwar verbunden mit vielen
Bestechungsgeldern. Und plötzlich werfen wir der Re-
gierung vor, dass sie sie aufgelegt hat. Das ist doch gera-
dezu abenteuerlich.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich bin sehr dafür, die Rüstung abzubauen, aber dann
müssen Sie das auch unterstützen.

Sechstens. Jetzt zu den dreisten Behauptungen über
die angeblich so reichen griechischen Rentnerinnen und
Rentner. Hier die Fakten: Es gibt rund 2,6 Millionen
Rentnerinnen und Rentner in Griechenland. 60 Prozent
von ihnen bekommen eine Rente von weniger als
700 Euro. Die Berufsunfähigkeitsrenten liegen zwischen
250 und 540 Euro.

Herr Bosbach, Sie behaupten bei Herrn Jauch, dass
das durchschnittliche Renteneintrittsalter in Griechen-
land bei 56,3 Jahren und in Deutschland bei 64 Jahren
läge. Sie sagen aber nicht: Die 64 Jahre stimmen nur für
den öffentlichen Dienst, aber nicht für die gesamte Ge-
sellschaft. Also nehmen wir die Berechnung der OECD.
Die ist sehr viel ehrlicher. Die OECD sagt für das Jahr
2012 Folgendes: Das durchschnittliche Renteneintrittsal-
ter bei Männern in Griechenland lag bei 61,9 Jahren und
in Deutschland bei 61,2 Jahren. Bei Frauen lag das

durchschnittliche Renteneintrittsalter in Griechenland
bei 60,3 Jahren und in Deutschland bei 61 Jahren. Es
gibt kaum einen Unterschied. Tsipras hat darauf hinge-
wiesen. Heute liegt das Renteneintrittsalter in Griechen-
land bei 64,4 Jahren bei Männern und bei 64,5 Jahren
bei Frauen. Das ist die Wahrheit. Deshalb sage ich Ih-
nen, Herr Bosbach: Wir brauchen dieses Bild-Zeitungs-
niveau nicht. Hören Sie auf, Griechenland und seine Be-
völkerung so zu diskriminieren.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der LINKEN: Bravo!)


Das geht nicht.

Siebtens. Nun zum Ausstieg Griechenlands aus dem
Euro, also Grexit.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1811200800

Herr Kollege Gysi, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811200900

Ja, gerne.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1811201000

Frau Kollegin Baehrens, bitte schön.


Heike Baehrens (SPD):
Rede ID: ID1811201100

Herr Gysi, aus der Mitte Ihrer Fraktion gab es wäh-

rend der Regierungserklärung von Frau Bundeskanzlerin
Merkel einen Zwischenruf zu den Griechenland-Hilfen.
Es wurde gerufen: Das ist finanzpolitischer Massen-
mord! – Teilen Sie als Fraktionsvorsitzender diese Hal-
tung aus der Mitte Ihrer Fraktion?


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811201200

Ich weiß, dass Leute gelegentlich überspitzt formulie-

ren. Das ist nicht mein Stil. Mein Stil wird sich auch
nicht ändern.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD)


Aber eine finanzpolitische Katastrophe war es auf jeden
Fall.


(Beifall bei der LINKEN)


Immer mehr von der Union und auch von der SPD
sprechen ernsthaft über Grexit. Sie vergessen immer, zu
sagen – warum sagen Sie das nicht, Frau Bundeskanzle-
rin? –, dass Sie Bürgschaften unterschrieben haben. Stel-
len Sie sich einmal vor, Griechenland geht wirklich aus
dem Euro heraus – ich sage gar nichts zu den weiteren
Folgen –, dann kann es die Schulden nicht mehr in Euro
zurückbezahlen. Dann haftet Deutschland mit 60 Mil-
liarden Euro. Was bedeutet das eigentlich für italienische
und zyprische Banken? Die Französinnen und Franzosen
müssten 48 Milliarden Euro und die Italienerinnen und
Italiener 43 Milliarden Euro bezahlen. Das können wir
gar nicht. Glauben Sie wirklich, dass die Lösung darin
besteht, dass wir alle pleitegehen? Ich verstehe das über-
haupt nicht. Wirklich, ich verstehe es nicht.


(Beifall bei der LINKEN)






Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)


Wenn Griechenland aus dem Euro rausgeht, gibt es
eine Ansteckungsgefahr. Sie gefährden den Euro insge-
samt und damit auch die europäische Integration. Wenn
Sie, Frau Bundeskanzlerin, offenkundig im Unterschied
zu Herrn Schäuble, und auch Herr Draghi, Herr Juncker,
Herr Gabriel, Herr Steinmeier, Herr Schulz und Präsi-
dent Hollande den Grexit nicht wollen, müssen Sie end-
lich den Mut haben, die bisherige kompromisslose Hal-
tung aufzugeben und mit der Regierung Griechenlands
nach einer Lösung zu suchen, um Griechenland in der
Euro-Zone zu halten und den Menschen dort eine Per-
spektive zu geben.


(Beifall bei der LINKEN)


Zu einer Lösung kommt man nur unter diesen Bedingun-
gen.

Herr Gabriel, Sie bezeichnen die griechische Regie-
rung als „Spieltheoretiker“ und behaupten, die griechi-
sche Regierung sei von Kommunisten durchsetzt.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Von Nationalisten! – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Und von Nationalisten!)


Ich muss Ihnen zwei Dinge sagen. Erstens. Die Kommu-
nisten stehen dort in der Opposition zur Regierung; sie
vertreten so in etwa Ihre Auffassung.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN)


Zweitens. Es war gerade Ihre Schwesterpartei, die das
Ganze in Griechenland angerichtet hat. Sie war dafür
verantwortlich. Sie sollten nicht auf die neue Regierung
schimpfen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich sage noch etwas. Die geplante Zahlung von über
7 Milliarden Euro Ende Juni – das ist doch nur ein
Durchlaufposten. Das Geld geht nach Griechenland und
dann gleich wieder an den Internationalen Währungs-
fonds zur Bezahlung der Schulden. Die Griechinnen und
Griechen haben gar nichts davon.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Die hatten schon etwas davon!)


Ich verstehe das ganze Affentheater nicht, das in diesem
Zusammenhang aufgeführt wird.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1811201300

Herr Kollege.


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811201400

Herr Präsident, ich bin gleich fertig.

Herr Schäuble, ich bin zwar anderer Auffassung, aber
ich kann nachvollziehen, dass Sie keinen Erfolg einer
linksgerichteten Regierung wollen.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Links und rechts ist die ja wohl!)


Ich kann nachvollziehen, dass Sie fürchten, dass im Falle
eines Erfolgs auch Spanien links wählt. Ich kann auch
nachvollziehen, dass Sie fürchten, dass dann ähnliche
Kompromisse mit Spanien, Portugal und anderen Län-

dern eingegangen werden müssten. Aber ich muss Ihnen
eines sagen: Ihre Idee von einem Kerneuropa wird nicht
aufgehen. Außerdem müssen Sie sich auch über die
weitgehenden, von niemandem beherrschbaren Folgen
eines Crashs klar sein.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Hat der Sonderredezeit?)


So verantwortungslos dürfen Sie, darf die Regierung
nicht handeln.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen für Griechenland endlich eine Marshall-,
eine Aufbaupolitik, damit es in der Lage ist, Schulden
zurückzubezahlen, und damit es wieder aufwärts geht
mit Europa und dem Euro.

Lassen Sie mich als Letztes Folgendes sagen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1811201500

Das muss jetzt aber wirklich fix gehen.


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811201600

Nach Umfragen des Eurobarometers sank die Zustim-

mung zu Europa in Deutschland, Portugal, Griechenland
und Spanien dramatisch. Wir können die wichtige euro-
päische Integration, die Frieden zwischen den Mitglieds-
ländern garantiert, überhaupt nur fortsetzen, wenn end-
lich wieder eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger
Europas diese Zukunft will. Sie sind daran schuld, dass
das kaputtgemacht wird, und dazu haben Sie kein Recht.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1811201700

Da Sie oft den gegenteiligen Eindruck haben, Herr

Gysi: Lassen Sie sich von Ihrer Geschäftsführerin bestä-
tigen, dass ich die Redezeitverteilung wieder einmal sehr
zugunsten der Opposition ausgelegt habe.


(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Wird aber auch Zeit!)


Nächster Redner ist der Kollege Thomas Oppermann
für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Thomas Oppermann (SPD):
Rede ID: ID1811201800

Herr Präsident, auch wenn Herr Gysi länger redet,

wird es nicht besser.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN)

Lieber Herr Gysi, Sie haben sich eben zwar davon dis-

tanziert, dass die Hilfspakete der Euro-Zone für Grie-
chenland ein „finanzpolitischer Massenmord“ sein sol-
len, aber Sie haben gesagt, das sei eine Katastrophe.
Jetzt frage ich Sie: Warum haben Sie eigentlich im Fe-
bruar der Verlängerung des zweiten Hilfspakets für Grie-
chenland zugestimmt?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Thomas Oppermann


(A) (C)



(D)(B)


Ihre Kritik ist doch inzwischen so maßlos, dass sie
sich auch gegen Sie selber richtet; ich weiß nicht, ob Ih-
nen das eben bewusst geworden ist. Sie können jeden-
falls nicht mehr sagen, Sie hätten mit der ganzen Sache
nichts zu tun.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Sie schon mal gar nicht!)


Nächste Woche trifft sich der Europäische Rat. Heute
trifft sich die Euro-Gruppe in Brüssel. Das Drama um
Griechenland geht in die nächste Runde; der Ausgang ist
offen.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Ausgang ist doch nicht offen, Herr Oppermann! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Doch! Doch!)


Sicher ist nur eines: Die Zeit läuft ab.

Ich habe vor fünf Monaten gesagt, dass wir der neu-
gewählten Regierung in Griechenland einen Vertrau-
ensvorschuss und Zeit geben müssen. Heute muss ich
feststellen: Der Vertrauensvorschuss ist weitgehend auf-
gebraucht, und die Regierungsmitglieder haben die Zeit
weitgehend dafür genutzt, Interviews zu geben und Vor-
träge zu halten. Ich finde das unverantwortlich, meine
Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sprüche statt Taten!)


Es drängt sich der Eindruck auf, dass diese Regierung
gar nicht ernsthaft verhandelt


(Zuruf von der LINKEN: Ach! Du liebe Zeit!)


mit dem Ziel, eine Einigung zu erreichen. Der IWF wird
als kriminelle Vereinigung beschimpft.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ist er doch auch! Ist er auch! Ist er auch! Natürlich ist er das! – Gegenruf von der CDU/CSU: Unglaublich! – Weiterer Zuruf des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Er hat Hunger über die Welt gebracht! Schauen Sie sich mal die Bedingungen für Brasilien an!)


– Mein lieber Herr Kollege, man kann am Internationa-
len Währungsfonds durchaus Kritik üben, und auch ich
teile nicht jede Praxis des Internationalen Währungs-
fonds; aber wenn Sie mir jetzt explizit sagen, das sei eine
kriminelle Vereinigung,


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ja, das sage ich Ihnen!)


dann schießen Sie unglaublich über das Ziel einer ver-
nünftigen Meinungsäußerung hinaus.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Widerspruch des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


Aus solchen Äußerungen spricht der blanke Fanatismus.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Lachen bei der LINKEN – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nein, mein Herz!)


Die griechische Regierung tut übrigens auch noch so,
als verhandle sie immer noch mit der alten EU-Kommis-
sion. Dabei stehen mit Kommissionspräsident Jean-
Claude Juncker und mit Parlamentspräsident Martin
Schulz zwei Politiker an der Spitze der europäischen In-
stitutionen, die der griechischen Regierung äußerst
wohlgesonnen sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Lachen des Abg. Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE])


Beide wollen, dass Griechenland durch Reformen, durch
Investitionen, durch Wachstum wirtschaftlich wieder auf
die Beine kommt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb sage ich: Trotz des Chaos hoffe ich, dass wir am
Ende zu einem vernünftigen Ergebnis kommen. Wir
wollen, dass Griechenland in der Euro-Zone bleibt. Nie-
mandem ist damit geholfen und nichts wird einfacher
und nichts wird leichter, wenn Griechenland durch einen
Austritt aus der Euro-Zone in ein europäisches Not-
standsgebiet verwandelt wird, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber nicht nur das: Die Europäische Union wäre auch
nicht mehr dieselbe. Jean-Claude Juncker hat das sehr
treffend zum Ausdruck gebracht. Er hat gesagt, ein Aus-
tritt Griechenlands wäre der Beweis, „dass … einige
Integrationsfortschritte in der EU eben nicht irreversibel
sind“. Ich finde, Herr Juncker hat recht. Die Europäische
Union ist keine Übereinkunft auf Zeit, sondern sie ist auf
Dauer angelegt. Wer soll noch Vertrauen in die EU und
in die Euro-Zone haben, wenn wir in der ersten großen
Krise auseinanderbrechen?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Welt schaut jetzt auf Europa,


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also, in der Bild-Zeitung liest man anderes! – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist das mit Herrn Gabriel abgesprochen?)


weil man substanzielle Beiträge von uns erwartet zur Lö-
sung von großen internationalen Krisen: der Flüchtlings-
krise, der Kriege im Nahen Osten, des Konflikts zwi-
schen Russland und der Ukraine.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1811201900

Darf der Kollege Dehm eine Zwischenfrage stellen?


Thomas Oppermann (SPD):
Rede ID: ID1811202000

Lieber am Ende meiner Rede.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)






Thomas Oppermann


(A) (C)



(D)(B)


Man erwartet von uns, dass wir substanzielle Beiträge
leisten. Gerade in diesen Zeiten darf von Europa kein
Zeichen der Schwäche ausgehen, meine Damen und
Herren!


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Aber es gibt noch ein zweites denkbar schlechtes Er-
gebnis, nämlich dass die griechische Regierung der Eu-
ropäischen Union diktieren will, unter welchen Bedin-
gungen es ihr gefällt, in der Euro-Zone zu bleiben. Das
darf es nicht geben, meine Damen und Herren!


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Das wäre ein einseitiges Abkommen zulasten der euro-
päischen Steuerzahler. Keine Regierung in Europa hat
das Recht, Solidarität einzufordern, wenn sie nicht bereit
ist, das ihr selbst Mögliche und Zumutbare auch zu tun,
meine Damen und Herren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Deshalb sage ich: Wir wollen den Kompromiss; aber
wir lassen uns nicht erpressen – das wäre nur ein Signal
an populistische Parteien in Europa, nach dem Motto:
Nationaler Egoismus ist umso erfolgreicher, je aggressi-
ver er vorgetragen wird. – Diese Logik darf sich in Eu-
ropa nicht durchsetzen!


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Lieber Gregor Gysi – Sie haben ja in das gleiche Horn
getutet –, die griechische Regierung tut so, als ob sie al-
lein demokratisch gewählt worden sei. Nein, auch der
Bundestag ist demokratisch gewählt worden, auch wir
sind unseren Wählerinnen und Wählern verpflichtet.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Inzwischen sind 70 Prozent der Deutschen der Mei-
nung, dass man keine weitergehenden Zugeständnisse an
Griechenland machen sollte. Ich glaube trotzdem, dass
immer noch eine grundsätzliche Bereitschaft zur Solida-
rität mit Griechenland vorhanden ist. Es ist fünf vor
zwölf. Ich finde, ein Kompromiss ist immer noch mög-
lich. Der Wille ist da, sagt die Kanzlerin. Auch der Weg
ist immer noch offen. Ich bin froh, dass die Bundeskanz-
lerin und der französische Präsident die Angelegenheit
zur Chefsache gemacht haben. Ich hoffe, dass wir am
Ende noch eine faire Einigung erreichen werden.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, das Thema Griechenland
ist leider nicht das einzige Problem in der Europäischen
Union; denn wir haben noch längst nicht alle notwendi-
gen Schlussfolgerungen aus der Krise im Euro-Raum ge-
zogen. Deshalb ist es gut, dass beim Gipfel jetzt auch
über die Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion gesprochen wird.

Für mich zeigt die Bankenunion, dass Europa schwie-
rige Reformen anpacken kann. Denn wenn etwas die De-

mokratien in Europa Glaubwürdigkeit gekostet hat, dann
ist es die Tatsache, dass vor einigen Jahren – da gebe ich
Gregor Gysi sogar ein Stück weit recht – die Regierun-
gen mit dem Geld der Steuerzahler die Banken retten
mussten. Jetzt aber haben wir mit der Bankenunion, mit
einer europäischen Bankenaufsicht und mit einer Ban-
kenabgabe, die sicherstellt, dass nicht mehr auf das Geld
der Steuerzahler zugegriffen wird, einen Mechanismus
gefunden, der für mich einen der größten Integrations-
schritte der letzten Jahre darstellt. Deshalb brauchen wir
jetzt, finde ich, weitere Schritte dieser Art.

Die EU hat in der Tat immer noch keine koordinierte
Wirtschafts- und Finanzpolitik, jedenfalls keine, die die-
sen Namen verdient. Diese brauchen wir aber, damit die
Währungsunion langfristig stabil funktioniert. Derzeit
profitieren wir hauptsächlich davon, dass uns die EZB
mit ihrer Ankündigung, im Notfall unbegrenzt Staatsan-
leihen zu kaufen, die Arbeit abgenommen hat. Damit hat
sie die Märkte beruhigt, und sie hat die Refinanzierung
der Staaten erleichtert. Man kann aber ökonomische Pro-
bleme auf Dauer nicht mit Geldpolitik lösen.

Es ist an der Zeit, dass die Politik die langfristige
Steuerung der Euro-Zone wieder selber in die Hand
nimmt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich habe mich deshalb sehr gefreut, dass Sigmar Gabriel
und sein französischer Amtskollege Emmanuel Macron
konkrete Vorschläge vorgelegt haben.

Dazu gehört erstens eine Wirtschafts- und Sozial-
union mit einem nicht über einen Leisten geschlagenen,
sondern an der Wirtschaftsleistung der einzelnen Mit-
gliedstaaten orientierten Mindestlohn. Dabei geht es um
einen Mindestlohnkorridor, mit dem wir in ganz Europa
Lohndumping verhindern können, meine Damen und
Herren.

Zweitens brauchen wir eine europaweit harmonisierte
Unternehmensbesteuerung.


(Beifall bei der SPD)


Ich finde es unerträglich, dass sich die Mitgliedsländer
der Europäischen Union immer noch von den internatio-
nalen Konzernen gegeneinander ausspielen lassen. Wir
müssen jetzt den Grundsatz durchsetzen: Was in einem
Land erwirtschaftet bzw. erarbeitet wird, muss auch in
diesem Land versteuert werden, meine Damen und Her-
ren!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Drittens finde ich, dass die Idee, ein eigenes Budget
für die Euro-Zone zu schaffen, zu einem wichtigen wirt-
schaftspolitischen Instrument werden könnte, um die
Schwankungen in der Euro-Zone auszugleichen. Wenn
wir dieses Budget mit Einnahmen aus der Transaktion-
steuer ausstatten,


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wann kommt die denn?)






Thomas Oppermann


(A) (C)



(D)(B)


schaffen wir ein richtiges wirtschaftspolitisches Instru-
ment, das wir sozial gerecht finanzieren. Damit könnten
wir einen Konstruktionsfehler der Euro-Zone beseitigen,
meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD)


Die Krise in Griechenland zeigt doch, dass wir die
Euro-Zone politisch weiter vertiefen müssen. Auf dem
Gipfel wird – auch darüber hat die Kanzlerin gesprochen –
über Großbritannien geredet werden. Premierminister
David Cameron hat eine Volksabstimmung bis spätes-
tens 2017 angekündigt. Mit dieser Grundsatzentschei-
dung geht er ein hohes politisches Risiko ein; aber darin
liegt auch eine Chance. Die Briten können Ja oder Nein
sagen, und am Ende haben wir Klarheit. Ich wünsche
mir, dass die Briten sich für ein Ja zu Europa entschei-
den; denn ich finde, Großbritannien ist eine große politi-
sche, kulturelle und wirtschaftliche Bereicherung für Eu-
ropa.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Europa und insbesondere wir Deutsche haben Groß-
britannien ungeheuer viel zu verdanken. Das Vereinigte
Königreich war die erste parlamentarische Demokratie.
Die 800 Jahre alte Magna Charta war ein Meilenstein auf
dem Weg vom Absolutismus zum Rechtsstaat. Viele Bri-
ten haben beim Kampf gegen Hitler-Deutschland ihr Le-
ben gelassen. Ich erinnere an den vehementen Einsatz
der Briten für die Osterweiterung der EU, die aus heuti-
ger Sicht ein Glücksfall war. Dazu kommt: Ohne Groß-
britannien hätte die Europäische Union außenpolitisch
deutlich weniger Gewicht. Deshalb wünschen wir uns
alle, dass Großbritannien in der Union bleibt.

Vor der Abstimmung will Cameron die Beziehungen
mit der EU neu verhandeln. Das ist legitim; das ist sein
gutes Recht. Allerdings: Ich kann mir keine EU vorstel-
len, in der jedes einzelne Mitglied darauf bedacht ist, die
eigenen Vorteile zu maximieren und die Lasten den an-
deren aufzubürden. Das darf nicht sein, meine Damen
und Herren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Europa kann nicht funktionieren wie ein Süßigkeitenau-
tomat, bei dem sich jeder die besten Stücke herausgreift,
die ihm gerade schmecken.


(Zuruf von der LINKEN: Das ist zynisch!)


Deshalb möchte ich zwei klare Grenzen für die Verhand-
lungen mit Großbritannien aufzeigen – wenn es sie ge-
ben sollte –:

Erstens. Wenn die Briten meinen, dass sich der Aus-
bau der Union allein auf den Binnenmarkt beziehen soll,
dann werden wir entschieden widersprechen. Das ist
nicht die EU, die wir wollen.


(Beifall bei der SPD)


Zweitens. Wir werden nicht zulassen, dass das Prinzip
der Freizügigkeit infrage gestellt wird. Die Bürger in Eu-
ropa, die vielleicht nicht genau den Unterschied zwi-

schen einem Staatenbund und einem Bundesstaat ken-
nen, wissen aber eines: dass Europa direkte, konkrete,
greifbare Vorteile für sie bringt.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wissen auch die Bayern!)


Dazu gehören neben dem Euro die Reisefreiheit und die
Niederlassungsfreiheit. Das ist doch das, was die Men-
schen an Europa schätzen, was sie als eine große Berei-
cherung ihres eigenen, individuellen Lebens empfinden.
Das, meine Damen und Herren, werden wir mit aller
Entschiedenheit verteidigen und nicht in solche Ver-
handlungen einbringen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1811202100

Herr Oppermann, Sie achten auf die Zeit?


Thomas Oppermann (SPD):
Rede ID: ID1811202200

Großbritannien und Griechenland – diese Länder

könnten unterschiedlicher kaum sein. Doch beide Fälle
zeigen: Europa funktioniert nicht, wenn alle nur auf ihre
Sonderinteressen achten. Europa ist auf den Ausgleich
von Interessen zum Wohle aller und zum Wohle der Ge-
meinschaft angelegt. Diese Fähigkeit zum Ausgleich
wird auch bei einer Weiterentwicklung der Wirtschafts-
und Währungsunion zentral sein. Diese Fähigkeit wer-
den wir uns immer auch selbst abverlangen müssen,
meine Damen und Herren.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh! Deine Rede war aber ein großer Beitrag dazu!)


Ich bin sicher: Wenn es uns gelingt, vom Ich zum Wir zu
kommen, dann kann die Union gestärkt aus der Krise
hervorgehen. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1811202300

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erhält nun

Katrin Göring-Eckardt das Wort.


(Widerspruch bei der LINKEN)


– Ach so, Entschuldigung. – Einen Augenblick! Ich habe
das jetzt übersehen. Ich hatte dem Kollegen Dehm zuge-
sagt, dass er eine Kurzintervention vortragen darf. Dann
machen wir in der Rednerliste weiter. – Bitte schön.


Dr. Jörg-Diether Dehm-Desoi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811202400

Herr Kollege Oppermann,


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Tausendmal probiert, tausendmal ist nix passiert!)


Sie haben sich jetzt über einen Satz aufgeregt, der Ihnen
ja nicht so neu sein dürfte:


(Christine Lambrecht [SPD]: Damit wird es nicht besser!)






Dr. Diether Dehm


(A) (C)



(D)(B)


Wir werfen dem IWF eine kriminelle Politik vor. Ich will
Ihnen nur sagen: Vor 35 Jahren hat der Internationale
Währungsfonds afrikanischen Staaten Kredite nur unter
der Auflage zugestanden, dass sie ihre Felder zur Nah-
rungsmittelproduktion, also Hirse usw., in Schnittblu-
menplantagen umwandeln. Die Folge war, dass die
Schnittblumenpreise auf ein Drittel gesunken sind, die
Folge war Massenhunger. Das mit den Auflagen geht
weiter bis jetzt.

Von 183 griechischen Krankenhäusern sind 100 ge-
schlossen worden. Es gab eine Steigerung der Suizid-
fälle um 40 Prozent. Es gab eine ähnlich massive Steige-
rung der Zahl der HIV-Infektionen.

Ich will Ihnen dazu nur Folgendes sagen: Es geht im
Moment in der Auseinandersetzung mit dem IWF – und
das ist kein Fanatismus; diese Zahlen können Sie gerne
unfanatisch widerlegen oder akzeptieren – um 1,3 Mil-
liarden Euro, die nach dem Willen des IWF einzig und
allein aus Rentenkürzungen und Mehrwertsteuererhö-
hungen finanziert werden sollen. In dem Moment, als die
griechische Regierung letzte Woche sagte: „Wir wollen
den Verteidigungshaushalt kürzen“, ist der IWF abgefah-
ren. Ich sage das, um hier einmal die Wahrheit zu sagen.

Jetzt sage ich Ihnen, was Papst Franziskus gesagt hat


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


und was im Übrigen auch UNO-Sonderbotschafter Pro-
fessor Jean Ziegler gesagt hat: Diese Art von Wirtschaft
tötet. Dieser Politik sind auf den armen Kontinenten
Zehntausende von Kindern zum Opfer gefallen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Lieber Herr Oppermann, es gab eine Zeit, in der Sie
für Aktionen gegen die Volkszählung geworben haben.
Damals hätten Sie das mit uns gemeinsam – da bin ich
ganz sicher; aber seitdem muss wohl einiges mit Ihnen
geschehen sein – auch als kriminelle Politik bezeichnet;
und nicht anderes ist sie. Deswegen werden wir am kom-
menden Samstag demonstrieren. Sie werden dort überall
sehen: Diese Wirtschaft tötet. – Wir müssen Europa also
anders machen.


(Abgeordnete der LINKEN erheben sich und halten Spruchbänder hoch)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1811202500

Ich empfehle Ihnen dringend, diese Spruchbänder so-

fort wegzunehmen. Ich erinnere an die Vereinbarung, die
wir über die Ordnung im Hause haben.


(Christine Lambrecht [SPD]: Das ist ja unfassbar! – Zurufe von der CDU/CSU: Raus!)


Herr Oppermann, wollen Sie erwidern? – Nein, okay. –
Und Sie von der Linken nehmen jetzt bitte die Spruch-
bänder weg.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, an die LINKEN gewandt: Das war jetzt aber mutig! – Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Sigmar Gabriel, Bundesminister, an BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN gewandt: Das war vor 30 Jahren mal mutig, als wir das gemacht haben! – Volker Kauder [CDU/CSU], an die LINKEN gewandt: Mensch, seid ihr mutig! Ihr gebt ja gleich auf! Lasst euch doch raustragen! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Einen Augenblick mal. Wir werden uns heute Mittag
im Ältestenrat mit dem Vorgang beschäftigen. Ich er-
warte dann nur von den Parlamentarischen Geschäfts-
führern nicht die Standarderklärung, es handele sich um
eine spontane Initiative, die selbstverständlich der Ge-
schäftsführung vorher nicht bekannt gewesen sei.


(Christine Lambrecht [SPD]: Damit lassen wir uns dieses Mal nicht abspeisen! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Außerdem sind das keine Demonstranten! Die packen ja ein, bevor es ernst wird!)


Jetzt hat die Kollegin Katrin Göring-Eckardt das
Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kolle-
gen! Ich glaube, ehrlich gesagt, dass die Situation zu
ernst ist, um mit solchen Aktionen zu versuchen, Europa
weiter in Misskredit zu bringen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD – Max Straubinger [CDU/CSU]: Klamauk!)


Frau Merkel, Sie haben hier heute nur einen Satz zum
G-7-Gipfel gesagt. Sie haben sich damit einer Debatte
über die Ergebnisse des G-7-Gipfels in diesem Hause
verweigert – ich hoffe, man kann sagen: nur bisher ver-
weigert. Wenn Sie sich aber hierhinstellen und sagen:
„Wir müssen im Rahmen von G 7 und G 20 sehr viel
umsetzen“, doch schon zwei Tage nach dem Gipfel im
eigenen Land die Kohleabgabe versenken, die notwen-
dig wäre, um das umzusetzen, was Sie auf der großen
Bühne beschlossen haben, also auf weltpolitischer
Ebene groß vom Klimaschutz sprechen, in Deutschland
aber Denkmalschutz für die Braunkohle betreiben, ist
das alles andere als glaubwürdig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Merkel, Sie haben einen Satz, den Sie hier schon
sehr oft gesagt haben, heute nicht wiederholt, nämlich:
Wenn der Euro scheitert, dann scheitert Europa. – Es ist
ziemlich genau fünf Jahre her, dass Sie das zum ersten
Mal gesagt haben. Heute darf man nicht nur, sondern
muss man die Frage stellen: Haben Sie eigentlich noch
das gesamte Europa im Blick, oder geht es nur noch um
den nächsten Kredit, nur noch um den nächsten Show-
down, nur noch um Haltungsnoten? Hat die Union
– nach den Äußerungen in dieser Woche und vor allen
Dingen nach Ihrer Rede, Herr Oppermann, muss man
das allerdings auch die SPD fragen –, hat die SPD das
gemeinsame Europa eigentlich noch als gemeinsame





Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Werte- und Solidargemeinschaft im Blick, oder geht es
nur noch um Gezerre, um Hin und Her?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Thomas Oppermann [SPD]: Darüber haben wir doch gesprochen!)


Vielleicht ist es ja so, dass Sie das im Blick haben; aber
dann wird offenbar nicht öffentlich darüber geredet. Es
wird ausgewichen, es wird über zentrale Fragen gar
nicht gesprochen. Es wird so getan, als sei es wirklich
offen, ob es die 7 Milliarden Euro, über die wir in dieser
Woche reden, gibt.

Warum wird nicht darüber gesprochen, was tatsäch-
lich los ist? Sie haben vorhin gesagt, das alles müsse
nachhaltig wirken können. Dann müssen Sie Ihren eige-
nen Leuten aber auch sagen: Natürlich wird es ein nächs-
tes Hilfspaket für Griechenland geben. – Das wäre ehr-
lich, und das wäre auch konsequent in dieser Diskussion.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber was passiert, wenn wir so viel Schindluder mit Eu-
ropa treiben, wenn wir so viel darüber reden, was alles
nicht geht? Wenn Sie heute Zwanzigjährige fragen, wo-
ran sie bei Europa denken, dann sagen diese nicht „Frie-
den“ oder „Freiheit“, dann denken sie noch nicht einmal
an Erasmus. Nein, dann sagen sie heute: Krise.


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Stimmt so nicht!)


Soll das denn die Zukunft dieses Europas sein? Wir sind
dabei, sie zu verscherbeln, auch in der Emotionalität der
Europäerinnen und Europäer.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen: Reden Sie endlich darüber, was ist. Wenn
Griechenland aus dem Euro stürzt, dann wäre das eine
Bruchlandung für die gesamte Europäische Union. Wenn
Griechenland aus dem Euro stürzt, dann wären die Kos-
ten für Deutschland immens, dann hätten wir eine huma-
nitäre Katastrophe in Europa. Griechenland aus dem
Euro zu stürzen, würde aber auch bedeuten, dass man
70 Milliarden Euro sofort in den Wind schießt – das sind
die deutschen Kredite, die gegeben wurden –, statt
7 Milliarden Euro in die Hand zu nehmen. Ich glaube
nicht, dass das glaubwürdig ist. Wenn es um deutsche In-
teressen geht, dann muss man auch darüber reden, und
zwar ehrlich, meine Damen und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


Europa – das ist nicht nur etwas für Sonntags- und
Schaufensterreden. Europa soll ja eine Solidar- und Wer-
tegemeinschaft sein. Mit diesem Ziel ist es gegründet
worden. Europa stärkt man, indem man eine klare Hal-
tung einnimmt, aber nicht mit Deals und nicht mit Mus-
kelspielen. Das gilt übrigens für beide Seiten. Man muss
auch Herrn Varoufakis sagen: Man kann in Griechenland
keine Renten, keine Medikamente und keine Schulbü-
cher damit bezahlen, dass man sich für schlauer hält als
der Rest.


(Thomas Oppermann [SPD]: Das ist eine gute Äußerung!)


Herr Bosbach – ich weiß gar nicht, ob er heute da ist –,
ich will das noch einmal wiederholen: Sie spielen ganz
bewusst mit dem Feuer. Sie bringen nämlich die Men-
schen gegen dieses gemeinsame Europa auf, wenn Sie so
über Europa, wenn Sie so über Griechenland reden, wie
Sie es in den letzten Tagen getan haben. Nein, das reale
Renteneintrittsalter in Griechenland liegt bei den Frauen
gerade einmal ein Jahr unter dem in Deutschland. Wenn
man da ein falsches Spiel spielt, dann wird man nur wei-
ter dafür sorgen, dass die Verunsicherung in der Bevöl-
kerung, auch in unserer, wächst. Wenn man dieses Spiel
spielt, Herr Oppermann, macht das keine Freude, son-
dern das wird dazu führen, dass sich demnächst noch
mehr als 70 Prozent fragen, ob wir eigentlich diese wei-
teren Hilfen brauchen. Wir brauchen Ehrlichkeit, und
wir müssen sagen: Es geht auch um uns. Deshalb müs-
sen wir Griechenland nicht nur retten, sondern auch da-
für sorgen, dass es eine echte Perspektive hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen eine Lösung für dieses Land, für die
Bevölkerung in diesem Land. Die griechische Regierung
muss zugleich mit Klientelsystemen und Günstlingswirt-
schaft aufräumen. Ja, sie muss gegen Steuerhinterzie-
hung vorgehen, und die oberen 10 Prozent müssen ihren
gerechten Beitrag leisten. Sie muss auch Prioritäten set-
zen. Es kann nicht sein, dass man auf der einen Seite für
eine OP in einem Krankenhaus in Griechenland das Ver-
bandszeug selber mitbringen muss und dass auf der an-
deren Seite Rüstungsgüter mit dem wahnsinnigen Wert
von 11 Milliarden Dollar nach Griechenland importiert
werden. Mich wundert übrigens, dass unsere Bundesre-
gierung dies nicht auf den Prüfstand stellen will. Mögli-
cherweise liegt es daran, dass die Rüstungsgüter auch
aus Deutschland kommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das gilt natürlich auch andersherum. Auch die Gläu-
biger müssen realistische Vorschläge machen. Wenn die
Griechen schon diesen steinigen Weg gehen müssen, den
übrigens auch andere Länder in der Europäischen Union
gehen mussten, dann kann man ihnen nicht gleichzeitig
noch die Schnürsenkel zusammenbinden. Griechenland
muss nämlich beides können: auf der einen Seite den
Haushalt ohne noch größere soziale Verwerfungen kon-
solidieren und auf der anderen Seite in die Zukunft in-
vestieren. Deswegen wäre es doch sehr klug, zu sagen:
Wir machen ein Umschuldungsprogramm mit dem
ESM. Dann geht nämlich beides. Dann können die Re-
formen erst einmal greifen. Dann gibt es auch neues Ver-
trauen in der griechischen Bevölkerung. Dann kann man
auch weitere Reformen ansetzen, weil es wieder Sicher-
heit gibt, weil dann auch tatsächlich Investitionen ge-
macht werden können, meine Damen und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU])


Ich bin fest überzeugt: Griechenland braucht eine rea-
listische Chance. Investitionen – das kennen wir doch.





Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Wir können doch nicht so tun, als ob wir nicht wissen,
wie sich das damit verhält. Es ist sechs Jahre her, da hat
die Große Koalition hier unter der Führung von Angela
Merkel kein Problem damit gehabt, 10 Milliarden Euro
für die Abwrackprämie und für das Kurzarbeitergeld lo-
ckerzumachen, um der Wirtschaft auf die Sprünge zu
helfen. Wenn Sie jetzt so tun, als sei unsere gute Kon-
junktur nur mit dem Sparschwein in der Hand gemacht
worden, dann zeugt das von Arroganz und Geschichts-
klitterung zugleich. Man muss eben beides machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Meine Damen und Herren, ja, es geht um das euro-
päische Projekt als Ganzes. Wir haben in der Tat noch
andere große Herausforderungen. Wir haben die Flücht-
lingsfrage. Es ist gut, dass Sie die Seenotrettung ange-
sprochen haben. Das ist ein sehr wichtiger Teil. Ich hoffe
übrigens auch, dass das nicht wieder aufhört, wenn die
Scheinwerfer aus sind. Aber das wird natürlich nicht rei-
chen. Wir haben hier die Helfer beklatscht, die Men-
schen gerettet haben. Aber gleichzeitig brauchen wir
endlich eine realistische Lösung. Wir brauchen endlich
sichere Wege nach Europa. Was wir bestimmt nicht
brauchen, sind Auffanglager, weil sie nämlich weder ein
rechtssicheres Verfahren gewährleisten noch dafür sor-
gen werden, dass weniger Flüchtlinge hierherkommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Christine Buchholz [DIE LINKE])


Das ist eine Chimäre und nichts anderes als eine Schein-
lösung.

Ja, es ist und bleibt notwendig, dass Europa gegen-
über Russland eine klare gemeinsame Haltung hat. Die
europäische Außenpolitik muss sich eben darauf kon-
zentrieren, dass friedliche Mittel funktionieren; wir dür-
fen nicht die militärische Option in den Vordergrund
stellen.

Meine Damen und Herren, leider gibt es auch hierzu-
lande nicht wenige, die bereit sind, europäische Werte
für eine populistische Schlagzeile in die weiß-blaue
Tonne zu treten. Die CSU muss endlich damit aufhören,
auf Kosten von Flüchtlingen am rechten Rand Stimmen
sammeln zu wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Wenn Herr Söder das Grundrecht auf Asyl in Lehrerstel-
len umrechnet, dann hat er unser Grundgesetz nicht ver-
standen. Sagen Sie ihm das bitte, und zwar in aller Klar-
heit, meine Damen und Herren!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn der Euro scheitert, dann scheitert Europa – ich
wiederhole diesen Satz. Zur Wahrheit gehört auch: Eu-
ropa ist nicht irgendwo in Brüssel; wir sind es selbst.
Nach 50 Jahren wäre das zum ersten Mal weniger Eu-

ropa statt mehr. Unabhängig von Mehrheiten und von
Regierungen war eines in diesem Europa immer klar: Es
war nie Verhandlungsmasse. Wir sollten es auch nicht
dazu machen.

Europa war und ist Grundlage für Frieden, für unsere
Freiheit und für unseren Wohlstand. Deswegen mein Ap-
pell am Schluss: Hören Sie auf mit dem Pokern! Hören
Sie auf mit der Showdown-Politik! Machen Sie klar: Eu-
ropa ist so stark wie seine Mitglieder, und zwar wie alle
seine Mitglieder! Machen Sie das in Ihren eigenen Rei-
hen klar! Machen Sie das in der CSU klar, machen Sie
das in der CDU klar, und machen Sie das auch in der
SPD klar! Europa funktioniert nicht, wenn man es in Ge-
winner und Verlierer spaltet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben jetzt die große Chance, für dieses gemein-
same Europa zu stehen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1811202600

Nächster Redner ist der Kollege Volker Kauder für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1811202700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Diesen nächsten Gipfel in Europa, zu dem die Bundes-
kanzlerin gerade gesprochen hat, könnte man als einen
Routinegipfel betrachten und sagen: Es ist einer von de-
nen, die regelmäßig stattfinden. – Aber er findet in einer
Zeit statt, in der es in Europa, wie wir alle spüren, nicht
nur darauf ankommt, einzelne Sachfragen zu klären,
sondern auch darum geht, deutlich zu machen, dass Eu-
ropa nicht nur ein Projekt für einzelne Aufgaben ist, son-
dern dass Europa auch etwas ganz Neues geworden ist:
eine großartige Idee, die nun aber auch tragen muss. Da
sehen wir ein paar Herausforderungen, über die auch in
der Debatte nur am Rande gesprochen wurde. Europa
sollte die Nationalstaaten nicht total überwinden, aber es
sollte auch so sein, dass nicht schwerpunktmäßig die In-
teressen der Nationalstaaten Europa dominieren, liebe
Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau, Herr Kauder! Richtig!)


Es sollte mehr sein, es sollte um mehr gehen als nur um
einzelne Themen der Nationalstaaten.

Deshalb ist es richtig, dass wir sagen: Jawohl, wir
wollen, dass Großbritannien in diesem Europa bleibt und
dass Großbritannien einen Beitrag zu diesem Europa
leistet. – Aber dann müssen wir zur gleichen Zeit auch
sagen: Ihr könnt ja eure nationalen Eigenheiten haben;
aber es darf nicht so sein, dass das in Europa ausschließ-
lich zum Thema wird. Die Summe von nationalen Ei-





Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)


genheiten ergibt nicht das Europa, das wir uns vorstel-
len, meine sehr verehrten Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind eine Werte- und eine Schicksalsgemeinschaft.
Deshalb muss man bereit sein, auch nationale Interessen
in den Dienst Europas zu stellen.

Damit komme ich jetzt auf ein wichtiges Thema, bei
dem das notwendig ist, nämlich zur Flüchtlingsproble-
matik. Die Flüchtlingsfrage ist eine der großen mensch-
lichen Herausforderungen unserer Zeit. Herr Gysi, in
diesem Zusammenhang möchte ich nur auf Folgendes
hinweisen: Wenn man über die Flüchtlingsproblematik,
die Probleme im Mittelmeer und diese menschliche Ka-
tastrophe insgesamt spricht, dann muss man auch sagen,
dass das, was sich in der Ukraine abspielt, eine mindes-
tens genauso große menschliche Katastrophe ist. Davon
reden Sie aber nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Was?)


Dazu, dass Frau Wagenknecht in diesen Tagen sinn-
gemäß gesagt hat, dass es ausschließlich etwas mit den
Amerikanern zu tun habe, wenn Russland nun eine neue
Aufrüstungskampagne beginne, kann ich nur sagen: Ei-
nen solchen Quatsch habe ich selten gehört. Es geht um
etwas ganz anderes.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich kann nur sagen: Wer so unkritisch


(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Stimmt doch gar nicht!)


über den Machthunger Russlands redet, wie Sie das in
der Linken tun, der wird Russland nur noch mehr dazu
anstacheln, etwas zu tun, und nicht dazu beitragen, dass
sich Russland in dieser Welt an Recht und Gesetz hält.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von der LINKEN)


Reden wir aber über die Flüchtlingssituation. Es ist
schon notwendig, dass wir uns in Europa darauf verstän-
digen, dass jeder seinen Beitrag leisten muss und dass es
eben nicht nur nach dem Motto „Solange Deutschland
die Flüchtlinge aufnimmt, ist das Problem gelöst“ laufen
kann. Nein, jeder muss seinen Beitrag leisten.

Wir müssen bei der Flüchtlingsproblematik aber auch
die Wirklichkeit sehen. Ich bin einigermaßen überrascht,
dass ich immer wieder höre, ein wichtiger Beitrag zur
Lösung der Flüchtlingsproblematik sei, dass wir Wege
der legalen Zuwanderung und der legalen Einreise nach
Europa schaffen müssen.


(Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Ja! Was denn sonst? – Zuruf vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Stimmt auch!)


– Tja. – Ich will dazu nur sagen: Glauben Sie, dass die
Probleme gelöst sind, wenn wir 10 000 oder 20 000
Menschen aus Eritrea oder aus dem Libanon oder aus
Libyen auf legale Weise hierherkommen lassen? Ich
sage Ihnen: Wer davon spricht, wir müssten legale Wege
der Zuwanderung schaffen, der muss auch bereit sein,
unserer Bevölkerung zu sagen, dass mindestens 1 bis
2 Millionen Menschen, die jetzt in Libyen an der Küste
leben, nach Deutschland kommen wollen. Das kann die-
ses Land aber nicht verkraften, um das auch einmal klar
und deutlich zu sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Thomas Oppermann [SPD])


Das Gerede, legale Wege der Einwanderung lösten
das Problem, ist also völlig falsch. Richtig ist dagegen
natürlich, dass wir den Menschen in ihren Heimatlän-
dern Chancen verschaffen müssen. Die Menschen, die in
Libyen leben, überlegen sich doch, ob sie in diesem
Land eine Chance haben oder nicht. Aufgrund dessen,
wie es dort aussieht, kommen sie natürlich richtiger-
weise zu dem Ergebnis, dass sie dort keine Chance ha-
ben. Und da sie nur ein Leben haben, versuchen sie,
dorthin zu gehen, wo sie eine Chance haben.

Deswegen muss man sich doch um dieses Land
Libyen kümmern und kann man nicht sagen, dass man
das alles so laufen lässt. Man muss etwas dafür tun, dass
dort wieder einigermaßen ordentliche Strukturen entste-
hen,


(Zurufe von der LINKEN)


und darf nicht nach dem Motto „Wir sorgen dafür, dass
auf legalem Wege alle aus Libyen nach Europa kom-
men“ verfahren. Das löst weder die Probleme in Libyen
noch bei uns in Europa.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch des Abg. Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Genau das ist das Thema. Grundsätzlich, aber auch in
der Flüchtlingsfrage gilt: Politik beginnt mit dem Be-
trachten der Wirklichkeit und darf nicht auf ideologi-
schen Thesen und Positionen beruhen. Damit lösen wir
null Probleme.

Es muss vielmehr auch thematisiert werden, dass wir
die Schlepperbanden bekämpfen und die Wege, die von
diesen eingeschlagen werden, unterbrechen. Ich kann
keinen Sinn darin sehen, dass wir immer mehr Men-
schen einen Anreiz geben, aus dem Süden Afrikas durch
die Wüsten in den Norden Afrikas zu kommen. Ein Drit-
tel der Menschen verliert auf diesen Flüchtlingsrouten
ihr Leben. Das ist doch keine Lösung des Problems,
liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Thomas Oppermann [SPD] – Zuruf des Abg. Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Deswegen ist es richtig, wenn wir uns in Europa damit
beschäftigen.





Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)


Ein weiteres Thema ist – die Bundeskanzlerin hat es
angesprochen –, dass wir in Europa Bedingungen für
wirtschaftliche Entwicklung und Wachstum schaffen
müssen. Wir hatten die Lissabon-Strategie. Leider Got-
tes haben sich nur wenige daran gehalten: Deutschland
hat sich daran gehalten, Griechenland hat sich nie an die
Lissabon-Strategie gehalten. Da muss ich schon sagen:
Es scheint mir in Europa ein Problem zu sein, dass man
sich zwar immer auf gute Vorschläge einigt, aber wenn
es dann darum geht, sie umzusetzen, werden die Zielvor-
gaben nicht konsequent verfolgt.


(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Ich habe noch keinen guten Vorschlag gehört!)


Dazu kann ich nur sagen: Es muss in Europa der Satz
gelten: Das, was wir vereinbaren, das, was zu einem eu-
ropäischen Gesetz gemacht wurde, muss auch eingehal-
ten werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nicht die ständige politische Beteuerung: „Wir werden
es schon irgendwie hinkriegen“, stärkt Europa, sondern
Europa wird nur gestärkt, wenn man sich darauf verlas-
sen kann, dass das gilt, was man vereinbart hat.

Da kommt nun die Nagelprobe mit Griechenland. Sie
haben gerade mehrere während der Rede von Gregor
Gysi spontan angefertigte Plakate hochgehalten,


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


auf denen Sie Solidarität mit Griechenland gefordert ha-
ben. Ich sage Ihnen: Solidarität – das kann ich nur unter-
stützen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Machen!)


Zugleich muss ich aber auf Folgendes hinweisen: Ange-
sichts der Milliardensummen, die über Rettungsschirme
und über Darlehen an Griechenland gegeben wurden,
kann doch ein vernünftiger Mensch, der noch klar im
Kopf ist, nicht behaupten, dass wir keine Solidarität ge-
übt hätten, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Es ist ja gar nichts bei den Griechen angekommen!)


Ja, es ist richtig, dass jede Regierung zunächst einmal
ihrem eigenen Land und ihren eigenen Wählerinnen und
Wählern verpflichtet ist. Das haben Sie ja gesagt, Herr
Gysi.


(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Richtig! Da hat er recht!)


– Da hat er recht. – Da das so ist – dem kann ich ja zu-
stimmen –, würde ich einmal sagen: Was die jetzige
griechische Regierung macht, hat mit der Vertretung der
Interessen der eigenen Bevölkerung null und nichts zu
tun, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Widerspruch des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


Diese griechische Regierung handelt gegen die Interes-
sen der Bevölkerung.

Es gilt zunächst einmal, den Menschen zu sagen, was
wirklich ist, damit man etwas ändern kann.


(Zurufe von der LINKEN)


Wir in Deutschland haben nicht die Regel gemacht, dass
die Reeder von der Steuerpflicht befreit werden. Das wa-
ren die Griechen. Bis jetzt hat Tsipras an diesem Punkt
nichts geändert. Null hat er an diesem Punkt geändert.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Widerspruch bei der LINKEN – Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Ihre Partnerpartei!)


– Das waren natürlich auch Vertreter unserer Parteien;
das haben wir auch kritisiert. Dafür sind sie bei den
Wahlen ja auch abgestraft worden. Aber ich kann nicht
erkennen, dass Herr Tsipras bis jetzt ein einziges im
Ausland bestehendes Konto gepfändet und das Geld in
die griechischen Staatskassen hätte fließen lassen. Kein
einziges Beispiel gibt es dafür.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen sage ich: Zunächst einmal müssen die Grie-
chen ihre eigenen Hausaufgaben machen.

Außerdem finde ich – Thomas Oppermann hat es an-
gesprochen –, dass wir, wenn wir sagen: „Wir wollen
dieses Europa zusammenhalten, und wir wollen deshalb,
dass Griechenland im Euro-Raum bleibt“, dabei auch im
Interesse unseres eigenen Landes und unserer eigenen
Bevölkerung handeln. Aber es gehört viel dazu, dies im-
mer wieder einer Bevölkerung zu sagen, die zu 70 Pro-
zent der Meinung ist, jetzt sei endlich Schluss mit der
Hilfe für Griechenland. Wenn Herr Tsipras seiner Bevöl-
kerung genauso die Wahrheit sagen würde, dann wäre
manches besser. Wir sagen den Menschen: Wir brauchen
eine Lösung mit Griechenland – das hat allerdings Grie-
chenland zu entscheiden –, und wir können diesen Euro-
Raum nicht so ohne Weiteres auseinanderfallen lassen.
Es ist richtig, das so zu sagen, statt dem Populismus von
irgendwelchen griechischen Randalierern und Demons-
tranten nachzugeben. Das ist das Thema, liebe Kollegin-
nen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Thomas Oppermann [SPD] – Widerspruch bei der LINKEN)


Davon höre ich relativ wenig.


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie das auch mal Herrn Bosbach gesagt?)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube,
dass wir den richtigen Weg gehen. Ich hoffe, dass auch
die Griechen noch zur Vernunft kommen. Der Mensch
ist schließlich vernunftbegabt. Ich hoffe, dass das jetzt
gelingt. Ich sage aber auch: Wir haben wirklich alles,
was möglich ist, angeboten und getan. Jetzt ist Griechen-
land am Zug, und jetzt muss Griechenland die Bedin-





Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)


gungen einhalten. Europa zerbricht nicht daran, dass wir
verlangen, dass die Regeln eingehalten werden, sondern
Europa kommt in Probleme, wenn jeder glaubt, er könne
tun und lassen, was er will, und meint, den anderen er-
pressen zu können. Das ist nicht der Weg, der zum Er-
folg führt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
noch einen Punkt ansprechen, der auch zu Europa ge-
hört, nämlich den Klimaschutz. Wir in Europa und vor
allem wir in Deutschland sind dabei in einer Vorreiter-
rolle; wir sind diejenigen, die ein gutes Beispiel geben.
Das ist auch für die Entwicklung in der übrigen Welt von
großer Bedeutung. Das Thema Klimaschutz hat auch et-
was mit der wirtschaftlichen Entwicklung beispielsweise
in Entwicklungsländern zu tun. Dass es nicht immer
ganz einfach ist, wirtschaftliche Entwicklung und Kli-
maschutz zeitgleich voranzubringen, wissen wir. Aber,
Frau Kollegin Göring-Eckardt, ich will Ihnen in aller
Ruhe sagen


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bin aber nicht ruhig!)


– man könnte sich zwar über einen Satz, den Sie gesagt
haben, aufregen, aber das mache ich jetzt nicht –: Es
geht nicht an, sich hierhinzustellen und die Bundesregie-
rung dafür zu kritisieren, dass sie nicht konsequent an
der Kohleabgabe festhält, aber in einem Bundesland, in
dem man mitregiert, die Kohleförderung zum Maßstab
für wirtschaftliche Entwicklung zu machen. So geht es
beim besten Willen nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Thomas Oppermann [SPD])


Rot-grüne Regierungen bzw. grün-rote Regierungen
sind manchmal wahnsinnig schnell, wenn es darum geht,
auf Entwicklungen in anderen Ländern zu reagieren.
Dann werden gleich Anträge im Bundesrat eingebracht.
Deswegen gehe ich eigentlich davon aus, dass in der
nächsten Sitzung des Bundesrates ein Antrag aus Nord-
rhein-Westfalen mit der Forderung vorliegt, die Kohle-
verstromung sofort zu stoppen, um die Klimaschutzziele
zu erreichen. Ich erwarte einen solchen Antrag von den
Grünen in Nordrhein-Westfalen. Nur dann sind Sie
glaubwürdig. Ansonsten rate ich Ihnen, an diesem Pult
solche Sprüche nicht mehr zu machen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Sie wissen doch: Die Wahrheit ist konkret, und wer hohe
moralische Ansprüche an andere stellt, muss sie erst ein-
mal selber erfüllen. Das haben Sie bisher in dieser Frage
nicht getan, um das ganz klar zu sagen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich will noch einen letzten Punkt ansprechen. Meine
sehr verehrten Damen und Herren, im Zusammenhang
mit unserem Vorhaben, die wirtschaftliche Entwicklung

in Europa zu fördern, macht mir ein Thema Sorge, von
dem ich weiß, Frau Bundeskanzlerin, dass es nicht allein
in Europa gelöst werden kann, von dem aber sehr viel
abhängt. Das ist die zunehmend angespanntere Situation
im Bereich Luftverkehr. Am Flughafen in Stuttgart bei-
spielsweise, wo ich zweimal pro Woche ankomme oder
abfliege, gibt es große Plakate mit Aufschriften wie:
„Stuttgart wird zum Tor der Welt – von Stuttgart aus in
alle Welt!“ – „Fliegen Sie mit Turkish Airlines nach
Istanbul! Wir bringen Sie überallhin“. Wenn es in
Deutschland zum Modell werden sollte, dass wir erst
einmal nach Dubai oder Istanbul fliegen müssen, weil es
erst von dort aus in andere Länder der Welt weitergeht
– in anderen europäischen Ländern sieht es in der Luft-
verkehrsbranche nicht viel anders aus –, dann ist dies für
das Wachstum in einer Region, in der Außenkontakte
eine große Rolle spielen, ziemlich schlecht. Deswegen
mache ich mir erhebliche Sorgen.

Dazu muss ich sagen – hier haben einige ihren Bei-
trag zu leisten –: Es kann nicht sein, dass wir in Deutsch-
land ausschließlich die Flughäfen in München und
Frankfurt als große Drehkreuze haben und sonst keinen
anderen Ort. Deswegen bitte ich, sehr darauf zu achten,
dass wir im Luftverkehr nicht genauso abgehängt wer-
den wie in anderen Bereichen. Ich kenne das Wettbe-
werbsmodell. Wir müssen mit den Betreffenden reden;
denn es kann nicht sein, dass die einen ihre Carrier bis
zum Gehtnichtmehr subventionieren, während wir nicht
mithalten können. Dann muss man mit den Betreffenden
über bestimmte Punkte reden. Ich möchte nur darauf
hinweisen: Europa muss das Thema stabiler Luftverkehr
im Wettbewerb mit anderen ansprechen. Sonst sehe ich
große Probleme für unsere exportorientierte Nation.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1811202800

Zur direkten Erwiderung erhält jetzt die Kollegin

Wagenknecht nach § 30 unserer Geschäftsordnung das
Wort.


Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811202900

Herr Kauder, wenn Sie mich schon zitieren, muss ich

bitten, dass Sie mich korrekt zitieren, statt mich in billi-
ger Polemik als Rechtfertigerin des russischen Atompro-
gramms hinzustellen.

Ich habe darauf hingewiesen, dass die russische Auf-
rüstung im atomaren Bereich auch eine Reaktion darauf
ist, dass die USA angekündigt haben, im Osten Europas
schweres Kriegsgerät zu stationieren. Ich habe zudem
darauf hingewiesen, dass das eine gefährliche Aufrüs-
tungsspirale in Gang setzt.


(Beifall bei der LINKEN)


Dazu hätte ich heute gerne etwas von Frau Merkel ge-
hört; denn ich glaube, dass es verantwortungslos ist, dass
sich Europa auf diese Weise von den Vereinigten Staaten
in eine weitere sehr gefährliche Eskalation und Konfron-
tation hineinziehen lässt. Das ist eine unverantwortliche





Dr. Sahra Wagenknecht


(A) (C)



(D)(B)


Politik; denn das gefährdet den Frieden in ganz Europa.
Das war meine Aussage. Das wollte ich noch mal kor-
rekt darstellen.


(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Herr Präsident!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1811203000

Es sind nur Erklärungen zu persönlichen Aussagen

möglich. Es darf kein Debattenbeitrag sein.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Auch keine Plakate!)


– Richtig, auch keine Plakate.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)


Bitte, Herr Kauder.


Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1811203100

Herr Präsident, ich versuche es und bitte Sie, danach

zu beurteilen, ob es gelungen ist.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)


Nun zu Ihnen, Frau Wagenknecht. Darf ich Ihren Äu-
ßerungen entnehmen, dass Sie das neue Atomprogramm
Russlands ablehnen und dagegen sind? Wenn dem so ist,
bin ich schon zufrieden.


(Dr. Sahra Wagenknecht [DIE LINKE]: Ja, logisch! – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Wir haben ja Anträge gestellt dazu! – Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Sie muss jetzt darauf antworten können!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1811203200

Das ist im Sinne der Geschäftsordnung nicht gelun-

gen, Herr Kauder, dient aber möglicherweise der Klä-
rung der Positionen.


(Dr. Sahra Wagenknecht [DIE LINKE]: Ich möchte darauf antworten!)


– Nein, wir verfahren nun nach den Vorschriften unserer
Geschäftsordnung. Was noch an wechselseitigem Klä-
rungsbedarf besteht, kann vielleicht auch bilateral gere-
gelt werden. Wir sind im Übrigen schon weit aus dem
Zeitmaß der vereinbarten Debatte heraus.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Schnell, Frau Wagenknecht: Ja oder nein?)


Jetzt hat der Kollege Sarrazin für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen das Wort.


Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811203300

Herr Präsident! Jetzt habe ich Pech. Ich wollte eigent-

lich Frau Merkel ansprechen. Aber Ihr Dialog, Herr
Kauder und Frau Wagenknecht, hat die Kanzlerin offen-
bar vertrieben.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ach, wie witzig!)


Das scheint nicht ganz so spannend gewesen zu sein.

Der Kernsatz der Rede von Frau Merkel war neben
vielen Erwägungen und Erläuterungen: „Wo ein Wille
ist, ist auch ein Weg.“


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diesen Kernsatz finde ich gar nicht schlecht. Ich glaube
aber, dass man dabei eines nicht vergessen darf, liebe
Frau Merkel in absentia: Wenn man einen Willen hat,
dann muss man den auch glaubwürdig vertreten und
klarmachen, dass man diesen Willen hat. Aber das geht
der Bundesregierung in den letzten Tagen und Wochen
ab. Der Wille ist nicht mehr erkennbar.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben vor fünf Jahren bei der ersten großen Grie-
chenland-Debatte hier gesagt: Ohne Deutschland geht es
nicht. – Deswegen kann sich Deutschland keine irrlich-
ternde Regierung leisten, die behauptet, deutsche Fami-
lien würden für Griechenland blechen. Das ist einfach
nicht die Wahrheit und unlauter. Das muss aufhören,
Herr Gabriel!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zurufe von der SPD: Oh!)


Herr Kauder, da auch Sie zu dieser Koalition gehören:
Sie haben gesagt, dass die europäischen Gesetze, die wir
beschlossen haben, eingehalten werden müssen. Ich
denke in diesem Zusammenhang an Populismus, an eu-
roparechtsfeindliche Politik und daran, dass Deutschland
alle Nachbarn gegen sich aufbringt. Ich denke insbeson-
dere an die Pkw-Maut Ihrer CSU; denn das ist europa-
rechtsfeindliche Politik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Tun Sie doch nicht so, als würden sich nur die Griechen
nicht an Regeln halten. Es ist bei allen so. Kehren Sie
vor dem eigenen Haus!

Wissen Sie, was nämlich das Entscheidende ist? Wir
haben ein Problem in Europa mit dem Stil von Politik.
Dieser Stil von Politik ist das Problem. Nicht, dass ich
Frau Merkel nicht zutraue, einen Weg gehen zu wollen,
sondern der Stil ist das Problem, der Stil einer Politik,
die entlang von nationalen Zuschreibungen argumen-
tiert, in der sich eine Vorstellung von Europa manifes-
tiert, dass es geradezu ein neodarwinistischer Kampf von
nationalen Interessen sei, bei dem Staats- und Regie-
rungschefs einander treten und nur noch Nation gegen
Nation etwas durchsetzen muss. Sie versuchen hier, ein
Bild von Europa zu malen, um innenpolitisch fortzu-
kommen. Das aber geht an die Grundlage von Europa,
nämlich verhandeln zu können und zu Kompromissen
fähig zu sein. Dealfähig zu sein, das geht Ihnen ab.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir können uns nicht noch mehr Gipfel leisten, bei
denen nichts herauskommt, weil am Ende das Vertrauen
fehlt. Dass niemand mehr glaubt, dass Angela Merkel
und Alexis Tsipras in der Lage sind, einen Kompromiss
zu finden, ist das Übelste, was der Europäischen Union
überhaupt passieren kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Manuel Sarrazin


(A) (C)



(D)(B)


Dabei komme ich auf ein zentrales Versäumnis Ihrer
Politik. Sie versuchen mit diesem Stil, die Legitima-
tionsprobleme zu kaschieren, die diese Politik hat. Der
wahre Grund für diese Legitimationsprobleme ist aber
das zentrale Versäumnis, nicht genügend Mut zu haben,
die Krisenpolitik und das Management von Anfang an
mit einer mutigen Agenda der demokratischen Integra-
tion Europas zu verbinden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auf der einen Seite Europa voranzutreiben, mehr eu-
ropäisches Interesse zu brauchen, auf der anderen Seite
einfach seit fünf Jahren nichts zu liefern, wenn es um die
demokratische Integration geht, das ist das, was die Le-
gitimationsprobleme in Deutschland hervorruft, und
nicht irgendwelche Machofinanzminister aus Athen oder
sonst wo.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen ein anderes Europa. Da haben wir
Grüne unglaubliche Differenzen zu Ihrem Bild von Eu-
ropa. Wir wollen nämlich, dass die Europäische Wirt-
schafts- und Währungsunion durch europäisch han-
delnde Akteure im europäischen Interesse geleitet wird,
nicht durch ein deutsch-französisches Direktorium, das
allen anderen sagt, wo es langgeht, und immer nur den
besten Deal für sich herausholt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir finden, man muss Europa zusammenhalten. Wir
wollen, dass die Briten drinbleiben, wir wollen aber
auch, dass die Zentraleuropäer weiterhin auf dem Weg
Richtung Euro gehen. Ihre Vorstellungen von Euro-Zone
und dem Rest setzen den Keil an ein geschlossenes Eu-
ropa und drohen letztendlich Europa in eine Spaltung zu
treiben. Wir wollen, dass die Gemeinschaftsinstitutionen
innerhalb der Verträge handeln, und nicht irgendwelche
Gipfel im Rahmen von Merkels Unionsmethode, wir
wollen heraus aus den Hinterzimmern, und wir wollen
mehr soziales Europa, ein Thema, Herr Oppermann, das
bei Ihrer Agenda vollkommen untergegangen ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Deswegen möchte ich gerne jemanden zitieren, der
vor drei Jahren in der Bild-Zeitung geschrieben hat:

Aber auch das gehört zu Europa, und das wird sich
auch in Zukunft nicht grundsätzlich ändern: dass
man einander nicht überfordert, sondern miteinan-
der das Machbare gestaltet und mit Ausdauer, Ziel-
strebigkeit … immer weiter vorangeht.

Diese Sätze schreibe ich Herrn Tsipras und der Linkspar-
tei ins Stammbuch. Aber ich möchte auch, dass Sie, Frau
Merkel und Herr Gabriel, vor dem Maßstab dieser Sätze
von Helmut Kohl noch einmal Ihre aktuelle Politik und
Rhetorik in Deutschland überprüfen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1811203400

Norbert Spinrath ist der nächste Redner für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Norbert Spinrath (SPD):
Rede ID: ID1811203500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren! Das heutige Finanzmi-
nistertreffen in Luxemburg, ein denkbarer Sondergipfel
der Staats- und Regierungschefs am Wochenende, der
reguläre Gipfel Ende der nächsten Woche und mögli-
cherweise daraus resultierende Sondersitzungen auch
der Ausschüsse und des Plenums des Bundestages zei-
gen deutlich auf: Die kommenden Tage sind entschei-
dend nicht nur für Griechenland, die kommenden Tage
sind auch entscheidend für das Projekt Europa. Es geht
um dieses einzigartige Projekt von Frieden, Freiheit und
Solidarität, das uns seit mehr als 60 Jahren eint.

Da braucht eben nicht nur Griechenland Unterstüt-
zung; es braucht insgesamt eine tragfähige Lösung. Wir
unterstützen Sie, Frau Bundeskanzlerin, in Ihrem Ziel,
Griechenland in der Euro-Zone zu halten. Dazu muss es
aber auch nicht nur unsere Unterstützung geben, dazu
müssen wir nicht nur Brücken bauen, sondern dazu muss
sich eben auch die nicht mehr ganz so neue politische
Führung Griechenlands zu ihrer Verantwortung beken-
nen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Völlig inakzeptabel sind verbale Attacken mit aggres-
siver Rhetorik und Verunglimpfungen der Akteure. Es
ist zu hoffen, dass das irgendwie gearteter starker Tobak
ist, der eigentlich für die Galerie, für den heimischen Ge-
brauch in Griechenland bestimmt ist. Es macht die Sache
natürlich auch nicht wirklich besser, dass auch in unse-
rem eigenen Hause gelegentlich grobschlächtige Äuße-
rungen, die auf Kosten anderer die eigene Klientel be-
friedigen sollen, getan werden. Gleiche politische
Mechanismen gibt es leider eben hier und auch anderen-
orts. Aber ich sage auch ganz eindeutig – man achte auf
meine Blickrichtung –: Wir brauchen jetzt keine Pöbe-
leien, wir brauchen jetzt keine geschäftsordnungswidri-
gen Aktionen, sondern wir brauchen Besonnenheit und
einen kühlen Kopf, um eine Lösung zu finden; denn zu
viel steht auf dem Spiel.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es steht zu viel auf dem Spiel für Griechenland; denn
eine Zahlungsunfähigkeit würde kaum übersehbare Fol-
gen haben. Mindestens kurz- und mittelfristig wären die
wirtschaftliche und die soziale Lage in Griechenland de-
solat. Es steht zu viel auf dem Spiel für die Geberländer
selbst; denn sie wären von Zahlungsausfall betroffen.
Das würde deutliche Einschläge in den Staatshaushalten
hinterlassen. Es steht zu viel auf dem Spiel für die Zu-
kunft der Europäischen Union; denn wenn sich an die-
sem Beispiel zeigt, dass Integrationsschritte umkehrbar
sind, dann ist das ganze Projekt fundamental infrage ge-
stellt.





Norbert Spinrath


(A) (C)



(D)(B)


Zugegeben: Die Krisenbewältigungsmechanismen
der EU der letzten Jahre waren nicht ohne Fehler. Zu
einseitig waren die austeritären Auflagen. Zu wenig
wurden die Folgen für die ganz normale Bevölkerung,
für Arbeitnehmer, für Arbeitslose und für Rentner, gese-
hen. Zu wenig wurden Programme für Wachstum und
Beschäftigung begünstigt. Doch man muss eben auch
zur Kenntnis nehmen, dass die neue Kommission unter
Präsident Juncker und das Europäische Parlament mit
seinem Präsidenten Martin Schulz in den letzten Mona-
ten viele Brücken gebaut und viele Kompromisslösun-
gen gesucht haben. Endlich sind Investitionen, sind
Wachstum und Arbeitsplätze wieder ein Thema in Eu-
ropa und gelten nicht als ein fernes Versprechen, sondern
als Ergebnis einer ausgewogenen Wirtschaftspolitik, die
Angebot und Nachfrage im Blick hält.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die griechische Regierung darf diese Entwicklung
nicht ignorieren. Was heute scheinbar selbstverständli-
che Gemeinplätze sind, war vor einem halben Jahr noch
undenkbar. Es entsteht aber leider der Eindruck, dass es
in Griechenland nicht mehr um die Sache, sondern nur
noch ums Rechtbehalten geht. Ich aber glaube: Die Men-
schen in Griechenland, die Menschen, die betroffen sind,
die fühlen, die erleiden müssen, wollen nicht recht be-
halten, sondern sie brauchen endlich eine Lösung. Wir
müssen davon ausgehen, dass sie diese Aussicht auf
Normalität, diese Aussicht auf Stabilität und diese Aus-
sicht auf Lebenschancen für sich wollen. Noch können
alle Beteiligten gestärkt aus der Herausforderung hervor-
gehen. Die kommenden Tage sind entscheidend für
Griechenland und für seine Menschen, aber eben auch
für das Projekt Europa.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein weiteres zentra-
les Thema des kommenden EU-Gipfels ist die Flücht-
lingsfrage. Die Lösungen und die Lasten dürfen nicht
nur wenigen Mitgliedstaaten überlassen bleiben. Wir
brauchen endlich einen umfassenden, einen ganzheitli-
chen Ansatz in der Flüchtlingsfrage. Die Mehrzahl der in
der nächsten Woche anwesenden Staats- und Regie-
rungschefs muss endlich ihre Verweigerungshaltung und
ihre Ausflüchte aufgeben. Ich erhoffe mir von diesem
Gipfel ein wirklich deutliches, klares Signal des Euro-
päischen Rates für eine gemeinsame und für eine solida-
rische EU-Flüchtlingspolitik.

Im Rahmen einer umfassenden EU-Migrationspolitik
müssen Krisenprävention, Konfliktbewältigung und
partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Herkunfts-
und Transitländern anerkannt, aber endlich auch prakti-
ziert werden. Wir brauchen einen solidarischen Vertei-
lungsschlüssel für Flüchtlinge. Ich erwarte, dass die am
23. April 2015 auf dem Sondergipfel beschlossenen
Maßnahmen nun auch endlich vorangetrieben werden.

Wir müssen uns alle in Europa unserer gemeinsamen
Verantwortung stellen. Deshalb begrüße ich die Vor-
schläge der Kommission, Griechenland und Italien kurz-
fristig durch die Umsiedlung von Asylbewerbern zu ent-
lasten. Richtig bleibt es aber auch, dass die Kommission
eine grundsätzliche Diskussion über Alternativen zur

Dublin-Verordnung angestoßen hat. Italien, Spanien,
Malta und Griechenland werden mit ihrer Zuständigkeit
nach Dublin klar überfordert.

Die Seenotrettung ist weiterhin konsequent erforder-
lich. Ich denke, an dieser Stelle ist es angezeigt, den Be-
satzungen der Schiffe, die derzeit im Mittelmeer operie-
ren, einmal hohe Anerkennung für ihre dort geleistete
Arbeit auszusprechen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich habe eben von diesen vier Ländern mit ihren See-
grenzen gesprochen. Wir müssen feststellen: Die Flücht-
linge wollen gar nicht unbedingt dorthin, sie wollen auch
nicht unbedingt nach Deutschland, nach Österreich, nach
Schweden – das sind die Staaten, die die größten Zahlen
verzeichnen –; sie wollen nach Europa, und deshalb
müssen wir in Europa gemeinsam handeln.

Dazu gilt es, Fluchtursachen zu beseitigen, legale und
sichere Zugangswege zu schaffen und uns insgesamt in
Europa mit Blick auf humanitäre Hilfe, Übergangshilfe
vor Ort und gemeinsame Entwicklungszusammenarbeit
sehr viel mehr zu engagieren.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1811203600

Herr Kollege.


Norbert Spinrath (SPD):
Rede ID: ID1811203700

Nur funktionierende, nur stabile Staaten und aus-

kömmliche Lebenssituationen geben den Menschen si-
chere Lebensgrundlagen und können so die Entstehung
von Flüchtlingsströmen verhindern.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, der
kommende Gipfel ist entscheidend für eine Reihe von
grundsätzlichen Fragen. Ich wünsche Ihnen, Frau Bun-
deskanzlerin, und Ihren Kolleginnen und Kollegen gute
Entscheidungen, –


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1811203800

Herr Kollege.


Norbert Spinrath (SPD):
Rede ID: ID1811203900

– gute Entscheidungen für ein starkes, für ein solidari-

sches und für ein soziales Europa.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1811204000

Gerda Hasselfeldt ist die nächste Rednerin für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1811204100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor

zwei Wochen war die Welt zu Gast in Bayern. Der G-7-
Gipfel in Elmau war ein voller Erfolg, ein Erfolg für uns
alle: für Bayern, für Deutschland, ja, für die ganze Welt.





Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Thomas Oppermann [SPD])


Die Signale, die von Elmau ausgingen, waren eindeutig
und klar: Erstens. Die führenden Industriestaaten halten
zusammen. Zweitens. Sie verständigen sich gemeinsam
auf ehrgeizige Klimaziele. Drittens. Sie kämpfen ge-
meinsam gegen Epidemien und Hunger. Viertens. Die
klare Botschaft an Präsident Putin war: Die Annexions-
politik, die Expansionspolitik Russlands ist völker-
rechtswidrig. Die Sanktionen können nur dann beendet
werden, wenn Russland aufhört, die Ukraine zu destabi-
lisieren, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dieser Erfolg von Elmau ist ein persönlicher Erfolg
unserer Bundeskanzlerin. Ich möchte ihr dazu herzlich
gratulieren und ihr für diesen Einsatz danken.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es ist in der Debatte zu Recht deutlich geworden, dass
ein wesentlicher Schwerpunkt des Gipfels in den nächs-
ten Tagen die Migrations- und Flüchtlingspolitik sein
wird. Dieses Problem bewegt die Menschen. Wir haben
die größte Flüchtlingswelle der Nachkriegszeit. Die
Menschen fragen zu Recht: Was ist eure Antwort? Dabei
gilt sicher: Die Antwort kann nicht nur eine nationale
sein, sondern die Antwort muss eine europäische sein.
Es ist unser gemeinsames Anliegen, in Europa diese He-
rausforderung zu meistern.

Die Aufgaben sind so schwierig, dass sie nicht mit ei-
ner Maßnahme allein erledigt werden können. Es ist
Vielfältiges notwendig. Als Erstes gilt es, alles zu tun,
damit die Menschen in ihrer Heimat bleiben können, das
heißt die Fluchtursachen zu bekämpfen. Ich begrüße au-
ßerordentlich das große Engagement von Entwicklungs-
hilfeminister Gerd Müller, der unermüdlich unterwegs
ist, um für die Flüchtlinge Perspektiven aufzubauen und
zu schaffen, damit sie in ihrer Heimat bleiben können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Thomas Oppermann [SPD])


Es ist auch der richtige Ansatz, dass sich die Europäi-
sche Union im Herbst dieses Jahres zu einem EU-
Afrika-Gipfel in Malta trifft. Denn nur dann, wenn ge-
meinsam besprochen wird, wo Hilfe möglich ist, kann es
gelingen, instabile Regionen zu stabilisieren. Das muss
dann auch gemacht werden.

Daneben ist es aber auch notwendig, bilateral alle Ge-
legenheiten zu nutzen, instabile Regionen zu stabilisie-
ren: persönliche Kontakte oder Gespräche, die sich bei
Besuchen ergeben, sowohl in den betreffenden Ländern
als auch dann, wenn ausländische Gäste bei uns sind,
beispielsweise als der ägyptische Präsident hier war.
Auch das ist notwendig, um das Ziel zu erreichen, insta-
bile Regionen zu stabilisieren. Wir wollen die Möglich-
keit schaffen, dass Menschen in ihrer Heimat verbleiben
können; denn wir in Europa können nicht die Probleme
der ganzen Welt lösen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ein zweiter Ansatz, dem wir uns widmen müssen, ist
die Rettung der Menschen durch die Intensivierung der
Seenotrettung und die Bekämpfung der Schlepperban-
den. Ich begrüße, dass die finanzielle Unterstützung der
Mittelmeeroperationen, die von Frontex durchgeführt
werden, erhöht wurde. Ich danke ausdrücklich den Sol-
datinnen und Soldaten der Bundeswehr, die in den letz-
ten Wochen durch ihren Einsatz fast 4 000 Menschen ge-
rettet haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Daneben müssen wir auch über so manche neue, viel-
leicht noch nicht erprobte, noch nicht ganz zu Ende dis-
kutierte Lösungsmöglichkeit nachdenken, wie beispiels-
weise Asylzentren, entweder in Nordafrika oder in einer
anderen Region. Ich weiß auch, dass da noch viele Fra-
gen offen, viele Fragen zu klären sind. Aber die Heraus-
forderung ist so groß, dass wir nicht einfach Ideen und
Vorschläge, die sinnvoll erscheinen, auf die Seite wi-
schen können, nur weil noch Probleme und Fragen zu
klären sind. Das ist etwas, womit wir uns meines Erach-
tens zu beschäftigen haben; denn wir in Europa können
nicht alle Probleme Afrikas lösen. Vielmehr müssen wir
alle Lösungsmöglichkeiten auch wirklich ausschöpfen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Thomas Oppermann [SPD])


Die dritte Aufgabe liegt darin, dass wir an einer fairen
und gerechten Lastenverteilung in Europa zu arbeiten
haben. Es ist eben nicht fair und nicht gerecht, wenn
etwa drei Viertel der Asylbewerber in Europa von nur
fünf Staaten aufgenommen werden. Das hat mit Solida-
rität in Europa nichts zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Nun habe ich schon Verständnis dafür, dass die Inte-
ressen aufgrund der unterschiedlichen Möglichkeiten in
den einzelnen Nationalstaaten verschieden sind. Deshalb
begrüße ich, dass der Bundesinnenminister gemeinsam
mit seinem französischen Kollegen nicht einfach nur
eine Forderung aufstellt, sondern die Bedenken anderer
Staaten auch ernst nimmt, Vorschläge macht und an kon-
kreten Lösungen mitarbeitet. Ich hoffe sehr, dass diese
Lösungsansätze zu einem Ergebnis führen, das eine ge-
wisse Differenzierung und systematische Erarbeitung
des Problems mit beinhaltet.

Nun weiß auch ich, dass all diese Probleme nicht nur
europäisch gelöst werden können, sondern dass wir dazu
auch national unsere Hausaufgaben machen müssen.
Dazu dient unter anderem auch das Gespräch der Bun-
deskanzlerin mit den Ministerpräsidenten auf der Minis-
terpräsidentenkonferenz am heutigen Nachmittag, die
gut vorbereitet ist. Da geht es nicht nur um das Geld,
sondern auch – das ist ganz wesentlich – um strukturelle
Änderungen. Es wird damit deutlich: Dieses Problem ist
so groß, dass eine Verantwortungsgemeinschaft von
Bund, Ländern und Gemeinden gefragt ist. Dieser Ver-
antwortungsgemeinschaft, meine Damen und Herren,
sind wir uns im Bund auch bewusst und haben entspre-





Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)


chende Vorschläge sowohl im finanziellen als auch im
strukturellen Bereich unterbreitet.


(Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang StrengmannKuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich möchte bei dieser Gelegenheit all denen sehr
herzlich danken, die in unseren Städten und Gemeinden
ehrenamtlich arbeiten und die Arbeit der Behörden und
der Politik unterstützen. Das ist ein großes Engagement,
das gar nicht hoch genug gewürdigt werden kann.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ein weiterer Schwerpunkt des Gipfels wird auch die
Zukunft und die weitere Gestaltung der Währungsunion
sein. Es ist richtig, was die Bundeskanzlerin in ihrer Re-
gierungserklärung gesagt hat: dass wir auf der einen
Seite eine gemeinsame Währung und eine gemeinsame
Geldpolitik haben, dass wir auf der anderen Seite in der
Gestaltung der Wirtschaftspolitik aber eine weitgehende
Souveränität in breitem Umfang haben. Das führt dazu,
dass man immer wieder koordinieren muss, dass immer
wieder austariert werden muss, weil wir alle miteinander
durch eine nicht koordinierte Wirtschaftspolitik in Eu-
ropa unter Umständen Nachteile haben oder Schaden
nehmen. Deshalb ist es auch richtig, dass man sich bei
diesem Gipfel über eine intensivere Koordinierung der
Wirtschaftspolitik in Europa Gedanken macht. Mindes-
tens genauso wichtig aber ist, dass der Geist der Euro-
päischen Währungsunion nicht verloren geht. Dieser
Geist heißt: Vereinbarungen werden getroffen, und die
Vereinbarungen müssen auch eingehalten werden. – Das
gilt es sich immer wieder bewusst zu machen und zu un-
terstreichen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, zeigt sich ins-
besondere auch bei der aktuellen Situation in Griechen-
land. Das, was die derzeitige griechische Regierung ver-
anstaltet, schadet den Menschen in Griechenland,
schadet dem Euro und schadet auch Europa. Dessen
muss sich diese Regierung bewusst sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Thomas Oppermann [SPD])


Es wurde in der Debatte schon deutlich, dass die
Grundphilosophie, die in den letzten Jahren die Politik
der Währungsunion getragen hat – nämlich Solidarität
auf der einen Seite, verbunden mit Solidität auf der an-
deren Seite –, erfolgreich war, dass sie aber auch für
Griechenland in der Zukunft gelten muss. Nur dann wird
es auch eine Möglichkeit geben, dass sich die Situation
für die Menschen in Griechenland verbessert. Da kann
es nicht darum gehen, mit Frechheit und Erpressung zu
arbeiten, sondern da kann es nur darum gehen, miteinan-
der verantwortungsvoll umzugehen, Solidarität nicht
überzustrapazieren und auch die entsprechende Solidität
unter Beweis zu stellen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Thomas Oppermann [SPD])


Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, in Flüchtlingsfragen, in der Frage der Sicher-
heitspolitik oder auch der Wirtschaftspolitik wird uns
immer deutlicher bewusst – ich habe den Eindruck, auch
den Menschen im Land –, dass die großen Herausforde-
rungen unserer Tage nicht nur mit nationalen Maßnah-
men gelöst werden können, sondern dass sie zunehmend
einer globalen, mindestens aber europäischen Lösung
bedürfen. Dass dies bei den unterschiedlichen nationalen
Interessen, bei den unterschiedlichen nationalen Kompe-
tenzen nicht immer ganz einfach ist, erleben wir seit Jah-
ren – ich möchte fast sagen: seit Jahrzehnten. Die Bun-
deskanzlerin hat in all diesen Jahren bei schwierigsten
Diskussionen in Europa und darüber hinaus immer gro-
ßes Geschick bewiesen. Ich wünsche ihr auch weiterhin
eine glückliche Hand.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1811204200

Christian Petry ist der nächste Redner für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Christian Petry (SPD):
Rede ID: ID1811204300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Europa als
Stabilitätsgarant, als Garant für Frieden, für Wohlstand,
für Sicherheit – das ist unser Ziel für Europa. Das Jahr
2014 und das erste Halbjahr 2015 sehen aber ganz an-
ders aus. Die Krise in der Ukraine, der Krieg in der
Ukraine, der Krieg in Syrien und im Irak, das Flücht-
lingsdrama, das uns täglich beschäftigt, sind gravierende
Ereignisse. Dann kommt noch die Debatte über Grie-
chenland hinzu. Ich sage bewusst „hinzu“; denn im Ver-
hältnis zu den zuerst genannten Ereignissen ist sie un-
gleich vernachlässigbar. Wenn es um Leben und Tod
geht, dann ist das wesentlich bedeutender und hat mehr
unsere Beachtung verdient; wobei das Thema Griechen-
land selbstverständlich auch stark gewichtet werden
muss.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Aktuell überlagert das Thema Griechenland viele an-
dere Themen, auch in der heutigen Debatte. Ich möchte
daher nicht viel zu Griechenland sagen, sondern andere
Themen zum Schwerpunkt meiner Ausführungen ma-
chen. Für mich ist es allerdings selbstverständlich, dass
das griechische Volk zu unterstützen ist. Die Menschen
in Griechenland müssen im Zentrum unserer Betrach-
tung stehen, nicht wechselnde Regierungen oder Regie-
rungen, die keine Verhandlungsbereitschaft zeigen oder
sie vermissen lassen.

Griechenland gehört eindeutig zu Europa und zur
Euro-Zone. Andere Szenarien, wie sie hier genannt wur-
den, sind zwar kein „Weltuntergang“, wie das manchmal
beschrieben wird – der sieht anders aus –, aber sie haben
dramatische Folgen insbesondere für das griechische
Volk. Deswegen lautet mein Appell: Es muss bis zum





Christian Petry


(A) (C)



(D)(B)


Schluss verhandelt werden, um eine Lösung im Sinne
des griechischen Volkes zu finden, damit Griechenland
in der Euro-Zone bleiben kann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Eben haben wir eine Aktion der Grünen, Entschuldi-
gung, der Linken gesehen; die Grünen haben so etwas
auch schon öfter gemacht: Transparente hochzuhalten.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die waren besser gemalt!)


– Ja, die waren besser gemalt, Herr Sarrazin. – Ein klei-
ner Tipp: Wenn ihr Transparente hochhaltet, dann haltet
sie nicht vor das Gesicht, sonst werden die Bilder nicht
so schön. Ihr müsst sie neben das Gesicht halten.


(Rainer Arnold [SPD]: Die genieren sich doch dafür! – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Manchmal sind die Transparente schöner als das Gesicht!)


Das muss noch etwas geübt werden.

Wie gesagt: Griechenland gehört zur Euro-Zone.

In Bezug auf die Kriege in der Ukraine, in Syrien und
im Irak setzen wir auf die diplomatische Stärke der Bun-
desregierung, insbesondere von Außenminister Frank-
Walter Steinmeier. Damit sind die Ideen der europäi-
schen Sicherheitsarchitektur angesprochen.

Ich möchte zwei weitere Themen, Finanzthemen des
EU-Gipfels bzw. der Euro-Gruppe bzw. des Ecofin, hin-
zufügen. Thomas Oppermann hat es genannt: Es gibt ei-
nen Paradigmenwechsel in der Politik der EU. Martin
Schulz und Jean-Claude Juncker haben ihn eingeläutet.
Die Austerität steht nicht mehr im Vordergrund. Be-
schäftigung und Wachstum, das soziale Europa – das
sind die Ziele, die wir in Europa brauchen. Diese Politik
gilt es zu unterstützen. Auch auf den drei genannten Gip-
feln, die jetzt stattfinden, sind sie ein zentrales Thema.
Das ist die Politik, die wir Sozialdemokraten uns für Eu-
ropa, für ein soziales Europa vorstellen.


(Beifall bei der SPD)


Die Investitionsoffensive wurde genannt, ebenso ein
einheitlicher Binnenmarkt für das Kapital. Frau Merkel,
Sie haben das Europäische Semester und die Bedeutung
der länderspezifischen Empfehlungen genannt. Das ist
natürlich sehr wichtig. Ich schließe daraus, dass die
Schwerpunkte, die in den Empfehlungen genannt wer-
den, Bestandteil deutscher Politik sein werden.

Es geht um die Beseitigung des makroökonomischen
Ungleichgewichts. Die Instrumentarien hierfür sind:
mehr Investitionen, weitere Stärkung der Finanzkraft,
insbesondere der kommunalen Finanzkraft, höhere
Löhne, gleiche Bezahlung. Dies sind die Ziele, die aus
den länderspezifischen Empfehlungen hervorgehen.
Diese kann ich nur unterstützen. Ich freue mich, dass
dies im Sinne Ihrer Politik, so wie Sie sie heute vorgetra-
gen haben, ist; so habe ich Sie zumindest interpretiert.
Das sind auch die Ziele der Sozialdemokratie. Diese

sollten wir auf den anstehenden Gipfeln vertreten und
unterstützen.


(Beifall bei der SPD)


Geldpolitik und Geldmengenpolitik neu organisieren –
auch dies waren Schlagwörter der Regierungserklärung,
und dies hat auch Thomas Oppermann zu Recht hier ge-
nannt. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtsho-
fes, dass das OMT-Programm – der Aktien- und Anlei-
henankauf, insbesondere der Anleihenankauf – nicht
gegen europäisches Recht verstößt, war richtig. Schon
die bloße Ankündigung 2012 hat den Markt nachhaltig
beruhigt.

Genannt wurden auch: die weitere Entwicklung in der
Euro-Zone, das Gabriel-Macron-Papier, die Reform der
Wirtschafts- und Währungsunion, gleiche Ausgangsbe-
dingungen in allen EU-Staaten, Steuerharmonisierung
bei der Unternehmensbesteuerung, ein eigenes Budget
im Euro-Raum. Dies ist eine Forderung, die wir unter-
stützen. Sie muss auch eine weitere Konsequenz haben
– darauf möchte ich zum Schluss eingehen –: Sie muss
in den europäischen Instrumentarien verankert werden.

Es ist eben gesagt worden, dass zunächst im Rahmen
der bestehenden Verträge – Frau Merkel, Sie haben dies
so ausgedrückt – die weiteren Schritte gegangen werden.
Das „Zunächst“ bedeutet: Die Verträge können auch
weiterentwickelt werden. Hier ist die politische Forde-
rung, dass wir einen gemeinsamen Kapitalmarkt und
eine gemeinsame Geld- und Währungspolitik brauchen.
Es müssen die Europäische Zentralbank und die europäi-
schen Einrichtungen in diesem Sinne gestärkt werden,
damit sie, was wir brauchen, zu einer echten Europäi-
schen Zentralbank mit Lenkungswirkung für den Euro-
Raum werden.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1811204400

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.


Christian Petry (SPD):
Rede ID: ID1811204500

Hierzu braucht es die Bereitschaft, die europäischen

Verträge weiterzuentwickeln.

Friede, Humanität für Flüchtlinge, Hilfe für Grie-
chenland, neue Finanzarchitektur, das sind große He-
rausforderungen für die kommenden Gipfel und für die
kommende Zeit. Der Einsatz für die große Vision eines
sozialen Europas lohnt sich aber.

In diesem Sinne: Glückauf!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1811204600

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Gunther

Krichbaum von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Gunther Krichbaum (CDU):
Rede ID: ID1811204700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die heutige Debatte zum Europäischen Rat zeigt eines:





Gunther Krichbaum


(A) (C)



(D)(B)


Wir beschäftigen uns schwerpunktmäßig mit einem
Thema, das so eigentlich gar nicht auf der Tagesordnung
steht, nämlich mit Griechenland. Das zeigt aber eben
auch, wie sehr die Krise in und um Griechenland unsere
Energien beansprucht, die wir dann auf andere Themen,
die tatsächlich auf der Tagesordnung stehen, gar nicht
mehr verwenden können, seien es die dramatischen Er-
eignisse in der Ukraine, sei es vor allem auch die drama-
tische Situation der Flüchtlinge.

Gleichermaßen: Die Lage ist, wie sie ist. Deswegen
möchte auch ich, zu Beginn jedenfalls, auf die Lage in
Griechenland eingehen. Wichtig scheint mir dabei, eines
zu unterstreichen: Die Politik zur Stabilisierung des Euro
und damit die Politik unserer Bundeskanzlerin Angela
Merkel war und ist erfolgreich.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Wir dürfen nicht vergessen, wo wir eigentlich herkamen:
Wir hatten 2009 und 2010 die seit dem Zweiten Welt-
krieg schwerste Finanz- und Wirtschaftskrise in Europa,
ja weltweit. Etliche Länder gerieten in Schieflage. Im
Falle der Insolvenz eines dieser Länder hätte ein verhee-
render Dominoeffekt gedroht, den wir wahrscheinlich
kaum mehr hätten beherrschen können.

Seit dieser Zeit haben wir eine Stabilisierungsarchi-
tektur in der Euro-Zone geschaffen, die sich sehen lassen
kann. Wir haben die EFSF begründet, die dann später
durch den ESM abgelöst wurde. Wir haben das Europäi-
sche Semester mit seinen länderspezifischen Empfehlun-
gen aus der Taufe gehoben. Wir haben eine Bankenunion
geschaffen. Wir holten im Prinzip das im Zeitraffer nach,
was wir vernünftigerweise damals mit dem Vertrag von
Maastricht schon hätten machen müssen, sprich: mit der
Einführung des Euro.

Da gebührt mein persönlicher Dank ganz besonders
unserem Bundesfinanzminister Herrn Dr. Schäuble, der
sich in mitunter sehr zähen Verhandlungen erfolgreich
für diese Strategie eingesetzt hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Rainer Arnold [SPD] und Joachim Poß [SPD])


Die damals drohenden Ansteckungsgefahren jedenfalls
sind heute weitestgehend gebannt.

Und nun zu Griechenland. Griechenland wird an die-
sem Erfolg nichts ändern – so oder so. Denn zu einer
Rettung gehören mindestens zwei: der eine, der rettet,
und der andere, der sich auch retten lassen muss. Bitter
ist, dass das Land grundsätzlich auf einem guten Weg
war, bis es die Neuwahl in Griechenland gab und damit
eine linksradikale und rechtspopulistische Regierung ans
Ruder kam. Das ist selten von Erfolg gekrönt.

In Griechenland gab es drei Quartale hintereinander
mit Wirtschaftswachstum, und es gab wieder einen soge-
nannten Primärüberschuss. Das heißt, dass die Einnah-
men – unter Außerachtlassung der Zinsen – die Ausga-
ben überwogen. All das darf man nicht vergessen. Dieser
Weg wurde durch Vereinbarungen zwischen der griechi-
schen Regierung und der damals bestehenden Troika
eingeleitet. Diese Vereinbarungen hatten Erfolg.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Joachim Poß [SPD])


Das Aufkündigen dieser Vereinbarungen führte nicht nur
innerhalb der Euro-Zone zu einem Vertrauensverlust,
sondern auch dann, als es darum ging, ausländische In-
vestoren zu bewegen, in das Land zu kommen. Gerade
das hat dazu geführt, dass die Arbeitslosigkeit durch das
Ausbleiben von Investitionen angestiegen ist.

Soll tatsächlich eine erfolgreiche Rettung erfolgen
– was wir uns hier alle, glaube ich, parteiübergreifend
wünschen –, dann muss die Regierung in Athen eine
180-Grad-Wende vollziehen. Wir sind hier weder im Ka-
sino noch auf einem Basar. Deswegen muss auch die
linksradikale Regierung in Athen folgende zentrale Fra-
gen beantworten: Ist Griechenland bereit, seine hohen
Staatsausgaben zu reduzieren? Ist das Land bereit, ein
funktionierendes Steuersystem – insbesondere auch, was
den Steuervollzug angeht – auf die Beine zu stellen?

Herr Kollege Poß und ich hatten schon im Europaaus-
schuss dazu eine Diskussion. Die steuerlichen Außen-
stände Griechenlands belaufen sich auf eine Summe von
circa 68 bis 69 Milliarden Euro. Das Ganze wird noch
durch ein Gesetz der Regierung von Herrn Tsipras im
März befeuert, wonach eine Steuerstundung erfolgte –
aber unter Außerachtlassung einer Obergrenze; die
Grenze der in Rede stehenden 1 Million Euro wurde auf-
gegeben. Die Folge war, dass dieses Gesetz der links-
radikalen Regierung die Oligarchen in Athen – genau
diejenigen, welche diese Regierung gemäß ihren Wahl-
versprechungen eigentlich zur Kasse bitten wollte – mit
begünstigte.

Deswegen gilt – das dürfen Sie zu meiner Linken ru-
hig einmal zur Kenntnis nehmen – eines: Wenn es schon
Steueraußenstände in einer solchen Dimension gibt,
dann gehört es zur Verantwortung der Regierung eines
Landes, zunächst die eigenen Staatsbürger zur Kasse zu
bitten bzw. sie für entsprechende Einnahmen des Staates
mit heranzuziehen. Das gehört zur Wahrheit dazu.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich könnte jetzt weitermachen und über die Rentenre-
form sprechen. Leider ist Herr Gysi jetzt nicht mehr zu-
gegen. Ihm würde ein Artikel aus der gestrigen FAZ wei-
terhelfen, in dem alles minutiös beschrieben wird. Denn
es gibt in Griechenland nicht nur die staatliche Rente; es
gibt auch die Zusatzrenten. Deswegen liegt die Rente in
diesem Land kaufkraftbereinigt im Durchschnitt bei
11 240 Euro jährlich – und damit tatsächlich weit über
dem, was in osteuropäischen Ländern gezahlt wird. Ge-
nau das macht die Sache so schwierig.

Der griechische Finanzminister wurde bei einem
Euro-Gruppen-Treffen von seinem slowakischen Kolle-
gen an die Seite genommen, und ihm wurde vom Slowa-
ken gesagt: Bitte, komm doch mal wieder zurück in die
Spur. Bei mir sind die Durchschnittsrenten niedriger als
in deinem Land.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Vor zehn Jahren, oder was? – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Wollen Sie Griechenland mit Russland vergleichen?)






Gunther Krichbaum


(A) (C)



(D)(B)


Daraufhin sagt ihm Herr Varoufakis ins Gesicht: Wenn
die Deinigen damit auskommen können, die Meinigen
tun es nicht. – Mit dieser Art von Arroganz, mit dieser
Attitüde gewinnen die Griechen die Sympathien in Eu-
ropa mit Sicherheit nicht!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Joachim Poß [SPD])


Bei all den notwendigen Strukturreformen – zum Bei-
spiel bei der Privatisierung – hat Europa bzw. die Euro-
päische Union viel Solidarität bewiesen. Wir hatten
bereits im Jahre 2012 die Entsendung von 120 Finanzbe-
amten angeboten. Jetzt, im Jahr 2015, haben wir noch
einmal weitere 500 angeboten, die beim Aufbau einer ei-
genen Steuerverwaltung in Griechenland mithelfen
könnten. Frankreich hat Hilfe angeboten. Die Nieder-
lande haben im Bereich der Gesundheitsversorgung an-
geboten, ein funktionierendes Gesundheitssystem auf
die Beine zu stellen. All das geschah im Rahmen der
technischen Hilfe. Es ist schade, dass diese Hilfe bis zum
heutigen Tag nicht angenommen wird und tatsächlich
auch das Deutsch-Griechische Jugendwerk davon be-
troffen ist.


(Beifall der Abg. Bettina Hagedorn [SPD])


Ich möchte ein Letztes sagen: Die Zeit ist noch nicht
abgelaufen, aber wir werden auch Zeit – egal welche Er-
gebnisse seitens der Institutionen erzielt werden – für
unsere parlamentarischen Beratungen benötigen. Ich
darf nur in Erinnerung rufen, dass die nächsten regulären
Fraktionssitzungen erst am 30. Juni stattfinden. Jeder
weiß, was der 30. Juni, 24 Uhr, für ein Datum ist. Man
muss nur an den IWF denken.

Insofern: Wir wünschen uns, dass Griechenland Mit-
glied der Euro-Zone bleibt; denn keiner glaube, dass das
Gegenteil verheißungsvoller und besser wäre – weder
für Deutschland noch für Europa.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1811204800

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Rainer

Arnold von der SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Andreas Mattfeldt [CDU/CSU])



Rainer Arnold (SPD):
Rede ID: ID1811204900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Natürlich steht die zugespitzte Situation um Griechen-
land im Fokus der heutigen Debatte, die wir in Vorberei-
tung auf den Europäischen Rat abhalten. Aber es gibt
auch die anderen wichtigen Themen, die nicht unterge-
hen dürfen. Ich bin froh, dass die Kanzlerin eines ange-
sprochen hat, das uns auch auf den Nägeln brennt, näm-
lich die Vertiefung der Gemeinsamen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik.

Nächste Woche wird eine neue Europäische Sicher-
heitsstrategie aufs Gleis gesetzt. Das ist überfällig. Die

letzte stammt aus dem Jahr 2003. Damals sprachen wir
noch nicht von hybrider Kriegführung, von Attacken in
Computersystemen und davon, dass Terroristen ganze
Staaten gründen wollen. Wir hätten uns alle nicht vor-
stellen können – vielleicht auch nicht wollen –, dass mit-
ten in Europa mit Gewalt Grenzen verändert werden.

An der Stelle will ich den Linken sagen, die die russi-
schen Atomraketen als Antwort auf amerikanische be-
zeichnet haben: Liebe Kolleginnen und Kollegen, blei-
ben Sie wenigstens bei der Wahrheit! Russland hat
angekündigt, die 40 neuen Atomraketen im Verlauf die-
ses Jahres zu installieren. Das heißt, Herr Putin hat den
Auftrag dafür schon lange vor der Ukraine-Krise gege-
ben.


(Zuruf von der LINKEN)


Nehmen Sie bitte auch zur Kenntnis: Europa hat die Mi-
litärausgaben nach Ende des Kalten Krieges über viele
Jahre abgesenkt; Russland hat die Militärausgaben in
den letzten Jahren verdoppelt. Bitte verwechseln Sie
nicht Ursache und Wirkung!


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir Sozialdemokraten verfolgen schon lange die Vi-
sion europäischer Streitkräfte. Wer Visionen hat, soll
nicht zum Arzt gehen, auch wenn der Altkanzler das ein-
mal meinte. Vielmehr braucht Politik zukunftsweisende,
groß angelegte Pläne und Ideen. Natürlich wissen wir:
Die Umsetzung einer Vision ist weit entfernt – ich werde
es in diesem Fall nicht mehr erleben –, sie liegt vielleicht
auch im Nebel; aber wir brauchen eine Vision, damit un-
sere konkreten Schritte in den nächsten Jahren immer
auf dieses Ziel gerichtet sind und wir damit in die rich-
tige Richtung gehen.

Wir merken, wenn wir mit europäischen Partnern re-
den, insbesondere nach der Rede von Herrn Juncker, in
der er das Ziel europäischer Streitkräfte formuliert hat,
dass wir aufpassen müssen, uns nicht aufs Glatteis zu be-
geben, indem wir nämlich die ganze Zeit über die große
Vision reden und damit alle Bedenkenträger der Welt
dazu einladen, uns zu erklären, dass diese Vision nicht
kommt; denn dadurch würden wir die Chance verspie-
len, in den nächsten Jahren die konkreten, machbaren
Schritte einzuleiten. Es geht um die kleinen, um die vie-
len Schritte, und am Ende kann eine europäische Armee
stehen.

Es ist ein guter und ein schlechter Zeitpunkt zugleich,
die Idee einer europäischen Armee zu diskutieren:

Es ist ein schlechter Zeitpunkt, weil die Krise in der
Ukraine natürlich dazu geführt hat, dass sich die Verei-
nigten Staaten wieder stärker in Europa engagieren. Das
könnte den einen oder anderen Partner, insbesondere in
Osteuropa, dazu verleiten, zu glauben: Wir brauchen
keine Vertiefung der europäischen Sicherheitspolitik.
Amerika steht ja bereit. – Damit springt man viel zu
kurz; denn Amerika bleibt bei der langfristigen Strate-
gie, sich selbst mehr im asiatisch-pazifischen Raum zu
engagieren und von uns Europäern – wie ich meine, zu





Rainer Arnold


(A) (C)



(D)(B)


Recht – zu erwarten, dass wir selbst für die Sicherheit in
Europa und an den Rändern Europas mehr leisten und
mit den Sicherheitsproblemen in der Region besser fer-
tigwerden. Dies wird so bleiben.

Gut ist die Situation für die Diskussion der Idee einer
europäischen Armee deshalb, weil wir alle ein gemein-
sames Problem haben: Die Kassen sind leer. Wenn wir
es nicht schaffen, eine vertiefte europäische Sicherheits-
politik zu etablieren, werden wir auch in Zukunft für
1,5 Millionen Soldaten – das ist eine ganze Menge – in
28 nationalen Armeen in Europa knapp 200 Milliarden
Euro Jahr für Jahr ausgeben. Und wir bekommen nicht
wirklich viel dafür. Auch wir als großes Land in Europa
haben – das ist uns in den letzten Monaten sehr deutlich
aufgezeigt worden – erhebliche Fähigkeitslücken. Das
hat nichts damit zu tun, das wir zu wenig Geld zur Verfü-
gung haben, sondern das hat vor allen Dingen etwas da-
mit zu tun, dass wir in Europa unser Geld nicht effizient
und zielführend ausgeben. Wir haben fünf Programme
für Kampfflugzeuge, 20 Programme für gepanzerte Fahr-
zeuge usw. Jedes Land trägt hohe Entwicklungskosten
und produziert am Ende angesichts der Veränderungen
in der Welt nur noch kleine Stückzahlen.

In der Politik gibt es immer Alternativen. Eine Alter-
native zu einer Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik lautet aber, Geld zum Fenster hinauszuwer-
fen, indem man Steuergelder nicht effizient einsetzt.
Eine andere Alternative ist, dass sich Nationalstaaten
von der Gestaltung der Welt international abmelden. Ein
Land allein wird kein Gehör finden. Dazu brauchen wir
Europa, und Europa muss über entsprechende Fähigkei-
ten verfügen.

Eine andere Alternative lautet übrigens auch: Wenn
Europa nicht leistungsfähiger wird, wird in Krisensitua-
tionen ganz schnell der Ruf nach der NATO laut. Damit
würden wir die eigentliche Chance und Stärke Europas
verspielen. Die NATO verfügt über viele militärische
Mittel. Sie kann Einsätze beschicken und führen. Aber
Europa verfügt über den ganzen Baukasten der Krisen-
bewältigung. Dieser Baukasten enthält viel mehr als mi-
litärische Macht: Präventionsmaßnahmen, Diplomatie,
faire wirtschaftliche Zusammenarbeit, Erfahrungen hin-
sichtlich der Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit und
vieles andere mehr. Dieser gesamte Baukasten, dieser
vernetzte Ansatz ist bei großen Krisen in der Welt sehr
wichtig.

Alles in allem: Wir wünschen uns, dass Deutschland
Motor dieser europäischen Entwicklung bleibt bzw.
wird. Wir wünschen uns, dass wir in Europa als verläss-
licher Partner angesehen werden und die Europäische
Union auch eine europäische Verteidigungsunion wird.

Recht herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1811205000

Vielen Dank. – Als letzter Redner in dieser Debatte

spricht Eckhardt Rehberg von der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt zum Flughafen Rostock, Herr Rehberg!)



Eckhardt Rehberg (CDU):
Rede ID: ID1811205100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir haben am 27. Februar 2015 einem Antrag des Bun-
desministeriums der Finanzen zugestimmt, dessen Basis
die Erklärung der Euro-Gruppe vom 20. Februar 2015
war. Ich glaube, wir stehen in diesen Tagen vor einer
Richtungsentscheidung. Es stellt sich nämlich die Frage,
ob Regeln, die man in Europa miteinander vereinbart
hat, gelten oder nicht. Zugestimmt haben im Februar
über 500 Mitglieder des Deutschen Bundestages. Das
sage ich insbesondere in Richtung der Linken und der
Grünen, weil der Kollege Sarrazin gesagt hat: Wo ein
Wille ist, da ist auch ein Weg.


(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das hat die Kanzlerin auch gesagt!)


– Ja, auch sie hat das gesagt. – Um einen gemeinsamen
Weg zu finden, müssen wenigstens zwei diesen Willen
haben.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Ich möchte aus der Erklärung der Euro-Gruppe vom
20. Februar 2015 zitieren:

Die griechische Regierung hat sich ausdrücklich zu
einem breiteren und tieferen Reformprozess ver-
pflichtet mit dem Ziel, dauerhaft bessere Wachs-
tums- und Beschäftigungschancen zu schaffen, für
einen stabilen und krisenfesten Finanzsektor zu sor-
gen und die soziale Fairness zu verbessern.

Sie sagt weiter zu: keine „Zurücknahme von bisherigen
Maßnahmen sowie einseitige Änderungen an den Wirt-
schafts- und Strukturreformen“. – Liebe Kolleginnen
und Kollegen, das ist die Basis, über die wir reden. Die
Basis ist das laufende Programm aus dem Jahr 2012. Ich
finde, es ist dann die Frage – da hat Thomas Oppermann
hundertprozentig recht, und deswegen ist das für mich
auch eine Richtungsentscheidung –, ob sich Zocken und
Pokern durchsetzen, ob sich unseriöse Politik durchsetzt,
ob ein einziges Land die restliche Europäische Union be-
stimmt. Das ist die zentrale Frage, vor der wir in den
nächsten Tagen stehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Joachim Poß [SPD] – Zuruf des Abg. Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Kollege Sarrazin, man muss diese Frage stellen: Was
hat die griechische Regierung aus Linksradikalen und
Rechtspopulisten selbst getan?


(Zuruf von der CDU/CSU: Nichts!)


1,7 Milliarden Euro Steuern wurden in den ersten fünf
Monaten weniger eingenommen. Herr Varoufakis sagte
so locker in einem Interview mit einer deutschen Tages-
zeitung: Steuersünder kann ich nicht verfolgen, weil ich
keine funktionierende Justiz habe, und bei der Steuerver-





Eckhardt Rehberg


(A) (C)



(D)(B)


waltung habe ich keine Leute, weil ich die nicht bezah-
len kann. – Aber gleichzeitig einen öffentlichen Fernseh-
sender zu eröffnen und 2 000 linke Syriza-Anhänger zu
befriedigen, das ist keine seriöse Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


Ich kann in Griechenland auch keinen Weg erkennen,
wie man zu Wachstum und Beschäftigung kommen will.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1811205200

Herr Kollege Rehberg, lassen Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Sarrazin zu?


Eckhardt Rehberg (CDU):
Rede ID: ID1811205300

Ja.


Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811205400

Herr Kollege Rehberg, wie Sie wissen, habe ich von

Anfang an mit meiner Fraktion allen Griechenland-Pa-
keten hier im Bundestag zugestimmt, und zwar bewusst
und in dem Wissen, dass es auch mit Konditionalitäten
verbunden ist.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Guter Mann!)


Ich habe auch von Anfang an diese griechische Regie-
rung kritisiert. Beim Amtsantritt dieser Regierung habe
ich eine Pressemitteilung herausgegeben, die besagt hat,
dass es ein Tritt ins Gesicht aller Europäer ist, dass dort
mit Rechtspopulisten koaliert wird.

Aber nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass nicht alle,
die Kritik an der griechischen Regierung haben, automa-
tisch richtig finden müssen, was die Bundesregierung
hier macht, und dass dieses Spiel von Zockerei und „Wir
gewinnen, die verlieren“ oder anders herum auch zum
Stil von Frau Merkel zu werden droht. Ich bin der Mei-
nung, Frau Merkel, dass der Stil von manchen machisti-
schen Finanzministern zu Ihnen gar nicht passt.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich sehe im Moment die Gefahr, dass dieses Spiel, egal
ob es aus Athen, aus Brüssel oder anderswo gespielt
wird, auch zu einer Leitlinie Ihrer Politik in Europa wird.

Ihre Redebeiträge, Herr Rehberg, in denen Sie das
hier so betonen, sehe ich genau in diesem Zusammen-
hang. Sie betonen Regeln und Selbstverständlichkeiten.
Ich habe keinen Zweifel daran, dass es am Ende einen
Deal mit Griechenland geben wird, der sich innerhalb
dieser Regeln bewegt. So doof sind die in Athen doch
auch nicht. Also tun Sie nicht so, als stände das noch in-
frage.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Eckhardt Rehberg (CDU):
Rede ID: ID1811205500

Herr Sarrazin, wenn Sie eine Antwort von mir erwar-

ten, dann bleiben Sie bitte stehen. – Da Sie ja am 27. Fe-
bruar zugestimmt haben


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Gegensatz zu manch ande ren! – Gegenruf der Abg. Sabine Weiss [Wesel I] (CDU/CSU]: Jetzt lassen Sie ihn doch antworten! – Gegenruf der Abg. Katrin GöringEckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lasse ich ihn gerne!)


und eben betont haben, dass Sie für Konditionierungen
eintreten: Die Basis ist das laufende Programm, das
Ende 2012 vereinbart worden ist. Im Dezember letzten
Jahres, noch unter der alten Regierung, hat man die Er-
wartung haben können, dass die Konditionen erfüllt wer-
den, zum Beispiel beim Primärüberschuss, aber auch in
anderen Bereichen. Griechenland war kurz davor, an die
Kapitalmärkte zu gehen.

Wenn Sie uns jetzt vorwerfen, dass wir nicht kompro-
missbereit sind, dann möchte ich Sie darauf hinweisen,
dass auf Initiative des französischen Präsidenten und der
deutschen Bundeskanzlerin am 1. Juni die Troika ein
Angebot gemacht hat. Herr Juncker hat am 3. Juni auf
Basis dieses Angebots, das deutlich unterhalb des lau-
fenden Programms war, verhandelt; ich will jetzt nicht
auf Details eingehen. Jean-Claude Juncker und Martin
Schulz sind hier schon oft genannt worden; Jean-Claude
Juncker ist wirklich ein Europäer, ein Mann, der viel
Verständnis für Griechenland hat. Er hat sich mit dem
griechischen Ministerpräsidenten am Mittwoch, dem
3. Juni, auf Basis dieses Aide-Mémoires zusammenge-
setzt. Nachdem sie auseinandergegangen sind, hat
Tsipras am Freitag im griechischen Parlament die EU-
Kommission, die EZB, den IWF, letztlich ganz Europa
beschimpft. Das ist kein sauberer, kein fairer Umgang
miteinander, Herr Kollege Sarrazin.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es ist keine einseitige, sondern eine beidseitige Ge-
schichte. Ich bin der Meinung, dass Europa, dass
Deutschland, dass Frankreich Griechenland in den letz-
ten Tagen und Wochen sehr, sehr weit entgegengekom-
men sind. Da gibt es keine Defizite, ganz im Gegenteil.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wenn hier jemand wie die Linken Schilder hochhält,
auf denen „Solidarität mit Griechenland“ steht, dann
muss man sich vielleicht einmal in andere Parlamente hi-
neinversetzen: in die der Slowakei, Sloweniens, Lett-
lands, Estlands, Litauens.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ach, jetzt kommt das wieder!)


– Ja, es kommt deswegen, weil eine Arroganz der Grie-
chen gegenüber diesen Ländern zum Tragen kommt;
Kollege Krichbaum ist darauf eingegangen. Das ist ja
belegt. Das heißt, die Griechen müssen auch einmal auf
Länder in Europa, die etwas geleistet haben, die aber
heute noch ein niedrigeres Wohlstandsniveau haben,
Rücksicht nehmen.

Man muss auch auf Länder wie Spanien, Portugal,
Irland und Zypern, die sich in einem mühsamen Prozess
aus den Reformprogrammen herausgearbeitet haben und
heute weitestgehend auf eigenen Beinen stehen können,
Rücksicht nehmen. Es ist doch ein Erfolg der Politik der





Eckhardt Rehberg


(A) (C)



(D)(B)


letzten Jahre, wenn Portugal über 14 Milliarden Euro
umschulden bzw. umschichten kann.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von der LINKEN)


Deswegen widerspreche ich vielen Kolleginnen und
Kollegen auch in meiner Fraktion, die schon in der letz-
ten Legislaturperiode gesagt haben: Wir fahren mit Eu-
ropa einen falschen Kurs. – Nein, Spanien, Portugal,
Irland und Zypern haben gezeigt, dass der richtige Kurs
verfolgt wurde. Dieser Kurs konnte deswegen erfolg-
reich sein, weil diese Länder bereit waren, die Regeln
einzuhalten, und sich angestrengt haben. Spanien ist
heute in Erwartung eines Wachstums von über 3 Prozent.


(Richard Pitterle [DIE LINKE]: Und trotzdem sind Millionen ohne Arbeit auch in Spanien!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich war mit dem
Kollegen Brinkhaus vor einigen Wochen in Griechen-
land. Wir haben dort mit Vertretern unserer Schwester-
partei und mit Vertretern von Syriza geredet. Was mich
persönlich tief betroffen gemacht hat: Thema waren ein
Schuldenschnitt und die Forderung „Gebt uns noch mehr
Geld!“ – Förderung des Mittelstands, Forschung, Ent-
wicklung, Innovation, Wachstum und Beschäftigung wa-
ren nicht einmal Thema; diese Aspekte mussten erst der
Kollege Brinkhaus und ich ansprechen, auch bei Herrn
Dragasakis, dem Vizepremier. Es ging auch nie um die
Frage: Wie kommen wir an europäische Regionalmittel
heran? Im Rahmen des Europäischen Sozialfonds wer-
den in den nächsten Jahren über 20 Milliarden Euro für
Griechenland bereitgestellt; das war aber überhaupt
nicht Thema.

Was mich im Gespräch bei Herrn Dragasakis am
meisten betroffen gemacht hat: Es waren zwar fünf,
sechs junge Leute dabei; sie waren gut ausgebildet,
zweisprachig, und einige von ihnen haben in Italien,
Deutschland oder Großbritannien studiert. Aber über die
Jugend in Griechenland hat sich niemand unserer Ge-
sprächspartner, egal von welcher Partei, auch nur ansatz-
weise Gedanken gemacht. Deswegen sage ich: Es geht
um eine Richtungsentscheidung. All denen, die heute
Solidarität mit Griechenland gefordert haben, gerade den
Linken, sage ich: Wir haben als Europäer genug Solida-
rität mit Griechenland geübt. Jetzt haben die Griechen,
hat die griechische Regierung die Bringschuld.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1811205600

Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, da-

mit schließe ich diese Debatte.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
18/5229. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Niemand.
Damit ist der Entschließungsantrag mit den Stimmen der
Koalition und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt worden.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 a auf:

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Anhebung des Grundfreibetrags, des
Kinderfreibetrags, des Kindergeldes und Kin-
derzuschlags

Drucksachen 18/4649, 18/5011

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-
ausschusses (7. Ausschuss)


Drucksache 18/5244

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

Drucksache 18/5245

Hierzu liegen Änderungsantrage der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Über den Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen werden wir später namentlich abstimmen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in die-
ser Debatte spricht für die Bundesregierung der Parla-
mentarische Staatssekretär Dr. Michael Meister. – Sie
haben das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)


D
Dr. Michael Meister (CDU):
Rede ID: ID1811205700


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
gen! Wir entscheiden heute im Deutschen Bundestag
über die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger um
mehr als 5 Milliarden Euro pro Jahr. Das ist sehr wohl
ein riesiger Entlastungsbetrag, obgleich wir im Haushalt
den Ausgleich und die schwarze Null weiter aufrecht-
erhalten wollen. Wir stellen dabei die Entlastung der Fa-
milien in Deutschland in den Mittelpunkt. Familien sind
die Keimzelle unserer Gesellschaft, und deshalb bedür-
fen sie der besonderen Unterstützung und Förderung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Daneben bauen wir die Wirkung der kalten Progression
ab. Ich glaube, es ist richtig, dass wir die Inflationswir-
kungen auf den Steuertarif an die Bürger in unserem
Lande zurückgeben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD])


Was sieht der vorliegende Gesetzentwurf vor? Der
steuerliche Grundfreibetrag wird von 8 354 Euro auf am
Ende 8 652 Euro angehoben, und der Kinderfreibetrag
erhöht sich von 4 368 Euro auf 4 608 Euro. Das Kinder-
geld wird im gleichen Verhältnis wie der Kinderfrei-
betrag angehoben. Davon profitieren in Deutschland
16 Millionen Kinder. Ich glaube, das ist ein richtiger An-
satz, um die Kinder in unserem Lande zu fördern und
besserzustellen.





Parl. Staatssekretär Dr. Michael Meister


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir wollen zudem dafür sorgen, dass möglichst viele
Kinder in diesem Land in einer Umgebung aufwachsen,
in der ihre Familien nicht auf soziale Transferleistungen
angewiesen sind. Uns geht es nicht darum, möglichst
viele Transferleistungen zu gewähren, sondern darum,
Kinder dadurch besserzustellen, dass sie aufwachsen
können, ohne auf soziale Transferleistungen angewiesen
zu sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb werden wir auch den Kinderzuschlag für Ge-
ringverdiener um 20 Euro monatlich auf 160 Euro anhe-
ben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Die Familienleistungen waren bereits Gegenstand des
Regierungsentwurfs; sie haben an der gesamten Summe
von 5,4 Milliarden Euro pro Jahr einen Anteil von
3,7 Milliarden Euro. Dieses Geld kommt im Wesentli-
chen Familien mit kleinen und mittleren Einkommen zu-
gute. Auch das ist aus meiner Sicht eine richtige Ziel-
richtung und Prioritätensetzung.

Eine weitere Besserstellung haben wir im Verfahren
für die Alleinerziehenden beschlossen. Der jährliche
Entlastungsbetrag für das erste Kind wird um 600 Euro
auf jetzt 1 908 Euro erhöht. Damit sind wir einem
Wunsch der Koalitionsfraktionen nachgekommen. Diese
Entlastung wird bereits für das laufende Jahr gewährt
werden. Für jedes weitere Kind kommt ein Zuschlag von
240 Euro hinzu.

Meine Damen und Herren, die Inflationsraten in 2014
und 2015 betragen insgesamt rund 1,5 Prozent. Wir ha-
ben uns entschlossen, die Tarifeckwerte im Einkommen-
steuertarif um diesen Inflationswert nach rechts zu
verschieben, um so dafür zu sorgen, dass die Inflations-
wirkung dieser beiden Jahre im Einkommensteuertarif
kompensiert wird. Das führt zu einer Entlastung von gut
1,4 Milliarden Euro. Ich will allerdings deutlich machen,
dass die Entlastung von der kalten Progression auch bei
niedrigen Inflationsraten eine Daueraufgabe ist. Deshalb
wird die Bundesregierung nach wie vor regelmäßig über
die Auswirkungen der Inflation auf den Einkommen-
steuertarif berichten und diese Auswirkungen darstellen.
Danach gilt es, aus diesem Steuerprogressionsbericht
den Handlungsbedarf diskretionär abzuleiten und die
sich daraus ergebenden notwendigen Entscheidungen zu
treffen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Bundesregierung wird den Auftrag, den der Finanz-
ausschuss nach den Beratungen im Bericht des Finanz-
ausschusses formuliert hat, ernst nehmen und auch in
Zukunft gemäß diesem Auftrag handeln.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Analog zum Grundfreibetrag wird auch der Unter-
haltshöchstbetrag erhöht. Hiermit wird sichergestellt,
dass die Zahlung von Unterhaltsleistungen steuerlich be-
rücksichtigt werden kann.

Die rückwirkende Anhebung des Kindergeldes für
2015 wird nicht auf Sozialleistungen oder den zivilrecht-
lichen Kindesunterhalt angerechnet. Das ist zum einen
eine einmalige Besserstellung der Kinder, für die Sozial-
leistungen gewährt werden. Zum anderen ist das aber
auch ein wesentlicher Beitrag zur Vermeidung von Büro-
kratie in diesem Lande, weil so nicht alle bereits erstell-
ten Bescheide und Anträge neu bearbeitet werden müs-
sen. Ich glaube, es ist richtig, dass wir an dieser Stelle
auf unnötige Bürokratie verzichten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Im Sinne der Bürokratievermeidung haben wir auch
entschieden, dass die Berücksichtigung des Grundfreibe-
trages bei der Lohnabrechnung für Dezember 2015 er-
folgt. Damit vermeiden wir, dass in den Unternehmen
alle Lohnabrechnungen, die seit Januar erstellt worden
sind, korrigiert werden müssen und bei den Unterneh-
men ein riesiger Verwaltungsaufwand entsteht. Ich
glaube, mit dem Ansatz, den veränderten Grundfreibe-
trag in der Lohnabrechnung für Dezember zu berück-
sichtigen, haben wir eine Lösung gefunden, die der
Administration der Unternehmen entgegenkommt.

Ich hoffe, dass wir am Ende dieser Debatte in der na-
mentlichen Abstimmung eine breite Unterstützung für
die Förderung der Familien und zur Bekämpfung der
kalten Progression bekommen und dass auch die Kolle-
gen im Bundesrat die Idee dieses Gesetzentwurfs unter-
stützen und ihn gemeinschaftlich mit uns auf den Weg
bringen, sodass das Gesetz möglichst bald im Bundesge-
setzblatt steht und den Menschen in diesem Land zugu-
tekommen kann.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1811205800

Vielen Dank. – Als nächster Redner spricht Richard

Pitterle von der Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Richard Pitterle (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811205900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-

ginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Dr. Meister!
Lange habe ich überlegt, wie ich es Ihnen innerhalb von
vier Minuten sagen soll: Ich finde Ihr Sich-auf-die
Schulter-Klopfen und Ihr Selbstlob alles andere als an-
gebracht.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich werde Ihnen anhand von drei Beispielen erklären,
warum.

Erstens. Sie wollen den Grundfreibetrag und den Kin-
derfreibetrag erhöhen. Das sind die Beträge, die jährlich





Richard Pitterle


(A) (C)



(D)(B)


zur Sicherung des Existenzminimums von der Steuer
verschont bleiben. Der Grundfreibetrag soll dieses Jahr
auf 8 472 Euro und nächstes Jahr auf 8 652 Euro ange-
hoben werden. Der Kinderfreibetrag soll dieses Jahr auf
7 152 Euro und nächstes Jahr auf 7 248 Euro steigen.
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
Herr Dr. Meister, ich bitte Sie: Sie setzen gerade einmal
das um, was Ihnen durch unser Grundgesetz ohnehin
vorgeschrieben ist, indem Sie die Beträge auf das im
jüngsten Existenzminimumbericht geforderte Niveau an-
heben.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das reicht jedoch längst nicht aus. Mehrere Sachverstän-
dige haben darauf hingewiesen, dass die Berechnung des
Existenzminimums Mängel aufweist und der tatsächli-
che Bedarf deutlich höher liegen dürfte.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Linke fordert daher eine deutlich stärkere Anhebung
des Grundfreibetrags auf mindestens 9 300 Euro.

Zweitens. Mit Ihrem Gesetz erhöhen Sie zwar neben
dem Kinderfreibetrag auch das Kindergeld und den Kin-
derzuschlag. Sie bleiben damit jedoch bei einer höchst
unterschiedlichen Förderung der Kinder in diesem Land.
Durch die Anhebung des Kinderfreibetrags wird ein
Kind aus einer wohlhabenden Familie mit bis zu
114 Euro pro Jahr bedacht. Für ein Kind aus einer Fami-
lie mit einem mittleren Einkommen gibt es nur noch
72 Euro mehr Kindergeld im Jahr. Familien mit ALG-II-
Bezug hingegen bekommen nichts. Meine Damen und
Herren von der Regierungskoalition, Sie müssen sich an
dieser Stelle fragen, warum Sie Kinder aus wohlhaben-
den Familien weiter bevorzugen, während die Ärmsten
leer ausgehen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mit Ihrer Politik wird die Kinderarmut nicht bekämpft,
sondern fortgeschrieben. Das finde ich erbärmlich.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Drittens. Auf den letzten Metern haben Sie noch
schnell den Ausgleich der in den Jahren 2014 und 2015
entstandenen sogenannten kalten Progression in Ihrem
Gesetzentwurf untergebracht. Aber was Sie hier als
große Entlastung der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler
inszenieren, hat für die Bezieher unterer und mittlerer
Einkommen nur einen Placeboeffekt, mehr nicht.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Im Schnitt können sich diese einen Kaffee mehr im Mo-
nat leisten. Je mehr man jedoch verdient, desto höher
fällt die Entlastung aus. Dabei sind es gerade die Bezie-
her unterer Einkommen, die die Belastungen der kalten
Progression zu spüren bekommen. Durch Ihre Politik für
die Wohlhabenden bleibt das Ganze dazu noch ohne Ge-

genfinanzierung. Ich frage mich: Wo bleibt da die
Stimme der SPD?


(Beifall bei der LINKEN)


Die SPD hat doch immer verlangt, dass ein Ausgleich
der kalten Progression durch eine Erhöhung des Spitzen-
steuersatzes gegenfinanziert wird. Das ist nach wie vor
vernünftig. Daher haben wir einen Änderungsantrag ein-
gereicht, mit dem diese Schieflage korrigiert werden
soll, indem die Großverdiener für die Entlastung der Be-
zieher kleinerer und mittlerer Einkommen stärker zur
Kasse gebeten werden, weil nur dies dem Leistungsprin-
zip entspricht und ein Stückchen Steuergerechtigkeit
schafft.

Meine Damen und Herren, wir werden nicht gegen
die Heraufsetzung der Freibeträge stimmen, auch wenn
wir uns deutlich mehr gewünscht hätten. Aber wegen Ih-
rer sozial unausgewogenen Vorschläge zur Vermeidung
der kalten Progression können wir auch nicht zustim-
men. Mehr als eine Enthaltung von uns haben Sie für Ih-
ren Gesetzentwurf nicht verdient.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1811206000

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat für die Bun-

desregierung die Bundesministerin für Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend, Manuela Schwesig, das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend:

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren Abgeordnete! Heute ist ein guter Tag für Fa-
milien; denn wir bringen ein milliardenschweres Entlas-
tungspaket für Familien auf den Weg. Das ist eine gute
Nachricht für alle Familien in Deutschland.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Klar geht immer mehr. Aber am Ende steht heute die
Entscheidung über die Frage: Möchte man, dass Fami-
lien steuerlich entlastet werden, dass Familien, die wenig
Einkommen haben, Zuschläge bekommen, dass das Kin-
dergeld steigt, dass Alleinerziehende besser unterstützt
werden und dass hart arbeitende Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer mit der Abschaffung der kalten Progres-
sion endlich leistungsgerechter entlohnt werden? Wenn
man all das will, dann kann man dazu Ja sagen, und
wenn man das nicht will, dann kann man Nein sagen.
Aber eine Enthaltung finde ich relativ feige.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Sie machen gerade Ihre Hausaufgaben!)


Natürlich würde dieses Familienpaket alleine nicht
reichen; das ist klar. Aber die moderne Familienpolitik
dieser Bundesregierung besteht aus einem Dreiklang:
Wir bauen in Deutschland Kitas und Ganztagsschulen
aus, wir sorgen für mehr Zeit für Familien, und wir sor-





Bundesministerin Manuela Schwesig


(A) (C)



(D)(B)


gen für mehr Geld. Diese drei Punkte gehören zusam-
men. Wir haben bereits mit vielen Millionen Euro ein
neues Kitagesetz auf den Weg gebracht. Wir haben mit
100 Millionen Euro zum 1. Juli das neue Elterngeld Plus
auf den Weg gebracht. Jetzt kommen 5 Milliarden Euro
hinzu, von denen vor allem Familien profitieren. Das ist
die Gesamtoffensive dieser Regierung für Familien.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Besonderheit ist, dass wir das alles für die Fami-
lien stemmen und auch dafür sorgen, dass alle Familien-
formen davon profitieren, ohne neue Schulden zu ma-
chen, die die Kinder und Enkel belasten. Das ist der
vierte entscheidende Punkt für die Familien.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Unsere Kinder und Enkel sollen eine gute Perspektive
haben und aktuell Unterstützung bekommen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Generationengerechtigkeit gehört zur Familienpoli-
tik.

Mir ist wichtig, deutlich zu machen, dass das, was wir
heute vorhaben, bei allen Kindern und auch bei allen Fa-
milienformen ankommt.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das klappt aber nicht!)


Vor kurzem hat mich ein User auf Twitter gefragt, ob ich
mich eigentlich auch für die normale Familie einsetze.
Daraufhin habe ich ihn gefragt: „Was verstehen Sie unter
normaler Familie?“ Das musste alles unter 140 Zeichen
bleiben, aber es hat funktioniert. Er antwortete: „Wir, die
verheiratet sind und Kinder erziehen.“ – Weil das auch
eine aktuelle Debatte ist, möchte ich an dieser Stelle sa-
gen: Ich bin Familienministerin für alle Familienmodelle
in diesem Land.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich persönlich habe mich für die Ehe entschieden und
bin damit glücklich. Aber das ist für mich nicht Maßstab
für alle Familien. Wichtig ist vielmehr, dass wir Fami-
lien mit Infrastruktur, mit Zeit füreinander, aber auch mit
Geldleistungen unterstützen. Das gilt für Paare mit Kin-
dern mit oder ohne Trauschein, für Alleinerziehende und
Patchwork- und Regenbogenfamilien. Wir sollten allen
Familien unseren Respekt zugutekommen lassen, und
das geschieht durch unser Familienpaket.


(Beifall bei der SPD)


Wir sorgen vor allem dafür, dass, wie es die Verfas-
sung vorschreibt, der Freibetrag und das Kindergeld an-
gehoben werden. Man kann immer mehr fordern. Je
mehr, desto besser für die Familien, gar keine Frage.
Aber ich wundere mich, dass manche unterschätzen, wie
wichtig 72 Euro im Jahr für eine Familie sind. Eine Ver-
käuferin hat mich letztens gefragt, wann die Kindergeld-
erhöhung kommt. Ich habe sie gefragt, ob ihr die 6 Euro
im Monat bzw. die 72 Euro im Jahr perspektivisch etwas

bringen. Darauf sagte sie: Klar, damit bezahle ich den
Fahrschein für mein Kind zur Schule. – Ich bitte wirk-
lich darum, dass jeder Euro für die Familien wertge-
schätzt wird; denn es gibt viele Familien in unserem
Land, die auf jeden einzelnen Euro angewiesen sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Wir müssen vor allem die Familien unterstützen, in
denen Mutter und Vater jeden Tag aus dem Haus gehen
und hart arbeiten, aber der Kinderzuschlag nicht reicht,
um aus dem Bezug von Sozialleistungen herauszukom-
men. Es kann nicht sein, dass in unserem Land Eltern
fleißig arbeiten und am Ende von Hartz IV leben müs-
sen. Deshalb haben wir den Mindestlohn eingeführt, und
deshalb heben wir auch den Kinderzuschlag an.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber erst ab Mai 2016!)


Ich sage ganz ehrlich und freimütig: Mir ist die Anhe-
bung des Kinderzuschlages wichtiger als die Anhebung
des Kinderfreibetrages; denn das ist eine ganz konkrete
Maßnahme zur Bekämpfung der Kinderarmut.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist schon komisch, dass die Linke für den Freibetrag
wirbt. Es geht nämlich nicht darum, zum Beispiel die
Familienministerin mit ihrem Sohn besser steuerlich zu
entlasten, sondern darum, dass diejenigen, die auch hart
arbeiten, aber wenig in der Tasche haben, besser finan-
ziell unterstützt werden. Das machen wir mit dem Kin-
derzuschlag.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich freue mich, dass wir uns gemeinsam entschieden
haben, den Kinderzuschlag zu erhöhen. Wir lösen nicht
nur das Versprechen aus dem Koalitionsvertrag ein, den
Entlastungsbetrag für Alleinerziehende anzuheben, son-
dern gehen über unsere Versprechen hinaus und heben
zusätzlich den Kinderzuschlag an. Das ist ein starkes
und gutes Zeichen für die Bekämpfung der Kinderarmut
in unserem Land.

Letzter Punkt, die Steuerentlastung für Alleinerzie-
hende. Ich möchte mich ganz herzlich bei den Ko-
alitionsfraktionen dafür bedanken, dass sie meinen
Vorschlag aufgenommen haben, diesen Punkt im Famili-
enpaket zu berücksichtigen. Alleinerziehende Mütter
und Väter stemmen viel. Ich habe mich am Wochenende
mit 40 alleinerziehenden Müttern und Vätern getroffen.
Diese haben mir durch die Bank gesagt: Wir wollen
nicht zu denjenigen gehören, über die immer gesagt
wird, dass sie zu Hause sitzen und arm sind und dass
sich der Staat um sie kümmern muss. Diese Mütter und
Väter wollen ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Da-
für brauchen sie gute Kitas und Ganztagsschulen. Aber
dann dürfen sie, wenn sie arbeiten, steuerlich nicht
schlechtergestellt werden als Ehepaare. Deshalb freue
ich mich, dass wir nach elf Jahren Stillstand endlich die
Steuerentlastung für Alleinerziehende verbessern. Herz-





Bundesministerin Manuela Schwesig


(A) (C)



(D)(B)


lichen Dank an die Koalitionsfraktionen für die Unter-
stützung!


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Da war die CSU nahe bei Ihnen!)


Ja, wir haben an dieser Stelle um die Finanzierung ge-
rungen. Das gehört einfach zum Geschäft dazu. Man
kann sich mit dem Finanzminister durchaus einmal hef-
tig streiten. Hauptsache, man kann am Schluss noch zu-
sammen einen Kaffee trinken. Wichtig ist, dass das Geld
ankommt und dass die Finanzierung aus Steuermehrein-
nahmen und Mitteln erfolgt, die beim Familienministe-
rium nicht abfließen. Die Schwarzmalerei, die die Grü-
nen in der ersten Lesung betrieben haben, als sie
behauptet haben, wir würden dann bei den Familien an
anderen Stellen kürzen, trifft nicht zu. Das, was den Fa-
milien zugutekommt, gibt es on top.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will das noch einmal betonen: Wichtig ist, dass
wir mit den Familienleistungen die Kinder erreichen so-
wie Familien, Müttern und Vätern, die Ja zu Kindern sa-
gen, den Rücken stärken. Das ist das Ziel unseres Fami-
lienpakets. Es bettet sich ein in die Gesamtstrategie
unserer modernen Familienpolitik, die zum Ziel hat,
Zeit, Geld und Infrastruktur für Familien zur Verfügung
zu stellen. Ich bin froh, dass dieses Paket pünktlich zu
den Sommerferien kommt, sodass es in der einen oder
anderen Familie zu guter Laune führt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1811206100

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin spricht Lisa

Paus von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811206200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau

Ministerin Schwesig, wir haben heute den 18. Juni 2015.
Anderthalb Jahre hat diese Große Koalition, haben Sie
und Herr Schäuble uns warten lassen auf das sogenannte
Familienpaket. Immer wieder wurde es verschoben mit
dem Hinweis, es solle noch besser und gerechter wer-
den; man verhandle, damit mehr als nur das Notwen-
digste herauskommt. Was werden Sie heute verabschie-
den? Es ist weniger als das Notwendigste. Das ist
Koalitionsmathematik, und diese geht so: Für 2015 und
2016 machen Sie tatsächlich das Notwendigste, also das,
was verfassungsrechtlich gemacht werden muss, um das
Existenzminimum von Kindern zu wahren. Dabei kom-
men 4 Euro mehr Kindergeld für 2015 und 2 Euro mehr
Kindergeld für 2016 sowie ein höherer Kinderfreibetrag
heraus, und das machen Sie noch mit sechs Monaten
Verspätung.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Was ist aber mit 2014? Wegen Ihrer anderthalbjährigen
Gespräche haben Sie das Jahr 2014 einfach ausgelassen.

Das bedeutet in der Summe: Sie machen nicht mehr,
sondern weniger als das verfassungsrechtlich Notwen-
dige. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie machen das sehenden Auges; denn bereits im
Existenzminimumbericht der Regierung von 2012 wird
festgestellt, dass der Kinderfreibetrag im Jahre 2014 an-
gehoben werden muss. Die Merkel-Regierung hatte im
Jahre 2012 auch angekündigt, das termingerecht zu tun.
Das hat nicht ganz geklappt. Sie haben es nicht getan.
Sie haben es 2013 nicht getan, Sie haben es 2014 nicht
getan, und Sie tun es auch nicht im Jahr 2015. Sie setzen
ganz dreist darauf, dass schon keiner wegen entgangener
maximal 72 Euro pro Kind klagen wird. Das finde ich
schäbig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Dabei haben sich die Experten durch die Bank bei der
Anhörung klar geäußert, vom Familienbund der Katholi-
ken bis zum Neuen Verband der Lohnsteuerhilfevereine.
Um es mit den Worten des namhaften Verfassungsrecht-
lers Professor Dr. Joachim Wieland zu sagen: Ein Ver-
zicht auf eine rückwirkende Erhöhung ab 2014 hat das
Merkmal eindeutiger Verfassungswidrigkeit. – Aber Sie
wollen das heute einfach unter den Tisch fallen lassen.
Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Deswegen haben
wir heute einen Änderungsantrag eingebracht, über den
wir namentlich abstimmen lassen werden, der nicht
mehr, aber eben auch nicht weniger will, als dass die
Verfassung durchgängig in allen Jahren eingehalten
wird, eben auch im Jahr 2014.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir fordern Sie damit ein letztes Mal auf: Wenn Sie es
schon zeitlich nicht hinbekommen, dann gestehen Sie
den Familien in Deutschland zumindest rückwirkend ihr
Verfassungsrecht auf die steuerliche Freistellung des
sächlichen Existenzminimums und ein höheres Kinder-
geld zu.

Wenn ein Gesetzentwurf nicht einmal verfassungs-
rechtliche Normen einhält, dann verwundert es eigent-
lich kaum, dass er auch das politisch Notwendige nicht
macht. Aber auch das muss man trotzdem einmal aus-
sprechen. Mit diesem Gesetz bleibt das Dreiklassensys-
tem in Deutschland in Bezug auf Kinder bestehen. Das
heißt, der Großen Koalition, den beiden Volksparteien
sind Kinder aus wohlhabenden Familien immer noch
mehr wert als Kinder aus Mittelschichtsfamilien, und
Kinder aus Hartz-IV-Familien gehen komplett leer aus.
Das Ganze in Euro: Während 2015 die normale Mittel-
schichtsfamilie ganze 4 Euro Kindergeld pro Monat,
also 48 Euro pro Jahr, mehr bekommt, sind es 68 Euro
und damit 20 Euro mehr für eine Familie mit einem
Kind, die ein Jahreseinkommen von über 250 000 Euro
hat. In der Summe heißt das: Im Jahr 2015 wird es so
sein, dass dank der Großen Koalition aus CDU, CSU
und SPD eine Familie mit mehr als 250 000 Euro
1 139 Euro pro Kind mehr vom Staat bekommt als Fami-





Lisa Paus


(A) (C)



(D)(B)


lien, die über weniger als 60 000 Euro im Jahr verfügen.
Und Sie nennen sich Volksparteien! Ich finde, Sie sollten
sich schämen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Nur eines kann man Ihnen zugutehalten, nämlich dass
Sie die rückwirkende Kindergelderhöhung in diesem
Jahr von 4 Euro nicht vom Kinderregelsatz abziehen
werden. Das machen Sie allerdings nicht aus Gutmen-
schentum, sondern weil die Bürokratiekosten dafür über
100 Millionen Euro betragen würden. Das ist daher eine
gute Maßnahme.

Jetzt sagt die SPD: Okay, das ist in den anderthalb
Jahren nicht so gut gelaufen. – Frau Schwesig hat von
den ursprünglichen Plänen zur Angleichung von Kinder-
geld und Kinderfreibetrag leider nichts durchsetzen kön-
nen. Auch die vollmundig geforderten 10 Euro Kinder-
gelderhöhung wird es nicht geben. Aber schließlich
haben Sie etwas für die Alleinerziehenden erreicht. Der
Entlastungsbetrag wird erhöht. Das stimmt, und das fin-
den wir ausdrücklich gut.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aber es hat schon wirklich wehgetan, mit ansehen zu
müssen, mit welcher tumben Ignoranz die Alleinerzie-
henden von Herrn Schäuble und von breiten Kreisen der
CDU behandelt wurden, wie aus den 50er-Jahren des
vergangenen Jahrhunderts entstiegen, als sei Schäuble
ernsthaft der Meinung, dass Alleinerziehende mit Kin-
dern auch heute noch keine Familien sind, zumindest
keine richtigen. Vielleicht war es dann nur folgerichtig,
dass ausgerechnet die Seniorenvertretung der Union da
weiter war als der Herr in der Wilhelmstraße, vielleicht
mit Blick auf ihre eigenen verlorenen Söhne und Töch-
ter, und den Finanzminister öffentlich aufforderte, seinen
Widerstand gegen die überfällige Anhebung des Entlas-
tungsbetrags aufzugeben.

Die geplante Anhebung bewirkt bei einem mittleren
Steuersatz, dass sie jetzt 45 Euro statt 30 Euro Entlas-
tung pro Monat haben. Wie gesagt, das ist gut; aber es
bleibt immer noch so: Im Vergleich zu Ehepaaren, die
– mit und ohne Kinder – durch das Ehegattensplitting
um bis zu 15 000 Euro im Jahr entlastet werden, ist das
immer noch eine sehr geringe Summe. Diese Anhebung
machen Sie nach elf Jahren. Das war überfällig. Außer-
dem hat in der Anhörung der Verband alleinerziehender
Mütter und Väter deutlich gemacht: Eine reine Erhöhung
des Entlastungsbetrages geht leider an über 60 Prozent
der Alleinerziehenden vorbei, weil sie ihn in seiner bis-
herigen Form nicht in Anspruch nehmen können, zum
Beispiel weil ein Kind volljährig ist, aber noch im Haus-
halt wohnt, oder weil eben über 40 Prozent von ihnen zu
wenig verdienen und deshalb auf ergänzende Sozialleis-
tungen angewiesen sind, oder, oder, oder.

Deutlich mehr Alleinerziehende würden profitieren,
wenn der Entlastungsbetrag, wie wir es vorschlagen,
umgewandelt würde zu einem Alleinerziehendenabsetz-
betrag, also einem Betrag, der von der Steuerschuld ab-
gezogen wird. Von einem solchen Absetzbetrag würden

alle steuerpflichtigen Alleinerziehenden profitieren.
Aber auch dazu hat es bei Ihnen nicht gereicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wäre die dann errechnete Einkommensteuer so niedrig,
dass sich der Absetzbetrag nicht auswirken würde, dann
käme es zu einer Steuergutschrift in Höhe des Absetzbe-
trages, und somit würden insbesondere auch Alleinerzie-
hende mit niedrigem Erwerbseinkommen von einer im
Steuerrecht verankerten Förderung profitieren. Weitere
zentrale Baustellen sind Sie gar nicht erst angegangen.

Ich fasse zusammen: Diese Koalition mit dieser CDU
schafft keinen substanziellen Abbau der Benachteiligung
von Alleinerziehenden.


(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Das ist die pure Unwahrheit!)


Das zu sehen, schmerzt noch mehr, wenn man das
wochenlange unwürdige Gezänk um 200 Millionen Euro
mehr oder weniger für Alleinerziehende vergleicht mit
der plötzlich über Nacht entschiedenen und verkündeten
Steuerentlastung von 1,5 Milliarden Euro zur berühmt-
berüchtigten Bekämpfung der kalten Progression, die
dann einfach per Änderungsantrag in diesen Gesetzent-
wurf geschoben wurde.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Koalition, man kann den Einkommensteuertarif
auf Rädern gut oder schlecht finden; aber was man eben
– jedenfalls normalerweise – nicht machen kann, das ist,
eine inflationär begründete Verschiebung dieses Tarifs
vorzunehmen, wenn es gar keine Inflation gibt. Ihr eige-
nes Ministerium hat in seinem ersten Bericht zur kalten
Progression geschrieben, dass es aller Voraussicht nach
keine kalte Progression im Jahr 2016 geben wird wegen
der niedrigen Inflationsrate und weil die Anhebung des
Grundfreibetrages, die im Gesetz schon drinsteht, diese
niedrige Inflationsrate bereits über den Tarifverlauf
kompensiert. Ich frage Sie: Ist das jetzt Ihre neue Ma-
sche – Probleme zu lösen, die es überhaupt nicht gibt?
Erst die Ausländermaut, die ein Problem löst, das es
ohne sie gar nicht gegeben hätte, und jetzt die Bekämp-
fung der kalten Progression, die es qua Definition bei
null Inflation gar nicht gibt, also gar nicht geben kann?


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1811206300

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.


Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811206400

Ich komme zum Schluss.

Wenn Ihre Politik nur noch zum Symbol verkommt
und Milliarden kostet, dann hat diese Regierung wirklich
abgewirtschaftet und jeden Respekt vor den Wählerin-
nen und Wählern verspielt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ist alles falsch, aber dick aufgetragen!)






Lisa Paus


(A) (C)



(D)(B)


Noch ein letzter Appell: Seien Sie zumindest verfas-
sungskonform, und stimmen Sie deswegen unserem Än-
derungsantrag und damit der rückwirkenden Erhöhung
des Kindergeldes und des Kinderfreibetrages für 2014
zu!

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1811206500

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Markus Koob

von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Markus Koob (CDU):
Rede ID: ID1811206600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Heute stehen wir vor dem Beschluss über ein umfassen-
des Steuerentlastungspaket, das die Familien und Arbeit-
nehmer in unserem Land um 5 Milliarden Euro entlastet.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Herr Staatssekretär Dr. Meister hat auf die beachtliche
Vielfalt dieses Pakets hingewiesen. Selten zuvor dürfte
ein Gesetzespaket den Namen „Paket“ so verdient haben
wie der Beschluss, den wir heute fassen werden.

Ausgangslage für diese Maßnahme ist zunächst der
Existenzminimumbericht der Bundesregierung gewesen.
Der aktuelle Existenzminimumbericht hat uns für die
Jahre 2015 und 2016 Änderungsbedarfe offenbart, denen
wir mit dem Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens
heute nachkommen. Die Anpassung bei den Freibeträ-
gen und beim Kindergeld werden wir dabei in zwei
Etappen vornehmen.

Worum geht es? Wir erhöhen den Kinderfreibetrag ab
2015 in den nächsten zwei Jahren von derzeit 7 008 Euro
auf 7 248 Euro, also um insgesamt 240 Euro. Die für die
Jahre 2015 und 2016 vorzunehmende Erhöhung des Kin-
derfreibetrags würde bei einigen Familien allerdings
keine steuerliche Entlastungswirkung haben. Diese wer-
den wir daher durch eine wirkungsgleiche Erhöhung des
Kindergeldes entlasten. Von der Opposition wird ja im-
mer behauptet, wir täten nur das Mindeste und verfas-
sungsrechtlich Notwendigste oder – wie eben von Kolle-
gin Paus – noch nicht einmal das. Ich darf aber darauf
hinweisen, dass für eine Kindergelderhöhung kein ver-
fassungsrechtliches Gebot besteht. Wir führen diese Er-
höhung aber durch, weil wir uns für Familien in allen
Einkommenslagen verantwortlich fühlen und diese sich
auf uns verlassen können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Den Arbeitnehmergrundfreibetrag werden wir bis
2016 von derzeit 8 354 Euro auf 8 652 Euro erhöhen,
also um 298 Euro. Damit werden Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in unserem Land entlastet.

Wir erhöhen zudem den Kinderzuschlag zum 1. Juli
nächsten Jahres um 20 Euro auf 160 Euro. Das ist eine

sinnvolle Leistung; denn viele Familien, die sonst in den
SGB-II-Bezug hineinfallen würden, können durch diese
Erhöhung vor diesem Schicksal bewahrt werden. Sie
kommt den Eltern zugute, die zwar ihren eigenen Bedarf
durch Erwerbseinkommen grundsätzlich bestreiten kön-
nen, nicht aber den Bedarf ihrer Kinder.

Das waren jetzt die Inhalte des ursprünglichen Ge-
setzentwurfs, und diese wurden im Zuge des parlamenta-
rischen Verfahrens um weitere und wichtige Regelungen
ergänzt, die über die Anregungen des Existenzminimum-
berichts hinausgehen. Angesichts des Vorher/Nachher-
Vergleichs dieses Gesetzentwurfs kann ich mit Augen-
zwinkern an unsere SPD-Kollegen sagen: Peter Struck
wäre sicherlich stolz auf uns.


(Heiterkeit bei der SPD – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das hätte aber mehr sein können!)


– Mehr geht immer; das haben wir schon gehört.

Es ist erfreulich, dass wir den Entlastungsbetrag für
Alleinerziehende von 1 308 Euro mit Wirkung ab dem
1. Januar 2015, also rückwirkend, auf 1 908 Euro erhö-
hen und ihn nach der Kinderanzahl staffeln. Mit der Staf-
felung kommen für jedes weitere Kind zusätzliche
240 Euro zu dem neuen Grundbetrag von 1 908 Euro
hinzu. Ich bin überzeugt, dass wir damit die Alleinerzie-
henden in unserem Land, die Einelternfamilien, die grö-
ßeren Herausforderungen bei der Bewältigung ihres All-
tags ausgesetzt sind, in gebührender Weise unterstützen.
Diese Erhöhung ist auch Teil unserer Anerkennung für
die Leistung von Alleinerziehenden.

Die Anerkennung von Leistung ist auch unser Antrieb
zur Lösung einer anderen Aufgabe. Der Abbau der kal-
ten Progression wird von den Menschen in unserem
Land zu Recht als eine Frage von Gerechtigkeit angese-
hen und ist seit Jahren eine unserer Herzensangelegen-
heiten. Die soziologischen Gruppen unserer Fraktion
– von der Arbeitnehmergruppe bis hin zum Parlaments-
kreis Mittelstand – haben seit langem für dieses wichtige
Anliegen gekämpft. Der entscheidende Vorschlag hierfür
kam nun von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble,
dem ich an dieser Stelle meine Hochachtung zolle: Er
verteidigt Tag für Tag die schwarze Null gegen Ver-
schuldungsimpulse und steht für solide Finanzen, er ret-
tet die Euro-Zone, er arbeitet an der Erbschaftsteuerre-
form und vielen anderen Projekten, und er verliert bei
alldem die Beschäftigten in unserem Land nicht aus dem
Blick. Unser Finanzminister hat mit seinem Vorstoß da-
für Sorge getragen, dass der Aufschwung in Deutschland
bei den Beschäftigten ankommt.

Die Kompensation der kalten Progression wird auch
weiterhin ein wichtiges Ziel der Steuerpolitik bleiben.
Durch einen periodischen Steuerprogressionsbericht, der
in diesem Jahr erstmals vorgelegt worden ist, werden wir
auch künftig die Wirkung der kalten Progression in den
Blick nehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Durch eine entsprechende Protokollerklärung zum Ge-
setz haben wir diese Absicht zur regelmäßigen Befas-





Markus Koob


(A) (C)



(D)(B)


sung fest flankiert. Ich bin dem Bundesfinanzministe-
rium darüber hinaus dankbar, dass es uns auch weiterhin
bei der Suche nach Wegen zur Gegenfinanzierung mög-
licher Kompensationsmaßnahmen unterstützen wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Gestatten Sie mir noch eine kurze Anmerkung, was
den Kinderfreibetrag für das Jahr 2014 und das Anliegen
einer rückwirkenden Erhöhung betrifft. Wir teilen die
Rechtsauffassung des Bundesfinanzministeriums, dass
wir mit dem unveränderten Freibetrag im Jahr 2014 kei-
nen verfassungswidrigen Zustand haben. Die rück-
wirkende Erhöhung hätten wir als CDU/CSU trotzdem
mitgetragen und hatten einen Formulierungsvorschlag
bereits vorgelegt. Aber Maßnahmen einer Koalition wer-
den immer gemeinsam beschlossen. Wenn keine Eini-
gung erzielt wird, dann kann eine solche Maßnahme kei-
nen Eingang in das Gesetz finden.

Meine Damen und Herren, wir stehen heute vor dem
Abschluss eines Pakets mit unterschiedlichen Leistungs-
verbesserungen. Für mich als Berichterstatter und neuen
Parlamentarier war die Arbeit an diesem Steuerentlas-
tungspaket eine ganz neue Erfahrung in Sachen Arbeits-
intensität. Bis zuletzt haben wir über Inhalte im Detail
gerungen. Für die konstruktive Zusammenarbeit möchte
ich insbesondere dem Parlamentarischen Staatssekretär
Dr. Michael Meister wie auch meinem SPD-Kollegen
Frank Junge sehr herzlich danken.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, im vergangenen
Jahr hat die Bundesregierung 66 Milliarden Euro für Fa-
milien und Kinder ausgegeben, weil uns Familien als
Rückgrat der Gesellschaft wichtig sind. Genau in diesem
Sinne – mit Augenmaß, Zielbewusstsein und Verantwor-
tung für Menschen in allen Lebenslagen – werden wir
auch weiterhin eine erfolgreiche Familienpolitik für die
Menschen in unserem Land gestalten.

Für mich als einzigem Abgeordneten in diesem
Hause, der ordentliches Mitglied sowohl im Finanz- als
auch im Familienausschuss ist, ist der besondere Spagat
zwischen soliden Finanzen und Familienförderung tägli-
che Herausforderung. Mit dem Beschluss von heute zei-
gen wir, dass solide Finanzen, steuerliche Entlastung
und Förderung von Familien keinen Widerspruch bilden,
sondern Hand in Hand gehen. Ich erbitte daher Ihre Zu-
stimmung zu der Beschlussempfehlung des Finanzaus-
schusses.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1811206700

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat der Kollege

Frank Junge von der SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Frank Junge (SPD):
Rede ID: ID1811206800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will eines
voranstellen: Kluge Politik für Familien, für Mütter und
Väter in diesem Land sorgt für eine familienfreundliche
Infrastruktur, für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf
und Familie und trägt zur finanziellen Förderung und
steuerlichen Entlastung bei. Ich sage das deshalb noch
einmal so ausdrücklich, weil Eltern in unserem Land nur
dann umfassend profitieren, wenn im Zusammenspiel
dieser drei Komponenten ordentliche Politik gemacht
wird. Wenn man sich jetzt noch einmal vor Augen führt,
was diese Bundesregierung an Projekten auf den Weg
gebracht hat, wenn man sich vor Augen führt, dass wir
beim bundesweiten Kitaausbau und dem Ausbau der
Ganztagsschulen vorangekommen sind, dass das Eltern-
geld Plus gekommen ist, der gesetzliche Mindestlohn
und die Familienpflege auf den Weg gebracht worden
sind, dann stellen wir alle fest, dass damit ja schon un-
glaublich viele Maßnahmen, die Familien dabei unter-
stützen, in den Arbeitsprozess einzusteigen und sich dort
zu entwickeln, vorgenommen worden sind.


(Beifall bei der SPD)


Das, was wir heute hier beschließen können, ist ganz
einfach die dritte Säule in diesem Paket, nämlich dafür
zu sorgen, dass Eltern jetzt steuerlich entlastet und finan-
ziell gefördert werden können. Dabei reden wir heute
über ein Leistungspaket – es wurde schon gesagt –, das
5,3 Milliarden Euro schwer ist. Das muss man bei allen
Wünschen für ein Mehr auch erst einmal zur Kenntnis
nehmen. Ich finde, das Paket enthält Maßnahmen, die
Familien und Eltern ausgewogen entlasten werden. Na-
türlich enthält das Paket auch Maßnahmen, die sich aus
dem 10. Existenzminimumbericht ableiten lassen, nach
dem wir den Grund- und den Kinderfreibetrag für 2015
und 2016 erhöhen müssen. Aber parallel – das kam ja
auch schon zur Sprache – erhöhen wir das Kindergeld;
denn das Kindergeld ist für die Familien wichtig, die von
dem erhöhten Kinderfreibetrag eben nicht profitieren.
Wir erhöhen im Jahr 2016 auch den Kinderzuschlag,
weil wir es als wichtige sozialpolitische Maßnahme an-
sehen, Familien im unteren Einkommensbereich zu ent-
lasten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mein Hauptaugenmerk möchte ich heute aber auf die
Entlastung der Alleinerziehenden richten. Deren Freibe-
trag liegt seit 2004 unverändert bei 1 308 Euro. Seitdem
wurde dieser Freibetrag für diese immer größer wer-
dende Gruppe unserer Gesellschaft in puncto steuerli-
cher Entlastung überhaupt nicht mehr angerührt, und
das, obwohl sie als Einzelkämpfer in einem Alltag beste-
hen müssen, für den klassische Familien zu zweit einste-
hen. Als ob das nicht schon schwer genug wäre, steht
80 Prozent der Alleinerziehenden auch noch weniger als
das mittlere Einkommen von Familien zur Verfügung.
Wenn sie denn schon einmal besser verdienen, dann ist
die Steuerlast für Alleinerziehende im Vergleich zu Paa-
ren überproportional hoch, weil sie als Singles versteuert
werden. Somit verdient das, was Alleinerziehende hier
zu wuppen haben, was sie in unserer und für unsere Ge-





Frank Junge


(A) (C)



(D)(B)


sellschaft unter diesen Bedingungen zu leisten haben,
aus meiner Sicht schon lange höchsten Respekt. Darum
war es für die SPD höchste Zeit und unverzichtbar, hier
endlich Maßnahmen zu entwickeln, die ausgesprochen
dieser Zielgruppe zugutekommen.


(Beifall bei der SPD)


Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden wir da-
her den steuerlichen Entlastungsbetrag um 600 Euro an-
heben. Wenn wir dazu noch in Betracht ziehen, dass wir
den Entlastungbetrag ab dem zweiten Kind um weitere
240 Euro erhöhen, dann wird klar, welches Paket wir
hier insbesondere für die Alleinerziehenden schnüren.


(Beifall bei der SPD)


Damit wird der Alltag für Mütter und Väter an dieser
Stelle nicht einfacher, aber zwei Drittel aller Alleinerzie-
henden werden von diesen Maßnahmen profitieren. Al-
leine das, finde ich, ist es wert, dass wir hier diesen
Schritt gehen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Philipp Graf Lerchenfeld [CDU/CSU])


Im Ringen um einen Konsens ist es uns mit Blick auf
das Jahr 2014 nicht gelungen – Herr Koob, ich sage das
nicht mit einem Augenzwinkern, sondern mit einem
kleinen Stirnrunzeln –, Sie als Kolleginnen und Kolle-
gen von der Union von der Notwendigkeit zu überzeu-
gen, die rückwirkende Anhebung des Kinderfreibetrags
und des Kindergelds auf den Weg zu bringen. Ich be-
daure das, weil ich glaube, dass wir uns damit angreifbar
machen.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Nichtsdestotrotz liegt uns hier heute mit dem aktuellen
Gesetzentwurf ein guter Kompromiss vor, den wir natür-
lich gerne mittragen. Er unterscheidet sich vom ur-
sprünglichen Entwurf aus dem Finanzministerium da-
durch, dass es der SPD gelungen ist, die weitreichende
Entlastung der Alleinerziehenden aufzugreifen. Dabei
war es uns ganz wichtig – das sage ich noch einmal –,
dass wir in Bezug auf die Refinanzierung keine Mittel
aus dem Familienministerium binden müssen,


(Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 15 Millionen! Doch!)


die für Programme oder gesetzliche Leistungen festge-
schrieben sind. So beinhaltet der aktuelle Gesetzentwurf,
wie ich finde, ein Leistungspaket, das in seiner Gesamt-
heit Millionen Familien entlasten wird und dem größten
Teil der Mütter und Väter wertvolle Dienste leisten wird.


(Beifall bei der SPD)


Deshalb will ich am Ende meiner Rede an die drei
Säulen, die ich zu Beginn erwähnt habe, erinnern. Ich
finde, wir haben heute die Möglichkeit, den finanzpoliti-
schen Teil dazu auf den Weg zu bringen und damit zu
untersetzen, dass diese Bundesregierung im Rahmen ih-
rer Familienpolitik auf einem guten Weg ist.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1811206900

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Norbert

Müller von der Fraktion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Norbert Müller (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811207000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen

und Kollegen! Liebe Gäste auf den Besuchertribünen!
Das Besondere an der Großen Koalition ist, dass wir
auch ein weiteres Mal beobachten können, wie tatsächli-
ches Handeln und Selbstwahrnehmung in den Reden im
Parlament auseinanderfallen. Wir müssen nach dieser
Debatte, Frau Bundesministerin Schwesig, den Eindruck
haben, dass Kinderarmut, wenn nicht heute, spätestens
morgen oder Ende der Woche bereits der Geschichte an-
gehört, dass es keine armen Kinder in Familien mehr ge-
ben wird und dass die Probleme dank der Tatkraft von
SPD, CDU und CSU im Wesentlichen gelöst sind.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: So einfach machen wir es uns eben nicht!)


– So einfach machen Sie es sich mit den Botschaften, die
Sie aussenden.

Was entspricht der Realität? Sie tun faktisch nichts für
Kinder in Familien, die Grundsicherung beziehen. Sie
tun aber sehr viel für Kinder von Spitzenverdienern. Um
das einmal ganz plastisch darzustellen: Wir sind im
Bundestag Spitzenverdiener. Ich habe zwei Kinder. Ich
profitiere überdurchschnittlich vom Kinderfreibetrag.
Ich profitiere überdurchschnittlich von der steuerlichen
Entlastung. Die beiden besten Freunde meines Kindes
– er ist viereinhalb Jahre alt und geht in die Kita – leben
bei Alleinerziehenden. Sie beziehen Grundsicherung
und profitieren überhaupt nicht. Es stellt sich die Frage:
Warum ist das eigentlich so?


(Beifall bei der LINKEN – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Sie müssten die Antwort kennen! Verfassung und Progression sind Ihnen beide bekannt!)


Sie jammern und teilen auch die Sorge über Kinderar-
mut. Vor einigen Wochen gab es auf unseren Antrag eine
Aktuelle Stunde dazu. Aber was machen Sie für arme
Kinder? Zum Entlastungsbetrag für Alleinerziehende ist
einiges gesagt worden. Wir wissen auch, dass es gerade
im Bereich der Alleinerziehenden einen erheblichen Teil
gibt, der auch nicht profitieren wird, schlichtweg weil sie
gar keine Steuern zahlen, da ihr Einkommen viel zu ge-
ring ist. Auch die Erhöhung des Kinderzuschlages, den
Sie nach elf Jahren erstmalig im nächsten Jahr erhöhen
wollen, fällt viel zu gering aus. Wenn wir uns den Kin-
derzuschlag anschauen, dann müssen wir feststellen,
dass die Zahl der Bezieher in den letzten Jahren rückläu-
fig war, dass immer weniger Menschen damit erreicht
werden, obwohl der Bedarf weiterhin groß ist.

Die Kinderregelsätze für Bezieher von Hartz IV fas-
sen Sie im Wesentlichen nicht an; das habe ich gesagt.
Wozu führt das? Das ist bereits angesprochen worden;
Kollege Pitterle und Kollegin Paus haben es deutlich ge-
macht. Es führt dazu, dass Sie Kinder dreier Klassen





Norbert Müller (Potsdam)



(A) (C)



(D)(B)


schaffen. Sie schaffen Kinder, bei denen von den famili-
enpolitischen Leistungen überhaupt nichts ankommt, Sie
schaffen jene Kinder, bei denen in den nächsten zwei
Jahren 6 Euro zum Familieneinkommen dazukommen,
und Sie schaffen Kinder in Familien, die hohe und
höchste Einkommen haben und von der steuerlichen
Entlastung deutlich profitieren. Das finden wir Linke
falsch. Deshalb schlagen wir einen anderen Weg vor.


(Beifall bei der LINKEN)


Um auf die Debatte gestern im Familienausschuss
einzugehen: Die Berichterstatter der Sozialdemokraten
haben ausgeführt, dass es bei uns Linken ein falscher
Ansatz sei, zu sagen, die familienpolitischen Leistungen
könnten Instrumente sein, um Kinder- und Jugendarmut
zu bekämpfen. Viel entscheidender sei doch, die Mittel
für den Ausbau von Kindertagesstätten und für eine gute
Qualität in Schulen einzusetzen. Das ist richtig. Auch
wir sind dafür, dass es einen qualitativ und quantitativ
guten Ausbau von Kindertagesplätzen gibt und dass es
gute Bildung in Schulen gibt. Aber wir sind nicht dafür,
weil es in irgendeiner Form eine Art karitativer An-
spruch ist oder es um Sozialpolitik geht. Vielmehr geht
es hier um das Recht auf Bildung.


(Beifall bei der LINKEN)


Das ist in Artikel 28 der UN-Kinderrechtskonvention
festgeschrieben worden. Es ist kein sozialpolitisches
Almosen, dass wir gute Bildung für alle Kinder wollen
– auch für die kleinsten, auch von Anfang an –, sondern
es hat etwas mit dem Rechtsanspruch auf Bildung zu
tun. Deswegen sind die familienpolitischen Leistungen
eine Möglichkeit, um Kinderarmut zu bekämpfen.

Wir Linke schlagen vor, das Kindergeld für das erste
und zweite Kind auf 200 Euro zu erhöhen. Wir fordern,
den Kinderzuschlag zu entbürokratisieren. Wir haben in
den letzten Haushaltsberatungen eine Vorlage einge-
bracht, in der wir gefordert haben, die Höchsteinkom-
mensgrenze entfallen zu lassen und den Mehrbedarf bei
Alleinerziehenden sachgerecht abzudecken. Aber nichts
davon geschieht.

Langfristig stehen wir für eine bedarfsgerechte Kin-
dergrundsicherung, damit kein Kind mehr arm ist. Die
von mir genannte Dreiklassengesellschaft bei Kindern
– aus Haushalten, die Grundsicherung beziehen, auf der
einen Seite und von Spitzenverdienern auf der anderen
Seite – muss ein Ende haben.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


2,8 Millionen Kinder in der Bundesrepublik Deutsch-
land sind arm. Der vorliegende Gesetzentwurf wird
nichts daran ändern. Liebe Große Koalition, fangen Sie
endlich an, etwas daran zu ändern, und hören Sie auf,
sich die Welt schönzureden!


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1811207100

Vielen Dank. – Als Nächster hat Philipp Graf

Lerchenfeld von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Graf Philipp Lerchenfeld (CSU):
Rede ID: ID1811207200

Frau Präsidentin, vielen Dank. – Sehr geehrte Kolle-

ginnen und Kollegen! Hohes Haus! Von den geschätzten
Kollegen und Kolleginnen, die wir bisher haben spre-
chen hören, haben wir im Detail erfahren, wie der Ge-
setzentwurf den Vorgaben des Existenzminimumberichts
entspricht. Die Erhöhung des Grundfreibetrages, des
Kinderfreibetrages, des Kindergeldes, des Kinderzu-
schlags und die bessere Unterstützung von Alleinerzie-
henden sind wirklich ein löbliches Vorgehen.


(Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht für 2014!)


Auch die Milderung der kalten Progression, die dem uns
im Januar neben dem Existenzminimumbericht vorge-
legten Steuerprogressionsbericht entspricht, ist sehr zu
begrüßen.

Sicher wird der eine oder andere sagen: Das ist zu we-
nig, die Verbesserungen hätten großzügiger sein können,
sie sind zu spät gekommen. Es wird gesagt: Wir tun zu
wenig für die Familien; Sie haben das gerade noch ein-
mal bestätigt. In gewissen Teilen habe ich für diese
Überlegungen durchaus Verständnis. Aber wir müssen
bei unseren Überlegungen auch den Grundsatz einer
sparsamen Haushaltsführung berücksichtigen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb brauchen wir keine kalte Progression! Warum schaffen Sie sie nicht ab?)


Mit dem im letzten Jahr erreichten Ziel, einen ausge-
glichenen Haushalt ohne neue Schulden vorzulegen, tun
wir etwas ganz Entscheidendes für kommende Genera-
tionen. Es wurde ein klares Zeichen mit einer nachhalti-
gen Wirkung gesetzt. Keine neuen Schulden, das bedeu-
tet für die kommenden Generationen, dass wir ihnen
Spielräume eröffnen, auch in Zukunft unser Gemeinwe-
sen politisch gestalten zu können.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Letztlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, erfüllen
wir mit dem Gesetzentwurf, den wir heute verabschie-
den wollen, einen Verfassungsauftrag, den das Bundes-
verfassungsgericht in mehreren richtungsweisenden
Entscheidungen sehr deutlich formuliert hat. Aufgrund
dieser Entscheidungen wurde 1996 – man muss sich das
vorstellen – der Grundfreibetrag um mehr als das Dop-
pelte erhöht. Seitdem wird er regelmäßig den Bedingun-
gen entsprechend angepasst.

Das Bundesverfassungsgericht hat seinerzeit klarge-
stellt, dass Steuerrecht und Sozialhilferecht aufgrund der
Bedeutung und Tragweite des Sozialstaatsprinzips sehr
eng miteinander verknüpft sind. Gemäß dieser Entschei-
dung muss dem Einkommensteuerpflichtigen nach Zah-
lung von Steuern von seinem erworbenen Einkommen





Philipp Graf Lerchenfeld


(A) (C)



(D)(B)


so viel bleiben, wie er zur Bestreitung seines notwendi-
gen Lebensunterhalts und des Unterhalts seiner Familie
bedarf. Die Maßgröße dabei ist das Existenzminimum,
das nicht unterschritten werden darf.

Neben dem Sozialstaatsprinzip spielt bei unserem
Gesetzesvorhaben auch Artikel 6 Grundgesetz eine
entscheidende Rolle. Mit der Erhöhung des Kinderfrei-
betrags, des Kindergeldes und allen anderen Verbesse-
rungen kommen wir dem Auftrag des Grundgesetzes
nach, dass Ehe und Familie unter dem besonderen
Schutz der staatlichen Ordnung stehen. Dabei sollten wir
auch bedenken, dass heute immer noch mehr als 70 Pro-
zent aller Kinder in Familien leben, die dem Bild ent-
sprechen, das die Väter und Mütter unseres Grundgeset-
zes damals gehabt haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mit diesem Gesetz machen wir aber auch einen gro-
ßen Schritt: Alleinerziehende werden endlich stärker
entlastet. Seit 2004 – es wurde schon gesagt – war dieser
Freibetrag unverändert. Er wird jetzt um fast 50 Prozent
erhöht und ergänzt dadurch, dass für jedes weitere Kind,
das zum Haushalt gehört, 240 Euro zusätzliche Entlas-
tung gewährt werden.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Diese Entlastung ist dringend nötig. In der Debatte zur
Einbringung des Gesetzes hat die Kollegin Gudrun
Zollner richtigerweise darauf hingewiesen, dass seit
2004 das Kindergeld um 23 Prozent erhöht worden ist,
während dieser Betrag vollkommen unverändert geblie-
ben ist.

Auch die Anpassung der steuerlichen Tarife an die
Ergebnisse des Ersten Steuerprogressionsberichts, der
uns im Januar zusammen mit dem Existenzminimum-
bericht vorgelegt wurde, ist eine notwendige Korrektur.

Alle Maßnahmen, die wir heute hier beschließen kön-
nen und die zusammen über 5 Milliarden Euro kosten,
werden ohne Neuverschuldung durchgeführt werden
können. Dies ist das Ergebnis einer soliden Finanz- und
Haushaltspolitik der letzten Jahre. Dafür möchte ich dem
Finanzminister, aber natürlich auch den Haushaltspoliti-
kern in diesem Hohen Hause ganz besonders herzlich
danken.


(Beifall bei der CDU/CSU – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Das erfreut das Haushälterherz!)


Wenn wir diese solide Haushaltspolitik in den kommen-
den Jahren fortsetzen, dann wird es uns auch weiterhin
möglich sein, viel zur Verbesserung der Situation von
Familien und Kindern zu tun. Der Bund trägt nicht nur
mit den heute zu beschließenden Maßnahmen viel dazu
bei, dass es Kindern und Familien besser gehen soll, son-
dern auch durch vielfältige andere Unterstützung. Es
wurde von der Ministerin auch deutlich gemacht, dass
wir ureigenste Aufgaben der Länder mit Bundesmitteln
finanzieren, die uns eigentlich selber guttun würden. Da-
durch, dass wir den Ländern so starke Unterstützung ge-
ben, bleibt auch zu hoffen, dass dieses Gesetz mit allen
seinen Teilen auch die Zustimmung des Bundesrats er-

hält und nicht das gleiche Schicksal teilt wie der Versuch
in der letzten Legislaturperiode, die kalte Progression
abzubauen, der damals von den Ländern im Bundesrat
leider Gottes abgelehnt wurde.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Es gab halt keine Gegenfinanzierung!)


Abschließend möchte ich mich noch einmal ganz
herzlich bedanken: Ich danke allen Kolleginnen und
Kollegen für die sachlichen Beratungen in den Aus-
schüssen, allen Mitarbeitern des Hohen Hauses, der
Ministerien, der Fraktionen für die gute Vorbereitung der
jeweiligen Sitzungen.

Mit diesem Gesetz verteilen wir keine Wohltaten oder
Wahlgeschenke an unsere Bürger, sondern wir erfüllen
die Aufträge, die uns unsere Verfassung stellt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1811207300

Vielen Dank. – Als nächster Redner spricht

Dr. Zimmermann von der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Jens Zimmermann (SPD):
Rede ID: ID1811207400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte noch einmal auf
das Thema „kalte Progression“ eingehen. Dieses Thema
ist ja nun über einen langen Zeitraum intensivst debat-
tiert worden. Was sind da nicht alles für Zahlen durch
die Welt gegeistert, wie riesig diese kalte Progression
sei! Ich finde, wir haben es genau richtig gemacht: Wir
haben uns anhand des Ersten Steuerprogressionsberichts,
den die Bundesregierung vorgelegt hat, angeschaut, wie
groß das Ausmaß der kalten Progression sein wird; es
gibt ein Simulationsmodell. Für 2014 ist festgestellt
worden: Es gab gar keine kalte Progression, aufgrund
der niedrigen Inflation. Jetzt wollen wir die Auswirkun-
gen der kalten Progression 2015 zum 1. Januar 2016
kompensieren. Wir haben uns auf eine Entlastung von
1,4 Milliarden Euro geeinigt. Ich glaube, das ist doch
eine gute Nachricht. Worum geht es genau? Es geht da-
rum, dass Lohnerhöhungen, die in Tarifverhandlungen
ausgehandelt werden, am Ende nicht durch Inflation plus
Progression aufgefressen werden, sondern bei den Men-
schen ankommen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Ich will noch einmal eingehen auf das, was die Kolle-
gin Paus vorhin gesagt hat: wie denn diese Bundesregie-
rung und die Koalition wirtschaftet. Sie wirtschaftet gut.
Wir haben es nämlich geschafft, auf der einen Seite die
schwarze Null zu halten,


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Schwarz-rote Null!)


während wir auf der anderen Seite die Menschen im
Land entlasten. Darüber hinaus haben wir noch ein





Dr. Jens Zimmermann


(A) (C)



(D)(B)


kommunales Investitionspaket geschnürt, und wir haben
ein Breitbandpaket geschnürt. Das ist doch gutes Wirt-
schaften; das muss man an dieser Stelle auch einmal
festhalten.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich würde mir im Übrigen wünschen, dass dieses
Geld ab und zu bei mir in Hessen auch ankäme.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das aber nur am Rande.

Bei der Diskussion über die kalte Progression – dieser
Begriff wird von vielen missbraucht – dürfen wir nicht
vergessen, dass wir hier über den Abbau derselben re-
den. Dabei spielt eben die Inflation eine sehr große
Rolle. Wir, die SPD, sagen ganz klar: Wir wollen nicht
die Progression an sich abbauen. Diejenigen in unserem
Land, die viel verdienen, sollen im Rahmen unseres
Steuertarifes auch entsprechend mehr zahlen müssen.
Das ist ein sehr großer Unterschied, meine Damen und
Herren.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich glaube, wir haben uns in der Koalition auf ein gu-
tes Verfahren geeinigt. Es wird auch einen zweiten Steu-
erprogressionsbericht geben. Dieses Verfahren – so wie
wir es jetzt praktiziert haben – werden wir wiederholen.
Wir werden uns anschauen, wie groß die tatsächlichen
Folgen der kalten Progression sein werden. Dann wer-
den wir schauen, wie im Rahmen des wirtschaftlichen
bzw. konjunkturellen und auch des politischen Umfeldes
darauf zu reagieren ist. Darauf freue ich mich schon. Ich
bin mir sicher, dass wir auch dann wieder eine gute Lö-
sung finden werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1811207500

Vielen Dank. – Als letzte Rednerin in dieser Debatte

hat Nadine Schön von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Kinder bereichern uns. Sie bereichern ihre Fa-
milien bzw. ihre Eltern mit Glück, Kinderlachen, Liebe
und Zusammenhalt. Wir sind uns einig: Das ist unbe-
zahlbar.

Kinder bereichern auch unsere Gesellschaft. Sie be-
reichern die Gesellschaft sogar materiell, denn sie sind
die Fachkräfte sowie die Steuer- und Beitragszahler von
morgen. Sie bereichern unsere Gesellschaft aber auch
immateriell dadurch, dass sie sich – je nach Interesse,
Fähigkeit und persönlichem Einsatz – engagieren bzw.
in die Gesellschaft einbringen.

Wir sind uns also einig, dass Kinder unsere Gesell-
schaft bereichern und dass das nicht bezahlbar ist. Einig
sind wir uns auch, dass es aber trotzdem wichtig ist, dass

wir als Staat Familien – auch finanziell – unterstützen,
die Kinder großziehen. Genau das machen wir heute.

Wir wollen ein Umfeld schaffen, in dem man gerne
Kinder bekommt und diese großzieht. Das geht nicht nur
mit finanziellen Mitteln. Dazu braucht es mehr. Die
Ministerin sprach eben von einem Dreiklang. Es braucht
dazu Zeit, Infrastruktur im Sinne von Betreuungsplätzen
sowie – dieser Punkt kommt mir immer ein bisschen zu
kurz – auch ein familienfreundliches Klima in unserer
Gesellschaft, vor allem in der Arbeitswelt. Dieser Vier-
klang von kinderfreundlicher Gesellschaft, Zeit für Fa-
milie, Infrastruktur und eben Familienleistung ist es, was
unsere christdemokratische Familienpolitik ausmacht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Heute erhöhen wir die Familienleistungen. Das kön-
nen wir nur, weil wir seit Jahren eine gute Wirtschafts-
politik machen. Denn nur wenn Geld eingenommen
wird, kann es der Staat auch ausgeben. Deshalb bin ich
dankbar, dass wir unter Führung der Union seit vielen
Jahren eine gute Wirtschaftspolitik machen, um das, was
wir erwirtschaftet haben, auch den Familien zugutekom-
men zu lassen.

Man muss sich einmal anschauen, wie die unter-
schiedlichen Familienleistungen ankommen und wie
wichtig sie sind. Insofern bin ich sehr froh, dass es 2012
eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach
gab. Im Rahmen dieser Studie wurden die Familien ge-
fragt, welche Leistungen ihnen besonders wichtig sind.
Wenn man die Ergebnisse dieser Studie kennt, kann man
ein für alle Mal mit der Aufrechnung von Infrastruktur
gegen finanzielle Leistungen Schluss machen. Die De-
batte darüber haben wir in diesem Haus über Jahre
hinweg geführt. Es hieß vonseiten gewisser Teile des
Hauses immer: Wir brauchen keine Erhöhung der finan-
ziellen Leistungen, alles Geld für die Familien muss in
die Infrastruktur gesteckt werden. Das ist aus unserer
Sicht falsch. Wir brauchen beides, sowohl die Infrastruk-
tur als auch die familienpolitischen bzw. familiengerech-
ten Leistungen. Das Allensbach-Institut hat genau das
bestätigt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es hat bestätigt, dass das Kindergeld – weit über 80 Pro-
zent der Familien sagen das – die allerwichtigste Leis-
tung für die Familien ist, dass es zum Familieneinkom-
men beiträgt und nicht wegzudenken ist. Deshalb
erhöhen wir heute auch das Kindergeld und den Kinder-
freibetrag, die ja aneinander gekoppelt sind, und nehmen
dazu mehrere Milliarden Euro in die Hand.

Zum Zweiten erhöhen wir den Kinderzuschlag. Der
Kinderzuschlag ist für die Familien, die ein eigenes Ein-
kommen haben und an der Grenze zum Transferleis-
tungsbezug sind, und sorgt dafür, dass sie eben nicht
Hartz-IV-Empfänger werden. Das ist das klare Signal
unserer Politik: Leistung lohnt sich in unserem Land.
Wer arbeitet, muss mehr haben als derjenige, der nicht
arbeitet.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)






Nadine Schön (St. Wendel)



(A) (C)



(D)(B)


Deshalb erhöhen wir den Kinderzuschlag; denn er ist das
richtige Mittel. Damit senden wir ein Signal an diese Fa-
milien.

Schließlich erhöhen wir den Kinderfreibetrag für Al-
leinerziehende um 600 Euro jährlich. Das ist eine deutli-
che Entlastung. Lieber Kollege Junge, es war nicht der
Wunsch der SPD allein, den Freibetrag für Alleinerzie-
hende zu erhöhen; es war auch der Wunsch der Union.
Schon in den Koalitionsverhandlungen hat die Union ge-
sagt: Wir wollen in dieser Legislaturperiode den Entlas-
tungsbetrag für Alleinerziehende erhöhen, und zwar
deutlich.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Worüber wir jetzt diskutiert haben, war die Frage: Wie
können wir das denn finanzieren? Wenn uns die schwarze
Null wichtig ist, wenn wir eine Politik für zukünftige
Generationen machen wollen, dann ist es eine total legi-
time Frage, wie das zu finanzieren ist. Aber dass wir den
Freibetrag erhöhen wollten, stand immer außer Frage.
Dass wir ihn heute rückwirkend zum Beginn dieses Jah-
res um 600 Euro erhöhen, ist der Beweis, dass es uns
ernst ist, wir die Alleinerziehenden in den Blick nehmen
und unsere Versprechen tatsächlich einlösen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Gerade die Alleinerziehenden profitieren in besonde-
rem Maße von diesem Paket. Sie profitieren nicht nur
vom Freibetrag für Alleinerziehende, sondern auch vom
Grundfreibetrag bzw. vom Kindergeld. Sie profitieren
natürlich auch von den anderen Leistungen, die wir im
Laufe dieser Legislaturperiode erhöht haben, vor allem
auch vom Elterngeld Plus. Das ist auch gerechtfertigt,
denn Alleinerziehende stehen vor besonderen Herausfor-
derungen. Wenn ich mir vorstelle, ich müsste alles al-
leine stemmen, parallel noch arbeiten gehen und das
ganze Organisatorische alleine hinbekommen, dann
kann ich nur sagen: Hut ab vor denjenigen, die das al-
leine stemmen müssen! Das sucht man sich nicht aus,
das macht man nicht freiwillig. Angesichts der Mehraus-
gaben, die man hat, weil man die Kosten der Kita, die
Kosten der Wohnung, die Kosten von Wasser und Strom
usw. alleine tragen muss, gibt es diesen Freibetrag.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin überzeugt,
dass wir heute ein gutes Paket aus den Komponenten
Kindergeld, Kinderfreibetrag, Alleinerziehendenfreibe-
trag und Kinderzuschlag haben, ein milliardenschweres
Paket für die Familien in unserem Land. Ich freue mich,
dass wir das heute verabschieden können.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1811207600

Vielen Dank. – Damit, liebe Kolleginnen und Kolle-

gen, schließe ich die Debatte.

Wir kommen zur Abstimmung, zunächst über den
Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 18/5259. Wir stimmen über den Ände-
rungsantrag auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzuneh-
men.

Ich weise darauf hin, dass mehrere Erklärungen zur
Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung vorlie-
gen.1)

Sind alle Urnen besetzt? – Rechts hinten fehlt noch
eine Schriftführerin oder ein Schriftführer, links oben
auch.

Die Abstimmung ist eröffnet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weise darauf
hin, dass wir nach dieser namentlichen Abstimmung
eine weitere Abstimmung über einen Änderungsantrag
der Fraktion Die Linke haben. Deshalb bitte ich Sie, zu
bleiben.

Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? – Wenn ja, dann bitte
ich darum, dies jetzt zu tun.

Ich stelle noch einmal die Frage: Ist ein Mitglied des
Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgege-
ben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Ab-
stimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, mit der Auszählung zu beginnen.

Bis zum Vorliegen des Ergebnisses unterbrechen wir
die Sitzung. Wir fahren fort, sobald die Ergebnisse vor-
liegen.


(Unterbrechung von 12.43 bis 12.50 Uhr)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1811207700

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die Sit-

zung wieder.

Das Ergebnis der Abstimmung liegt vor. Ich werde
Ihnen zunächst das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen zu der zweiten Beratung des
Entwurfs der Bundesregierung eines Gesetzes zur Anhe-
bung des Grundfreibetrags, des Kinderfreibetrags, des
Kindergeldes und des Kinderzuschlags mitteilen: Abge-
geben wurden 591 Stimmen. Mit Ja haben gestimmt 116,
mit Nein haben gestimmt 473, enthalten haben sich
2 Kolleginnen oder Kollegen. Damit ist der Änderungs-
antrag abgelehnt worden.

1) Anlagen 2 bis 4





Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)


Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 591;
davon

ja: 116
nein: 473
enthalten: 2

Ja

CDU/CSU

Nina Warken

SPD

Marcus Held

DIE LINKE

Jan van Aken
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Annette Groth
Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jan Korte
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Birgit Menz
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Norbert Müller (Potsdam)

Thomas Nord
Petra Pau
Harald Petzold (Havelland)

Richard Pitterle
Martina Renner
Michael Schlecht
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Azize Tank
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Dr. Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak

Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
Sabine Zimmermann


(Zwickau)


BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Dr. Franziska Brantner
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn (Dresden)

Christian Kühn (Tübingen)

Renate Künast
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Irene Mihalic
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Corinna Rüffer
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Dr. Julia Verlinden
Doris Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Dr. Valerie Wilms

Nein

CDU/CSU

Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Artur Auernhammer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Iris Eberl
Jutta Eckenbach
Dr. Bernd Fabritius
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen

Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich (Chemnitz)

Mark Helfrich
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Peter Hintze
Christian Hirte
Dr. Heribert Hirte
Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
Thorsten Hoffmann


(Dortmund)

Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Andreas Jung
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings





Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)


Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Dr. Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Dr. Andreas Lenz
Philipp Graf Lerchenfeld
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Dr. Thomas de Maizière
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Elisabeth Motschmann
Dr. Gerd Müller
Carsten Müller


(Braunschweig)

Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Julia Obermeier
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Eckhard Pols

Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt (Fürth)

Gabriele Schmidt (Ühlingen)

Ronja Schmitt (Althengstett)

Patrick Schnieder
Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Ole Schröder
Dr. Kristina Schröder


(Wiesbaden)

Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl

Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg (Hamburg)

Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese (Ehingen)

Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner

SPD

Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Doris Barnett
Klaus Barthel
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)

Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Michaela Engelmeier
Petra Ernstberger
Saskia Esken

Karin Evers-Meyer
Dr. Johannes Fechner
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Dr. Ute Finckh-Krämer
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Angelika Glöckner
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Uli Grötsch
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil (Peine)

Gabriela Heinrich
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Christina Jantz
Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Christina Kampmann
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Dr. Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering





Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)


Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Thomas Oppermann
Mahmut Özdemir (Duisburg)

Aydan Özoğuz
Markus Paschke
Christian Petry
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post (Minden)

Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann

Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth (Heringen)

Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim

Schabedoth
Axel Schäfer (Bochum)

Dr. Nina Scheer
Marianne Schieder
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt (Aachen)

Matthias Schmidt (Berlin)

Dagmar Schmidt (Wetzlar)

Carsten Schneider (Erfurt)


Ursula Schulte
Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Dr. Karin Thissen
Franz Thönnes
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Ute Vogt

Dirk Vöpel
Gabi Weber
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

Enthalten

SPD

Steffen-Claudio Lemme
Peer Steinbrück

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme jetzt zur
Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 18/5258. Wer stimmt für die-
sen Änderungsantrag der Fraktion Die Linke? – Das ist
die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Das sind
alle anderen Fraktionen. Wer enthält sich? – Niemand.
Damit ist dieser Änderungsantrag gegen die Stimmen
der Linken und mit den gesamten Stimmen des übrigen
Hauses ebenfalls abgelehnt worden.

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf auf
den Drucksachen 18/4649 und 18/5011 in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalition bei Enthaltung der Oppo-
sition angenommen worden.

Wir kommen zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der
Gesetzentwurf in der dritten Lesung mit den Stimmen
der Koalition bei Enthaltung der Opposition angenom-
men worden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe jetzt den
Tagesordnungspunkt 7 sowie den Zusatzpunkt 1 auf:

7 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Volker Beck (Köln), Ulle Schauws, Katja Keul,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Abschaffung des Ehever-
bots für gleichgeschlechtliche Paare

Drucksache 18/5098
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)


Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Petzold (Havelland), Sigrid Hupach, Jan Korte,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Ehe für gleichgeschlechtliche Paare – Der
Entschließung des Bundesrates folgen
Drucksache 18/5205
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Dazu gibt es
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in die-
ser Aussprache hat der Fraktionsvorsitzende vom Bünd-
nis 90/Die Grünen, Dr. Anton Hofreiter, das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Seit 25 Jahren nun führen wir schon die De-
batte über die Öffnung der Ehe für schwule und lesbi-
sche Paare. Das ist verdammt viel Zeit. Unzähligen Paa-
ren hat der Staat in der Zeit das verweigert, was sie sich
wünschten: verbindlich Verantwortung füreinander zu
übernehmen, ihre Liebe fest zu besiegeln. Das war be-
reits viel zu viel Zeit. Lassen Sie uns nicht länger war-
ten! Lassen wir die Menschen, die sich lieben, nicht län-
ger warten, liebe Kolleginnen und Kollegen!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)






Dr. Anton Hofreiter


(A) (C)



(D)(B)


Die heutige Regelung – im Kern wissen wir es alle;
das wissen alle, die hier sitzen – ist Diskriminierung und
nichts anderes. Es gibt zwar immer wieder Leute, die das
nicht einsehen wollen, insbesondere in der Union; aber
sie ist Diskriminierung. Kommen Sie uns bitte nicht mit
Religion oder gar mit dem Grundgesetz.

Schauen wir uns die Entwicklung der letzten Jahr-
zehnte an, und schauen wir uns doch die Bilanz des Bun-
desverfassungsgerichts seit 2000 an. Das Bundesverfas-
sungsgericht hat seit 2000 immer und immer wieder
bewiesen, dass Sie sich irren. In insgesamt acht – acht! –
Verfahren hat das Bundesverfassungsgericht Ihre diskri-
minierenden Vorhaben zurückgewiesen.

Sie haben behauptet, das Lebenspartnerschaftsgesetz
sei mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Was passierte?
Sie haben vor dem Bundesverfassungsgericht verloren.
Sie haben behauptet, man dürfe Beamte je nach sexuel-
ler Orientierung unterschiedlich behandeln. Was ist pas-
siert? Sie haben verloren. Sie wollten, dass Lesben und
Schwule höhere Steuern zahlen. Was ist passiert? Sie ha-
ben erneut verloren.


(Johannes Kahrs [SPD]: Mit Recht!)


Dadurch ließ sich Ihr Diskriminierungswille aber kein
bisschen bremsen. Sie waren sogar bereit, Regenbogen-
familien zu Zweite-Klasse-Familien zu degradieren. Sie
haben vor dem Bundesverfassungsgericht zweimal ver-
loren und waren sich noch nicht einmal zu schade, das
Ganze vor die europäischen Gerichte zu tragen. Auch
dort haben Sie verloren.

Erzählen Sie uns heute deshalb nichts mehr über das
Grundgesetz und die Ehe für alle. Davon haben Sie näm-
lich einfach keine Ahnung. Das haben Sie Jahr für Jahr
bewiesen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, seit die
Menschen in Irland in einem Referendum für die Öff-
nung der Ehe gestimmt haben, dürfte selbst dem Konser-
vativsten klar geworden sein, dass er mit seiner Haltung,
die Ehe für homosexuelle Paare zu verbieten, in der Welt
inzwischen verdammt allein dasteht.

Schauen wir uns an, was passiert ist. Viele Länder ha-
ben uns überholt: Uruguay, Südafrika, Island, Spanien.
Es ließen sich noch Unmengen weiterer Länder aufzäh-
len. Sie alle haben das Eheverbot für Lesben und
Schwule abgeschafft. Bei uns gibt es das Eheverbot aber
weiter, weil ein Teil der Union seine herzlose Haltung
nicht überwinden kann.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Das ist Unsinn!)


Das darf einfach nicht mehr so weitergehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Es ist heute ja nicht die erste Debatte, die wir dazu
führen. Ich finde, die Scheinargumente, die wir dazu hö-

ren, langweilen einfach nur noch und nerven, ehrlich ge-
sagt, auch. Sie nerven die Betroffenen und auch die
Nichtbetroffenen, die sich mit dem Thema beschäftigen.

Das sind keine Argumente, sondern Scheinargu-
mente. Sie haben Ängste und komische Vorstellungen.
Am Ende sind all diese komischen Vorstellungen homo-
phob. Wenn Sie einmal in sich gehen und in einer stillen
Minute darüber nachdenken würden – das Schlimme ist,
dass Sie das nicht tun –, dann müssten Sie zugeben, dass
Sie im Kern selber wissen, dass das so nicht geht und
dass wir das dringend ändern müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie klammern sich aber an einem völlig überholten
Bild der Ehe fest,


(Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: „Einem völlig überholten Bild der Ehe“?)


das es in aufgeklärten Kreisen vielleicht noch nie gab.
Dieses Bild der Ehe war schon im letzten Jahrtausend
anachronistisch, und es ist im jetzigen Jahrtausend mehr
als anachronistisch. Geben Sie sich deshalb einen Ruck,
und seien Sie endlich aufgeklärt! Kommen Sie endlich in
der Moderne an! Es würde Ihnen sicher guttun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, schauen wir uns das
doch einmal genau an: Eigentlich geht es heute doch um
etwas wirklich Schönes und Wunderbares. Zwei Men-
schen, die sich lieben, wollen ein Leben lang Verantwor-
tung füreinander übernehmen und die Ehe eingehen. –
Frau Merkel, Ihre Bundeskanzlerin und die Parteivorsit-
zende der CDU, hat selbst einmal gesagt: Familie ist da,
wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen. –
Dann ermöglichen wir ihnen das doch mit der Ehe für
alle – egal ob hetero- oder homosexuell!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Deutschland ist vielfältig und bunt; unser Gesetzent-
wurf erkennt das an. Wir leben längst in einer modernen
und vielfältigen Gemeinschaft. Dafür sollte die Politik
– das ist doch eine unserer zentralen Aufgaben – auch
den rechtlichen Rahmen gestalten. Lasst uns dies also
gemeinsam tun!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
erkennen Sie einfach die Realität an. Geben Sie sich ei-
nen Ruck. Springen Sie über Ihren inzwischen ein biss-
chen verstaubten Schatten. Wenn Sie nicht über Ihren
verstaubten Schatten springen wollen, dann haben Sie
doch einfach den Mut, die Abstimmung freizugeben.
Stehen Sie dem Fortschritt einfach nicht mehr weiter im
Weg. Lasst uns deshalb hier im Deutschen Bundestag





Dr. Anton Hofreiter


(A) (C)



(D)(B)


endlich das Eheverbot für Lesben und Schwule gemein-
sam abschaffen; denn es gehört abgeschafft.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1811207800

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Dr. Sabine

Sütterlin-Waack von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU):
Rede ID: ID1811207900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Insbesondere an Sie, liebe Kollegen von
Bündnis 90/Die Grünen, eine Frage vorab: Wollen wir
diese Debatte über die Öffnung der Ehe jetzt eigentlich
in jeder Sitzungswoche führen?


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Katrin GöringEckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Es gibt eine ganz einfache Möglichkeit: Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu, und schon ist die Debatte vorbei!)


Wollen Sie immer wieder versuchen, uns mit diesem
Thema vorzuführen, nur um damit die Schlagzeilen zu
beherrschen?


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Katrin GöringEckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht nicht um Schlagzeilen! Uns geht es um die Sache!)


Ich schließe mich vollständig der Meinung meines Kol-
legen Stefan Kaufmann an, der in der letzten Woche zu
bedenken gab, dass Sie damit in der Sache überhaupt
nichts erreichen


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


und womöglich am Ende mehr Widerstand provozieren,
als Ihnen um der Sache willen lieb sein müsste.


(Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: Richtig! – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmen Sie dann zu, wenn wir es nicht mehr machen?)


Gesellschaftliche Änderungen, meine Damen und
Herren, benötigen Akzeptanz. Sie brauchen Zeit. Selten
konnte man einen rasanteren gesellschaftlichen Wandel
betrachten.


(Zurufe von der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Hören Sie doch einmal zu!


(Michaela Noll [CDU/CSU], an die LINKE gewandt: Hören Sie doch zu! Wir haben Ihnen auch zugehört!)


Woher kommen wir in der Bundesrepublik Deutschland
beim Thema Gleichstellung? Bis 1994 waren sexuelle
Handlungen unter Männern nach dem damaligen § 175
Strafgesetzbuch strafbar. Viele Männer sind deshalb ver-
urteilt worden und haben Strafen in Haftanstalten ver-
büßt. Auch über dieses Thema müssen wir reden.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ja!)


Der Deutsche Bundestag hat sich auf den Weg ge-
macht und hat im Jahr 2000 einstimmig eine Entschuldi-
gung für diese Menschen, die nach 1945 verurteilt wor-
den sind, ausgesprochen.


(Johannes Kahrs [SPD]: Aber Sie mussten wir auch nötigen!)


Eine Rehabilitation allerdings hat bis jetzt noch nicht
stattgefunden. Eine pauschale Aufhebung, eine General-
kassation der Urteile, die nicht im Unrechtsstaat, son-
dern in der Bundesrepublik Deutschland erlassen wur-
den, wurde lange Zeit als nicht vereinbar mit dem
Prinzip der Gewaltenteilung des Rechtsstaats angesehen.


(Johannes Kahrs [SPD]: Jedenfalls von der CSU!)


Auch hier müssen wir diskutieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Mechthild Rawert [SPD])


Es mehren sich die juristischen Expertisen, in denen es
heißt: Wir können die Fehlentscheidungen, allesamt Ver-
stöße gegen die Menschenwürde, rechtssicher korrigie-
ren – durch ein Gesetz des Deutschen Bundestages.


(Johannes Kahrs [SPD]: Da warten wir nur auf Sie! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie!)


Sieben Jahre später, also seit 2001, können gleichge-
schlechtliche Paare eine staatlich anerkannte und legali-
sierte Verbindung eingehen.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das wissen wir alles! Sagen Sie uns doch mal was Neues!)


Andere gesetzliche Gleichstellungen wie zum Beispiel
im Einkommensteuerrecht – das haben wir eben gehört –,
im Erbrecht und im Adoptionsrecht folgten. Wir sind
noch nicht am Ende dieser Entwicklung angekommen.

Im Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2013 haben wir
Folgendes festgelegt:

Wir werden darauf hinwirken, dass bestehende Dis-
kriminierungen von gleichgeschlechtlichen Le-
benspartnerschaften und von Menschen auf Grund
ihrer sexuellen Identität in allen gesellschaftlichen
Bereichen beendet werden.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann auch auf dem Standesamt!)


Genau das geschieht jetzt mit dem Gesetz zur Bereini-
gung des Rechts der Lebenspartner, in dem für alle noch
fehlenden Bereiche im Zivil- und Verfahrensrecht und





Dr. Sabine Sütterlin-Waack


(A) (C)



(D)(B)


auch im sonstigen öffentlichen Recht die Lebenspartner
Eheleuten gleichgestellt werden. Nach der parlamentari-
schen Sommerpause werden wir es hier behandeln. Da-
mit gibt es tatsächlich nur noch die beiden viel diskutier-
ten Punkte der Begrifflichkeit und der Volladoption, die
zur vollkommenen Gleichstellung fehlen.

Wir als große Volkspartei, lieber Herr Beck, sind aber
nicht so gleichförmig aufgestellt wie Ihre Partei.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Können Sie uns das bitte schriftlich geben, dass wir gleichförmig aufgestellt sind? Das hätten wir gerne schriftlich!)


Bei uns gibt es nicht nur Zustimmung zu diesem Thema.
Wir können diese Punkte nicht einfach so abräumen.
Wenn Sie sich die Entwicklung, die ich gerade aufge-
zeigt habe und deren Ausgangspunkt vor Augen führen:
Ist es da verwerflich oder gar homophob, Herr Kollege
Hofreiter, dass es einige gibt, die sich damit schwertun,
die der Meinung sind, die Ehe sei ausschließlich die Ver-
bindung von Mann und Frau?


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Diese Menschen denken, dass das Institut für die dauer-
hafte Verbindung zwischen zwei Frauen oder zwei Män-
nern, die Verantwortung füreinander übernehmen, das
der eingetragenen Lebenspartnerschaft sei.


(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Das ist Diskriminierung!)


Auch diese Ansichten müssen wir respektieren. Am
Rande bemerkt: Bis zum heutigen Tag befinden sie sich
mit dieser Meinung in guter Gesellschaft, nämlich in der
von Bundesverfassungsrichtern.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Aber, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, es
gibt auch viele in unserer Partei, die anders denken,


(Johannes Kahrs [SPD]: Ja!)


die der Meinung sind, wir sollten die Debatte als Pro-
Ehe-Diskussion ansehen und die sich darüber freuen,
dass sich die früher von linker Seite als urkonservativ
beschimpfte Ehe plötzlich ungeahnter Beliebtheit er-
freut.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Johannes Kahrs [SPD]: Genau! Wir wollen auch spießig sein! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nicht, dass ihr es noch zur Pflicht macht!)


Die Zahl der eingetragenen Lebenspartnerschaften
wächst rasant. Derzeit gibt es rund 35 000 eingetragene
Lebenspartnerschaften, 2007 waren das noch nicht ein-
mal die Hälfte. Ich bin der Meinung, dass wir diese Wer-
tedebatte mutig und selbstbewusst führen sollten. Einer
umfassenden Diskussion auf dem Bundesparteitag im
Dezember in Karlsruhe sollten wir uns nicht verschlie-
ßen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Johannes Kahrs [SPD]: Genau!)


– Sogar Applaus von den Grünen; das ist ja wunderbar.


(Johannes Kahrs [SPD]: Ich komme auch gerne vorbei!)


Einige von uns in der CDU und vereinzelt auch in der
CSU – meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Sie kön-
nen das heute in der Süddeutschen Zeitung nachlesen –
können sich vorstellen, Ehe und eingetragene Le-
benspartnerschaft gleichwertig nebeneinanderzustellen.
Die CDU-Landtagsfraktion in meinem Heimatbundes-
land Schleswig-Holstein hat sich diese Woche für die
vollständige Gleichstellung ausgesprochen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])


Ich freue mich, dass wir ein derart breites Meinungs-
spektrum in unserer Partei haben. Nach meinem Ver-
ständnis wäre eine Gleichstellung aber nur dann mög-
lich, wenn gleiche Rechte und Pflichten gelten würden.

Wenn man die weitestgehend redaktionellen Ände-
rungen des Gesetzes zur Bereinigung des Rechts der Le-
benspartner außen vor lässt, dann fehlt, wie erwähnt, nur
noch die gemeinsame Volladoption zur vollständigen
Gleichstellung. Ich habe es schon so oft gesagt und bin
dafür von einigen Oppositionskollegen bitter beschimpft
worden – ich halte es aber aufrecht –: Wir müssen darauf
achten, dass es den Kindern gut geht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Johannes Kahrs [SPD]: Das müssen wir immer!)


Frau Kollegin Winkelmeier-Becker hat in ihrer Rede
in der Aktuellen Stunde letzte Woche entsprechende
Überlegungen angestellt. Ist es richtig, dass das Alter der
möglichen Adoptiveltern, ihre wirtschaftlichen Verhält-
nisse, ihre Wohnverhältnisse und die Stabilität ihrer Be-
ziehung bei der Auswahl eine Rolle spielen, aber nicht,
ob das Kind künftig zwei Männer oder zwei Frauen als
wichtigste Bezugspersonen hat? Ist man schon deshalb
reaktionär, weil man darüber nachdenkt? Ist es nicht zu-
lässig, darüber zu reden, ob es für Kinder wichtig ist, in
der entscheidenden Phase ihrer Prägung von Männern
und Frauen begleitet zu werden?

Wir müssen darüber reden. Denn Unverständnis und
Ablehnung liegen meist vor, wenn Menschen keine nä-
heren Kenntnisse haben, wenn sie nicht wissen, wie in
homosexuellen Partnerschaften – auch mit Kindern – lie-
bevoll und verantwortungsbewusst miteinander umge-
gangen wird.

Ich habe den Eindruck, dass wir in der Gesellschaft
eine noch nie dagewesene offene Diskussion zur Frage
der vollständigen Gleichstellung von homosexuellen
Menschen führen. Wir sollten diese fortführen und dann
entscheiden. Es kann gut sein, dass die vollständige





Dr. Sabine Sütterlin-Waack


(A) (C)



(D)(B)


rechtliche Gleichstellung noch etwas Zeit braucht. Das
mögen viele als Ungerechtigkeit empfinden. Ein Drama
ist es angesichts der bereits erzielten fast vollständigen
Angleichung nicht. Drastische gesellschaftliche Verän-
derungen – und über nichts anderes sprechen wir – benö-
tigen Akzeptanz, und Akzeptanz braucht Zeit.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Johannes Kahrs [SPD]: 15 Jahre müssen doch reichen!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811208000

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist

Harald Petzold, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Harald Petzold (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811208100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Verehrte Besucherinnen und Besucher! Ja,
Frau Kollegin Sütterlin-Waack, wir haben erst vor einer
Woche auf Antrag der Fraktion Die Linke in einer Ak-
tuellen Stunde im Deutschen Bundestag über das Thema
„Ehe für alle“ gesprochen. Ich habe Ihnen schon in der
vorigen Woche versichert: Wir werden das Thema so oft
wieder aufrufen, bis es endlich geklärt ist.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Denn das ist auch unsere Aufgabe als Opposition.

Ich habe Ihnen in meiner ersten Rede dazu im Deut-
schen Bundestag gesagt, dass ich es satt habe, dass stän-
dig Artikel wie der, den ich Ihnen heute mitgebracht
habe und in dem es um ein „ganz normales Paar“ geht,
veröffentlicht werden müssen, in denen ganz deutlich
dargelegt wird, wie die Diskriminierung trotz der Fort-
schritte nach wie vor in der Gesellschaft wirkt. Ich weiß,
dass ich Sie persönlich nicht mehr überzeugen muss
– wir beide stimmen in dieser Frage überein –, aber Ihre
Fraktionsführung und leider auch ein großer Teil Ihrer
Fraktion stehen noch nicht dahinter. Deswegen müssen
wir diese Debatte führen.

Sie könnten sich doch ganz schnell von dem Schmerz
befreien. Geben Sie die Abstimmung frei! Dann könnte
die rechnerische Mehrheit, die es in diesem Hause gibt,
endlich zum Zuge kommen, und wir könnten das Thema
abräumen. Damit wäre es erledigt.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Denn inzwischen hat sich die Erde weitergedreht. Es ist
nicht so, dass nur Bündnis 90/Die Grünen, wir, Teile der
SPD


(Dr. Johannes Fechner [SPD]: Die SPD!)


und inzwischen auch Teile Ihrer Partei das inzwischen
auf die Tagesordnung setzen, sondern auch – das ist in
der vorigen Woche angesprochen worden – andere euro-
päische Länder, Amerika und Südafrika. International
werden wir überholt. Der Bundesrat hat inzwischen wie-

der einen mehrheitlichen Beschluss gefasst und uns auf-
gefordert, die Ungleichbehandlung sofort zu überwin-
den. Und auch – Sie haben es selbst angesprochen – Ihre
eigene Landtagsfraktion in Schleswig-Holstein – ich
zitiere – „begrüßt ausdrücklich Gesetzesvorhaben und
Initiativen, welche die Gleichstellung eingetragener Le-
benspartnerschaften mit der Ehe zum Ziel haben und be-
stehende Ungleichbehandlungen beenden“. Ich gehe da-
von aus, dass das nicht von irgendwelchen Hackern auf
die Internetseite Ihrer Landtagsfraktion in Schleswig-
Holstein gestellt wurde,


(Mechthild Rawert [SPD]: Wer weiß!)


sondern tatsächlich die Meinung von Herrn Daniel
Günther, dem Fraktionsvorsitzenden, ist. Ich kann ihm
nur zustimmen, wenn es weiter heißt:

Deshalb können gerade wir als CDU-Fraktion den
Wunsch gleichgeschlechtlicher Paare, alle aus der
Ehe hervorgehenden Rechte und Pflichten in ge-
genseitiger Verantwortung einzugehen, nur begrü-
ßen.

Dem Mann ist zuzustimmen. Das klingt zwar noch
immer verschwurbelt. Aber das ist zumindest ein Ver-
such, Ihre eigene Partei daran zu erinnern, was sie zu-
sammen mit der SPD in der Koalitionsvereinbarung be-
schlossen hat. Also setzen Sie das endlich um!


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


2001 wurde das Rechtsinstitut der eingetragenen Le-
benspartnerschaft geschaffen; darauf wurde schon Be-
zug genommen. Damals hatte es eine Vorbildfunktion in
Europa. Lesben und Schwule konnten eine staatlich an-
erkannte Partnerschaft endlich eingehen. Das gab es da-
mals nur in wenigen europäischen Ländern. Die Le-
benspartnerschaft bedeutete aber viele Pflichten und nur
wenige Rechte. Deswegen ist sie nicht so zum Zuge ge-
kommen, wie wir uns das eigentlich wünschen. Hinzu
kommt, dass die Union auf der Bundesebene und im
Bundesrat weitere Rechte verhindert hat. Dieser Zustand
muss endlich beendet werden.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dazu wird aber das Gesetz, dessen Entwurf Bundes-
minister Heiko Maas inzwischen im Internet veröffent-
licht hat und das die eingetragene Lebenspartnerschaft
angeblich gleichstellen soll, nichts beitragen. Es ist ei-
gentlich eine Ohrfeige für Lesben und Schwule in die-
sem Land; denn diese werden beispielsweise beim ge-
meinsamen Adoptionsrecht wieder nicht gleichgestellt.
Es hat keinen Sinn mehr, am Klein-Klein eines
Rechtsangleichungsgesetzes herumzudoktern und noch
mehr Zeit bei der Gleichstellung eingetragener Le-
benspartnerschaften zu vertrödeln. Es muss vielmehr da-
rum gehen – deswegen wird meine Fraktion den Gesetz-
entwurf von Bündnis 90/Die Grünen unterstützen, der
identisch mit dem ist, was wir bereits im Dezember 2013
eingebracht haben –, dass endlich eine Gleichstellung er-
folgt. Alle Menschen sind gleich. Ihre Liebe ist ebenso





Harald Petzold (Havelland)



(A) (C)



(D)(B)


respektabel. Deswegen müssen wir den Zugang zum
Rechtsinstitut der Ehe für alle öffnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811208200

Herzlichen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt

Dr. Johannes Fechner.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Johannes Fechner (SPD):
Rede ID: ID1811208300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Liebe Mitglieder der
Fraktion der Grünen! Ja, die Fraktion der Grünen
möchte ich besonders anreden, weil sie uns mit dem vor-
liegenden Gesetzentwurf die Gelegenheit gibt, unsere
Position darzulegen und einmal mehr über dieses wich-
tige Thema zu diskutieren. Die SPD setzt sich seit vielen
Jahre für die Ehe für alle ein; denn für uns gibt es keine
Liebe erster und zweiter Klasse. Eine moderne Gesell-
schaft darf keinen Unterschied zwischen homosexuellen
und heterosexuellen Paaren machen. Deswegen setzen
wir uns dafür ein, jegliche Diskriminierung aufzuheben.
Wir wollen die Ehe für alle.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir werden in Kürze den Entwurf eines Gesetzes zur
Bereinigung des Rechts der Lebenspartner verabschie-
den, mit dem wir viele Regelungen beseitigen, bei denen
es Diskriminierung von gleichgeschlechtlichen Paaren
gibt. Wir machen dies, weil es für uns keine Gründe
mehr gibt, gleichgeschlechtliche Paare anders zu behan-
deln als heterosexuelle Paare. Wir ermöglichen es zum
Beispiel, dass ein Partner beim Tod seines Partners in
dessen Mietvertrag eintritt. Das war bisher nur Ehegat-
ten möglich. Wir schaffen etwa im Zwangsversteige-
rungsrecht Schutzrechte, die bisher nur für Ehegatten
galten. Wie Sie sehen, stellt dieses Gesetz keine Ohr-
feige für Schwule und Lesben dar, wie es der Vorredner
– zu Unrecht – behauptet hat. Vielmehr ändern wir über
23 Gesetze und Verordnungen, um gleichgeschlechtliche
Paare mit heterosexuellen Paaren gleichzustellen. Daran
sehen Sie, wie wichtig es uns ist, jegliche Diskriminie-
rung zu beseitigen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir von der SPD wollen aber auch weitergehen. Wir
wollen gleichgeschlechtlichen Paaren ermöglichen, sich
gemeinsam für die Adoption eines Kindes zu bewerben.
Es gibt weder medizinische noch entwicklungspsycholo-
gische Gründe, die begründen, warum Kindern Nach-
teile entstehen, wenn sie von gleichgeschlechtlichen
Paaren aufgezogen werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Gerade weil es keinen Grund gibt, warum homosexuelle
Paare per se schlechtere Eltern sind, müssen homosexu-
elle Paare die Möglichkeit haben, sich für die Adoption
eines Kindes zu bewerben; genau darum geht es uns.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir wollen keinen Rechtsanspruch auf Kindesadoption
schaffen; denn über die Adoption entscheidet letztend-
lich das Familiengericht.


(Johannes Kahrs [SPD]: Gut so!)


Wir meinen: Ob ein Paar ein Kind adoptieren darf, muss
das Familiengericht entscheiden, und zwar ausschließ-
lich danach, ob es dem Kindeswohl dient, und nicht da-
nach, welches Geschlecht bzw. welche sexuelle Orien-
tierung das Paar hat. Entscheidend muss immer das
Kindeswohl sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Auch ich bedauere, dass die Union hier nach wie vor
eine andere Position vertritt als die SPD. Viele in Ihren
Reihen wissen längst, dass in einer modernen Gesell-
schaft diese Ungleichbehandlungen nicht aufrechterhal-
ten werden können. Da der Tag sowieso kommen wird,
an dem Sie diese Haltung aufgrund des gesellschaftli-
chen Drucks oder einer Entscheidung des Bundesver-
fassungsgerichts aufgeben müssen, sollten wir noch in
dieser Legislaturperiode diese Diskriminierung von ho-
mosexuellen Paaren aufheben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind für die Ehe für alle. Wir möchten im BGB
definieren, dass eine Ehe zwischen zwei erwachsenen
Menschen geschlossen werden kann, unabhängig vom
Geschlecht. 21 europäische Staaten haben schon die Le-
benspartnerschaft, und in Europa haben zehn Staaten die
Ehe für alle Menschen eingeführt. Es wird Zeit, dass
auch wir in Deutschland diesen Schritt gehen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nun gibt es die Ansicht, dass dafür eine Verfassungs-
änderung erforderlich sei. Diese Einschätzung teile ich
ausdrücklich nicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nicht zuletzt ein Gutachten von Frau Dr. Wapler von der
Friedrich-Ebert-Stiftung hat präzise aufgezeigt, dass eine
Verfassungsänderung nicht erforderlich ist. Das Bundes-
verfassungsgericht versteht die Institute der Ehe und der
Lebenspartnerschaft als funktionell gleichartig und hat
schon 1993 ausdrücklich geurteilt, dass der Begriff der
Ehe einem gesellschaftlichen Wandel unterliegt. Nichts-





Dr. Johannes Fechner


(A) (C)



(D)(B)


destotrotz halte ich eine Verfassungsänderung für sinn-
voll und wünschenswert; denn dann gäbe es keine
Diskussionen mehr zur verfassungsrechtlichen Zulässig-
keit, vor allem aber stünde dann auch die gleich-
geschlechtliche Ehe im Grundgesetz unter besonderem
Schutz. Deshalb sollte auch eine Ehe, die allen erwach-
senen Menschen offensteht, im Grundgesetz als Ehe so
benannt sein.


(Beifall des Abg. Dr. Karl-Heinz Brunner [SPD])


Denn was schadet es denn Familien, in denen Ehe-
partner Mann und Frau sind, wenn die Ehe auch für
gleichgeschlechtliche Paare zugelassen würde? Nichts,
aber auch gar nichts. Es gibt hier keine Konkurrenzsitua-
tion. Deshalb sollten wir allen Menschen, gleich welcher
sexuellen Orientierung und gleich welchen Geschlechts,
die Eheschließung ermöglichen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Unser Ziel ist damit klar: Wir wollen die vollständige
Gleichheit zwischen heterosexuellen und homosexuellen
Paaren. Wir wollen die Ehe für alle. Wir wollen nicht nur
die Sukzessivadoption, die Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Union, mitgemacht haben, sondern wir
wollen das volle Adoptionsrecht für alle Paare unabhän-
gig vom Geschlecht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage es nochmals: Ich bedauere es sehr, dass wir
hier keine freie Abstimmung haben, also unser Koali-
tionspartner die Abstimmung nicht freigegeben hat;
denn nicht nur in der Bevölkerung, sondern vor allem
hier im Bundestag – da bin ich mir sicher – gibt es eine
große Mehrheit für die Ehe für alle.

Man hört nun – dies zum Schluss –, dass in der Union
im Dezember auf dem Bundesparteitag Beratungen über
die aktuelle Beschlusslage stattfinden sollen. Um diesen
Prozess in der Union hin zu der überfälligen Gleichstel-
lung von heterosexuellen und homosexuellen Paaren zu
beschleunigen, möchte auch ich einen Beitrag leisten.
Ich wohne nicht weit weg von Karlsruhe. Ich biete aus-
drücklich an, als Gastredner die vielen guten Argumente
vorzutragen, um bei euch den Prozess zu beschleunigen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen die Ehe für alle, wir müssen alle Diskri-
minierungen abschaffen.

Vielen Dank. Ich freue mich auf die Einladung.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811208400

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Volker Beck,

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811208500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu-

nächst vielen Dank, Frau Sütterlin-Waack, für Ihre ein-
drucksvolle Rede. Ich fand den Ton sehr angemessen,
und ich fand auch, dass Sie deutlich gemacht haben und
dass die ganze Debatte deutlich gemacht hat: Die Mehr-
heit für die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche
Paare ist zum Greifen nahe.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich bin jetzt der fünfte Redner in der Debatte. Es gab
in der Debatte kein einziges substanzielles Argument,
das gegen die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche
Paare spricht.

Schauen wir einmal zurück. Die Union hat sich bei
der Frage der Homosexualität traditionell immer schwer-
getan und hat dann doch dazugelernt. Jahrzehnte haben
Sie gegen jede Reform des § 175 StGB – bis 1969 – und
dann – bis 1994 – gegen die Streichung des § 175 StGB
gekämpft. Jetzt sind Sie mit uns zusammen froh, dass
Homosexuelle in Deutschland nicht mehr kriminalisiert
werden.

Jahrzehnte haben Sie gegen die rechtliche Anerken-
nung, und zwar in jeder Form, gleichgeschlechtlicher
Partnerschaften gekämpft. Jetzt ist Frau Merkel froh,
dass Rot-Grün das Lebenspartnerschaftsgesetz beschlos-
sen hatte. Damals hat sie dagegen gestimmt; Bayern,
Sachsen und Thüringen, wo die Union allein regierte,
haben Normenkontrollklage vor dem Bundesverfas-
sungsgericht erhoben und verloren.

Ich bin sicher: Wenn wir das Eheverbot für gleichge-
schlechtliche Paare aufgehoben haben werden, werden
auch viele bei Ihnen froh sein, dass die Ehe gesellschaft-
lich kein Auslaufmodell ist und dass sogar viele Lesben
und Schwule heiraten. Und das finde ich auch gut so,
und das wäre versöhnlich für die Lesben und Schwulen
in diesem Land.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Frau Sütterlin-Waack, Sie haben reklamiert, es
bräuchte weiter Zeit und Respekt für diese Haltung und
Forderung der Union. Ich bitte Sie, ein Stück weit zu res-
pektieren, dass wir ein bisschen ungeduldig sind.


(Johannes Kahrs [SPD]: Ein bisschen?)


Im Juli 1990, fast exakt vor 25 Jahren, hat sich der
Bundestag zum ersten Mal mit einem Antrag der Grünen
zur Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare
auseinandergesetzt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


25 Jahre sind wirklich genug Zeit an Debatte; genug ist
genug. Wir brauchen jetzt Entscheidungen. Lassen Sie
uns nicht noch eine Legislatur warten. Lassen Sie uns
das dieses Jahr beschließen.





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie haben ja gerade gefragt: Wollen wir das jede Wo-
che hier debattieren?


(Johannes Kahrs [SPD]: Gern!)


Ich habe keinen Debattenbedarf mehr. Ich habe Ent-
scheidungsbedarf. Aber interessant ist ja doch: Von Wo-
che zu Woche, von Debatte zu Debatte wird die Liste der
Staaten, die inzwischen die Ehe für gleichgeschlechtli-
che Paare geöffnet haben, immer länger. Letzte Woche
haben wir debattiert, weil das irische Volk den gleich-
geschlechtlichen Paaren das Eheschließungsrecht zuge-
standen hat. Diese Woche ist Mexiko dazugekommen.
Der Oberste Gerichtshof von Mexiko hat in einem Urteil
gesagt: Weil der Zweck der Eheschließung nicht die
Fortpflanzung ist, gibt es keinen angemessenen Grund,
dass die Partner bei einer Eheschließung heterosexuell
sein müssen. Die Ehe nur zwischen einem Mann und ei-
ner Frau zuzulassen, ist nichts als Diskriminierung von
Homosexuellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich finde, prägnanter kann man es nicht formulieren. Ich
bin sicher: Wenn wir uns nicht beeilen, werden uns das
eines Tages das Bundesverfassungsgericht oder der Eu-
ropäische Gerichtshof für Menschenrechte auch sagen.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oder der Heilige Stuhl! Wer weiß!)


Schauen Sie sich doch einmal die Länder an, die die
Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet haben. Es
wird ja gesagt: Wer weiß, was dann alles passiert? Die
Anzahl der Eheschließungen geht zurück. Es werden
keine Kinder mehr geboren. – Frau Kramp-Karrenbauers
Assoziationen will ich hier gar nicht anführen.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Sie ist falsch zitiert worden! Das wissen Sie auch!)


Was ist in den Niederlanden in den letzten 14 Jahren
passiert? Was ist in den letzten 12 Jahren in Belgien
passiert? Was ist in den letzten 10 Jahren in Spanien
passiert? Nichts Schlimmes ist passiert, außer dass ein
paar schwule und lesbische Paare glücklicher sind, weil
sie geheiratet haben und weil die Gesellschaft, in der sie
leben, Ja zu ihnen gesagt hat. Da nachzuziehen, das sind
wir, finde ich, den Homosexuellen angesichts unserer
Geschichte schuldig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


In keinem Land in Europa wurden Homosexuelle so
intensiv verfolgt wie die Homosexuellen im 20. Jahrhun-
dert in Deutschland. Ich finde, auch vor diesem Hinter-
grund haben wir allen Grund, zu sagen: Schwule und
Lesben sind Bürger wie alle anderen auch. Sie genießen
die gleichen Rechte, die gleiche Würde, und die Gesell-

schaft zollt ihnen den gleichen Respekt. Das bringen wir
zum Ausdruck, indem wir das Eheverbot bei Gleichge-
schlechtlichkeit endlich aufheben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811208600

Vielen Dank. – Als Nächster hat das Wort Alexander

Hoffmann, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Alexander Hoffmann (CSU):
Rede ID: ID1811208700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kollegin-

nen und Kollegen! Wenn wir dieses Thema jetzt jede
Woche debattieren, dann ist das parlamentarisch durch-
aus in Ordnung. Nur möchte ich anknüpfen an die
Diskussion in der letzten Woche, die mir insgesamt et-
was zu emotional und unsachlich gewesen ist.


(Johannes Kahrs [SPD]: Das ist ja auch ein emotionales Thema!)


Von Herrn Hofreiter habe ich heute gehört, wir hätten
keine Ahnung, wir seien von einer herzlosen Haltung ge-
prägt,


(Johannes Kahrs [SPD]: Genau!)

wir seien homophob oder nicht aufgeklärt. Ich sage Ih-
nen auch jetzt wieder, dass ich nicht glaube, dass Sie
dem Thema mit diesen persönlichen Angriffen einen Ge-
fallen tun.


(Beifall bei der CDU/CSU – Johannes Kahrs [SPD]: Das scheint ja gar nicht zu helfen bei Ihnen!)


Ich bin froh über die heutige Debatte, weil sie mir die
Gelegenheit gibt, den einen oder anderen Aspekt zu
vertiefen, wozu ich letzte Woche aufgrund der Fünf-
Minuten-Regel keine Gelegenheit hatte.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, zu-
nächst einmal ein Blick auf die tatsächliche Ebene. Ich
kann nachvollziehen, wenn Sie sagen: Wir wollen die
Ehe für gleichgeschlechtliche Paare öffnen, um jeglicher
Diskriminierungsgefahr vorzubeugen. – Ich kann auch
nachvollziehen, wenn Sie sagen: Wenn in einem Lebens-
lauf oder in einer Bewerbung „verpartnert“ statt „verhei-
ratet“ steht, dann könnte das bei einem intoleranten
Arbeitgeber, bei einem intoleranten Personalchef schon
der erste Ansatzpunkt für eine Diskriminierung sein. –
Wir sind – auch das will ich vorwegschicken – beieinan-
der. Auch wir wollen in diesen Fällen keine Diskriminie-
rung.

Wir unterscheiden uns allerdings grundlegend bei der
Frage, wie wir diese Herausforderung, dieses Problem
lösen wollen. Ich glaube nämlich, Gleichmacherei oder
Vereinheitlichung – ohne das werten zu wollen – ist der
falsche Ansatz.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht nicht um Gleichmacherei! Es geht um gleiche Rechte! – Johannes Kahrs [SPD]: Es geht um Gleichberechtigung, nicht Gleichmacherei!)






Alexander Hoffmann


(A) (C)



(D)(B)


– Dazu komme ich gleich. – Unser gemeinsames Ziel ist
doch, dass wir die Engstirnigkeit aus den Köpfen be-
kommen. Wir wollen Toleranz in den Köpfen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Johannes Kahrs [SPD]: Na ja! – Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Wir wollen Akzeptanz!)


Ihre Argumentation ist nichts anderes als ein Rückzug
oder eine Kapitulation vor Intoleranz. Wie sieht denn die
Situation tatsächlich aus? Wenn Sie die Bezeichnung än-
dern, sodass das nicht im Lebenslauf steht, dann enthal-
ten Sie diese Information intoleranten oder engstirnigen
Personalchefs eigentlich nur vor. Wenn man dann im Be-
trieb ist und drei Wochen später mit dem Partner zum
Grillfest eingeladen ist oder auf dem Marktplatz Arbeits-
kollegen begegnet, dann bricht doch genau dieses
Thema wieder auf.


(Zuruf des Abg. Johannes Kahrs [SPD])


Das heißt, Sie ändern in den Köpfen gar nichts, sondern
Sie verschieben die Offenlegung nur nach hinten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811208800

Herr Kollege Hoffmann, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Beck?


Alexander Hoffmann (CSU):
Rede ID: ID1811208900

Ja natürlich, gern.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811209000

Bitte schön.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811209100

Bevor wir jetzt hier darüber reden, ob wir der Tole-

ranz einen Gefallen tun, wenn man sich auf Personaldo-
kumenten und Zeugnissen über die Lebenspartnerschaft
outet, möchte ich eine praktische Frage an Sie stellen. Es
geht um ein Problem, das mir bis vor kurzem auch nicht
bewusst war.

Was würden Sie einem deutschen verpartnerten Paar
raten, das in die USA oder nach Südafrika oder nach
Argentinien ausreist, in ein Land, das die Lebenspartner-
schaft nicht kennt und auch nicht anerkennt, aber die
gleichgeschlechtliche Ehe hat? Die Rechtssituation ist
so: Wenn dort ein solches Paar als Paar anerkannt wer-
den will, um etwa Familiennachzug zu ermöglichen,
wenn nur der eine einen Arbeitsplatz hat, dann muss es
heiraten. Das geht aber nicht, weil die beiden gar nicht
ledig sind; sie sind nämlich verpartnert. Das steht in den
deutschen Dokumenten. Dann müssen sie sich eigentlich
de lege lata erst einmal scheiden lassen, nach dem Tren-
nungsjahr, und müssen in dem Land wieder heiraten.
Gut, dass wir nicht mehr das Zerrüttungsprinzip, sondern
nur noch das Trennungsjahr haben. Kein Familienrichter
würde sonst glauben, dass ein Paar sich scheiden lassen
will, um wieder zu heiraten.

Was ist Ihr praktischer Rat an dieses Paar? Wie
kommen die Menschen dazu, dass in dem Land, in dem

sie aus Arbeitsplatzgründen leben wollen oder leben
müssen, ihre Partnerschaft weiter anerkannt wird? Wie
vermeiden Sie, dass die Menschen, die zusammenblei-
ben wollen, für eine Trennung zum Familiengericht ge-
hen müssen?


(Zuruf des Abg. Johannes Kahrs [SPD])



Alexander Hoffmann (CSU):
Rede ID: ID1811209200

Danke für die Frage, Kollege Beck. – Die Antwort ist,

dass die einzige Lösung dieses Problems doch nicht die
Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare ist.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn die Alternative?)


Man kann das heute in völkerrechtlichen Verträgen ver-
einbaren.


(Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Genau! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie mit 20 Ländern völkerrechtliche Verträge abschließen?)


Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn Sie hypothetische
Fälle bilden – –


(Zuruf von der SPD: Es ist albern, was Sie gerade sagen!)


– Das haben wir in anderen Rechtsbereichen genauso.
Das haben wir im Adoptionsrecht. Da gibt es ganze
Listen mit Ländern, mit denen eine Vereinbarung unter-
zeichnet ist.


(Mechthild Rawert [SPD]: Wie lange müssen Paare denn noch darauf warten!)


Sie nehmen einen hypothetischen Fall, den ich genauso
gut umgekehrt formulieren kann.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den habe ich aus meiner Abgeordnetensprechstunde und hatte keine Antwort!)


Es gibt auch noch Länder, in denen Homosexualität
strafbar ist. Das sind hier keine tauglichen Beispiele.


(Johannes Kahrs [SPD]: Was? – Mechthild Rawert [SPD]: Gute Frage! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben also keine Antwort auf das Problem!)


– Doch, ich hatte eine; aber das ist vielleicht nicht die,
die Sie hören wollen, Herr Beck.

Wenn wir es jetzt an der Bezeichnung festmachen,
frage ich: Wo führt das letztendlich hin? Kommen wir
dann zu gleichen Bezeichnungen auch in anderen Berei-
chen? Kommen wir dann zu anonymen Bewerbungen?
Ich meine, auch die Argumentation ließe sich hören,
dass es ein Ansatzpunkt für die Diskriminierung sein
könnte, wenn jemand in einer Bewerbung liest, dass es
sich um eine Frau handelt oder der Name ausländisch
klingt. Ich glaube, dass das der falsche Weg zur Beseiti-
gung von Engstirnigkeit ist. Das haben doch die letzten
zehn Jahre gezeigt. Wenn wir einmal zehn Jahre zurück-
gehen und vergleichen, wie damals über dieses Thema





Alexander Hoffmann


(A) (C)



(D)(B)


diskutiert und auch gedacht wurde und wie es heute in
den Köpfen aussieht, dann können wir ermessen, wo wir
in zehn Jahren sein werden.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie? Noch zehn Jahre?)


Ich will Ihnen auch sagen, dass meine Wahrnehmung
die ist, dass die Sternstunden der Homosexualität und
der Gleichstellung immer Szenarien gewesen sind, in
denen sich Menschen offen zu ihrer Homosexualität be-
kannt haben. Nehmen Sie Thomas Hitzlsperger. Nehmen
Sie Klaus Wowereit. Ich glaube, dass wir der Bevölke-
rung mehr zutrauen sollten. Das schreiben Sie ja auch
dankenswerterweise in Ihrem Antrag. Da kommt der
Satz vor: „In der Bevölkerung wird heute nicht mehr
zwischen Ehe und Lebenspartnerschaft unterschieden.“
Deswegen glaube ich, dass wir heute keine so weitrei-
chende Regelung brauchen.

Nun noch ein Blick auf die juristische Ebene:

Die Ehe als allein der Verbindung zwischen Mann
und Frau vorbehaltenes Institut … erfährt durch
Art. 6 Abs. 1 GG einen eigenständigen verfas-
sungsrechtlichen Schutz.

Dieser Satz stammt nicht von mir, sondern er stammt
vom Bundesverfassungsgericht. Er ist auch nicht von
1980, 1990 oder 2000, sondern er ist vom 7. Mai 2013.
Das Bundesverfassungsgericht hat ihn formuliert im
Zusammenhang mit der Grundsatzentscheidung zum
Ehegattensplitting. Interessant ist zudem, dass das
Bundesverfassungsgericht diesen Satz fast gebetsmüh-
lenartig immer wieder bei Grundsatzentscheidungen zur
Gleichstellung wiederholt.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist Ihnen die Nichtannahmeentscheidung von 1993 geläufig? – Mechthild Rawert [SPD]: Da gibt es auch noch einen Nachfolgesatz!)


– Ich habe doch jetzt eine aus dem Jahr 2013 zitiert.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, da zitieren sie das auch! Aber sie sagen: Wandel ist möglich!)


Kollege Fechner, ich war vorhin schon überrascht, als
Sie gesagt haben, Sie teilen nicht die Auffassung, dass
da eine Grundgesetzänderung erforderlich ist. Denn das
Bundesministerium der Justiz und für Verbraucher-
schutz, dem ja bekanntermaßen ein SPD-Minister vor-
steht, kommt genau zu dieser Einschätzung.


(Johannes Kahrs [SPD]: Quatsch!)


Es ist nämlich selbst der Auffassung, dass für eine Öff-
nung der Ehe


(Johannes Kahrs [SPD]: Das ist doch bodenloser Unsinn!)


für gleichgeschlechtliche Partnerschaften eine Grund-
gesetzänderung in Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes
erforderlich wäre. Auch das, Kollege Kahrs, sage ich,
weil Sie gerade so dazwischengeredet haben.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat Herr Lange in der Fragestunde zurückgewiesen! Da haben Sie sich bloß vertan!)


– Kollege Beck, ich wundere mich, dass Sie jetzt mit mir
darüber diskutieren. Das ist das Resultat einer Kleinen
Anfrage vom 16. April 2015.


(Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Da steht das ausdrücklich drin. Die liegt Ihnen auch vor.
Deswegen lasse ich die Frage jetzt auch nicht zu; denn
wenn wir über eindeutige Schriftlichkeiten diskutieren,
dann wird es irgendwann anstrengend.

Insofern muss man sagen: Wenn die Einschätzung
klar ist, auch vom Justizministerium, dass wir hier das
Grundgesetz ändern müssen, dann wundere ich mich
natürlich schon, warum Sie heute den Versuch unterneh-
men, mit einer einfachgesetzlichen Regelung diese Ver-
änderungen herbeizuführen.

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich habe letzte Woche gesagt:

Ich bin der festen Überzeugung, dass eine offene
Gesellschaft sich nicht nur durch oberflächliche
Gleichmacherei auszeichnet,


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sondern durch gleiche Rechte!)


sondern sie zeichnet sich dadurch aus, dass wir Ver-
schiedenes auch verschieden bezeichnen:

– jetzt kommt es, Frau Roth, weil Sie von gleichen
Rechten sprechen –

Männer sind Männer, Frauen sind Frauen. Das ist in
der Anrede und das ist im Vornamen oftmals schon
erkennbar.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unverschämtheit!)


Dann haben Sie, Kollege Beck, dazwischengerufen:
„Und Artikel 3 gebietet, sie gleich zu behandeln! Gutes
Beispiel!“ Genau das ist der Punkt. Männer und Frauen
sind unterschiedlich. Sie sind unterschiedlich zu be-
zeichnen, aber sie sind gleich zu behandeln. Das gilt
letztendlich auch für die Ehe und für die gleichge-
schlechtliche Partnerschaft.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber bei der Ehe sind es keine Menschen, sondern es ist eine Verbindung von zwei Menschen!)


Es gibt kein Geschlecht erster Ordnung und kein Ge-
schlecht zweiter Ordnung,


(Johannes Kahrs [SPD]: Die Rede zeigt, wie man sich intellektuell verlaufen kann!)


und es gibt auch keine Liebe erster Klasse und keine
Liebe zweiter Klasse.

Vielen Dank.





Alexander Hoffmann


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der CDU/CSU – Johannes Kahrs [SPD]: Das war eine Rede dritter Klasse!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811209300

Vielen Dank. – Nächster Redner für die SPD-Fraktion

ist Dr. Karl-Heinz Brunner.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD):
Rede ID: ID1811209400

Verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und

Kollegen! Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Kollege
Hoffmann, Sie haben bemängelt, dass die bisherigen
Diskussionen und Debatten zum Thema „Ehe für alle“,
zur Frage der Diskriminierung und der Gleichberechti-
gung in diesem Land zu emotional sind. Ich sage: Sie
sind Gott sei Dank emotional, weil die Menschen früh-
morgens mit Emotionen erwachen und abends mit
Emotionen zu Bett gehen. Das macht uns Menschen aus.
Das unterscheidet uns von allen anderen Lebewesen.
Wir haben Emotionen und dürfen diese Emotionen auch
darstellen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen, meine Damen
und Herren, gestern Nachmittag haben wir in einem sehr
würdigen Rahmen eine Debatte zum 17. Juni 1953 ge-
habt. Wir haben in der Debatte gehört, dass die Men-
schen für bessere Lebensbedingungen auf die Straße ge-
gangen sind. Sie sind für die Freiheit auf die Straße
gegangen. Sie sind dafür auf die Straße gegangen, frei zu
leben, ohne Zwang zu leben und ohne Repressalien. Das
war gut so, und wir haben gestern dafür gedankt. Aber
dazu gehört auch ein Leben ohne Diskriminierung; denn
das sind auch Repressalien. Deshalb könnte man, wenn
man es nicht schwarz auf weiß lesen würde, kaum glau-
ben, dass noch heute, im Jahr 2015, im Bundeszentral-
register der Straftaten über 3 000 Datensätze mit dem
Eintrag „§ 175 StGB“ enthalten sind. Damit werden alte,
anständige Männer dieses Landes weiterhin stigmati-
siert, diskriminiert und nach vielen Jahren noch immer
verhöhnt. Sie können nicht versöhnt mit ihrem Land
sterben, für das sie so viel getan haben,


(Mechthild Rawert [SPD]: Da müssen wir etwas tun!)


und das nur deshalb, weil sie zu ihrer Liebe standen.

Ich bin sehr froh, Kolleginnen und Kollegen, dass
nach den Entscheidungen der Völker und der Parlamente
in Irland und Slowenien Bewegung auch in die Union
gekommen ist. Das ist schön. Ich wünsche Ihnen, Frau
Sütterlin-Waack, liebe Sabine, und Ihren Mitstreitern
viel Glück in der Union,


(Beifall bei der LINKEN)


dass wir recht schnell und recht bald eine vernünftige
und gute Entscheidung in diesem Land bekommen. Wir
wollen ohne Krawall, vielmehr versöhnend das tun, was
notwendig ist. Wir wollen das Verständnis von Ehe,
nein, das Zusammenstehen von Menschen gleich wel-
chen Geschlechts, gleich welcher Orientierung endlich

so regeln, dass es keine Diskriminierung, keine Repres-
salien gibt. Deshalb ist es gut, und ich sage Danke, dass
die Grünen einen Gesetzentwurf und die Linken den
Antrag, dem Beschluss des Bundesrates zu folgen, ein-
gebracht haben; denn die Zeit läuft, nicht nur für die
alten Männer, von denen ich gesprochen habe – eine Le-
gislatur ist nicht unendlich. Die Menschen erwarten Lö-
sungen. Mit Verlaub, die zuvor Genannten leben auch
nicht ewig.

Warum spreche ich gerade über dieses Thema?

Erstens. Weil durch die vergangenen Reden mein
Standpunkt zur Ehe für alle bekannt ist. Man kann sich
wiederholen und es noch einmal sagen. Ich glaube, es
ändert am Inhalt nichts. Man weiß es.

Zweitens. Weil ich Diskriminierung und Intoleranz
furchtbar finde und sie immer noch erfolgt: offen, ver-
steckt und subtil. Aufgrund mancher Bemerkung bezüg-
lich Gleichbehandlung – oder Gleichem im Ungleichen,
wie ich es bei meinem Vorredner gehört habe – könnte
man dies fast meinen.

Drittens. Weil ich weiß, dass es noch immer einige
andere Baustellen gibt. Zum einen wurden die nach
§ 175 StGB zu Unrecht verurteilten Männer kriminali-
siert, weil eine menschenverachtende Ideologie der Na-
zis ihre Liebe unter Strafe stellte, und zum anderen
machte das nicht minder – das müssen wir auch einge-
stehen – miefige, intolerante, spießige Nachkriegs-
deutschland munter mit der Hatz weiter. Da müssen wir
aufräumen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Ironie der Geschichte – deshalb ist der 17. Juni
passend – ist: Nicht freiwillig, nicht aus Einsicht, wurde
§ 175 StGB aufgehoben. Nein, ohne Wiedervereinigung
und Angleichung der Rechtsvorschriften des Unrechts-
regimes der DDR gäbe es den § 175 StGB womöglich
heute noch; er ist erst aufgrund des Einigungsvertrages
1994 aufgehoben worden.

Deshalb appelliere ich an Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen: Räumen wir bei uns endlich ganz auf! Geben
wir den Verurteilten ihre Würde zurück! Schaffen wir in
unserem Land einen Aktionsplan gegen Homophobie!
Es gab viele Gipfel, vielleicht kann Frau Merkel einen
Gipfel gegen die Diskriminierung von Schwulen, Les-
ben, Bi- und Transsexuellen und allen anderen einberu-
fen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Mechthild Rawert [SPD]: Sehr gute Idee!)


Er sollte dann aber auch Ergebnisse bringen. Beenden
wir endlich die Ungleichbehandlung von Lebenspartner-
schaften und Ehen! Und nicht zuletzt: Bauen wir die
Diskriminierung in unserem Land ab, so wie wir es im
Koalitionsvertrag vereinbart haben! Liebe Union, ma-
chen wir es miteinander, machen wir es gemeinsam!


(Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD] – Mechthild Rawert [SPD]: Bald!)






Dr. Karl-Heinz Brunner


(A) (C)



(D)(B)


Bei der Regierungserklärung zum Europäischen Rat
hat die Kanzlerin zu Großbritannien und Griechenland
erklärt, was ich nur unterstreichen kann: Man kann über
alles reden. Das Prinzip der Nichtdiskriminierung jedoch
darf nicht zur Diskussion stehen. – Recht haben Sie,
Frau Merkel. Dieses Prinzip gilt,


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


und zwar nicht nur für Dienstleistungen, nicht nur für
den Waren- und Reiseverkehr, sondern auch für die
Menschen Europas, für die Bürgerinnen und Bürger.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Geben Sie Ihr Bauchgefühl auf. Machen Sie den Weg
frei für Ehe und Familie, und zwar für alle.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811209500

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Caren Lay, Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Caren Lay (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811209600

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Auch in diesen Wochen wird wieder in vielen
Städten demonstriert. Am Christopher Street Day gehen
Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle, Intersexuelle
und sich als queer verstehende Menschen und ihre
Freundinnen und Freunde auf die Straße, um für gleiche
Rechte zu kämpfen. Ich finde, das ist eine tolle Sache,
und ich wünsche von dieser Stelle aus viel Erfolg und
vor allen Dingen auch viel Spaß.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich freue mich, dass es in der Union immer mehr Les-
ben und Schwule gibt, die sich outen, die aufstehen und
die gegen einen gewissen Dogmatismus in den eigenen
Reihen kämpfen. In dieser Debatte hat sich gezeigt, dass
es inzwischen moderatere Töne gibt. Aber es ist leider
auch wieder klar geworden, dass die Bremser für die Ehe
für alle in den Reihen der Union zu finden sind und nir-
gendwo sonst.

Ich möchte einiges zur SPD-Fraktion sagen. Ich habe
auf dem Facebook-Profil der SPD-Bundestagsfraktion
gelesen – und bei der Rede des Kollegen Fechner ein
Stück weit herausgehört –, dass sie, wenn sich die Union
bewegt, die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare einfüh-
ren wird. Die entscheidende Frage ist aber: Was passiert,
wenn sich die Union nicht bewegt?


(Dr. Johannes Fechner [SPD]: Das kommt!)


Und das wird aus meiner Sicht aller Voraussicht nach der
Fall sein.

Ich denke: Warten auf die Union ist wie Warten auf
Godot.


(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)


Hören Sie auf, der CDU/CSU vorzuschlagen, die Ehe zu
öffnen. Nehmen Sie sich doch einfach Ihr Recht, und
stimmen Sie frei ab. Eine Mehrheit für die Ehe für alle
ist in diesem Hohen Hause längst vorhanden.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn die Vorlage des Bundesrates, in der genau das
gefordert wird, im Bundestag beraten wird, dann wird es
noch komplizierter. Wollen Sie dann allen Ernstes dage-
gen stimmen oder sich mit einer Enthaltung wegducken?
Ich glaube, das entspricht nicht Ihrer Auffassung, und es
entspricht auch nicht dem, was Ihre Wählerinnen und
Wähler von Ihnen erwarten.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich freue mich, dass inzwischen so viele – fast alle,
außer der Union – für die Ehe für alle sind. Das war ja
nicht immer so.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt! Die Linke war auch einmal dagegen! Die SPD war auch dagegen!)


Wir haben die Debatte in der Vergangenheit gern als De-
batte über die Aufwertung der Lebenspartnerschaft ge-
führt. Mir gefällt der Ansatz des neuen Gesetzentwurfs
der Grünen deutlich besser als der, den wir hier im Fe-
bruar gemeinsam diskutiert haben. Sie erinnern sich: Es
ging um 58 Einzelgesetze, vom Bundesvertriebenenge-
setz bis zum Sprengstoffgesetz; wir haben uns damals
gefragt, warum Eheleute darin vorkommen. Der jetzige
Ansatz entspricht dem, was wir als Linke schon zu Be-
ginn dieser Legislatur gefordert haben, nämlich eine ein-
fache Lösung zu finden, um die Ehe endlich für alle zu
öffnen.


(Beifall bei der LINKEN – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie jetzt behaupten, Sie hätten sie erfunden, dann geraten Sie mit der Geschichte in Konflikt!)


Wir finden es, hoffentlich gemeinsam, einfach un-
sinnig, bei der Ehe zwischen Heteros und Homos zu un-
terscheiden. Das macht aus meiner Sicht wirklich über-
haupt keinen Sinn.


(Beifall bei der LINKEN)


Mit Blick auf den vorletzten Redner, der immer wieder
das Grundgesetz zitiert hat,


(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Ich habe nicht das Grundgesetz zitiert, sondern das Bundesverfassungsgericht!)


kann ich nur sagen: Es steht dort nirgendwo geschrieben,
dass die Ehe, die geschützt werden muss, nur für Heteros
gilt. Es macht wirklich keinen Sinn, hier zwischen unter-
schiedlichen Formen zu unterscheiden.





Caren Lay


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Mechthild Rawert [SPD])


Meine Damen und Herren, lassen Sie uns gemeinsam
gleiche Rechte durchsetzen und die Ehe zweiter Klasse
für Lesben und Schwule überwinden. Wenn die SPD es
sich gönnt, Ja zu sagen, können wir gemeinsam mit einer
rot-rot-grünen Mehrheit plus auch vielleicht einigen cou-
ragierten CDU-Abgeordneten eine Mehrheit dafür im
Bundestag herstellen.


(Johannes Kahrs [SPD]: Da klatscht nicht einmal die Linke!)


Meine Damen und Herren, ich habe mich vor ein paar
Tagen sehr gefreut, als ich die Fotos sah, auf denen der
linke Ministerpräsident Bodo Ramelow die Rainbow
Flag vor der Thüringer Staatskanzlei gehisst hat.


(Beifall bei der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da klatscht jetzt die Linke!)


Auch im Berliner Abgeordnetenhaus ist das gang und
gäbe. Wissen Sie, ich finde, auch dem Deutschen Bun-
destag würde ein bisschen mehr Farbe guttun. Ich würde
mich freuen – es wird höchste Zeit –, wenn die Rainbow
Flag auch über dem Deutschen Bundestag wehte.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811209700

Vielen Dank. – Als Nächster spricht Marcus

Weinberg, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1811209800

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Frau Sütterlin-Waack und ich – wir haben
gerade noch einmal darüber gesprochen – sind sehr froh,
dass diese Debatte – da dankt man den Vorrednern, die
dafür gesorgt haben – von der Debattenkultur her einen
sehr guten Eindruck gemacht hat. Wir sind uns einig,
dass wir über dieses hochemotionale, die Menschen be-
treffende Thema auch als Deutscher Bundestag, ohne
Vorurteile zu bestätigen, ohne intolerant zu sein, debat-
tieren müssen. Wir müssen fragen: Wo wollen wir ei-
gentlich hin? Ich finde, die heutige Debatte ist sehr posi-
tiv zu bewerten.

Dieses Thema betrifft die Menschen in ihrer Emotio-
nalität, in ihrer Intimsphäre, in ihrer sexuellen Orientie-
rung. Die Menschen beziehen durchaus wertegebunden
ihre Position. Diese muss man nicht teilen; aber ich
finde, dass man respektvoll damit umgehen muss. Ich
glaube, das haben wir gut und richtig gemacht. Aus
schrill und laut muss, auch im Politischen, irgendwann
ruhig und respektvoll werden – ich glaube, das ist in die-
ser Debatte durchaus gelungen –; denn Intoleranz kann
man nicht mit Intoleranz bekämpfen oder gar besiegen.


(Johannes Kahrs [SPD]: Ihr seid intolerant!)


Es war eine große Sorge der letzten Tage und Wochen,
dass wir hier eine verschärfte Debatte bekommen, in der
auch diejenigen, die immer gegen Intoleranz einstehen,
auf einmal merken müssen, wie intolerant auch die an-
dere Position sein kann.

Dabei sollte man begrifflich klar sein. Ich finde es äu-
ßerst problematisch, Herr Hofreiter, wenn man sagt: Es
gibt Menschen, die halten den Fortschritt auf.


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, tun Sie!)


Wir sind hier nicht irgendwo bei der Eisenbahn oder
sonstigen Dingen, sondern es gibt Menschen, die werte-
gebundene Politik betreiben. Ein bisschen mehr Respekt
davor, dieses zu bewahren, sollte man schon haben!


(Johannes Kahrs [SPD]: Diskriminierung ist kein Wert! – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Diskriminierung als Wert darzustellen, ist genau das Problem! – Volker Beck [Köln)

NEN]: Bis gerade eben war die Debatte noch
angemessen!)

Das hat nichts mit modern oder liberal zu tun; das hat et-
was damit zu tun, dass wir Prozesse, die die Gesellschaft
verändern, politisch aufnehmen müssen, nicht schrill
und laut, sondern ruhig und respektvoll, aber auch im-
mer sehen müssen – zum Beispiel auch mit Blick Rich-
tung Grundgesetz –, was zu tun ist. Das Grundgesetz ist
jetzt 66 Jahre alt geworden. Wir haben immer sehr wohl
überlegt, welche Veränderungsprozesse es widerspiegeln
soll, deshalb hat es eine so hohe Akzeptanz.


(Mechthild Rawert [SPD]: Das ist immer der Gesetzgeber gewesen!)


Es geht darum, die kulturhistorisch gewachsene werte-
orientierte Politik mit den Veränderungsprozessen, die
wir erleben, in Einklang zu bringen.

Hier wurden Argentinien, Uruguay, Mexiko und an-
dere Staaten angeführt, daher meine Bitte: Wir führen
hier eine deutsche Debatte. Wir sind historisch anders
mit dem Thema umgegangen als andere Staaten. Inso-
fern finde ich Vergleiche mit Uruguay und Argentinien
äußerst problematisch und den Ansatz mit Irland eben-
falls, Herr Beck.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nehmen Sie Frankreich, Großbritannien, die Niederlande, Slowenien!)


Was wäre denn gewesen, wenn man sich in Irland anders
entschieden hätte?


(Mechthild Rawert [SPD]: Hat man aber nicht! „Was wäre, wenn“! – Johannes Kahrs [SPD]: Hätte, hätte, Fahrradkette!)


Welche Debatte hätten Sie dann hier geführt? Ich glaube,
wir sollten uns auf die deutsche Debatte konzentrieren;
denn die ist wichtig und richtig.

Nun zu den vier wesentlichen Punkten zum Stand der
Gleichstellung. Ich finde: Menschen in einer Le-
benspartnerschaft wie in einer Ehe





Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)



(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann machen Sie’s doch!)


haben sich entschieden, nicht nur freiwillig, sondern
rechtlich verbindlich füreinander einzustehen. Es geht
darum, füreinander Verantwortung zu übernehmen, in
guten wie in schlechten Zeiten. Unser Wertesystem in
Deutschland beruht genau auf dieser Verantwortungs-
übernahme: auf Fürsorge, auf Beistand von Menschen
füreinander. Hiervon profitiert die gesamte deutsche Ge-
sellschaft. Es ist daher richtig, dass der Staat eine ver-
bindliche Verantwortungsübernahme von Menschen för-
dert, unabhängig von der sexuellen Orientierung.


(Beifall des Abg. Dr. Stefan Kaufmann [CDU/ CSU])


Es war auch immer das Ansinnen der Union, vieler in
der Union, dafür zu kämpfen. Es darf rechtlich keine
Diskriminierungstatbestände mehr geben. Eingetragene
Lebenspartnerschaften werden mittlerweile in allen oder
fast allen Bereichen – dort, wo es noch Lücken gibt,
müssen sie aufgearbeitet werden –, die die Partner unter-
einander betreffen, materiell-rechtlich gleichgestellt mit
der Ehe: im Erbrecht, im Steuerrecht, im Beamtenrecht.
Auch in der Union haben sich in den letzten Jahren und
Jahrzehnten immer wieder viele dafür eingesetzt. Des-
wegen will ich etwas – betreffend den Umgang mit der
deutschen Geschichte – aufgreifen, was schon gesagt
wurde. Dabei geht es – Herr Brunner sprach darüber –
um den § 175 StGB. Ich habe übrigens in der Bundes-
wehr in einem Bataillon mit der Nummer 177 gedient.
Eigentlich hätte es Nummer 175 sein müssen. Man hat
aber – mit Blick auf die §§ 175 und 176 – gesagt: Nein,
es muss Nummer 177 sein. Ich sage das, damit klar ist,
was für ein diskriminierender Paragraf der 175 war. Des-
wegen hat die Bundesrepublik Deutschland, was den
Umgang mit Homosexuellen angeht, in ihrer Geschichte
einen schwarzen Fleck.

Wir als Bundestag bzw. als Abgeordnete müssen uns
dafür einsetzen, dass Homosexuelle, die aufgrund des
erst 1994 vollständig abgeschafften § 175 StGB verur-
teilt wurden, heute endlich rehabilitiert werden.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


Die bundesdeutsche Gesellschaft hat eine Verpflichtung
zur Aufarbeitung bzw. dazu, eine Rehabilitierung durch-
zusetzen.

Zwischen Ehen und eingetragenen Lebenspartner-
schaften gibt es, rechtlich gesehen, allerdings zwei Un-
terschiede, über die wir auch heute diskutiert haben. Der
eine betrifft den expliziten Schutz der Ehe durch das
Grundgesetz, während es beim zweiten um das Recht
geht, nichtleibliche Kinder zu adoptieren.

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes
sieht die Ehe als eine Verbindung zwischen Mann und
Frau. Dies gilt in Europa bzw. Deutschland seit Jahrhun-
derten und ist eine Selbstverständlichkeit. Es ist tatsäch-
lich ein Alleinstellungsmerkmal. Nur aus einer Bezie-
hung zwischen Mann und Frau können Kinder
erwachsen. Das muss man – auch in dieser Debatte – sa-

gen dürfen. Die Verbindung von Mann und Frau wird
vom Grundgesetz geschützt, weil aus ihr Kinder entste-
hen können. Die Kinder profitieren von der Verbindlich-
keit der Beziehung ihrer Eltern. Es ist grundsätzlich im
Interesse von Kindern, in einer stabilen Partnerschaft ih-
rer leiblichen Eltern beiderlei Geschlechts zu leben.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man will doch den Eltern nichts wegnehmen! – Bettina Hagedorn [SPD]: Das geht auch bei Regenbogenfamilien!)


Lassen Sie mich etwas zum Thema Adoption sagen.
Auch Frau Sütterlin-Waack ist schon darauf eingegan-
gen. Es gilt, dass der Staat bei der Bewerbung um eine
Adoption von Kindern, bei denen die Bewerber nicht die
leiblichen Eltern sind, gewisse Vorgaben machen kann.
Er kann verlangen – das ist ein Beispiel –, dass der fi-
nanzielle Status ein Aufwachsen sichern muss. Deshalb
kommen einige Bewerber nicht für eine Adoption in-
frage. Es gibt einen anderen Ablehnungsgrund: das Al-
ter. Mit 48 Jahren gehöre ich nicht mehr zu denjenigen,
die adoptieren dürfen.

Ich finde, dass auch die Rollenkonstellation, was
Männer und Frauen angeht, ein Grund sein kann. Die
Fragestellung ist, ob man von vornherein die Bewerbung
ausschließt. Das ist ein Punkt, über den man sicherlich
diskutieren muss. Ich finde es aber schon gerechtfertigt,
Herr Beck, dass man sagt: Wir tun viel für eine gute Rol-
lenkonstellation. In Kitas wollten wir mehr Männer. Wir
haben Änderungen im Umgangsrecht durchgesetzt. Ich
glaube, auch beim Adoptionsrecht sollte gelten: Es ist
gut und richtig für Kinder, wenn sie, was die Identifika-
tionsfindung angeht, eine weibliche und eine männliche
Rolle kennenlernen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Keine Zwischenfrage mehr!

In der Union gibt es zu diesem Thema eine breite Dis-
kussion. Ich habe bei der letzten Debatte gesagt, dass ich
ein wenig stolz darauf bin, dass wir uns – ich greife jetzt
das auf, was Johannes Fechner gesagt hat – Mühe geben.
Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten
durchaus darüber diskutieren, was hier zu tun ist. Für
eine Volkspartei wie die CDU/CSU ist es aber, glaube
ich, gut, über dieses Thema offen, frei und breit zu dis-
kutieren. Das mag man in anderen Fraktionen vielleicht
nicht so verstehen. Bei uns ist das so. Darauf sind wir
auch stolz. Wir wollen erst dann Veränderungen durch-
führen, wenn wir nach einer breiten Diskussion sicher
sind, wo wir stehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811209900

Vielen Dank. – Jetzt hat sich der Kollege Volker Beck

zu einer Kurzintervention gemeldet.






(A) (C)



(D)(B)



Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811210000

Ich wollte das eigentlich mit einer Zwischenfrage klä-

ren. – Herr Kollege Weinberg, das, was Sie bezüglich
der Adoption geschildert haben, ist gar nicht mehr die zu
klärende Frage.


(Beifall des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])


Homosexuelle Menschen waren individuell noch nie von
der Einzeladoption ausgeschlossen. Das gilt jetzt auch
für die Stiefkind- und Sukzessivadoption. Die gemein-
schaftliche Elternschaft bei einem adoptierten Kind kann
auch im Rahmen einer Sukzessivadoption über zwei
Verwaltungsschritte – mit zwei Gutachten; dabei werden
zweimal Gebühren gezahlt – hergestellt werden. Deshalb
geht es nicht um die Frage: Sollen Kinder jetzt eher zu
heterosexuellen Paaren, zu homosexuellen Paaren oder
zu Einzelpersonen kommen? Die mit der Adoption be-
trauten Behörden sind ohnehin verpflichtet, bei jedem
Kind immer individuell zu schauen, welche Konstella-
tion die beste ist und welches Bewerberpaar die beste
Umgebung für ein bestimmtes Kind bietet. Da darf
nichts anderes als das Kindeswohl ausschlaggebend
sein.

Die Frage, über die rechtlich noch zu entscheiden ist,
ist die Frage der gemeinschaftlichen Adoption. Man
sollte übrigens nicht von „Volladoption“ sprechen; das
ist so ein Begriff wie „Totaladoption“, also ein Wort-
monstrum, mit dem man die Frage zu denunzieren ver-
sucht. – Da geht es nur darum, in einem Verwaltungsakt
gemeinschaftlich Eltern eines Kindes zu werden, das oh-
nehin in diese Lebenspartnerschaft hinein adoptiert wird.


(Beifall der Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])


Es gibt keinen guten Grund, das abzulehnen. Es ist sogar
gegen das Kindeswohl gerichtet, wenn man das nicht er-
laubt, weil es für die soziale Absicherung eines Kindes
besser ist, dass von Anfang an zwei Elternteile gegen-
über dem Kind sorgeberechtigt, sorgepflichtig und unter-
haltspflichtig sind. Insofern schadet die jetzige Rechtssi-
tuation dem Kindeswohl.

Es geht nicht darum – Sie versuchen das in den Raum
zu stellen –: Vorsicht, die Homosexuellen schnappen den
Heteros jetzt alle Adoptivkinder weg! – Wenn das so
wäre, dann wäre es jetzt schon so; aber es ist nicht so.
Bei der konkreten Adoptionsentscheidung des Jugend-
amtes darf nur das Kindeswohl ausschlaggebend sein.

Die rechtliche Frage ist nur: Ist es möglich, von An-
fang an gemeinsam Eltern zu sein, oder geht es nur nach
einem oder anderthalb Jahren, in zwei Verwaltungsak-
ten? Für Letzteres gibt es einfach keinen guten Grund.
Deshalb reden Sie, wenn Sie über das Adoptionsrecht re-
den, immer über etwas ganz anderes als über die rechtli-
che Frage, die noch offen ist und über die zu entscheiden
ist. Daran sehen Sie schon: Sie haben kein Argument da-
gegen. Also geben Sie sich einen Ruck!


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811210100

Vielen Dank. – Als letzter Redner zu diesem Tages-

ordnungspunkt hat jetzt der Kollege Johannes Kahrs,
SPD-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Johannes Kahrs (SPD):
Rede ID: ID1811210200

Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir haben eben vom Kollegen Weinberg, den
ich sehr schätze, weil er ein Hamburger Kollege ist, ge-
hört, dass die Union eine wertegebundene Politik be-
treibt. Ich finde, wertegebundene Politik ist richtig. Wir
Sozialdemokraten betreiben sie,


(Dr. Katarina Barley [SPD]: Seit über 150 Jahren!)


die Grünen betreiben sie; wir alle haben Werte, für die
wir stehen. Die Frage ist: Für welche Werte steht denn
die Union?

Seitdem ich im Deutschen Bundestag bin, seit 1998,
kämpft die CDU/CSU immer gegen die Gleichstellung
von Lesben und Schwulen. Jeden Fortschritt, den es ge-
geben hat, hat es gegeben, weil sich Rot-Grün durchge-
setzt hat oder weil das Bundesverfassungsgericht etwas
dazu gesagt hat. Aber es hat nie irgendeine Form von
Fortschritt gegeben, weil die CDU/CSU etwas wollte
oder gemacht hat. Sie sind immer genötigt worden oder
Sie mussten, aber freiwillig haben Sie nichts getan. Das
ist in meinen Augen Diskriminierung. Was Sie hier be-
treiben, wenn Sie sagen, dass Sie keine Öffnung der Ehe
wollen, ist Folgendes: Sie behandeln hier Menschen
nicht gleich. Das ist Diskriminierung. Wenn das die wer-
tegebundene Politik ist, von der Sie hier reden, Kollege
Weinberg, dann ist das nach meiner Meinung kein Wert,
für den man hier kämpfen sollte,


(Beifall des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])


kein Wert, der es wert ist, im Deutschen Bundestag pro-
pagiert zu werden. Sie sollten zusehen, dass Sie – viel-
leicht auf dem Parteitag in Karlsruhe – mal die Kurve
kriegen, damit Sie wieder Werte vertreten, die in dieser
Republik anerkannt sind und auch wir alle hier vertreten.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube, dass wir diese Debatte natürlich jede Wo-
che führen können. Seit 1998 haben wir das Gott sei
Dank nicht gemacht; da haben wir das alle zwei bis drei
Monate gemacht. Trotzdem hat es bei der Union in der
Sache relativ wenig bewirkt.

Die Kollegin Sabine Sütterlin-Waack, die ich sehr
schätze, hat darum gebeten, CDU und CSU mehr Zeit zu
geben, um das als Volksparteien diskutieren zu können
und die Gesellschaft mitnehmen zu können. Seit 1998





Johannes Kahrs


(A) (C)



(D)(B)


diskutieren wir diese Frage. Die Gesellschaft hat inzwi-
schen die Union in jeder Kurve überholt. Die Gesell-
schaft ist weiter als die Union.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!)


Mit wem wollen Sie denn diskutieren außer mit sich sel-
ber?


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Da wäre es doch vielleicht ganz gut, wenn die Union
den Ratschlag annähme, den zum Beispiel der Ratsvor-
sitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands gege-
ben hat: Öffnen Sie die Ehe! – Begründet hat er das da-
mit, dass die Öffnung der Ehe der traditionellen Form
der Ehe nichts nimmt, sondern sogar ihre Bedeutung un-
terstreicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Also hören Sie auf die evangelische Kirche! Als Protes-
tant finde ich: Das ist immer eine gute Sache.

Schauen wir uns die Wirklichkeit doch einmal an
– wir haben ja gerade über Adoption geredet –: Inzwi-
schen leben 22 Prozent der Kinder in Baden-Württem-
berg nicht in klassischen ehelichen Familienverhältnis-
sen; in Hamburg sind es 37 Prozent und in Berlin
49 Prozent. Die Lebensrealität stellt sich anders dar. Ge-
rade in den Großstädten dominieren Alleinerziehende
und alternative Familienkonzepte. Das muss man nicht
immer gut finden; aber das hat dazu geführt, dass Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr geschätzten
Koalitionspartner, in keiner einzigen deutschen Groß-
stadt mehr regieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Seitdem Frau Merkel im Amt ist, hat die Union in keiner
einzigen deutschen Großstadt eine Wahl gewonnen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Stimmt ja gar nicht!)


Das sollten Sie sich einmal vor Augen führen und viel-
leicht Ihrer Parteivorsitzenden einmal einen klugen Tipp
geben.

In der Sache ist es so: Man kann einer gesellschaftli-
chen Entwicklung nicht dauerhaft hinterherlaufen. Ich
kann nicht wollen, dass das bei unserem Koalitionspart-
ner dauerhaft so ist. Deshalb wollen wir Ihnen jetzt hel-
fen. Nach 20, 25 Jahren sollten Sie Ihre Debatte viel-
leicht einmal abschließen, schauen, wofür die Mehrheit
der Bevölkerung in Deutschland ist und wie es sich in
der Mehrheit der Länder in Europa verhält, und sich ei-
nen Ruck geben. Im wahren Leben geht es doch darum,
sich selbst zu überwinden, und nicht darum, dass die
Familie sich überwindet. So kommt man vorwärts. Das
bekommen wir allerdings nur gemeinsam hin. Da wir
mit Ihnen eine Koalition bilden und viele gute Dinge mit
Ihnen gemeinsam auf den Weg bringen – wir haben zu-

sammen mit der Union den Mindestlohn beschlossen,
die doppelte Staatsbürgerschaft beschlossen


(Zuruf von der CDU/CSU: Wir haben die Maut beschlossen!)


und die Gleichstellung der Frauen vorangetrieben –,
könnten Sie auch an dieser Stelle einen Schritt weiterge-
hen. Ich glaube, dass Frau Merkel keine Angst haben
muss, rechte oder ganz rechte Wähler zu verlieren. Ich
glaube, die hat sie eh schon verloren. Das haben Sie ge-
schafft, als Sie die Wehrpflicht abgeschafft und andere
Dinge beschlossen haben. Hier geht es in der Sache ein-
zig und allein darum, darauf zu achten, dass man als
Union die Entwicklung nicht komplett verpennt.

Eine letzte Bemerkung zu Frau Lay von der Linken
sei mir gestattet. Sie haben hier gesagt, wir sollten Koali-
tionsbruch begehen und hier mit den Linken und den
Grünen dafürstimmen. Ehrlich gesagt: Wären Sie in ir-
gendeiner Form koalitionsfähig, könnte man darüber
nachdenken.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von der LINKEN)


Die Kollegen aus den neuen Ländern sind, ehrlich ge-
sagt, relativ pragmatisch. In vielen Ländern regieren wir
zusammen; das funktioniert auch ganz gut. Zu den
Kollegen aus den westlichen Bundesländern muss man
allerdings sagen: Mit so einem Haufen von politischen
Irrläufern kann und wird die SPD nicht koalieren.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Jetzt kann ich nur Joschka Fischer zitieren: Mit Verlaub, Herr Kahrs, Sie sind ein …! Erinnern Sie sich an Joschka Fischer? Der Spruch passt auch auf Sie gut! Mann, unterirdisch!)


Das werden auch die Grünen nicht tun. Das wird nicht
stattfinden. Deswegen war dieser Vorschlag vergiftet
und dümmlich.

Vielen Dank.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Harald Weinberg [DIE LINKE]: Gut die Kurve gekriegt! – Michaela Noll [CDU/CSU]: Der letzte Satz war genial!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811210300

Vielen Dank. – Damit sind wir am Ende der Debatte

angekommen.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/5098 und 18/5205 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a bis 36 e sowie
Zusatzpunkt 2 auf:

36 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Einführung einer Speicherpflicht und
Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten

Drucksache 18/5171





Vizepräsidentin Ulla Schmidt


(A) (C)



(D)(B)


Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss Digitale Agenda

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Protokoll vom 14. Oktober 2014 zur Ände-
rung und Ergänzung des Abkommens vom
7. September 1999 zwischen der Bundesrepu-
blik Deutschland und der Republik Usbeki-
stan zur Vermeidung der Doppelbesteuerung
auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen
und vom Vermögen
Drucksache 18/5172
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Katharina Dröge, Kerstin Andreae, Katja Keul,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Bußgeldumgehung bei Kartellstrafen verhin-
dern – Gesetzeslücke schließen
Drucksache 18/4817
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ralph
Lenkert, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Kältemittel R1234yf aus dem Verkehr ziehen
Drucksache 18/4840
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur

e) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bun-
desrechnungshofes

Rechnung des Bundesrechnungshofes für das
Haushaltsjahr 2014
– Einzelplan 20 –
Drucksache 18/5020
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Claudia Roth (Augsburg), Uwe
Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Menschenrechte in der neuen Nachhaltig-
keits- und Entwicklungsagenda der Verein-
ten Nationen stärken
Drucksache 18/5208

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 37 a bis 37 g auf.
Es handelt sich hierbei um Beschlussfassungen zu Vor-
lagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 37 a:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
17. September 2012 zwischen der Regierung
der Bundesrepublik Deutschland und der Re-
gierung der Vereinigten Republik Tansania
über den Fluglinienverkehr

Drucksache 18/4896

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Verkehr und digitale Infrastruktur

(15. Ausschuss)


Drucksache 18/5150

Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/5150, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 18/4896 anzunehmen.

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 37 b:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zu der Vereinbarung vom
1. April 2015 über die Beteiligung Islands an
der gemeinsamen Erfüllung der Verpflichtun-
gen der Europäischen Union, ihrer Mitglied-
staaten und Islands im zweiten Verpflich-
tungszeitraum des Protokolls von Kyoto zum
Rahmenübereinkommen der Vereinten Natio-

(Vereinbarung zur gemeinsamen Kyoto-II-Erfüllung mit Island)


Drucksache 18/4895

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Re-
aktorsicherheit (16. Ausschuss)


Drucksache 18/5242





Vizepräsidentin Ulla Schmidt


(A) (C)



(D)(B)


Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/5242, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 18/4895 anzunehmen.

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.

Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-
titionsausschusses, Tagesordnungspunkte 37 c bis 37 g.

Tagesordnungspunkt 37 c:

Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 197 zu Petitionen

Drucksache 18/5114

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 197 ist mit den Stim-
men aller Fraktionen angenommen.

Tagesordnungspunkt 37 d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 198 zu Petitionen

Drucksache 18/5115

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 198 ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 37 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 199 zu Petitionen

Drucksache 18/5116

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 199 ist mit den Stim-
men aller Fraktionen angenommen.

Tagesordnungspunkt 37 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 200 zu Petitionen

Drucksache 18/5117

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 200 ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 37 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 201 zu Petitionen

Drucksache 18/5118

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 201 ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Opposition angenommen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:

Aktuelle Stunde

auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Äußerungen der EU-Kommission über die
Einleitung eines Vertragsverletzungsverfah-
rens zur Pkw-Maut

Ich bitte die Kollegen, jetzt die Plätze einzunehmen;
denn dann kann Frau Dr. Valerie Wilms, Bündnis 90/Die
Grünen, die Debatte eröffnen.

Ich eröffne die Aussprache. – Bitte schön.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811210400

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Tja, es ist in den letzten Jah-
ren Mode geworden, auf die EU zu schimpfen. Die EU
ist zur Projektionsfläche von Populisten geworden. Sie
wird verantwortlich gemacht für alles, was nicht gut
läuft. Wenn man keine Lösung mehr hat, Herr Dobrindt,
dann war es eben Europa. So einfach sind die Parolen
geworden. Man kann damit Wahlen in ganz Europa ge-
winnen. Und auf dieser Welle schwimmt die CSU, ins-
besondere Herr Scheuer. Das ist der eigentliche Grund,
warum wir heute hier einmal wieder über diese unsägli-
che Pkw-Maut reden müssen. Aber, werte Kolleginnen
und Kollegen, wir müssen es einfach deutlich sagen: Für
diese Maut ist nicht Europa verantwortlich, sondern ein-
zig und allein die CSU mit ihren Stammtischparolen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Ein Alexander Dobrindt scheitert eben doch.


(Beifall des Abg. Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es ist ein Scheitern auf Raten. Wer mit dem Kopf gegen
die Wand rennt, Herr Dobrindt, tut sich weh. Wenn man
ein paarmal davorrennt, dann tut es eben noch mehr weh.
Auf diesem Wege sind Sie.


(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Abwarten!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Anti-Brüssel-
Rhetorik des Verkehrsministeriums werden immer wie-
der Halbwahrheiten erzählt. Wir müssen uns deswegen
die Details einmal ganz genau ansehen. Da wird immer





Dr. Valerie Wilms


(A) (C)



(D)(B)


wieder auf die Steuerhoheit der Nationalstaaten gepocht.
Das Credo des Ministers ist: Brüssel hat uns bei der Kfz-
Steuer nicht hineinzureden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)


– Stimmt. Ich sage auch: Das stimmt. – Aber der Punkt
ist: Sie geben damit eine Antwort auf eine Frage, die nie-
mand gestellt hat.


(Alexander Dobrindt, Bundesminister: Was?)


Die Kommission betont sogar ausdrücklich die Kompe-
tenz der Mitgliedstaaten bei Steuern. Aber Fakt ist: Es
ging nie allein um die Kfz-Steuer. Es geht nämlich um
die Eins-zu-eins-Verknüpfung mit Ihrer leidigen Infra-
strukturabgabe. Das wollten Sie ja auf den Cent genau
erstatten, damit, wie es die Kanzlerin gesagt hat – auch
Ihr Koalitionspartner hat das ja mit unterschieben –, kein
Deutscher mehr belastet wird. Das, meine Damen und
Herren, ist eindeutig eine Diskriminierung der Auslän-
der.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie wollen uns und die Kommission wohl für dumm ver-
kaufen. Sie bauen einen Popanz auf, der Ihre Maut aber
auch nicht mehr retten wird.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, je länger wir uns
dieses Trauerspiel anschauen, desto mehr benehmen Sie
sich in der CSU wie ein trotziges Kind. Da sagt man
halt: Wer nicht hören will, der muss fühlen. Den blauen
Brief haben Sie ja heute bekommen. Statt sich die eige-
nen Fehler kritisch anzusehen, zeigen Sie mit dem Fin-
ger auf die anderen und schimpfen auf die Österreicher
und auf Großbritannien. Aber auch hier zeigt sich das
bekannte CSU-Muster: Sie zeigen nur dorthin, wo es Ih-
nen passt. Sie erzählen die Geschichten nur so weit, wie
sie Ihnen gefallen. Deswegen ein kleiner Faktencheck:

Die europäische Rechtsprechung, Herr Minister
Dobrindt – oder muss ich sagen: Noch-Minister
Dobrindt? –,


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zurufe von der SPD: Oh! – Ui, ui, ui!)


ist sehr klar, wenn es um die Diskriminierung von Aus-
ländern geht. Sie sollten wissen, wie der Europäische
Gerichtshof 1992 im Hinblick auf die Lkw-Maut ent-
schieden hat. Ich habe mir einmal die Mühe gemacht
– das war ganz einfach –, herauszufinden, was in der
Entscheidung von 1992 steht. Da heißt es nämlich:

Eine nationale Regelung, mit der eine Gebühr für
die Benutzung von Straßen mit schweren Lastfahr-
zeugen eingeführt wird, die von allen Benutzern
unabhängig von deren Staatsangehörigkeit zu zah-
len ist, und gleichzeitig eine nur den inländischen
Verkehrsteilnehmern zugute kommende Senkung
der Kraftfahrzeugsteuer vorgenommen wird …
verstößt … gegen Artikel 76

– damals galt dieser noch –

EWG-Vertrag …

Herr Dobrindt, das war eine Entscheidung des EuGH
von 1992, die gegen die Bundesrepublik Deutschland
gerichtet war. Sie versuchen jetzt, mit dem Kopf gegen
diese eindeutige Wand des Europäischen Gerichtshofes
zu laufen. Da hilft Ihnen auch die beste Rhetorik nichts.
Diskriminierung bleibt Diskriminierung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Es ist wirklich erschreckend, womit wir uns in der
Verkehrspolitik aktuell beschäftigen müssen. Wir haben
so viele Probleme, die wir dringend lösen müssten. Das
ganze System der Verkehrsinfrastruktur ist in einer
Schieflage. Wir verwalten Schlaglöcher. Wir verwalten
defekte Brücken – Gott sei Dank ist bislang noch keine
in den Bach gefallen. Wir haben heute ein System der
organisierten Verantwortungslosigkeit, wie ich immer
wieder sage. Wir müssten uns auf ganz andere Dinge
konzentrieren, zum Beispiel auf den grundsätzlich sinn-
vollen Vorschlag zur Gründung einer staatlichen Auto-
bahngesellschaft, mit der wir uns politisch auch selbst
binden würden. Österreich und die Schweiz haben uns
gezeigt, wie so etwas geht. So würden wir wirklich poli-
tische Verantwortung übernehmen.

Machen Sie ernsthafte Vorschläge, die etwas verbes-
sern können! Aber stattdessen beschäftigen wir uns jah-
relang – seitdem Sie im Amt sind, seit anderthalb Jahren –
mit dieser Schnapsidee der CSU, die im besten Fall ein
Nullsummenspiel wird. Hören Sie endlich auf mit den
Angriffen auf die Kommission! Die Maut hat diese
Koalition zu verantworten – leider mit der SPD zusam-
men – und nicht die Kommission.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811210500

Trotzdem müssen Sie jetzt zum Schluss kommen,

Frau Wilms.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811210600

Damit komme ich zum Schluss, werte Präsidentin. –

Politik muss ernsthaft Verantwortung übernehmen. Wir
müssen raus aus der Populistenfalle.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811210700

Vielen Dank. – Als Nächster hat für die Bundesregie-

rung Bundesminister Alexander Dobrindt das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehr
und digitale Infrastruktur:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Bundestag hat die von der Bundesregierung vorge-
legten Mautgesetze beschlossen, die für keinen Autofah-
rer Mehrbelastungen bringen und die europarechtskon-
form sind. Das ist die Wahrheit.





Bundesminister Alexander Dobrindt


(A) (C)



(D)(B)



(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das legen Sie fest?)


Wenn die Europäische Kommission jetzt die Auseinan-
dersetzung sucht, werden wir sie auch führen und nach-
weisen, dass wir hier europarechtskonforme Gesetze be-
schlossen haben. Wir verhalten uns in jeder Hinsicht
rechtsstaatskonform.


(Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glauben aber auch nur Sie! Wenn überhaupt!)


Das heißt natürlich auch, dass wir die Entscheidung der
Europäischen Union, ein Vertragsverletzungsverfahren
einzuleiten, ernst nehmen und das Ergebnis abwarten
werden. Klar ist aber, dass wir die Auseinandersetzung
hart führen werden, um unserem Recht auf einen Sys-
temwechsel nachzukommen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir diskriminieren niemanden. Der Systemwechsel
ist eindeutig und klar formuliert. Jeder Pkw-Halter zahlt
die Infrastrukturabgabe. Alle werden gleich behandelt,


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Das ist der Punkt! Genau darum geht es!)


vollkommen unabhängig von der Staatsangehörigkeit.
Mit der Infrastrukturabgabe erfüllen wir sogar die Ziel-
setzung bzw. die Vorgaben der Europäischen Kommis-
sion, die sie wiederholt Richtung Deutschland formuliert
hat. Europa fordert seit Jahren, dass wir das Verursacher-
prinzip stärken und die Nutzer stärker an der Finanzie-
rung der Infrastruktur beteiligen.


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie machen dieses Prinzip lächerlich!)


Genau das tun wir. Wir vollziehen den echten System-
wechsel von einer Steuerfinanzierung hin zu einer Nut-
zerfinanzierung.

Die Europäische Kommission hat 2011 in ihrem
Weißbuch noch einmal sehr deutlich gerade auch in
Richtung Deutschland klargemacht,


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Aber Ihre Lösung ist keine Nutzerfinanzierung!)


dass man die umfassende Anwendung des Prinzips der
Kostentragung durch die Nutzer und Verursacher stärken
soll. Dabei hat sie – hören Sie einmal zu – genau formu-
liert, wie so etwas gehen kann. Sie hat nämlich geschrie-
ben, dass Straßenbenutzungsgebühren als Alternative
zur Steuerfinanzierung ausgebaut werden sollen. „Als
Alternative“ bedeutet doch klar: keine Mehrbelastung
für diejenigen, die heute schon an der Finanzierung be-
teiligt sind.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es ist geradezu logisch und selbstverständlich, dass es
bei einem echten Systemwechsel, wie wir ihn hier voll-
ziehen, nicht zu Doppelbelastungen kommen darf. Des-
wegen nehmen wir mit der Infrastrukturabgabe auch
eine Änderung im Kraftfahrzeugsteuergesetz vor. Wir

nehmen Steuerentlastungsbeträge in das Kraftfahrzeug-
steuergesetz auf und vermeiden damit eine Doppelbe-
lastung derjenigen, die Kfz-steuerpflichtig sind.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Sie diskriminieren die Ausländer! – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Am Ende zahlen alle die Maut!)


Auch dieses Vorgehen ist übrigens in der Vergangenheit
von der Europäischen Kommission formuliert worden.
In einem Weißbuch von 1998 ist nachzulesen, dass bei
einem Systemwechsel verkehrsbezogene Steuern ge-
senkt werden können.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darin steht aber nichts von einer Einszu-eins-Regelung!)


Damit hat sich die EU-Kommission in der Vergangen-
heit übrigens auch schon öfter beschäftigen müssen. Es
schadet hier nicht, einmal den Blick in die anderen Län-
der zu werfen.

Schauen wir uns doch einmal England an. England
hat im letzten Jahr die Lkw-Maut bei gleichzeitiger Ab-
senkung der Lkw-/Kfz-Steuern eingeführt.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben sie sie eins zu eins abgesenkt? Nein!)


Das geschah ohne Beanstandungen aus Brüssel.

1997 hat Österreich die Maut eingeführt und zeit-
gleich die Pendlerpauschale für Österreicher massiv er-
höht.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eins zu eins? Nein!)


All das geschah ohne Beanstandungen aus Brüssel.

Meine Damen und Herren, das, was in anderen Län-
dern möglich ist, muss auch für Deutschland ohne Bean-
standungen aus Brüssel möglich sein.


(Beifall bei der CDU/CSU – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie machen etwas ganz anderes!)


Übrigens: Wer eine echte Benachteiligung sehen will,
der kann sich ja gerne einmal die Regelung beim Felber-
tauerntunnel in Österreich anschauen. Ausländer zahlen
für die Nutzung eine Gebühr von 10 Euro, während ös-
terreichische Anrainer nur 4 Euro zahlen.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Anrainer! Andere Österreicher zahlen das Gleiche!)


Das scheint mir doch ein deutlicher Unterschied zu sein.

Wir hingegen gehen mit der Infrastrukturabgabe ei-
nen anderen Weg. Unabhängig von der Staatsangehörig-
keit ist die Infrastrukturabgabe für alle gleich. Das ist der
echte Systemwechsel von der Steuerfinanzierung zur
Nutzerfinanzierung. Niemand wird dabei doppelt belas-
tet. Das ist der Sinn der Änderung des Kraftfahrzeug-
steuergesetzes.





Bundesminister Alexander Dobrindt


(A) (C)



(D)(B)


In der Frage der Festlegung der Höhe der Kfz-Steuer
hat die Europäische Kommission in der Tat überhaupt
keine Kompetenz. Überhaupt keine Kompetenz bei der
Höhe der Kfz-Steuer!


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Richtig! Wer hat denn dem widersprochen? Niemand!)


Man sollte einmal den Blick in den Vertrag über die Ar-
beitsweise der Europäischen Union werfen. Daraus geht
der Grundsatz der Finanz- und Steuerhoheit der Mit-
gliedstaaten ganz klar hervor. Die Kfz-Steuer gehört ein-
deutig und unstrittig in den Zugehörigkeitsbereich der
Mitgliedstaaten.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber es gibt auch den Gleichbehandlungsparagrafen! Den haben Sie vergessen!)


Über diese Steuer entscheiden wir alleine. Brüssel hat
kein Recht, über die Kfz-Steuer zu entscheiden, meine
Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU – Herbert Behrens [DIE LINKE]: Wer hat das denn bestritten? Niemand!)


Wir schreiben eine schwarze Null. Wir haben einen
ausgeglichenen Haushalt. Daher kann der Deutsche
Bundestag gerade auch in Europa durchaus selbstbe-
wusst sagen, dass er seine Bürger bei der Kfz-Steuer im
Rahmen eines Systemwechsels entlasten will. Das ist
unser gutes Recht. Dieses gute Recht werden wir auch
gegenüber Brüssel verteidigen.

Unsere ureigene Kompetenz, meine Damen und Her-
ren, kann man uns auch nicht streitig machen, wenn man
ein Vertragsverletzungsverfahren einleitet. Übrigens hat
die Kommission in der Vergangenheit mit ihren Vertrags-
verletzungsverfahren schon öfter Schiffbruch erlitten. Ich
erinnere an drei Beispiele: die Klage der Kommission ge-
gen Deutschland beim ersten Eisenbahnpaket – am
28. Februar 2013 vollumfänglich abgewiesen vom
EuGH; die Klage der Kommission gegen Deutschland
wegen der steuerlichen Behandlung von Dividenden und
Zinsen bei der Einkommensteuer – am 22. November
2012 vom EuGH abgewiesen; die Klage der Kommis-
sion gegen Deutschland wegen der Anwendung der
Wasserrahmenrichtlinie – am 11. September 2014 vom
EuGH abgewiesen. Brüssel irrt zum wiederholten Mal.
Es irrt auch bei der Infrastrukturabgabe in Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war aber 1992 ganz anders! – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glaubt nur einer! Sie!)


Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit, dass wir uns in
den nächsten Monaten mit Brüssel sicher intensiv aus-
einandersetzen müssen. Wir haben zwei Monate Zeit,
auf das heutige Schreiben zu antworten. Wir werden dies
vollumfänglich tun und der Kommission unsere Argu-
mente darlegen. Aber es ist auch klar, dass wir mit unse-
rem europarechtskonformen Mautmodell


(Lachen der Abg. Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


den Weg bis zum EuGH gehen werden, wenn Brüssel
seine Sichtweise nicht ändert.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann dauern!)


Ich sage hier auch sehr deutlich: Mein Wunsch und
auch gerade der dieser Koalition ist es, die Infrastruktur
zu stärken. Das heißt für mich: Ich will mehr Gerechtig-
keit auf unseren Straßen, mehr Investitionen für unsere
Straßen und mehr Fairness in Europa. Dafür lohnt es
sich zu streiten. Wir werden uns damit durchsetzen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811210800

Vielen Dank. – Herbert Behrens, Fraktion Die Linke,

ist jetzt der nächste Redner.


(Beifall bei der LINKEN)



Herbert Behrens (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811210900

Sehr geehrter Herr Dobrindt! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Irgendwie fühlt man sich doch ein bisschen
wie in einer Parallelwelt, wenn der erste Satz des Ver-
kehrsministers ist: Diese Maut ist europarechtskonform.


(Heiterkeit der Abg. Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir haben einen Brief bekommen, Herr Dobrindt. In
dem steht, dass die EU-Kommission das Vorhaben un-
tersuchen wird, um genau das zu überprüfen.

Die Hinweise darauf, dass die Kombination der bei-
den Gesetze nicht europarechtskonform ist, sind seit ei-
nem Jahr in der Welt. Jetzt einfach so zu tun, als ob sich
nichts verändert habe und als ob wir einfach weitergehen
könnten, ist daher schon hammerhart. Das erstaunt mich
wirklich.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Ganze wäre eigentlich zum Lachen, wenn es nicht
so traurig wäre. Wie gesagt, wir diskutieren ein Jahr lang
über die Frage, was europarechtskonform ist und was
nicht. Sie aber wollen das nicht akzeptieren und behaup-
ten immer noch in den Medien – das war in einem Inter-
view zu lesen, und auch heute werden Sie wieder ent-
sprechend zitiert –:

Was wir mit der Kfz-Steuer machen, ist ausschließ-
lich nationale Hoheit, Brüssel hat da keine Kompe-
tenzen.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Genau! So ist es!)


– Ja, dem hat niemand widersprochen. In der gesamten
Diskussion hat niemand dieser Behauptung widerspro-
chen. Auch in Bezug auf die Infrastrukturabgabe hat nie-
mand widersprochen. Selbst die Kommissarin und der

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1811211000
Die Infrastrukturabgabe





Herbert Behrens


(A) (C)



(D)(B)


ist so, wie sie in Deutschland eingeführt wird, europa-
rechtskonform. Die Verkehrskommissarin findet es so-
gar gut, dass alle Fahrer unabhängig von ihrer Fahrleis-
tung belastet werden und für die Verkehrsinfrastruktur
zahlen müssen, die auch eine soziale Infrastruktur des
Landes ist. Das wird von keinem bestritten. Es geht aber
doch um die Kombination dieser beiden Gesetze, um
nichts anderes.

Wir haben immer wieder gesagt: Die Belastung aller
Fahrer bei einer einseitigen Entlastung nur von inländi-
schen Autofahrern ist das Problem, das das Gesetzesvor-
haben stoppen wird. Spätestens jetzt, als Sie den Brief
bekommen haben, hätten Sie das mitbekommen müs-
sen – es sei denn, Sie haben ihn nicht gelesen. Das haben
Sie ja auch schon einmal der Kommissarin vorgeworfen.
Sie sagten ihr damals, sie solle erst einmal richtig hingu-
cken, bevor sie sich äußert. Auch Sie sollten erst einmal
richtig hingucken, bevor Sie solche Äußerungen machen
und davon sprechen, dass Ihre Kombinationen weiterhin
europarechtskonform sind.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Jetzt guckt er gar nicht hin! Er spricht mit dem Kollegen Lange!)


Das können Sie heute nicht mehr behaupten.

Es geht – wir müssen Ihnen das vielleicht noch ein-
mal erklären, damit Sie es begreifen – ausschließlich um
das Gesetz zur Einführung einer Infrastrukturabgabe,
das Gesetz zur Maut für alle; das wollten wir verhindern.
Sie haben immer behauptet, dieses Gesetz würde zum
1. Januar 2016 scharfgestellt. Es geht darum, 3,7 Milliar-
den Euro zu generieren, um dieses Geld in den Verkehrs-
sektor und dort überwiegend in den Straßenverkehr zu
investieren.

Wie sieht es in der Praxis aus, wenn Sie jetzt sagen,
dass Sie aufgrund des Briefes noch einmal die Einwände
prüfen wollen? Sie haben gesagt, Sie setzten die Vorbe-
reitungen zur Umsetzung des Gesetzes nicht fort. Trotz-
dem sind gerade diese weiterhin auf dem Weg.


(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht!)


Sie bereiten das weiter vor. Bis zur Ausschreibung wer-
den Sie diesen Gesetzgebungsprozess weiter vorantrei-
ben und die Umsetzung des Gesetzes so weit vorberei-
ten, dass es dann scharfgestellt werden kann, und zwar
ohne die Entlastung der Kfz-Steuerzahler. Das ist die
Maut für alle, die eigentlich hinter diesem Projekt steht
und die so nicht durchgehen sollte. Das war zumindest
die Auffassung der überwiegenden Mehrheit des Parla-
ments.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Es sei denn, Sie behalten Ihren treuen Koalitionspartner.
Und damit komme ich zu den SPD-Kollegen.

Heute lässt sich auch der Kollege Sebastian Hartmann
zitieren: „Wir vertrauen bisher auf das Urteil der Bun-
desregierung.“ Oh Gott, Herr Hartmann!


(Sebastian Hartmann [SPD]: So müssen Sie mich nicht bezeichnen! – Sören Bartol [SPD]: Sebastian reicht!)


Für mich hat das allerdings nichts mehr mit Vertrauen zu
tun. Das ist Vasallentreue. Sie klammern sich an die
Große Koalition, koste sie, was es wolle. Der Kollege
Bartol hat bereits angekündigt: Wir brauchen eine
schnelle Entscheidung, um die Mindereinnahmen aus
der verschobenen Pkw-Maut so gering wie möglich zu
halten. Das heißt: Dampf machen.

Die SPD-Fraktion ist also weiter mit dabei: Zustim-
mung zur europarechtswidrigen Ausländermaut gestern,
Zustimmung zum Fracking-Ermöglichungsgesetz mor-
gen, Zustimmung zur Vorratsdatenspeicherung übermor-
gen. In der Tat, eine solche Koalitionsfähigkeit, wie es
eben hieß, wie bei der SPD ist bei uns nicht gegeben; die
hat offenbar nur die SPD.

Ich jedenfalls bin froh, dass es uns mit der Hilfe der
EU-Kommission vielleicht gelingt, diese Art von Ver-
kehrspolitik zu stoppen. Vielleicht behält die Kanzlerin
doch noch Recht mit ihrer Aussage: „Mit mir wird es
keine Pkw-Maut geben.“ Wir würden uns freuen, wenn
diese Aussage der Kanzlerin in Erfüllung geht. Wir
schließen uns ihr da gerne an. Ich würde mich sehr
freuen, wenn wir darauf anstoßen können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811211100

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Sebastian

Hartmann, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Sebastian Hartmann (SPD):
Rede ID: ID1811211200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-

ginnen und Kollegen! Zu Ihnen komme ich noch, Herr
Behrens; fangen wir zunächst einmal vorne an. Es ist ein
offenes Geheimnis: Die Pkw-Maut ist kein Herzensan-
liegen der SPD.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schön, das zu hören! – Herbert Behrens [DIE LINKE]: Aber sie wurde doch beschlossen! Warum schieben Sie das in die Kommission?)


Sie wird es auch nicht werden. Darüber hinaus trägt auch
die Entscheidung der EU-Kommission sicherlich nicht
dazu bei, dass sich diese Situation für uns als SPD ent-
scheidend verändern wird.

Aber einen Punkt muss man klarstellen: Mit der Ent-
scheidung der EU-Kommission und der Einleitung eines
Vertragsverletzungsverfahrens ist tatsächlich eine neue
Situation eingetreten. Aber mit dieser neuen Situation
geht keine Änderung der Grundlagen unseres guten Ko-
alitionsvertrages einher. Hier muss man differenzieren.
Für die SPD gilt der Koalitionsvertrag mit allen Punkten.
Dort sind drei klare Kriterien festgelegt, aus denen her-





Sebastian Hartmann


(A) (C)



(D)(B)


vorgeht, unter welchen Bedingungen es zu einer Infra-
strukturabgabe kommen wird. Die Opposition könnte ei-
gentlich sagen: Herzlichen Glückwunsch! Die SPD hat
einen sehr guten Koalitionsvertrag verhandelt.


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dieser Vertrag sieht nämlich einen echten Beitrag zur
Infrastrukturfinanzierung und keine Belastungen des
deutschen Autofahrers vor. Zudem muss das Ganze EU-
rechtskonform sein. Das sieht unser Koalitionsvertrag
vor.


(Beifall bei der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das geht ja gar nicht alles drei!)


Sie können sich nicht zum Trittbrettfahrer eines guten
Koalitionsvertrages machen, den die SPD verhandelt
hat.

Dieser Koalitionsvertrag gilt vor Beschluss eines Ge-
setzes, während der Beratungen über ein Gesetz und na-
türlich auch nach der Verabschiedung eines Gesetzes.
Wir nehmen das sehr ernst. Die Europarechtskonformität
ist eine unverhandelbare Bedingung dieses Gesetzes. Sie
ist zu beachten. Wir sind schließlich auch hier gute Euro-
päerinnen und Europäer.

Natürlich verlassen wir uns auf das Wort des Minis-
ters, dass diese Infrastrukturabgabe europarechtskon-
form ist.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Das ist Realitätsverweigerung!)


Ich sage aber auch deutlich, dass davon der Weg, wie die
Europarechtskonformität hergestellt wird, zu unterschei-
den ist. Jedem Vertragsverletzungsverfahren ist ein ent-
sprechendes Pilotverfahren bzw. ein Konsultationsver-
fahren vorgeschaltet. Ich glaube, dass man zum jetzigen
Zeitpunkt darauf setzen muss, dass in den Verhandlun-
gen des Ministers mit der Kommission klargemacht
wird, dass es sich um ein EU-rechtskonformes Gesetz
handelt. Wir haben die Aussagen des Verkehrsministers
vernommen, dass dies der Fall ist.

Mit Verlaub, dass es überhaupt zu einer solchen Situa-
tion kommt, liegt an den klaren Konditionen, die wir im
Koalitionsvertrag festgeschrieben haben. Es ist unlauter,
dass gerade die Opposition im vermeintlichen Bewusst-
sein, Glück zu haben, schon am Dienstag die heutige
Aktuelle Stunde beantragt und nun versucht, aus diesen
Kriterien einen Bumerang zu machen. Tatsächlich sind
Sie diejenigen, die die Maut für alle wollen, verbunden
mit der Speicherung enormer Datenmengen,


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Nein! – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erzählen Sie doch mal, wer das gesagt hat!)


um minuten- und straßengenau abzurechnen; das ist
doch der entscheidende Punkt.

Wir werden in diesem Verfahren an jedem Punkt da-
rauf achten, dass keines der Kriterien unseres Koali-
tionsvertrages abschließend aufgelöst, verändert oder

angepasst wird, um durch die Hintertür die vom Grünen
Winfried Hermann geforderte Maut für alle einzuführen,
und zwar ohne Entlastung des deutschen Autofahrers.
Das wird es mit der SPD nicht geben. Das werden wir
verhindern.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genauso wie die Vorratsdatenspeicherung, oder?)


– Aber, Herr Hofreiter, es war der SPD-Kanzlerkandidat
Peer Steinbrück, der ganz klar herausgearbeitet hat, wer
die Pkw-Maut wollte. Als wir das zum Thema gemacht
haben, haben uns die Grünen in Baden-Württemberg
quasi überholt, indem sie die Maut für alle gefordert ha-
ben, im Gegensatz zu unserem EU-rechtskonformen
Modell, das eine Entlastung der deutschen Bürgerinnen
und Bürger vorsah. Das müssen Sie sich gefallen lassen.
Gehen Sie doch in die Zeitungsarchive, um das nachzu-
lesen!

Wir befinden uns nun in einer neuen Situation. Die
Europäische Kommission hat ein Vertragsverletzungs-
verfahren eingeleitet. Wir nehmen das sehr ernst; denn
wir wollen nur europarechtskonforme Gesetze beschlie-
ßen. Wir haben uns nach den Beratungen darauf verlas-
sen, dass es sich auch hier um ein EU-rechtskonformes
Gesetz handelt. Aber schon jetzt einen Entscheid vor
dem Europäischen Gerichtshof anzustreben, bedeutet,
dass das Verfahren sehr lange dauern wird. Damit stellt
sich die Frage, wann die Infrastrukturabgabe kommen
wird.

Man kann natürlich sagen, dass das keine neue Situa-
tion ist, weil es sich bereits um die dritte Verschiebung
handelt. Aber dieser dritten Verschiebung der Einfüh-
rung der Pkw-Maut liegt ein ganz anderer Sachverhalt
zugrunde. Ich glaube auch nicht, dass derjenige, der die
härteste Schlagzeile gegen Brüssel produziert, mit Brüs-
sel einig wird. Wir müssen nun vielmehr in Gesprächen
die EU-Rechtskonformität eindeutig darlegen. In aller
Klarheit: Wir werden nicht im Nachhinein den Koali-
tionsvertrag aufweichen, der mit seinen klaren Kriterien
erst zu dieser Situation geführt hat.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch schön zu hören!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811211300

Vielen Dank. – Für die CDU/CSU spricht jetzt

Steffen Bilger.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Steffen Bilger (CDU):
Rede ID: ID1811211400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Vertreter der Opposition, ich kann durchaus ver-
stehen, dass Sie am heutigen Tag eine gewisse Häme
und Freude empfinden. Das ist verständlich; denn es
mag ein parteipolitischer Erfolg für Sie sein, dass es nun





Steffen Bilger


(A) (C)



(D)(B)


bei der Pkw-Maut ein paar Fragezeichen gibt. Aber was
bejubeln Sie da eigentlich?


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir würden uns eigentlich wünschen, dass wir einen Verkehrsminister haben, der vernünftige Politik macht!)


Zunächst bejubeln Sie eine Positionierung der EU gegen
die Interessen der deutschen Bürger.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie bejubeln, dass es länger dauert, bis die Ungerechtig-
keit beendet ist, dass wir fast überall in Europa Maut be-
zahlen, während andere bei uns gratis fahren dürfen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Überall in Europa?)


Hätte der Zeitplan eingehalten werden können, dann
wäre es 2016 so gewesen: Wie bisher auch fährt ein
Deutscher durch Österreich und bezahlt Maut, genauso
wie der Österreicher in seinem Land Maut bezahlt. Neu
wäre: Ein Österreicher, der durch Deutschland fährt, be-
zahlt genauso wie der Deutsche, der in unserem Land die
Infrastrukturabgabe zu bezahlen hat. Also im Ergebnis
genau dasselbe.

Nur, die EU stört sich an der Entlastung der deutschen
Autofahrer über die Kfz-Steuer. Ich will noch einmal
deutlich betonen: Das geht die Europäische Union aber
nichts an; denn Steuerpolitik ist nationale Angelegen-
heit. Es wird auch nicht in anderen EU-Mitgliedstaaten,
die Mautsysteme haben, hinterfragt, ob die Kfz-Steuer
dort geringer ist als in Deutschland, weil der jeweilige
Staat über Einnahmen aus einer Maut verfügt.

Eines will ich aber auch offen sagen: Die Kritik aus
Österreich finde ich dann doch ziemlich dreist. Seit Jah-
ren werden dort deutsche Autofahrer abkassiert, und was
haben die Österreicher 1997 bei der Mauteinführung
gemacht? Alexander Dobrindt hat bereits darauf hinge-
wiesen: Sie haben erst einmal die Pendlerpauschale für
Österreicher erhöht. Kritik der EU damals? Nicht vor-
handen.

Unser spezieller Blick auf die heutige Debatte ist aber
das Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland.
Ich hab es an den Reaktionen der vergangenen Tage ge-
merkt, als darüber diskutiert und spekuliert wurde, dass
viele gleich gedacht haben: Oje, Vertragsverletzungsver-
fahren. – Dabei wird gerne vergessen, dass es im Durch-
schnitt der letzten Jahre jeweils gut 70 solcher Verfahren
gegen Deutschland gab. Auch in diesem Jahr läuft be-
reits wieder eine ähnliche Anzahl von Verfahren gegen
Deutschland. Diese Verfahren sind nicht nur exklusiv
gegen Deutschland gerichtet, sondern im Jahr 2013 sind
insgesamt 761 Vertragsverletzungsverfahren in der Eu-
ropäischen Union geführt worden.

Der Minister hat schon darauf hingewiesen: Was be-
sonders bemerkenswert daran ist, ist – so war es in den
letzten Jahren –, dass diese Vertragsverletzungsverfah-
ren in der Regel im Sande verlaufen. Wir gehen davon
aus, dass es auch dieses Mal so sein wird.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Diesmal garantiert nicht!)


Ich will Ihnen ein weiteres Mal erläutern, weshalb wir
überzeugt sind, dass der Gesetzentwurf, den wir be-
schlossen haben, tatsächlich europarechtskonform ist.
Wir hatten im Verkehrsausschuss eine öffentliche Anhö-
rung am 18. März, in der sich unter anderem Professor
Hillgruber positiv dazu geäußert hat.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Als Einziger!)


Er hat eindeutig darauf hingewiesen, dass es aus seiner
Sicht keine unzulässige Diskriminierung von anderen
EU-Staaten und deren Bewohnern gibt. Jetzt könnte ich
Ihnen seitenweise die Unterlagen vorlesen; das will ich
uns aber ersparen. Ich will aber aus dem Protokoll der
Anhörung einen Absatz zitieren. Dort sagt Professor
Hillgruber:

Interessanterweise ist in Art. 7 k der Eurovignetten-
richtlinie

– also bei der Lkw-Maut –

ausdrücklich vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten
bei der Einführung eines Maut- oder eines Straßen-
benutzungsgebührensystems Kompensationen vor-
sehen können. Bei solchen Kompensationen ist
– das zeigen auch die Materialien zu dieser Richtli-
nie – ausdrücklich auch an die Kfz-Steuer gedacht.
Das heißt, das gesamte Europarecht geht – wenn
man so will – von einem System kommunizierender
Röhren aus, somit von einer Infrastrukturfinanzie-
rung, die auf zwei Säulen ruht, der Kfz-Steuer und
der Maut bzw. der Straßenbenutzungsgebühr.

So weit Professor Hillgruber in unserer Expertenanhö-
rung.

Also, der Bundestagsverkehrsausschuss hat sich in-
tensiv mit diesen Fragen beschäftigt, genauso die diver-
sen beteiligten Bundesministerien und nach dem Bun-
desrat am Schluss auch noch der Bundespräsident. Alle
kamen zu dem Ergebnis: kein Verstoß gegen Europa-
recht.


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Überall gab es Zweifel!)


Warum wird die Mauteinführung dann jetzt trotzdem
verschoben? Der Minister hat es heute schon erläutert:
Ein Restrisiko bleibt vor Gericht natürlich immer, und
die nötigen Ausschreibungen wären durch ein laufendes
Verfahren zu sehr belastet gewesen. Daher ist es im
Ergebnis wohl besser, die Entscheidung des EuGH abzu-
warten.

Wenn die Entscheidung da ist, dann sollte es zügig an
die Umsetzung gehen; denn es bleibt dabei: Wir wollen
die Verkehrsinfrastruktur in Deutschland endlich ausrei-
chend finanzieren. Da es immer wieder untergeht in
allen hitzigen Mautdebatten, will ich auch dieses Mal
darauf hinweisen: Uns geht es um mehrere Maßnahmen.
Zunächst einmal geht es uns um die massive Ausweitung
der Lkw-Maut, die wir bereits auf den Weg gebracht ha-
ben, es geht auch um die Pkw-Maut, und es geht um





Steffen Bilger


(A) (C)



(D)(B)


mehr Haushaltsmittel. Mit diesem Paket – die Infrastruk-
turabgabe ist nur ein Teil dieses ganzen Pakets – wird es
uns gelingen, dass wir die Infrastruktur in Deutschland
endlich vernünftig finanzieren.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811211500

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächste spricht

jetzt Sabine Leidig, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811211600

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Werte

Besucherinnen und Besucher! Ich will ganz zu Anfang
einmal drei Punkte festhalten, die mir sehr wichtig sind:

Erstens. Die Linke war die Partei – die Linksfraktion
hat einen entsprechenden Antrag in den Bundestag ein-
gebracht, der dann an den Verkehrsausschuss überwie-
sen worden ist –, die gesagt hat: Wir wollen keine Maut
für Pkw-Fahrerinnen und -Fahrer.


(Beifall bei der LINKEN)


Zweitens. Sie von CDU/CSU und SPD haben mit Ih-
rer überwältigenden Mehrheit beschlossen, dass alle
Pkw-Fahrerinnen und Pkw-Fahrer künftig eine Maut be-
zahlen müssen.

Drittens. Es wird, egal wie die EU-Kommission ent-
scheidet, das passieren, was Herr Dobrindt hier mit Stolz
feststellt: Es wird einen Systemwechsel in der Straßenfi-
nanzierung geben. Diesen Systemwechsel lehnen wir
aus verschiedenen Gründen ab.

Diejenigen, die Auto fahren, werden nicht an den
Kosten beteiligt je nach der Größe ihres Autos, je nach
Spritverbrauch oder je nach gefahrenen Kilometern, son-
dern sie werden bezahlen müssen, wenn sie bestimmte
Straßen benutzen, egal ob sie es tun müssen, weil sie be-
ruflich unter Druck stehen, weil sie unbedingt eine fami-
liäre Angelegenheit regeln müssen oder weil sie gern mit
dicken Autos durch die Gegend brettern; da wird über-
haupt kein Unterschied gemacht. Das halte ich für eine
fatale Systemänderung.


(Beifall bei der LINKEN)


Man könnte sich natürlich vorstellen, dass man das
Autofahren teurer macht, um vernünftige Veränderungen
zu bewirken. Dann müsste man zum Beispiel dafür sor-
gen, dass der Sprit ein paar Cent mehr kostet. Mit diesen
Einnahmen könnte man den öffentlichen Nahverkehr fi-
nanzieren, der hoffnungslos unterfinanziert ist. Man
könnte dafür sorgen, dass es endlich ausreichend Busse
und Bahnen in den Städten gibt, dass es vernünftige
Nahverkehrsangebote auf der Schiene gibt. Das alles
wäre eine vernünftige Systemänderung, aber genau ent-
gegengesetzt zu der Richtung, die Sie wollen, Herr
Dobrindt.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein Systemwechsel, wie wir ihn uns ebenfalls wün-
schen würden, wäre zum Beispiel auch, dass man aufhö-
ren würde, den Diesel zu subventionieren. Die Lastkraft-
wagen sind das größte Problem auf den Straßen, mit dem
sich die Autofahrerinnen und Autofahrer permanent he-
rumärgern. Die Lastkraftwagen verursachen riesige
Staus und große Umweltkosten. Der Sprit für die Last-
kraftwagen wird mit 7 Milliarden Euro jährlich aus dem
Bundeshaushalt subventioniert. Warum nehmen wir
nicht dieses Geld, um dafür zu sorgen, dass die Ver-
kehrsinfrastruktur vernünftig repariert, in Schuss gehal-
ten und umgebaut wird?


(Beifall bei der LINKEN)


Jetzt will ich noch etwas zu der Ungeheuerlichkeit sa-
gen, dass Sie, Herr Dobrindt, von „Gerechtigkeit auf
Deutschlands Straßen“ sprechen. Das finde ich schon et-
was skurril. Ich finde, wenn man über Gerechtigkeit auf
den Straßen spricht, dann muss man sich anschauen, wie
die Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer ei-
gentlich behandelt werden. Heute ist ein Artikel in der
Berliner Zeitung, in dem steht, dass die Hauptstädterin-
nen und Hauptstädter in Berlin inzwischen die Mehrzahl
der Wege zu Fuß zurücklegen. Jetzt schauen Sie sich ein-
mal an, wie die Situation für Fußgängerinnen und Fuß-
gänger in den meisten Städten und Gemeinden in diesem
Land aussieht. Hat sie sich verbessert in den letzten 30,
40 oder 50 Jahren? Nein, überhaupt nicht. Sie ist immer
schlechter geworden.

Noch katastrophaler sieht die Situation für Fahrrad-
fahrerinnen und Fahrradfahrer aus. Stellen Sie sich ein-
mal vor, für die Autofahrer hätte sich seit 1960 nichts an
den Straßen verändert, obwohl die Zahl der Autofah-
rerinnen und Autofahrer inzwischen mehr als dreimal so
hoch ist. Aber genau diese Situation haben wir bei den
Fahrradfahrenden: Mehr als dreimal so viele Menschen
fahren inzwischen Fahrrad; aber die Fahrradwege sind in
dem gleichen miserablen Zustand – sie sind vielerorts
klein und eng – wie 1960. Da müssten Sie Gerechtigkeit
herstellen: Gerechtigkeit für die Verkehrsteilnehmer, die
nicht motorisiert unterwegs sind und die mit ihrem
Verhalten dazu beitragen, dass eine sozialökologische
Verkehrswende und damit ein vernünftiger Systemwech-
sel möglich wird.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811211700

Vielen Dank. – Als Nächster spricht Heinz-Joachim

Barchmann, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Heinz-Joachim Barchmann (SPD):
Rede ID: ID1811211800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Ob nun „Pkw-Maut“ oder „Infrastrukturabgabe“ –
dass die Pläne von Verkehrsminister Dobrindt und sei-
nem Parteivorsitzenden eines der umstrittenen Projekte
der Großen Koalition sind, wurde hier bereits ausführ-
lich diskutiert. Und man muss es noch einmal in aller
Ehrlichkeit sagen: Dafür, dass wir von der SPD Vorha-
ben in den Koalitionsvertrag schreiben konnten, die





Heinz-Joachim Barchmann


(A) (C)



(D)(B)


unser Land voranbringen und von denen wir absolut
überzeugt sind – wie zum Beispiel den Mindestlohn, der
bereits heute sehr vielen Menschen in Deutschland
hilft –, mussten wir auch Punkte akzeptieren, die uns
vielleicht nicht so gut passen.

Die CSU hat die Maut in den Koalitionsvertrag hi-
neinverhandelt. Nein, sie ist weiß Gott nicht unser Her-
zensprojekt. Aber so funktioniert eben Demokratie. Dass
die Maut im Bundestag verabschiedet wurde, ist vor al-
len Dingen der Koalitionsdisziplin zu verdanken.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)


Die einen bringen ihr Projekt durch und die anderen ein
anderes, und am Ende sind alle einigermaßen zufrieden.

Was mich daran stört, ist allerdings etwas anderes,
und deshalb freue ich mich, heute als Europapolitiker
zur Maut sprechen zu können.

Als Sozialdemokraten haben wir der Maut unter drei
Bedingungen zugestimmt: Es muss ein substanzieller
Beitrag für die Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur
erwirtschaftet werden. Es darf kein deutscher Autofahrer
zusätzlich belastet werden. Und: Die gesetzliche Rege-
lung muss mit dem europäischen Recht vereinbar sein.

Ob die geplanten Überschüsse generiert werden kön-
nen und die Maut damit ihren gesetzlichen Zweck erfül-
len kann – nämlich den Erhalt der Infrastruktur –, da-
rüber wird die Zukunft entscheiden. Auch die Fragen, ob
die Gesetzesvorhaben europarechtskonform sind und
wen die Maut schließlich finanziell belastet, stehen wei-
terhin im Raum.

Das Gesetzgebungsvorhaben besteht aus zwei Teilen:
Die Maut selbst soll durch ein Infrastrukturabgabenge-
setz eingeführt werden, das im Wesentlichen für Inländer
und Ausländer gleichermaßen gilt. Durch ein weiteres
Gesetz soll Fahrzeughaltern, die Kfz-Steuer zahlen, eine
Steuerentlastung in gleicher Höhe gewährt werden, um
eine Doppelbelastung durch die Kraftfahrzeugsteuer zu
vermeiden.

Im europäischen Recht – das gilt auch in Deutschland –
besteht der Grundsatz der Unionstreue. Danach unter-
stützen die Mitgliedstaaten die Union bei der Erfüllung
ihrer Aufgaben und unterlassen alle Maßnahmen, die die
Union gefährden könnten. Durch die Konstruktion des
Gesetzesvorhabens mit der Einführung der Maut bei
gleichzeitigem Ausgleich über die Kfz-Steuer ist aus
meiner Sicht ein europarechtswidriger Diskriminie-
rungstatbestand gegenüber EU-Ausländern durchaus er-
sichtlich.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Aha!)


Aus dem Verkehrsministerium wird hingegen immer
wieder darauf verwiesen, dass die EU gar nicht zustän-
dig sei. Es sei klar geregelt, dass die Steuern in der natio-
nalen Hoheit eines jeden Landes selbst liegen. Ja, die
Steuern sind nationale Kompetenz; das wurde eben
schon gesagt.

Aber ganz egal, ob eine Kompetenz auf nationaler
oder auf europäischer Ebene liegt: Wichtig ist die

Gleichbehandlung in der ganzen EU. Eine Ungleichbe-
handlung kann auch von nationalen Gesetzen ausgehen.
In solchen Fällen muss die Europäische Kommission
eben zwangsläufig eingreifen, so wie sie das jetzt auch
tut.

Die Kombination aus der gleichzeitigen und in der
Höhe gleich bemessenen Entlastung deutscher Autofah-
rer wirft zumindest die Frage auf, ob hier eine unzuläs-
sige Benachteiligung von EU-Ausländern vorliegt.
Wenn schon so etwas für die Maut gebraucht wird, dann
muss sie gesetzlich auf einer einwandfreien und stabilen
Basis stehen. Über die rechtlichen Fragen hat aktuell der
Europäische Gerichtshof in Luxemburg zu entscheiden,
und man muss abwarten, wie diese Entscheidung letzt-
lich ausfällt.

Wenn die Mautpläne aber tatsächlich vom EuGH be-
anstandet werden, dann werden die Richter sehr wahr-
scheinlich nicht beide Teile des Gesetzesvorhabens kip-
pen. Das Mautgesetz selbst werden sie kaum infrage
stellen können, sehr wohl aber das Verrechnungssystem
mit der Kfz-Steuer, das deutsche Autofahrer bevorzugt.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann gibt es die Maut für alle! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das heißt: Maut für alle!)


Letztlich würde dann das Entlastungsgesetz durch den
EuGH „kassiert“, und die Maut selbst bliebe bestehen,
und zwar zulasten aller, auch und ganz besonders zulas-
ten der deutschen Autofahrer.

Meine Befürchtung liegt darin, dass die Verantwor-
tung für die Mehrbelastung deutscher Autofahrer an-
schließend in gewohnter Manier auf die Europäische
Union und ihre Institutionen geschoben wird. Das ma-
chen einige im Südosten Europas bereits heute, wenn sie
sich andauernd über die ständige Einmischung der EU in
nationale Gesetzgebungskompetenzen beschweren. Aber
genau in diese Richtung geht auch die aktuelle Argu-
mentation: dass die EU aufgrund der nationalen Steuer-
hoheit gar nicht zuständig sei. Doch sie ist zuständig,
wenn es um Diskriminierungstatbestände geht. Wenn die
Maut für alle kommt, dann wird man auch dazu stehen
müssen, dass Bürgerinnen und Bürger Mehrbelastungen
spüren, und man muss sagen können, woher die Maut
kommt: in diesem Fall nämlich nicht aus Brüssel, son-
dern aus Bayern.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811211900

Sie müssen nun zum Schluss kommen, Herr Kollege

Barchmann.


(Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Das ist, glaube ich, auch besser!)



Heinz-Joachim Barchmann (SPD):
Rede ID: ID1811212000

Ja. – Die Kommission achtet nur darauf, dass andere

bei uns nicht diskriminiert werden, wie auch wir an-
derswo nicht diskriminiert werden wollen. Die Aufga-
ben der EU ständig infrage zu stellen, ist scheinheilig;





Heinz-Joachim Barchmann


(A) (C)



(D)(B)


denn diese Kritik schadet Europa und damit letztlich
auch uns selbst.

Danke schön.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811212100

Vielen Dank. – Als Nächster hat Oliver Krischer,

Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811212200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Dobrindt, was Sie hier veranstalten, ist, ehrlich ge-
sagt, unglaublich. Sie bekommen heute einen blauen
Brief. Ihr zentrales verkehrspolitisches Projekt wird von
der EU-Kommission in einem Punkt infrage gestellt,
über den wir schon seit einem Jahr diskutieren. Und was
machen Sie? Sie laufen hier wie ein aufgeblasenes
Michelin-Männchen herum und beschimpfen die EU-
Kommission. Das ist doch unglaublich! Das ist doch un-
fassbar!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Ich sage Ihnen: Jeder Schüler und jede Schülerin in
dieser Republik ist weiter. Wenn sie einen blauen Brief
bekommen, dann wissen sie, dass die Versetzung gefähr-
det ist. Die mindeste Reaktion ist: ein bisschen Demut
zeigen, Besserung geloben und schauen, was man anders
machen könnte. Diesbezüglich höre ich nichts von Ih-
nen. Das Einzige, was Ihnen einfällt, ist die Beschimp-
fung der EU-Kommission. Etwas anderes ist an der
Stelle nicht zu hören. Das geht nicht für einen Verkehrs-
minister; das muss man einmal klipp und klar sagen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Ich sage dazu – Sie wissen genau, was Sie da für ein
Problem am Hals haben –: Das ist Autosuggestion. Das
ist der kleine Alexander, der in Weilheim auf dem Schul-
hof steht, sich die Augen zuhält und sagt: Ich habe recht.
Es ist dunkel, ihr anderen liegt alle falsch. – Es ist Ihre
Art der Politik, sich etwas einzureden. Das wissen Sie
sehr genau.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Bilger hat hier eben den einzigen Sachverständi-
gen, den es in der ganzen Republik überhaupt gibt, der
Ihre Position unterstützt, zitiert. Wir haben im Aus-
schuss eine Anhörung gehabt,


(Steffen Bilger [CDU/CSU]: Sie waren doch gar nicht dabei!)


wo reihum durch Gutachten des Wissenschaftlichen
Dienstes dargelegt worden ist, dass das nicht europa-
rechtskonform ist und dass das ganze Projekt scheitern
muss. Lesen Sie das einfach noch einmal nach. Das, was
Sie hier jetzt machen, ist arrogant. Damit werden Sie
scheitern.

Ich möchte an dieser Stelle auch einmal eines sagen:
Ich danke ausdrücklich Herrn Juncker und der Verkehrs-

kommissarin, Frau Bulc, dass wenigstens die Europäi-
sche Kommission, wenn schon die Koalition hier den
größtmöglichen Unsinn beschließt, an der Stelle ver-
sucht, das zu stoppen. Es geht ja nicht nur darum, dass
das Ganze nicht europarechtskonform ist. Sie können ja
froh sein, dass die EU-Kommission keine Kompetenz
hat, das verkehrspolitisch zu überprüfen, dass die EU-
Kommission keine Kompetenz hat, Bürokratiefragen zu
überprüfen, dass die EU-Kommission keine Kompetenz
hat, Datenschutzfragen zu überprüfen. Wenn all das
überprüft würde, würden Sie doch auch in diesen Punk-
ten mit diesem Unsinnsprojekt scheitern. Insofern ist es
gut, dass heute der blaue Brief gekommen ist. Ich wün-
sche der EU-Kommission viel Kraft dafür, dass sie es
schafft, dieses Projekt zu versenken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Sie dann erzählen, es gäbe da keine Diskrimi-
nierung, dann ist das, ehrlich gesagt, eine intellektuelle
Beleidigung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie laufen seit eineinhalb Jahren durch das Land, ange-
fangen von der Bundeskanzlerin bis zum letzten Abge-
ordneten der CSU bzw. der Union – leider haben wir ja
auch bei der letzten Debatte einige Sozialdemokraten ge-
hört, die erzählen, dass das eins zu eins kompensiert
wird –, und versichern: Das, was die deutschen Autofah-
rerinnen und Autofahrer bezahlen, wird exakt eins zu
eins zurückgegeben, nur die Ausländerinnen und Aus-
länder zahlen. – Herr Dobrindt, das ist Diskriminierung.
Denken Sie denn, die in Brüssel sind blöd und glauben
Ihren unsäglichen juristischen Windungen? Dass das
nicht in Ordnung ist, ist doch völlig klar. Das ist eine
Diskriminierung. Damit werden Sie spätestens vor dem
Europäischen Gerichtshof scheitern. Das geht so nicht,
meine Damen und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich kann nur eines sagen: Schlimmer noch als die
Maut selber ist das, was sie in Deutschland in der Ver-
kehrspolitik bewirkt. Wir haben in der Verkehrspolitik
genug Baustellen, die zu erledigen wären. Ich will nur
eine nennen – Frau Wilms hat auf die Brücken und deren
Erhaltung hingewiesen –: Nehmen wir zum Beispiel den
Flughafen BER. Hier würde ich mir wünschen, dass sich
der Verkehrsminister um dieses Projekt kümmert und da-
für sorgt, dass es vorangeht. Darüber höre ich nichts. Wir
werden erleben – das deutet sich schon an –, dass Sie
sich in den nächsten zwei Jahren nur noch mit der
Durchsetzung der Maut und der Beschimpfung der EU-
Kommission beschäftigen werden und dass alle ver-
kehrspolitischen Projekte liegen bleiben. Das ist eine
Bankrotterklärung der gesamten Großen Koalition in der
Verkehrspolitik. Das geht nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb sage ich: Tun Sie Deutschland, tun Sie Eu-
ropa einen Gefallen. Ziehen Sie dieser unsäglichen Aus-
ländermaut den Stecker. Das wäre eine Maßnahme, die





Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)


Größe zeigt. Das würde uns in der Verkehrspolitik vo-
ranbringen. Dann könnten wir uns endlich um die wirkli-
chen Probleme kümmern, die es in diesem Land zu lösen
gilt.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811212300

Vielen Dank. – Als Nächster redet jetzt Andreas

Scheuer, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Andreas Scheuer (CSU):
Rede ID: ID1811212400

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Bei so manchen Wortbeiträgen der Opposition


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wird Ihnen ganz anders!)


könnte man meinen, dass Sie von steinzeitlicher Ver-
kehrspolitik reden. Den Kollegen Krischer kann man bei
seinen cholerischen Anfällen vom Kollegen Hofreiter
nur noch haarschnitttechnisch unterscheiden. Ich möchte
mich auf die Fakten konzentrieren.

Bundesminister Dobrindt und die Große Koalition
hatten den Mut, den Systemumstieg umzusetzen


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Das ist doch kein Systemumstieg! Sie haben heute ein Vertragsverletzungsverfahren am Hals!)


und in ein anderes, nämlich nutzerfinanziertes System zu
kommen. Dies alles schlägt die Europäische Kommis-
sion seit Jahren vor.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Abzocke!)


Dies ist auch das gerechteste System. Es schafft mehr
Mittel für die Verkehrsinfrastruktur. Genau diese Ziele
– ich bin Kollegen Hartmann dankbar, dass er das auch
noch einmal für die SPD dargestellt hat – verfolgen wir
in der Großen Koalition. Diesen Systemumstieg, den
viele Mitgliedstaaten in der Europäischen Union schon
gemacht haben, setzt Deutschland als Transitland um.

Meine Damen und Herren, Fakt eins ist, dass nach in-
tensiver fachlicher Prüfung, nach demokratischer Ent-
scheidung und nach juristischer Prüfung


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt nur einen Sachverständigen, der Ihre Position übernimmt!)


die Bundesregierung, der Bundestag, der Bundesrat, der
Bundespräsident dieses Maßnahmenpaket und Gesetzes-
paket in nationaler Zuständigkeit beschlossen haben. Die
EU-Kommission muss sich auch daran orientieren, dass
es Alleinzuständigkeiten der nationalen Ebenen gibt. Zu-
dem haben wir, verehrte Kolleginnen und Kollegen der
Opposition, alle parlamentarischen Möglichkeiten ge-
nutzt, um eine möglichst breite Diskussion über dieses
Projekt zu haben.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben Anhörungen abgebrochen, zum Beispiel!)


Fakt zwei ist: Die Infrastrukturabgabe ist europa-
rechtskonform, weil die Regelungen In- und Ausländer
gleichermaßen betreffen. Die Gestaltung der Kfz-Steuer
liegt in nationaler Zuständigkeit. Diese Diskussion ist
wiederum ein Beispiel dafür, dass sich die EU-Kommis-
sion in Zuständigkeiten einmischt. Die Bürgerinnen und
Bürger sind von diesem „Überall-Einmisch-Europa“ ge-
nervt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir werden den Bundesminister in seiner inhaltlich har-
ten Auseinandersetzung mit der EU-Kommission in den
fachlichen Fragen unterstützen, weil es ein sinnvolles
Projekt ist.

Fakt drei ist: Die EU-Kommission empfiehlt seit Jah-
ren die Nutzerfinanzierung. Unser System ist auch in der
Erarbeitung auf den vielen Wegstrecken mit der EU-
Kommission abgestimmt. Die EU-Kommission war ein-
gebunden.

Fakt ist auch, dass über 20 Staaten in der EU bereits
Mautsysteme haben. Das können die Bürgerinnen und
Bürger in Deutschland nicht verstehen, dass überall an-
ders Mautsysteme möglich sind – nur in Deutschland
protestiert die EU-Kommission. Das ist nicht haltbar.
Das ist eine Einmischung in nationale Angelegenheiten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Können Sie mal „überall“ definieren? Belgien, Luxemburg? Dänemark?)


An die Adresse der Opposition: Kollege Krischer, mit
Ihrem Verhalten torpedieren Sie demokratische Ent-
scheidungen.


(Lachen des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Sie verhalten sich schädlich gegenüber deutschen Inte-
ressen, wenn Sie überall ausrufen, dass Sie froh sind,
dass das Verfahren eingeleitet wird. Sie wollen also wei-
terhin Ungerechtigkeit in den Fragen der europäischen
Infrastruktur.

Die EU ist mit dieser Haltung jetzt schuld daran,
wenn die Gewährleistung von mehr Gerechtigkeit auf
europäischen Straßen verschoben werden muss.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Das ist keine Frage von Haltung, sondern von EU-Recht! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Scheuer, was reden Sie denn da? Sie beschimpfen die Mauer, wenn Sie dagegenfahren, oder wie? Die Mauer ist schuld, wenn man dagegenfährt?)


Die EU-Kommission verhält sich in diesem Verfahren
dreist, wenn sie sich offen in nationale Zuständigkeiten
einmischt.





Andreas Scheuer


(A) (C)



(D)(B)



(Herbert Behrens [DIE LINKE]: „Wenn sie sich in nationale Zuständigkeiten einmischt!“ Die EU macht nur ihren Job!)


Die Einführung einer Pkw-Maut in Deutschland fällt in
die nationale Zuständigkeit. Die Entscheidung für die
Pkw-Maut ist demokratisch, europarechtskonform und
verkehrspolitisch richtig.

Viele Millionen Urlauber und Nutzer der Infrastruktu-
ren in Europa werden jetzt in der Urlaubszeit erfahren,
dass in über 20 Staaten ohne Probleme Mautsysteme re-
alisiert wurden, Fakt sind, dass die gesamte europäische
Infrastruktur von ihnen profitiert und dass die Infrastruk-
tur durch Nutzerfinanzierungssysteme besser wird.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Eine Vignette für alle ist keine Nutzerfinanzierung!)


Und nichts anderes wollen wir in Deutschland: die Um-
setzung einer europarechtskonformen Pkw-Maut. Aber
die Europäische Kommission verweigert sich, wenn es
darum geht, diese Gerechtigkeit umzusetzen. Deswegen
kritisieren wir sie aufs Schärfste und scheuen uns nicht
vor einer harten Auseinandersetzung.

Die Große Koalition und die Bundesregierung haben
die Pkw-Maut beschlossen. Ich bin mir sehr sicher, dass
wir unseren Einfluss auf europäischer Ebene geltend ma-
chen. Auch wenn die deutsche Opposition die Umset-
zung dieses Projekts torpediert, sind wir nicht minder
hoffnungsvoll, dass wir schnell zu Entscheidungen kom-
men.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Kleinkindertrotz, den Sie hier betreiben!)


Das Kreischen von Herrn Krischer wird bald ein Ende
haben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811212500

Vielen Dank. – Es spricht jetzt Andreas Schwarz,

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Andreas Schwarz (SPD):
Rede ID: ID1811212600

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und
Herren auf den Zuschauerrängen! Liebe Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen! Ehrlich gesagt: Zuerst konnte ich
Ihre Begeisterung für Diskussionen über die Infrastruk-
turabgabe nicht nachvollziehen. Aber in Anbetracht der
heutigen Botschaften aus Brüssel darf man Ihnen zur
Terminwahl gratulieren.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So muss das sein!)


Ich freue mich, dass ich hier heute reden darf. Aber
eine Empfehlung hätte ich: Vielleicht können Sie Ak-
tuelle Stunden auch zu den schönen Dingen, die in die-
sem Land und in dieser Koalition passieren, beantragen.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch schön! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie beschlossen! Das muss doch schön sein!)


Es gibt sehr viele große Erfolge: von der Frauenquote bis
zum Mindestlohn. Diese Themen wären auch mal eine
Aktuelle Stunde wert.

Aber jetzt zur heutigen Debatte, zur Pkw-Maut. Dass
sich die EU-Kommission das Gesetzespaket genau an-
schauen wird, das haben wir schon bei der Verabschie-
dung gewusst. Nun wird, wie wir heute erfahren haben,
ein Vertragsverletzungsverfahren eröffnet. Das heißt für
uns: Wir müssen darauf reagieren bzw. erst einmal ab-
warten.

Herr Minister Dobrindt, ich begrüße es sehr, dass Sie
die Einführung erst einmal verschieben. Sie haben das
Copyright an diesem Gesetz.


(Lachen der Abg. Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben es beschlossen!)


Es steht Ihnen natürlich zu, die Reißleine zu ziehen, um
Mehrkosten für den deutschen Steuerzahler zu verhin-
dern.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen alle
– das ist bereits deutlich geworden –, dass dieses Thema
keine Herzensangelegenheit der SPD-Fraktion war und
ist. Trotzdem haben wir im Verkehrs- und im Finanzaus-
schuss zahlreiche Änderungen durchgesetzt, um zumin-
dest das Versprechen der SPD umzusetzen, keinen deut-
schen Steuerzahler zusätzlich zu belasten. Aber nicht nur
das: Wir haben auch weitere sozialdemokratische Forde-
rungen durchgesetzt, wenn auch nicht alle.

Erstens. Wir haben die Mautsätze für im Ausland zu-
gelassene Kraftfahrzeuge angepasst.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Nach Intervention der EU!)


Damit unsere europäischen Nachbarn bei den Zeit-
vignetten nicht diskriminiert werden, wird es jetzt auch
bei den Zeitvignetten Staffelungen nach Ökoklassen geben.
Das war eine wichtige Forderung der EU-Kommission.

Zweitens. Wir haben den Datenschutz im Gesetz
deutlich verbessert, indem wir die Speicherfristen von
drei Jahren auf ein Jahr verkürzt haben.

Drittens haben wir auch beim Thema Evaluation
deutliche Verbesserungen durchgesetzt: So wird zwei
Jahre nach dem technischen Start der Pkw-Maut das
Gesetz einem umfassenden Einnahmen- und Bürokra-
tiecheck unterzogen werden. Bereits nach einem Jahr
werden wir überprüfen, ob die Annahmen über den Per-
sonalaufwand, vor allen Dingen beim Zoll, auch tatsäch-
lich zutreffen.

Scheinbar sind aber diese Verbesserungen, die wir er-
reicht haben, nicht ausreichend, wie die Prüfung durch
die EU-Kommission im Moment zeigt. Liebe Kollegin-
nen und Kollegen, wir wussten, wie gesagt, dass es zu





Andreas Schwarz


(A) (C)



(D)(B)


einer Überprüfung dieser Infrastrukturabgabe kommen
wird.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum haben Sie es dann so beschlossen? Wenn Sie das alles wussten: Warum haben Sie es dann so gemacht?)


Jetzt lassen wir die Kommission prüfen, ob das Gesetz
von Minister Dobrindt den europäischen Ansprüchen ge-
nügt, wie es hier versprochen wurde. Ich bin mir sicher:
Er wird die notwendigen Argumente zur Klärung nach
Brüssel liefern.

Zum Schluss noch eine kleine Exkursion in die Ge-
schichte: Heute ist ja ein denkwürdiger Tag: 18. Juni –
nicht weil hier der blaue Brief aus Brüssel eingetroffen
ist.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Schlacht von Waterloo! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Waterloo! Das ist das Waterloo! Sehr schön! – Weiterer Zuruf: Da ist auch ein General untergegangen!)


– Nein, was ich sagen wollte: Heute vor 200 Jahren hat
Napoleon seine letzte Schlacht geschlagen in der Nähe
von Brüssel, bei Waterloo.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Und ist gescheitert! – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sehr gut! Sehr gut!)


Das kleine Dorf hieß Waterloo. Ich wünsche unserem
Minister, dass er mehr Erfolg haben wird, was seine Be-
mühungen in Sachen Infrastrukturabgabe betrifft.

Danke schön.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das wird wohl nix!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811212700

Das Wort hat der Kollege Ulrich Lange für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1811212800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ja, die Überschrift für heute heißt:


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Waterloo!)


EU verzögert Gerechtigkeit. – Schade für Deutschland
und Europa! Unsere Antwort heißt: Die Infrastrukturab-
gabe kommt trotzdem, lieber Kollege Schwarz – jetzt
passen Sie auf! –, weil Gerechtigkeit sich am Ende
durchsetzt und es immer eine Herzensangelegenheit der
SPD war, für Gerechtigkeit in Deutschland und Europa
zu kämpfen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deswegen wird die Maut gestoppt! – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Worüber reden Sie denn, Herr Kollege Lange? Ist das das richtige Thema?)


Wir haben ein Gesetz beschlossen – davon sind wir
alle in der Großen Koalition überzeugt –, das EU-rechts-
konform ist. Deswegen sind wir auch gut aufgestellt, lie-
ber Kollege Kreischer, im Verfahren mit Brüssel; denn
eines machen wir nicht im Gegensatz zu Ihnen: Wenn
man uns einen Brief schreibt, dann gibt es bei uns keinen
blinden Gehorsam, dass wir nachlaufen, sondern wir
schauen uns das an, wir antworten, und wir haben Stand-
punkte, und die kommen nicht immer nur aus Brüssel.


(Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jawohl, Herr Kollege Kurz!)


Deshalb sehen wir dem Verfahren ganz ruhig entgegen.
Ich sehe eher kritisch, dass mit all dem, was hier von der
EU-Kommission wieder gemacht wurde, wir in der Be-
völkerung eine Debatte haben, in der es irgendwann hei-
ßen wird: Was können wir vor Ort, was können wir na-
tional für uns entscheiden? Warum können wir nicht das
haben, was über 20 Staaten in der EU auch haben? – Die
Europafreundlichkeit hat heute stark gelitten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Anzahl der Vertragsverletzungsverfahren ist an-
gesprochen worden. Der Minister hat auch schon ange-
sprochen, dass die Kommission durchaus auch irrt; Irren
ist menschlich.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gerade bei der CSU! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagt gerade jemand von der CSU!)


Lieber Kollege Barchmann, beim Thema Mindestlohn
– da haben wir gemeinsam ein Gesetz gemacht – hat es
auch ein Vertragsverletzungsverfahren gegeben. Inso-
fern sage ich: Wir sehen mit aller Ruhe Richtung Brüs-
sel. Brüssel sollte allerdings eines tun: sich auf die The-
men konzentrieren, die für Europa und den Fortbestand
der EU wirklich notwendig sind.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Da stehen wir vor größeren Herausforderungen, da ha-
ben wir größere Themen, da haben wir größere Schwie-
rigkeiten.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es wäre gut, wenn Sie sich darauf konzentrieren würden! Auf diese Themen statt auf diese Maut!)


Großbritannien ist angesprochen worden, Österreich
ist angesprochen worden. Die Verknüpfung von Einfüh-
rung der Maut und Anhebung der Pendlerpauschale hat
die Kommission nicht gestört – war ja nur das kleine Ös-
terreich.

Großbritannien: Auch die Lkw-Maut in Großbritan-
nien hat die Kommission nicht gestört – war ja nur eine
Insel, und mit Cameron legt man sich sowieso nicht





Ulrich Lange


(A) (C)



(D)(B)


gerne an. Insofern dachte man: Wir können es mal mit
Deutschland versuchen. – Wir bleiben aber genauso ste-
hen, liebe Kolleginnen und Kollegen!


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das Prinzip der Nutzerfinanzierung bzw. das Umstel-
len des Systems wurde mehrfach angesprochen. Es ist
klar, dass es sich hierbei um kommunizierende Röhren
bzw. Säulen handelt. Auch in der Eurovignetten-Richtli-
nie – das ist schon angesprochen worden; es gilt für die
Finanzer genauso – ist ausdrücklich von einem Aus-
gleich die Rede. Insofern sind wir auf dem richtigen
Weg.

Wir setzen das, was die Kommission von uns fordert
– Nutzerfinanzierung –, um, und heute hat sie nichts
Besseres zu tun, als ein Schreiben zu verfassen, das den
eigenen Vorgaben widerspricht. Da muss man sich schon
fragen, ob das der richtige Weg ist.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Herr Kollege, es geht nicht um die Infrastrukturabgabe, sondern um die Kombination der beiden Gesetze! Das ist das Problem! Immer schon gewesen!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man dann
auch noch über die Kurzzeitvignette redet, dann erlau-
ben Sie mir folgendes Beispiel: In Österreich kostet die
billigste 8,90 Euro. In Deutschland, wo es zehnmal so
viele Straßen gibt, sind es 5 Euro. Liebe Kommission,
fange endlich mal an, richtig zu rechnen!


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Kommission hat heute sicherlich für eine gewisse
Verzögerung gesorgt. Das Handeln des Ministers ist ver-
antwortungsvoll und richtig.


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wer schließt denn während eines laufenden Verfahrens
einen Vertrag? Das führt natürlich dazu, dass wir am
Ende nicht die optimalen Verträge haben. Wir wissen
doch hinsichtlich der Einführung der letzten Maut in rot-
grünen Zeiten: Falsche Mautverträge sind die schlech-
testen. Deswegen: Es wurde verantwortungsvoll geprüft
und für richtig befunden. Diesen Weg gehen wir weiter.
Die Maut kommt!

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811212900

Das Wort hat der Kollege Arnold Vaatz für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Arnold Vaatz (CDU):
Rede ID: ID1811213000

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Morgen von

Waterloo war Napoleon der euphorisierteste und sieges-
sicherste, so wie heute die Grünen.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Genau! Wie der Verkehrsminister! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe eher den Eindruck: wie der Dobrindt! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So kann man die Dinge verdrehen!)


Wir sind angesichts dessen, was wir heute erfahren ha-
ben, gelassen, aber nicht euphorisiert.

Kurz zur Rechtslage. Die Infrastrukturabgabe ist dis-
kriminierungsfrei. Das heißt, sie wird von jedem gezahlt.
Wenn man eine Diskriminierung hineininterpretieren
will, dann ist es eine Diskriminierung der Einheimi-
schen.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Das kommt hinzu! Auch das habe ich angesprochen, Herr Vaatz!)


Denn die ausländischen Straßenbenutzer sind von einer
Infrastrukturabgabe für Bundesstraßen jenseits der Auto-
bahnen ausgenommen.

Ein weiterer Punkt. Die Kfz-Steuer ist diskriminie-
rungsfrei. Ein tschechischer Staatsbürger, der sein Auto
in Dresden zugelassen hat – er hat von der Ansiedlungs-
freiheit Gebrauch gemacht –, profitiert von der Absen-
kung der Kfz-Steuer. Genauso hat ein Deutscher, der in
Prag wohnt und dort ein Auto angemeldet hat, die tsche-
chische Kfz-Steuer zu akzeptieren. Das heißt, die Her-
kunft ist nicht das Kriterium der Inpflichtnahme. Im
Übrigen kann der deutsche Gesetzgeber nur dort dis-
kriminieren, wo er die Jurisdiktionsgewalt hat – und
nicht außerhalb dieses Gebietes. Ich bitte, das zu beach-
ten.

Sie sagen jetzt: Es mag sein, dass beide Fälle diskri-
minierungsfrei sind; aber die Verknüpfung – das ist eine
Diskriminierung von Ausländern.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Das sagt auch die EU-Kommission!)


– Darauf entgegne ich Folgendes: Ich glaube, dass die
Europäische Kommission durchaus das Recht hat, dies
so zu sehen. Sie hat auch das Recht, vor den Europäi-
schen Gerichtshof zu treten und ihn darum zu bitten, das
zu klären. Aber, meine Damen und Herren, die Europäi-
sche Kommission ist in diesem Verfahren Partei und
nicht Richter.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Und auch Sie sind nicht Richter, sondern der Europäi-
sche Gerichtshof hat das zu entscheiden.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um die europäischen Verträge, Herr Kollege!)


Jetzt sage ich Folgendes: Wer behauptet, dass hier
eine Diskriminierung vorliegt, muss unabhängig von der
Meinung der anderen Gutachter bei unserer Anhörung
erklären, wie denn dann Artikel 7 k der Eurovignetten-
Richtlinie der Europäischen Union zu beurteilen ist. Das
interessiert mich sehr,


(Zuruf von der LINKEN)






Arnold Vaatz


(A) (C)



(D)(B)


und um die Klärung dieser Frage wird auch der Europäi-
sche Gerichtshof nicht herumkommen.

Vor diesem Hintergrund erinnere ich mich an einen
Moment am 27. März, als wir hier in dieser Runde die
Debatte zur zweiten und dritten Lesung des Gesetzes
hatten. Damals ist mit großem bayerischem Tempera-
ment der Kollege Hofreiter ans Pult getreten und hat sich
in Rage geredet; es war ein regelrechter Wutanfall we-
gen des Gesetzes.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das ist aber auch nötig!)


Er hat uns gesagt: Das Gesetz wird sowieso vor dem Eu-
ropäischen Gerichtshof keinen Bestand haben.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das trifft ja auch zu! Der erste Schritt ist getan!)


Ich habe damals gedacht: Wenn sich Herr Hofreiter so
sicher ist – Sie, Herr Krischer, waren sich mit Ihrem
rheinischen Temperament heute auch so sicher –, wes-
halb regt er sich dann so auf?


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da Sie jede Vernunft verlieren! Das ist das Problem!)


Sehen Sie, das ist der Unterschied: Wir reagieren völlig
gelassen, weil wir wissen, dass wir das Recht auf unserer
Seite haben.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum beschimpfen Sie dann die ganze Zeit die EU-Kommission?)


– Weil die EU-Kommission nicht der Richter, sondern in
diesem Fall die andere Partei ist.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was soll denn das?)


Oder wissen Sie nicht, was Gewaltenteilung und Rechts-
staat bedeuten, können mit den Begriffen nichts anfan-
gen?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die EU-Kommission ist eine Partei, die einen anderen
Standpunkt vertritt, bei dem wir davon überzeugt sind,
dass man damit vor Gericht scheitern wird.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann können Sie ja ganz gelassen sein! Sie brauchen nicht zu schimpfen!)


Demzufolge sind wir ganz gelassen. Und weil Sie im In-
neren wissen, dass Sie scheitern werden, deshalb regen
Sie sich so auf. Das ist der Punkt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nach dem letztinstanzlichen Urteil holen wir die Rede noch mal hervor!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811213100

Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Bericht der Bundesregierung zur weltweiten
Lage der Religions- und Glaubensfreiheit
Drucksache 18/5206
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die an dieser
Debatte nicht mehr teilnehmen können oder wollen, die
notwendigen Umgruppierungen jetzt zügig vorzuneh-
men.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Volker Kauder für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1811213200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Wir diskutieren nicht zum ersten Mal hier im Deut-
schen Bundestag über Religionsfreiheit als Menschen-
recht oder über die Situation von Religionsgruppen
– Christen, Muslimen und anderen – in der ganzen Welt.
Aber zum ersten Mal legen wir, CDU/CSU, SPD und
Grüne, einen Antrag vor, der eine Aufforderung an die
Bundesregierung beinhaltet, bis zum nächsten Jahr,
2016, einen Bericht über die Situation der Religionsfrei-
heit in der ganzen Welt vorzulegen. Dies ist nicht zuletzt
– vielleicht kann man sogar sagen: in erster Linie – ein
Verdienst des Kollegen Beck von den Grünen. Es pas-
siert sehr selten, Herr Beck, dass ich Sie besonders zu lo-
ben habe;


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


aber es ist so, dass Sie diesen Antrag mit auf den Weg
gebracht und unterstützt haben. Das zeigt – von der ganz
linken Seite dieses Hauses einmal abgesehen –, dass dies
ein Thema ist, das alle im Deutschen Bundestag beschäf-
tigt.

Die CDU/CSU-Fraktion hat immer wieder Anträge
zu diesem Thema gestellt, vor allem angeregt durch die
Kollegin Steinbach. Wir haben immer wieder versucht,
deutlich zu machen, dass Religionsfreiheit nicht ein
Thema des christlichen Abendlandes ist. Wir haben im-
mer wieder deutlich gemacht, dass Religionsfreiheit ein
Menschenrecht ist. 1948 wurde die Menschenrechts-
charta der UNO verabschiedet, in der das Recht auf Reli-





Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)


gionsfreiheit festgelegt ist. Fast alle Staaten haben diese
Konvention angenommen. Umso mehr ist man über-
rascht, dass die Religionsfreiheit auch in Staaten verletzt
wird, die diese Konvention angenommen haben.

Warum jetzt dieser Antrag? Die Situation hat sich dra-
matisch verändert, um nicht zu sagen: dramatisch ver-
schlechtert. Dies hat auch etwas mit der Entwicklung im
Nahen Osten zu tun, mit dem IS. Vor einem Jahr ist der
IS in Mossul eingefallen. Mossul ist eine Stadt mit
3 Millionen Einwohnern, darunter vielleicht 40 000 bis
50 000 Christen und einige Tausend Jesiden. Mossul war
so etwas wie ein religiöses Mosaik im Nahen Osten: Ver-
schiedene Glaubensgruppierungen haben ohne Probleme
miteinander und nebeneinander gelebt. In Mossul lebten
Sunniten, Schiiten, Christen und Jesiden – das waren die
größten Religionsgruppen –; aber seit dem Eindringen
des IS ist die Situation eine ganz andere: Der IS hat die
Christen und die Jesiden vertrieben oder ermordet, sie
wurden vergewaltigt und auf dem Sklavenmarkt ver-
kauft – und dies alles im Namen der Religion. Jetzt gibt
es überhaupt keine Religionsfreiheit mehr, auch nicht für
die Angehörigen der unterschiedlichen Richtungen im
Islam. Es gibt nur noch die eine Auffassung, und wer der
nicht folgt, wird vertrieben oder umgebracht.

Wir sagen – so steht es auch in unserem Antrag –: Wir
wollen nicht, dass eine Richtung, eine Glaubensgruppe
besonders begünstigt wird. Wir wollen, dass jeder nach
seinem Glauben frei und unabhängig in der ganzen Welt
leben darf. – Darum geht es.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir hier in Deutschland sagen: Glaubensfreiheit
heißt, dass jeder im Rahmen unserer Gesetze seinen
Glauben hier frei leben kann. Deswegen dürfen Muslime
hier natürlich ihre Moscheen bauen – das ist ja überhaupt
keine Frage –, und auch Christen und andere Religions-
gruppen dürfen ihre Gottes- und Gebetshäuser bauen.

Religionsfreiheit heißt, dass dies für alle in aller Welt
gewährleistet sein muss. Ich will nur einen kleinen poli-
tischen Schlenker machen: Das, was bei uns erlaubt und
möglich ist, muss beispielsweise auch in der Türkei
möglich sein. Wie die Türken ihre Gotteshäuser und
Glaubenseinrichtungen hier bauen können, müssen – das
verlangen wir – in der Türkei auch die wenigen Christen,
die es dort noch gibt, ihre kleinen Kirchlein bauen dür-
fen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist der entscheidende Punkt. Um mehr geht es gar
nicht.

Wir sehen aber auch, dass es kleine Gruppen gibt, die
nicht in Frieden leben können, zum Beispiel die Bahai
und andere. Beispielsweise in Myanmar quälen die an
sich so friedlichen Buddhisten eine Gruppe von Men-
schen und vertreiben sie aus ihrer Heimat.

Da, glaube ich, muss die Botschaft sein: Wir wollen,
dass die Menschen ihren Glauben offen bekennen und

leben können oder auch das Recht haben, nichts zu glau-
ben. Die Religionsfreiheit ist das zentralste Menschen-
recht überhaupt, weil es nämlich über das eigene Leben
hier hinausweist, weil es die Menschen mit der Frage
konfrontiert: War es dies, oder gibt es noch etwas ande-
res? Deswegen ist es natürlich auch richtig, dass man in
einem gewissen Rahmen Religionsfreiheit und Religion
schützt.

Aber ich bin sehr vorsichtig, wenn es darum geht,
Blasphemiegesetze auszuweiten und Strafen neu einzu-
führen. Wir müssen sehen, dass ein Staat nicht alles ver-
bieten kann, was seine Werteordnung nicht richtig fin-
det. Deswegen sage ich: Es braucht auch mehr
Zivilcourage. Wir können nicht alles verbieten und im-
mer genau feststellen, ob etwas eine Gotteslästerung ist
oder nicht.

Ich kann auch nur sagen: Ich selber habe den Satz
„Ich bin Charlie“ nie unterschrieben.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das glaube ich sofort!)


Aber ich werde mich immer dafür einsetzen, dass „Char-
lie“ möglich ist und dass dies auch gemacht werden
kann. Zur gleichen Zeit warne ich aber auch davor, mit
den religiösen Gefühlen und religiösen Symbolen ande-
rer Gruppen zu spielen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Darin liegt ein großes Problem. Dies kann man nicht
staatlich verbieten, aber wir müssen aufstehen und dies
klar und deutlich sagen. Auf der anderen Seite geht es
aber auch gar nicht, dass Gruppierungen, die sich ge-
kränkt und beleidigt fühlen, selber zu Maßnahmen grei-
fen und aus Rache andere Menschen umbringen. Dazu
gibt es in keiner Religion ein Recht.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir sehen auch, dass im Namen von Religionen
schweres Unrecht getan wird. Deswegen verlange ich
und verlangen viele von uns, dass die Religionsfreiheit
gewährleistet wird. Denn dort, wo Religionsfreiheit
nicht besteht, gibt es keine wirkliche Freiheit – ohne
Religionsfreiheit keine Freiheit. Dort, wo die Menschen
ihren Glauben nicht frei leben können, kommt es zu
Konflikten.

Wir fordern die Bundesregierung jetzt auf, uns einen
Bericht vorzulegen. Natürlich gibt es im Menschen-
rechtsbericht immer wieder Hinweise, aber es gibt noch
keine systematische Darstellung zum Thema Religions-
freiheit in der Welt. Die UNO hat sich gerade jetzt im
März wieder mit dem Thema befasst. In jedem Jahr gibt
es einen Bericht zur Religionsfreiheit und zur Situation
der Religionen. Aber wirklich getan hat sich noch nichts.
Deswegen verspreche ich mir von diesem Bericht neben
der Information darüber, was in der Welt los ist, auch ei-
nen neuen Impuls. Ich finde, es ist völlig klar, völlig
richtig und auch notwendig: Zu einer wertegeleiteten
Außenpolitik, die wir hier im Deutschen Bundestag ma-
chen und die auch in der Koalitionsvereinbarung festge-





Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)


schrieben ist, gehört der Einsatz für das Recht auf Reli-
gionsfreiheit.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811213300

Die Kollegin Annette Groth hat für die Fraktion Die

Linke das Wort.

(Beifall bei der LINKEN)



Annette Groth (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811213400

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren auf

der Tribüne! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Frak-
tion Die Linke begrüßt alle Bemühungen, sich für die
Einhaltung der Menschenrechte weltweit einzusetzen.
Es ist aber schon sehr bemerkenswert, dass zum Thema
Religions- und Glaubensfreiheit die Vorlage eines eigen-
ständigen Berichts außerhalb des bestehenden Men-
schenrechtsberichts beantragt wird. Ich finde es schade,
dass zum Beispiel kein Bericht über die Menschen-
rechtsverletzungen durch transnationale Konzerne oder
über die Verletzung der sozialen und kulturellen Men-
schenrechte durch die Sparpolitik eingefordert wird. Das
kann ja aber noch kommen.


(Beifall der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE])

Die Fraktion Die Linke wird in den laufenden Beratun-
gen anregen, dass die Bundesregierung einen Bericht
über die weltweiten Menschenrechtsverletzungen von
Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern und von
Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechts-
verteidigern vorlegt. Ich hoffe, dass Sie unserem Vor-
schlag dann zustimmen werden.


(Beifall bei der LINKEN)

Die Fraktion Die Linke wird den vorliegenden Antrag

unterstützen, weil es uns, wie gesagt, um die Menschen-
rechte geht. Und die Religions- und Glaubensfreiheit ist
ein Menschenrecht; da gebe ich Herrn Kauder recht.

Wir hoffen, dass der geforderte Bericht der Bundesre-
gierung auch ein ausführliches Einleitungskapitel zur
Lage der Religions- und Glaubensfreiheit in Deutsch-
land haben wird; denn, liebe Kolleginnen und Kollegen,
bei uns ist eine stetige Zunahme von Rassismus feststell-
bar. An vielen Orten wird teilweise heftig gegen den Bau
von Moscheen protestiert. Kommunale Verwaltungen
versuchen, durch Bauvorschriften oder vorgeschobene
verwaltungstechnische Hindernisse die Errichtung
muslimischer Gotteshäuser in den Innenstädten zu ver-
hindern. Es ist nicht akzeptabel, dass Menschen musli-
mischen Glaubens ihre Moscheen in Industriegebieten
oder städtischen Randlagen bauen müssen, weil angeb-
lich nicht genügend Parkplätze zur Verfügung stehen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Negative Religionsfreiheit bedeutet für unsere Frak-

tion auch, dass eine konsequente Trennung von Staat
und Kirche auch bei uns umgesetzt werden muss.


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist nicht hinnehmbar, dass in einigen Bundesländern –
ich nenne hier stellvertretend Bayern – atheistisch orien-
tierte Menschen vor Gericht darum kämpfen müssen,
dass religiöse Symbole aus öffentlichen Einrichtungen
wie Schulen, Gerichten oder kommunalen Gebäuden
entfernt werden. Wir erwarten von der deutschen Politik,
dass sie die Trennung von Staat und Kirche endlich kon-
sequent umsetzt.


(Beifall bei der LINKEN)


Bei uns gibt es – man höre und staune – mehr als
120 verschiedene Glaubens- und Philosophierichtun-
gen. Der Staat muss allen Religionsgemeinschaften ge-
genüber die gleiche Distanz wahren und darf einzelne
Konfessionen nicht bevorzugen. Das schließt natürlich
nicht aus, dass wir gemeinsam gegen totalitäre, frauen-
feindliche und das friedliche Zusammenleben zerstö-
rende Tendenzen vorgehen müssen.


(Beifall bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist skandalös,
dass Saudi-Arabien und Katar – „Stabilitätsanker der
Region“, wie es die Bundesregierung nennt – seit vielen
Jahren dschihadistische Gruppen wie den IS unter ande-
rem mit Kriegsgerät unterstützen und gerade einen Krieg
mit bislang weit über 2 200 Toten gegen ihr Nachbarland
Jemen führen. Wenn an solche Länder trotzdem weiter-
hin Waffen aus unserem Land geliefert werden, macht
sich die Bundesregierung an der Verfolgung und Ermor-
dung von Menschen unterschiedlicher Religionszugehö-
rigkeit direkt mitschuldig.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir erwarten, dass alle Waffenexporte in die gesamte
Region sofort gestoppt werden.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Vor einigen Wochen habe ich die „Patenschaft“ für
den saudischen Blogger Raif Badawi übernommen, der
zu 1 000 Stockhieben, zehn Jahren Haft und einer hohen
Geldstrafe verurteilt worden ist. Die Verurteilung eines
Menschen zu einer barbarischen Strafe von 1 000 Stock-
schlägen wegen angeblicher Beleidigung des Islams
steht einer humanen und an Menschenrechten orientier-
ten Justiz diametral entgegen.


(Beifall des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Bundesregierung muss ihre Doppelstandards endlich
beenden und Saudi-Arabien mit klaren Worten zu einer
Änderung seines Justizsystems und einer deutlichen Ver-
besserung der Menschenrechtssituation drängen; sonst
machen wir uns unglaubwürdig.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Und was ist in Russland?)


Verehrte Damen und Herren, Menschenrechte müssen
für alle Menschen gelten. Das heißt, Diskriminierung





Annette Groth


(A) (C)



(D)(B)


aufgrund von Hautfarbe oder Religion muss geahndet
werden, egal wo und gegen wen sie sich richtet. Doppel-
standards in Bezug auf die Menschenrechtssituation leh-
nen wir auf das Schärfste ab.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811213500

Die Kollegin Kerstin Griese hat für die SPD-Fraktion

das Wort.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Kerstin Griese (SPD):
Rede ID: ID1811213600

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-

legen! Wir behandeln heute einen fraktionsübergreifen-
den Antrag, mit dem wir einen Bericht zur weltweiten
Lage der Religions- und Glaubensfreiheit fordern. Ich
bin froh, dass wir zwischen drei Fraktionen zu einer gu-
ten Einigung gekommen sind, und freue mich, dass auch
die Linksfraktion zustimmen will.

Auch ich will mich zuerst ganz herzlich bei Volker
Beck bedanken, dem religionspolitischen Sprecher der
Grünen, der diese Initiative ergriffen und die anderen
Fraktionen eingeladen hat. Ich bedanke mich auch herz-
lich bei meinem Kollegen Franz Josef Jung, dem Beauf-
tragten für Kirchen und Religionsgemeinschaften der
CDU/CSU-Fraktion, bei den Menschenrechtspolitikerin-
nen und -politikern meiner Fraktion, bei Frank Schwabe,
Rolf Mützenich und vielen anderen für die konstruktive
Zusammenarbeit bei der Erstellung dieses sicherlich et-
was ungewöhnlichen Antrags.

Wir bitten das Auswärtige Amt, einen Bericht vorzu-
legen, in dem die Lage und die Bemühungen der Bun-
desregierung um die Religions- und Glaubensfreiheit
weltweit dargestellt sind. Ich danke auch unserem Au-
ßenminister Frank-Walter Steinmeier herzlich dafür,
dass er eine große Sensibilität für dieses Thema beweist,
indem er auf seinen Reisen immer wieder auf die Einhal-
tung der Menschenrechte drängt, und möchte aus einer
Rede zitieren, die er zuletzt an der Universität in Tunis
bewusst als Christ in einem muslimischen Land gehalten
hat. Dort hat er gesagt – ich zitiere –:

Wer mit Religion Feindbilder schafft, liegt genauso
falsch wie, wer gegen Religion Feindbilder schafft!
Wer mit Religion aufhetzt, tut genauso übel wie,
wer gegen Religion aufhetzt!

Ich denke, damit hat er sehr klug das Problem beschrie-
ben, das in vielen Ländern der Region besteht.

Dass dieser Antrag von mehreren Fraktionen gestellt
worden ist, zeigt die überparteiliche Bedeutung dieses
elementaren Menschenrechts, der Religions- und Glau-
bensfreiheit, das sich in allen internationalen Menschen-
rechtsvereinbarungen auf der Ebene der Europäischen
Union, des Europarats und der Vereinten Nationen fin-
det. Mir ist wichtig, dass der Begriff der Religions- und
Glaubensfreiheit dabei in einem umfassenden Sinn zu
verstehen ist – so haben wir es auch im Antrag angelegt –:
Es geht zum Ersten um das Recht, einen Glauben zu bil-

den und Religion zu leben und auszuüben. Es geht zum
Zweiten darum – das ist aktuell in vielen Ländern ein le-
bensgefährliches Problem –, seine Religion wechseln zu
dürfen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es!)


Zum Dritten geht es um die negative Religionsfreiheit.
Auch das Nichtglauben muss selbstverständlich ge-
schützt und erlaubt sein. Gleichzeitig umfasst die Reli-
gions- und Glaubensfreiheit zwei Dimensionen: die indi-
viduelle, die des Einzelnen, der seinen Glauben lebt, und
die kollektive Ausübung, zum Beispiel den Bau von
Gotteshäusern. Dabei ist die Religionsfreiheit nicht
abhängig von der Größe der Gruppe, der diese Freiheit
gewährt wird; sie gilt immer.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Menschen, die ih-
ren Glauben leben, und ihre Religionsgemeinschaften
sind leider weltweit einer Vielzahl von Bedrohungen
ausgesetzt. Sie werden schikaniert, bedrängt, unter-
drückt, repressiv behandelt, verfolgt und angegriffen,
und es geht so weit, dass sie an Leib und Leben bedroht
werden. Deshalb sage ich ganz klar: Unsere Solidarität
gilt denjenigen, die von diesen Bedrohungen und Verfol-
gungen betroffen sind.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In unserem Antrag nehmen wir Menschenrechtsver-
letzungen wie in Afrika, in Asien oder im Nahen und
Mittleren Osten in den Blick. Wir wollen aber ausdrück-
lich nicht davon absehen, dass auch in Europa das Recht
auf Religionsfreiheit immer wieder eingefordert und ge-
schützt werden muss. Deshalb soll es in diesem Bericht
ausdrücklich um die Religionsfreiheit generell gehen
und nicht ausschließlich um verfolgte und bedrängte
Christen, auch wenn sie eine sehr große Gruppe der auf-
grund ihrer Religion Verfolgten sind. Wir wissen – das
ist schon angeführt worden –, dass zurzeit vor allem in
den Gebieten, in denen der IS herrscht und Menschen
bedroht, die Lage ganz besonders gefährlich ist. Der IS
bedroht gleichermaßen Schiiten, Jesiden und Christen –
alle, die in seinen Augen andersgläubig sind. Die Be-
richte über Verfolgung, Vertreibung, Zerstörung von
Gotteshäusern, Gefangenschaft und massenhafte Verge-
waltigungen von Mädchen und Frauen erschüttern uns
zutiefst.

Wir erleben, dass die Zahl der gewalttätigen Über-
griffe, für deren Begründung die Religion instrumentali-
siert wird, zugenommen hat. Heiner Bielefeldt, der
Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen über Reli-
gions- und Weltanschauungsfreiheit, hat in seinem sehr
lesenswerten Bericht vor dem UN-Menschenrechtsrat
zum „Umgang mit kollektiven Erscheinungsformen reli-
giösen Hasses“ darauf aufmerksam gemacht. Er hat
deutlich gemacht, dass Religion nie die alleinige Ursa-
che für Konflikte ist, dass sie oft instrumentalisiert und
zur Begründung von Hass und Gewalt herangezogen
wird. Das führt zu massiven Menschenrechtsverletzun-
gen. Wichtig ist hier, die Ursachen von Gewalt zu unter-
suchen, um Gewalt im Namen der Religion zu verhin-
dern. Es geht auch darum, immer wieder zu betonen,





Kerstin Griese


(A) (C)



(D)(B)


dass Gewalt im Namen der Religion nicht historisch in
einer Religion angelegt ist – leider haben das viele Reli-
gionen in ihrer Geschichte erlebt –, sondern sich Men-
schen dafür entscheiden und daher auch die Verantwor-
tung für diese Gewalt tragen. Deshalb müssen wir, wenn
wir zu einer nachhaltigen Prävention und zu Lösungsan-
sätzen gelangen wollen, die Faktoren untersuchen, die zu
dieser Gewalt führen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Als typische Faktoren nennt Heiner Bielefeldt den Ver-
trauensverlust in den Rechtsstaat, aber auch eine engstir-
nige, oft patriarchalische und polarisierende Auslegung
religiöser Texte sowie die ökonomische und politische
Diskriminierung einer religiösen Gruppe.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Religionsfreiheit
heißt immer auch die Religionsfreiheit der anderen, um
ein Zitat zu bemühen. Es geht darum, ein Leben in Tole-
ranz und Respekt voreinander zu führen. Ein gutes Mit-
einander der Religionen ist der Schlüssel zum Frieden.
Da hilft es auch nicht, wenn Angehörige einer Religion
zu Opfern und Angehörige einer anderen Religion zu
Tätern gemacht werden. Religionen dürfen nicht gegen-
einander ausgespielt werden. Unser Ziel muss es sein, im
Sinne der Religionsfreiheit ein gutes und friedliches Mit-
einander zu fördern und es in einen menschenrechtlichen
Zusammenhang zu setzen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Seit 2013 gibt es von den beiden großen Kirchen den
„Ökumenischen Bericht zur Religionsfreiheit von Chris-
ten weltweit“, der in Deutschland von der EKD und der
Bischofskonferenz herausgegeben wird und den ich aus-
drücklich loben möchte. Er ist wichtig, weil es eine wis-
senschaftliche Ausarbeitung ist. In anderen Berichten
werden eher populistisch Indizes und Rankinglisten dar-
gestellt. Der Bericht der Bundesregierung, den wir mit
unserem Antrag fordern, soll eine sinnvolle Ergänzung
dieses Ökumenischen Berichts sein. Durch die genauere
Untersuchung der Ursachen kann geholfen werden, die
Religions- und Glaubensfreiheit weltweit zu stärken.

Zum Abschluss mein herzlicher Dank an alle, die sich
in verschiedenen Regionen dieser Welt für die Durchset-
zung von Menschenrechten und ganz besonders für die
Durchsetzung der Religionsfreiheit engagieren. Meine
Solidarität gilt allen, die wegen ihres Glaubens bedrängt
oder verfolgt werden. Auf ihr Schicksal wollen wir auf-
merksam machen, damit so etwas nicht wieder passiert.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811213700

Das Wort hat der Kollege Volker Beck für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811213800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch

ich möchte mit einem Dank beginnen. Ich bedanke mich
bei den Koalitionsabgeordneten, insbesondere bei
Kerstin Griese und Franz Josef Jung, dass sie meinen
Vorschlag aufgegriffen haben, die Initiative für einen
Bericht zur weltweiten Lage der Religions- und Glau-
bensfreiheit zu ergreifen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


In den Vereinigten Staaten von Amerika wird zu diesem
Thema regelmäßig ein Bericht erstellt, den ich für eine
gute Grundlage zur Versachlichung der Debatte halte.
Ich hoffe, dass der im nächsten Jahr vorliegende Bericht
der erste Schritt dahin ist, dass Deutschland diesem Bei-
spiel folgt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Religionsfreiheit ist ein zentrales Menschenrecht.
Kerstin, du hast es gesagt: Religionsfreiheit ist immer
die Freiheit der anderen, die respektiert werden muss.
Der Sinn von Religionspolitik ist Religionsfreiheit.
Gleichzeitig wissen wir, dass auf dieser Welt viele reli-
giöse Minderheiten verfolgt werden und auch Minder-
heiten innerhalb der Mehrheitsreligionen – oftmals mit
anderen Auslegungen, anderen Praktiken, anderen Obe-
dienzen – Gefahr laufen, verfolgt zu werden. Deshalb ist
es wichtig, dass wir uns dieses Themas intensiver anneh-
men.

Mir war es wichtig, im Antrag deutlich zu machen,
dass es um alle drei Dimensionen der Religionsfreiheit
geht: die individuelle Religionsfreiheit, seinem Glauben
gemäß zu leben, sich zu ihm zu bekennen, den Praktiken
seiner Religion nachzugehen, die kollektive Religions-
freiheit, als Glaubensgemeinschaft religiöse Gebäude zu
errichten, zu missionieren, sich in der Zivilgesellschaft
zu artikulieren, und die negative Glaubensfreiheit, also
die Freiheit, nicht von den Glaubensvorstellungen ande-
rer in seinem Leben bedrängt, verfolgt oder schikaniert
zu werden.

Ich glaube, wenn wir es richtig angehen und diese De-
batte nicht nur unter dem Rubrum der Verfolgung von
Christen führen, sondern ernsthaft auf das Recht auf
Glaubensfreiheit von Christen, Muslimen, Hindus,
Bahai und anderen Wert legen, dann könnte das außen-
politisch vielleicht zu einer Brücke zwischen den Kultu-
ren im Dialog über Menschenrechte werden. Nicht jede
Religion ist irgendwo auf der Welt Mehrheitsreligion.
Aber jede Religion ist irgendwo auf der Welt in der
Minderheit und auf den Respekt der Mehrheit in der
Ausübung ihrer Religion angewiesen. Das könnte eine
Brücke zwischen den Kulturen sein, mit der man viel-
leicht Verständnis in Regionen und in Staaten weckt, die
die Religionsfreiheit der Minderheiten heute noch mit
Füßen treten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)






Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


Verfolgung aufgrund der Religion ist leider bitterer
Alltag. Im Iran sitzt der gesamte Führungskreis der
Bahai-Religion im Gefängnis und wurde zu 20 Jahren
Haft verurteilt – für nichts anderes als dafür, Mitglied
der Bahai-Religion zu sein. Im Sudan sitzen gegenwärtig
zwei südsudanesische Pastoren, Michael Yat und Peter
Reith, ein und laufen Gefahr, dass an ihnen die Todes-
strafe vollstreckt wird. Wofür? Michael Yat war bei ei-
nem Besuch im Sudan am 21. Dezember verhaftet wor-
den, nachdem er am selben Tag in einer Kirche in
Khartoum gepredigt hatte.

Sie haben Saudi-Arabien angesprochen. In Saudi-
Arabien ist es ein Straftatbestand, eine Bibel zu besitzen
oder an einem Gottesdienst christlicher Konfession teil-
zunehmen. Der Übertritt vom Islam zum Christentum
oder zu einer anderen Religion wird mit dem Tode be-
straft. Insofern finde ich es richtig, Herr Kauder, dass wir
nicht nur die Panzerlieferung, die wir jetzt abgesagt ha-
ben, sondern jede Waffenlieferung an ein solches Verfol-
gerland einstellen. Ansonsten ist unsere Politik für ver-
folgte Christen und für Glaubensfreiheit leider nicht
ganz so glaubwürdig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Aber es geht nicht nur um verfolgte Gläubige. Es geht
auch um Verfolgung im Namen des Glaubens. Dabei
geht es nicht nur um den IS oder islamistische Gruppie-
rungen; das ist auch ein Problem innerhalb des Christen-
tums. Wenn in Uganda unter Einfluss amerikanischer
Evangelikaler versucht wird, jedes Reden über Homose-
xualität zu bestrafen, nachdem dort für homosexuelle
Handlungen schon lebenslange Freiheitsstrafen im Straf-
recht niedergelegt sind, dann ist das eine Verletzung der
negativen Glaubensfreiheit der betroffenen Menschen.
Wenn in Nigeria die katholische Bischofskonferenz ein-
mütig den Staatspräsidenten dafür lobt, dass er ein Anti-
homosexuellengesetz unterzeichnet, dann ist das eine
Verletzung der Glaubensfreiheit.

Aber wir sollten nicht nur auf andere zeigen – das ist
wichtig für die Glaubwürdigkeit unserer Politik als Eu-
ropäer für Glaubensfreiheit – und so tun, als ob das alles
nur außerhalb des europäischen Kontinents ein Problem
sei. Auch in unserem Land wird diskutiert, ob Muslime
Moscheen mit Minaretten bauen dürfen, und in der
Schweiz wurde mit einem Plakat das Tragen von Schlei-
ern durch Frauen denunziert und damit antimuslimische
Hetze propagiert und die Religionsfreiheit der Muslime,
die auch den Bau von Moscheen mit Minaretten umfasst,
infrage gestellt.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811213900

Kollege Beck, achten Sie bitte auf die Zeit.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811214000

Ich komme zum Schluss. – Ich finde es gut, dass der

Deutsche Bundestag in der Begründung des Antrags
feststellt, dass es auch zur Glaubensfreiheit gehört, ent-
sprechend den Sitten und Gebräuchen einer Religionsge-
meinschaft Gotteshäuser zu errichten.

Ich glaube, es ist ein guter Tag für die Religionsfrei-
heit, dass wir dies in diesem Hohen Hause einmütig nach
außen tragen und damit vielleicht auch einen Beitrag zur
Befriedung der Debatte in unserem Land leisten.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811214100

Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. Franz

Josef Jung das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1811214200

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Recht ist
darauf hingewiesen worden, dass die Religions- und
Glaubensfreiheit ein elementares Menschenrecht dar-
stellt und in alle internationalen Menschenrechtsverein-
barungen aufgenommen wurde. Trotzdem wird die Reli-
gionsfreiheit im Nahen und Mittleren Osten, in Afrika,
Zentralasien, Nordkorea und China mit Füßen getreten.
Deshalb ist es notwendig und wichtig, dass wir uns dafür
einsetzen, der Religionsfreiheit weltweit eine größere
Akzeptanz zu verschaffen, auch durch den Bericht, den
wir von der Bundesregierung einfordern, und dass wir
uns inhaltlich stärker mit dem Thema auseinandersetzen
wollen. Dies dient den Menschen, der Freiheit und einer
friedlichen Entwicklung in dieser Welt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Es ist darauf hingewiesen worden: In Nordkorea wird
der Besitz einer Bibel mit dem Tode bestraft. Der men-
schenverachtende Terror von ISIS gegen Jesiden, Chris-
ten und Schiiten ist in diesem Zusammenhang leider
Gottes festzustellen. Herr Beck, Sie haben recht: Die Re-
ligions- und Glaubensfreiheit gilt für alle Religionen.
Aber nach den Berichten, die wir zur Kenntnis nehmen,
sind immerhin 100 Millionen Christen auf dieser Welt
von Verfolgung betroffen. Der Global Peace Index stellt
fest: Wo die Freiheit der Religion bedroht ist, ist auch
die friedliche Entwicklung eines Landes bedroht. – Des-
wegen ist es notwendig, dass wir der Religionsfreiheit
auch im politischen Prozess eine Stimme geben, und
zwar weltweit.

Papst Franziskus hat bei der Heiligsprechung von
Joseph Vaz in Sri Lanka, der sich trotz Verfolgung für
das friedliche Zusammenleben der Religionen eingesetzt
hat, zu Recht formuliert: Religionsfreiheit ist ein fun-
damentales Menschenrecht. – Er hat das auch in der Li-
turgie zu Ostern deutlich angesprochen. Ich hätte mir
gewünscht, dass auch in der einen oder anderen katholi-
schen Kirche in Deutschland das deutlicher artikuliert
worden wäre. Auch der evangelische Kirchentag in
Stuttgart hätte das Thema mehr in den Mittelpunkt rü-
cken können.


(Beifall bei der CDU/CSU)






Dr. Franz Josef Jung


(A) (C)



(D)(B)


Nach Artikel 4 unseres Grundgesetzes gehört das
Recht jedes Einzelnen, einen Glauben zu bilden, zu
haben, zu äußern und entsprechend zu handeln, aber
auch die Religion zu wechseln oder keinen Glauben aus-
zuüben, zur Religionsfreiheit. Wir bekennen uns als
Christdemokraten eindeutig dazu, diesem Recht welt-
weit mehr Aufmerksamkeit und Akzeptanz zu verschaf-
fen. Sinn und Zweck unseres Antrags ist, dass wir durch
einen Bericht der Bundesregierung zur Religions- und
Glaubensfreiheit die Möglichkeit haben, dies mehr in die
Öffentlichkeit zu tragen, hier darüber zu debattieren und
der Religionsfreiheit mehr Akzeptanz zu verschaffen.
Die Religionsfreiheit ist die tragende Säule für eine frei-
heitliche, für eine tolerante Gesellschaft. Deshalb ist es
wichtig, dass wir uns dieses Themas mehr annehmen.

Ich darf ein Zitat von Papst Benedikt, das dies unter-
streicht, anführen:

Die Religionsfreiheit ist eine echte Waffe des Frie-
dens mit einer geschichtlichen und prophetischen
Mission. Sie bringt in der Tat die tiefsten Eigen-
schaften und Möglichkeiten des Menschen, die die
Welt verändern und verbessern können, zur Geltung
und macht sie fruchtbar. Sie erlaubt, die Hoffnung
auf eine Zukunft der Gerechtigkeit und des Frie-
dens zu nähren …

Der Artikel unseres Grundgesetzes zur Religionsfrei-
heit ist so formuliert, dass niemand befürchten muss,
dass seine Kinder nicht in die Schule gehen dürfen, nur
weil sie eine bestimmte Religion ausüben, mit Gefäng-
nis, Folter oder sogar mit dem Tod bedroht zu werden,
weil er eine bestimmte Religion ausübt, oder dass seine
Familie aus religiösen Gründen bedroht wird. Die Bot-
schaft unseres Grundgesetzes ist hier eindeutig. Ich füge
hinzu: Angesichts der Religionsfreiheit und der anderen
Werte unseres Grundgesetzes gilt es, deutlich zu
machen, dass die Scharia keinen Platz in unserer Werte-
ordnung hat; denn sie hat aus meiner Sicht nichts mit
Religionsfreiheit zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das menschenverachtende Vorgehen von ISIS bedarf
deshalb eines klaren Widerstandes durch eine wertege-
bundene Außen- und Sicherheitspolitik.

Lassen Sie mich noch Folgendes erwähnen: Unser
Fraktionsvorsitzender Volker Kauder hat zu Recht Lob
an andere Kollegen verteilt. Aber gerade er setzt sich
schon seit Jahren entscheidend für die Religionsfreiheit
ein und gibt ihr eine Stimme. Deshalb möchte ich von
diesem Pult aus Volker Kauder für sein Engagement zu-
gunsten der Religionsfreiheit herzlich danken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir haben in unserer Fraktion einen Stephanuskreis,
der sich beispielsweise mit der Verfolgung von Christen
in dieser Welt auseinandersetzt. Wir führen auch im in-
ternationalen Rahmen Gespräche, um der Religionsfrei-
heit mehr Geltung zu verschaffen. Wir haben vor, im
September einen internationalen Kongress in New York
durchzuführen, auf dem wir das Thema der Religions-

freiheit in den Mittelpunkt stellen, um noch mehr dafür
Sorge zu tragen, dass sowohl der Durchsetzung als auch
der Akzeptanz der Religionsfreiheit weltweit Geltung
verschafft wird. Das ist, glaube ich, der richtige Weg, um
letztlich zu einer friedlicheren Entwicklung in unserer
Welt beizutragen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich glaube, dass wir Parlamentarier alle die Chance
nutzen sollten, gerade auch in den internationalen Ge-
sprächen, uns für die Religionsfreiheit einzusetzen und
uns für sie zu engagieren. Mit dem Eintreten für das fun-
damentale Menschenrecht der Religionsfreiheit engagie-
ren wir uns für eine friedlichere, für eine freiheitlichere
Welt. Dies sollte uns, denke ich, Auftrag und Verpflich-
tung zugleich sein. Deshalb bitte ich Sie, unserem An-
trag zur weltweiten Durchsetzung der Religionsfreiheit
zuzustimmen.

Besten Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811214300

Das Wort hat der Kollege Dietmar Nietan für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dietmar Nietan (SPD):
Rede ID: ID1811214400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen!

Wo die Religionsfreiheit verletzt wird, ist es in der
Regel auch um die generelle Wahrung der Men-
schenrechte nicht gut bestellt.

So lautet eine der Schlussfolgerungen des „Ökumeni-
schen Berichts zur Religionsfreiheit von Christen welt-
weit“, den vor zwei Jahren die Deutsche Bischofskonfe-
renz und der Rat der Evangelischen Kirche in
Deutschland gemeinsam vorgelegt haben. Dieses Zitat
macht deutlich, dass Religionsfreiheit nicht irgendein
schönes Menschenrecht, sondern ein elementares
Menschenrecht ist; denn für gläubige Menschen ist ihre
Religion, ihr Glaube konstitutiver Teil ihres Mensch-
seins. Wenn man den einschränkt oder ihnen diesen Teil
nimmt, ist das ein Angriff auf das elementare Mensch-
sein.

Weil das so ist, macht es auch Sinn – deshalb bin ich
dankbar für diesen Antrag –, dass die Bundesrepublik ei-
nen entsprechenden Bericht verfasst. Darin sehe ich eine
Chance; denn wenn die Bundesregierung als Organ eines
säkularen, weltanschaulich neutralen Staates einen sol-
chen Bericht vorlegt, dann steht er nicht im Verdacht,
eine bestimmte Religion zu bevorzugen oder zu benach-
teiligen. Es muss dann aber auch deutlich werden, dass
es nicht darum geht, irgendeine Religion in den Vorder-
grund zu stellen. Wir machen uns nicht zum Anwalt ei-
ner Religion, sondern zum Anwalt von Menschen, denen
ein elementares Grundrecht genommen wird und die we-





Dietmar Nietan


(A) (C)



(D)(B)


gen ihres Glaubens oft sogar verfolgt und umgebracht
werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Frank Heinrich [Chemnitz] [CDU/CSU])


Mindestens genauso wichtig für unsere Glaubwürdig-
keit als Anwalt für Religionsfreiheit ist aber auch, wie
wir es mit der Religionsfreiheit im eigenen Lande halten.
Hier geht es nicht darum, dass es etwa in Deutschland
staatliche Verfolgung im Sinne, dass hier Religionsfrei-
heit eingeschränkt wird, geben würde, sondern es geht
mir viel mehr um die Frage der Haltung, des Umgangs
und der Toleranz gegenüber der Ausübung von Religion
im öffentlichen Raum. Religion ist eben keine Privat-
sache, die man aus dem öffentlichen Raum verbannen
kann. Religionsfreiheit ist in Deutschland aus meiner
Sicht schon dann tangiert, wenn zum Beispiel eine junge
Christin in der Mensa einer öffentlichen Universität als
rückschrittlich betrachtet wird und sich dumme Kom-
mentare anhören muss, wenn sie sich vor dem Essen be-
kreuzigt. Hier müssen wir uns überlegen, ob wir in der
Gesellschaft unterhalb der Schwelle von Übergriffen
eine Tendenz zu wachsender Religionsfeindlichkeit se-
hen, die darin besteht, dass Menschen, die religiös sind,
als von vorgestern, als nicht modern abgestempelt wer-
den, als Menschen, die mit dem Zeigen ihres Glaubens
in der Öffentlichkeit das allgemeine Wohlbefinden
stören. Ich finde, da müssen wir als Politik mit gutem
Beispiel vorangehen.

Was meine ich damit? Wir müssen zum Beispiel si-
cherstellen, dass sich jüdische Mitbürger in diesem Land
überhaupt nicht die Frage stellen, ob sie, wenn sie aus
dem Haus gehen, ihre Kippa aufsetzen oder aus Sicher-
heitsgründen nicht. Wir müssen sicherstellen, dass wir
auch nicht der Versuchung unterliegen, im politischen
Klein-Klein aus Ängsten Kapital zu schlagen, wenn ir-
gendwo vor Ort die Frage eines Moscheebaus, der auch
städtebaulich prägend sichtbar ist, verunglimpft wird.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen aber auch überlegen, wie wir bei allen
unterschiedlichen Meinungen, die es dazu geben muss,
zum Beispiel auch mit der Frage umgehen, dass Amts-
trägerinnen und Amtsträger religiöse Symbole tragen.
Ich sage sehr deutlich: Wer meint, dass Lehrerinnen
muslimischen Glaubens kein Kopftuch in der Schule tra-
gen dürfen, der muss dann auch kontrollieren, ob Lehre-
rinnen und Lehrer christlichen Glaubens mit einer Hals-
kette, an der ein Kreuz hängt, in den Unterricht gehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


An dieser Stelle warne ich davor, dass eine Debatte,
in der man glaubt, das Religiöse aus dem Raum des Öf-
fentlichen verbannen zu können, am Ende dazu führt,
dass wir über ganz andere Formen von Religionsfeind-
lichkeit auch hier bei uns reden müssen. Ich glaube, des-
halb ist es wichtig, dass auch wir als Politik für religiöse
Toleranz eintreten, allerdings gilt das auch für Kirchen
und Religionsgemeinschaften. Auch diese müssen in ih-

rem täglichen Reden, aber auch Tun zeigen, dass sie ge-
genüber Andersgläubigen Toleranz üben, dass sie aber
auch offen mit denen umgehen, die nicht glauben. Ich
bin mir nicht bei jeder Äußerung von Religionsgemein-
schaftsvertretern sicher, dass das verinnerlicht worden
ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bundespräsident
Johannes Rau hat im Jahre 2004 in einer großen Rede
zum 275. Geburtstag Gotthold Ephraim Lessings Fol-
gendes gesagt:

Es geht um die Frage: Wie können Menschen mitei-
nander leben, die ganz unterschiedliche Dinge für
wahr und für richtig halten und auch manches tun,
was die jeweils anderen für unbegreiflich finden?

Wenn wir im eigenen Land diese Frage nach der Tole-
ranz und Wertschätzung des anderen in vorbildlicher
Weise angehen, werden wir auch in unserem Bemühen
um weltweite Religionsfreiheit glaubwürdig und damit
erfolgreich sein.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811214500

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/5206 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zur Stärkung der Gesund-

(Präventionsgesetz – PrävG)


Drucksache 18/4282

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Gesundheit (14. Ausschuss)


Drucksache 18/5261


(8. Ausschuss)


Drucksache 18/5262

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Gesundheit

(14. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit
Wöllert, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion DIE LINKE





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


Gesundheitsförderung und Prävention
konsequent auf die Verminderung sozial
bedingter gesundheitlicher Ungleichheit
ausrichten

– zu dem Antrag der Abgeordneten Kordula
Schulz-Asche, Maria Klein-Schmeink,
Dr. Harald Terpe, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gesundheit für alle ermöglichen – Gerech-
tigkeit und Teilhabe durch ein modernes
Gesundheitsförderungsgesetz

Drucksachen 18/4322, 18/4327, 18/5261

Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen
vier Änderungsanträge und ein Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parla-
mentarische Staatssekretärin Ingrid Fischbach.

I
Ingrid Fischbach (CDU):
Rede ID: ID1811214600


Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! „Das Präventionsgesetz kommt.“ So
spontan habe ich vor zwölf Monaten auf eine Frage bei
einer großen Veranstaltung geantwortet. Sie können sich
vorstellen: Ich habe sehr viele ungläubige Blicke und
auch Lacher auf meiner Seite gehabt, weil alle wussten:
„Das ist eine Never-ending Story“, und ich wurde ge-
fragt: Und Sie meinen, das bekommen Sie jetzt unter
Dach und Fach? – Mein Optimismus hat sich ausgezahlt.
Wir sind heute hier, um in zweiter und dritter Lesung ein
Gesetz zu beraten, das wirklich ein gutes Gesetz gewor-
den ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich gebe zu: Es ist ein spät geborenes Kind, aber lie-
ber spät geboren als gar nicht. Insofern freue ich mich,
dass wir jetzt zum dritten Mal in diesem Haus das Prä-
ventionsgesetz beraten. Aber die Vorlage, die wir haben,
ist so gut, dass ich sicher bin, dass diesmal alles klappen
wird und auch der Bundesrat seine Zustimmung gibt.

Alle Beteiligten haben unterschiedliche Interessen
verfolgt; gar keine Frage. Aber ich kann an dieser Stelle
nur sagen: Die Zusammenarbeit war sehr gut, weil alle
ein Ziel im Auge hatten, nämlich die Verabschiedung
dieses Gesetzes. Deshalb möchte ich an dieser Stelle
ganz herzlich den Berichterstattern Rudolf Henke, Erich
Irlstorfer und Helga Kühn-Mengel, aber auch Jens
Spahn, Hilde Mattheis, Georg Nüßlein und Karl
Lauterbach danken. Wir haben es in den Runden immer
wieder geschafft, trotz kritischer Auseinandersetzungen
in der Sache zu glätten. Deshalb ein ganz herzliches
Dankeschön!

Ein großes Dankeschön gilt aber auch den Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeitern in den Abgeordnetenbüros und
vor allen Dingen im Ministerium. Was das Ministerium

in kürzester Zeit, unter Zeitdruck, in dem Stress immer
wieder geleistet hat, was dort gearbeitet wurde, war
mehr als das normale Maß. Deswegen an dieser Stelle
ein ganz herzliches Dankeschön auch an die Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter sowie an die Leitung des Ministe-
riums!


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Gesetz ist ein
überfälliger Schritt; denn es geht den Weg, den wir ge-
hen wollen, nämlich Krankheiten vorzubeugen und end-
lich förderliche Bedingungen für die Gesundheit zu ge-
stalten. Besonders hervorheben möchte ich die Stärkung
der Prävention in den Lebenswelten, die diesen Gesetz-
entwurf prägt. Wir wissen: Wir müssen dort ansetzen,
wo die Menschen sind, wo sie zu Hause sind, wo sie sich
aufhalten. Nur dann können wir sie mitnehmen. Sie
kommen nicht dorthin, wohin wir wollen. Die Men-
schen, die heute schon Prävention betreiben, werden dies
auch weiter tun, aber wir müssen auch die Menschen im
Blick haben, die ungünstigere Gesundheitschancen ha-
ben. Deshalb ist es wichtig, dass wir in die Lebenswelten
gehen, das heißt in die Kita, in den Kindergarten, in die
Schule, in die Quartiere, in die Städte, in die Betriebe,
aber auch in die Alten- und Pflegeheime. Gerade dort,
wo Menschen direkt erreicht werden müssen, müssen
– das ist ganz wichtig und auch ein Kennzeichen dieses
Gesetzentwurfs – verlässliche und nachhaltige Struktu-
ren aufgebaut werden und vorhanden sein.

Es braucht eine kluge und klug abgestimmte Ge-
samtstrategie, um dieses gute Gesetz dann auch umset-
zen zu können. Wir werden erstmals in Deutschland eine
nationale Präventionsstrategie haben, an der alle Akteure
in der Prävention und Gesundheitsförderung beteiligt
sind. Das ist wichtig; denn wir müssen die Ressourcen
bündeln, und wir müssen die Aktivitäten in den Lebens-
welten steuern.

Die zielgerichtete und effektive Koordinierung und
Kooperation der Maßnahmen sind Voraussetzung für
den Erfolg. Es gibt vieles, aber es muss koordiniert
werden. Es muss zwischen den einzelnen Beteiligten
kooperiert werden, damit wir genau das erreichen, was
wir wollen, nämlich einen vernünftigen Weg in den Le-
benswelten umsetzen zu können. Es ist wichtig, dass
bewährte Angebote und Strukturen erhalten bleiben,
weiterentwickelt werden, angepasst werden und dass
dort, wo es nötig ist, auch neue Wege gegangen werden.
Darauf kommt es an.

Die Verhaltensprävention, meine Damen und Herren,
findet sich in dem Gesetz an vielen Stellen. Ich möchte
zwei Bereiche nennen, einmal die Fortentwicklung der
Früherkennungsuntersuchungen und zum anderen die
Stärkung des Impfwesens.

Bei den Früherkennungsuntersuchungen soll jetzt ein
stärkeres Augenmerk auf individuelle Belastungen und
auch auf Risikofaktoren in den Familien gerichtet wer-
den. Das heißt, man nimmt nicht nur das Kind als sol-
ches in den Blick, sondern auch das Umfeld und die





Parl. Staatssekretärin Ingrid Fischbach


(A) (C)



(D)(B)


Strukturen, die es prägen werden. Das ist wichtig, um
Krankheiten, die es in der Familie gibt, früh genug vor-
beugen zu können, dem Kind Schutz zu geben und ihm
zu helfen.

Bei den Impfungen gehen wir von der Erkenntnis aus,
dass der effektivste Schutz gerade bei übertragbaren
Krankheiten immer noch die Impfung ist. Das ist Pri-
märprävention. Deshalb haben wir ein Konzept entwi-
ckelt, mit dessen Regelungen das Impfen weitreichend
gestärkt wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Statt einer Impfpflicht, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen, setzen wir weiterhin auf Aufklärung, Informa-
tion und natürlich auf mündige Bürgerinnen und Bürger.

Meine Damen und Herren, wenn man das umsetzen
will, dann braucht es dazu Geld. Es ist klar, dass die Mit-
tel, die bisher für Prävention ausgegeben wurden, nicht
ausreichen. Deshalb werden die Mittel für die Präven-
tion zukünftig auf mehr als eine halbe Milliarde Euro
aufgestockt. Das heißt, die Krankenkassen und die
Pflegekassen werden demnächst mehr als eine halbe
Milliarde Euro für Prävention bereitstellen – und das ins-
besondere in den Lebenswelten; denn das ist der Haupt-
ansatz unseres Gesetzentwurfs. Allerdings sind es Richt-
werte und Mindestbeträge. Wenn die Krankenkassen
bereit sind, mehr auszugeben, herzlich gern! Dann
würden wir uns freuen. Wie gesagt, es sind nur Richt-
werte und Mindestbeträge. Wir werden auch die gesund-
heitsbezogene Selbsthilfe stärken. Das heißt, hier
werden wir den Selbsthilfeorganisationen, Selbsthilfe-
gruppen und den Selbsthilfekontaktstellen künftig etwa
30 Millionen Euro mehr zur Verfügung stellen.

Meine Damen und Herren, wir können gute Gesetze
verabschieden. Wir können gute Bedingungen formulie-
ren. Wenn es aber um die Umsetzung geht, dann kann
die Politik das nicht alleine. Das heißt, wir alle müssen
es tun. Und das werden wir tun müssen; denn der Pro-
zess ist mit dem Gesetzentwurf nicht zu Ende, sondern
er fängt jetzt erst an. Ich lade Sie alle dazu ein, mitzuma-
chen. Ich glaube, es geht nur dann, wenn wir alle zusam-
men bereit sind, den Neuanfang zu wagen, um dann auch
gemeinsam auf dem Erfolgskurs zu sein. In diesem
Sinne: Stimmen Sie diesem Gesetzentwurf zu! Er ist gut,
und er hilft den Menschen in unserem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811214700

Die Kollegin Birgit Wöllert hat für die Fraktion Die

Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Birgit Wöllert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811214800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Gäste auf der Zuschauertribüne! Das
Gesetz ist neu, aber nicht auf dem neuesten Stand. Des-
halb ist es auch nicht gut. So kurz könnten wir das jetzt
fassen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist aus zwei Gründen nicht auf dem neuesten
Stand: Es ist erstens nicht auf dem neuesten Stand der
Wissenschaft; das hat uns die Anhörung bewiesen. Es ist
zweitens auch nicht auf dem neuesten Stand der interna-
tionalen politischen Anforderungen. Die sind so neu
nicht. Die gelten schon seit der Ottawa-Charta von 1986.
Ich möchte Ihnen das ganz gern erklären. 1986 hat auch
die Bundesrepublik Deutschland zugestimmt, dass die
Regierungen beauftragt werden, Voraussetzungen zu
schaffen, Menschen zu befähigen, ihr größtmöglichstes
Gesundheitspotenzial zu verwirklichen. In Jakarta wurde
1997 beschlossen und dann so formuliert, dass die Ge-
sundheitsförderung als Prozess, in dem die Menschen
die bestimmenden Faktoren für ihre Gesundheit selbst
beeinflussen, gesehen wird. Das heißt also, sie sind
selbst die Akteure ihres Handelns. Als Ergebnis der
jüngsten Weltgesundheitskonferenz, die im Juni 2013 in
Helsinki stattgefunden hat, hat auch die Bundesrepublik
Deutschland dem Statement zugestimmt, in dem unter-
strichen wird, dass Lebensbedingungen so verändert
werden müssen, dass sozial bedingter Ungleichheit von
Gesundheit entgegengewirkt werden kann. Keines dieser
Ziele wird in diesem Gesetz umgesetzt, und auch des-
halb ist es kein gutes Gesetz.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie definieren in Ihrem Gesetzentwurf Gesundheits-
förderung als selbstbestimmtes gesundheitliches Han-
deln der Versicherten. Sie meinen die gesetzlich Versi-
cherten. Ich bin gemeint, viele von Ihnen vielleicht auch.
Etliche sind nicht gemeint. Denn längst nicht alle sind
gesetzlich versichert: nicht die Beamtinnen und Beam-
ten, nicht die Selbstständigen, die in der privaten Kran-
kenversicherung sind, aber auch nicht die Flüchtlinge,
die wir in unserem Land haben, die Wohnungslosen, die
nicht versichert sind. Sie alle sind mit diesem Gesetz
nicht gemeint. Was heißt bei Ihnen eigentlich gesund-
heitliches Handeln? Das heißt – das hat sich jetzt bei
Frau Staatssekretärin Fischbach wieder erwiesen –, eher
nicht krank zu werden. Gesundheit ist aber wesentlich
mehr, als nicht krank zu sein. Ich erinnere: Gesundheit
ist der höchstmögliche Zustand körperlichen, geistigen
und sozialen Wohlbefindens. Da Gesundheit eben nicht
nur Abwesenheit von Krankheit ist, erschließt sich auch
die im Gesetz vorgesehene Finanzierung nicht. Sie
lassen das Ganze nämlich nur durch die gesetzlichen
Krankenversicherungen finanzieren. Es ist aber eine ge-
samtgesellschaftliche Aufgabe, das heißt Sache der gan-
zen Gesellschaft, und muss auch so finanziert werden.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dazu kommt noch – das ist eigentlich ein Unding –,
dass die Versicherten, die Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer sind, sämtliche Steigerungen selbst bezahlen
müssen. Die bezahlen dann auch noch den Bonus, den
Sie für die betriebliche Gesundheitsförderung festlegen
und den Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber bekommen





Birgit Wöllert


(A) (C)



(D)(B)


können. Das ist eigentlich der Gipfel der Unverschämt-
heit.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich nenne Ihnen ein Beispiel, wie es gehen kann. Wir
haben in Brandenburg seit 2006 das Netzwerk „Gesunde
Kinder“. Es ist die Initiative eines Chefarztes, der Kin-
derarzt ist, in Lauchhammer, im Kreis Oberspreewald-
Lausitz. In diesem Netzwerk „Gesunde Kinder“ sind
ganz viele Berufsgruppen, die Jugendhilfe und Ämter in-
tegriert. Das Ziel ist die Förderung der Gesundheit und
der sozialen Entwicklung für bis zu dreijährige Kinder.
Dazu gehören die Verbesserung des somatischen Status,
die psychosoziale Gesundheit und günstige Familien-
beziehungen. Das Zauberwort heißt Zusammenarbeit.
Ein bemerkenswertes Evaluationsergebnis: Sozial-
schichtspezifische Unterschiede im Gesundheitszustand
der teilnehmenden Kinder sind bei den Netzwerkkindern
nicht sichtbar. Das nenne ich beispielhaft. Das hätte
Grundlage Ihres Gesetzes sein müssen.


(Beifall bei der LINKEN)


Schade. Aber viele Hinweise, das Gesetz besser zu
machen, sind leider nicht umgesetzt worden. Ich weiß,
liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, Sie werden
heute viele Punkte finden, die besser sind als vorher.


(Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD])


Dafür hätte es keines neuen Gesetzes bedurft. Ich glaube
jetzt schon, ohne dass ich es gehört habe, es ist eher wie
das berühmte Pfeifen im Wald, wenn man sich fürchtet.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811214900

Das Wort hat der Kollege Dr. Karl Lauterbach für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1811215000

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Zunächst einmal: Es ist ohne Wenn und Aber
eine besonders wichtige Pflicht, dass wir in der Präven-
tion mehr investieren, und zwar in Kinder wie in Er-
wachsene wie auch in ältere Menschen. Wir hatten nie so
wenige Kinder wie heute. Wir müssen daher in die Ge-
sundheit eines jeden Kindes investieren. Wir dürfen kein
einziges Kind zurücklassen. Von daher darf ich mich im
Namen meiner Fraktion ganz herzlich dafür bedanken,
dass wir an dieser Stelle – ich will versuchen, das zu er-
läutern – einen wichtigen, einen großen Schritt vorange-
kommen sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


So sehr ich die abstrakten Definitionen, die Sie, Frau
Wöllert, vorgetragen haben, richtig finde, aber für ein
Gesetz müssen die Ziele konkreter sein. Das ist ganz
klar. Die Verhinderung von Krankheit darf nicht gegen
das Verbessern des Wohlbefindens ausgespielt werden.
Ich glaube, es ist sehr wichtig, Krankheiten zu verhin-

dern. Ich nenne einige Beispiele: Kinder werden nicht
zuckerkrank, weil sie nicht übergewichtig werden. Er-
wachsene sind nicht an Bluthochdruck erkrankt, weil sie
als Kinder mehr Sport gemacht haben. Schlaganfälle
können vermieden werden, weil Menschen den Blut-
druck erkannt haben und den hohen Blutdruck behandelt
haben. Das alles ist nur der Kampf gegen Krankheit. Das
hat mit Wohlbefinden direkt nichts zu tun. Es ist aber
trotzdem ein wichtiges, ein nobles Ziel. Wenn wir hier
viel erreichen, sind wir einen sehr weiten Weg gegangen.
Das hätten Sie aus meiner Sicht auch anerkennen müs-
sen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich will ganz konkret sagen, weshalb ich glaube, dass
es ein gutes Gesetz ist. Wir haben derzeit die Situation,
dass uns schlicht und ergreifend bei der Prävention oft
gemeinsame Ziele fehlen. Hier wird etwas gemacht, da
wird etwas gemacht. Alle, die dort beteiligt sind, haben
guten Willen, aber oft führt es nicht zusammen, weil die
Ziele nicht gebündelt sind. Wir gehen hier hin und
benennen im Rahmen einer nationalen Präventions-
konferenz Ziele, die auf kommunaler und Landesebene
umgesetzt werden. Dass wir dies gemeinsam mit der
gesetzlichen Krankenversicherung, mit der Pflegeversi-
cherung, mit der Unfallversicherung, mit der Rentenver-
sicherung und sogar mit der privaten Krankenversiche-
rung machen,


(Birgit Wöllert [DIE LINKE]: Die steht aber nicht im Gesetz!)


ist aus meiner Sicht eine Bündelung der Kräfte und eine
Zielsetzung, wie wir sie bisher nicht gehabt haben. Wir
haben hier einen wichtigen Schritt nach vorne getan.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Auch die Regelung zum Impfschutz ist keine dumme
Regelung. Ein Impfzwang ist in Deutschland nicht
vermittelbar. Das wissen Sie genauso gut, wie wir das
wissen. Aber wir machen vieles, um die Impfung zu ver-
bessern, beispielsweise für die Berufe, die mit Impfun-
gen zu tun haben, für Berufe mit einem hohen Infek-
tionsrisiko. In solch einem Fall kann der Arbeitgeber den
Impfstatus verlangen.

In einer Kindertagesstätte oder in einer Schule, in der
gerade die Masern ausgebrochen sind, kann ein Kind,
das nicht geimpft ist, vorübergehend von der Betreuung
bzw. von der Beschulung ausgeschlossen werden. Das
setzt die richtigen Anreize, und zwar mit Augenmaß.
Diese Anreize sind nicht zu stark – sie sind noch vermit-
telbar –, aber sie wirken, und auch das muss anerkannt
werden.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Lassen Sie mich auf einen weiteren Bereich zu spre-
chen kommen: die Früherkennungsuntersuchungen. Es
gibt eine Menge an Früherkennungsuntersuchungen, die
nicht schlecht sind, aber das Problem ist, dass das indivi-
duelle Risiko dabei eine zu geringe Rolle spielt. Das
individuelle Risiko kann von Versichertem zu Versicher-
tem sehr unterschiedlich sein. Ich muss mir daher über-





Dr. Karl Lauterbach


(A) (C)



(D)(B)


legen: Was untersuche ich bei wem? Ein Untersuchungs-
protokoll passt nicht für alle.

Wir stellen die individuellen Belastungen bei Gesund-
heits- und Früherkennungsuntersuchungen in den Vor-
dergrund. Das kostet nicht mehr Geld, es macht die
Früherkennungsuntersuchung aber flexibler. So kann
besser auf das Einzelrisiko eingegangen werden. Wenn
ein Kind beispielsweise übergewichtig ist, dann macht
es sehr viel mehr Sinn, zu untersuchen, ob bereits das
metabolische Syndrom, also der erste Schritt zur Zucker-
krankheit, vorliegt. Die gleiche Untersuchung macht bei
einem Kind, das sehr schlank ist, viel Sport macht und
keine genetische Vorbelastung hat, keinen Sinn. Es ist
also ein wichtiger Schritt, die Untersuchung zu flexibili-
sieren und auf den Einzelnen zuzuschneiden. Auch das
ist ein wichtiger Schritt nach vorn.

Frau Wöllert, Sie haben eben angedeutet, davon pro-
fitierten nur die gesetzlich Versicherten. Das stimmt
schlichtweg nicht.


(Birgit Wöllert [DIE LINKE]: Das habe ich nicht gesagt!)


In den Settings, also in den Kitas, in den Schulen und in
den Betrieben, werden 300 Millionen Euro für Präven-
tionsmaßnahmen ausgegeben. Dieses Geld kommt auch,
um nur ein Beispiel zu nennen, den von Ihnen erwähnten
Flüchtlingen zugute; denn auch Flüchtlingskinder gehen
in die Schule und profitieren somit von den Maßnahmen.
Es ist richtig, dass man alle Mittel erhöhen könnte. Aber
300 Millionen Euro für die settingorientierte Prävention,
wie man das heute im Jargon der Vorbeugemedizin
nennt, das ist schon ein Wort. Das nützt denjenigen, die
von sich aus am wenigsten Ärzte aufsuchen und die an-
gebotenen Vorsorgemaßnahmen in Anspruch nehmen.
Das sind aus meiner Sicht richtige Schritte nach vorn.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich komme zum Schluss. Ich glaube, dass dieses Ge-
setz ein gutes und rundes Gesetz ist. Wir haben auch
lange daran gearbeitet. Ich könnte noch weiter ausfüh-
ren, dass wir zum Beispiel auch den Bereich Selbsthilfe
um mehr als 30 Millionen Euro pro Jahr stärken. Wir
haben die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklä-
rung mit neuen Aufgaben versehen, und sie ist auch
wirtschaftlich gestärkt worden.

All das sind viele wichtige Schritte nach vorn. Ich
bitte alle, das zu würdigen. Ich hoffe auf breite Zustim-
mung im Hause und danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811215100

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-

legin Kordula Schulz-Asche das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe
vor kurzem eine alleinerziehende Mutter kennengelernt,
die sehr glücklich und dankbar war, weil sie gerade
einen Job bekommen und ihr fünfjähriger Sohn Jakob ei-

nen Kindergartenplatz erhalten hatte. Aber dann hörte
das Glück schon auf; denn sie arbeitete in einem Call-
center im Zweischichtdienst und ist nach der Arbeit oft
sehr erschöpft. Jakob bekommt zwar im Kindergarten
ein warmes Essen, das wird aber tiefgekühlt geliefert
und dann dort aufgewärmt. Die beiden wohnen in einem
Mehrfamilienhaus an einer stark befahrenen Ausfall-
straße. Jakob leidet häufig unter Husten. Im Hof ver-
kümmert ein Klettergerüst. – Jakob steht für mich exem-
plarisch für rund 2 Millionen Kinder in Deutschland, die
aufgrund ihrer Lebensbedingungen schlechte Gesund-
heitschancen haben, von Anfang an und ein Leben lang.

Soziale Benachteiligung bewirkt gesundheitliche
Risiken – und umgekehrt. Wer häufiger krank ist, hat
weniger Chancen in der Schule und im Beruf, hat weni-
ger Chancen auf gesunde Lebensjahre und hat eine ge-
ringere Lebenserwartung. Herr Lauterbach, wir müssen
uns fragen, ob das Gesetz, das Sie hier vorlegen, tatsäch-
lich keines dieser Kinder zurücklässt. Ich zweifle daran
sehr stark.

Gerade weil der Zusammenhang zwischen sozialer
Situation und Gesundheitsrisiken so evident und auch
wissenschaftlich belegt ist, helfen keine Appelle, sich
gesund zu ernähren, oder Sportkurse, wie es das
schwarz-rote Präventionsgesetz leider immer noch vor-
rangig vorsieht. Unsere Umwelt, unser Alltag ist unserer
Gesundheit Schmied; dies hat diese Bundesregierung
leider immer noch nicht ausreichend verstanden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Aus grüner Sicht ist überfällig: Erstens. Der Schwer-
punkt der Prävention muss auf gesundheitsfördernden
Alltagswelten liegen, und zwar faktisch und nicht nur
verbal, wie das hier von der SPD auch immer wieder
vertreten wird.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Schwarz-Rot verharrt in der Logik: Du bist Schuld, also
musst du etwas ändern. – Das ist eine Zeigefingerpolitik,
die wirklich ihresgleichen sucht. Da hilft es auch nicht,
wenn die Bundesregierung, was tatsächlich stimmt, viel
mehr Geld für Prävention ausgeben will, genau genom-
men Geld der Versicherten. Individuelle, zeitlich
begrenzte Kursangebote führen nicht zu besserer Ge-
sundheit; das ist wissenschaftlich bewiesen. Sie dienen
den Krankenkassen oft nur zum Werben um neue Versi-
cherte, vor allem um Versicherte aus der Mittelschicht,
aber nicht aus den betroffenen Gruppen, über die ich ge-
rade geredet habe.

Deswegen ist das Leitbild von uns Grünen: Wir wol-
len, dass alle das Wissen und die Fähigkeiten erwerben,
um, wenn sie möchten, gesund zu leben. Sie sollten aber
vor allem auch die Möglichkeit und die Gelegenheit
haben, gesund zu leben. Das ist die Aufgabe eines Prä-
ventionsgesetzes.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Kordula Schulz-Asche


(A) (C)



(D)(B)


Diese Gelegenheiten müssen in den Alltagswelten vor-
handen sein. Das beginnt bei gesunder Ernährung, Be-
wegung und Spiel im Kindergarten. Es setzt sich fort in
Schulen, wo gesunde Kinder leichter lernen und gesunde
Lehrer leichter lehren. Von Betrieben mit Gesundheits-
management bis hin zu Stadtteilen mit Angeboten zur
Prävention von Pflegebedürftigkeit, das alles leistet ei-
nen großen Beitrag. Für die moderne Stadtplanung und
Stadtentwicklung ist es selbstverständlich, dass Umwelt-
belastungen reduziert werden müssen. Das gelingt über-
all dort, wo die Bewohner – gerade auch ältere Bewoh-
ner – einbezogen werden. Meine Damen und Herren, der
Stadtteil als Alltagswelt gerade vieler älterer Menschen
wird in diesem schwarz-roten Gesetz nicht einmal er-
wähnt.


(Beifall der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Aus grüner Sicht ist überfällig: Zweitens. Die Kom-
munen sind der Dreh- und Angelpunkt gelingender Ge-
sundheitsförderung vor Ort. Bei der ersten Lesung des
Gesetzentwurfs hat Frau Kühn-Mengel die Hoffnung ge-
weckt, dass tatsächlich die Kommunen als bedeutende
Akteure vor Ort in diesem Gesetz eine wichtige Rolle
spielen werden. Leider zeigt sich – trotz der Anhörung –,
dass das nicht der Fall sein wird. Wir sind davon über-
zeugt: In den Kommunen laufen die Fäden zusammen,
dort findet die Vernetzung statt, dort werden Ideen und
Konzepte gemeinsam mit den Menschen, die dort leben,
entwickelt und auch umgesetzt. Keine Ärztin und kein
Arzt, keine Krankenkasse, keine Politikerin und kein
Politiker weiß, wie in einer Kita, einer Schule, einem
Betrieb, einem Stadtteil Gesundheitsförderung am bes-
ten gestaltet und gelebt werden kann – das wissen am
besten die Menschen vor Ort. Deshalb ist uns die Beteili-
gung aller so wichtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Man kann dabei an Vorhandenes anknüpfen, zum Bei-
spiel an die Schulsozialarbeit oder an das Programm
„Soziale Stadt“ im Rahmen der Wohnungsbauförderung.
Das geht aber alles nicht ohne die Mitwirkung der Kom-
munen.

Stattdessen ist das schwarz-rote Präventionsgesetz ein
Flickenteppich verschiedenster Lobbyinteressen gewor-
den. Hauptverantwortlich bleiben die gesetzlichen Kran-
ken- und Pflegekassen und die Ärzteschaft. Meine
Damen und Herren, besonders dramatisch ist, dass Sie
ein weiteres Mal die gesetzlich Versicherten sowohl der
Kranken- als auch der Pflegekassen dazu heranziehen,
eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu finanzieren.
Private Kranken- und Pflegekassen bleiben außen vor.
Wir haben auch noch – das ist schon erwähnt worden –
die Finanzierung einer Bundesbehörde aus Mitteln der
gesetzlichen Krankenversicherung, und zwar der Bun-
deszentrale für gesundheitliche Aufklärung.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811215200

Kollegin Schulz-Asche, Sie müssen bitte zum Schluss

kommen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich komme zum Schluss. – Rückblickend muss man
sagen, dass die WHO schon seit 30 Jahren die Forderung
nach besserer Prävention aufstellt.

Ich möchte mit den Worten schließen, die Professor
Rosenbrock in der Anhörung zu diesem Gesetz gespro-
chen hat. Er hat gesagt – dem schließe ich mich voll an –:
Ich vertraue auf einen neuen Anlauf, auf ein echtes Prä-
ventionsgesetz. – Dieses ist es nicht.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811215300

Der Kollege Rudolf Henke hat für die CDU/CSU-

Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1811215400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Ingrid Fischbach, die Parla-
mentarische Staatssekretärin aus dem Bundesministe-
rium für Gesundheit, hat in ihrer Rede an die mehr als
zehnjährige Schwangerschaft und die späte Geburt die-
ses Gesetzes erinnert. Man könnte jetzt natürlich noch
einmal darüber räsonieren, woran es eigentlich gelegen
hat, dass es so lange gedauert hat. Man könnte zum Bei-
spiel ein paar vordergründige Erklärungen finden, die
mit Wahlterminen und Bundesratsbeschlüssen zu tun ha-
ben, gemäß denen zwei Tage vor einer Bundestagswahl
der Vermittlungsausschuss angerufen wurde. Auch
könnten in diesem Zusammenhang Ergebnisse nord-
rhein-westfälischer Wahlen genannt werden, die plötz-
lich Neuwahlen im Bund notwendig gemacht haben. –
Man könnte lauter derartige Gründe finden, weswegen
etwas der Diskontinuität anheimgefallen ist.

Ich glaube, ehrlich gesagt, dass es deswegen so lange
gedauert hat, weil wir zum Teil an falschen Fronten und
mit falschen Polarisierungen diskutiert haben. Jetzt end-
lich haben wir es geschafft, die verschiedenen Seiten, die
zur Prävention bzw. Gesundheitsförderung beitragen
müssen, zu einem Gemeinschaftswerk zu verbinden. Es
ist eine falsche Frontstellung, zu sagen: Bei Prävention
oder Gesundheitsförderung handelt es sich entweder um
Verhaltensprävention oder Verhältnisprävention.

Es ist falsch, bezüglich der Frage, ob man Krankhei-
ten vermeiden oder Gesundheit fördern soll, eine Front
aufzumachen. Auch handelt es sich um eine falsche
Frontstellung, lange Debatten über die Fragen zu führen:
Ist das eine politische oder eine medizinische Aufgabe?
Oder ist es eine Aufgabe der Sozialkassen? Es ist eine
Aufgabe aller Bereiche. Weiterhin ist es falsch, die Frage
so zu stellen: Müssen wir die Gesellschaft, die Medizin
oder die Lebensentwürfe der einzelnen Menschen um-
bauen? Ja, natürlich, an jedem dieser Themen muss man
arbeiten.





Rudolf Henke


(A) (C)



(D)(B)



(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau das haben wir getan!)


Ich bin froh, dass es jetzt mit diesem Gesetz gelingt,
all diese verschiedenen Ansätze in ein konstruktives
Miteinander zu bringen. Deswegen glaube ich, dass mit
diesem Gesetz die falschen Frontstellungen überwunden
werden und dass es dazu beiträgt, in diesem Sinne wirk-
lich modern zu sein. Denn es nimmt seine Begründun-
gen aus der Zukunft und setzt nicht mehr kontinuierlich
vergangene Frontstellungen fort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


In dem Antrag der Grünen steht die richtige Feststel-
lung:

Wir wissen, dass gesunde Ernährung, mehr Bewe-
gung und eine gute Stressbewältigung dazu beitra-
gen, lange gesund zu bleiben und bis ins hohe Alter
mobil zu sein.

Ja, natürlich setzt das auch Verhaltensveränderungen
voraus. Natürlich geht es nicht um die Frage, wer Schuld
hat. Man kann nicht sagen: Du bist schuld. Dabei geht es
doch nicht um eine Anklage; aber es geht um die Frage,
ob man eine Verantwortung für seine eigene Gesundheit
hat. Dazu muss man sagen: Wenn man die Verantwor-
tung aller reklamiert, gehört die Aussage „Auch du bist
verantwortlich“ dazu.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich meine, es ist schwer zu verstehen, wenn in Ihrem
Text steht, dass sich die „Präventionsbemühungen …
hauptsächlich an verhaltensbedingten Krankheitsrisiken
wie Fehlernährung, Bewegungsmangel oder Suchtmit-
telmissbrauch orientieren“ würden. Das kann ich nicht
verstehen. Vorne sagen Sie: Das sind wichtige Ansatz-
punkte. Und hinten kritisieren Sie, dass wir diese wichti-
gen Ansatzpunkte aufnehmen.

Noch schwieriger finde ich es, Frau Wöllert, wie Sie
die Ablehnung des Gesetzes begründen. Sie sagen, dass,
statt Kampagnen und Aufklärungsmaßnahmen zu indivi-
duellem Gesundheitsverhalten zu initiieren, gesunde
Lebensbedingungen in allen Settings geschaffen werden
müssen. Was soll diese Alternative? Sie sagen: Statt vor-
wiegend auf Verhinderung von Krankheiten abzustellen,
müssen vermehrt die Einflussfaktoren, die zu mehr Ge-
sundheit führen, untersucht und gefördert werden. – Bei-
des muss man machen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Beides geschieht hier auch, denn wir ergänzen jetzt die
bisherige individuelle, am Verhalten orientierte Präven-
tion in den Krankenkassenkursen stärker durch die Le-
benswelten, und wir vervierfachen die Mittel, die in die
Lebenswelten – in diesen Setting-Ansatz, wie Karl
Lauterbach gesagt hat – fließen.

Natürlich kann man sagen: Das müsste noch mehr
sein. – Natürlich kann man sagen: In der Gesamtsumme
ist das im Jahr der Betrag, den wir an einem Tag für The-

rapien, Diagnostik und Behandlungsmaßnahmen ausge-
ben. –


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist mal eine gute Aussage!)


Aber das ändert doch nichts daran, dass dies eine gewal-
tige zusätzliche Leistung darstellt. Lassen Sie uns auf
Grundlage der Berichterstattung in Zukunft darüber dis-
kutieren, ob man die Mittel aufstocken sollte; aber lassen
Sie uns jetzt nicht darauf verzichten, diesen Schritt zu
tun.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, Prävention ist eine
Aufgabe, die die Gesellschaft als Ganzes betrifft. Ich bin
der Meinung, dass dieses Gesetz dieser Aufgabe gerecht
wird. Während des Gesetzgebungsprozesses wurde ein
Großteil der Polarisierungen entschärft. Das, was wir
zum Impfen vereinbart haben, ist angemessen und sinn-
voll; denn die Regelung sollte so verbindlich wie mög-
lich gestaltet sein. Sicherlich wird Erich Irlstorfer in sei-
ner Rede etwas vertiefter darauf eingehen.

Ich möchte auf einen winzigen Punkt der Kritik an
dem Bericht des Haushaltsausschusses aufmerksam ma-
chen. In der Passage zu den Kostenfolgen der Verträge,
die die Krankenkassen in Zukunft mit Betriebsärzten
schließen können, geht der Haushaltsausschuss davon
aus, dass sich das alles saldiert. Mein Anspruch wäre
schon, die Zahl der Impfungen mithilfe der Verträge, die
nun ermöglicht werden, zu erhöhen. Ich möchte nicht,
dass auf der einen Seite weniger und auf der anderen
Seite mehr geimpft wird. Das ist mein einziger Kritik-
punkt. Ansonsten bin ich dem Haushaltsausschuss sehr
dankbar, dass er sich so profund und tiefgehend mit all
den Fragen auseinandergesetzt hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will kurz den Hinweis geben, dass wir uns in den
Debatten darauf verständigt haben, das Modellprojekt
„KV-Impfsurveillance“ des Robert-Koch-Instituts abzu-
schließen und, wenn es erfolgreich beendet wird, dauer-
haft Mittel dafür zur Verfügung zu stellen. Das ist aber
eine Entscheidung, die bei der Aufstellung späterer
Haushalte zu treffen ist.

In den Berichterstattergesprächen hatten wir eine
kleine Kontroverse um die Frage: Wie bindet man die
deutsche Ärzteschaft und den Deutschen Pflegerat in den
Mitgliederkreis der Nationalen Präventionskonferenz
ein? Die Lösung, die hier jetzt gewählt wird, ist
folgende: Die Gesundheitsberufe sind über das Präven-
tionsforum vertreten, das von der Bundesvereinigung
Prävention und Gesundheitsförderung ausgerichtet wird.
Zu deren Mitgliedern gehören wiederum zahlreiche ärzt-
liche und pflegerische Organisationen, auch ich als Per-
son.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811215500

Kollege Henke, Sie können selbstverständlich weiter-

reden. Ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


Sie jetzt auf Kosten der Redezeit Ihres Kollegen
Irlstorfer reden.


Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1811215600

Keineswegs.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811215700

Das ist lieb.


Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1811215800

Der Schlusssatz besteht darin: Ich bitte Sie sehr herz-

lich, dieses moderne, zukunftsgewandte Gesetz mit einer
großen Mehrheit hier im Plenum zu verabschieden.

Ich bedanke mich sehr für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811215900

Das Wort hat die Kollegin Helga Kühn-Mengel für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Helga Kühn-Mengel (SPD):
Rede ID: ID1811216000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! In der
Tat ist Prävention eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe,
die ressortübergreifend wahrgenommen werden sollte.
Noch kein Präventionsgesetz – ich habe einige Prototy-
pen erlebt – enthielt so viel Ressortübergreifendes wie
dieses. Das sollte man einmal würdigen. Es fängt an mit
der Verknüpfung mit Frühen Hilfen, mit dem Programm
„Soziale Stadt“ des Bau- und Umweltministeriums, mit
der Bundesagentur, die ganz ausdrücklich den Auftrag
hat, Angebote für Langzeitarbeitslose zu schaffen. Alles
kann man verbessern, aber vieles ist mit diesem Gesetz
möglich.

Wir haben es gemacht, weil die medizinische Seite
der Prävention nur eine Seite ist. Sie ist in Deutschland
– bei allen Defiziten, die man da sehen kann – recht gut
aufgestellt, auch was die Frage einer Über-, Unter- oder
Fehlversorgung anbelangt. Die Lücken, eine Unterver-
sorgung, gibt es in der nichtmedizinischen Prävention;
Kollege Professor Lauterbach hat das vor Jahren schon
im Sachverständigenrat deutlich gemacht.

Am ständigen Anstieg der Lebenserwartung sind
viele Faktoren beteiligt, aber nur zu einem Drittel die
Medizin. Der Rest – ich zitiere den Sachverständigenrat,
Rosenbrock und Lauterbach, aber auch die WHO – geht
auf eine Mischung verschiedener Wirkfaktoren zurück:
Lebensverhältnisse, Wohnung, Arbeit, Erholungsverhal-
ten, Bildung, Ernährung usw. Deswegen geht es uns bei
vielen unserer Gesetzentwürfe um eine Verbesserung der
Lebensumstände. Mit diesem Gesetzentwurf wollen wir
speziell die Menschen erreichen, die geringere Chancen
auf einen gleichberechtigten Zugang zu Gesundheits-
angeboten haben. Eine Stärke dieses Gesetzentwurfs ist,
dass er das Setting, die Lebenswelt, in den Mittelpunkt

rückt. Wir haben schon im Jahr 2000 gesagt, dass wir
etwas zur Verbesserung der Chancen bzw. zur Verringe-
rung der Ungleichheit der Chancen des Zugangs zu
Gesundheitsangeboten tun müssen. In der Folgezeit ist
vieles entstanden; aber mit diesem Gesetzentwurf grei-
fen wir die Prinzipien der WHO explizit auf.

Ich will nicht sagen, dass mit diesem Gesetzentwurf
alles optimiert wird, aber doch feststellen, dass mit
diesem Gesetzentwurf wichtige Weichenstellungen vor-
genommen werden:

Wir gehen auf die Menschen zu, weil wir nicht erwar-
ten können, dass bestimmte Gruppen Kurse besuchen,
sich Vorträge anhören oder Flyer lesen. Wir gehen in die
Lebenswelt der Menschen hinein, in die Kindergärten,
die Schulen und die Betriebe. Zur Lebenswelt zählen
aber auch – das ist uns ganz wichtig – Einrichtungen der
Behindertenhilfe, Wohnheime für alte Menschen und
Pflegeheime. Auch der Bereich der Pflege – das muss
gewürdigt werden – wird in diesem Gesetzentwurf be-
rücksichtigt. Das ist richtig,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


– ich lasse keine Pause für Applaus –, weil wir wissen,
wie wichtig es ist, dass auch bei alten Menschen Res-
sourcen zu mobilisieren sind. Das ist ein ganz wichtiger
Punkt.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist alles schön gesagt, aber praktisch kommt es nicht an!)


Sowohl im Bereich der stationären Pflege als auch im
Bereich der ambulanten Pflege können ganz wichtige
Ansätze entwickelt werden. Es können Präventionsemp-
fehlungen formuliert werden. Als Beispiel nenne ich die
Sturzprophylaxe. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.

In diesem Gesetzentwurf geht es nicht nur um die
Jüngsten – ihr Schutz nach der Geburt, Impfschutz, Ge-
sundheitsförderung in Kindergarten und Schule, Früher-
kennung und Kariesprophylaxe sind schon genannt wor-
den –, sondern auch um die Älteren.

Ein wichtiger Punkt ist auch, dass etliche Ministerien
einbezogen werden.

Die Kompetenz der Betriebsärztinnen und Betriebs-
ärzte soll besser genutzt werden. Das ist ganz wichtig;
denn sie erreichen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerin-
nen aus fast allen Schichten.

Der Gesetzentwurf sieht auch eine Qualitätssicherung
vor, was nicht selbstverständlich ist. Qualitätssiche-
rungsinstrumente müssen aufgebaut werden; denn Qua-
litätssicherung muss stattfinden. Diese Aufgabe wird der
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zuge-
schrieben, was sehr gut ist. Allerdings haben wir mehr-
mals gesagt, dass wir die Finanzierung an dieser Stelle
nicht für optimal halten.

Der Gesetzentwurf schafft Raum für nationale Prä-
ventionsstrategien, zum Beispiel bezogen auf Diabetes.
Er beinhaltet sogar die Möglichkeit zu einer Erhöhung





Helga Kühn-Mengel


(A) (C)



(D)(B)


der Mittel auf Basis des Präventionsberichts, den die Na-
tionale Präventionskonferenz abgeben muss.

Wir haben oft gesagt, dass die Strukturen nachhaltig
verbessert werden müssen.

Dass der Bereich der Selbsthilfe gestärkt wird – Frau
Präsidentin, ich komme zum Schluss –, ist ganz wichtig;
denn zu den gesundheitsfördernden Aspekten gehören
eben auch die Information und die Einbeziehung der Be-
troffenen. Dass die Betroffenen gestärkt werden müssen,
wird von vielen Studien belegt.


(Beifall bei der SPD)


Also: Der Gesetzentwurf beinhaltet nicht alles, aber
vieles. Vor allem enthält er mehr, als wir anfangs gedacht
haben. Nach der Anhörung gab es über zwanzig Ände-
rungsanträge. Sie sind gut aufgenommen und eingear-
beitet worden.

Ich kann wie bei mir im Revier nur sagen: Glückauf!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811216100

Das Wort hat der Kollege Erich Irlstorfer für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Erich Irlstorfer (CSU):
Rede ID: ID1811216200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfs der Bundesregie-
rung ist es, Grundlagen dafür zu schaffen, dass Präven-
tion und Gesundheitsförderung in jedem Lebensalter und
in allen Lebensbereichen als gemeinsame Aufgabe aller
relevanten Akteure in unserem Land gestaltet werden.
Neben vielen weiteren positiven Neuerungen liegen mir
besonders die im geplanten Präventionsgesetz enthalte-
nen Maßnahmen zur Steigerung der Impfraten am Her-
zen. Impfen ist und bleibt die wirksamste medizinische
Prävention.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Gemeinsam mit meinen Kollegen Heiko Schmelzle
und Reiner Meier habe ich bereits im November 2014 im
Rahmen eines Positionspapiers verschiedene Maßnah-
men zur Anhebung der Impfraten empfohlen. Ich bin
dankbar und froh, dass viele dieser Empfehlungen Ein-
gang in den Gesetzentwurf gefunden haben.

Zu den bedeutendsten Regelungen des Gesetzent-
wurfs gehören sicherlich die Überprüfung des Impfstatus
von Kindern bei der Aufnahme in eine Gemeinschafts-
einrichtung sowie die Ausweitung der Möglichkeiten
von Behörden, Personen ohne Impfschutz bzw. Immuni-
tät gegen Masern im Falle eines Masernausbruchs von
einem Aufsuchen solcher Einrichtungen auszuschließen.
Diese Maßnahmen werden zu einer Anhebung der Impf-
raten führen, ohne dass man die Keule der Impfpflicht
auspackt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD])


Laut Berufsausbildungsbericht der Bundesregierung
hatten wir im Ausbildungsjahr 2013/2014 über 500 000
neue Auszubildende. Bedeutend sind daher die Überprü-
fungen des Impfstatus bei den Untersuchungen zum
Ausbildungsbeginn nach dem Jugendarbeitsschutzge-
setz, um junge Menschen systematisch auf ihren Impf-
status hin zu überprüfen; auch Mathias Felber von der
AOF bestätigt dies.

Dazu bedarf es aber zukünftig auch der Möglichkeit
einer Erfassung des Impfstatus auf dem entsprechenden
Formblatt für untersuchende Ärzte. Regelungen zur
Ausgestaltung des Formblattes fallen in den Zuständig-
keitsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und So-
ziales. Ich freue mich daher bereits auf einen weiteren
konstruktiven Austausch hierzu mit dem BMAS. Glau-
ben Sie mir, wir lassen an dieser Stelle mit Sicherheit
nicht locker.

Es kann nicht sein, dass längst besiegt geglaubte
Krankheiten nach Deutschland zurückkehren, obwohl
ihre Verbreitung durch hohe Impfraten verhindert wer-
den könnte. Ich möchte daher nun auf zwei Punkte ein-
gehen, die nicht im Präventionsgesetz geregelt werden,
aber meines Erachtens sehr bedeutend sind: eine Impfda-
tenerhebung sowie Ausschreibungen.

Wichtig sind nicht nur niedrigschwellige Anreize,
sich impfen zu lassen, sondern auch eine umfassende
und zeitgerechte, aufgeschlüsselte und zugleich den Da-
tenschutzstandards entsprechende Erhebung der Impf-
daten. Hierzu existiert beim Robert-Koch-Institut das
Modellprojekt „KV-Impfsurveillance“, das von allen Ex-
perten als wirksame Maßnahme zur Analyse von Impf-
daten betrachtet wird. Es ist vorerst aber leider nur bis
2017 finanziert. Daher bin ich sehr froh, dass das BMG
überprüfen wird, inwiefern eine Verstetigung des Mo-
dellprojekts „KV-Impfsurveillance“ beim RKI möglich
sein wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir sollten uns jetzt aber trotzdem nicht zurückleh-
nen. Die Masernausbrüche zu Beginn dieses Jahres soll-
ten uns die Ernsthaftigkeit des Themas vor Augen füh-
ren. Daher müssen wir auch zukünftig bei anderer
Gelegenheit das Thema Ausschreibungen im Impfstoff-
bereich gerade mit Blick auf die Versorgungssicherheit
diskutieren.

Ich bin mir sicher, dass der vorliegende Gesetzent-
wurf der Bundesregierung einen wichtigen Schritt in die
Richtung einer qualitativ besseren Prävention darstellen
wird. Deshalb bitte ich Sie alle um Ihre Zustimmung.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811216300

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention.





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Buch-
stabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
18/5261, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 18/4282 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Hierzu liegen vier Änderungsanträge der Fraktion
Die Linke vor, über die wir zuerst abstimmen.

Änderungsantrag auf Drucksache 18/5263. Wer
stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-
men der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis
90/Die Grünen abgelehnt.

Änderungsantrag auf Drucksache 18/5264. Wer
stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-
men der Oppositionsfraktionen abgelehnt.

Änderungsantrag auf Drucksache 18/5265. Wer
stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag ist mit
den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-
Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.

Änderungsantrag auf Drucksache 18/5266. Wer
stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-
men der Oppositionsfraktionen abgelehnt.

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion
und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen an-
genommen.

Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa-
che 18/5267. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abge-
lehnt.

Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache
18/5261 fort.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/4322 mit dem Ti-
tel „Gesundheitsförderung und Prävention konsequent
auf die Verminderung sozial bedingter gesundheitlicher

Ungleichheit ausrichten“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis
90/Die Grünen angenommen.

Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 18/4327 mit dem Titel „Gesundheit
für alle ermöglichen – Gerechtigkeit und Teilhabe durch
ein modernes Gesundheitsförderungsgesetz“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen?
– Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit
den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion
und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE

Armuts- und Reichtumsbericht qualifizieren
und Armut bekämpfen

Drucksache 18/5109
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich bitte wiederum, die notwendigen Umgruppierun-
gen in den Fraktionen zügig vorzunehmen und die not-
wendige Aufmerksamkeit herzustellen. – Diese Bitte be-
zieht sich auch auf die unabweislich zu führenden
Gespräche; man kann sie ebenso außerhalb des Plenar-
runds führen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Katja Kipping für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811216400

Frau Präsidentin! Werte Damen und Herren! Alle vier

Jahre erscheint der Armuts- und Reichtumsbericht der
Bundesregierung, und diese Berichte könnten eine gute
Grundlage sein, um etwas gegen die soziale Spaltung in
diesem Land zu tun. Wohlgemerkt: könnten. Oft ist die
politische Praxis eine andere.

Der Armuts- und Reichtumsbericht spiegelt die sozia-
len Verhältnisse in diesem Land wider und ist sozusagen
eine Art Check der sozialen Verhältnisse, eine Art So-
zial-TÜV. Das Problem ist nur: Die Erstellung dieses
Sozial-TÜVs liegt komplett in den Händen der Bundes-
regierung. Sie erstellt ihren Sozial-TÜV also selber. Stel-
len Sie sich einmal vor, jedem von uns wäre es erlaubt,
den TÜV für das eigene Auto selber durchzuführen.
Dann würden sicherlich manche Verkehrsmittel trotz
nicht mehr gut funktionierender Bremsen zugelassen





Katja Kipping


(A) (C)



(D)(B)


werden. Das würde die Verkehrssicherheit nicht wirklich
erhöhen. Offensichtlich funktioniert das bei Fragen der
sozialen Sicherheit auch nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Erinnern wir uns nur an den vorangegangenen Ar-
muts- und Reichtumsbericht 2013. Damals war noch
Frau von der Leyen die Ministerin.


(Daniela Kolbe [SPD]: Es ist wichtig, das zu sagen!)


Auf Druck der FDP wurden besonders kritische Passa-
gen einfach entfernt. Die SPD kritisierte das damals zu
Recht sehr stark, heute stellt die SPD die Ministerin, und
von einer unabhängigen Erarbeitung ist keine Rede
mehr. Wir Linke meinen: Diese Praxis muss ein Ende
haben, ganz unabhängig davon, welches Parteibuch die
zuständige Ministerin hat. Der Armuts- und Reichtums-
bericht muss von einer unabhängigen Kommission erar-
beitet werden.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir hören von einigen Fachleuten sehr wohl, dass die
Erarbeitung inzwischen etwas transparenter erfolgt. Das
ist natürlich sehr erfreulich. Ärgerlich ist jedoch die
Aussage von Andrea Nahles zum Armutsbegriff. So be-
hauptet Andrea Nahles in der Süddeutschen Zeitung, der
Ansatz der Armutsrisikogrenze führe in die Irre. Ange-
nommen, der Wohlstand würde explodieren, dann bliebe
nach dieser Definition das Ausmaß der Armut gleich.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Rein rechnerisch stimmt das!)


– Dieses Zitat und übrigens auch Ihr Zwischenruf zei-
gen: Die Sozialministerin und Sie haben die Art und
Weise der Berechnung der Armutsrisikogrenze nicht
verstanden.

Die Armutsrisikogrenze beträgt 60 Prozent des Me-
dians.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Richtig!)


Da das etwas kompliziert ist, lassen Sie mich das noch
einmal erklären.

Mit dem Median ist nicht einfach nur der rechneri-
sche Durchschnitt gemeint.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Das ist klar!)


Bei der Ermittlung des Medians müssen Sie alle Ein-
kommen vom kleinsten bis zum größten wie die Orgel-
pfeifen aufreihen. Der Median liegt dann genau in der
Mitte. Ich erkläre das an einem Beispiel: In der Zahlen-
folge 1, 2, 3, 4, 5 liegt der Median in der Mitte: die
Zahl 3. In der Zahlenfolge 1, 2, 3, 4, 500 liegt der Me-
dian immer noch in der Mitte. Das heißt, diese Methode
ist robust gegen Abweichungen nach oben oder nach un-
ten.

Ich habe Verständnis, wenn Nichtfachleute sagen, das
sei eine komplizierte Materie. Von einer Sozialministe-
rin kann man aber erwarten, dass sie das weiß und nicht
gegen den Armutsbegriff polemisiert.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Alle bisher versuchte Schönfärberei konnte eine Tat-
sache aber nicht verschleiern: Fakt ist, dass es in diesem
Land eine extrem ungleiche Verteilung der Vermögen
gibt. Während die einen im Reichtum schwimmen, kön-
nen sich die anderen im Sommer nicht einmal mehr den
Eintritt ins Schwimmbad für ihre Kinder leisten. In Zah-
len ausgedrückt: Während die untere Hälfte der Bevöl-
kerung faktisch null Vermögen hat, haben die reichsten
10 Prozent fast zwei Drittel des Vermögens.

Diese Zahlen rufen doch geradezu nach einer Wieder-
einführung der Vermögensteuer. Es ist erschreckend, zu
beobachten, dass Sigmar Gabriel auch dieses Umvertei-
lungsinstrument offensichtlich wieder zu Grabe trägt.


(Beifall bei der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Er will halt nicht gewählt werden!)


Doch nicht nur bei solchen Instrumenten zur Umver-
teilung von oben nach unten mangelt es der schwarz-ro-
ten Regierung offensichtlich am politischen Willen, dies
zu ändern. Auch wenn es darum geht, Schikanen für
arme Menschen zu beenden, sind Sie auffallend tatenlos.
Ich muss mich schon wundern, dass es auch in den Rei-
hen der SPD sehr still geworden ist, wenn es darum geht,
die konkrete Hartz-IV-Sanktionspraxis zu kritisieren.
Als Sie noch in der Opposition waren, waren Sie da
deutlich kritischer.

Aber nicht nur die großen Baustellen wie die Hartz-
IV-Sanktionen werden nicht angegangen. Auch bei ver-
meintlich kleineren sind Sie erstaunlich tatenlos. Ich will
nur ein Beispiel nennen: die Anrechnung von Verkösti-
gung auf die Regelsätze. Was das heißt, hat mir neulich
ein junger Dresdner vor Augen geführt. Er hat eine Be-
hinderung und engagiert sich trotzdem ehrenamtlich. Er
arbeitet in einer Werkstatt für Menschen mit Behinde-
rungen.

Da die Entlohnung dort gering ist, ist er auf aufsto-
ckende Sozialleistungen angewiesen. Das bisschen, was
ihm monatlich zusteht, wird auch noch um 34 Euro ge-
kürzt. Der Grund ist folgender – jetzt zitiere ich aus dem
Bescheid –: „Sie erhalten in der Werkstatt ein kosten-
freies Mittagessen. Die Regelbedarfsstufe wird daher um
den Betrag des kostenfreien Mittagessens in der Werk-
statt in Höhe von 34 Euro monatlich gekürzt.“ Das muss
man sich einmal vergegenwärtigen: Von der ohnehin
niedrigen Sozialhilfe werden mit Verweis auf das kos-
tenfreie Kantinenessen noch 34 Euro im Monat abgezo-
gen. Da könnte man sich in Grund und Boden schämen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Empörende dieser Regelung wird deutlich, wenn
wir diese Situation mit der von uns Abgeordneten ver-
gleichen. Wir bekommen in jeder Sitzungswoche Einla-
dungen zu parlamentarischen Abenden, bei denen in der
Regel recht gut für Essen und Trinken gesorgt wird. Nie-
mand ist auf die Idee gekommen, uns deswegen für
Drinks und Schnittchen eine Pauschale von den Diäten
abzuziehen, obwohl wir das finanziell verkraften wür-





Katja Kipping


(A) (C)



(D)(B)


den. Der junge Mann hingegen braucht die 34 Euro drin-
gend, um über die Runden zu kommen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diese Regelung ist nur eine von vielen, die armen
Menschen das Leben in diesem Land schwer macht und
die abgeschafft gehört, so wie im Übrigen das gesamte
Hartz-IV-Sanktionssystem durch eine sanktionsfreie
Mindestsicherung ersetzt gehört.


(Beifall bei der LINKEN)


Kurzum – ich komme zum Schluss –: Es braucht eine
unabhängige Berichterstattung. Es braucht den politi-
schen Willen, auf die guten Erkenntnisse die richtigen
politischen Taten folgen zu lassen. Das Ziel muss sein,
alle Menschen in diesem Land sicher vor Armut zu
schützen. Das Ziel muss sein: Freiheit von Existenzangst
für alle!

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811216500

Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Professor

Dr. Matthias Zimmer, CDU/CSU-Fraktion. Bitte schön,
Herr Zimmer.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Matthias Bartke [SPD])



Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1811216600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich will zunächst einmal auf zwei Dinge eingehen, die
Frau Kipping gesagt hat. Erster Punkt. Ich habe keinerlei
Anlass, gegenüber der Bundesregierung misstrauisch zu
sein, dass sie keinen vernünftigen und nach dem Stand
der Wissenschaft klaren und sauberen Armuts- und
Reichtumsbericht vorlegt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Katja Kipping [DIE LINKE]: Wäre ich an Ihrer Stelle auch nicht!)


Das hat sie im Übrigen auch beim letzten Mal getan.


(Widerspruch bei der LINKEN)


Ich habe es bisher auch noch nicht erlebt, dass es einen
Bericht gegeben hätte, der in irgendeiner Weise geschönt
wäre, zumal, liebe Frau Kipping, wir als Große Koali-
tion überhaupt keinen Anlass hätten, einen Bericht zu
schönen; denn unsere Zahlen können sich durchaus se-
hen lassen.


(Beifall der Abg. Kerstin Griese [SPD])


Zweiter Punkt: die Kritik an der Ministerin, was die
Armutsrisikogrenze angeht. Ich halte das, was die Minis-
terin an dieser Stelle gesagt hat, für richtig; denn in der
Tat ist die Diskussion um die Armutsrisikogrenze eine
schwierige. Die Armutsrisikogrenze stellt nämlich eine
Relation, keine absolute Zahl und keine absolute Armut
dar.


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Armut ist ja auch relativ!)


Vielmehr ist sie, wie Sie das richtig dargestellt haben,
Frau Kipping, eine Relation. Wer weniger als 60 Prozent
des Medianeinkommens zur Verfügung hat, gilt als ar-
mutsgefährdet.

Nun wurde im letzten Armuts- und Reichtumsbericht
festgestellt: Das Einkommen von 15 Prozent der Men-
schen in Deutschland liegt unter der Armutsrisiko-
grenze. Nun ist eines ziemlich verblüffend: Wenn man
jedem einzelnen Menschen in Deutschland pro Monat
5 000 Euro auf die Hand geben würde – bei gleichen
Preisen – wäre die Armutsrisikoquote immer noch gleich
hoch;


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur dass die Preise nicht gleich bleiben!)


denn es hat sich ja in der Relation nichts geändert. Das
ist schon einigermaßen schwer zu erklären. Das begrün-
det aus meiner Sicht, warum die Ministerin zu Recht
sagt, dass diese Armutsrisikoquote einigermaßen proble-
matisch ist.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, wenn jeder 5 000 bekäme! Das ist eine Fiktion!)


Ganz bunt wird es aber bei dieser Armutsrisikoquote,
Frau Kipping, wenn wir uns ein Szenario einer komplet-
ten Umverteilung ausdenken. Alle Vermögenswerte wer-
den enteignet; jeder bekommt nur 200 Euro monatlich
vom Staat als eine Art bedingungsloses Grundeinkom-
men unabhängig von Arbeit. In diesem Szenario wäre
keiner arm, weil keiner weniger als das Medianeinkom-
men erhält.


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Das stimmt doch nicht!)


Das ist ebenfalls ein wenig verrückt: Man könnte aus
Mangel an Geld verhungern, aber arm ist man nicht.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811216700

Herr Kollege Zimmer, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Matthias W. Birkwald?


Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1811216800

Weil das „W“ so schön ausgesprochen wird, natürlich

gerne.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811216900

Ja, er legt darauf besonderen Wert.


Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811217000

Ganz besonders herzlichen Dank an Frau Präsidentin

und auch an Sie, Herr Kollege Zimmer. – Herr Kollege
Zimmer, Sie haben sehr viel aufgezählt, was alles Armut
nicht ausmacht und schöne Rechenbeispiele dargelegt.
Ich habe zwei Bitten. Erstens. Sagen Sie uns doch bitte,
wer aus Ihrer Sicht in der Bundesrepublik Deutschland





Matthias W. Birkwald


(A) (C)



(D)(B)


als arm zu bezeichnen ist. Wo liegt aus Ihrer Sicht die
Armutsgrenze?

Zweitens. Ihr Beispiel der 5 000 Euro klingt wohlfeil.
Wenn man es zu Ende denkt, dass wir alle 5 000 Euro
monatlich bekämen, würden die Preise mit Sicherheit
– darüber würde ich Ihnen eine Wette anbieten – deutlich
steigen. Dann wäre zum einen der Effekt schnell ver-
pufft. Zum anderen zielt der Begriff der relativen Armut,
der in Europa komplett anerkannt ist, darauf ab, dass alle
Menschen auch die Möglichkeit der gesellschaftlichen
Teilhabe haben sollen. Es handelt sich dabei um einen
europäischen Standard. Was Sie machen, führt dazu,
dass sich die Reichen große Autos und Flugzeuge leisten
können – das sind die Statussymbole des 21. Jahrhun-
derts –; aber für die Armen wollen Sie die Standards
des 18. Jahrhunderts festlegen. Das funktioniert nicht.
Schließlich fahren auch die Reichen heute nicht mehr in
Kutschen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Es ist wesentlich schlimmer, in einem reichen Land
arm zu sein, als wenn alle ungefähr dasselbe haben. Ich
bitte Sie, etwas dazu zu sagen. Denn die skandinavi-
schen Länder zeigen, dass es anders geht. Dort sind viele
Menschen nahe beieinander auf einem hohen Niveau,
und alle sind glücklich.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1811217100

Lieber Herr Kollege Birkwald, das mache ich natür-

lich gerne. Der erste Punkt ist: Ich habe nur das aufge-
nommen, was die Kollegin Kipping an der Ministerin
kritisiert hat, und gesagt, ich kann das, was die Ministe-
rin an dem Armutsquotienten kritisiert hat, gut nachvoll-
ziehen, weil der Armutsbegriff in der Tat zwei Facetten
hat. Er ist auf der einen Seite eine statistische Relation,
die durchaus Sinn macht. Auf der anderen Seite ist er
aber ein Kampfbegriff, und die Art und Weise, wie ge-
rade Ihre Fraktion diesen Begriff verwendet, zeigt, dass
man eine genaue Abgrenzung treffen muss, damit man
das eine nicht mit dem anderen verwechselt.

Was den zweiten Punkt angeht, haben Sie Ihre Frage
ein wenig zu früh gestellt. Denn auf die Frage, was Ar-
mut eigentlich ist, wollte ich im Laufe der Rede noch
eingehen. Vielleicht ist die Frage mit Ihrem Einverständ-
nis damit beantwortet, und ich fahre fort und stille im
weiteren Verlauf der Rede Ihren Wissensdurst.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dann setze ich mich jetzt!)


Meine Damen und Herren, aus diesem Grund muss
man, denke ich, einen genauen Blick auf die Zahlen wer-
fen. Gottfried Benn hat einmal gesagt: Wir müssen mit
unseren Beständen rechnen statt mit Parolen. Dazu hat
der Vierte Armuts- und Reichtumsbericht einige gute
Grundlagen gelegt. Er belegt beispielsweise, dass sich
die Schere bei den Einkommen seit 2007 langsam
schließt. Das ist vermutlich auch auf die Wirkungen der
Arbeitsmarktreformen zurückzuführen, aber ich will nie-
manden in Verlegenheit bringen.

Er belegt auch, dass die Vermögenskonzentration in
den letzten 20 Jahren leicht zugenommen hat. Der Gini-
Koeffizient, das Maß gesellschaftlicher Ungleichheit, ist
aber in etwa gleich geblieben. Übrigens vermute ich,
dass der nächste Bericht deutlich machen wird, dass die
Einführung des Mindestlohns einen positiven Einfluss
auf die Einkommensrelationen und den Gini-Koeffizien-
ten hat. Gleichwohl ist der Mindestlohn, anders als Sie
in Ihrem Antrag annehmen, kein Instrument zur Armuts-
bekämpfung, sondern eine Maßnahme zur Ordnung des
Wettbewerbs auf dem Arbeitsmarkt.

Etwas anders sieht es aus, wenn man die Einkom-
mens- und Vermögensentwicklungen langfristiger be-
trachtet. Hierzu greife ich die Ergebnisse der Studie von
Thomas Piketty über das Kapital im 21. Jahrhundert auf.
Demnach ist die Ungleichheit der Einkommen in den
letzten 120 Jahren bis zum Beginn der 80er-Jahre deut-
lich zurückgegangen und hat sich seither moderat er-
höht. Ähnliches gilt für die Vermögensverteilung. Dabei
unterscheiden sich Europa und die USA deutlich, nicht
zuletzt auch deshalb, weil es unterschiedliche Auffas-
sungen über das Verhältnis der Wirtschaft zum Sozial-
staat gibt.

Wichtig ist mir aber eines: Die von Piketty als Ten-
denz herausgearbeitete Faustformel, dass die Kapitalren-
dite immer höher sei als das Wirtschaftswachstum, hat
offensichtlich nicht dazu geführt, dass es zu einer Kon-
zentration der Vermögen gekommen ist. Überdies ist
auch der Hinweis wichtig und richtig, dass es immer
wieder wechselnde Personen sind, die Vermögen besit-
zen. Joseph Schumpeter hat das einmal mit dem Bild des
kapitalistischen Hotels beschrieben: Das Hotel ist zwar
immer voll, und auch die Suiten sind immer gut belegt,
aber die Gäste wechseln. Schumpeter hat das auf den
produktiven Neid zurückgeführt, der zu wirtschaftlicher
Aktivität führt und zu den Prozessen schöpferischer Zer-
störung, der alte Strukturen – im Übrigen auch alte Ver-
mögen – zerstört und neue schafft. Ich will Schumpeter
in einem folgen: Ich halte produktiven Neid für sinnvol-
ler als den unproduktiven Neid, der nur zum Ziel hat,
den Reichen ihren Reichtum zu nehmen. So funktioniert
Wohlstand für alle nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich halte ein bestimmtes Maß an gesellschaftlicher
Ungleichheit für durchaus vernünftig, wie Piketty im
Übrigen auch. In der sozialen Marktwirtschaft ist es
diese Ungleichheit, die auch Triebfeder für Innovation
und Fortschritt ist. Wir haben ein Eigeninteresse daran,
dass die Ungleichheit nicht zu groß wird, weder nach
oben noch nach unten. Deshalb brauchen wir die Ar-
muts- und Reichtumsberichte, und deswegen ist es sinn-
voll, zu formulieren, was wir von solchen Berichten er-
warten. Da ist die Armutsrisikoquote eine interessante
Zahl. Aber spannender ist es, den Blick zu weiten, zum
Beispiel auf die Antworten, die wir in der letzten Legis-
laturperiode auf die Frage nach einem Wohlstandsindi-
kator gegeben haben. Wohlstand findet seinen Ausdruck
eben nicht nur in der Einkommens- und Vermögensvertei-
lung, sondern zum Beispiel auch in der Beschäftigungs-
quote, der Bildungsquote, dem Maß an individueller Frei-





Dr. Matthias Zimmer


(A) (C)



(D)(B)


heit, der Schuldenstandsquote und der Gesundheit. Die
Liste der Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen.

Wichtig ist mir, dass wir Chancen abbilden, um die
Armutsrisiken abbauen zu können. Ich würde mich freuen,
wenn sich davon einiges im nächsten Armuts- und Reich-
tumsbericht wiederfände; darauf deutet das eine oder an-
dere hin. Dann können wir über Chancen und Befähi-
gungen sprechen, Armut zu bekämpfen, und müssen
nicht lediglich über die Umverteilung von Vermögen
diskutieren. Armut wird nicht dadurch bekämpft, dass
man Menschen Geld in die Hand drückt. Armut bekämp-
fen wir nachhaltig am besten, indem wir Menschen befä-
higen, indem wir ihnen Möglichkeiten eröffnen und
Chancen bieten, sich selbst zu helfen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das eine muss das andere nicht ausschließen!)


Deutschland ist – anders als es die Linke glauben ma-
chen will – kein Land, das in sich gespalten ist. Die so-
ziale Marktwirtschaft setzt einen Rahmen, der für Fair-
ness und Ordnung sorgt und dem Schwachen hilft.
Hierum werden wir beneidet; denn wir verbinden wirt-
schaftlichen Erfolg und soziale Gerechtigkeit. Wir wol-
len eben gerade nicht den rücksichtslosen Liberalismus
des Stärkeren, den sozialdarwinistischen Kampf in der
Wirtschaft. Dazu habe ich ein interessantes Zitat im
Brief von Paulus an die Galater gefunden. Dort heißt es:

So ihr euch aber untereinander beißet und fresset,
so seht zu, dass ihr nicht untereinander verzehrt
werdet.

Bei diesem Zitat habe ich keine Sekunde an den Zustand
unserer sozialen Marktwirtschaft gedacht, ein wenig
aber schon an die inneren Turbulenzen bei den Linken,
denen ich diese Mahnung von Paulus gerne mit auf den
Weg gebe.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Katja Kipping [DIE LINKE]: Kalauer!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811217200

Vielen Dank. – Als Nächster spricht Dr. Wolfgang

Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es gab eine Zeit, in der noch keine Armuts- und Reich-
tumsberichte veröffentlicht wurden. Das war vor 1998.
Damals hat jede Regierung behauptet, dass es Armut in
unserem Land nicht gibt. Dabei hat es keine Rolle ge-
spielt, ob die SPD oder die Union regiert hat. Alle haben
Armut negiert.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Als die Grünen mitregiert haben, hat es auch keine Armut gegeben!)


– Wir haben leider erst seit 1998 regiert. Damals war
auch noch die FDP in der Regierung. – Die Meinungen
über die Existenz von Armut schwankten natürlich.

Wenn man in der Opposition war, gab man die Existenz
von Armut doch zu.

Dann ist es unter Rot-Grün tatsächlich gelungen, eine
regelmäßige Armuts- und Reichtumsberichterstattung
einzurichten. Ich würde sagen, es war richtig, zu fordern,
dass der Bericht von der Bundesregierung kommt, weil
dann endlich die Bundesregierung selber darstellen
musste, wie groß die Armut in Deutschland ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Deswegen bin ich etwas skeptisch, was das Outsour-
cing in eine unabhängige Kommission angeht. Auch da
gab es unter Rot-Grün die eine oder andere Erfahrung,
die vielleicht nicht so positiv war.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die Hartz-Kommission?)


Damals haben wir die Debatte über Themen ausgela-
gert, die eigentlich hier in den Bundestag gehört hätten.
An der Stelle kann man, wie ich glaube, durchaus die
Beteiligungsmöglichkeit verbessern.

Es ist tatsächlich einigermaßen transparent, was pas-
siert. Es gibt die Internetadresse www.armuts-und-reich
tumsbericht.de, auf der man sehen kann, welche Gut-
achten vergeben worden sind und dass Symposien statt-
gefunden haben. Allerdings ging das alles am Parlament
vorbei. Es wäre, glaube ich, eine Überlegung wert, ob
man nicht am Anfang dieses Prozesses auch hier im
Bundestag eine Debatte führt, bei der der Bundestag die
Möglichkeit hat, der Bundesregierung mitzugeben, wel-
che Themen und welche wichtigen Fragen in dem Ar-
muts- und Reichtumsbericht behandelt werden sollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Fragen liegen auf der Hand. Ich will betonen: Das
ist ein Armuts- und Reichtumsbericht. Die Behauptung,
die Matthias Zimmer aufgestellt hat, könnte einmal ge-
prüft werden.


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Sie ist falsch!)


Ich halte es für ziemlich absurd, zu behaupten, dass die
Reichen Vermögen zwischen den Personen ständig
wechseln. Mir ist nicht bekannt, dass Milliardäre oder
auch nur Millionäre dauernd ihr Vermögen verlieren


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Und in Hartz IV landen!)


und andere dann so hohe Vermögen anhäufen. Es wäre
vielleicht im unteren Einkommensbereich wünschens-
wert, wenn es da Bewegung gäbe – darauf komme ich
gleich zurück –, aber bei den großen Vermögen ist es so,
dass die Reichen relativ stabil oben auf der Skala sind.
Das ist ein Problem, das unbedingt angegangen werden
muss.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das ist auch etwas, was Piketty in seinem Buch be-
schreibt. Gestern hatte ich eine schöne Veranstaltung,





Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(A) (C)



(D)(B)


auf der ich über Piketty einen Vortrag gehalten habe. Er
beschreibt, dass die Vermögen in den letzten Jahren sehr
stark angestiegen sind. Was er bei der Vermögensvertei-
lung vor allen Dingen beklagt, ist, dass wir in Deutsch-
land dadurch ein Demokratieproblem haben. Er kommt
nicht mit dem erhobenen Zeigefinger und spricht nicht
von den bösen Reichen, die so viel Geld hätten, weswe-
gen er auf sie neidisch sei, sondern er sagt: Es ist ein
Problem für die Demokratie, wenn das Vermögen so
stark konzentriert ist und so viel Macht in der Hand von
einigen wenigen liegt. – Das ist eine Debatte, die wir na-
türlich auch hier im Parlament führen müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Was die andere Seite betrifft, die Armut, so gibt es ge-
rade die Diskussion über die Armutsmessung. Darüber
können wir jetzt lange wissenschaftliche Diskussionen
führen und uns fragen, was das richtige Maß ist. Ich habe
dazu schon veröffentlicht. Auch an der Stelle muss man
vielleicht einmal in die Vergangenheit schauen. In den
90er-Jahren bestand ein heilloses Chaos bei der Frage,
welche Armutsmaße verwendet werden sollten. 2001
gab es einen Prozess auf europäischer Ebene, an dem
auch ich als Wissenschaftler beteiligt war. Damals gab es
eine Einigung auf ein Armutsmaß, das seitdem in der
Europäischen Union verwendet wird. Es ist sehr gut,
dass es damals eine Einigung gab.

Dadurch haben wir dieses Chaos nicht mehr. Es
wurde als Armutsgrenze der Wert von 60 Prozent des
Medianeinkommens festgelegt, die sogenannte modifi-
zierte OECD-Skala. Das ist relativ kompliziert, aber das
ist die Messung des Bruttoinlandsprodukts auch. Bei der
hatten wir letztes Jahr eine Veränderung. Jetzt fließen
auf einmal Gewinne aus Drogenhandel und Schmuggel
ebenfalls in das Bruttoinlandsprodukt ein. Die Berech-
nung des BIP hingegen ist noch nicht von der Union kri-
tisiert worden. Das habe ich zumindest noch nicht mitbe-
kommen.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Doch!)


– Matthias Zimmer und die Enquete-Kommission nehme
ich da einmal aus, aber im Allgemeinen noch nicht.

Ich glaube, es ist gut, dass wir da ein einheitliches
Maß haben. Die Bundesregierung sollte sich daran hal-
ten. Das tut sie beim EU-2020-Prozess nicht. Sie hält
sich nicht an europäische Indikatoren, sondern sie hat
sich einen eigenen Indikator ausgedacht. Man stelle sich
einmal vor, Griechenland würde sagen: Wir berechnen
das BIP jetzt ganz anders. – Was gäbe es hier für einen
Aufstand! Die Bundesregierung nimmt sich das bei der
Armutsbekämpfung heraus. Das ist meines Erachtens
ein Skandal.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Da meine Zeit schon abgelaufen ist,


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nur die Redezeit!)


kann ich jetzt nicht mehr weiter auf die Armutssituation
eingehen. Ich empfehle, den aktuellen DIW-Wochenbe-
richt zu lesen, in dem klar steht, dass die Einkommens-
verteilung in den letzten 15 Jahren stark auseinanderge-
gangen ist und sich die Lücke nicht geschlossen hat. Es
steht darin, dass die Kinderarmut immer noch extrem
hoch ist, dass die Armut von Erwerbstätigen stark steigt
und dass die Altersarmut steigt. Auch das muss in dem
Armutsbericht klar und deutlich formuliert werden.
Dann kommt die politische Schlussfolgerung, und da-
rüber debattieren wir dann hier im Plenum.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811217300

Für die SPD-Fraktion spricht jetzt Daniela Kolbe.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1811217400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kollegin-

nen und Kollegen! Zunächst einmal zum Antrag der Lin-
ken. Insbesondere dem ersten Satz dieses Antrags
möchte ich vollumfänglich zustimmen. Er lautet:

Die Armuts- und Reichtumsberichterstattung ist im
Grundsatz ein wichtiges und geeignetes Instrument
zur Analyse der sozialen Wirklichkeit in Deutsch-
land.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Dem möchte ich zustimmen. Es ist wirklich so: Wir
haben das unter Rot-Grün im Jahr 2000 miteinander be-
schlossen. Deutschland war bis dahin in diesem Zusam-
menhang ein absolutes Entwicklungsland. Niemand
wusste genau Bescheid. Alle haben reden können – Herr
Strengmann-Kuhn hat das ausgeführt –, was sie wollten.
Das ist seitdem nicht mehr so. Die Große Koalition hat
2005 ein regelmäßiges Erscheinen des Armuts- und
Reichtumsberichts beschlossen. Es war von Anfang an
so, dass der Bericht keine reine Sache des Ministeriums
war, sondern es waren immer Verbände und auch Sach-
verständige eingebunden. Das ist mal mehr, mal weniger
gut gelungen, in der Tat; aber sie waren eingebunden.

Ich persönlich finde, dass die Federführung beim
BMAS sachlogisch durchaus richtig ist, nicht nur, weil
dort die Expertise, das Know-how und die Kompetenz
für solch große Fragen angesiedelt sind, sondern auch,
weil dem Armuts- und Reichtumsbericht so die Bedeu-
tung zukommt, die ihm gebührt. Alle Medien berichten
darüber, wenn der Armuts- und Reichtumsbericht veröf-
fentlicht wird. Das hat auch mit dem Absender zu tun:
Ein Ministerium beschäftigt sich mit einer solch span-
nenden Frage und setzt sich damit auch kritisch ausein-
ander. Insofern sagt die SPD ganz klar – das hat sie übri-
gens immer getan, Frau Kipping –: Das ist in Ordnung
so. Wir haben das so eingeführt, und so wollen wir das
auch beibehalten. Das ist eine Aufgabe des Ministe-
riums, und dem muss es auch nachkommen.





Daniela Kolbe


(A) (C)



(D)(B)


In der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand,
Lebensqualität“, der auch Herr Professor Zimmer ange-
hört hat, haben wir uns mit der Frage „Was ist Wohl-
stand?“ auseinandergesetzt. Diese Frage hat sehr viel mit
dem Thema „Armut und Reichtum“ zu tun. Wir waren
uns alle miteinander ziemlich schnell einig, dass es na-
türlich nicht nur um die reine Größe des materiellen
Wohlstandes einer Gesellschaft geht, sondern dass ganz
entscheidend ist, wie dieser Wohlstand verteilt ist, insbe-
sondere wie Einkommen und Vermögen in der Gesell-
schaft verteilt sind; denn daran entscheidet sich die
Frage, ob wir dem Ideal nahekommen, dass alle Men-
schen etwas aus ihrem Leben machen können, dass sie
ein Leben nach ihren Vorstellungen führen können und
aus den Ressourcen, die ihnen mitgegeben sind, wirklich
schöpfen können.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


In der Tat verstecken sich dahinter auch einige ganz
spannende statistische Fragen. Wir wissen nach wie vor
trotz vier Armuts- und Reichtumsberichten relativ wenig
über extremen Reichtum in diesem Land, und wir wissen
auch relativ wenig über Armut, insbesondere über ver-
deckte Armut. Ich finde, es lohnt sich, da weiterhin nach
wie vor ganz genau hinzuschauen. Denn wenn wir die
Wirklichkeit verändern wollen, dann müssen wir auch
die Daten und Fakten kennen. Das ist nicht trivial. Ich
denke, es lohnt sich, da auch weiterhin intensiv hinzu-
schauen.

Eines wissen wir nämlich ganz genau: Die Schere
zwischen Arm und Reich klafft in Deutschland zu weit
auseinander. Wir können gerne eine akademische De-
batte darüber führen, ob sich der Gini-Koeffizient in den
letzten Jahren noch ein bisschen verschlechtert hat, ob er
ein ganz klein wenig besser geworden ist oder ob er ei-
gentlich gleich geblieben ist. Fakt ist: Die Schere
schließt sich nicht so, wie wir es uns wünschen würden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE])


Wir stehen im internationalen Vergleich vielleicht ei-
nigermaßen da; gut stehen wir jedenfalls nicht da. Große
Organisationen wie die OECD schreiben es uns und an-
deren Industrienationen ins Stammbuch: Nehmt die Ver-
teilungsfrage wieder in den Blick, und zwar nicht nur
aus rein moralischen Gründen, sondern auch aus reinem
Eigennutz, aus ökonomischen Gründen; denn die unglei-
che Verteilung behindert auch in einem gerüttelt Maß
Möglichkeiten der wirtschaftlichen Entwicklung. – Wenn
viele Menschen keinen Zugang zu Bildung haben, dann
beeinflusst das auch die wirtschaftliche Entwicklung ei-
ner Volkswirtschaft. Das hat zuletzt die OECD im letz-
ten Jahr festgestellt. Ich denke, das wird sich auch im
neuen Armuts- und Reichtumsbericht wiederfinden.

Ich kann mir an dieser Stelle eine Bemerkung zum
Median und zur Armutsrisikoquote nicht verkneifen. Ich
widerspreche dir nur ungern, Matthias Zimmer, aber:
Wenn du jedem 5 000 Euro gibst, dann bedeutet das für
die Verteilung, dass die Spreizung nicht mehr so groß ist
wie vorher,


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, richtig!)


und dann – ich rechne es dir nachher gern vor – sinkt die
Armutsrisikoquote.


(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang StrengmannKuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das ist jetzt nicht der Anlass, zu sagen, dass wir allen
5 000 Euro geben sollten. Aber über eine Verteilung
nachzudenken, die mehr Gleichheit aufweist, macht in
jedem Fall Sinn.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Was ist von dem neuen, dem Fünften Armuts- und
Reichtumsbericht zu erwarten? Ich finde schon, hier
herrscht eine ganz andere Stimmung. Insofern habe ich
mich über den Antrag ein Stück weit gewundert. Der
neue Bericht soll Ende 2016/Anfang 2017 erscheinen.
Eine der größten Veränderungen, die ich wahrnehme, ist
die Transparenz. Der Beratungsprozess wird öffentlich
stattfinden. Die Verbände werden eingebunden. Es steht
schon jetzt fest, wer die Sachverständigen sind, die ein-
bezogen werden. Das wird offen gelebt. Das ist erkenn-
bar unter anderem an der Website; sie ist auch schon zi-
tiert worden. Da finden sich die Schwerpunkte, da finden
sich die Sachverständigen, und da finden sich alle Daten,
die dahinterliegen, zum Anschauen – ganz im Sinne von
Open Data. Insofern freue ich mich sehr auf die Debatte
um den Armuts- und Reichtumsbericht.

Es werden auch sehr interessante und wichtige
Schwerpunkte gesetzt. Ein Thema sind die Auswirkun-
gen atypischer Beschäftigung. Das ist für uns Sozialde-
mokraten ein ganz wesentliches Thema.

Ein zweites Thema ist die Relevanz von sozialräumli-
cher Segregation. Das ist wichtig, gerade wenn wir über
Auswirkungen von Kinderarmut nachdenken. Wenn in
eine Schule oder in eine Kita viele arme Kinder gehen,
dann hat das natürlich dramatische Auswirkungen.

Ein Schwerpunkt liegt auf dem Thema Reichtum.
Wie viel Einfluss auf Gesellschaft und Politik geht ei-
gentlich mit wirtschaftlichem Reichtum einher? Eine
ganz spannende Frage! Ich freue mich auf die gemein-
same Beantwortung dieser Frage und auf die weitere De-
batte.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811217500

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Dr. Astrid

Freudenstein, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Astrid Freudenstein (CSU):
Rede ID: ID1811217600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Vor vier Monaten hat der Paritätische Wohlfahrtsver-
band seinen Armutsbericht vorgestellt. „Armut in





Dr. Astrid Freudenstein


(A) (C)



(D)(B)


Deutschland auf Höchststand“ stand darin als Fazit, und
der Hauptgeschäftsführer sprach von einem „armutspoli-
tischen Erdrutsch“. Viele Medien berichteten darüber,
und viele haben dies quasi als Überschrift auch so über-
nommen.

Dieser Bericht vom Paritätischen Wohlfahrtsverband
ist ein Ritual. Er kommt immer wieder heraus. Ich lese
die Meldungen natürlich trotzdem, und sie schrecken
mich zunächst auch auf. Ich habe dann darüber nachge-
dacht, wo die darin beschriebenen Zustände, diese an-
geblich massenhafte Verarmung, in unserem Land zu-
tage treten. Ich war auch wieder ein bisschen ratlos.
Aber ich war nicht die Einzige, der das so ging. Nach ei-
nigen Tagen setzte bei vielen ein Prozess des Nachden-
kens ein. Immer mehr Journalisten, Wissenschaftler und
Politiker schauten sich den Bericht offenbar genauer an
und stellten dann tatsächlich auch kritische Fragen, ob
das denn wirklich so sein kann, ob es tatsächlich so viele
arme Menschen in Deutschland gibt. Was ist Armut
überhaupt? Ist dieser Bericht nicht vielleicht auch von
Interessen geleitet?

Ich möchte hier nicht über die Definition von Armut
sprechen,


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist das Problem!)


die diesem Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands
zugrunde liegt. Ich möchte anhand dieses Beispiels nur
zeigen, dass Zahlen und Statistiken unterschiedlich in-
terpretiert und bewertet werden können. Das gilt nicht
nur bei uns in der Politik; das gilt auch in der Wissen-
schaft. In den Sozialwissenschaften ist das sogar eine
Art Grundprinzip. Deshalb wird jeder Bericht, egal ob er
vom Paritätischen Wohlfahrtsverband oder von der Bun-
desregierung stammt, mit dem Vorwurf zu kämpfen ha-
ben, dass die Zahlen falsch interpretiert werden. Das
liegt nahezu in der Natur der Sache.

Bei dem jetzt anstehenden Fünften Armuts- und
Reichtumsbericht der Bundesregierung sind mit dem Be-
raterkreis und dem Gutachtergremium die wesentlichen
Akteure, die wissenschaftlichen und zivilgesellschaftli-
chen Akteure, beteiligt. Außerdem ist das zugrundelie-
gende Datenmaterial komplett offengelegt. Mehr Trans-
parenz, meine Damen und Herren, meine ich, geht nicht.
Man kann der Bundesregierung also beim besten Willen
nicht vorwerfen, hier irgendetwas zu verschleiern. Eine
unabhängige Kommission, wie Sie sie nun fordern, die
mit „Interessenvertretungen der von Armut und sozialer
Ausgrenzung betroffenen Personen“ besetzt ist, wäre tat-
sächlich auch nicht wirklich völlig unabhängig. Was Sie
verlangen, ist de facto – ich drücke es einmal so aus
– ein sozialistisches Komitee zur Bekämpfung von Un-
gleichheit im kapitalistischen Deutschland –


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das haben Sie jetzt aber schön gesagt! – Beifall des Abg. Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU])


– Sie hätten es kaum schöner sagen können, Herr Kol-
lege –,


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Nein! Wir haben es schon viel schöner gesagt in unserem Zukunftsmanifest!)


an dessen Erkenntnissen am besten keine Kritik geäußert
werden darf, weil sie wohl eher die reine Wahrheit sind.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Meinungsfreiheit!)


Die Handlungsempfehlungen dieser Kommission sollten
dann auch direkt von Regierung und Parlament über-
nommen werden, was im Übrigen nicht mit meinem Ver-
ständnis von demokratisch gewählten Parlamentariern
übereinstimmt. Wir sind ja schließlich keine Erfüllungs-
gehilfen einer Antiarmutskommission.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Ja!)


Meine Damen und Herren von der Linken, Sie be-
zeichnen soziale Ungleichheit als „Ausfluss des kapita-
listischen Produktions- und Verteilungsprozesses“. Da
fiel mir schon glatt die Situation Ende der 80er-Jahre in
der DDR ein. Die dortigen, ja nun nicht so kapitalisti-
schen Produktions- und Verteilungsprozesse hatten dazu
geführt, dass ein Fünftel der Bevölkerung vier Fünftel
des Vermögens besessen hat. Das mit der sozialen
Gleichheit war Ihrer Vorgängerpartei also trotz des feh-
lenden Kapitalismus offenbar auch nicht wirklich ge-
glückt.


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Wir haben halt gelernt! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Vorvorgängerpartei!)


Wenn wir heute über die Situation in Deutschland
sprechen, meine ich, könnte man zumindest diese Anti-
kapitalismusrhetorik einfach einmal weglassen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Katja Kipping [DIE LINKE]: Wenn ich Antikapitalismusrhetorik mache, klingt das anders!)


Ungleichheit entsteht im Übrigen zwangsläufig im-
mer und überall dort, wo Menschen etwas unternehmen,
vor allem wenn sie wirtschaftlich etwas unternehmen. Es
ist eben nicht so, dass Ungleichheit ausschließlich struk-
turell oder schicksalhaft eintritt. Ungleichheit ist tatsäch-
lich auch die Konsequenz unterschiedlicher Bildungs-
und Ausbildungsbereitschaft. Sie ist auch die Folge von
unterschiedlichem Arbeitseinsatz und von unterschiedli-
chen Vorstellungen vom eigenen Leben. Unsere Aufgabe
in der Politik ist es, diese Ungleichheiten, wie auch im-
mer sie entstehen, abzufedern. Der soziale Friede und
der gesellschaftliche Zusammenhalt, das sind die Ziele
unserer Sozialpolitik. Es sind eben nicht diese idealisier-
ten Vorstellungen absoluter Gleichheit. Ich meine, dass
die soziale Marktwirtschaft in den vergangenen Jahr-
zehnten bewiesen hat, dass sie dafür der richtige Weg ist.
Was verhindert wirklich Armut in unserem Land? Es ist
Ausbildung, und es ist Arbeit, gute und ordentlich be-
zahlte Arbeit.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Arbeit einfach fair entlohnt wird, dann ändert sich auch schon mal viel!)






Dr. Astrid Freudenstein


(A) (C)



(D)(B)


Hier in Deutschland arbeiten immer mehr Menschen.
Deshalb nimmt die Einkommensungleichheit auch nach
und nach ab.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Tut sie nicht! – Gegenruf des Abg. Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Doch! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie bleibt bestenfalls gleich!)


Das ist grundsätzlich eine gute Entwicklung. Auch mit
Maßnahmen, die wir hier schon ergriffen haben, zum
Beispiel mit dem Rentenpaket oder der Mütterrente,
sinkt das Risiko für Frauen, im Alter arm zu sein. Sie se-
hen also: Wir nehmen Armut natürlich nicht einfach hin.
Das darf Politik auch nicht. Aber ich kann mit Ihrem Ge-
rechtigkeitsbegriff, der allein auf Gleichmacherei und
Umverteilung setzt, wenig anfangen. Wir leben heute in
einem sozialen Rechtsstaat. Nicht nur die ganz große
Mehrheit der Menschen in unserem Land, sondern auch
viele Theoretiker sehen vor allem die Chancengerechtig-
keit als ganz entscheidend für unsere Zukunft an. Genau
dafür müssen wir sorgen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es ist nämlich völlig unstrittig, dass jedes Kind in un-
serem Land ganz nach seiner Begabung bestmöglich
gefördert werden muss, ganz egal, aus welchem Eltern-
haus es kommt. Es ist auch völlig unstrittig, dass jeder
Jugendliche, der ausbildungsfähig und ausbildungswillig
ist, eine Ausbildung bekommen muss. Das ist mein
Verständnis von Gerechtigkeit. Mit Ihren Umvertei-
lungsideen hat das wenig zu tun. Ich meine auch, dass
der Armuts- und Reichtumsbericht dafür nicht herhalten
muss.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811217700

Vielen Dank. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesord-

nungspunkt ist die Kollegin Dagmar Schmidt, SPD-
Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dagmar Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811217800

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-

legen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Was macht
Armut mit Menschen? Sie haben eine schlechtere Ge-
sundheit und leben kürzer. Armut grenzt aus. Am
schlimmsten betrifft es die Kinder: Jedes fünfte Kind ist
arm. Arm sein, was heißt das? Laut WSI oder IAB ist es
so, dass jedes fünfte arme Kind in der Wohnung nicht
ausreichend Platz hat, jedes dritte bekommt keine Brille
und keine neue Kleidung bezahlt. Sieben von zehn ar-
men Kindern können kein Kino, Konzert oder Theater
und acht von zehn kein Restaurant besuchen. Sie sind
also nicht dabei, wenn ihre Freundinnen und Freunde
ihre Freizeit gestalten. Sie können das normale soziale

Leben ihrer Klassenkameradinnen und -kameraden nicht
teilen. Das ist eines reichen Landes unwürdig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben die Lage
beschrieben, wie sie nicht einmal in dem auch von uns
scharf kritisierten Vierten Armuts- und Reichtums-
bericht geleugnet wurde.

Deutschland ist ein starkes und reiches, aber in man-
chen Bereichen und für viele Menschen auch ein unge-
rechtes Land. Die Vermögensentwicklung ist zuneh-
mend ungleicher, die Lohnentwicklung blieb hinter der
Produktivitätsentwicklung zurück. Der Druck auf die
Mittelschicht nahm zu und damit auch der Druck auf den
Sozialstaat insgesamt. Das Auseinanderdriften der Ein-
kommen und Vermögen, der anwachsende Niedriglohn-
sektor gefährden den gesellschaftlichen sozialen Zusam-
menhalt und sind ökonomisch riskant. Deswegen haben
wir nicht lange darüber diskutiert, wie der alte Armuts-
und Reichtumsbericht aussah, sondern wir haben gehan-
delt. Wir haben zuallererst den Arbeitsmarkt ins Visier
genommen und mit dem Mindestlohn erstmals in
Deutschland eine untere Entlohnungsgrenze eingezogen,
eine der größten deutschen Sozialreformen, die 3,7 Mil-
lionen Menschen geholfen hat. Darauf sind wir stolz.


(Beifall bei der SPD)


Aber damit allein ist es nicht getan. Wir brauchen
wieder starke Tarifpartner und gerechte Löhne. Deswe-
gen haben wir mit der Erleichterung der Allgemein-
verbindlichkeitserklärung, der Öffnung des Arbeitneh-
mer-Entsendegesetzes Wichtiges getan. Aber auch mit
der Stärkung der Tariftreue im Vergabegesetz werden
wir für bessere Löhne sorgen. Und wie Sie sich vorstel-
len können, sind wir auch darauf sehr stolz.

Es gibt nicht den einen Hebel zur Armutsbekämp-
fung, aber wir nehmen die verschiedenen Armutsrisiken
ins Visier.

Das erste Armutsrisiko ist Arbeitslosigkeit, vor allem
Langzeitarbeitslosigkeit. Hier nehmen wir uns einiges
vor. Der Weg in Arbeit soll nachhaltig sein. Deswegen
gibt es jetzt mehr Beratung, Begleitung und Zielgenauig-
keit. Wir legen einen Schwerpunkt auf Menschen mit ge-
sundheitlichen Beeinträchtigungen und Menschen, die
Kinder versorgen.

Das zweite große Armutsrisiko ist eine fehlende Be-
rufsausbildung. Mit der Allianz für Aus- und Weiterbil-
dung lassen wir der Wirtschaft das Argument, „die sind
alle nicht ausbildungstauglich“, nicht mehr durchgehen.
20 000 zusätzliche Ausbildungsplätze sind eine Haus-
nummer. Die assistierte Ausbildung ist für viele junge
Menschen eine wichtige Stütze auf dem Weg ins Berufs-
leben. Wir setzen die Einstiegsqualifizierung, die große
Erfolge gezeitigt hat, mit 20 000 Plätzen jährlich fort,
und wir stärken die Berufsorientierung, die Weiterbil-
dung und die Nachqualifizierung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Dagmar Schmidt (Wetzlar)



(A) (C)



(D)(B)


Wir wollen die zweite, manchmal auch die dritte oder
vierte Chance; denn das ist allemal mehr wert, als die
Transferleistung für den Einzelnen und für die Gesell-
schaft.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Krankheit ist ein weiteres Armutsrisiko. Deswegen
haben wir mit dem Rentenpaket auch für Verbesserun-
gen in der Erwerbsminderungsrente gesorgt. Aber wir
stärken vor allem – und das nicht nur mit dem Präventi-
onsgesetz – die Gesundheitsprävention insgesamt. Ge-
sundheitsschutz ist Armutsprävention, auch daran arbei-
ten wir.

Ich komme zu einem besonders skandalösen Armuts-
risiko: alleinerziehend zu sein oder viele Kinder zu ha-
ben. Drei Dinge brauchen Familien: Geld, Zeit und gute
Betreuung. Deswegen erhöhen wir zur finanziellen
Besserstellung von Familien den Kinderfreibetrag, das
Kindergeld und den Kinderzuschlag. Wir hätten uns das
alles schneller und auch mehr vorstellen können.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Zweiklassengesellschaft für Kinder!)


Es war uns aber besonders wichtig, endlich den Steuer-
freibetrag für Alleinerziehende zu erhöhen. An dieser
Stelle ein Dankeschön an Manuela Schwesig, dass sie
nicht nachgelassen hat und die Erhöhung des Steuerfrei-
betrages für Alleinerziehende durchsetzen konnte.


(Beifall bei der SPD – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Davon haben die Armen nicht so viel!)


Mehr Zeit, das heißt Zeit für Kinder und trotzdem ein
sicheres Auskommen. Den Weg beschreiten wir mit dem
Elterngeld Plus. Das heißt aber auch, zwischen Teilzeit
und Vollzeit frei wählen zu können. Deswegen werden
wir das Rückkehrrecht in Vollzeit gesetzlich verankern.


(Beifall bei der SPD)


Um arbeiten zu gehen und die Familie ernähren zu
können, muss die Betreuung stimmen. Deswegen haben
wir in Betreuung investiert und das Sondervermögen
Kinderbetreuungsfinanzierung auf 1 Milliarde Euro an-
gehoben.

Ja, Deutschland ist ein starkes und reiches Land, aber
eben auch in manchen Bereichen und für viele Men-
schen ein ungerechtes. Ich bin stolz darauf, dass wir es in
den ersten anderthalb Jahren der Großen Koalition ge-
schafft haben, Deutschland gerechter zu machen.

Glück auf!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811217900

Vielen Dank. – Die Aussprache ist damit beendet.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/5109 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-

verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:

Vereinbarte Debatte

Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika –
Perspektiven für unseren Nachbarkontinent

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Auch hier
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Bundes-
minister Dr. Gerd Müller für die Bundesregierung.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung:

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe
gerade gesagt: Jetzt, wo es spannend wird, verlassen
viele den Saal. Aber es sind auch viele gekommen, liebe
Kolleginnen und Kollegen.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Qualität statt Quantität!)


– Liebe Frau Roth, auch für Sie gilt: Die Geschichte der
Menschheit hat in Afrika begonnen.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da bin ich mir nicht so sicher!)


Äthiopien gilt als die Wiege der Menschheit. Das war
vor 6 Millionen Jahren. Wir sind nur einen Flügelschlag
auf diesem Planeten. Denken Sie an Lucy, das bekannte,
3,2 Millionen Jahre alte Skelett in Addis Abeba; einige
von uns fahren demnächst dorthin. Von Äthiopien, von
Afrika aus haben sich unsere Vorfahren über den Plane-
ten verbreitet. Wir sind also letztlich alle Afrikaner mit
Migrationshintergrund.

Warum erzähle ich das? Ich erzähle das, weil in unse-
rem Reden über Afrika unser Nachbar immer sehr fern
erscheint und weil wir viel zu wenig darüber wissen, was
uns verbindet. Dabei hat gerade Europa Afrikas Ge-
schichte entscheidend geprägt: der Sklavenhandel, der
Menschen zu Objekten gemacht hat und der heute noch
nachwirkt, und die willkürlichen Grenzen der Kolonial-
herren. Ein Grundstein hierfür wurde übrigens vor
130 Jahren durch die Berliner Konferenz von 1885 ge-
legt. Das ist hochspannend. Das liegt noch nicht so lange
zurück.

Wir reden von Afrika und vergessen: Der Kontinent
ist hundertmal so groß wie Deutschland. Er hat 54 Län-
der, mehr als 2 000 Sprachen, Tausende von Bevölke-
rungsgruppen, Ethnien, Stämme und Religionen, eine
vielfältige Kultur, interessante Kunst, verschiedene
Klimazonen – Wüste und Regenwald –, Pflanzenreich-
tum und Artenvielfalt von großartiger Bedeutung, Seen,
Flüsse und das Meer. Und die Größe: Allein Algerien
und Libyen sind zusammen, verehrte Gäste auf der Tri-
büne, so groß wie die gesamte Europäische Union.





Bundesminister Dr. Gerd Müller


(A) (C)



(D)(B)


In Nigeria werden in jedem Jahr 6 Millionen Men-
schen geboren, also mehr als in der gesamten Europäi-
schen Union. Ich habe den neuen Präsidenten vor kur-
zem in München getroffen. Er ist eine große Hoffnung
für dieses Land, und wir wünschen ihm alles Gute für
seine Amtsführung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


Afrika ist jung, fast so jung wie die Schülerinnen und
Schüler auf den Tribünen. Es gibt viele Jüngere im
Parlament. Stellen Sie sich vor: In Uganda, Nigeria und
Mali ist jeder Zweite jünger als 15 Jahre. Das Durch-
schnittsalter in den afrikanischen Ländern liegt bei
25 Jahren.

Afrika ist erfolgreich; das sagt nur keiner. Wir sehen
immer nur die dunklen Seiten. Das Wirtschaftswachstum
in Afrika ist rasant. Afrika hat gerade die längste Wachs-
tumsperiode seit den 60er-Jahren erlebt.

Afrika hat natürlich auch Probleme, selbstverständ-
lich: Heute sind 60 Prozent der 15- bis 24-Jährigen ar-
beitslos. Das ist dramatisch. So werden junge Leute zur
Quelle von Konflikten statt zu einem Schatz für die Zu-
kunft.

Mitte dieses Jahrhunderts werden in Afrika viermal
so viele Menschen leben wie Mitte des letzten Jahrhun-
derts, das heißt statt 500 Millionen Menschen 2 Milliar-
den, und 40 Prozent aller Kinder des Planeten. Am Ende
unseres Jahrhunderts wird jeder dritte Mensch in Afrika
leben.

Dieser Kontinent steht natürlich vor gewaltigen He-
rausforderungen, etwa bei der Energieversorgung. Noch
sind zwei Drittel Afrikas ohne verlässliche Stromversor-
gung. Vom schwarzen Afrika, das auf Kohle baut, zum
grünen Kontinent, der auf erneuerbare Energien baut,
das ist meine Vision. Wir tragen dazu bei durch Innova-
tions- und Energiepartnerschaften. Beispielsweise werde
ich noch in diesem Jahr zusammen mit den marokkani-
schen Freunden das größte Solarkraftwerk der Welt in
Marokko eröffnen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Afrika kennt natürlich auch extreme Not: Ich nenne
das Elend von Millionen von Flüchtlingen, ich nenne die
Ebolakrise und die Gewalt im Südsudan, in Teilen Nord-
afrikas und aktuell in Burundi.

Unsere neue Afrikapolitik setzt neue Schwerpunkte,
meine sehr verehrten Damen und Herren. Diese Schwer-
punkte haben wir in den letzten 18 Monaten in über
50 konkrete Initiativen übersetzt. Wir haben hier ver-
sprochen – Frau Roth sagt immer: versprochen, jetzt
muss geliefert werden –,


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sage ich gleich noch einmal!)


jährlich 100 Millionen Euro zusätzlich für Afrika aufzu-
wenden. Das haben wir weit übertroffen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


In diesem Jahr bekommt das BMZ den stärksten und
größten Haushalt, den es jemals hatte. Hier setzen wir ei-
nen ganz besonderen Akzent in Afrika. 2014 flossen
rund 1,5 Milliarden Euro allein in bilaterale Projekte.
Hinzu kamen 311 Millionen Euro aus den Sonderinitiati-
ven. Wir setzen darüber hinaus in der Sonderinitiative
„Fluchtursachen bekämpfen“ einen neuen Schwerpunkt,
und zwar in Krisenprävention, in Konfliktverhinderung,
in Friedensarbeit in Krisenregionen und in der Bekämp-
fung von Fluchtursachen in den Herkunftsländern der
Flüchtlinge. Ich glaube, das ist entscheidend, gerade in
der aktuellen Diskussion.


(Zuruf der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])


Die allermeisten afrikanischen Flüchtlinge – ich will
das hier heute nur kurz andeuten – kommen nicht nach
Europa. Wenn wir heute über die Flüchtlingskrise in Eu-
ropa diskutieren, müssen wir sehen: Unter 10 Prozent
der Flüchtlinge, die in Europa ankommen, sind Afrika-
ner. Dennoch ist das natürlich ein großes Thema. Des-
halb engagieren wir uns in Mali, im Südsudan, in der
Zentralafrikanischen Republik ganz neu und auch in
Nigeria. Ich werde deshalb mit Kolleginnen und Kolle-
gen erstmals auch in das Krisenland Eritrea reisen.

Wir haben durchgesetzt, dass die Friedensmissionen
der Afrikanischen Union durch den Europäischen Ent-
wicklungsfonds weiter gestärkt werden. Ich habe mit
Frau Zuma vor einer Woche vereinbart, dass wir Afrikas
Entwicklung auch durch die Zusammenarbeit an neuen
Ausbildungskonzepten voranbringen werden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, jetzt müs-
sen mehr Mittel in zivile Krisenprävention und Media-
tion fließen.

Ebola hat darüber hinaus gezeigt, dass schwache Ge-
sundheitssysteme Entwicklungserfolge zunichtema-
chen. Deshalb haben wir vor wenigen Wochen ein neues
Sonderprogramm „Gesundheit in Afrika“ beschlossen,
mit den drei Schwerpunkten Ausbildung, Aufklärung
und Ausrüstung. In über zehn Ländern des afrikanischen
Kontinents und in Regionalorganisationen werden wir
2015 und 2016 205 Millionen Euro investieren. Wir ha-
ben neue Partnerschaften für Berufsbildung eingerichtet;
das werde ich als besonderen Schwerpunkt in den nächs-
ten zwei Jahren ausbauen.

Wir haben einen Regionalfonds für Start-up-Unter-
nehmen eingerichtet. Afrika – man höre und staune! – ist
der boomende IKT-Markt in der Welt, auf Platz zwei.
Mehr als jeder zweite Afrikaner besitzt heute ein Smart-
phone, und in der Erreichbarkeit sind die afrikanischen
Länder häufig weiter als manche Region, manche Pro-
vinz bei uns zu Hause in Deutschland.


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bayern!)


Wir haben eine Deutsch-Afrikanische Jugendinitia-
tive ins Leben gerufen, die ich eigens vorstellen werde,
aufgrund der Zeit nicht heute. Wir vergeben 1 000 neue
Stipendien an afrikanische Studierende. Noch in diesem
Jahr werde ich in Algerien die Panafrikanische Universi-
tät eröffnen. Afrika setzt – das möchte ich sehr deutlich





Bundesminister Dr. Gerd Müller


(A) (C)



(D)(B)


sagen – die Rahmenbedingungen der Entwicklung aber
in ganz erheblichem Maße selbst.

Bei der Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika geht
es zum einen um die ODA-Quote bzw. die Investitionen
öffentlicher Mittel. Hiermit setzen wir den herausragen-
den Schwerpunkt. Privatinvestitionen und faire Handels-
beziehungen sind jedoch mindestens genauso wichtig,
meine sehr verehrten Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir erwarten darüber hinaus von den afrikanischen
Regierungen – das lässt sich sehr deutlich am Ranking
bezüglich einer positiven Entwicklung bzw. der Ent-
wicklung bei der Armut ablesen – Eigenanstrengungen
und Gegenleistungen, die ich nur kurz mit den Stichwor-
ten „Good Governance“, „Kampf gegen Korruption“,
„Transparenz“, „Eigenfinanzierung der Haushalte“ und
„Aufbau von Steuersystemen“ umschreiben möchte. Wir
tragen das Unsrige dazu bei. Was die Investitionen an-
geht, liegt noch vieles vor uns. Denn viel zu wenige Fir-
men in Deutschland haben bisher die Chancen dieser
Märkte erkannt. Wir hatten mehr Hermes für Afrika ver-
sprochen, und wir haben dieses Versprechen gehalten.
Seit diesem Jahr können Geschäfte mit Äthiopien,
Ghana, Mosambik, Nigeria, Tansania, Kenia, Senegal
und Uganda abgesichert werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Besondere Chancen liegen in der Digitalisierung
Afrikas. Ich habe dazu mit der GIZ, der ich ganz beson-
ders für ihr großartiges Engagement in der Breite in vie-
len Ländern danke, ein eigenes Sektorvorhaben einge-
richtet.

Unsere Sonderinitiative „Eine Welt ohne Hunger“
setzt viele neue Akzente. Ich nenne in diesem Zusam-
menhang das Stichwort „Grünes Innovationszentrum“.
Unsere Vision ist, dass „Eine Welt ohne Hunger“ auch
Lebensperspektiven auf dem Land schafft, dass Hunger
und Mangelernährung bekämpft werden. Dazu hat auch
die Kanzlerin einen ganz erheblichen Beitrag geleistet
und diese Themen auf dem G-7-Gipfel in Elmau ganz
nach oben auf die Tagesordnung gesetzt. Vielen herzli-
chen Dank!

Wir nehmen auch die Industrieländer gemeinsam in
die Pflicht für eine neue Partnerschaft mit Afrika.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Afrika ist unser Partnerkontinent. Afrika ist für uns Ver-
pflichtung, Herausforderung und Chance.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811218000

Vielen Dank, Herr Minister. – Nächster Redner ist

Niema Movassat, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Niema Movassat (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811218100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach

mehr als 50 Jahren Entwicklungszusammenarbeit mit
Afrika ist es Zeit, Bilanz zu ziehen. Die fällt leider er-
nüchternd aus. 232 Millionen Menschen in Afrika hun-
gern. Das sind 20 Prozent der Gesamtbevölkerung – so
viel wie sonst nirgendwo. Rund 30 Prozent der Kinder in
Afrika leiden an den Folgen von Mangelernährung. Zu
diesen Folgen gehört zum Beispiel eine geringere geis-
tige Entwicklung. Die gesamte Zukunft dieser Kinder
wird zerstört. Fast 50 Prozent der Menschen in Subsa-
hara-Afrika leben unterhalb der Armutsgrenze. Jahr-
zehntelange Entwicklungszusammenarbeit – und dann
solche Horrorzahlen! Lassen Sie uns endlich der Wahr-
heit ins Auge sehen. Etwas läuft gewaltig falsch. Wir
brauchen eine echte Wende in der Entwicklungspolitik!


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Absolute Priorität muss dabei die Durchsetzung des
Menschenrechts auf Nahrung haben. Die heutige land-
wirtschaftliche Produktion würde ausreichen, fast dop-
pelt so viele Menschen zu ernähren, wie derzeit auf der
Erde leben. Es ist eine Schande, dass trotz dieses Über-
flusses alle 6 Sekunden ein Kind an Hunger stirbt. Und
es ist pervers, dass Bauern den größten Anteil an den
Hungernden in Afrika haben.

Man hat jahrelang immer weniger in die Landwirt-
schaft Afrikas investiert. Weltbank und IWF haben über
Jahrzehnte bei Kreditvergaben in Afrika absurde Bedin-
gungen gestellt, die zum Beispiel in Kenia darauf gerich-
tet waren, Rosen für uns hier anzubauen statt Nahrung
für die eigene Bevölkerung. Zudem werden Kleinbauern
bis heute nicht vor Landraub durch Konzerne und
fremde Staaten geschützt. Wir fördern diesen Landraub
sogar noch, indem wir Pflanzen für Tierfutter und
Biosprit aus afrikanischen Staaten importieren. Diese
Flächen fehlen, um Nahrung für die Menschen vor Ort
anzubauen.

Die Bundesregierung – insbesondere Sie, Herr Müller –
treibt mit ihren Initiativen wie den Grünen Zentren und
der German Food Partnership Kleinbauern in die Abhän-
gigkeit der Agrarindustrie.


(Beifall des Abg. Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Kleinbauern wurden in die Projektentwicklung so gut
wie gar nicht einbezogen, dafür Unternehmen wie
Bayer, BASF und Solana. Am Ende sind die Bauern fak-
tisch gezwungen, teures Saatgut dieser Konzerne zu kau-
fen. So stärkt man nicht Kleinbauern, so treibt man sie in
die falschen Arme. Machen Sie Schluss damit!


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE], an Bundesminister Dr. Gerd Müller gewandt: Herr Minister, zuhören!)


Es ist auch nicht sinnvoll, so, wie Sie es jetzt tun, vor
allem auf Produktivitätssteigerungen mithilfe des indus-
triellen Modells zu setzen. Dieses Agrarmodell ist we-
gen seiner sozialen und ökologischen Folgen bei uns in





Niema Movassat


(A) (C)



(D)(B)


die Krise geraten. Es füllt vor allem die Taschen der
Agroindustrie, aber eben keinen Teller in Afrika. Des-
halb dürfen wir unser Agrarmodell nicht auch noch nach
Afrika exportieren. Wir müssen stattdessen Kleinbauern
stärken.


(Beifall bei der LINKEN)


Kleinbauern decken in Afrika bis zu 80 Prozent des
Nahrungsmittelbedarfs. Pro Hektar Land produzieren sie
mehr Nahrung als die industrielle Agrarwirtschaft. Ja,
Afrika kann sich selbst ernähren, aber dafür braucht es
Ernährungssouveränität.

Auch mit den neuen nachhaltigen Entwicklungszie-
len, den SDGs, muss dies primär verfolgt werden. Statt
aber die SDGs für eine echte Wende zu nutzen, tritt die
Bundesregierung auf die Bremse. Ausgerechnet bei ei-
ner der Hauptforderungen der Länder des Südens unter-
stützt die Bundesregierung diese nicht, nämlich bei dem
Ziel, die Ungleichheit in und zwischen den Staaten zu
verringern. Aber das ist angesichts der Tatsache, dass
1 Prozent der Menschheit so viel besitzt wie die übrigen
99 Prozent zusammen, der wichtigste Punkt. Wir brau-
chen endlich globale Umverteilung.


(Beifall bei der LINKEN)


Kommen wir zum Kern des Problems. Über Jahre
hinweg haben die EU und die Bundesregierung die Dau-
menschrauben bei den Ländern Afrikas immer fester an-
gezogen. Ihr Dogma lautet: Freihandel um jeden Preis.
Was uns mit TTIP droht, erleben die afrikanischen Län-
der schon seit langer Zeit, und das noch drastischer. Sie
werden und wurden mit aggressivsten Methoden dazu
gezwungen, Freihandelsverträge – aktuell die Wirt-
schaftspartnerschaftsabkommen, die EPAs – mit der EU
abzuschließen. Wer sich weigert, dem drohen harte Kon-
sequenzen, zum Beispiel, dass er nicht mehr in die EU
exportieren darf.

Lokale Märkte in Afrika werden durch die Freihan-
delsverträge zerstört, eigene Wertschöpfungsketten ver-
hindert. Afrika bleibt so Rohstofflieferant. Ich weiß, die
Bundesregierung hört leider nicht auf die Linke. Aber
hören Sie doch wenigstens auf den Afrika-Beauftragten
der Kanzlerin, Herrn Nooke, der sagte, man solle nicht –
ich zitiere –

… mit den Wirtschaftsverhandlungen kaputtma-
chen, was man auf der anderen Seite als Entwick-
lungsministerium versucht aufzubauen.

Recht hat er.


(Beifall bei der LINKEN)


Die afrikanischen Länder können mit der hochsub-
ventionierten europäischen Agrarwirtschaft nicht mithal-
ten. Das Beispiel des Exports von Hähnchenteilen, die in
Ghana zu Ramschpreisen verschleudert werden und die
dortige Geflügelproduktion zerstört haben, ist bekannt.
Die Handelspolitik darf nicht zerstören, was die Ent-
wicklungspolitik aufbaut. Herr Müller, wenn Sie faire
Handelsbedingungen erreichen wollen, dann stoppen Sie
die EPAs!


(Beifall der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])


Machen Sie Schluss mit diesem Freihandelswahn! Das
wäre ein echter Schritt zu einer solidarischen Entwick-
lungszusammenarbeit.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811218200

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Michaela

Engelmeier, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Michaela Engelmeier (SPD):
Rede ID: ID1811218300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir behandeln heute in der Debatte das Thema der Ent-
wicklungszusammenarbeit mit Afrika. Ich möchte die
Gelegenheit nutzen, einen kleinen Debattenbeitrag zu ei-
nem Thema zu leisten, über das wir überhaupt noch
nicht geredet haben. Auch bei mir geht es in erster Linie
um Flüchtlinge – man sagt, ungefähr 60 Millionen Men-
schen seien weltweit auf der Flucht –, und hier um eine
ganz spezielle, kleine Gruppe: die unbegleiteten minder-
jährigen Flüchtlinge. Dazu möchte ich Ihnen heute etwas
sagen.

Wir haben gerade in der Debatte viel über Fluchtursa-
chen gehört. Wir haben zur Kenntnis genommen, dass
wir mit stabilen und langfristigen Hilfen für die Her-
kunftsländer der Flüchtlinge dazu beizutragen müssen,
ein tragfähiges Leben in den Heimatländern zu ermögli-
chen. Das findet sich in den Afrikapolitischen Leitlinien
der Bundesregierung wieder, die im letzten Jahr verab-
schiedet wurden. Sie verfolgen einen umfassenden An-
satz, der auch in den G-7-Gesprächen Gehör gefunden
hat.

Wenn wir Fluchtursachen langfristig bekämpfen wol-
len, werden Fragen der guten Regierungsführung und
des Aufbaus staatlicher Institutionen die Schlüsselhe-
rausforderungen der kommenden Jahre sein. Sicher, das
ist wichtig und auch richtig. Ich kann dazu aber nur be-
merken: Man sollte das eine tun und das andere nicht
lassen!


(Beifall bei der SPD)


Denn – das muss klar sein – solange es Bürgerkriege,
Gewalt gegen Minderheiten und Religionsgruppen,
Vergewaltigung, Zwangsehe, Genitalverstümmelung,
Ehrenmorde und Zwangsrekrutierung von Kindern als
Soldaten gibt, werden wir Flüchtlinge und auch unbe-
gleitete minderjährige Flüchtlinge haben, die wir mit-
fühlsam aufnehmen und denen wir helfen müssen.

Viele Kinder, die nicht an den Grenzkontrollen schei-
tern, landen bei uns, als würden sie ausgesetzt. Im besten
Fall finden sie den Weg zur Erstaufnahmeeinrichtung.
Die Jugendlichen sprechen unsere Sprache nicht, haben
weder Geld noch etwas zu essen. Die meisten kommen
aus Angola, Äthiopien, Eritrea, Gambia, Irak, Iran,
Kamerun, Liberia, Mali, Nigeria, Somalia, Sudan und
Syrien. Sie kommen mit dem Flugzeug, mit der Bahn,





Michaela Engelmeier


(A) (C)



(D)(B)


mit dem Bus, mit dem Pkw, mit dem Lkw, mit dem
Schiff und im Zweifel auch zu Fuß nach Deutschland.

Nach der Statistik der Jugendhilfe befinden sich der-
zeit 18 000 junge Menschen in Obhut. Alle miteinander
haben unterschiedliche, individuelle Schicksale und Er-
lebnisse der Flucht im Gepäck. Mehr als 80 Prozent sind
Jungen, und das, obwohl besonders Mädchen von spe-
ziellen Fluchtgründen betroffen sind. Dazu gehören mas-
sive sexualisierte Gewalt, systematische Vergewaltigung
als Kriegswaffe, Zwangsheirat, Arbeitsausbeutung oder
Zwangsprostitution. Daran wird abermals die schlechte
Stellung von Mädchen sichtbar.

Wie sich das Schicksal dieser Kinder bei uns in
Deutschland entwickelt, hängt davon ab, wo sie ange-
kommen sind. In Deutschland müssten sie eigentlich di-
rekt an das örtliche Jugendamt verwiesen werden. Das
ist jedoch nicht immer der Fall. Zu viele müssen immer
noch aufgrund von Personal- und Platzmangel bei der
Jugendhilfe in Flüchtlingsheimen ausharren.

Die Grundlage für eine gute Unterbringung haben
wir: Mit dem Inkrafttreten der UN-Kinderrechtskonven-
tion in Deutschland 1992 sind die Rechte von unbeglei-
teten minderjährigen Flüchtlingen im Artikel zum Kin-
deswohl verankert worden, und das Kindeswohl hat im
Vordergrund unseres staatlichen Handelns zu stehen.
Den Flüchtlingskindern steht ein ganzer Katalog von
Rechten zu. Da es aber keine eindeutige Rechtsformulie-
rung gibt, hängt das Schicksal der Kinder zu häufig von
willkürlichen Behördenentscheidungen ab.

In unserem Jugendhilferecht gibt es allerdings den
Begriff „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ nicht.
Vielmehr fallen sie generell unter den Begriff der Min-
derjährigen ohne Begleitung von Personensorge- oder
Erziehungsberechtigten, werden also nicht als Flücht-
linge gesehen. Nach derzeitigem Recht müssen sie dort
untergebracht werden, wo sie in Deutschland ankom-
men. Damit sind Großstädte und Verkehrsknotenpunkte
wie Berlin, Hamburg, München, Köln, Düsseldorf, Bre-
men oder Frankfurt besonders belastet und bezogen auf
ihre Kapazitäten überfordert. Meistens werden die Ju-
gendlichen in Gemeinschaftsunterkünften ohne spezielle
Betreuung untergebracht.

Der Zugang zu Einrichtungen der Jugendhilfe wird
ihnen zum Teil verwehrt – zum einen aus Kostengründen
und zum anderen, weil es nicht ausreichend Plätze in der
Jugendhilfe gibt. Oft fehlen klare Anweisungen an die
Behörden. Nur wenige Mitarbeiter sind für den Umgang
mit Flüchtlingskindern ausgebildet.

Weiterhin fehlt es an verbindlichen und bundes-
einheitlichen Standards für die Aufnahme und Unter-
bringung. Dieser Zustand korrespondiert mit einer ange-
spannten Versorgungssituation in den Kommunen. Bei
der Mehrzahl der minderjährigen Flüchtlinge scheitert
die passende Unterbringung daran, dass es keine gezielt
organisierte Verteilung gibt.

Wenn die Kinder Glück haben, gibt es eine Einrich-
tung, die soziale, psychologische und rechtliche Bera-
tung anbietet. Um Abhilfe zu schaffen, haben einzelne
Bundesländer im Rahmen der Inobhutnahme ein Clea-

ringverfahren eingerichtet. In diesem Verfahren wird
eine umfassende Klärung vor dem individuellen Hinter-
grund des Kindes und der Jugendlichen vorgenommen
und anschließend ein Hilfeplan erstellt. Das Clearingver-
fahren ist somit ein Schlüssel zu passgenauen Hilfen und
zu einer passenden Unterbringung. Nicht jeder braucht
die gleiche Unterstützung. Abhängig vom Alter und den
Problemlagen braucht der eine psychiatrische Hilfe, zum
Beispiel wegen eines Kriegstraumas, der andere viel-
leicht nur ein Wohnangebot, einen Schul- oder Ausbil-
dungsplatz. Das muss schneller geklärt werden. Je besser
wir diese Jugendlichen in unser Bildungssystem integ-
rieren, desto eher wird es auch möglich, dass sie mit ei-
ner guten Perspektive eine Rückkehrmöglichkeit in ihr
Heimatland finden können.

Eine zügigere Klärung von Vormundschafts- und
Pflegschaftsfragen wäre ein weiterer Schritt, um den
Kindern eine gesicherte Zukunftsperspektive zu eröff-
nen. Um dieses Verfahren zu verstetigen, wurde von
unserer Familienministerin Manuela Schwesig ein
bundesweites Willkommensprogramm für unbegleitete
minderjährige Flüchtlinge auf den Weg gebracht.


(Beifall bei der SPD)


Mit einer gesetzlichen Regelung will das Familienminis-
terium erreichen, dass die unbegleiteten Minderjährigen
nach einem bestimmten Schlüssel über die ganze
Bundesrepublik verteilt werden, um damit eine Überfor-
derung einzelner Kommunen zu verhindern und für die
Kinder eine optimale Unterbringung, Betreuung, Be-
schulung und Ausbildung in bestehenden Programmen
und Einrichtungen zu erreichen.

All das ist ganz wichtig, sowohl für Flüchtlingskinder
in Deutschland als auch für Kinder in Afrika.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811218400

Vielen Dank. – Als Nächstes spricht die Kollegin

Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Liebe Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kol-
legen! Ich freue mich, Herr Minister Müller, über die
heutige Debatte und über den notwendigen Fokus auf,
wie Sie sagen, unsere Heimat Afrika. Aber ich sage
Ihnen ganz ehrlich: Ich würde mich noch sehr viel mehr
freuen, wenn Ihren Worten, die wir auch heute im Ple-
num hören durften, eine kohärente Politik der ganzen
Bundesregierung folgen würde.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ein Jahr nach der Verabschiedung der Afrikapoliti-
schen Leitlinien, ein Jahr nach Ihrem Afrika-Konzept
frage ich Sie heute: Wo bleibt denn der von Ihnen an-
gekündigte grundlegende Kurswechsel in der Ent-
wicklungspolitik, gerade gegenüber Afrika? Bei den un-
terschiedlichsten Gelegenheiten haben Sie darauf
hingewiesen. Ich zitiere Sie jetzt. Sie sagten, dass die





Claudia Roth (Augsburg)



(A) (C)



(D)(B)


G-7-Staaten eine „herausgehobene Verantwortung“ ge-
genüber den Entwicklungsländern Afrikas haben, da un-
ser Wohlstand auf deren Ressourcen beruht. Sie sagten
auch, dass „viel zu lange … Europa den afrikanischen
Kontinent mit ausgebeutet“ hat und sich deshalb nun
endlich die „Marktverhältnisse“ zwischen Europa und
den afrikanischen Staaten ändern und wir „neu teilen ler-
nen“ müssen.

Lieber Gerd Müller, da kann ich Ihnen nur recht ge-
ben und Ihnen zustimmen. Aber wenn das so ist, wie Sie
sagen, dann frage ich mich: Warum passiert dann ganz
praktisch nichts, was genau in die Richtung geht, in die
Sie weisen? Denn würde die Kanzlerin, würde das Kabi-
nett Ihre Worte tatsächlich ernst nehmen, dann müsste
Deutschland und dann müsste auch die Europäische
Union unverzüglich einen wirklichen Politikwechsel
einleiten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Deutschland und die EU müssten zum Beispiel ihre
überzogene Marktliberalisierung in der Handelspolitik
gegenüber den afrikanischen Ländern sofort stoppen.
Dafür hätte es eine Chance gegeben. Es hätte die Gele-
genheit beim G-7-Gipfel in Elmau gegeben. Auf diesem
Gipfel wäre es möglich gewesen, die Politik gegenüber
den afrikanischen Staaten tatsächlich neu auszurichten,
indem zum Beispiel die Vorfahrt für die Wirtschaft und
für die eigenen Handelsinteressen der G-7-Staaten been-
det wird und stattdessen die Voraussetzungen für eine
wirklich nachhaltige Entwicklung, eine Entwicklung, die
für Wohlstand auf dem afrikanischen Kontinent sorgt,
geschaffen werden.


(Zuruf des Abg. Andreas G. Lämmel [CDU/ CSU])


Aber jetzt einmal ganz im Ernst: Auch Sie müssen zuge-
ben, dass diese Chance komplett vertan worden ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir die Gipfelabschlusserklärung lesen – wir
haben sie sehr intensiv gelesen –, dann finden wir viel
Lyrik, aber keine richtungweisenden Entscheidungen der
G 7.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])


Gerade im Bereich der Entwicklungspolitik fehlen ver-
bindliche finanziell unterlegte Zusagen. Ich sage: Das ist
überhaupt kein gutes Omen für Addis Abeba.


(Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Da haben Sie recht!)


Wir alle wissen, dass solch warme Worte auf dem Papier
nichts anderes sind als schöne Rhetorik. Beispiel Hun-
gerbekämpfung: In Elmau wurde die Absichtserklärung
abgegeben, 500 Millionen Menschen bis 2030 aus
Hunger und Mangelernährung zu befreien. Aber es
wurde keine einzige konkrete Verpflichtung oder Maß-

nahme beschlossen, mit der dieses Ziel auch erreicht
werden kann.


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Stattdessen taucht das seit 45 Jahren unerfüllte Verspre-
chen der Industriestaaten, das 0,7-Prozent-Ziel, nur ab-
geschwächt und im gleichen Atemzug mit der Förderung
privater Kapitalflüsse, auf.

Nehmen wir die Handelspolitik, die Landwirtschafts-
politik, die Fischereipolitik. Da drückt sich die Bundes-
regierung doch vor der großen Verantwortung eines
tatsächlichen Politikwechsels gegenüber Afrika.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Entwicklungszusammenarbeit wird hier immer nur ein
Tropfen auf den heißen Stein bleiben, solange Fisch-
trawler vor den Küsten Senegals die Meere leerfischen,
solange europäische Agrarsubventionen die lokalen
Märkte Afrikas zerstören, solange Ihr Kollege Christian
Schmidt die Agroindustrie promotet – da nützt es auch
nichts, wenn Sie von grünen Zentren reden – oder so-
lange mit TTIP ein fairer Welthandel verhindert wird.


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


Auf TTIP hat sich ja Frau Merkel heute in der Regie-
rungserklärung wieder sehr positiv bezogen. Sagen Sie
mir doch einmal im Ernst: Wie hilft ausgerechnet TTIP
Afrika? Das hilft doch nicht, sondern das schadet in der
Konsequenz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Dr. Sascha Raabe [SPD])


Es ist deshalb ein wichtiges und notwendiges Vorha-
ben – das sage ich, weil ich weiß, dass Ihr Herz wirklich
dafür schlägt –, dass Sie, lieber Gerd Müller, verstärkt
die Fluchtursachen in den Staaten Afrikas angehen
wollen. Aber, mit Verlaub, was ist denn am Montag-
abend passiert? Sie werden doch sofort von der CSU, Ih-
rer eigenen Partei, zurückgepfiffen; denn da geht es
nicht um humanitäre Flüchtlingspolitik, sondern eher um
Flüchtlingsabwehr. Also auch hier steht zu befürchten,
dass es bei den hehren Worten bleibt.

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Politik
muss sich ändern, und unsere Interessen hinsichtlich
Afrika müssen sich ändern. Solange der von mir ge-
schätzte Entwicklungsminister in dieser Regierung aber
als Minister mit Zuständigkeit fürs gute Gewissen gese-
hen wird, während der Rest des Kabinetts etwas ganz an-
deres macht, wird leider viel zu wenig passieren. Kohä-
renz sieht zumindest anders aus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Sascha Raabe [SPD])



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811218500

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Sibylle Pfeiffer,

CDU/CSU-Fraktion.





Vizepräsidentin Ulla Schmidt


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der CDU/CSU – Johannes Selle [CDU/CSU]: Jetzt schöpfen wir wieder ein bisschen Hoffnung!)



Sibylle Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1811218600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Für uns Entwicklungspolitiker ist Afrika definitiv der
Hauptarbeitsplatz, und zwar aus sehr vielen Gründen.
Ein Grund ist die geografische Nähe zum europäischen
Kontinent, die wir im Übrigen zurzeit ganz dramatisch
an der Flüchtlingsthematik sehen. Ein weiterer Grund ist
die große Armut, die in einigen Ländern Afrikas
herrscht. Es gibt ziemlich große Baustellen, denen wir
uns noch zuwenden müssen, wie die Einbindung in den
Welthandel, Frau Roth, die Bekämpfung der Korruption
oder auch das Thema „Governance vor Ort“. Das alles
führt dazu, dass wir den Schwerpunkt unserer Entwick-
lungspolitik natürlich und zu Recht auf Afrika gelegt
haben; das hat der Minister uns ja eben weiß Gott ein-
drücklich beschrieben.

Nun ist es aber leider so, dass in vielen Medien –
manchmal auch unter uns – der Eindruck vermittelt
wird, Afrika sei ein komplett verlorener Kontinent: zu
viele Bürgerkriege – jawohl; große Armut – stimmt. Es
findet aber keine Differenzierung statt. Afrika ist ein he-
terogener Kontinent, genau wie Europa, genau wie
Asien. Ich bin diese Schwarz-Weiß-Malerei, vor allen
Dingen aus der linken Ecke, lieber Niema Movassat, ei-
gentlich leid. Ich verstehe nicht, was euch umtreibt.


(Niema Movassat [DIE LINKE]: Es geht um die Fakten!)


In Deutschland ist alles furchtbar. In Afrika ist alles
furchtbar. Es ist alles furchtbar.


(Niema Movassat [DIE LINKE]: Das sind Zahlen der Weltbank und der WHO! Ich bitte Sie!)


– Natürlich.

Ich gehe beispielhaft auf einige Punkte ein: das Men-
schenrecht auf Nahrung. Der Minister hat dazu gerade
sehr ordentlich und differenziert vorgetragen. Zum
Thema „Grüne Zentren“ muss ich sagen: Jawohl, alle
Vorgängerregierungen haben das Thema „Ländliche
Entwicklung“ vernachlässigt. Es gab Zeiten – da waren
wir nicht an der Regierung –, in denen überhaupt nicht
darüber geredet wurde. Aber was der Minister jetzt deut-
lich gemacht hat, ist: Wir müssen aufholen – natürlich
müssen wir aufholen –, und Ziel muss es sein – natürlich –,
die ländliche Entwicklung zu stärken, Exzellenzinitiati-
ven auf den Weg zu bringen und durch Learning by Do-
ing und durch Ausbildung eine Zukunft für die ländliche
Entwicklung zu schaffen. Wenn das keine gute Idee und
entwicklungsförderlich ist, dann weiß ich es nicht.

Heike Hänsel, wir waren zusammen in Guatemala.
Nirgends kann man besser als dort sehen, wie nachhalti-
ger Kaffeeanbau praktiziert wird: vom Setzling bis zum
Export nach Europa. Hallo, wenn das keine gute Arbeit
ist!


(Zuruf der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])


Sie ist natürlich noch nicht so nachhaltig, und sie ist
auch noch nicht so ausgebaut, wie es vielleicht notwen-
dig wäre. Aber, liebe Freunde, wie wollen wir die Welt
denn von heute auf morgen ändern? Liebe Claudia Roth,
ihr habt vier Jahre Zeit gehabt, die Politik zu ändern. Ihr
habt gar nichts gemacht; ihr habt es schlechter gemacht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir sind auf einem guten Weg. Wir machen es richtig.
Ich glaube, wir haben mit unserem Minister Müller je-
manden, der die Arbeit genau richtig macht, –


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811218700

Frau Kollegin?


Sibylle Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1811218800

– mit viel Herzblut, viel Energie und ganz viel zusätz-

lichem Geld. Ich will nur einmal daran erinnern, wer
eine ODA-Quote von 0,7 versprochen hat und wer sie
wann, wo, wie und mit wessen Unterstützung erreicht
hat; das wollen wir doch einmal ganz klar festhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es sind nämlich wir, die das jetzt geschafft haben: zu-
sammen mit der SPD –


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811218900

Frau Kollegin Pfeiffer?


Sibylle Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1811219000

– und mit einem Minister, der sich dafür einsetzt und

eine Unterstützung hat, die ihresgleichen sucht, nämlich
die Unterstützung der Frau Bundeskanzlerin.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811219100

Frau Kollegin Pfeiffer, ich möchte Ihnen die Gelegen-

heit geben, einmal Luft zu holen. Der Kollege Movassat
hat gefragt, ob er Ihnen eine Frage stellen kann.


Sibylle Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1811219200

Wenn ich sie jetzt nicht zulasse, dann will er sie hin-

terher stellen.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Da sind wir hartnäckig!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811219300

Sie sind damit einverstanden, okay.


Niema Movassat (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811219400

Frau Kollegin Pfeiffer, Sie haben völlig recht: Die

Linke ist hartnäckig. – Sie haben gerade einzelne Pro-
jekte dargestellt und Maßnahmen vorgestellt, bei denen
es gut läuft und die sicherlich sinnvoll sind. Meine Frage
ist aber: Sehen Sie nicht auch, dass die derzeit betriebene
Freihandelspolitik, namentlich die Wirtschaftspartner-
schaftsabkommen, die EPAs, solche Erfolge gefährdet?

Ich habe in meiner Rede ja Herrn Nooke zitiert, der
explizit auf die Gefahren hingewiesen und gesagt hat,
dass die Erfolge, die durch die Entwicklungspolitik er-





Niema Movassat


(A) (C)



(D)(B)


zielt wurden, durch die Handelspolitik zunichtegemacht
werden. Sehen Sie nicht auch, dass die Freihandelspoli-
tik, die auch die Bundesregierung bisher unterstützt, ent-
wicklungspolitische Erfolge gefährdet?


Sibylle Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1811219500

Erstens. Das kann ich so nicht sehen, weil wir das

Ganze noch nicht abgeschlossen haben.

Zweitens. Natürlich ist es richtig, ordentlich und gut,
dass es in der Bundesregierung jemanden gibt, der uns
zusätzlich darauf hinweist, wo wir bei der Erarbeitung
der Verträge noch besonders aufpassen müssen.

Sie tun hier aber schon wieder das, was Sie gerne ma-
chen; Sie sehen nämlich nur Schwarz oder Weiß.
Freunde, dazwischen gibt es eine ganze Palette von
Grautönen! Diesen Bereich müssen wir uns einmal an-
gucken.

Ich nenne noch mehr Beispiele dafür, an denen deut-
lich wird, wie gut es in Afrika teilweise läuft:

In Subsahara-Afrika steigt das Pro-Kopf-Einkommen
inzwischen um 3 bis 4 Prozent. Hallo! Zum Vergleich
können wir ja einmal nach Europa gucken.


(Zuruf der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])


Die Müttersterblichkeit ist zwar immer noch zu hoch
und dramatisch, aber sie ist immerhin um 47 Prozent ge-
sunken. Das Glas ist entweder halb voll oder halb leer.
Für mich ist es – ihr kennt mich alle – immer halb voll.

Und in 25 von 39 Ländern in Subsahara-Afrika ist
man mittlerweile so weit, dass bis zu 65 Prozent der Kin-
der in die Schule gehen. Hallo!

Das alles reicht natürlich nicht; das weiß ich. Es gibt
noch viel zu tun; das weiß ich. Man kann auch noch viel
mehr machen; das weiß ich auch. Man kann aber nicht
einfach nur sagen: Das ist alles Mist, das ist alles Käse,
und wir wollen das nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Stefan Rebmann [SPD])


Hinzu kommt nämlich, dass Afrika wesentlich besser ist
als sein Ruf. Es gibt viele positive Beispiele dafür, die
ich jetzt nicht alle nennen will.


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zwei positive Beispiele!)


Das Wirtschaftswachstum beträgt dort 6 Prozent.
Hallo! Wann haben wir denn in Europa das letzte Mal
von 6 Prozent geträumt?


(Niema Movassat [DIE LINKE]: Aber wem kommt das Wachstum zugute? Das ist ja die Frage!)


– Das hätte ich im nächsten Satz gesagt. – Wir wissen,
dass es dort Korruption gibt – das habe ich am Anfang
meiner Rede schon angeprangert –, und wir wissen auch,
dass es dort Eliten gibt, die nicht funktionieren. Hier
müssen dicke Bretter gebohrt werden. Ich habe gestern
zwölf Kolleginnen aus afrikanischen Parlamenten ge-
troffen. Sie wissen all das auch, und sie arbeiten genau

wie wir daran, das zu ändern – wir von der einen Seite,
sie von der anderen. Liebe Freunde, es ist doch nicht so,
dass wir das alles alleine machen können. Von uns geht
doch nicht die Glückseligkeit aus.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811219600

Frau Kollegin Pfeiffer, der Kollege Kekeritz von den

Grünen würde gerne eine Frage stellen.


Sibylle Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1811219700

Ja.


(Niema Movassat [DIE LINKE]: Das gibt ordentlich Redezeit!)



Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811219800

Immer wenn es um das Wachstum geht, fühle ich

mich angesprochen. – Es ist ja schön, dass das Wachs-
tum dort enorm ist. Ich war von 1988 bis 1990 in Kame-
run. Damals hat dort im Prinzip kein Mensch gehungert.
Seitdem hatte Kamerun im Schnitt ein Wachstum von
6 bis 8 Prozent jährlich, und heute müssen wir feststel-
len, dass in Kamerun 13 Prozent der Menschen hungern.

Es entwickelt sich dort ein kleiner Mittelstand, und es
gibt auch ganz wenige, die extrem reich sind. Wissen
Sie: Wenn ich 1 Million Euro und Sie 100 Euro verdie-
nen, dann müssten Sie nach Ihrer Logik sagen: Euch
zweien geht es doch gut. – Das kann doch wohl nicht
wahr sein.

Was sagen Sie dazu, dass es dort seit Jahrzehnten
Wachstum gibt, während gleichzeitig sehr viele Men-
schen die katastrophalen Auswirkungen ihrer Armut
spüren? 13 Prozent der Menschen in Kamerun hungern.
Es gibt dort unten jetzt einen enormen Drogenhandel, ei-
nen enormen Menschenhandel und einen enormen Waf-
fenhandel. Also, wie ist das zu verstehen?


Sibylle Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1811219900

Jetzt machen wir wieder genau dasselbe wie vorher:

Ich erzähle von den wunderbaren Dingen, die sich in
Afrika entwickeln, und andere erzählen von den Kata-
strophen.


(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe ja das, was Sie gesagt haben, nicht bestritten.
Schauen wir uns Simbabwe als bestes Beispiel dafür an:
Simbabwe hat lange Zeit aufgrund seiner hervorragen-
den Landwirtschaft den ganzen Süden von Afrika er-
nährt. Wie ist die Situation jetzt? Chaos! Warum gibt es
dieses Chaos? Genau aus den von Ihnen genannten
Gründen, vor allen Dingen wegen Korruption. Das ist
doch das Thema. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten,
aber wir können die Länder nicht aus der eigenen Ver-
antwortung entlassen. Wir müssen mit ihnen zusammen-
arbeiten. Wir können das nicht alleine machen. Das ist
doch das Thema.


(Beifall bei der CDU/CSU – Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Glorifizierung des Wachstums ist falsch!)


– Nein, genau darum geht es.





Sibylle Pfeiffer


(A) (C)



(D)(B)


Liebe Kollegin Roth, ich habe Ihnen ganz genau zu-
gehört. All das, was Sie sagen, ist richtig.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Danke!)


Aber auch da fehlte mir ein bisschen, dass mehr als nur
Schwarz oder Weiß dargestellt wird. Aber was mir vor
allem fehlt, ist ein konkreter Vorschlag. All das, was Sie
angesprochen haben, kann man machen. Man kann sa-
gen: „Die Situation ist beklagenswert“, „Eigentlich steht
dort etwas anderes“, und: „Der Minister hat dazu dies
gesagt, jemand anderes jenes“. Aber wo ist eine konkrete
Alternative? Wir wären gerne dabei und wären auch be-
reit, Ihre Vorschläge aufzugreifen.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gut!)


Wir machen ja in der Entwicklungspolitik gerne all
das, was Afrika hilft und was dazu führt, dass es Afrika
gut geht. Wenn es Afrika gut geht, dann geht es auch uns
gut und umgekehrt. Machen wir uns doch nichts vor: All
das, was in der großen weiten Welt passiert, tangiert
auch uns, und die Probleme im Rest der Welt sind auch
ganz schnell unsere Probleme.

Wenn es uns gelingt, das, was in Afrika gut läuft, zu
verstärken, zu unterstützen und die Intensität dieser Ent-
wicklung zu verdoppeln und zu verdreifachen, und zwar
mit Unterstützung der einzelnen Länder, dann sehe ich
für Afrika nicht schwarz. Wir werden in diesem Herbst
die MDGs gemeinsam mit den Entwicklungsländern
umsetzen. Dann schauen wir, was dabei herauskommt.

Ich jedenfalls glaube, dass das, was wir machen,
Afrika nach vorne bringen wird. Und da, wo wir unter-
stützend tätig werden können, wollen wir das gerne tun.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811220000

Vielen Dank. – Jetzt hat Gabi Weber, SPD-Fraktion,

das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Gabi Weber (SPD):
Rede ID: ID1811220100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Armut, Hunger, Krankheit, Kriege,
Krisen, Flüchtlinge: ein hoffnungsloser Fall – so hat es
sich in unseren Köpfen festgesetzt, das Afrikabild in
Deutschland. Minister Müller unterstrich in der Welt am
Sonntag am 26. April dieses Jahres mit seinem Satz:
„Viel zu lange hat Europa den afrikanischen Kontinent
mit ausgebeutet“, welche Mitverantwortung auch wir in
Europa für diese Verhältnisse tragen. Ist das jedoch
schon das ganze Bild Afrikas?

Stellt man eine Presseschau der letzten zehn Wochen
unter dem Stichwort „Afrika“ zusammen, so stellt man
überrascht fest, dass sich positive und negative Meldun-
gen fast die Waage halten. Da sind die üblichen negati-
ven Schlagzeilen: „Afrika und Terror“, „Verrat an
Afrika“, „Afrika leidet unter seiner Bildungsmisere“ und

– ja, auch das – „Afrika für Blatter“. Aber ich lese auch:
„Demokratie hat in Afrika eine Chance“, „Afrika eröff-
net Unternehmern ungeahnte Chancen“. Ich finde, das
ist das Afrika-Bild, welches wir viel stärker betonen
müssen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Johannes Selle [CDU/CSU])


Zunächst aber muss ich in meiner Eigenschaft als
Mitglied der Parlamentariergruppe Östliches Afrika die
aktuelle Situation in Burundi ansprechen. Der Versuch
des amtierenden Präsidenten Nkurunziza, sich eine dritte
Amtszeit zu sichern und faire und freie Wahlen zu behin-
dern, hat dieses Land auf dem Weg zur Demokratie weit
zurückgeworfen: Gewalt gegen Demonstranten, Außer-
kraftsetzung elementarer Grundrechte, Verfolgung und
das Verschwinden von Oppositionellen, ein Umsturzver-
such, destabilisierende Flüchtlingsströme von rund
100 000 Menschen in die Nachbarländer Kongo, Ruanda
und Tansania.

Ich begrüße in diesem Zusammenhang ausdrücklich
die Entscheidung des Bundesentwicklungsministers, die
Zusammenarbeit mit Burundi auf Regierungsebene ein-
zustellen. Schwere Menschenrechtsverletzungen dürfen
nicht unbeantwortet bleiben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zugleich ist es aber wichtig, dass Entwicklungsmaßnah-
men auf lokaler Ebene zusammen mit NGOs fortgesetzt
werden. Auch die Signale eines stärkeren Engagements
der Afrikanischen Union in Burundi sind zu begrüßen.
Die Situation in Burundi darf nicht außer Kontrolle gera-
ten. Ein Übergreifen auf die Nachbarländer birgt die
ernste Gefahr eines gewaltsamen Konfliktes mit all sei-
nen unkalkulierbaren Folgen.


(Stefan Rebmann [SPD]: Richtig!)


Das können und dürfen wir nicht verantworten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Kolleginnen und Kollegen, ich möchte aber nicht mit
diesem Negativbeispiel enden. Wie eingangs erwähnt,
ist Afrika ein Kontinent der Chancen, und zwar nicht nur
für die westliche Wirtschaft. Nein, er ist es gerade auch
für die junge Generation des Kontinents. In Afrika leben
mehr als 1,1 Milliarden Menschen. Bis 2050 werden es
rund 2,4 Milliarden sein, die Hälfte davon – eigentlich
unvorstellbar – unter 25 Jahren. Die Menschen sind dort,
wo die Staaten funktionieren, durchaus gut ausgebildet,
haben einen starken Aufstiegswillen und vor allen Din-
gen auch einen demokratischen Gestaltungswillen.

Wie muss also eine Entwicklungszusammenarbeit
aussehen, die den rasanten demografischen und politi-
schen Veränderungen Rechnung trägt? Bildung ist ein
großer Schlüssel, den wir dafür brauchen, und zwar vor
allem elementare Bildung, und dies ganz besonders für
Frauen und Mädchen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Gabi Weber


(A) (C)



(D)(B)


Notwendig ist auch die rechtliche, soziale und ökonomi-
sche Stärkung von Frauen; denn sie sind der Entwick-
lungsmotor in Afrika und anderswo.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir brauchen fairen Handel, der Afrikas Wirtschaft ei-
nen gleichberechtigten Zugang zum Weltmarkt ermög-
licht, gerade auch in Europa. Wir müssen afrikanische
Länder beim Aufbau effektiver Steuersysteme und bei
der Korruptionsbekämpfung unterstützen. Wir brauchen
den Aufbau guter öffentlicher Daseinsvorsorge, die De-
zentralisierung von politischen Entscheidungen und
– auch das ist wichtig – Unterstützung bei der Anpas-
sung an den Klimawandel. Denn er trifft die ärmsten
Weltregionen am stärksten.


(Beifall bei der SPD)


Mit Geld allein ist es aber unsererseits nicht getan.
Wissenstransfer und zivilgesellschaftlicher Austausch
sind ebenso wichtig. Es geht aber auch nicht ohne Geld.
Im Übrigen bin ich daher der Meinung, dass die deut-
sche ODA-Quote zügig und mit klar messbaren Zwi-
schenschritten in Richtung 0,7 Prozent steigen muss,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


und zwar durch frisches Geld, nicht durch Umetikettie-
rung von Klimamitteln oder das reine Hoffen auf private
Investitionen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, Afrika kann und
will seine Probleme selbst lösen. Wo es noch die alten
Kräfte gibt, die den Staat als Bereicherungsinstrument
für eine kleine Elite sehen, muss unsere Entwicklungs-
zusammenarbeit jenen den Rücken stärken, die sich für
Demokratie, Pluralismus und eine gerechte Wirtschaft
einsetzen. Entwicklungszusammenarbeit ist nicht die
einfache und kurzfristige Antwort auf die aktuellen
Flüchtlingsströme. Aber sie ist das beste Mittel, den
Menschen vor Ort zu helfen, die ihr Können für den ei-
genen Wohlstand und den Aufbau ihrer Gesellschaften
nutzen wollen. Bei dieser Entwicklung wollen wir ihnen
helfen und sie unterstützen.

Danke.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811220200

Vielen Dank. – Mit diesem Beitrag ist die Aussprache

beendet.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai

(Tübingen)

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

In die Zukunft investieren – Ein Wissen-
schaftswunder initiieren

Drucksache 18/5207

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich sehe kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Die Aussprache eröffnet Kai Gehring, Bündnis 90/
Die Grünen.


Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811220300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren! Vor knapp einem Jahr
hat Ministerin Wanka ihr neues Domizil bezogen, den
Neubau des Bundesministeriums für Bildung und For-
schung.


(Dr. Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Schönes Haus!)


Darin ist alles vom Feinsten: Büros mit Tageslicht, bar-
rierefrei, inklusiv, kreative Sitzecken. Ausgezeichnet
wurde das Gebäude mit dem Goldstandard für nachhalti-
ges Bauen. Es ist quasi CO2-neutral, durch und durch ein
grünes Haus. Chapeau dazu!


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ganz anders hingegen sieht es vielerorts an Universi-
täten und Fachhochschulen aus: Die Bauten bröckeln.
Die Ausstattung ist veraltet. Hörsäle sind überfüllt. Es
regnet hinein. – Jahrelange Unterfinanzierung hat zu
Substanzverlust geführt. Bröckelnde Unis sind ein Trau-
erspiel und bedeuten eine schleichende Verschuldung
zulasten künftiger Studierender und Forscher. Dazu
kommt: Die meisten Nachwuchswissenschaftlerinnen
und -wissenschaftler hangeln sich von Zeitvertrag zu
Zeitvertrag. Beides wollen wir ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir legen heute ein grünes Investitionsprogramm für
den Wissenschaftsstandort Deutschland vor, für kreative
Köpfe und innovative Räume; denn sie sind zentrale
Quellen für künftigen Wohlstand. Höhere Investitionen
können ein Wissenschaftswunder initiieren, das unserem
Land mehr Fantasie, Vielfalt und Fortschritt bringt. Wir
laden Sie von der Koalition und Sie von den Linken ein,
mitzumachen.

Unser Investitionsprogramm ist umso wichtiger für
Sie von der Koalition, als Ihre Ministerin Wanka bisher
keine einzige eigene Idee entwickelt hat. Es reicht nicht,
bloß das Erbe der Wissenschaftspakte von Frau
Bulmahn und Frau Schavan zu verwalten, genauso we-
nig wie folgenlose halbherzige Verfassungsänderungen.
Wer sich auf Erreichtem ausruht, raubt Studierenden und
Wissenschaftlern Chancen und riskiert die Zukunftsfä-
higkeit unseres Wissenschaftssystems.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Da klatscht noch nicht einmal die Linke!)






Kai Gehring


(A) (C)



(D)(B)


Wir helfen der Wissenschaft und einer ideenlosen Minis-
terin auf die Sprünge.

Vier Punkte sind besonders wichtig:

Erstens. Für Hochschulbau und Forschungsgeräte gibt
der Bund bis Ende 2019 jährlich 1 Milliarde Euro. Brö-
ckelnde Bauten zeigen, dass dringend deutlich mehr in-
vestiert werden muss. Die Länder haben erkannt, dass
der Wegfall der Gemeinschaftsaufgabe „Hochschulbau“
durch die Föderalismusreform 2006 ein schwerer Fehler
war, gerade angesichts unterschiedlicher Haushaltslagen
in den Ländern und der Schuldenbremse. Wir fordern
daher kurzfristig ein Modernisierungsprogramm für die
Infrastruktur des Wissens.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE])


Bis 2020 sollen Bauten und Ausstattung wieder auf
der Höhe der Zeit sein. Von den Hörsälen bis zu den Bi-
bliotheken, von der digitalen Informationsinfrastruktur
über Forschungsgeräte bis hin zu den Wohnheimplätzen,
überall herrscht Mangel. Um diesen zu beseitigen, wol-
len wir jährlich mindestens 2 Milliarden Euro zusätzlich
in die Hand nehmen. Das brächte einen Schub.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Tatsächlich sind es 1,2 Milliarden Euro pro Jahr!)


Zweitens müssen wir eine dauerhafte Lösung für die
Infrastruktur des Wissens finden. Wir müssen weitere
Lücken schließen, zum Beispiel bei Forschungsinfra-
strukturen, deren Bedarfe zwischen 5 Millionen und
50 Millionen Euro liegen. Trotz Bedarf gibt es hierfür
kein Programm. Darauf hat unter anderem die DFG
mehrfach hingewiesen.

An die Hochschulbauinfrastruktur stellen wir übri-
gens besondere qualitative Ansprüche. Es ist von einer
Lebensdauer von rund 50 Jahren auszugehen. Daher ist
der tagesaktuell billigste Bau nicht der beste.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vielmehr müssen die Stätten der Wissenschaft Referenz-
bauten für Klimaneutralität, Ökologie und Nachhaltig-
keit sein. Es bedarf herausragender Forschungs- und
Lehrgebäude. Solche Gebäude dürfen keine Energiever-
schwender sein.

Wir brauchen eine Diskussion über Bedarfe und An-
forderungen an die Infrastruktur des Wissens dringend;
das fordert auch der Wissenschaftsrat. Der Bund darf
sich dieser Debatte nicht verweigern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Drittens muss endlich etwas für den wissenschaftli-
chen Nachwuchs getan werden. Ein Schritt ist die über-
fällige Novelle zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz.
Wir Grüne und die Linksfraktion haben die Nase voll
von Ihrer Verschleppungstaktik in der Koalition.
Deshalb haben wir gemeinsam für den 29. Juni eine An-
hörung des Forschungsausschusses im Bundestag durch-
gesetzt. Die Debatte muss raus aus den Hinterzimmern
und hinein in Parlament und Öffentlichkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wir werden Sie angenehm überraschen!)


Unsere grüne Novelle – auch Sie wissen das – liegt seit
einem Jahr vor und kann von Ihnen noch vor der Som-
merpause beschlossen werden. Sie von der Koalition
müssen es nur wollen.

Das alleine aber reicht nicht. Deshalb schlagen wir
Grüne einen weiteren Schritt vor. Ab 2016 soll ein
Bund-Länder-Programm für 10 000 zusätzliche Nach-
wuchsstellen mit Langfristperspektive – vom Mittelbau
bis zur Tenure-Track-Professur – sorgen.


(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Wieso nur 10 000? Warum nicht 40 000?)


Denn wir wollen Perspektiven, verlässliche Verträge und
klare Karrierewege in der Wissenschaft schaffen. Alles
andere ist fahrlässig für den Wissenschaftsstandort.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ein Wissenschaftswunder braucht auch privates
Engagement. Deshalb wollen wir viertens kleine und
mittlere Unternehmen bei Forschung und Entwicklung
unterstützen, und zwar durch eine steuerliche For-
schungsförderung. Diese Unternehmen sollen eine
Steuergutschrift für all das bekommen, was sie für For-
schung und Entwicklung ausgegeben haben.


(René Röspel [SPD]: Das habt ihr aber auch schon präziser formuliert!)


Es ist höchste Zeit für eine solche steuerliche For-
schungsförderung zugunsten von KMUs.

All diese Vorschläge bringen unser Innovationssys-
tem und damit unsere Gesellschaft voran und machen
aus Universitäten, Fachhochschulen und Unternehmen
noch attraktivere Denk- und Kreativräume; denn nicht
nur Frau Wanka, sondern auch andere haben Goldstan-
dard verdient.

Unsere Initialzündung für ein Wissenschaftswunder
kann der Koalition helfen, falsche Prioritätensetzungen
zu korrigieren, zum Beispiel das 10-Milliarden-Euro-
Schäuble-Investitionsprogramm. Es ist echt erschre-
ckend, welch antiquiertes und verstaubtes Investitions-
verständnis dem zugrunde liegt. Keinen einzigen müden
Cent gibt es darin für Bildung und Wissenschaft.
Falscher geht es nicht. Genau in diesen Bereichen wird
Zukunft vorbereitet und werden Chancen ermöglicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811220400

Herr Kollege, Sie denken doch an die Zeit?


Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811220500

Ein Wissenschaftswunder ist keine Hexerei, sondern

das kann erarbeitet werden. Machen Sie mit, es zu ini-
tiieren, für sichere Karrierewege in der Wissenschaft, für
moderne und ökologische Infrastrukturen des Wissens,
für mehr Forschung durch kleine und mittlere Unterneh-





Kai Gehring


(A) (C)



(D)(B)


men. Darum muss es jetzt gehen. Dazu haben wir einen
konzeptionellen Aufschlag gemacht. Jetzt sind Sie dran.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811220600

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Cemile

Giousouf, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Cemile Giousouf (CDU):
Rede ID: ID1811220700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen,

insbesondere der Grünen-Opposition! Sie wollen mit Ih-
rem Antrag ein regelrechtes Wissenschaftswunder entfa-
chen.


(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Nun tut sich die Wissenschaft mit Wundern im Allge-
meinen schwer. Schon im Begriff „Wunder“ steckt der
Anspruch, Naturgesetze außer Kraft setzen zu wollen. Es
ist aber doch sehr bezeichnend, dass die Opposition sich
schon ins Irrationale flüchten muss, um die erfolg-
reichste Bildungspolitik der letzten zehn Jahre überhaupt
toppen zu können. Ein schöneres Kompliment hätten Sie
unserer Bildungspolitik gar nicht machen können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. René Röspel [SPD])


Ich habe mich über den Antrag aber auch gefreut,
weil die in ihm enthaltenen Forderungen gar nicht so
schrecklich weit weg von denen der Union sind.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann können Sie ja zustimmen!)


Mit Verlaub, lieber Herr Gehring: Fast bin ich geneigt, in
Ihrem Antrag einen etwas hölzernen, unbeholfenen,
dadurch aber umso liebenswerteren Flirtversuch der
Grünen mit der Union zu lesen.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – René Röspel [SPD]: Echt? So ist das gemeint! Das ist die Flucht ins Irrationale!)


Zumindest haben wir alle schon miesepetrigere Anträge
von den Grünen gesehen. Wir von der Union sind weiß
Gott auch keine schlechte Partie.

Über 60 Milliarden Euro hat der Bund seit 2010 für
Bildung und Forschung ausgegeben. Unsere Forschung
ist Weltspitze. Unsere Hochschulen sind attraktiv für na-
tionale und internationale Studierende. Das kann sich
wirklich sehen lassen.

Im Übrigen können die Grünen ihren Wünsch-dir-
was-Rundumschlag nur deswegen halbwegs seriös vor-
bringen, weil die finanzielle Ausgangslage des Bundes
so gut ist wie seit Ewigkeiten nicht mehr.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Als Sie noch regierten, war noch alles auf Kante genäht.
Das hat aber auch einen einfachen Grund. Bei der Union
wird eben nicht nur auf die Einnahmeseite geschaut,

sondern auch auf die Ausgabenseite. Dabei gilt der Satz:
Eine gute Bildungspolitik basiert auf einem soliden
Haushalt. Sparen ist fast immer vernünftig, wobei Zu-
kunftsinvestitionen trotzdem oberste Priorität haben.

Seit 2005 investieren wir in die frühkindliche Bil-
dung, in berufliche Bildung, in Stipendien und in die
Stärkung von Forschung und Lehre an den Hochschulen
sowie in die Hochtechnologie. Aber wir sparen nicht um
jeden Preis. Sparen ist für uns kein Selbstzweck. Wir
sparen für gute Ziele und Werte. Eine stabile Konjunktur
mit entsprechend guten Steuereinnahmen und niedriger
Arbeitslosigkeit bringt in der Tat neue finanzielle Spiel-
räume. Diese werden wir auch nutzen.

In den kommenden vier Jahren werden wir weitere
9 Milliarden Euro zusätzlich in gute Bildung und For-
schung investieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


So fördern wir neue Ideen, ermöglichen attraktive Jobs
und sichern unseren Wohlstand. Das tun wir, ohne auf
diese Wunder zu hoffen, lieber Herr Gehring.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun stellen wir uns
einmal vor, die Opposition würde die Regierungsverant-
wortung tragen. Was würde sie mit dem Geld machen?
Der vorliegende Antrag beantwortet uns einige dieser
Fragen. Die Grünen möchten den Bildungs- und For-
schungsetat um mindestens 2,5 Milliarden Euro erhöhen.
Das klingt erst einmal ziemlich gut. Aber schauen wir
uns doch einmal Ihre Regierungspraxis an.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ganz toll!)


In Ihrer Regierungszeit haben Sie den BMBF-Haushalt
um gerade einmal 1,2 Milliarden Euro erhöht – um
1,2 Milliarden Euro in sieben Jahren. An dieser Stelle
wird sehr deutlich, wie bei Ihnen Taten und Worte ausei-
nanderklaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da müssen Sie nur nach Baden-Württemberg gucken! Das ist ein Wissenschaftswunderland!)


Schauen wir uns die Punkte Ihres Antrags der Reihe
nach in Ruhe einmal an. Am Anfang fordern Sie ein
– ich zitiere – „Modernisierungsprogramm für moderne
Infrastrukturen des Wissens“. Ein Antrag ist nicht auto-
matisch dadurch innovativ, dass der Begriff „modern“
häufig vorkommt.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie schreiben doch keine Anträge mehr!)


Doch etwas anderes ist an dieser Stelle wichtig: Die Län-
der sind und bleiben auch nach Inkrafttreten der Ände-
rungen von Artikel 91 b des Grundgesetzes für die
Grundfinanzierung ihrer Hochschulen zuständig. Bei
dieser Aufgabe werden sie vom Bund bereits in erhebli-
chem Umfang unterstützt. Allein durch die vollständige
Übernahme der BAföG-Kosten durch den Bund werden
die Länder jedes Jahr um 1,2 Milliarden Euro entlastet,





Cemile Giousouf


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


die sie gemäß der politischen Vereinbarung insbesondere
für Hochschulen einsetzen sollen.


(Zuruf des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


– Nein, diese Mittel sind eben für die Hochschulen vor-
gesehen gewesen, Herr Gehring.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für Schulen und Hochschulen!)


Weitere neue Spielräume bei den Ländern entstehen,
weil der Bund von 2016 an im Rahmen des Paktes für
Forschung und Innovation III den jährlichen Aufwuchs
in den Haushalten der außeruniversitären Forschungs-
einrichtungen allein tragen wird. Die Länder bekommen
also langfristig Geld. Diese erheblichen zusätzlichen
Mittel müssen aber auch in die Hochschulen investiert
werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Investieren Sie doch bitte dort, wo Sie Regierungsver-
antwortung haben.


(Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Machen wir doch!)


Die Modernisierung gönne ich Ihnen von Herzen, sofern
sie bei den Studierenden auch ankommt.

Gleiches gilt für die – Zitat – „energetisch-klimaneu-
tralen Referenzbauten“, die Sie laut Ihrem Antrag errich-
ten möchten. Diese sollen zudem den – ich zitiere – „äs-
thetischen Ansprüchen“ gerecht werden. Damit keine
Missverständnisse entstehen: Auch ich bin Fan von
schöner Architektur.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Bevor Sie sich aber in der Baukunst vollenden, Herr
Gehring, sollten Sie einmal einen kurzen Blick auf die
Schultoiletten des Landes Nordrhein-Westfalen werfen.
Da lernen Sie Demut.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – René Röspel [SPD]: Wann waren Sie das letzte Mal auf der Schultoilette?)


Lassen Sie die Kommunen mit ihren Nothaushalten
nicht allein. Sie können bei dieser Gelegenheit die
Ministerpräsidentin gleich mitnehmen. Immerhin hat ja
selbst SPD-Chef Gabriel gesagt: Die Genossen sollten
dahin gehen, wo es brodelt, stinkt und riecht.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – René Röspel [SPD]: Im Gegensatz zu Ihnen sind wir da tatsächlich häufig!)


Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, Politik
beginnt für uns mit der Betrachtung der Realität. Eine
von der Koalition bereits konkret geplante und im Koali-
tionsvertrag vereinbarte Novelle des Wissenschaftszeit-
vertragsgesetzes soll Teil eines noch in Abstimmung be-
findlichen Gesamtpaketes werden. Da müssen Sie sich

noch etwas gedulden. Dafür wird dies – das kann ich Ih-
nen schon verraten – aber ein großer Wurf werden, ein
großer Wurf deshalb, weil wir die gesamte Situation des
wissenschaftlichen Nachwuchses im Blick haben. Wir
haben eben keine partielle Wahrnehmung. Zum Gesamt-
paket gehört vor allem die von Bundesministerin
Johanna Wanka angekündigte gemeinsame Initiative von
Bund und Ländern, neue Karrierewege für den wissen-
schaftlichen Nachwuchs zu fördern, insbesondere durch
die Förderung von Tenure-Track-Stellen.

Wenn wir im internationalen Wettbewerb um die
besten Köpfe bestehen wollen, müssen wir jungen
Menschen in unserem Wissenschaftssystem verlässliche
Karriereperspektiven bieten. Auch die Länder müssen
dabei klare Zusagen für die Erhaltung und Schaffung
einer bestimmten Zahl von dauerhaften Professuren ge-
ben. Nur dann lässt sich eine systematische und nachhal-
tige Wirkung des Programms erzielen. Über den Bun-
desrat sind ja auch die Grünen in diese Verhandlungen
involviert.

Zum Schluss komme ich zu Ihrer Forderung nach
Einführung einer steuerlichen Forschungsförderung in
Form einer Steuergutschrift für KMUs. Diese wird zwar
schon diskutiert, steht aber zumindest in dieser Legis-
latur nicht auf der Tagesordnung. Es gibt auch keine ent-
sprechende Vereinbarung hierzu im Koalitionsvertrag.
Ich finde diese Forderung aber sinnvoll und empfehle
meiner Fraktion, diese nicht ad acta zu legen, auch für
den Fall, dass aus dem zaghaften Flirt doch einmal ernst
werden sollte.


(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!)


Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811220800

Vielen Dank. – Als Nächster hat Ralph Lenkert, Frak-

tion Die Linke, das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811220900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen

und Kollegen! Frau Giousouf, was ich hier alles dazu
höre, für was alles wir die BAföG-Milliarden verwenden
könnten: Kindergärten, Schulsozialarbeiter


(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Nein! Schulen! Hochschulen!)


– Ihre Ministerin sprach hier von „Schulsozialarbeitern“ –,
Hochschulen, feste Wissenschaftsstellen. Wenn ich die
Mittel für all das zusammenrechne, bleibt für keine ein-
zelne Aufgabe irgendetwas Vernünftiges übrig. Investi-
tionen in die Infrastruktur sind dringend notwendig.
Wenn Sie das nicht begreifen, dann sollten Sie einmal
die Grundrechenarten wiederholen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Ralph Lenkert


(A) (C)



(D)(B)


Überfüllte Hörsäle, veraltete Technik, marode Ge-
bäude und fehlende Ausstattungen, das ist Alltag an un-
seren Hochschulen. Die falsche Weichenstellung bei der
Föderalismusreform II, die das Kooperationsverbot fest-
schrieb, ist eine Ursache dafür. Dafür bezahlen müssen
Studentinnen und Studenten, wissenschaftliche Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter sowie Lehrkräfte, und zwar
mit unzureichenden Lern- und Arbeitsbedingungen. Das
ist und war kein zukunftsweisender Zustand.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Es fehlt an Geld, auch für dringende Reparaturen. Bei
untersuchten 71 Universitäten wurde ein Investitionsstau
von 3 Milliarden Euro allein im Zeitraum von 2008 bis
2012 festgestellt. Die Hochschulen leben von ihrer Sub-
stanz, auch die Friedrich-Schiller-Universität Jena.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Die Hochschulen leben von unserem Geld! – Gegenruf der Abg. Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Von unserem Geld? Da geht einiges durcheinander, wirklich!)


Das können wir im Bundestag gemeinsam mit den Bun-
desländern ändern.

Der Grundgesetzartikel 91 b in der neuen Fassung er-
laubt seit Januar die gemeinsame Hochschulfinanzierung
durch Bund und Länder. Warum treffen wir als Bundes-
tag mit den Ländern nicht eine erste Vereinbarung?


(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Hochschulpakt! Milliarden sind das!)


Sie könnte vorsehen: Ihr Länder erhaltet zusätzliche In-
vestitionsmittel für Gebäudesanierung an Hochschulen,
für neue Labore und bessere Technik, aber nur, wenn
dieses Geld zusätzlich zu den von Bund und Ländern
bisher geplanten Mitteln eingesetzt wird. – Unser linker
Ministerpräsident in Thüringen, Bodo Ramelow, und die
rot-rot-grüne Regierung würden dabei sein.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Der hat gerade das Erziehungsgeld abgeschafft in Thüringen, eine Sozialleistung!)


Die Hochschulpakte, Exzellenzinitiativen und Dritt-
mittelvorgaben sollten über Wettbewerb Höchstleistun-
gen bewirken. Verschiedene Studien und eigene Re-
cherchen besagen: Wenn die Bezahlung zu mehr als
10 Prozent von der Einhaltung spezieller Kriterien ab-
hängig gemacht wird, dann findet eine einseitige Opti-
mierung auf diese Kriterien statt. Wird ein Professor nur
nach Drittmitteleinwerbung beurteilt, dann wirbt er ein,
auf Teufel komm raus; seine Lehrtätigkeit kommt zu
kurz; Studenten leiden.


(Dr. Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Na, na!)


Dabei sind circa 80 Prozent der Drittmittel Gelder von
Bund und Ländern. Geben wir den Universitäten mehr
Geld für die Lehre, und einigen wir uns mit den Län-
dern! Ersetzen wir Hochschulpakte und Exzellenzinitia-
tiven durch eine höhere und ausreichende Grundfinan-
zierung für alle Hochschulen!


(Beifall bei der LINKEN – Albert Rupprecht [CDU/CSU]: „BAföG-Milliarden“, sage ich nur! Erst mal das umsetzen!)


Wie viel wissenschaftliche Kreativität bleibt einer Wis-
senschaftlerin, die permanent Bewerbungen oder Projekt-
anträge schreibt, damit ihr Vertrag wieder um sechs Mo-
nate verlängert wird? Wenig, liebe Kolleginnen und
Kollegen von Union und SPD! Ich habe null Verständnis
für Ihre Verzögerungstaktik bei der Verbesserung des
Wissenschaftszeitvertragsgesetzes.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


80 Prozent des hauptamtlichen wissenschaftlichen
Personals an Hochschulen ist nur befristet eingestellt.
Davon wird die Hälfte kürzer als ein Jahr beschäftigt.
Eine Bekannte hat zwölf Arbeitsverträge in acht Jahren
im selben Institut, beim gleichen Professor. Dass Profes-
soren begnadete Wissenschaftler sind, ist unbestritten,
aber zumindest diesem Professor fehlt es an Sozialkom-
petenz, und da braucht es Hilfe.


(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Und was macht die Hochschule? Was macht das Land?)


An etlichen außeruniversitären Forschungseinrichtun-
gen ist es nicht viel besser. 2012 waren fast 60 Prozent
der wissenschaftlichen Beschäftigten befristet angestellt,
und fast die Hälfte hatte Arbeitsverträge mit einer Dauer
von unter einem Jahr.

Wir fordern: Schluss mit Ketten- und sachgrundlosen
Befristungen!


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Projektbefristungen entsprechend der Projektdauer, aber
mindestens zwei Jahre Dauer!


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ausnahmen von der Mindestdauer nur bei Zustimmung
des Betriebsrates oder Personalrates und nur im Interesse
der Betroffenen!


(Beifall bei der LINKEN)


Mindestens drei Jahre für die Qualifikationsphase für
Doktorandinnen und Doktoranden mit Option der Ver-
längerung auf sechs Jahre! Und: Die Qualifikation wird
garantierter Bestandteil der Arbeitszeit.

Machen wir einen dritten Deal mit Ländern und For-
schungseinrichtungen für zusätzliche Dauerstellen an
Hochschulen in Forschung und Lehre und Pädagogen-
ausbildung, für die Unterstützung durch den Bund bei
einem Tenure-Track-Programm – das sind persönliche
Wissenschaftskarrierewege – und zusätzliche Dauerstel-
len in wissenschaftlicher Forschung! Aber dafür muss
die Frauenquote deutlich steigen und die Lehre einen hö-
heren Stellenwert erhalten.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke bietet Ihnen im Interesse von Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftlern, Studierenden und





Ralph Lenkert


(A) (C)



(D)(B)


Beschäftigten im Wissenschaftsbereich Zusammenarbeit
an. Machen Sie endlich auch mit!


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811221000

Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt

Dr. Simone Raatz.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Simone Raatz (SPD):
Rede ID: ID1811221100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu-
nächst: Es ist gut, dass wir hier im Plenum innerhalb ei-
nes Jahres mehrfach zu dem wichtigen Thema „Gute Ar-
beit in der Wissenschaft“ sprechen, dank Ihrer Fraktion,
Herr Gehring, und auch dank Ihrer Fraktion, Herr
Lenkert.

Es ist, denke ich, gut, dass wir uns alle, wie wir hier
sitzen, einig sind, dass etwas in unserem Wissenschafts-
system aus dem Lot geraten ist und dass wir es korrigie-
ren wollen. Darin sind wir uns hier einig, und das ist gut.
Aber – das muss ich auch sagen – es ist schade, liebe
Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, dass Sie
nicht deutlich mehr aus dem Thema Wissenschaftswun-
der gemacht haben; denn das Thema ist ja wirklich viel-
versprechend. Aber als ich dann in den Antrag geschaut
habe, habe ich gedacht: Oje, der ist doch mit heißer Na-
del gestrickt, wenig kreativ, und außer dem Titel – da
muss ich sagen: ja, darüber denkt man noch einmal
nach – findet man eigentlich Althergebrachtes.

Sie haben hier jetzt noch einmal ausgeführt, dass es
bröckelnde Bauten gibt. Nun weiß ich nicht, wo Sie sich
überall hinbewegen und nachschauen. Ich denke, das ist
ein bisschen übertrieben. Da, wo ich war – in Hochschu-
len, Universitäten und außeruniversitären Forschungs-
einrichtungen –, kann man doch sehen, dass viel gebaut
wurde, viel getan wurde, auch wenn es vielleicht an
manchen Stellen noch ein bisschen bröckelt. Aber ich
denke, auch das kriegen wir noch hin.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, eins ist uns, denke
ich, klar – dabei sollte es auch bleiben; meine CDU-Kol-
legin, Frau Giousouf, ist auch schon ein wenig darauf
eingegangen –: Für Wunder ist der Vatikan zuständig,


(René Röspel [SPD]: Der schafft das aber auch nicht!)


für die Realpolitik sollten wir zuständig sein. So ist be-
reits vieles von dem, was Sie in Ihrem Antrag formuliert
haben, auf den Weg gebracht. Wir als Koalition haben
– das nur noch einmal zur Erinnerung – 2014 die Fort-
setzung des Hochschulpakts beschlossen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben die Verlängerung des Paktes für Forschung
und Innovation erreicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben als Koalitionsfraktionen – das möchte ich hier
auch noch einmal erwähnen; ich denke, man sollte das
immer wieder betonen – die hundertprozentige Über-
nahme der BAföG-Kosten durch den Bund ermöglicht.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Natürlich haben wir damit auch finanzielle Spielräume
in den Ländern geschaffen.

Ja, wir werden auch das Wissenschaftszeitvertragsge-
setz zum 1. Januar 2016 novellieren, so wie wir es ge-
sagt haben. Da sind wir uns in der Koalition einig. Auch
wenn es manchmal nicht so zu sein scheint: Wir kriegen
das gemeinsam hin. Wenn Sie hier von einer Verzöge-
rungstaktik sprechen, muss ich sagen: Die praktizieren
wir nicht. Wir haben gesagt: Zum 1. Januar 2016 wird
dieses Gesetz novelliert. – Ich denke, da sind wir ge-
meinsam auf einem guten Weg.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Entwurf sollte ja schon im letzten Jahr vorliegen!)


Außerdem werden wir als Koalitionsfraktion ab 2017
1 Milliarde Euro zusätzlich für einen vierten Pakt bereit-
stellen. In einer der letzten Debatten haben wir uns
schon darauf verständigt. Die geschäftsführenden Frak-
tionsvorstände von SPD und CDU/CSU befürworten,
dass diese Mittel bereitgestellt werden. Jetzt geht es um
die inhaltliche Ausgestaltung des Paktes für den wissen-
schaftlichen Nachwuchs und akademischen Mittelbau.
Natürlich können Sie sich gerne mit Ihren Ideen und
Hinweisen in den Gestaltungsprozess einbringen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere von
der Fraktion der Grünen, ich denke, ich habe deutlich
machen können, was Realpolitik bedeutet. Einige Pro-
jekte habe ich genannt. Was ich aber nicht unter Real-
politik verstehe, ist die willkürliche Forderung nach
10 000 zusätzlichen Nachwuchsstellen. Vorhin kam
schon einmal der Zwischenruf: Warum 10 000? – Wie
kommen Sie auf diese Zahl? Vielleicht bekommen wir
heute in der Debatte noch eine Antwort.

Auch wir sind der Meinung: Ja, wir brauchen mehr
Stellen im System.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Aber Sie haben ja gar keinen Vorschlag!)


Weil Sie gerade ein bisschen schimpfen: Im Endeffekt
müssen wir natürlich auch auf die Situation der Länder
schauen und auf das, was da passiert. Nicht, dass wir das
alles toll finden. Aber man muss natürlich auch sagen:
Wir haben eine reellere Zahl ins Gespräch gebracht,


(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was wäre denn Ihre Zahl?)


nämlich 1 500 zusätzliche Juniorprofessuren mit Tenure-
Track-Option. Ihre Forderung nach 10 000 zusätzlichen
Stellen löst weder bestehende Probleme noch kann oder
will das irgendein Bundesland finanzieren. Da müssen
wir einmal genau hinschauen.





Dr. Simone Raatz


(A) (C)



(D)(B)



(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es kommt auf das Modell an!)


Alleine schon das, was wir auf den Weg gebracht haben,
führt nicht in jedem Falle bei allen Länderministern zu
Freude. Auch da müssen wir schauen, wen wir da mit-
nehmen. Ich bin auch gespannt, ob Ihre Wissenschafts-
ministerin, Frau Theresia Bauer, sagt: Toll, diese Mittel
stelle ich zur Verfügung.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist mit der abgestimmt! Die findet das ganz toll!)


Denn einen gewissen Anteil bei Bund-Länder-Program-
men müssen eben auch die Länder leisten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen: Statt dieser Wunderpolitik hätten Sie sich,
liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen, besser Gedanken dazu machen sollen, was wir
ohne Mittel oder ohne viel Geld im System ändern kön-
nen. Das ist einiges. Ich bin nämlich der Auffassung,
dass sich an erster Stelle etwas in den Köpfen der Präsi-
denten unserer außeruniversitären Forschungseinrich-
tungen sowie der Kanzlerinnen und Kanzler unserer
Hochschulen ändern muss.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann bauen Sie mal ohne Geld!)


Das muss sich ändern, ohne dass da gleich wieder Geld
fließt.

Sie – die Kanzler und auch die Präsidenten – sollten
ihre Einrichtungen nicht nur als Ort für Forschung und
Lehre begreifen, sondern sich eben endlich auch als gute
Arbeitgeber verstehen. Ich denke, darauf kommt es an:
Arbeitgeber, die ihren Mitarbeitern planbarere und ver-
lässlichere Karriereperspektiven bieten.

Wir hatten den Nobelpreisträger für Chemie zu Gast
im Ausschuss. Das, was er dort deutlich machte, sehe ich
auch so. Zu kurze Vertragslaufzeiten reduzieren die Risi-
kobereitschaft von Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftlern, Themen abseits vom Mainstream anzugehen.
Darunter leidet ganz erheblich die Qualität von wissen-
schaftlicher Arbeit, Innovationen bleiben aus – wir be-
klagen das zunehmend – und gut ausgebildete Fach-
kräfte verlassen unser Land. Ich denke, hier wollen wir
gemeinsam gegensteuern.


(Beifall bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, an zweiter Stelle
stehen für uns Personalentwicklungskonzepte. Lassen
Sie uns uns gemeinsam dafür einsetzen, dass Personal-
entwicklungskonzepte zur Regel im deutschen Wissen-
schaftssystem werden. Eine wie von der Europäischen
Charta für Forscher vorgeschlagene Laufbahnentwick-
lungsstrategie sollte zukünftig auch an unseren Einrich-
tungen Standard sein. Dazu gehören unter anderem die
Formulierung von Lern- und Berufszielen, aber auch all-
gemeine Beratungsgespräche.

Personalentwicklung bedeutet aber auch, unseren
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern rechtzeitig

ein Signal zu geben, wenn man deren Zukunft nicht an
der Hochschule oder einem Forschungsinstitut sieht. Es
geht darum, die Forscherinnen und Forscher in ihrer per-
sönlichen und beruflichen Entwicklung zu fördern und
planbare Karriereziele aufzuzeigen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Wissen-
schaftssystem braucht kein Wunder, wie von den Grünen
gefordert, sondern eine realistische und vor allem ver-
lässliche und längerfristig orientierte Wissenschaftspoli-
tik. Die Große Koalition hat bereits viel für das Thema
„Gute Arbeit in der Wissenschaft“ getan – und das in
dieser Legislatur. Sie können sich sicher sein: Wir blei-
ben weiterhin dran.

Danke.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1811221200

Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht

jetzt Dr. Philipp Lengsfeld.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Philipp Lengsfeld (CDU):
Rede ID: ID1811221300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Bündnis 90/Die Grünen ent-
decken ihr Herz für Wissenschaft und Forschung. Das ist
für mich zunächst einmal eine sehr gute Nachricht. Die-
ses Land braucht exzellente Wissenschaft und For-
schung. Aber eines kann ich Ihnen auch versichern: Wir,
die Union, sind die Forschungspartei in diesem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es braucht schon wesentlich mehr Anstrengung als die-
sen einen Antrag, damit sich daran etwas ändert. Aber
ich nehme den Ball gerne auf. Also lassen Sie uns zwei
wesentliche Aspekte vertiefen.

Zuerst greifen die Grünen eine altbekannte Forderung
der Union auf: steuerliche Forschungsförderung.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, dann machen Sie es doch! Stimmen Sie doch zu!)


Sie fordern 15 Prozent Steuergutschrift für Forschung
und Entwicklung, aber nur für kleine und mittlere Unter-
nehmen.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, zu Recht!)


Zu einer steuerlichen Forschungsförderung für alle Un-
ternehmen, unabhängig von ihrer Größe, wie es der BDI
fordert, können Sie sich dagegen nicht durchringen.
Aber es würde sich lohnen, über diese Position zu debat-
tieren. Es wäre eine Position, die über das hinausgeht,
was wir als Koalition schon ausdiskutiert haben.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben ausdiskutiert, dass Sie nichts machen!)






Dr. Philipp Lengsfeld


(A) (C)



(D)(B)


Denn wie in allen Fragen des Steuerrechts gibt es
auch bei der steuerlichen Forschungsförderung ernstzu-
nehmende Bedenken. Wir haben Angst vor Fehlanrei-
zen, vor zu viel Bürokratie, vor Ungerechtigkeiten, aber
auch vor Mitnahmeeffekten. Deshalb hat sich die Koali-
tion im Kompromiss darauf geeinigt, dass die Priorität in
dieser Legislatur auf die direkte Forschungsförderung
gelegt wird, insbesondere des Mittelstands. Da steht
Deutschland sehr, sehr gut da.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Die Förderung von Bildung und Forschung hat für
diese Koalition höchste Priorität. Lassen Sie uns kurz
einmal von Geld reden. Der Haushalt unseres Ministe-
riums beträgt – Sie kennen die Zahlen; aber ich sage es
gerne noch einmal – stolze 15 Milliarden Euro und
wurde über die Jahre kontinuierlich gesteigert. In der
deutschen Wissenschaftslandschaft hat sich mit Impul-
sen des Bundes wie der Exzellenzinitiative oder dem
Pakt für Forschung und Innovation eine enorme Dyna-
mik entfaltet.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Durch die Hightech-Strategie hat die Bundesregie-
rung die Forschungsförderung für große Herausforde-
rungen gebündelt, Zukunftsprojekte definiert und diese
auch massiv finanziell unterlegt. Sie hat in der letzten
Legislaturperiode zum Beispiel die Gesundheitsfor-
schung strukturell weiterentwickelt und massiv gestärkt.

Exemplarisch möchte ich ein Leuchtturmprojekt nen-
nen – natürlich kommt mein Beispiel aus Berlin; das
werden Sie mir verzeihen –: die Gründung des BIG, des
Berliner Instituts für Gesundheitsforschung. Das BIG
bringt Grundlagenforschung und klinische Anwendun-
gen – eigentlich liegen Welten dazwischen – in einem
gemeinsamen Forschungsraum zusammen.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Da ist die SPD auch dabei!)


Das ist ein tolles Projekt und ein gutes Beispiel für kon-
sequente Forschungsförderung unter Führung der Union.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir brauchen eine reibungslose Zusammenarbeit von
Wissenschaft und Wirtschaft. Über allem steht die Richt-
schnur – das ist heute auch noch nicht erwähnt worden –:
3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, also von Wirt-
schaft und Staat, für Forschung und Entwicklung – das
ist der Kern –, und dieses Ziel erreicht Deutschland. Hier
sind wir gerade im europäischen Maßstab vorbildlich.

Steuerliche Forschungsförderung hin oder her: Die
deutsche Forschungspolitik ist auf dem richtigen Weg.
Trotzdem – und damit schließe ich die Diskussion um
Geld ab – gibt sich die Union mit dem Erreichten nicht
zufrieden. Wir freuen uns, wenn wir mit Bündnis 90/Die
Grünen einen weiteren Partner für noch bessere Förde-
rung von Wissenschaft und Forschung haben.

Ein „Wissenschaftswunder“, Herr Gehring, wie Sie es
nennen, hängt aber nicht nur vom Geld und der Infra-
struktur ab – so wichtig die auch sein mögen –, sondern
auch vom gesellschaftlichen Klima. Und da geht es übri-

gens auch – das ist heute ebenfalls noch nicht erwähnt
worden – um ein klares Leistungsprinzip; das ist wich-
tig. Aber noch viel wichtiger für den Forschungs- und
Innovationsstandort Deutschland, geradezu ein Schlüs-
sel, ist die Denk- und Forschungsfreiheit. Und hier, liebe
Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen,
gehen unsere Ansichten momentan leider ziemlich
grundsätzlich auseinander.

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass
Sie, statt Forschungsfreiheit zu befördern, lieber For-
schungsplanwirtschaft mit klaren Vorgaben installieren
wollen:


(Lachen des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Darauf haben wir gewartet!)


Böse Forschung darf nicht gemacht werden, aber gute
Forschung wird gefördert bis zum Abwinken. Ich halte
dies im Kern für innovationsfeindlich; denn Innovation
ist ganz selten ein Produkt staatlich gelenkter Vorgaben.
Daran hat uns übrigens auch der Nobelpreisträger Stefan
Hell in dieser Woche im Ausschuss erinnert. Es geht
nicht um die Unterscheidung von guter und böser For-
schung; vielmehr muss zwischen erfolgreicher und mit-
telmäßiger Forschung unterschieden werden.

Für den Forschungsstandort Deutschland ist es brand-
gefährlich, wenn wir zu viele Forschungsfelder pauschal
verdammen. Ich kann die Reizthemen gerne noch einmal
aufrufen:

Nehmen wir die Energieforschung. Hier wollen Sie
die Forschung zum Beispiel für die Felder Erdgas- und
Kohleförderung und -verwertung ganz verbieten, ge-
nauso wie die Fusionsforschung.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wollen da nicht Milliarden versenken! ITER ist ein Milliardengrab!)


Dabei sind dies technologisch eminent wichtige The-
men. Ein klassischer Portfolio-Leitspruch lautet: Never
place all eggs in one basket. Das gilt auch für die Ener-
gieforschung, meine Damen und Herren.

Oder das Thema optimierte Pflanzenzucht – hier gu-
cke ich in Richtung der Linken –: Das Wort „Grüne Gen-
technik“ ist in Deutschland inzwischen fast ein Unwort.
Hier reden wir nicht mehr von Forschungsfreiheit, son-
dern praktisch vom Gegenteil: von Gängelung und Stig-
matisierung von Forschung.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Never, never düngt zu viel!)


Teilweise wurden Forscherinnen und Forscher bedroht,
ihre Arbeitsfelder zerstört, und als Krönung wurde er-
folgreichen Lehrstuhlinhabern von grün beeinflussten
Landesregierungen de facto Berufsverbot erteilt. Das
schwächt unsere Hochschulen, meine Damen und Her-
ren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Oder das Reizthema Tiermodelle, das heißt präklini-
sche Forschung. Auch hier wird im Land eine for-





Dr. Philipp Lengsfeld


(A) (C)



(D)(B)


schungs- und entwicklungsfeindliche Stimmung ge-
schürt, auch von Teilen von Bündnis 90/Die Grünen.
Aber forschungsfeindliche Angst- und Stimmungsmache
in diesem Land ist kein Weg für ein „Wissenschaftswun-
der“.

Dies betrifft im Übrigen auch das Reizthema Militär-
forschung.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Können Sie mal etwas zum Thema Hochschulbau sagen? Zur Infrastruktur?)


Gerade für Hochschulen – Herr Gehring, Hochschulen
sind Ihnen ja so wichtig – gilt: Zivilklauseln und Diskus-
sionen über Dual Use oder „böses“ Industriesponsoring
befördern kein Wissenschaftswunder, eher im Gegenteil.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Nicole Gohlke [DIE LINKE])


Forschung und Innovation brauchen Forschungsfrei-
heit, ein klares Leistungsprinzip und gute Förder- und
Forschungsbedingungen. Für all dies steht die Union.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Union steht für Militärforschung! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wie wäre es denn mit mehr Forschungsverantwortung? Das kennt ihr nicht!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811221400

Das Wort hat der Kollege Oliver Kaczmarek für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Oliver Kaczmarek (SPD):
Rede ID: ID1811221500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was

macht man als letzter Redner in der Debatte mit dem
Antrag der Grünen? Er wirkt ja doch etwas verloren. Die
Forderungen passen nicht so richtig zusammen; aber ir-
gendwie soll es wohl um Investitionen gehen. Da die
Grünen in ihrem Antrag den vorhergehenden Antrag zu
Investitionen erwähnt haben, möchte ich mich darauf
auch zunächst beziehen.

Unbestritten ist: Wir müssen natürlich in den Erhalt
unserer Infrastruktur und in Zukunftspotenziale investie-
ren. Wir dürfen die Infrastruktur nicht länger auf Ver-
schleiß fahren. Vor dem Hintergrund dieser Einsicht hat
die Koalition gehandelt: Im Bundeshaushalt stehen für
Investitionen bis 2018 10 Milliarden Euro zur Verfü-
gung, 3,5 Milliarden Euro als Sondervermögen für kom-
munale Zukunftsinvestitionen.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


– Es kommt noch mehr. – Kommunen, die den größten
Investitionsbedarf haben, werden weiter entlastet. Ich
nenne hier nur die Entlastung bei der Grundsicherung im
Alter, pauschale Entlastungen in Höhe von 2,5 Milliar-

den Euro ab 2017, Entlastung bei den Flüchtlingskosten
usw. Ich will das an dieser Stelle einfach einmal auflis-
ten. Das reicht den Grünen vielleicht nicht; das könnte
ich verstehen: Das geschieht aus der Oppositionshaltung
heraus. Aber statt auf ein Wunder zu warten, hat die
Große Koalition eben gehandelt und Geld für Zukunfts-
investitionen mobilisiert.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ein zweiter Punkt. Ich glaube – das wird in den bei-
den genannten Anträgen der Grünen deutlich und ist
auch in der Debatte vorhin schon deutlich geworden –,
die Opposition zeichnet doch ein leichtes Zerrbild vom
Zustand des Landes und vom Zustand des Bildungssys-
tems. Da ist die Rede von: eine marode Infrastruktur, ein
unterfinanziertes Bildungssystem. Weiter heißt es:

Dem Wissenschaftssystem ist die Balance verloren
gegangen.

In dem Antrag, auf den verwiesen wird, heißt es:

Das durchschnittliche Parkhaus ist in einem besse-
ren Zustand als so manche Schule …


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt auch!)


Das ist sehr sprachverliebt – das kann man schreiben –;
aber es ist politisch leider völlig unangemessen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen aussieht; aber ich
möchte für meinen Wahlkreis einmal festhalten: In mei-
nem Wahlkreis gibt es kein Parkhaus, das in einem bes-
seren Zustand ist als die Schulen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sind die Parkhäuser bei Ihnen auch so schlecht?)


Das liegt nicht daran, dass wir schlechte Parkhäuser hät-
ten, sondern an Investitionen, die verantwortliche Kom-
munalpolitiker getätigt haben, an Schwerpunkten, die sie
richtig gesetzt haben. Und wir dürfen nicht vergessen:
Das Konjunkturpaket II der ersten Großen Koalition
– eigentlich war es schon die zweite – hat einen ent-
scheidenden Modernisierungsschub,


(René Röspel [SPD]: Eine SPD-Idee übrigens!)


insbesondere mit Blick auf die energetische Gebäudesa-
nierung, bei den Schulen ausgelöst. In genau dieser
Richtung wird das Sondervermögen, das wir jetzt ange-
legt haben – die 3,5 Milliarden Euro, die ich gerade er-
wähnt habe –, einen weiteren Schwerpunkt setzen; denn
nicht nur für Klimaschutz und Infrastruktur können die
Kommunen das Geld in die Hand nehmen, sondern auch
für Bildung. Das ist ein deutlicher Schritt. Deswegen,
meine ich, hätten die Schulträger hier für ihr Engage-
ment einen Dank verdient und keine sprachliche
Schnoddrigkeit.





Oliver Kaczmarek


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die SPD ist nicht für Schönrednerei bekannt.


(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir müssen natürlich weiter investieren – das ist völlig
klar –; aber es geht vollkommen an der Leistungsfähig-
keit des Bildungssystems vorbei, wenn hier ein solches
Zerrbild gezeichnet wird. Wenn Sie das machen, richtet
sich das nicht gegen mich oder gegen die Große Koali-
tion, sondern trifft diejenigen, die unser Bildungssystem
unter teilweise schwierigen Rahmenbedingungen jeden
Tag mit Leben füllen. Hier wäre mehr Wertschätzung an-
gebracht, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Können Sie mal auf die politischen Forderungen eingehen?)


Intelligent investieren, das heißt aus meiner Sicht
auch: Strukturen weiterentwickeln und Köpfe fördern.
Ich glaube, dass die Göttinger Beschlüsse der geschäfts-
führenden Fraktionsvorstände der Koalition da eine
klare Zielrichtung vorgeben: Wir wollen exzellente For-
schung und hochwertige Lehre miteinander verbinden.
Wir wollen planbare Steigerungen für Forschungsausga-
ben. Wir wollen Kooperationen von Hochschulen und
Forschungseinrichtungen und verlässliche Karrierewege
für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann beeilen Sie sich mal! Sie haben noch zwei Jahre!)


Dafür wird die Koalition verteilt auf zehn Jahre noch
einmal 5 Milliarden Euro zusätzliches Geld in die Hand
nehmen: 4 Milliarden Euro für die Ausfinanzierung der
Exzellenzinitiative und 1 Milliarde Euro für den Pakt für
den wissenschaftlichen Nachwuchs. Ich finde, das ist ein
starkes Zeichen, das wir hier inmitten der Wahlperiode
auch noch einmal gesetzt haben mit 5 Milliarden Euro.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will noch einmal sagen – Frau Kollegin Raatz hat
gerade schon darauf hingewiesen –: Dazu kommt die
Ausfinanzierung der dritten Phase des Hochschulpaktes,
dazu kommen die 3 Milliarden Euro insgesamt, die wir
in dieser Wahlperiode zusätzlich für Forschung ausge-
ben werden. Und dazu kommt natürlich auch die
BAföG-Entlastung mit 1,2 Milliarden Euro und ab 2017,
wenn wir die Erhöhung noch dazurechnen, mit 2 Milliar-
den Euro im Bundeshaushalt.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Manche tun so, als wenn das Kleingeld wäre. Aber
ich glaube, das ist richtig viel Geld für Bildung und For-
schung, das ist alles gut angelegtes Geld, das wir für Bil-
dung und Forschung in die Hand nehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, dieser Hinweis sei mir er-
laubt: Wir bewegen uns hier im Rahmen geltender Haus-
haltsbeschlüsse. Das alles ist also sauber gegenfinan-
ziert. Einen Hinweis auf eine Gegenfinanzierung habe
ich im Antrag der Grünen vergeblich gesucht.

Meine Damen und Herren, weder ein grünes Sammel-
surium von Forderungen noch ein Wunder helfen. Wir
brauchen eine intelligent verknüpfte Strategie, die auch
Impulse für die Zukunftsentwicklung des gesamten Wis-
senschaftssystems liefert, die Strukturen weiterentwi-
ckelt und Köpfe fördert. Ich bin der Meinung, die Große
Koalition hat hier geliefert!

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811221600

Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 18/5207 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich
Petzold, Michael Kretschmer, Marco
Wanderwitz, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Siegmund Ehrmann, Burkhard Blienert, Marco
Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

UNESCO-Weltkulturerbe dauerhaft sichern
Drucksache 18/5216

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich bitte jetzt, die notwendigen Umgruppierungen zü-
gig vorzunehmen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Staats-
ministerin Dr. Maria Böhmer.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Christina Jantz [SPD])


D
Dr. Maria Böhmer (CDU):
Rede ID: ID1811221700


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bamiyan, Timbuktu, Mossul, Nimrud, Ninive,
Hatra, Palmyra und Sanaa – einst stolze Orte der Kultur,
heute Orte des Schreckens. Wir halten immer wieder den
Atem an, weil dort Menschen getötet, jahrtausendealte
Kulturgüter für immer zerstört und wir mit menschen-
verachtender Barbarei und religiösem Extremismus kon-
frontiert werden.

Das Wüten von Terrororganisationen wie ISIS im Irak
übersteigt unser Vorstellungsvermögen. Die Spur der
Zerstörung schneidet tiefe Wunden in das Erbe von
Menschen, in die Geschichte einer Region, in die Identi-





Staatsministerin Dr. Maria Böhmer


(A) (C)



(D)(B)


tät eines Volkes und in das kulturelle Gedächtnis der
Welt. Wir müssen für unsere Werte einstehen. Es geht
um die Würde der Menschen, um Toleranz, Achtung vor
der Vielfalt und Respekt für andere und ihre Kultur. Da-
für müssen wir kämpfen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Viele fragen mich, ob wir uns nicht als Erstes um die
Menschen kümmern müssten. Meine Antwort ist: Es
gibt kein Entweder-oder. Bundestagspräsident Norbert
Lammert hat es treffend auf den Punkt gebracht:

Wo Kunst und Kultur massakriert werden, werden
Menschen massakriert.

Terroristen sind sich der Kraft der Kultur sehr wohl be-
wusst. Gerade deshalb wollen sie die kulturellen Wur-
zeln auslöschen; denn Kultur ist die Basis für die Identi-
tät, für den Zusammenhalt und für die Existenz von
Menschen. Gerade deshalb müssen wir alles tun, um
Kulturgüter zu schützen und zu erhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Deshalb hat Deutschland gemeinsam mit dem Irak eine
Resolution zum Schutz von Kulturgütern in die General-
versammlung der Vereinten Nationen eingebracht. Im
Mai wurde diese Resolution im Konsens angenommen –
mit großer Unterstützung auch der muslimischen Staa-
ten. Das ist von außerordentlicher Bedeutung; denn es
hat gezeigt: Die von ISIS vorgebrachte religiöse Begrün-
dung wird von keinem Staat der Welt – auch von keinem
muslimischen Staat – akzeptiert.

Zwei Dinge sind mir persönlich wichtig: Die Resolu-
tion ächtet die terroristischen Angriffe auf Kulturgüter
als eine neue Strategie der Kriegsführung und als
Kriegsverbrechen, die jeder Staat strafrechtlich verfol-
gen muss. Weiter fordert die Resolution alle Staaten der
Welt auf, den Irak beim Schutz seiner Kulturgüter zu un-
terstützen. Wir erleben nicht nur Zerstörungen. Plünde-
rungen, Raubgrabungen und illegaler Kulturgüterhandel
sind an der Tagesordnung. Jeder muss wissen, dass er
mit dem Kauf und dem Verkauf von illegal ausgeführten
Kulturgütern den Terrorismus finanziert. Das ist nicht
hinnehmbar.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Kollegin, Kulturstaatsministerin Monika
Grütters, hat den Entwurf eines Gesetzes für einen bes-
seren Kulturgüterschutz vorgelegt. Damit wird dem
illegalen Kulturgüterhandel endlich ein wirksamer Rie-
gel vorgeschoben werden.

Unsere Experten helfen im Irak und an anderen Orten
der Welt ganz konkret. Ich möchte insbesondere dem
Deutschen Archäologischen Institut und der Stiftung
Preußischer Kulturbesitz sehr herzlich für diese hervor-
ragende Arbeit danken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, Naturkatastrophen
wie jüngst in Nepal, Umweltbeeinträchtigungen, wirt-
schaftliche Interessen oder einfach nur Vernachlässigung

bedrohen ebenfalls Kulturgüter und Welterbestätten. Mit
dem Kulturerhalt-Programm des Auswärtigen Amts
konnten wir bereits sehr erfolgreich viele Projekte unter-
stützen. Die dramatische Entwicklung der letzten Jahre
zeigt uns jedoch, dass wir eine intensivere Koordinie-
rung und ein zusätzliches Notprogramm für Kulturgüter
und Welterbestätten in Gefahr brauchen. Das ist ein zen-
traler Punkt dieses Antrags. Für diese wichtige Weichen-
stellung möchte ich Ihnen allen sehr herzlich danken.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Doch auch in Deutschland haben wir die Erfahrung
gemacht, dass unsere Welterbestätten auf nachhaltige
Unterstützung angewiesen sind. Ich freue mich, dass wir
alle hier im Bundestag uns gemeinsam dafür einsetzen,
auch in den Wahlkreisen. Die Notwendigkeit der besse-
ren Unterstützung wird auch im Antrag aufgegriffen.

Zum Schluss, meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen, möchte ich den Blick auf die bevorstehende 39. Sit-
zung des UNESCO-Welterbekomitees in Bonn werfen.
Wir erwarten 1 500 Teilnehmer aus 191 Staaten. Das
gibt uns die einmalige Chance, der Welt unseren kultu-
rellen Reichtum und unsere Naturschätze zu präsentie-
ren, vom Aachener Dom, der ersten Welterbestätte, bis
hin zum Kloster Corvey, das letztes Jahr in die Welterbe-
liste aufgenommen worden ist.

Ich möchte Ihnen sagen: Es geht um Neueinschrei-
bungen – wir alle sind sehr gespannt –, um den Erhalt
des Welterbes und um Reformen. Denn wir wollen eines
erreichen: Die Welterbekonvention, die eine einzigartige
Erfolgsgeschichte ist, gilt es zu erhalten und zu sichern.
Denn es geht um den außergewöhnlichen, universellen
Wert der Welterbestätten weit über eine einzelne Region,
weit über ein einzelnes Land hinaus. Es handelt sich um
das Erbe der Menschheit. Das lohnt jede Anstrengung.
Ich darf Ihnen sagen: Ich kann mir keine schönere Auf-
gabe vorstellen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811221800

Das Wort hat die Kollegin Sigrid Hupach für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sigrid Hupach (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811221900

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Der Titel „Weltkulturerbe“ schmückt nicht nur unsere
Städte, Regionen und Länder, sondern hilft auch, das
Erbe der Menschheit zu bewahren. Seit heute treffen
sich in Deutschland junge Nachwuchskräfte aus 31 Län-
dern, um sich zwölf Tage lang in vielfältiger Form mit
dem UNESCO-Welterbe zu beschäftigen und am Ende
eine Deklaration zu verabschieden. Diese wird dann
während der Tagung des Welterbekomitees Ende Juni in
Bonn beraten. Ich bin sehr gespannt, welche Aspekte die





Sigrid Hupach


(A) (C)



(D)(B)


jungen Menschen beim Thema Welterbe hervorheben
werden.

Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den
Koalitionsfraktionen, haben mit Ihrem Antrag einen
guten Problemaufriss vorgelegt und auch die aktuelle
Gefährdung des Weltkulturerbes durch Naturkatastro-
phen und Klimawandel, durch Krieg, Terror und illega-
len Handel angesprochen. Die Nachrichten hierzu er-
schüttern uns alle, insbesondere die Zerstörung der
Welterbestätten im Irak und in Syrien durch den „Islami-
schen Staat“. Hierzu sind die Forderungen in Ihrem An-
trag auch recht konkret formuliert. Frau Staatsministerin
Böhmer hat es gerade angesprochen.

Ganz anders sieht es aber aus, wenn es um den Schutz
des Weltkulturerbes in Deutschland geht. Deutschland
ist eines der Länder mit den meisten Welterbestätten und
das Land mit den meisten länderübergreifenden. Auch
das ist ein schönes Symbol. Aber Deutschland ist auch
das erste Land, in dem einer Welterbestätte der Titel
durch die UNESCO wieder aberkannt wurde, nämlich
dem Dresdener Elbtal im Jahr 2009. Dort wurde eine
Brücke durch ein zu schützendes Gebiet gebaut. Der
Welterbetitel wurde für eine schnellere Verkehrsanbin-
dung geopfert. Gerade dieses Beispiel verdeutlicht, wie
wichtig es wäre, die rechtliche Lücke zu schließen und
die UNESCO-Welterbekonvention in nationales Recht
umzusetzen. Dazu sagen Sie in Ihrem Antrag aber
nichts.

Außerdem müssen Städte und Gemeinden finanziell
so ausgestattet werden, dass sie ihrer Verantwortung für
den Erhalt und die Pflege der Welterbestätten nachkom-
men können.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das gilt in besonderer Weise für Welterbestädte, also für
Städte, deren Altstadt in Teilen oder als Ganzes unter
Schutz gestellt ist.

Wenn man sich Ihren Antrag anschaut, dann sieht
man, dass Sie den Schutz des Weltkulturerbes unter
Haushaltsvorbehalt stellen. Was ist aber das für ein
Signal an die Kommunen? Hier bedarf es einer gemein-
samen – auch finanziellen – Anstrengung; denn es geht
doch um das kulturelle Erbe von uns allen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das von Ihnen angesprochene nationale Kompetenz-
zentrum UNESCO-Weltkulturerbe könnte sicherlich viel
zur Lösung dieser Aufgaben beitragen. Wie sieht es aber
mit der Ausstattung aus – finanziell und personell?
Warum gibt es im Forderungsteil Ihres Antrags keine
einzige konkrete Aussage zu diesem Kompetenz-
zentrum?

Zunehmend engagieren sich auch zivilgesellschaftli-
che Gruppen für den Schutz ihrer Welterbestätten,
vernetzen sich untereinander und fordern ihre Anhörung
bei Parlamenten, Regierungen und internationalen Orga-
nisationen ein. Das ist, wie ich finde, eine wunderbare
Entwicklung; denn diese Initiativen tragen sehr stark zur
Bewusstseinsbildung bei, vor Ort und auch hinsichtlich

der internationalen Verantwortung. Ihr Engagement
nachhaltig zu stärken, auch das hätte in diesen Antrag
gehört.

Es ist bedauerlich, dass Sie bei diesem wichtigen
Thema die Opposition nicht eingebunden haben. Unsere
Kritikpunkte hätten wir dann vielleicht schon im Vorfeld
einfließen lassen können. Ein gemeinsamer Antrag wäre
der Verpflichtung den Welterbestätten gegenüber im Üb-
rigen angemessen gewesen.


(Beifall bei der LINKEN)


Alle ernsthaften Bestrebungen zum Schutz der Welt-
erbestätten unterstützen wir aus voller Überzeugung. Bei
der Abstimmung über Ihren Antrag werden wir uns aus
den eben angeführten Gründen jedoch enthalten.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811222000

Der Kollege Siegmund Ehrmann hat für die SPD-

Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Siegmund Ehrmann (SPD):
Rede ID: ID1811222100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ende Juni, Anfang Juli findet in Bonn die UNESCO-
Welterbekonferenz unter Ihrem Vorsitz, Frau Staatsmi-
nisterin Böhmer, statt. Auch meine Fraktion wünscht Ih-
nen bei dieser wichtigen Konferenz eine glückliche
Hand. Wir hoffen, dass Sie die Debatte zu einem guten
Ergebnis führen.

Rund 30 Kulturstätten bewerben sich um das Siegel
„UNESCO-Welterbe“, zum Beispiel die Speicherstadt in
Hamburg, aber auch der Jakobsweg nach Santiago de
Compostela in Spanien. Seit 1972 sind über 1 000 Welt-
kulturerbestätten als besondere Orte der Zivilisation un-
ter besonderen Schutz gestellt worden.

Nicht allein die Konferenz in Bonn rechtfertigt es
– Frau Staatsministerin erwähnte es –, dass wir uns hier
und heute mit dem Thema Weltkulturerbe auseinander-
setzen. Ebenso gewichtige Gründe sind die erschrecken-
den Bilder, die uns aus dem Nahen Osten und von der
Arabischen Halbinsel erreichen. Antike Welterbestätten
wie Nimrud und Hatra wurden dem Erdboden gleichge-
macht. Unlängst wurde auch die assyrische Ruinenstadt
Palmyra durch Truppen des „Islamischen Staates“ ein-
genommen. Zu befürchten ist, dass auch dort alles nie-
dergewalzt werden wird. Das sind Beispiele dafür, in
welchem Maße die besonderen Orte des kulturellen
Menschheitserbes bedroht sind. Dem, was dort passiert,
dürfen wir auf keinen Fall gleichgültig gegenüberstehen.

Außenminister Steinmeier verweist immer wieder mit
Nachdruck auf die Bedeutung des Weltkulturerbes. Ge-
rade in Zeiten der Unruhe können solche Stätten Orte
sein, die, werden sie respektvoll betrachtet, wie Brücken
der Verständigung zwischen den Kulturen wirken kön-





Siegmund Ehrmann


(A) (C)



(D)(B)


nen. Die völkerrechtliche Idee des Weltkulturerbes ent-
spricht somit einem modernen Verständnis von Dialog,
Kooperation und Respekt in Konfliktsituationen.

Wir müssen uns gleichwohl fragen, ob wir genug tun
oder ob wir unsere Anstrengungen auf nationaler oder
internationaler Ebene verstärken müssen. Ich rufe in Er-
innerung: Seit 1981 unterstützt das Auswärtige Amt im
Rahmen des Kulturerhalt-Programms die Bewahrung
des kulturellen Erbes in aller Welt. Ob es die islamischen
Handschriften in Timbuktu sind, die Fragmente der Bud-
dhas in Bamiyan, die historischen Handelsbauten im Ba-
sar von Erbil oder der Aufbau eines digitalen Kulturgü-
terregisters in Syrien – überall engagieren wir uns, ist
unsere Expertise gefragt, hilfreich, aber auch notwendig
im wahrsten Sinne des Wortes.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Diese Beispiele stehen für mehr als 2 600 Projekte,
die in den letzten 30 Jahren in über 140 Ländern geför-
dert wurden. Aber der Bedarf an schneller Nothilfe für in
Gefahr geratenes kulturelles Erbe nimmt zu. Deshalb
wollen wir in dieser Koalition das Kulturerhalt-
Programm stärken, um noch effektivere Hilfen mobili-
sieren zu können. Werte Kollegin Hupach, das heißt
auch, dass wir Geld in die Hand nehmen müssen.
Darüber wird im Rahmen der Haushaltsberatung zu
sprechen sein.


(Zuruf der Abg. Nicole Gohlke [DIE LINKE])


Ein weiteres Problemfeld. Raubgrabungen vor allem
von antiken Kulturgütern weiten sich aus; auch darauf ist
verwiesen worden. Es gibt starke Hinweise, es gibt Be-
lege, dass durch Plünderungen historischer Stätten und
Kunstschmuggel der internationale Terrorismus finan-
ziert wird. Hier sind auch wir als Gesetzgeber gefordert;
es wurde darauf verwiesen. Das Kulturgüterschutzrecht
ist zu verfeinern, zu schärfen, damit Kontrollen, aber
auch Strafverfolgung wirksamer realisiert werden kön-
nen, um diese Netze organisierter Kriminalität, die im
Auftrag des internationalen Terrorismus arbeiten, zu
sprengen.


(Beifall bei der SPD)


Dabei gilt es, wenn wir jetzt in Kürze in die parlamen-
tarischen Beratungen treten – das will ich eindeutig und
sehr klar hervorheben –, den redlichen Kunsthandel zu
schützen, zugleich aber den illegalen Handel zu bekämp-
fen und die Rückführung in die Herkunftsländer zu
erleichtern. Das sind die wesentlichen Ziele, um die es
geht.

Trotz der internationalen Herausforderung, das Welt-
kulturerbe zu schützen – wir dürfen den Blick auf das
eigene Land, auf die eigenen Welterbestätten nicht
vernachlässigen. Deutschland ist mit derzeit 39 Welt-
erbestätten gut auf der Welterbeliste präsent. Aber
100 weitere Kommunen, Städte und Regionen – darauf
weist der Deutsche Städtetag hin – streben ebenso eine
Eintragung an. Vor dem Hintergrund langer Genehmi-
gungsverfahren gibt es eine Fülle sehr praktischer, nicht
trivialer Fragen, die mit Bau und Planung zu tun haben,

die mit Genehmigungsanforderungen zu tun haben, die
mit der Aufstellung von Pflegeplänen und ihrer Finan-
zierung zu tun haben. Diese müssen qualifiziert begleitet
werden. In der Tat: Dort gibt es Engpässe. Ich verweise
auf die Debatte im Kulturausschuss des Deutschen Städ-
tetages, aber auch auf die Deutsche UNESCO-Kommis-
sion.

Damit der Bund und die Länder, aber auch die Kom-
munen einen noch verlässlicheren Partner im Umgang
mit unseren gemeinsamen nationalen Weltkulturerbe-
stätten haben, wollen wir bei der Deutschen UNESCO-
Kommission ein Kompetenzzentrum „UNESCO-Kultur-
erbe“ ausbauen. Damit greifen wir nicht nur eine Verein-
barung aus unserem Koalitionsvertrag auf. Auch der
Deutsche Städtetag hat im Juni in Dresden entsprechend
appelliert. Wir werden diesen Appell aufnehmen und im
Rahmen der künftigen Beratungen diese Strukturen
schaffen, damit in diesem Zentrum Beratung, Erfah-
rungsaustausch und Fortbildung, also eine qualifizierte
Unterstützung, nicht nur der öffentlichen, sondern auch
der zivilgesellschaftlichen Partner, gestärkt werden kön-
nen.

Wenn es mit diesem Koalitionsantrag gelingt, das
Kulturerhalt-Programm des Auswärtigen Amtes zu
stärken, die internationale Kooperation zum Erhalt des
bedrohten Kulturerbes auszubauen und die innerstaatli-
chen Beratungskompetenzen in einem Kompetenz-
zentrum „UNESCO-Weltkulturerbe“ bei der Deutschen
UNESCO-Kommission zu bündeln, kommen wir ein
sehr gutes Stück weiter.

Das Weltkulturerbe ist kein Schnickschnack. Seine
Orte sind Quellen der Identifikation, Orte, an denen sich
Menschheitsgeschichte ablesen lässt. Ich erhoffe mir
– ich wünsche es uns –, dass von der Bonner UNESCO-
Welterbekonferenz nachhaltige Impulse ausgehen. Diese
wollen wir mit diesem Antrag tatkräftig flankieren.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811222200

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-

legin Ulle Schauws das Wort.


Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811222300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Liebe Gäste! Zuallererst möchte ich
das Anliegen der UNESCO, das Natur- und Kulturerbe
der Welt zu bewahren und damit auch dem Frieden zu
dienen, ausdrücklich würdigen. Dieses Anliegen ist ge-
rade in Zeiten, in denen in Krisengebieten wie im Irak
oder in Syrien durch den sogenannten IS und den Bür-
gerkrieg Weltkulturerbestätten zerstört werden, wichti-
ger denn je. Erst in den letzten Tagen haben wir miterle-
ben müssen, wie das Weltkulturerbe der historischen
Altstadt von Sanaa im Jemen bei einem Luftangriff
der arabischen Koalition teilweise zerstört wurde. Die
UNESCO-Generaldirektorin Irina Bokowa hat den Luft-
angriff auf eines der ältesten Juwele der islamischen
Kultur zu Recht scharf kritisiert.





Ulle Schauws


(A) (C)



(D)(B)


Diese schockierenden Beispiele zeigen uns eindrück-
lich, dass die Zerstörung von Kulturerbe oft mit Gewalt
gegen Menschenleben einhergeht. In erster Linie steht
für uns natürlich der Schutz von Menschenleben im
Vordergrund. Trotzdem ist auch der Schutz der Weltkul-
turstätten eine enorme Herausforderung; denn die Zer-
störungen treffen die jeweiligen Identitäten und Ge-
dächtnisse für nachkommende Generationen, die es
weltweit zu schützen gilt.

Hier, liebe Kolleginnen und Kollegen der Großen Ko-
alition, reichen die Forderungen Ihres Antrags nicht aus.
Sie bedauern zwar die weltweite gezielte und irreversi-
ble Zerstörung unschätzbarer Kulturgüter, verharren
aber im reinen Aufzählen von aktuellen Regierungsmaß-
nahmen. Sie vermeiden es, der Bundesregierung ein
deutliches Bekenntnis zu einem stärkeren Engagement
in Krisengebieten wie zum Beispiel im Jemen abzuver-
langen. Ich sage ganz ehrlich: Ich hätte mir hier wirklich
einen engagierteren Ansatz von Ihnen gewünscht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Während bedeutende Weltkulturerbestätten auf der
ganzen Welt zerstört werden, hat sich Deutschland in
den letzten Jahren zu einem Umschlagplatz für geraubte
Kulturgüter und Antiquitäten entwickelt. Hier will
Staatsministerin Grütters mit ihrer angekündigten No-
vellierung des Kulturgüterschutzgesetzes nun endlich
nachjustieren. Ich sage: Das ist gut so. Welche katastro-
phalen Konsequenzen der Einfluss von Händlern und
Sammlern auf den Kulturgutschutz haben kann, hat uns
das unzureichende Gesetz von 2007 eindrücklich ge-
zeigt. Da sollten auch Sie sich als Koalitionsfraktionen
mehr engagieren und sich entschieden gegen reine Lob-
byinteressen stellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ganz und gar unverständlich ist, dass Sie, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von der Union, noch 2011 ge-
meinsam mit der FDP in dem Antrag „UNESCO-Welt-
erbestätten in Deutschland stärken“ ausdrücklich das
breite bürgerschaftliche Engagement von NGOs für die
UNESCO-Welterbestätten begrüßt haben. Das kommt in
Ihrem Antrag jetzt leider nicht mehr vor. Das ist umso
bedauerlicher, weil genau diese Aktivitäten der NGOs
zum Beispiel bei der Tagung des UNESCO-Welterbeko-
mitees Ende Juni in Bonn von der Bundesregierung nicht
unterstützt werden. Staatsministerin Böhmer hat eine fi-
nanzielle Unterstützung, zum Beispiel von Side Events,
abgelehnt. Hierzu vermisse ich in Ihrem Antrag ganz
konkrete Forderungen. Sie verharren da scheinbar lieber
in Allgemeinplätzen, und das ist leider zu wenig.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, was den Erhalt und
die Entwicklung der deutschen Weltkulturerbestätten be-
trifft, sieht es auch nicht besser aus. Das aktuelle Pro-
gramm „Nationale Projekte des Städtebaus“ wird mit
einem Volumen von 50 Millionen Euro der hohen
Nachfrage bei weitem nicht gerecht. Allein 2014 wurden
hier Projektanträge mit einem Fördervolumen von
900 Millionen Euro eingereicht, darunter auch viele
UNESCO-Welterbestätten. Wir brauchen deshalb drin-
gend die Wiederauflage eines Investitionsprogramms für

UNESCO-Welterbestätten, das ausreichend ausgestattet
ist. Auch hierzu finde ich nichts Konkretes in Ihrem An-
trag.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden uns des-
wegen bei der Abstimmung über Ihren Antrag enthalten.
Aber ich kann sagen: Ich kann dem Eigenlob Ihres An-
trags heute nicht zustimmen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811222400

Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Ulrich

Petzold das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulrich Petzold (CDU):
Rede ID: ID1811222500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren Kollegen! Meine sehr geehrten Da-
men und Herren! Nach dem Weimarer Klassiker Herder
ist die Kultur eines Volkes die Blüte seines Daseins.
Wenn mich Menschen nach meinem Wahlkreis fragen,
sage ich immer: Ich habe den schönsten Wahlkreis
Deutschlands.


(Johannes Selle [CDU/CSU]: Nein, den habe ich! – Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den habe ich!)


Auch wenn ich, wie ich schon höre, mit dieser Aussage
einer Reihe von Kollegen auf die Zehen trete, so frage
ich doch: Welcher Wahlkreis hat noch drei Welterbestät-
ten in dieser Dichte, in fahrradmäßiger Entfernung zuei-
nander? Die Lutherstätten, das Bauhaus, das Dessau-
Wörlitzer Gartenreich, aber auch alle anderen deutschen
Welterbestätten sind heute in einem Zustand, in dem sie
in der Historie zeitgleich niemals waren.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: So ist es! Ja!)


Dies muss man hier feststellen. Liebe Frau Hupach, Sie
haben angesprochen, was wir geleistet und was wir nicht
geleistet haben. Ich kann mich ganz genau daran erin-
nern, in welchem Zustand wir das Bauhaus und die
Meisterhäuser in Dessau übernommen haben.


(Johannes Selle [CDU/CSU]: In katastrophalem Zustand!)


Diese Leistung – ich sehe hier auch Frau Professor
Monika Grütters – haben wir dem Bundeskanzleramt mit
zu verdanken. Ganz herzlichen Dank auch an dieser
Stelle.

So ist es schon eine Auszeichnung für den Einsatz un-
seres Landes – von Bund, Ländern und Kommunen – für
den Erhalt dieser kulturellen Leuchttürme, dass wir ab
dem 28. Juni die 39. Sitzung des Welterbekomitees in
Bonn ausrichten dürfen. Dass dazu die Staatsministerin
im Auswärtigen Amt, Frau Professor Dr. Maria Böhmer,
die Präsidentschaft des Welterbekomitees übernommen





Ulrich Petzold


(A) (C)



(D)(B)


hat, ist hocherfreulich. Frau Professor Böhmer, ich darf
Ihnen dazu im Namen des ganzen Hauses gratulieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir wollen mit diesem Antrag aber nicht nur Erfreuli-
ches würdigen, sondern auch unsere Gedanken einbrin-
gen und ein Zeichen setzen, wie wir uns eine Weiterent-
wicklung im Rahmen des UNESCO-Welterbekomitees
vorstellen. Uns allen sind die schrecklichen Bilder der
terroristischen Zerstörungen von Weltkulturerbestätten
im Vorderen Orient und in Nordafrika – sie sind ja mehr-
fach angesprochen worden – vor Augen. Wie hilflos wa-
ren wir bei der Zerstörung unwiederbringlicher Kultur-
güter durch die Naturgewalten in Nepal! Eine Welle der
Hilfsbereitschaft ging gerade auch durch Deutschland,
weil wir aufgrund unserer Welterbestätten sehr wohl
wissen, dass diese Sehenswürdigkeiten wegen des Tou-
rismus die Existenzgrundlage vieler Familien und
Kleinstunternehmen in den betroffenen Gebieten darstel-
len. Gerade im Katastrophenfall Nepal gab es eine große
Zahl an Hilfsangeboten von vielen Einrichtungen, Kom-
munen und Bundesländern; denn alle wussten, dass eine
schnelle Hilfe eine doppelte Hilfe ist und verhindert,
dass Kulturgüter weiter geschädigt oder gar gestohlen
werden.

In diesen Fällen gilt es, zu koordinieren. Das Auswär-
tige Amt hält natürlich Koordinierungsmöglichkeiten für
Hilfseinsätze vor, doch sind sie eher auf humanitäre Hil-
fen ausgerichtet. Jetzt gilt es, die fachliche Potenz und
Kompetenz im kulturellen Bereich zu bündeln, was in
unserem Wunsch nach einem durch finanzielle Ausstat-
tung – darauf lege ich großen Wert – zur Hilfe befähig-
ten Koordinierungs- und Steuerungszentrum für kultu-
relle Nothilfe zum Ausdruck kommt. Damit verstetigen
wir die von uns immer wieder übernommene Verantwor-
tung und hinterlassen wir eine nachhaltige Präsident-
schaft; denn wir wollen, dass die deutsche Präsident-
schaft des UNESCO-Welterbekomitees morgen nicht
einfach vergessen ist.

Doch auch im Inland setzen wir uns übereinstimmend
mit dem Deutschen Städtetag für ein nationales UNESCO-
Kompetenzzentrum ein, das die unter der Kulturhoheit
der Länder laufenden vielfältigen Aktivitäten bündelt
und aufeinander abstimmt, ein Ansprechpartner für die
Träger der Welterbestätten in Deutschland ist, aber auch
der Ansprechpartner eines Nothilfezentrums für interna-
tionale Hilfe.

Sehr geehrte, liebe Frau Professor Böhmer, wir wün-
schen Ihnen für Ihre verantwortungsvolle Arbeit in den
nächsten Wochen alles Gute und viel Erfolg beim Ein-
satz für unser Menschheitserbe. Bringen Sie die Blüten
der Weltkultur zum Blühen.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811222600

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/
5216 mit dem Titel „UNESCO-Weltkulturerbe dauerhaft
sichern“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den
Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Niema
Movassat, Caren Lay, Wolfgang Gehrcke, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
sowie der Abgeordneten Uwe Kekeritz, Claudia
Roth (Augsburg), Tom Koenigs, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Herkunft von Konfliktrohstoffen konsequent
offenlegen

Drucksache 18/5107
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Federführung strittig

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Niema
Movassat, Caren Lay, Wolfgang Gehrcke, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Unternehmen in die Verantwortung nehmen –
Menschenrechtsschutz gesetzlich regeln

Drucksache 18/5203
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Federführung strittig

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Niema Movassat für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Niema Movassat (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811222700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit

Jahren schon erleben wir im Ostkongo einen grausa-
men Krieg. Der kongolesische Menschenrechtsaktivist
Dr. Mukwege wurde vor kurzem mit dem Sacharow-
Menschenrechtspreis ausgezeichnet. Er setzt sich für
Frauen und Kinder ein, die in seiner Heimat rund um den
Abbau von Rohstoffen vergewaltigt und verstümmelt
werden. Über die Ursachen des Konflikts in seiner Hei-
mat sagte er – ich zitiere –:

… es ist eine … Auseinandersetzung um Boden-
schätze. Die Region Kivu ist reich an Coltan, das





Niema Movassat


(A) (C)



(D)(B)


man für Mobiltelefone und Laptops braucht. Ohne
den politischen Willen wird sich die Situation nie-
mals ändern.

Auch wir finanzieren mit dem Kauf von Handys und
Laptops die menschenverachtenden Kriege der Warlords
im Kongo. Lassen Sie uns gemeinsam endlich den politi-
schen Willen aufbringen, daran etwas zu ändern.


(Beifall bei der LINKEN)


Das EU-Parlament hat vor vier Wochen eine sehr gute
Richtung vorgegeben. Dort stand ein windelweicher
Vorschlag der EU-Kommission zum Thema Rohstoffe
aus Krisengebieten wie dem Kongo zur Debatte. Der
Vorschlag enthielt nur freiwillige Regeln für Unterneh-
men. Das EU-Parlament machte da nicht mit. Eine
Mehrheit aus Sozialdemokraten, Grünen und Linken hat
sich dafür eingesetzt, dass es verbindliche Regeln für
den Nachweis der Rohstoffherkunft geben soll, und zwar
für die gesamte Lieferkette, also vom Rohstoffabbau bis
zur Handyherstellung, damit verhindert wird, dass bluti-
ges Coltan in unseren Handys ist. Eine sehr richtige Ent-
scheidung des Europaparlaments!


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, hier im
Hause ist dieselbe Mehrheit möglich.


(Zurufe von der SPD)


An die CDU/CSU gerichtet, sage ich:


(Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben uns ja gar nicht erwähnt heute!)


Hören Sie einmal auf den Papst. Er hat in seiner Um-
welt-Enzyklika Konfliktrohstoffe ganz klar angepran-
gert. Lassen Sie uns also gemeinsam dafür sorgen, dass
beim Rohstoffabbau keine Menschenrechte mehr ver-
letzt werden.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Eine klare Entscheidung des Bundestages, wie es im
Antrag der Linken und Grünen vorgeschlagen wird,
würde den Europäischen Rat unter Druck setzen, dem
EU-Parlament zu folgen. Über 130 Bischöfe aus aller
Welt appellierten im Februar ebenfalls an die EU, ver-
bindliche Regeln zu schaffen. Zu ihnen gehört auch Bi-
schof Besungu aus dem Kongo. Im April war er bei uns
im Entwicklungsausschuss zu Gast. Er forderte ganz
klar, die Freiwilligkeit durch verbindliche Regeln zu
ersetzen und die gesamte Lieferkette einzubeziehen.
150 Nichtregierungsorganisationen haben sich ebenso
geäußert. Ich hoffe, die EU hört am Ende auf diese Stim-
men statt auf die Brüsseler Wirtschaftslobby.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Fast ein Viertel des globalen Handels mit Konflikt-
rohstoffen läuft über EU-Staaten. 2013 wurden 240 Mil-
lionen Handys in die EU importiert, zumeist ohne jede
Kontrolle, unter welchen Umständen die Rohstoffe dafür
abgebaut wurden. Die EU, die sich sonst gerne als Vor-

bild sieht, liegt beim Thema Unternehmensverantwor-
tung hinter Regelungen in anderen Teilen der Welt zu-
rück. Innerhalb der EU wiederum gehört Deutschland zu
den Schlusslichtern. Das ist peinlich und darf nicht so
weitergehen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb haben wir als Linke auch einen Antrag zum
Thema Unternehmensverantwortung vorgelegt.

Die Bundesregierung verfolgte letztes Jahr noch ein
ehrgeiziges Textilbündnis. Sie kündigte sogar gesetzli-
che Regelungen an. Ich hatte fast die Hoffnung, dass
endlich etwas passiert und aus den schrecklichen Ereig-
nissen rund um den Einsturz von Rana Plaza, bei dem
über 1 000 Menschen starben, Konsequenzen gezogen
werden. Wo stehen wir heute? Die Bundesregierung hat
sich von der Textillobby den Schneid abkaufen lassen.
Sie setzt nur noch auf Freiwilligkeit. Mittlerweile ist
Herrn Müllers Textilbündnis nur noch ein unverbindli-
cher Aktionsplan. So dient das Ganze nur noch dem
Image der Unternehmen und der Bundesregierung. Den
Betroffenen hilft es nicht. Dabei müssen Menschen-
rechte vor Profiten stehen. Das ist Inhalt unseres An-
trags.

Die von mir erwähnten Bischöfe haben im Hinblick
auf den Umgang mit Konfliktmineralien gesagt – ich
zitiere –, „dass nichts anderes als verpflichtende Regeln
das Handeln von Unternehmen … ändern kann“. Das
gilt auch für den Textilbereich. Hören Sie auf diese
Bischöfe, und stimmen Sie zu!

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811222800

Das Wort hat die Kollegin Dr. Herlind Gundelach für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Herlind Gundelach (CDU):
Rede ID: ID1811222900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! In unserem
Grundgesetz haben Menschenrechte einen ganz beson-
deren Stellenwert, der nicht zuletzt aus unserer Ge-
schichte herrührt. Für die Bundesregierung, den Deut-
schen Bundestag und die ihn tragenden Fraktionen ist
der Schutz der Menschenrechte bei der Gestaltung von
Politik immanent und unverzichtbar. Daher setzen wir
uns auch international für die Beachtung der Menschen-
rechte ein, wo immer es geht. Wir treten für die Abschaf-
fung von Folter und Todesstrafe und für die Sicherung
der Medien- und Meinungsfreiheit ein, und wir kämpfen
gegen Menschenhandel und Unterdrückung. Dennoch
müssen wir leider konstatieren, dass in weiten Teilen der
Welt noch immer Menschenrechtsstandards sehr stark
von unseren abweichen. Wir müssen leider auch konsta-
tieren, dass Menschenrechte nicht überall auf der Welt
den gleichen Stellenwert einnehmen wie bei uns.





Dr. Herlind Gundelach


(A) (C)



(D)(B)


Vor diesem Hintergrund sind auch die Bemühungen
der Europäischen Kommission, des Europäischen Parla-
ments und des Europäischen Rats zu sehen, ein Zertifi-
zierungssystem auf freiwilliger Basis für den Umgang
mit sogenannten Konfliktrohstoffen zu schaffen. Mit
dem Verordnungsentwurf reagiert die Kommission auf
den Dodd-Frank Wall Street Reform and Consumer Pro-
tection Act, welcher 2012 in den USA in Kraft getreten
ist. Danach müssen Unternehmen, die an der US-Börse
notiert sind, angeben, ob ihre Produkte Zinn, Tantal,
Wolfram oder Gold enthalten, welches aus der Kon-
fliktregion der Demokratischen Republik Kongo oder
ihren Nachbarstaaten stammt. Für die Einfuhr muss
nachgewiesen werden, dass die Rohstoffe „konfliktfrei“
sind. Auch deutsche Unternehmen sind, sofern sie Zulie-
ferer sind, indirekt von den Regulierungen des DFA
betroffen; denn die Anforderungen des Herkunftsnach-
weises werden innerhalb der Wertschöpfungskette wei-
tergegeben.

Ziel des von der Kommission am 5. März 2014 vorge-
legten Verordnungsentwurfs ist es, Querfinanzierungen
von Rebellengruppen und Konflikten bei der Rohstoff-
gewinnung zu unterbinden. Dieser Entwurf sieht ein
freiwilliges Selbstzertifizierungssystem für die europäi-
schen Importeure von Zinn, Tantal, Wolfram und Gold
als „verantwortungsvolle Einführer“ vor. Diese Roh-
stoffe sind – das wurde schon gesagt – elementar für die
Produktion wichtiger Güter. Sie werden unter anderem
für die Herstellung von Autos, Handys, Uhren und sogar
Zahnpasta benötigt, um einmal die Bandbreite ihrer Be-
deutung zu dokumentieren.

Im Gegensatz zum Dodd-Frank Act lehnt die EU eine
Länderliste kategorisch ab, da sie kein Land und keine
Region stigmatisieren will. Diese Vorgehensweise finde
ich richtig und der Schwierigkeit des Problems angemes-
sen. Im Übrigen ist das, denke ich, auch eine Erkenntnis
aus den Erfahrungen mit der amerikanischen Regelung.
Allerdings ist die EU-Definition von Konflikt- und
Hochrisikogebieten noch sehr unbestimmt und verlagert
die Definition überwiegend auf die Rohstoffimporteure.
Hier könnte meines Erachtens eine Unternehmensliste
weiterhelfen, die die Firmen abbildet, die die entspre-
chenden Rohstoffe fördern und exportieren.

Der federführende Ausschuss für internationalen
Handel des Europäischen Parlaments hat im Zuge seiner
Beratung des Antrags vorgeschlagen, das System für die
Upstream-Industrie, das heißt vom Abbau des Erzes bis
zur Schmelze, verpflichtend gelten zu lassen und es für
die Downstream-Industrie beim Prinzip der Freiwillig-
keit zu belassen. Für diese Lösung gibt es nach meiner
Kenntnis in der deutschen Wirtschaft durchaus Zu-
spruch.

Am 21. Mai nun hat das Europäische Parlament über
die Verordnung abgestimmt und sich mit deutlicher
Mehrheit darauf verständigt, die gesamte Lieferkette
verpflichtend zu machen. Die Anerkennung als gewis-
senhafter Importeur und die entsprechenden Dokumente
sollen von einem unabhängigen Dritten in einem Audit
geprüft werden. Die Namen der zertifizierten Importeure
sollen von der Kommission in einer Art Positivliste als

verantwortungsvolle Hütten und Raffinerien veröffent-
licht werden. Die Zertifizierung wiederum soll auf Basis
der OECD-Due-Diligence-Guideline für das verantwor-
tungsvolle Management von Lieferketten durchgeführt
werden. Was ich gut finde, ist, dass KMUs dabei finan-
ziell unterstützt werden; denn ein solches System einzu-
führen, ist mit erheblichen Kosten verbunden.

Genauso wie die Kommission will das Europäische
Parlament die Sekundärrohstoffe aus dem Anwendungs-
bereich der Verordnung ausnehmen. Allerdings sollen
die Unternehmen nachvollziehbar nachweisen, dass die
Ressourcen ausschließlich aus recycelten Materialien
oder aus Schrott gewonnen werden. Dazu soll das Unter-
nehmen beschreiben, wie es zu dem Nachweis gelangt
ist. Wie jedoch die Erfahrungen mit dem Dodd-Frank
Act gezeigt haben, sind Nachweispflichten vom End-
produkt zurück bis zur Mine aufgrund der Tiefe und
Komplexität vieler industrieller Wertschöpfungsketten
häufig nicht leistbar und bei Sekundärrohstoffen nahezu
nicht möglich. Mit einer solchen Regelung würde unse-
res Erachtens daher die Ausnahme von Schrott aus dem
Anwendungsbereich der Verordnung indirekt wieder
ausgehöhlt. Deshalb sollte hier ein möglichst unbürokra-
tischer Nachweis geführt werden können, wie er sich
schon im Dodd-Frank Act bewährt hat.

Das ist in der Tat ein schwieriges Feld. Viele Unter-
nehmen in Deutschland sind sich ihrer verantwortlichen
Position innerhalb der Wertschöpfungskette schon seit
langem bewusst und setzen bereits seit vielen Jahren auf
freiwillige Initiativen, welche sehr gut funktionieren und
die auf Basis der OECD-Leitlinie für das verantwor-
tungsvolle Management von Lieferketten formuliert
wurden.


(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Welche denn?)


– Das können Sie im Internet genau nachlesen.


(Lachen bei der LINKEN – Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Sie von der Linken können ja eine Zwischenfrage stellen! Frau Gundelach beantwortet sie gerne!)


Insofern ist es nur folgerichtig, dass nach den Vorstel-
lungen von Kommission und Parlament solche Unter-
nehmensinitiativen oder andere entsprechende Systeme
als gleichwertig anerkannt werden sollen. Einen Durch-
bruch könnten wir vermutlich dann erzielen, wenn welt-
weit mehr Maßnahmen zur Förderung der Zertifizierung
von Schmelzen ergriffen würden, damit genügend Roh-
stoffe von zertifizierten Schmelzbetrieben auf dem euro-
päischen Markt zur Verfügung stünden. Daher lautet
mein Appell an die Bundesregierung, sich neben einer
europäischen Regelung für einen internationalen Ansatz
zu engagieren.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken so-
wie von Bündnis 90/Die Grünen, Sie fordern in Ihren
Anträgen, es solle keine Freiwilligkeit geben, sondern
eine Offenlegungspflicht für die gesamte Lieferkette, die
von einer Behörde der Mitgliedstaaten regelmäßig
kontrolliert werden soll. Ferner wollen Sie in die Sorg-
faltspflicht die Wahrung der Menschenrechte ausdrück-





Dr. Herlind Gundelach


(A) (C)



(D)(B)


lich mit einschließen. Wie das allerdings kontrolliert
werden soll, verraten Sie uns nicht.

Ich betone noch einmal: Ich halte den Vorschlag der
Kommission – gegebenenfalls in leicht veränderter
Form, wie vom Handelsausschuss vorgeschlagen – für
einen geeigneten und praktikablen Weg, und zwar so-
wohl für die Unternehmen als auch für die betroffenen
Länder. Eventuell könnte man daran denken, nach einem
Zeitraum von drei bis fünf Jahren eine Evaluierung vor-
zusehen und dann, falls erforderlich, nachzusteuern. Mit
dem Aufbau einer neuen Bürokratie dienen Sie aber we-
der der Sache noch den Menschen, die in den betroffe-
nen Ländern in der Wertschöpfungskette arbeiten. Denn
eines müssen wir sehen: Schon heute sind immer weni-
ger europäische Firmen in diesen Ländern tätig. Sie
werden zunehmend vor allem von asiatischen Firmen
verdrängt, die in der Regel die Empfehlungen der OECD
zu Sozialstandards beim Abbau von Rohstoffen nicht be-
achten. Deshalb sollten wir unsere europäischen Firmen
stärken, weiterhin vor Ort im Interesse der dort lebenden
Menschen zu arbeiten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811223000

Das Wort hat der Kollege Uwe Kekeritz für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen.


Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811223100

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Ich will auf einer ganz anderen Ebene argumentieren.
Rohstoffe aus Konfliktgebieten und brutale Bürger-
kriege stehen oft in einem direkten Zusammenhang. Die
Menschen in den Gruben und Bergwerken werden aus-
gebeutet, und ihre Lebensgrundlage wird zerstört. Die
Verantwortung der Unternehmen spielt dabei eine zen-
trale Rolle. Aber die Konzerne brauchen keine Angst zu
haben. Es wird keine Maßnahmen geben. Die Regierung
Merkel kämpft seit Jahren gegen verbindliche Regelun-
gen, und das ist so von der Industrie gewollt.

Wir begrüßen deshalb, dass auf EU-Ebene trotz
deutschen Gegenwinds endlich der Abbau von und der
Handel mit Konfliktrohstoffen geregelt werden soll.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Allerdings wurde selbst dieser Kommissionsantrag auf
Drängen der Industrie so lange weichgespült, bis sicher
war, dass Unternehmen auch in Zukunft praktisch keine
Maßnahmen zur Lieferkettenkontrolle befürchten müs-
sen. Es ist gut, dass am 20. Mai – das wurde schon ge-
sagt – das EU-Parlament eingegriffen und verbindliche
Standards gefordert hat, und zwar mit den Stimmen der
SPD.


(Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Genau!)


Daher hoffe ich, dass unsere altehrwürdige SPD auch in
diesem Hause endlich Farbe bekennt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Das wirst du gleich hören! Unser Redner kommt noch!)


Mit dem Festhalten an der Freiwilligkeit reitet diese Re-
gierung tote Pferde. Verbindlichkeit wird an immer mehr
Stellen eingefordert und auch eingeführt, aber Deutsch-
land bremst. Immer mehr Staaten haben ein Unterneh-
mensstrafrecht, und auf UN-Ebene werfen der Ruggie-
Prozess und das Erarbeiten von bindenden Verträgen
ihre Schatten voraus.

Frankreich plant, sein Handelsrecht anzupassen. Zu-
künftig sollen ökologische und soziale Standards in Pro-
duktionsketten verbindlich eingehalten werden. Das
Prinzip der Freiwilligkeit – das haben die Franzosen ver-
standen – reicht eben nicht aus. Wir wissen: Solange das
Einhalten von Standards ein Wettbewerbsnachteil ist, so
lange werden die Unternehmer von sich aus nicht die
notwendigen Schritte einleiten.

Der Dodd-Frank Act hat bewiesen, dass eine gesetzli-
che Regulierung funktioniert. Wenn auch bei weitem
nicht perfekt, hat er aber in den vergangenen Jahren zu
klaren Verbesserungen in vielen Minen geführt.

Seit Jahren wird TTIP und Co. gegen den Willen der
Bevölkerung unter dem Vorwand verhandelt, dass man
gemeinsame Standards brauche. Wenn es aber plötzlich
um Konfliktrohstoffe geht, halten Sie nichts mehr davon.
Das, mit Verlaub, ist eine ziemlich unehrliche Politik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Die KfW und die DEG finanzieren Projekte, die an
Menschenrechten und ökologischen Rechten schlicht
vorbeigehen. Dabei werden munter die hauseigenen
Standards ignoriert. Da kann ich nur dem Minister
Müller, der jetzt nicht da ist, zurufen – Herr Fuchtel, Sie
richten es ihm aus –: Fluchtursachen zu bekämpfen,
fängt auch hier an, bei der DEG und der KfW. Diese Or-
ganisationen müssen Vorbild sein, und sie müssen vor
allen Dingen in Zukunft Transparenz zeigen. Es kann ih-
nen nicht gestattet werden, dass sie sich wie Finanzhaie
aufführen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Über Fluchtursachen reden, ist das eine; der Kampf
dagegen fängt aber bei uns hier an. Es wäre besser, diese
Regierung würde sich in Europa für verbindliche Stan-
dards einsetzen, anstatt von Auffanglagern in Libyen zu
schwadronieren. Verbindliche Umwelt- und Sozialstan-
dards würden dazu beitragen, dass Millionen Menschen
einer besseren Beschäftigung nachgehen könnten. So-
bald die heimische Wirtschaft gerade jungen Menschen
Zukunftsperspektiven bietet, würden sich Fluchtursa-
chen, die zur Radikalisierung ganzer Gesellschaften, zur
Fragilität und auch zum Krieg führen können, stark re-
duzieren.

Da die Linke heute schon Papst Franziskus zitiert hat,
möchte ich ihn auch anführen. Wenn Papst Franziskus
sagt, dass dieses Wirtschaftssystem tötet, dann hat er





Uwe Kekeritz


(A) (C)



(D)(B)


auch die Konfliktmineralien im Sinn. Ich appelliere des-
halb an die SPD, das Thema der globalen Gerechtigkeit
nicht auf dem Altar des Koalitionsfriedens zu opfern.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich würde auch gerne die CDU/CSU an das C in ihrem
Parteinamen erinnern; aber ich glaube, das macht gar
keinen Sinn.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811223200

Das Wort hat der Kollege Klaus Barthel für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Klaus Barthel (SPD):
Rede ID: ID1811223300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! In der Tat, weltweit gibt es
derzeit rund 400 gewaltsame Konflikte, sprich: Kriege
und Bürgerkriege. Davon sind etwa 20 Prozent in Ver-
bindung mit Konflikten um Rohstoffe zu bringen. Das
heißt, es gibt weltweit rund 80 solcher Konflikte. Diese
Zahlen sind nicht von mir, sondern sie zitiert die Euro-
päische Kommission selber als Ausgangspunkt für ihren,
wie es so schön heißt – ich zitiere –, „Vorschlag für eine
Verordnung … zur Schaffung eines Unionssystems zur
Selbstzertifizierung der Erfüllung der Sorgfaltspflicht in
der Lieferkette durch verantwortungsvolle Einführer von
Zinn, Tantal, Wolfram, deren Erzen und Gold aus
Konflikt- und Hochrisikogebieten“; so heißt das Ganze.
Dieser Vorschlag ist vom März 2014.

In der Tat hat die Kommission erkannt, dass es gilt
– ich darf noch einmal zitieren –, „den Zusammenhang
zwischen der Förderung von Bodenschätzen und Kon-
flikten aufzubrechen“. Sie erkennt auch, dass wir dabei
verschiedene internationale Verpflichtungen einlösen
müssen. Sie anerkennt auch, dass das nicht nur eine
außenpolitische und entwicklungspolitische Frage ist,
sondern auch eine handels- und wirtschaftspolitische.

Mit dieser Aussage ist sie den Oppositionsfraktionen
allerdings eindeutig voraus; denn dort kommen alle
Anträge zu diesem Thema immer „nur“ – in Anfüh-
rungszeichen – von den Entwicklungspolitikerinnen und
Entwicklungspolitikern. Ich glaube, hier wäre auch bei
Ihnen einmal eine Verbreiterung der Debatte notwendig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Inhaltlich sind Ihre Initiativen ja aller Ehren wert; aber
wenn Sie die Probleme vom Kern her angehen wollen,
dann müssen Sie vor allen Dingen eben auch die wirt-
schafts- und handelspolitische Ebene erreichen und da-
mit die Diskussion auf eine breitere Basis stellen.


(Niema Movassat [DIE LINKE]: Das ist bei uns kein Problem!)


Inhaltlich halten aber auch wir den Verordnungsvor-
schlag der Kommission für unzureichend. Die Kommis-
sion will zwar die Substanz von Zertifikaten gesetzlich
regeln, aber es eben den Unternehmen überlassen, ob sie
sich mit ihrer Wertschöpfungskette freiwillig zertifizie-
ren lassen wollen. An dieser Stelle bewegen sich die
Kommission und die Freunde der Freiwilligkeit – das
muss man sagen – in einen fundamentalen Widerspruch
hinein: Einerseits wird zwar betont, dass man Initiativen
von Staaten und Unternehmen, etwa das EITI-Engage-
ment der EU in der OECD, die Tin Supply Chain Initia-
tive und viele andere, unterstützt; aber gleichzeitig stellt
die Kommission auch selber fest, dass nur 16 Prozent
der Hüttenwerke weltweit sich an solchen Initiativen be-
teiligen. Andererseits wird dann argumentiert, dass eine
verpflichtende Regelung, eine verpflichtende Teilnahme
von Unternehmen bürokratisch und kostenintensiv ist.

Dann ergibt sich aber doch die Frage: Welcher Anreiz
soll denn dann für irgendein Unternehmen entstehen,
sich freiwillig solch einer Zertifizierung zu unterwerfen;
denn es begibt sich doch, wenn Bürokratiekosten anfal-
len, in einen Wettbewerbsnachteil, zum Beispiel gegen-
über den asiatischen Unternehmen, die hier zitiert wor-
den sind. Das heißt, Verpflichtung stellt erst einmal
Fairness zwischen den Unternehmen im Wettbewerb und
Wettbewerbsgleichheit her.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Gerade wenn wir uns die aufgelistete Vielfalt an Ini-
tiativen anschauen, wird klar, wie unübersichtlich, wie
intransparent und wie bürokratisch das Ganze am Ende
ist. Deswegen geben wir zu: Es mag sinnvoll sein, am
Anfang ein verbindliches System einzuführen. Ein
solches System mag am Anfang Kosten und Aufwand
verursachen; aber am Ende bedeutet es doch wesentlich
weniger Bürokratie, es ist wesentlich transparenter, es ist
mit Verbindlichkeit und Kontrollierbarkeit von Vorteil
für alle und von Nachteil für alle schwarzen Schafe.
Deswegen ist es am Ende billiger als das Durcheinander,
das wir im Moment haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Insofern ist die Debatte, seitdem der Vorschlag der
Kommission auf dem Tisch liegt – seit einem Jahr –,
nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich fortgeschrit-
ten. Richtig ist der weltweite Ansatz der Kommission.
Richtig ist, die Zertifizierung gesetzlich zu regeln. Aber
wir brauchen in der Tat eine Verbindlichkeit, und wir
brauchen die ganze Wertschöpfungskette. Dafür zu sor-
gen, das ist das Ziel des Trilogverfahrens, das jetzt auf
europäischer Ebene anläuft.

Wir stellen fest: In diesem Jahr haben wir die Zeit ge-
nutzt, einen Lernprozess in Bewegung zu setzen. Mit
„wir“ meine ich die SPD-Bundestagsfraktion. Darüber
gehen Sie jetzt locker hinweg, aber wenn Sie die Ant-
worten auf Ihre Anfragen an die Bundesregierung lesen,
merken Sie: Da hat sich eine Positionsveränderung voll-





Klaus Barthel


(A) (C)



(D)(B)


zogen. Die Bundesregierung tritt jetzt auch für verbindli-
che Regelungen ein. Die SPD-Fraktion hat zum Beispiel
zur Umsetzung der SDGs einen Beschluss gefasst. Wir
haben hier vor ungefähr vier Wochen anlässlich des G-7-
Gipfels eine Debatte gehabt, in der ich genau dies alles
ausgeführt habe und Bundesentwicklungsminister
Müller sich in Zwischenrufen eindeutig zu dieser Posi-
tion bekannt hat. Das heißt, es gibt in dieser Koalition ei-
nen Lernprozess, und es gibt einen wachsenden Konsens
in der Koalition, sich in dieser Frage zu bewegen.


(Beifall bei der SPD – Niema Movassat [DIE LINKE]: Wir sind gespannt! – Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wissen die Verhandler in Brüssel das auch?)


– Man kann das alles nachlesen. Schauen Sie sich die
Protokolle und die Anfragen an!

Wir sollten dieses breite gesellschaftliche Bündnis
von NGOs, Kirchen und Gewerkschaften, von dem
schon die Rede war, nutzen und unsere Perspektive deut-
lich machen, übrigens nicht nur irgendwann einmal bei
den Konfliktmineralien, sondern auch bei Hemden, Holz
und was es da alles gibt, und fairen Handel statt freien
Handel durchsetzen. Wenn wir uns ein Gerät, ein Klei-
dungsstück, ein Nahrungsmittel oder was auch immer
kaufen, soll daran kein Blut kleben, sondern wir alle
wollen bezahlen für gute Arbeit, für ökologische Stan-
dards und nicht für Waffen, Krieg und Bürgerkrieg.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811223400

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/5107 und 18/5203 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Federführungen sind jedoch strittig. Die Fraktionen
der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung jeweils
beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Die Fraktio-
nen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen wünschen
Federführung jeweils beim Ausschuss für wirtschaftli-
che Zusammenarbeit und Entwicklung.

Ich lasse zuerst über die Überweisungsvorschläge der
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen
abstimmen: Federführung jeweils beim Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Wer
stimmt für diese Überweisungsvorschläge? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Überwei-
sungsvorschläge sind mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen
abgelehnt.

Ich lasse nun über die Überweisungsvorschläge der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD abstimmen: Feder-
führung jeweils beim Ausschuss für Wirtschaft und
Energie. Wer stimmt für diese Überweisungsvorschläge?
– Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Über-
weisungsvorschläge sind mit den Stimmen der CDU/
CSU-Fraktion und SPD-Fraktion gegen die Stimmen der

Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Umsetzung der Richtlinie 2013/34/EU
des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 26. Juni 2013 über den Jahresabschluss,
den konsolidierten Abschluss und damit ver-
bundene Berichte von Unternehmen be-
stimmter Rechtsformen und zur Änderung
der Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen
Parlaments und des Rates und zur Aufhe-
bung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/

(Bilanzrichtlinie-Umsetzungsgesetz – BilRUG)


Drucksachen 18/4050, 18/4351

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Recht und Verbraucherschutz

(6. Ausschuss)


Drucksache 18/5256

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Metin Hakverdi für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Metin Hakverdi (SPD):
Rede ID: ID1811223500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Nach guten Verhandlungen bringen wir heute
das Bilanzrichtlinie-Umsetzungsgesetz rechtzeitig vor
Ablauf der Umsetzungsfrist zum Abschluss. Ich danke
dem Kollegen Professor Hirte für die gute Zusammenar-
beit. Ebenso möchte ich den Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeitern in den Fraktionen und im Bundesministerium
der Justiz und für Verbraucherschutz danken sowie zu-
letzt dem zuständigen Parlamentarischen Staatssekretär
Christian Lange.


(Beifall bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein redaktioneller
Hinweis. Ich möchte Ihnen an dieser Stelle zunächst eine
kleine Berichtigung in Artikel 7 des Gesetzentwurfs
vorschlagen. Dafür gibt es einen einfachen Grund. Wir
haben gestern im Rechtsausschuss beraten und unter an-
derem eine Übergangsvorschrift im Einführungsgesetz
zum GmbH-Gesetz vorgesehen. Darin ist jedoch eine
falsche Paragrafenbezeichnung enthalten. Anstatt, wie
aufgeführt, als „§ 5“ müsste diese Übergangsvorschrift
als „§ 6“ bezeichnet werden. Dies ist entsprechend im
Artikel 7 zu korrigieren. Ich bitte Sie deshalb, gleich mit
mir darüber zu entscheiden und den erforderlichen Frist-
verzicht zu erklären.

Mit dem Bilanzrichtlinie-Umsetzungsgesetz setzen
wir Vorgaben der EU eins zu eins um. Dadurch werden
die Rechnungslegungsvorschriften für Unternehmen, die





Metin Hakverdi


(A) (C)



(D)(B)


im europäischen Binnenmarkt agieren, weiter harmoni-
siert. Mit dem Bilanzrichtlinie-Umsetzungsgesetz ver-
folgen wir zwei Ziele.

Erstens. Wir wollen die Bürokratielast der kleinen
und mittelständischen Unternehmen bei Rechnungs-
legungsvorgaben reduzieren. Dafür haben wir die
Schwelle für die Einstufung als mittelgroßes Unterneh-
men um über 20 Prozent angehoben. Der Mittelstand ist
insbesondere in unserem Land der Motor unserer inno-
vativen und wirtschaftlichen Kraft. Deshalb ist heute ein
guter Tag für den Mittelstand in Deutschland.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Der Kreis der Unternehmen, die von dieser Privilegie-
rung profitieren, wird jetzt größer.

Zweitens. Wir wollen mehr Transparenz bei den
Unternehmen, die sich in der Rohstoffförderungsindus-
trie engagieren. Sie haben künftig in ihren Bilanzen
offenzulegen, welche Mittel sie zu welchem Zweck
staatlichen Stellen zuwenden. Das ist ein Beitrag zur Be-
kämpfung der weltweiten Korruption bei der Rohstoff-
förderung. Korruption ist die Geißel wirtschaftlicher
Prosperität: Nicht diejenigen, die besonders gut sind,
bekommen den Zuschlag, sondern diejenigen, die beson-
ders gut bestechen. Mit der heute verabschiedeten
Pflicht zur Veröffentlichung dieser Zahlungen wirken
wir dieser Korruption entgegen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben eine kritische europäische Öffentlichkeit, die
auf einen Korruptionsverdacht sehr sensibel reagiert.
Die Unternehmen werden es sich in Zukunft zweimal
überlegen, ob sie unseriöse Geschäftspraktiken zum ei-
genen Gewinn nutzen.

In der öffentlichen Anhörung wurde kritisiert, dass
das Bußgeld bei Verstößen gegen die Offenlegungs-
pflicht zu gering sei. Das hat die Fraktion Die Linke ver-
anlasst, einen Änderungsantrag zu stellen, nach dem der
im Gesetzentwurf vorgesehene Bußgeldbetrag von
50 000 Euro auf dann 500 000 Euro angehoben werden
soll. Warum 500 000 und nicht 1 Million Euro? Wo liegt
denn nun die Schmerzgrenze für die Unternehmen in der
Rohstoffindustrie? Mit welchem Betrag schrecken wir
sie effektiv ab? Ich bin der Meinung, dass der Betrag
von 50 000 Euro ausreicht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, ich
sage Ihnen auch, warum der Betrag ausreichend ist: Bei
unterlassenen oder unvollständigen Berichten gibt es im
HGB bereits jetzt ein Erzwingungsverfahren mit einem
Ordnungsgeld von bis zu 25 000 Euro. Dieses Ord-
nungsgeld kann wiederholt festgesetzt werden, und zwar
so lange, bis ein ordnungsgemäßer Bericht vorliegt.
Insofern, glaube ich, ist der Tatbestand heute schon aus-
reichend geregelt. Ganz große Konzerne, um die es hier
geht, werden in Zukunft über das Transparenzrichtlinie-
Umsetzungsgesetz erfasst mit paralleler Regelung und
Sanktionen. Diese Richtlinie werden wir zum 27. No-
vember dieses Jahres umsetzen. Wenn es kapitalmarkt-
orientierte Unternehmen dann unterlassen, ihre Zah-

lungsberichte offenzulegen, oder ihre Offenlegung
fehlerhaft ist, dann kann künftig die Höhe der Sanktio-
nen bis zu 10 Millionen Euro betragen. Das sollte sicher
genug abschrecken.

Zum Abschluss eine Bemerkung zu den Pensions-
rückstellungen und dem Abzinsungssatz – das geht ins-
besondere an die Kolleginnen und Kollegen der Union –:
Wir haben im Rechtsausschuss beim Justizministerium
Prüfung beauftragt. Wir sehen dieser Prüfung sehr gern
entgegen und werden dann gegebenenfalls noch einmal
handeln.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Vielen
Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811223600

Das Wort hat der Kollege Richard Pitterle für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Richard Pitterle (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811223700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-

ginnen und Kollegen! Das Bilanzrecht – und unsere par-
lamentarische Beschäftigung damit – ist auf den ersten
Blick kein Thema, das bei vielen Bürgerinnen und Bür-
gern, ja nicht einmal bei vielen Abgeordneten großes
Interesse weckt, wie man auch heute Abend sehen kann.
Es betrifft vom Einzelkaufmann bis hin zum global agie-
renden Konzern nicht nur jeden, sondern es geht vor
allem um mehr Transparenz bei Unternehmen. Es ist all-
gemein bekannt, dass die westlichen Industrienationen
weltweit in großem Umfang Bodenschätze und Ressour-
cen ausbeuten. Öl, Gas, Kohle, Erz und Seltene Erden
sind Rohstoffe, die die Industrienationen dringend benö-
tigen. Dabei locken gigantische Gewinne. Doch es ist
Blutgeld, das durch sklavenartige Arbeitsbedingungen
und die Zerstörung der Umwelt erzielt wird. Ermöglicht
wird es durch korrupte Machthaber, die sich von den
Konzernen schmieren lassen. Bisher konnten die Roh-
stoffkonzerne diese Zahlungen in den Bilanzen verber-
gen. Mit dem heute zu beschließenden Bilanzrichtlinie-
Umsetzungsgesetz ist damit Schluss. Ich spreche von
den Zahlungsberichten. Mit Zahlungsberichten müssen
Unternehmen der Rohstoffindustrie in Zukunft erklären,
welche Gelder sie staatlichen Stellen gezahlt haben, um
ihren Geschäften nachgehen zu können. Damit wird für
alle aufgedeckt, was bisher nicht sichtbar war: Wer hat
an wen warum wie viel gezahlt?

Diese Zahlungsberichte verhindern natürlich nicht,
dass Rohstoffe und Ressourcen ausgebeutet werden.
Zahlungsberichte erzwingen auch keine nachhaltige Ent-
wicklungspolitik. Diese Aufgaben lassen sich mit dem
Bilanzrecht leider nicht lösen. Mit den Zahlungsberich-
ten schaffen wir aber Transparenz und legen einen
Grundstein für den Wandel.

Mehr Transparenz und einen fairen Wettbewerb mit
internationalen Konzernen wünscht sich auch das kleine
und mittelständische Unternehmen in Deutschland. Was
verbindet das örtliche alteingesessene Möbelhaus, den





Richard Pitterle


(A) (C)



(D)(B)


regionalen Autovermieter oder den familiengeführten
Elektronikfachmarkt? Sie müssen ihre Geschäftszahlen
detailliert und mit Erläuterungen über den Geschäftsver-
lauf von einem unabhängigen Buchprüfer kontrollieren
lassen, und sie müssen ihre Bücher dann für alle einseh-
bar veröffentlichen. Dafür interessieren sich selbstver-
ständlich nicht nur die Geschäftspartner dieser Unter-
nehmen, sondern jeder Mitbewerber kann sich so einen
guten Überblick über die geschäftliche Entwicklung sei-
ner Konkurrenz verschaffen.

Fair wäre es, wenn das für alle Unternehmen gelten
würde. Schlüpfen aber das Möbelhaus, der Autovermie-
ter oder der Elektronikfachmarkt unter das Dach eines
Konzernes, können sie zwar weiter ihren Konkurrenten
in die Karten gucken, ihr Geschäft wird aber vor interes-
sierten Blicken geschützt; denn Konzernunternehmen
genießen Sonderrechte. Sie müssen ihre Geschäftszahlen
nicht mehr prüfen lassen. Sie müssen ihre Bücher nicht
mehr veröffentlichen. Es gibt nur noch den allgemeinen
Bericht des gesamten Konzerns. Dort erfährt der deut-
sche Mittelstand vielleicht Spannendes über die Globali-
sierung, aber nichts über seinen direkten Nachbarn und
Konkurrenten. Wir wollen, dass alle Unternehmen
gleich behandelt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Das, meine Damen und Herren von der Großen Koali-
tion, ist doch auch in Ihrem Interesse. Schließlich beto-
nen Sie doch stets die Bedeutung des deutschen Mittel-
standes für Wachstum, Wohlstand und Arbeitsplätze.
Überdenken Sie daher noch einmal Ihre Ablehnung un-
seres Antrages, mit dem wir diese Ungerechtigkeit be-
seitigen wollten. Schaffen Sie mit uns Transparenz für
alle! Stärken Sie mit uns kleine und mittelständische Un-
ternehmen in Deutschland!

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811223800

Der Kollege Dr. Heribert Hirte hat für die CDU/CSU-

Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Heribert Hirte (CDU):
Rede ID: ID1811223900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es ist gut, dass Sie, Frau Präsidentin, den vollen Titel des
Gesetzentwurfs nicht vorgelesen haben. Die Vorsitzende
des Rechtsausschusses hatte gestern auch schon Schwie-
rigkeiten; denn er ist so lang und sperrig, dass das jetzt
eine Minute der Redezeit kosten würde. Aber warum ist
das so?

Es ist ein Gesetz, das der Umsetzung einer neuen EG-
Richtlinie dient. Das bedeutet, es geht um die Umset-
zung von Europarecht. Dieser Punkt hat uns – das
möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich erwähnen – in
den Beratungen sehr lange beschäftigt. Wir haben eine
ganze Reihe von Punkten, eine ganze Reihe von Anre-
gungen, die aus der Anhörung hervorgegangen sind und

bei denen wir vor der Frage gestanden haben: Können
wir das machen? Wir wären vielleicht in dem einen oder
anderen Punkt denjenigen, die die Anregungen gegeben
haben, gerne entgegengekommen. Aber es wurde uns
immer wieder gesagt – das haben wir zum Teil auch
selbst gesehen –, dass die eigentliche Schwierigkeit in
der zugrunde liegenden Richtlinie lag.

Wir sind deshalb im Einvernehmen mit dem Justiz-
ministerium zu dem, wie ich finde, guten Vorschlag ge-
kommen, dass wir sagen: Das basiert auf europäischem
Recht. Manche der Zweifel des europäischen Rechts,
etwa weil der Europäische Gerichtshof noch nicht ent-
schieden hat oder weil wir gar nicht wissen, was Eng-
land, Frankreich und Spanien zu den entsprechenden
Regelungen machen, können wir nicht lösen. Deshalb
haben wir gesagt: Wir verstehen das Gesetz der Sache
nach als eine gleitende Verweisung auf europäisches
Recht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das bedeutet: Wenn sich bei der Auslegung europäi-
schen Rechts etwas in der einen oder anderen Richtung
ändert, können wir – das Justizministerium hat uns das
zugesagt – in Zusammenarbeit der Koalitionsfraktionen
gemeinsam mit dem federführenden Ministerium die
entsprechenden Punkte anpassen. Ich glaube, das hat
durchaus Vorbildcharakter, weil wir immer wieder vor
der Frage stehen, wie wir mit den zugrundeliegenden
Richtlinien umgehen sollen.

Wir haben einige weitere Punkte, die in der Diskus-
sion waren, im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens klar-
gestellt. Ich möchte drei Punkte herausheben.

Der erste Punkt ist: Wir haben die Definition des
Konsolidierungskreises – das ist der Kreis der von einem
konzernbilanzerstellenden Unternehmen einzubeziehen-
den Unternehmen – präziser gefasst. Hier gab es Kritik;
denn es war nicht klar, ob die bisher erfassten Unterneh-
men, die eine Verlustausgleichspflicht nach § 302 Akti-
engesetz haben, vielleicht nicht mehr erfasst sein könn-
ten. Wir haben das im Gesetz klargestellt und in der
Begründung auch erläutert. Das bedeutet für die deut-
schen bilanzierenden Unternehmen keine Schlechterstel-
lung gegenüber dem derzeit noch geltenden Recht.

Wir haben in einem zweiten Punkt, der sogenannten
phasengleichen Gewinnrealisierung, vor allen Dingen in
der Begründung und ein kleines bisschen auch im Geset-
zestext nachgesteuert. Nämlich: Darf ein Konzernmut-
terunternehmen den Gewinn, der in der Tochtergesell-
schaft gemacht wurde, gleichzeitig dann ausweisen,
wenn er in der Tochtergesellschaft entstanden ist? Ei-
gentlich dürfte es das nicht, da es Jahre dauert, bis der
Gewinn oben ankommt. Weil das etwas schwieriger ist,
hatte das Ministerium eine Rücklage vorgeschlagen. Wir
sagen jetzt: Die Rücklage kann auch wieder aufgelöst
werden, wenn hinreichend sicher ist, dass der Gewinn
nach oben transferiert werden kann. Auch in diesem
Punkt können wir also bei der augenblicklichen Rechts-
und Gesetzeslage bleiben.

Ein dritter Punkt: die sogenannte Erklärung zur Un-
ternehmensführung. Wir haben im Bericht klargestellt





Dr. Heribert Hirte


(A) (C)



(D)(B)


und sind uns auch einig: Sie ist als generalisierende Aus-
sage über das gesamte Unternehmen zu verstehen. Eine
deutsche Muttergesellschaft muss bei Angaben, die sich
im italienischen oder im tschechischen Recht ergeben,
also nicht überlegen: Was wäre das Äquivalent nach
deutschem Recht? Das bringt eine deutliche Vereinfa-
chung bei den entsprechenden Angaben.

Ich glaube, in allen diesen Punkten haben wir in den
Beratungen einen guten Schritt gemacht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ein Punkt ist offen geblieben, und das hat, jedenfalls
am Ende, die Verhandlungen und die Beratungen etwas
verzögert. In der Anhörung wurde uns gesagt, dass der
Diskontierungszinssatz für Rückstellungen, insbeson-
dere für Pensionsrückstellungen, angesichts der niedri-
gen Zinsen, die wir im Augenblick haben, sowie der Be-
rechnungszeitraum angepasst werden müssten, weil
sonst die Rückstellungslast, die auf dem Unternehmen
ruht, zu hoch ist. Das ist etwas komplizierter, und weil es
etwas komplizierter ist, haben wir gesagt, über diesen
Punkt müssen wir ein bisschen länger nachdenken. Im
Grundsatz sind wir uns hier einig. Deshalb wollen wir
gleich eine entsprechende Entschließung annehmen.
Über die Einzelheiten werden wir aber erst im Herbst
dieses Jahres beschließen. Ich hoffe in diesem Punkt auf
gute Beratungen. Im Übrigen hoffe ich natürlich auf Zu-
stimmung zu diesem Gesetzentwurf von Ihnen allen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811224000

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol-

lege Dr. Thomas Gambke das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte ganz besonders die Zuhörer begrüßen, die
diesem Thema zu so später Stunde lauschen. – Die Um-
setzung der Richtlinie in nationales Recht – auch ich ver-
kürze die Überschrift – ist ein gutes Zeichen dafür, dass
Europa funktioniert. Ich finde, das sollte man einmal
deutlich sagen. Wichtige Änderungen werden von Eu-
ropa vorbereitet. Als Beispiel nenne ich die Rohstoff-
transparenz. Aber auch der Bürokratieabbau für kleine
und mittlere Unternehmen wird von Europa angeregt.
Ich finde, das sollte betont und unterstrichen werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn gerade kleine und mittlere Unternehmen in vie-
len Bereichen entlastet werden, dann sage ich als Mittel-
standsbeauftragter meiner Fraktion: Sehr gut! Das unter-
stützen wir.


(Beifall des Abg. Dr. Heribert Hirte [CDU/ CSU])


Ich muss allerdings etwas zum parlamentarischen Rah-
men sagen: Seit zwei Jahren liegt der Änderungsvor-

schlag zur Richtlinie auf dem Tisch. Am 20. Februar gab
es dann – ich muss sagen: endlich – den Entwurf. Das
führt uns, muss uns zu einer Enthaltung bei diesem Ge-
setz führen. Am Montag bringen Sie mehr als 100 Seiten
Änderungen. Es ist von einer Opposition in der Kürze
der Zeit nicht zu schaffen, das seriös durchzugehen, zu
bewerten. Deshalb bedaure ich ausdrücklich, dass wir
uns bei einem Gesetz, das wichtige Dinge enthält, ent-
halten müssen. Ich bitte sehr darum, dass dieses parla-
mentarische Verfahren so geändert wird, dass wir wirk-
lich in eine Bewertung von solchen Vorlagen kommen
können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Rohstofftransparenz ist ein wichtiges Thema. Auch
da hat Europa uns in der Bundesrepublik dazu gebracht,
endlich einen Schritt in Richtung Offenlegung zu gehen;
das ist hier betont worden. Wir haben uns in der Anhö-
rung ein bisschen mit dem Thema der 50 000 Euro be-
fasst, mit denen eine Nichtoffenlegung strafbewehrt ist.
Wir hätten uns vorgestellt – ich will hier noch einmal
wiederholen: ich finde es eigentlich bedauerlich, dass
wir mit dem Thema so wenig umgehen konnten –, dass
da erstens ein Eskalationsmechanismus enthalten sein
muss. Und es ist ja erwähnt worden: Es geht manchmal
um wirklich sehr hohe Beträge, wo 50 000 Euro, mit de-
nen man sich freikaufen kann, Peanuts sind. Insofern
hätten wir erwartet, dass man darüber noch einmal inten-
siver nachdenkt und einen Eskalationsmechanismus be-
schließt. Wir bedauern sehr, dass das nicht passiert ist.

Es gibt übrigens auch einen Hinweis darauf, was man
noch hätte machen können. Sie beschränken die Bilan-
zierungsrichtlinie ja auf das Thema Rohstoffe. Man hätte
dort natürlich noch mehr Berichtspflichten verlangen
können; wir haben vorhin darüber geredet. Ich bedaure
ausdrücklich, dass die Bundesregierung gerade in die-
sem Punkt Europa eher bremst denn fördert, und ich
hoffe sehr, dass die Europäer uns dazu bringen – ob das
in Steuersachen ist, ob das in ökologischer Hinsicht ist –,
in der Bilanzierung weitere Schritte zu gehen, damit die
Unternehmen da transparenter werden, als sie es heute
sind.

Ein kurzer letzter Punkt zu den Pensionsrückstellun-
gen. Ich unterstreiche ausdrücklich die Notwendigkeit,
da etwas zu tun, bitte aber darum, dass wir in der Prü-
fung nicht nur auf die Pensionsrückstellungen schauen.
Es geht hier um strukturelle Änderungen. Wobei ich da
noch einmal frage, ob das allein mit Fristigkeit gelöst
werden kann, dass also aus den 7 Jahren jetzt 12 oder
14 Jahre gemacht werden. Wir müssen dort jedes Detail
betrachten; denn es ist nicht richtig, wenn wir uns in ei-
ner Niedrigzinsphase nur die Pensionsrückstellungen an-
gucken. Es ist richtig, dass wir darauf gucken; aber es
wäre sehr wichtig, dass wir das Thema weiter fassen, um
eine Regelung zu finden, die eben auch auf andere Sach-
verhalte entsprechend anzuwenden ist.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811224100

Das Wort hat der Kollege Dr. Sascha Raabe für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Sascha Raabe (SPD):
Rede ID: ID1811224200

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Heute ist ein guter Tag für Afrika, für viele Ent-
wicklungsländer. Bisher ist es so gewesen, dass diese
Länder, gerade auf dem afrikanischen Kontinent, vor
Rohstoffreichtum eigentlich nur so strotzen und trotz-
dem zu den ärmsten Ländern und Regionen dieser Welt
gehören. Das liegt natürlich daran, dass der Rohstoff-
reichtum leider oft in korrupten Kanälen versickert, so-
wohl auf der Geber- als auch auf der Nehmerseite. Da-
mit das klar ist: Zur Korruption gehören immer zwei:
Die, die bestechen, und die, die es annehmen. Mit die-
sem Gesetz wollen wir beiden Seiten das Handwerk le-
gen. Jetzt muss offengelegt werden, wer schmiert. Nun
kann das verhindert werden. In diesem Sinne ist das
heute ein großer Schritt nach vorne für die Menschen in
Afrika. Herzlichen Dank dafür!


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Erstmals werden große Unternehmen, die Erdöl, Erd-
gas, Kohle, Salze oder Erze fördern, Stein oder Erden
abbauen oder auch Holzeinschlag in Primärwäldern be-
treiben, verpflichtet, über ihre Zahlungen an staatliche
Stellen zu berichten, diese zu veröffentlichen. Es ist nun
einmal so, dass Transparenz der erste Schritt ist, um
Korruption zu verhindern. Ich zitiere hier einmal Tobias
Kahler, den Deutschlanddirektor einer NGO, ONE, die
sich da auch sehr eingesetzt hat. Der hat gesagt, dass das
Abkommen, das auf EU-Ebene verabschiedet wurde und
das wir heute umsetzen, ein großer Schritt nach vorne im
Kampf gegen Korruption ist. Das Gesetz wird Licht in
die oft dunkle Welt der Geschäfte mit Öl, Gas und wert-
vollen Rohstoffen bringen. Es wird den Bürgern zeigen,
wohin das Geld, das für ihre natürlichen Ressourcen ge-
zahlt wird, wirklich fließt. Dieses Gesetz wird mögli-
cherweise Millionen Menschen aus extremer Armut be-
freien.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch wir,
die SPD-Bundestagsfraktion, haben uns viele Jahre lang
dafür eingesetzt, dass dieses Gesetz in der jetzigen
scharfen Form auf EU-Ebene heute in Kraft tritt. Hierzu
lag schon im Dezember 2012 ein Antrag vor. Ich bin
froh, dass unser Hauptpunkt, nämlich die projektbe-
zogene Offenlegung, berücksichtigt wurde. Durch die
Offenlegungspflicht wird verhindert, dass nationale Ge-
setzgebungen, die dagegen stehen, wirksam werden,
dass das sogenannte Tyrannenveto – so wurde es ge-
nannt; es findet hier aber keinen Eingang – unwirksam
wird.

Wir finden es gut, dass wir – über den Dodd-Frank
Act der USA hinausgehend – nicht nur die börsennotier-
ten Unternehmen in diese Offenlegungspflicht hineinge-
führt haben. Heute reden wir ja über die nicht börsenno-
tierten Unternehmen. Über die anderen werden wir hier
noch im September sprechen. Wir werden sie dazu auf-

fordern bzw. gesetzlich verpflichten, die Transparenz-
pflicht zu erfüllen und Offenlegungen vorzunehmen.

Es ist schön, wenn man sieht, dass nach vielen Jahren
harter parlamentarischer Arbeit heute endlich ein Erfolg
zu vermelden ist, dessen Effekte vielleicht heute in die-
sem Rahmen noch gar nicht abschätzbar sind. Es könnte
uns aber gelingen, auch NGOs bzw. die Zivilgesellschaft
in den Herkunftsländern durch die entsprechenden
Berichte in die Lage zu versetzen, damit auch etwas an-
zufangen. Damit könnten wir die Zivilgesellschaft unter-
stützen. Die Menschen könnten dann auch gegebenen-
falls zu ihren Gouverneuren bzw. Ministern gehen und
diese fragen: Warum ist hier eigentlich ein ausländisches
Unternehmen tätig? Sie könnten außerdem sagen: Alle
Gewinne gehen außer Landes; die stehen doch uns zu. –
Im Prinzip wird mehr als das Sieben- oder Achtfache der
Entwicklungshilfe für Afrika durch Exporte von Roh-
stoffen erzielt. Diese Einnahmen gehören endlich dahin,
wo sie erwirtschaftet werden. Sie müssen den lokalen
Gemeinschaften – den indigenen Völkern, den Klein-
bauern und den sonstigen Menschen vor Ort – direkt zu-
kommen. Die Menschen, die in diesen Ländern leben,
haben endlich den Reichtum und den Gewinn verdient –
aber nicht die großen Konzerne oder korrupte Politiker.
Deswegen hoffe ich, dass wir alle diesem Gesetz zustim-
men werden, damit wir wirklich Menschen aus Armut
befreien können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811224300

Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege

Dr. Volker Ullrich das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Volker Ullrich (CSU):
Rede ID: ID1811224400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Mit dem heutigen Gesetz zur Umsetzung der
Richtlinie über den Jahresabschluss treffen wir eine Ent-
scheidung, die für viele Unternehmen in diesem Lande
praktische Relevanz hat. Es geht um die Frage, wie Un-
ternehmen ihren Jahresabschluss aufzustellen und zu
veröffentlichen haben.

Ein Jahresabschluss hat zweierlei Funktionen. Zum
einen hat er die Funktion, die wirtschaftliche Lage des
Unternehmens für Anteilseigner und Gläubiger darzu-
stellen. Auf der anderen Seite dient er als Bemessungs-
grundlage für die Gewinnverteilung an die Anteilseig-
ner. Deswegen steht ein Jahresabschluss auch im
Spannungsverhältnis zwischen Transparenz einerseits
und dem Aufwand für die Unternehmen andererseits.
Wir lösen mit diesem Gesetzentwurf das Problem zu-
gunsten der Unternehmer, indem wir nämlich Bürokratie
abbauen und Schwellenwerte anheben, wodurch wir zu
einer deutlichen Bürokratieentlastung beitragen.

Es geht um Schwellenwerte für kleine Kapitalgesell-
schaften, ab denen sie beispielsweise einen Lagebericht,
der mit erheblichem Aufwand verbunden ist, aufstellen





Dr. Volker Ullrich


(A) (C)



(D)(B)


müssen. Wenn wir diese Schwellenwerte von 4,8 Millio-
nen Euro auf 6 Millionen Euro und von 9,7 Millionen
Euro auf 12 Millionen Euro anheben, ist das eine Entlas-
tung, von der Experten meinen, dass sie der deutschen
Wirtschaft bis zu 100 Millionen Euro bringt. Ich glaube,
das kann sich sehen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Aber die Umsetzung schützt auch den Verbraucher;
denn in den Bereichen, in denen besondere Anforderun-
gen an die Transparenz notwendig sind, weil es um Kun-
dengelder, um Einlagen, um Finanzanlagen geht, also
gerade im Bereich der Finanzwirtschaft, werden die
Größenbefreiungen nicht wahrgenommen. Damit hat
dieser Gesetzentwurf auch einen Aspekt des gelebten
Verbraucherschutzes.

Ich möchte Sie, meine Damen und Herren, bitten, Ihr
Augenmerk auf den Entschließungsantrag zu richten,
den wir heute vorlegen. Wir haben uns hinsichtlich der
Diskontierungszinssätze nicht nur auf diesem Gebiet,
sondern in verschiedenen Bereichen des Rechts, in de-
nen es Bewertungsanlässe gibt, die Frage zu stellen, wie
wir mit der langanhaltenden Niedrigzinsphase umgehen.
Wir können die Unternehmen, Steuerberater und Wirt-
schaftsprüfer nicht mit ihrer Sorge alleinlassen, wie sie
mit den niedrigen Zinssätzen umgehen sollen.

Niedrige Zinsen haben tatsächlich ganz praktische
Auswirkungen auf die Rechnungslegung. Für eine Pen-
sionszusage in Höhe von 100 000 Euro, die in 15 Jahren
fällig wird, musste man im Jahr 2009 eine Rückstellung
von etwa 46 000 Euro bilden, heute bereits eine solche
von 52 000 Euro. Damit wird erkennbar, dass der Unter-
schied beim Zinsniveau ganz erhebliche Auswirkungen
auf die Gewinnsituation der Unternehmen hat.

Auch wenn der Grundsatz der Bilanzwahrheit und
Bilanzklarheit an keiner Stelle und in keiner Minute in-
frage gestellt werden darf, so brauchen wir trotzdem im
Bilanzrecht und im Bewertungsrecht eine geeignete Ant-
wort auf die Frage, wie wir auf eine anhaltende Niedrig-
zinsperiode reagieren können. Deswegen ist es richtig,
dass wir uns besonnen und klug der Frage stellen: Wie
können wir auf diesen Umstand reagieren? Brauchen wir
möglicherweise größere Beurteilungsspielräume oder
andere Methoden, um den Wert von Rückstellungen bi-
lanzsicher festzustellen? Eines ist für uns klar und deut-
lich: Die Frage einer privaten Altersvorsorge und deren
Abbildung in der Bilanz ist zu kostbar, als dass man sie
bilanziell vernachlässigen dürfte.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Abschließend möchte ich den Kollegen von der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen zurufen: Stimmen Sie die-
sem guten Gesetzentwurf zu. Alle 100 Änderungsan-
träge, die Sie, Herr Kollege, eben dargestellt haben, sind
bereits in der Anhörung besprochen worden. Der einzige
Unterschied zur Anhörung ist unsere Entschließung, mit
der wir auf die Zinslage reagieren.


(Dr. Heribert Hirte [CDU/CSU]: Eine halbe Seite!)


In diesem Sinne: Lassen Sie uns ein gemeinsames Zei-
chen für ein gutes Bilanzrecht schaffen! Ich bitte Sie um
Zustimmung zur Entschließung und zum Gesetzentwurf.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811224500

Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich

schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Bilanzrichtli-
nie-Umsetzungsgesetzes. Der Ausschuss für Recht und
Verbraucherschutz empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/5256, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen
18/4050 und 18/4351 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung mit der Maßgabe der soeben von dem
Berichterstatter mündlich vorgetragenen und zu Proto-
koll gegebenen Berichtigung zustimmen wollen, um das
Handzeichen.1)


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Die der Berichtigung zustimmen wollen?)


– Hier gibt es Verwirrung. Nicht „der Berichtigung“; es
geht um die Beschlussempfehlung, in die jetzt aber die
Berichtigung schon aufgenommen ist


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Schade! Da hätten wir mal zustimmen können! Eine große Chance verpasst!)


und die auch im Protokoll exakt vermerkt ist. – Ich wie-
derhole die Abstimmung: Wer möchte hier zustimmen? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion bei Ent-
haltung der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
bei Enthaltung der Oppositionsfraktionen angenommen.

Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/5256 empfiehlt der Ausschuss, eine Ent-
schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer enthält sich? – Gibt es ir-
gendjemanden im Raum, der dagegen stimmen möchte? –
Das ist nicht der Fall. Die Beschlussempfehlung ist mit
den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-
Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf:

a) Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Hans-Christian Ströbele, Luise

1) Anlage 5





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


Amtsberg, Volker Beck (Köln), weiteren Abge-
ordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Förderung von Transparenz und zum
Diskriminierungsschutz von Hinweisgeberin-

(WhistleblowerSchutzgesetz)


Drucksache 18/3039

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)


Drucksache 18/5148

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Karin Binder, Andrej Hunko, Caren Lay,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Gesellschaftliche Bedeutung von Whist-
leblowing anerkennen – Hinweisgeberinnen
und Hinweisgeber schützen

Drucksachen 18/3043, 18/5148

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. – Ich gehe
davon aus, dass die Debatten auf der rechten Seite dieses
Hauses keinen Widerspruch zu den gerade getroffenen
Regelungen darstellen.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Die sind noch in der Entscheidungsfindung! – Manfred Grund [CDU/CSU]: Bitte? Wir sind sehr einverstanden mit allem, was Sie heute vortragen, Frau Präsidentin!)


– Es freut mich, dass die Unionsfraktion ihr Einverständ-
nis erklärt.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Markus Paschke für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Markus Paschke (SPD):
Rede ID: ID1811224600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wo-
rum geht es bei diesem Thema? Es geht um Korruption,
Steuerhinterziehung und auch um Gammelfleisch – um
nur einige Beispiele zu nennen.

Dienst an der Gesellschaft – das ist das, was soge-
nannte Hinweisgeber oder Whistleblower leisten. Hin-
weisgeber und Hinweisgeberinnen petzen und denunzie-
ren nicht. Ich finde, sie klären über Unregelmäßigkeiten
und illegales Verhalten auf.


(Beifall bei der SPD – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Sehr mutig!)


Im schlimmsten Fall machen sie sogar auf Gefahren für
Mensch und Umwelt aufmerksam. Ich finde, damit leis-
ten sie einen großen Dienst für die Allgemeinheit und
unsere Gesellschaft.

All diese Menschen – das gilt insbesondere für Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer – stehen in Abhän-
gigkeit zu dem Verursacher. Einerseits werden sie für ih-
ren Mut und ihre Zivilcourage ausgezeichnet und
belobigt; andererseits haben sie oft persönliche Nach-
teile, zum Beispiel Kündigungen, zu erleiden.

Nun gibt es in unserem Land bereits einzelne gesetzli-
che Regelungen, die vor genau solchen Negativfolgen
schützen sollen. Aber – das ist in der öffentlichen Anhö-
rung zu dem Thema deutlich geworden – dieser Schutz
reicht nicht aus.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)


Vor allem herrscht eine große Rechtsunsicherheit:


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Was ist erlaubt und was nicht? Wohin kann ich mich
wenden? Welche Verfahrenswege muss ich einhalten? –
All diese Fragen gilt es zu klären.

Die heute zur Abstimmung stehenden Vorlagen ent-
halten wichtige und richtige Anregungen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Dann können Sie ja zustimmen! – Gegenrufe von der SPD: Nein!)


Das Problem der Rechtsunsicherheit lösen sie aber nicht;
auch das wurde in der Anhörung deutlich. Die unbe-
stimmten Rechtsbegriffe in dem Gesetzentwurf der Grü-
nen werden, so die Expertenmeinung, viele Arbeitneh-
mer in der Praxis überfordern.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dafür gibt es Gewerkschaften!)


Auch der Schutz der Hinweisgeberinnern und Hinweis-
geber vor Sanktionen wie zum Beispiel einer Kündigung
wurde in beiden Vorlagen für noch ausbaufähig befun-
den.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Genau!)


Es bedarf also weiterer Überlegungen. Aber, ich denke,
wir sind uns fraktionsübergreifend in einem einig: Diese
Menschen verdienen unseren Schutz.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Noch nicht einig sind wir uns über die konkrete Aus-
gestaltung.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, dann mal ran!)


Ich verrate auch kein Geheimnis, wenn ich feststelle,
dass unser Koalitionspartner hier noch Beratungsbedarf
hat.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schickt die mal zu uns rüber!)


Ich finde, unser Anspruch sollte sein, möglichst große
Rechtssicherheit zu schaffen.





Markus Paschke


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manfred Grund [CDU/CSU])


Der Gesetzgeber hat prinzipiell zwei Möglichkeiten:
Entweder er entscheidet sich für eine verschärfte Über-
wachung – in der logischen Konsequenz bedeutet das
auch mehr Bürokratie –, oder er entscheidet sich für ei-
nen effektiven und nachhaltigen Schutz von Insidern, die
gravierende Missstände offenlegen. Das Zweite ist der
Weg, den wir favorisieren, den wir wollen.


(Beifall bei der SPD)


Das will aber auch gründlich vorbereitet sein. Es be-
darf auch noch ein wenig Überzeugungsarbeit. Bei einer
verlässlichen Regelung wird es darum gehen müssen,
die von mir genannten Punkte Rechtssicherheit und
Schutz vor Sanktionen angemessen umzusetzen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Müsst ihr erst wieder in die Opposition kommen!)


Einfache Gesetze, für jeden verständliche Regeln und
Rechtssicherheit für diejenigen, die große Missstände
oder sogar Verbrechen an der Allgemeinheit aufdecken
oder verhindern, das ist mein Anspruch.


(Beifall bei der SPD)


Das sehe ich in dem vorliegenden Gesetzentwurf und
auch in dem Antrag nicht ausreichend umgesetzt. Des-
wegen werden wir beide Vorlagen heute ablehnen.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811224700

Das Wort hat die Kollegin Karin Binder für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Karin Binder (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811224800

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-

legen! Meine Damen und Herren! Worüber reden wir ei-
gentlich? Was ist Whistleblowing?


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Hat Markus doch eben gesagt!)


Das sollten wir zu Beginn der Debatte klären. Ich sage
Ihnen auch, warum. In der Sitzung des Ernährungsaus-
schusses am 20. Mai sprach Herr Staatssekretär Bleser
von der CDU in der Diskussion über die vorliegenden
Vorlagen zum Whistleblower-Schutz von Denunzianten-
schutz. Ich glaube, es besteht ganz dringender Klärungs-
bedarf in den Reihen der CDU/CSU, worum es hier geht.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich finde, es ist ein Hammer, wenn ein Regierungs-
mitglied solche Worte benutzt, um das wichtige Pro-
blem, das wir hier haben, zu behandeln. Ein Denunziant
ist laut Duden jemand, der „aus persönlichen, niedrigen

Beweggründen“ andere anschwärzt. Wir reden hier
heute über Zivilcourage von Hinweisgebern, von soge-
nannten Whistleblowern. Das bedeutet, ungeachtet der
eigenen persönlichen Nachteile, die man dadurch mögli-
cherweise erleidet, für andere einzutreten.

Für Whistleblowing und für Zivilcourage gibt es viele
Beispiele: Der Lkw-Fahrer, der öffentlich machte, dass
verdorbene Schlachtabfälle zu Lebensmitteln umdekla-
riert wurden, deckte damit den bundesweit größten
Gammelfleischskandal auf. Aber nach Ansicht von
Herrn Bleser im Ernährungsministerium ist dieser Mann
ein Denunziant. Nein, Herr Bleser, dieser Mann hat Zi-
vilcourage, er ist ein Hinweisgeber und verdient unseren
Schutz und Respekt. Denn auch dieser Mann hat inzwi-
schen seinen Job verloren.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Durch das Einschreiten einer Tierärztin wurden da-
mals die ersten BSE-Fälle öffentlich. Eine Denunzian-
tin? Nein, Herr Bleser, eine Frau mit Zivilcourage, eine
Whistleblowerin.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Edward Snowden, der größte Denunziant von allen?
Nein, Herr Bleser, ein Mann, dem unsere Gesellschaft
höchsten Respekt entgegenbringen müsste, weil er den
größten Skandal von Abhören und Ausspionieren öffent-
lich gemacht hat.

Viele Menschen, die sich so ohne Rücksicht auf die
eigene Person im Sinne der Gesellschaft für die Belange
anderer eingesetzt haben, müssen heutzutage nach der-
zeitiger Rechtsprechung ernsthafte Benachteiligungen in
Kauf nehmen, vom Mobbing bis hin zur Vernichtung ih-
rer Existenzgrundlage, nämlich den Verlust des Arbeits-
platzes.

Elf Altenpflegerinnen im Münsterland machten ge-
meinsam die Leitung ihres Altenheims auf unhaltbare
Zustände aufmerksam, hielten den Dienstweg ein. Die
Pflegerinnen wollten die menschenunwürdigen Wohnbe-
dingungen und die Missstände bei der Pflege vieler alter
und demenzkranker Menschen beheben und natürlich
auch die ständige Arbeitsbelastung, die damit verbunden
war, beenden und nicht mehr hinnehmen. Die Heimauf-
sicht blieb leider untätig. Daraufhin gingen die Frauen
an die Öffentlichkeit und wurden fristlos entlassen;


(Caren Lay [DIE LINKE]: Das ist ein Skandal!)


das habe ich hier schon einmal erzählt.

Das Schlimme ist nur: Das Arbeitsgericht, das dann
über die Kündigungsschutzklagen zu befinden hatte,
fand, dass das alles ja gar nicht so schlimm ist, aber dem
Altenheim erheblicher Schaden zugefügt wurde.


(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Ach! Die erste Instanz hat doch anders entschieden! Das ist doch so überhaupt nicht richtig!)






Karin Binder


(A) (C)



(D)(B)


Die menschenunwürdige Behandlung der alten Men-
schen spielte bei der Urteilsfindung keine Rolle. Die
Frauen haben also Zivilcourage bewiesen und ihren Ar-
beitsplatz verloren. Diese Urteile belegen für mich, dass
wir hier eine große Lücke in unserem Rechtssystem ha-
ben,


(Beifall bei der LINKEN)


dass wir Gesetze haben, die dem Anspruch, Whistleblo-
wer zu schützen, nicht gerecht werden. Deshalb ist der
Bundestag gefordert, diese Lücken zu schließen, und
zwar durch ein Gesetz, das die Menschen verstehen kön-
nen, statt sich durch ein Dutzend Gesetze kämpfen zu
müssen. Wir brauchen ein Gesetz, wir brauchen eine An-
laufstelle für die Menschen, und wir brauchen definitiv
einen Whistleblower-Schutz.

Ich kann nur sagen: Vielen Dank an diese Altenpfle-
gerinnen! Vielen Dank an all die Menschen, die sich un-
beschadet ihrer eigenen Person für andere eingesetzt ha-
ben! Wir hoffen, dass wir in Zukunft auch durch den
Bundestag einen besseren Schutz und mehr Unterstüt-
zung für diese Menschen auf den Weg bringen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811224900

Der Kollege Wilfried Oellers hat für die CDU/CSU-

Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Wilfried Oellers (CDU):
Rede ID: ID1811225000

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Um die
Diskussion wieder etwas zu beruhigen und sie vielleicht
auf sachlichere Füße zu stellen,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na, na, na! – Caren Lay [DIE LINKE]: Das war sachlich!)


will ich zunächst einmal einiges klarstellen.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: „Klarstellen“? Das sind Fakten, die Frau Binder genannt hat!)


– Vielleicht hören Sie zunächst einmal zu; ich bin ge-
spannt, ob Sie dann noch widersprechen. – Selbstver-
ständlich ist es so, dass Missstände und illegales Han-
deln, insbesondere auch Gefahren, häufig gerade durch
Informationen von Hinweisgeberinnen und Hinweisge-
bern aufgedeckt werden. Sie sind letztlich auch diejeni-
gen, die skandalöses Verhalten nicht stillschweigend
hinnehmen, sondern beherzt tätig werden und es aufde-
cken.

Ich kann nicht bestätigen, was der Kollege Bleser ge-
sagt hat; ich werde da gerne einmal nachfragen.


(Karin Binder [DIE LINKE]: Dafür wäre ich dankbar!)


Trotzdem darf ich für meine Fraktion sagen, dass diese
Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber schon eine sehr
große Zivilcourage an den Tag legen, die wir sicherlich
anzuerkennen haben und die auch nicht genug gelobt
werden kann,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


weil diese Personen natürlich ein hohes Risiko in Kauf
nehmen und damit auch ihre Existenz aufs Spiel setzen.
Diesen Personen spreche ich persönlich, aber auch im
Namen meiner Fraktion großen Respekt aus.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie verweigern Ihnen die Hilfe!)


– Sie müssen zunächst einmal weiter zuhören; dann hät-
ten Sie sich diesen Zwischenruf vielleicht sparen kön-
nen.

Auch wir sehen es so, dass diese Menschen natürlich
zu schützen sind. Aber bevor man gesetzgeberisch tätig
wird, ist es erforderlich, auch einmal zu schauen: Wie ist
denn die derzeitige Rechtslage?


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie lange schauen Sie denn noch?)


Die öffentliche Anhörung hat in meinen Augen sehr
deutlich ergeben, dass die derzeitige Rechtslage durch-
aus ausreichend ist. Insbesondere hat das auch der Bund
der Richterinnen und Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit
deutlich gemacht.

Wir haben – lassen Sie es mich aufzählen – entspre-
chende gesetzliche Regelungen in Form des § 612 a
BGB, der Ihnen sicherlich bekannt ist, mit einem ent-
sprechenden Maßregelungsverbot; darauf gehe ich
gleich noch etwas näher ein. Wir haben weitere Regelun-
gen im Kündigungsschutzrecht, im Betriebsverfassungs-
recht, im Arbeitsschutzgesetz, im Bundes-Immissions-
schutzgesetz – ich habe mir das alles einmal
aufgeschrieben –, im Bundesbeamtengesetz, im Bundes-
statusgesetz, und wir haben eine umfangreiche Recht-
sprechung des BAG, des Bundesverfassungsgerichts und
natürlich auch des Europäischen Gerichtshofs für Men-
schenrechte.

Darüber hinaus darf auch nicht verkannt werden, dass
es mittlerweile eine Reihe von betrieblichen Regelungen
gibt. Das war auch ein deutliches Ergebnis der öffentli-
chen Anhörung mit den anwesenden Betrieben.

Ich will insbesondere noch einmal auf § 612 a BGB
eingehen. Man muss schon einmal deutlich hervorheben,
dass es sich hierbei um eine allgemeingesetzliche Norm
handelt, die auf alle Arbeitsverhältnisse Anwendung fin-
det. Für den Schutz durch dieses Maßregelungsverbot
gibt es natürlich bestimmte Voraussetzungen durch das
entwickelte Anzeigerecht. Dies ist auch richtig so, weil
in solchen Fällen natürlich beide Interessenseiten – so-
wohl diejenige der Arbeitnehmer als auch diejenige der





Wilfried Oellers


(A) (C)



(D)(B)


Arbeitgeber – berücksichtigt werden müssen. Das kann
man eben nur in Einzelfallentscheidungen. Hier helfen
die vorliegenden Gesetzentwürfe nicht weiter, weil in
diesem Bereich auch mit allgemeinen Rechtsbegriffen
gearbeitet wird, die auslegungsbedürftig sind, und eine
Auslegung kann eben nur im Einzelfall erfolgen.

Weil Sie die Entscheidung im Fall der Frau Heinisch
angesprochen haben, will ich Ihnen ganz deutlich sagen:
Sie müssen dabei schon einmal zur Kenntnis nehmen,
dass gerade die erste Instanz, das Arbeitsgericht, der
Frau Heinisch recht gegeben hatte. Das Landesarbeitsge-
richt hat das dann anders entschieden, und der Europäi-
sche Gerichtshof für Menschenrechte ist schließlich zu
dem Ergebnis gekommen,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nach wie vielen Jahren hat er entschieden?)


dass eine falsche Abwägung stattgefunden hat. Im Er-
gebnis hat er aber genau die gleichen Voraussetzungen
und Ansätze wie die Vorinstanzen gewählt. Dabei dürfen
Sie auch nicht verkennen, dass Frau Heinisch aufgrund
dieser Entscheidung eine recht hohe Abfindung bekom-
men hat,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nach wie vielen Jahren?)


was natürlich ein deutliches Zeichen dafür ist, dass sie in
weiten Teilen recht hatte.

Von daher: Es ist im Ergebnis eine Entscheidung im
Einzelfall. Hierfür reichen die bisherigen gesetzlichen
Regelungen aus. Wir haben gesehen, dass das im Fall
Heinisch im Ergebnis auch funktioniert hat.

Lassen Sie mich abschließend sagen, dass die Schutz-
würdigkeit der Hinweisgeber und der Respekt vor ihnen
es natürlich erfordern, dass wir diese Entwicklung in der
Rechtsprechung weiter aufmerksam verfolgen und ent-
sprechend tätig werden, sobald hier Handlungsbedarf
besteht. Zurzeit ist dies allerdings nicht der Fall.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811225100

Das Wort hat der Kollege Hans-Christian Ströbele für

die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Diese Diskussion leidet unter einem grundle-
genden Mangel: Sie ziehen sich immer auf die Recht-
sprechung zurück. Sie haben kein Wort dazu gesagt, wie
lange es braucht, bis man recht bekommt. Bei dem Bei-
spiel, das Sie genannt haben, hat die Frau jahrelang ge-
wartet und gelitten. Ihre Existenz wurde völlig kaputt-
gemacht, bis sie vor dem Europäischen Gerichtshof
letztendlich recht bekommen hat.

Wir sind der Gesetzgeber und dürfen uns nicht hinter
der Rechtsprechung verstecken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, solche Fälle zu regeln.
Sie drücken sich, weil Sie sich nicht trauen und sich mit
bestimmten Teilen der Industrie und der Unternehmen
nicht anlegen wollen.


(Wilfried Oellers [CDU/CSU]: Das ist nicht wahr! Das ist eine Verschwörungstheorie, Herr Ströbele!)


Deshalb verweigern Sie sich. Diese Verweigerung ist
nicht in Ordnung. Sie sollten Ihren Standpunkt ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Wilfried Oellers [CDU/CSU]: Das ist nicht wahr!)


Der SPD sage ich: Man muss offenbar warten, bis Sie
wieder in der Opposition sind. In der letzten Legislatur-
periode waren Sie nämlich durchaus auch für eine solche
Gesetzgebung.


(Markus Paschke [SPD]: Heute noch!)


Jetzt können Sie nicht. Sie trauen sich nicht oder wollen
nicht. Wenn Sie sagen, dass Ihnen das, was wir vorgelegt
haben, nicht reicht: Wir sind zu jedem Gespräch bereit.
Es hat aber keinen einzigen Ansatz eines Änderungsan-
trages oder Ähnliches gegeben, sondern Sie verweigern
sich aus Koalitionsräson und kommen Ihren eigenen
Vorstellungen, die Sie hier vorhin ja auch angesprochen
haben, nicht nach, sondern verraten diese damit. So kann
man mit dem Problem nicht umgehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich will jetzt gar nicht über die Paragrafen reden, die
im Bürgerlichen Gesetzbuch und im Bundesbeamtenge-
setz geändert werden sollten – darüber ist immer wieder
einmal, auch in der Anhörung, gesprochen worden –,
sondern ich rede jetzt über einen Teil, zu dem Sie jede
Diskussion verweigern. Ich habe versucht, im Rechts-
ausschuss darüber zu diskutieren. Ich habe die Kollegin-
nen und Kollegen der Koalition gebeten, sich doch we-
nigstens kurz dazu zu äußern, was sie dagegen haben.


(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Das ist nicht richtig!)


Da kam leider null und nichts. Sie verweigern die De-
batte über ein Gesetzesvorhaben zu einem Thema, das in
der Öffentlichkeit breit diskutiert wird.


(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Mit viel Leidenschaft habe ich mit Ihnen diskutiert, auch im Rechtsausschuss!)


Nicht nur Transparency International, sondern auch
die Mitglieder des Rechtsausschusses und des Men-
schenrechtsausschusses des Europarates fordern von den
Mitgliedsländern, eine gesetzliche Regelung zu schaf-
fen; Sie aber hören überhaupt nicht zu. Sie sitzen hier im
Bundestag, in dem Sie alles Mögliche regeln. Aber über





Hans-Christian Ströbele


(A) (C)



(D)(B)


das, was auch die Netz-Community immer wieder an-
mahnt: „Wann kommt ein Whistleblower-Schutzge-
setz?“, reden Sie nicht einmal, geschweige denn, dass
Sie etwas vorlegen oder uns helfen, einen vernünftigen
Entwurf vorzulegen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Deshalb haben wir jetzt einen Gesetzentwurf zu ei-
nem Whistleblower-Schutzgesetz vorgelegt. Dieses Ge-
setz ist dringend erforderlich, und zwar auch in Bezug
auf das Strafrecht. Auf der Grundlage des Strafrechts
wird auch Edward Snowden wegen des Verrats von
Staats- und Dienstgeheimnissen verfolgt. Es muss eine
Möglichkeit geben, bei der Abwägung höhere Interessen
zu berücksichtigen, nämlich die Schutzgüter des Grund-
gesetzes, die Interessen der Gesamtgesellschaft, schwere
Verbrechen und Straftaten zu verhindern, sodass sich
Menschen, die aus solchen Gründen handeln und denen
das zugerechnet werden muss, nicht strafbar machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wir schlagen vor, dass in diesen Fällen ein Rechtferti-
gungsgrund vorliegt bzw. dass sie befugt handeln.

Wir können über jede Einzelheit reden. Aber drin-
gend erforderlich ist die Diskussion in Deutschland und
im Bundestag dazu. Der Gesetzgeber muss hier handeln.

Als kleines Aperçu am Rande weise ich Sie auf den
§ 97 d StGB hin.


(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Ja!)


Der Inhalt dieses Paragrafen stand nach Verabschiedung
durch den Deutschen Bundestag im Jahr 1951 schon ein-
mal im Gesetz, also unmittelbar nach dem Erlass des
Grundgesetzes. Dieser Paragraf im Strafgesetzbuch er-
laubte es Abgeordneten, im Plenum oder in Ausschüssen
Geheimnisse, die die freiheitliche demokratische Ordnung
infrage stellten, benennen zu dürfen. Dieser Paragraf
wurde 1968 wieder aus dem Strafgesetzbuch gestrichen.
Wir sind dafür, dass dieser Paragraf wieder eingeführt
wird. Er könnte gerade in den Zeiten der NSA-Affäre
und des Whistleblowers Edward Snowden heilsam sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811225200

Vielen Dank, Kollege Hans-Christian Ströbele. –

Schönen guten Abend von hier. – Melden Sie sich zu ei-
ner Kurzintervention? Habe ich das richtig interpretiert?


(Wilfried Oellers [CDU/CSU]: Genau!)


– Ja, dann sind wir gnädig. Dann dürfen Sie das.


(Heiterkeit)


– Na ja, das war nicht ganz klar. Es hätte ja auch etwas
anderes sein können. Es hätte ja sein können, dass er
„Guten Abend, Claudia“ oder so etwas sagen will.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD)



Wilfried Oellers (CDU):
Rede ID: ID1811225300

Guten Abend, Frau Präsidentin! Ich möchte kurz ei-

nes klarstellen, Herr Ströbele, weil Sie gerade gesagt ha-
ben, wir würden über Argumente hinweggehen und ei-
ner Diskussion aus dem Weg gehen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Das ist nicht richtig. Diesen Vorwurf weise ich deutlich
zurück, sowohl für mich persönlich als auch für die
ganze Fraktion. Ich kann das auch belegen.

Bei der öffentlichen Anhörung war ein Sachverständi-
ger zugegen – ich habe den Namen nicht mehr im
Kopf –, der sich sehr deutlich für das Whistleblower-
Schutzgesetz ausgesprochen hat. Mit ihm habe ich sogar
ein Vieraugengespräch geführt. Ich habe mich dabei auch
mit seinen Argumenten auseinandergesetzt. Ich brauche
mir von Ihnen nicht vorhalten zu lassen, ich würde mich
mit der Thematik nicht auseinandersetzen. Ich denke,
das hat auch mein Vortrag gezeigt.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811225400

Danke, Herr Oellers. – Herr Ströbele, bitte.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Lieber Kollege, warum reden Sie hier nicht darüber
– Sie haben vorhin eine Rede gehalten und es mit kei-
nem Wort erwähnt –, warum verweigern Sie die Diskus-
sion darüber in den Ausschüssen? Warum nur in einem
Vieraugengespräch?


(Wilfried Oellers [CDU/CSU]: Das ist doch überhaupt nicht wahr! Sie waren doch in unserer Ausschusssitzung gar nicht dabei! – Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Im Rechtsausschuss haben wir diskutiert!)


Was steckt eigentlich dahinter?

Wir werden von der Gesellschaft aufgefordert, zu
handeln, und Sie beraten nicht einmal. Ich bin Mitglied
im Rechtsausschuss. Ich weiß nicht, ob darüber in ande-
ren Ausschüssen geredet worden ist.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Eben!)


Aber gerade zu diesen entscheidenden Bestimmungen
im Strafgesetzbuch muss doch wenigstens eine Diskus-
sion stattfinden. Sie können doch sagen, warum Sie da-
gegen sind und wo Sie Handlungsbedarf sehen oder auch
nicht. Aber überhaupt nichts zu sagen, mit der Folge,
dass in der Gesellschaft der Eindruck entsteht, wir wür-
den die Probleme gar nicht wahrnehmen, das werfe ich
Ihnen vor.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811225500

Vielen Dank, Hans-Christian Ströbele. – Die nächste

Rednerin in der lebendigen Debatte ist Kerstin Tack für
die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Kerstin Tack (SPD):
Rede ID: ID1811225600

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter
Herr Ströbele, wenn Sie von Verrat oder von der Verwei-
gerung einer Debatte reden, dann müssen Sie dafür auch
hinreichende Belege vorbringen. Sich hier hinzustellen
und zu meinen, das Ganze ließe sich polemisch lösen,
geht leider genauso an der Sache vorbei wie Ihre Unter-
stellung anderen gegenüber, sie würden sich der Sache
entziehen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann machen Sie mal einen Vorschlag!)


Was den öffentlichen Raum betrifft, wollen wir sehr
wohl, dass Menschen hingucken, engagiert sind und ak-
tiv werden, wenn sie einen Missstand wahrnehmen. Wir
machen Aufklärungskampagnen, vergeben sogar Preise
und nennen das Zivilcourage.

Wenn aber jemand im Arbeitsleben genau dieses Hin-
gucken praktiziert, dann meinen wir, dies wäre weniger
wert. Menschen, die das tun, zahlen sogar einen sehr ho-
hen Preis für dieses couragierte Hingucken. Sie bezahlen
nämlich viel zu häufig mit dem Verlust ihres Arbeitsplat-
zes.

Hinweisgeber sind erwünscht. Europa hat es den Mit-
gliedstaaten hinreichend häufig auferlegt, zu prüfen, ob
die Gesetze in den jeweiligen Mitgliedstaaten dem
Schutz der Hinweisgeber hinreichend Genüge tun. Auch
wir haben uns im Koalitionsvertrag zu genau einer sol-
chen Prüfung verpflichtet. Ich gehe davon aus, dass eine
solche Prüfung den Handlungsbedarf deutlich machen
wird.

Denn es ist kein Geheimnis, dass die SPD-Fraktion in
der letzten Wahlperiode den Entwurf eines Hinweisge-
berschutzgesetzes vorgelegt hat, womit sich auch die
Frage beantwortet, ob wir Handlungsbedarf sehen. Ja,
wir sehen einen Handlungsbedarf, und zwar mehr als die
Grünen in dem von ihnen vorgelegten Gesetzentwurf.
Wir meinen nicht, dass es ausreicht, im BGB festzu-
schreiben, die Dinge erst einmal im eigenen Betrieb zu
klären, bevor jemand andere Wege gehen kann. Ich halte
es sogar für falsch, das so zu machen.


(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Das ist doch gerichtlich entschieden!)


Wir sagen auch, dass klar sein muss, wann ein Miss-
stand vorliegt. Wir meinen, dass geklärt sein muss, wann
eine anonyme Hinweisgebung relevant ist. Wir wollen
auch die Frage der Betriebs- und Personalräte klären. Sie
kommen bei Ihnen nicht vor. Bei Ihnen im Übrigen auch
nicht, Frau Kollegin.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch! Die stehen drin! Vielleicht muss man den Gesetzentwurf mal lesen!)


Wir glauben aber, dass es wichtig ist, in den Unter-
nehmen genau solche Prozesse zu begleiten. Dafür ha-
ben wir entsprechende Gremien vorgesehen, die aber bei
Ihnen nicht vorkommen.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!)


Wir glauben auch, dass es wichtig und richtig ist, dass
es Möglichkeiten der Begleitung und der Rechtsberatung
gibt. Deshalb muss die Frage beantwortet werden, wie
Hinweisgeber nicht nur vor Kündigungen, sondern auch
vor Einbrüchen in der Karriere oder auch in den Ent-
wicklungschancen in den Betrieben geschützt werden.
All das muss man berücksichtigen. Denn wir wollen
nicht, dass jemand, weil er wichtige Hinweise an Auf-
sichtsbehörden bis hin in die Öffentlichkeit gibt, damit
rechnen muss, dass dieses Vorgehen für ihn persönliche
Nachteile hat.

Deshalb ist es richtig, dass wir in unserem Koalitions-
vertrag eine Prüfung genau dieser Umstände vereinbart
haben. Diese Prüfung steht aus. Wir mahnen sie an, weil
wir der Meinung sind, dass wir im Gespräch über genau
diese Schutzvorkehrungen zu dem Ergebnis kommen
werden, dass wir uns durchaus an der einen oder anderen
Stelle gemeinsam intensiver um den Schutz derer bemü-
hen müssen, die ihn verdienen. Denn was sie ganz sicher
nicht verdienen, sind der Verlust des Arbeitsplatzes und
die damit verbundenen Folgen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811225700

Vielen Dank, Kollegin Tack. – Der letzte Redner in

der Aussprache ist Alexander Hoffmann für die CDU/
CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Alexander Hoffmann (CSU):
Rede ID: ID1811225800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kollegin-

nen und Kollegen! Wir sprechen heute über ein wichti-
ges Thema. Dennoch möchte ich zur Vorsicht mahnen
und davor warnen, dieses Thema zu überhöhen. Mancher
Redner erweckt den Eindruck, dass die infrage stehenden
Fälle in Deutschland tausendfach vorkommen und dass
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland
schutzlos gestellt sind.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zu wenig!)


Es gibt – da haben Sie recht – populäre Fälle. Diese sind
uns allen bekannt und wurden heute erneut eindrucksvoll
geschildert. Aber am Ende steht die Frage: Was müssen
wir tatsächlich regeln?

Werfen wir zunächst einmal einen Blick auf das Zivil-
recht. Da steht im Mittelpunkt die Entscheidung des Eu-





Alexander Hoffmann


(A) (C)



(D)(B)


ropäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, betreffend
eine Pflegerin, die Missstände in Pflegeheimen bekannt
gemacht hat. Wir sollten uns mit den wichtigsten Er-
kenntnissen dieser Entscheidung befassen. Die erste Er-
kenntnis ist: Es geht um den Grundrechtsschutz. Der Eu-
ropäische Gerichtshof für Menschenrechte hat eine
Abwägungsentscheidung betreffend die Meinungsfrei-
heit und das Informationsinteresse der Öffentlichkeit auf
der einen Seite und dem Vertraulichkeitsinteresse des
Unternehmens auf der anderen Seite getroffen.

Die zweite Erkenntnis ist, dass der Europäische Ge-
richtshof mit dieser Abwägungsentscheidung zeigt: Es
gibt keinen Hinweisgeberschutz um jeden Preis. Er hat
bestätigt, dass die innerbetriebliche Klärung Vorrang hat.
Deswegen hätte Ihr Vorschlag, Frau Kollegin Tack, viel
zu weit gegriffen. Der Europäische Gerichtshof für Men-
schenrechte sagt: Es muss zuvor der Versuch der inner-
betrieblichen Klärung unternommen werden.

Die dritte und für mich wichtigste Erkenntnis ist das,
was der Kollege Oellers schon angesprochen hat. Die
Vorinstanzen haben in dem besagten Fall eigentlich die
richtigen Maßstäbe angelegt. In der ersten Instanz hat
das Arbeitsgericht die Rechtswidrigkeit der Kündigung
der Pflegerin bestätigt. Aber die Gewichtung war anders.
Hier stellt sich die spannende Frage, wie das mit einem
Gesetz verändert werden soll.

Wir haben – das ist ein Zwischenfazit – eine gefes-
tigte Rechtsprechung und einen etablierten Abwägungs-
prozess. Das werden wir mit einem Gesetz auch nicht
verändern. Herr Ströbele, Sie werden nun sicherlich sa-
gen, dass das Zeit kostet. Aber wer sich mit Jura befasst
– ich weiß, dass Sie das tun –, dem ist bekannt, wie lang
die Wege durch die Instanzen sind, und das mit Gesetz
genauso wie ohne Gesetz.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann brauchen wir gar keine Gesetze?)


Eine weitere Erkenntnis treibt mich viel mehr um.
Wir werden die tatsächlichen Gegebenheiten durch ein
Gesetz nicht verändern können. Wie sieht denn die Rea-
lität aus? Das Tischtuch zwischen Arbeitnehmern und
Arbeitgebern sowie innerhalb der Kollegenschaft ist in
solchen Fällen zerschnitten. Es gibt für den Betreffenden
keine Zukunft mehr in seinem Betrieb. Deswegen enden
solche Fälle zumeist mit einvernehmlichen Kündigun-
gen und Abfindungen. Auch das werden wir durch ein
Gesetz nicht verändern können.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Vor diesem Hintergrund muss man feststellen, dass
die von Ihnen formulierten Regelungen zu weitreichend
sind. Der Vorrang der innerbetrieblichen Klärung ist
nicht beachtet. Das Kriterium der Beweislastumkehr
geht bei Ihnen viel zu weit. Zu diesem Schluss kommt
man, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Schäden
entstehen können, wenn jemand aus Versehen eine fal-
sche Behauptung aufstellt. Es darf nicht nur auf die sub-
jektive Sicht des Hinweisgebers ankommen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da steht: „konkrete Anhaltspunkte“!)


Eine formale Verschiebung des Irrtumsrisikos auf die
Unternehmensseite ist nicht hinnehmbar, weil es um gra-
vierende Schäden geht.

Nun haben Sie, Kollege Ströbele, in der letzten
Rechtsausschusssitzung gesagt: Im Zivilrecht mag das
so sein. Aber was ist mit dem Strafrecht? – Darüber ha-
ben wir ausführlich diskutiert. Deswegen verstehe ich
Ihren Vorhalt nicht, dass niemand mit Ihnen diskutieren
würde.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo haben wir diskutiert?)


Als wir darüber das letzte Mal im Plenum gesprochen
haben, habe ich gesagt: Grundrechte haben Ausstrah-
lungswirkung auch auf das Strafrecht. Eine Entschei-
dung wie die des Europäischen Gerichtshofs für Men-
schenrechte wirkt auch auf das Strafrecht. Wir müssen
uns jedoch vor Augen führen, dass alle populären Fälle
wie der Fall der Pflegerin oder der des Gammelfleisch-
fahrers keine strafrechtliche Dimension haben.

Im Strafrecht sind zum Beispiel Staatsgeheimnisse,
Dienstgeheimnisse und Informationen geschützt, die ei-
ner besonderen Geheimhaltungspflicht unterliegen; das
heißt, schon der Gesetzgeber differenziert. Bei Letzteren
stellt die bloße Preisgabe keinen Rechtsverstoß dar. Viel-
mehr ist eine zusätzliche Gefährdung öffentlicher Inte-
ressen erforderlich. Das heißt, auch hier beherrscht der
Gesetzgeber das Zwischenspiel und will noch eine Dif-
ferenzierung. Der Schutzzweck geht bei Staatsgeheim-
nissen sogar noch weiter. Es muss nämlich zu einer Ab-
wendung von schweren Nachteilen für die äußere
Sicherheit der BRD erforderlich sein. Und – das ist das
Interessante, das man feststellt, wenn man das Gesetz
liest – bei Staatsgeheimnissen nimmt der Gesetzgeber
sehr wohl eine Differenzierung vor. Er unterscheidet
nämlich zwischen echten Staatsgeheimnissen nach § 93
Absatz 1 und illegalen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die wollen Sie immer noch bestrafen?)


– Ja, aber nur in ganz bestimmten Fällen. – Das heißt,
der Gesetzgeber sieht hier sehr wohl eine Differenzie-
rung vor. Diese Differenzierung ist gelungen, und sie ist
ausgewogen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir müssen uns vor Augen führen: Es geht um die äu-
ßere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland. Da ist
es vollkommen deplatziert, wenn Sie mit Ihrem Gesetz-
entwurf das ganze System auf den Kopf stellen wollen.
Das können wir nicht zur Disposition des Einzelnen stel-
len.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811225900

Vielen Dank, Herr Kollege Hoffmann. – Ich schließe

die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf
eines Whistleblower-Schutzgesetzes der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen. Der Ausschuss für Arbeit und
Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/5148, den Gesetzent-
wurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 18/3039 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Zugestimmt
hat Bündnis 90/Die Grünen, dagegen gestimmt haben
CDU/CSU und SPD, enthalten hat sich die Linke. Damit
entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Bera-
tung.

Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfeh-
lung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Drucksache 18/5148 fort. Der Ausschuss empfiehlt
unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/3043 mit dem Titel „Gesellschaftliche
Bedeutung von Whistleblowing anerkennen – Hinweis-
geberinnen und Hinweisgeber schützen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dage-
gen gestimmt hat die Linke, eine Enthaltung gab es vom
Bündnis 90/Die Grünen.

Wir kommen dann zum nächsten Tagesordnungs-
punkt. Herr Oellers, Herr Bleser ist da. Dann können Sie
ihn gleich einmal befragen. Das hatten Sie angekündigt;
nur, falls Sie es vergessen würden.

Ich lade alle recht herzlich ein, anlässlich der Debatte
zu einem spannenden Thema hierzubleiben. Ich warte,
bis die einen draußen sind und die anderen hereinkom-
men. Noch ein schönes Fest!


(Unruhe)


Ich bitte, jetzt Platz zu nehmen. Wir kommen wirklich
zu einem sehr wichtigen Punkt.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Sibylle Pfeiffer, Sabine Weiss (Wesel I),
Frank Heinrich (Chemnitz), weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Bärbel Kofler,
Axel Schäfer (Bochum), Heinz-Joachim
Barchmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Entwicklungsfinanzierung vor dem Hin-
tergrund universeller Nachhaltigkeitsziele

Drucksache 18/5093

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Kekeritz, Claudia Roth (Augsburg), Anja
Hajduk, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Addis Abeba zum Erfolg führen – Einsatz
für eine gerechte internationale Entwick-
lungs- und Klimafinanzierung

Drucksache 18/5151

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Dazu gibt es
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel für die
Bundesregierung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ha
Hans-Joachim Fuchtel (CDU):
Rede ID: ID1811226000


Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! 2015 ist mit vier Konferenzen das Entwick-
lungsjahr. Der Start in Elmau war eindeutig ein großer
Erfolg in entwicklungspolitischer Hinsicht. Dass die
Koalition daraufhin die Hände nicht in den Schoß legt,
merken Sie an dem Antrag, der hier gestellt wurde. Jetzt
geht es nämlich um die Finanzarchitektur, die als Nächs-
tes aufgebaut werden muss. Dazu ist es notwendig, dass
die Diskussion jetzt aus den Expertenkreisen heraus- und
in das Plenum hineinkommt


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Hier sind wenig Experten! Das stimmt!)


und hier Bewusstsein für die großen Aufgaben wie Kli-
maschutz, Armutsbeseitigung und wirksame Bekämp-
fung von Fluchtursachen geschaffen wird. Hierfür stellt
dieser Antrag die richtigen Weichen, und deswegen be-
grüßen wir vom BMZ diesen Antrag natürlich auf das
Nachhaltigste.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Haushaltspolitisch hatten wir am Anfang der Legis-
laturperiode die Konkretisierung durch die Koalitions-
vereinbarung in einer Größe von 2 Milliarden Euro.
Heute zeichnet sich ab, dass für den Haushalt 2016 ein
Aufwuchs von circa 830 Millionen Euro zu erwarten ist.
Das sind nicht weniger als 13,2 Prozent. Meine Damen
und Herren, das heißt, es wird für das Jahr 2016 im
Bereich der Entwicklungspolitik einen Rekordzuwachs
geben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Stefan Rebmann [SPD]: Die Entwicklungspolitiker haben dafür gekämpft!)


Das ist ein Bekenntnis dieser Koalition zu einer offensi-
ven Entwicklungspolitik.


(Stefan Rebmann [SPD]: Und das Ergebnis der hervorragenden Arbeit der Parlamentarier!)


Das ist ein klares Zeichen für die Konferenz in Addis
Abeba. Wir gehen in diese Verhandlungen in der
Hoffnung, dass von dieser Konferenz sehr viele positive





Parl. Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel


(A) (C)



(D)(B)


Signale in Richtung New York und Paris ausgehen, wo
die Nachfolgekonferenzen stattfinden.

Für uns als Bundesregierung geht es bei diesen Ge-
sprächen in Addis Abeba nicht nur darum, dass man
über Geld verhandelt, sondern auch darum, dass man
insgesamt über das Wie spricht, über die Prinzipien, wie
wir auf dieser Welt künftig zusammenarbeiten. Die Ant-
wort ist für uns klar: Wir brauchen eine gemeinsame
Verantwortung für das globale Gemeinwohl. Deswegen
liegt der Fokus in Zukunft auf der Übernahme von Ver-
antwortung durch globale Partnerschaft.

Diese neuen Partnerschaften müssen zum einen die
Industrieländer, die Schwellenländer und die armen Län-
der umfassen. Sie müssen zum anderen auch die Staaten,
die Wirtschaft und die Zivilgesellschaft umfassen. Ich
sage das nicht ganz ohne Grund unter Hinweis auf die
Verhandlungen, die jetzt angelaufen sind. Partnerschaft
bedeutet aber nicht, dass sich manche Regierungen einen
schlanken Fuß machen und denken, dass die anderen das
regeln sollen. Partnerschaft heißt Gemeinsamkeit. Da-
rüber werden wir in Addis Abeba sehr viel zu sprechen
haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Natürlich spielt auch ODA weiterhin eine wichtige
Rolle, gerade für die am wenigsten entwickelten Staaten
und für fragile Staaten. Für sie ist ODA nach wie vor
eine ungeheuer wichtige Finanzquelle, um einen nach-
haltigen Entwicklungspfad einzuschlagen. Das hat auch
einen sehr starken Symbolwert. Deswegen haben wir
uns im Rahmen der EU-Rats-Schlussfolgerungen und
gerade erst in Elmau erneut verpflichtet, 0,7 Prozent des
Bruttonationaleinkommens für ODA bereitzustellen.

Ein großes Ziel für nachhaltige Entwicklung muss
aber sein, dass wir nicht allein mit ODA hantieren. Wir
wissen, dass die Erreichung dieser großen Ziele allein
mit ODA bereits jetzt nicht vorangebracht werden
konnte. 85 Prozent der Mittel kommen aus dem Privat-
sektor, 15 Prozent kommen aus dem öffentlichen Sektor.
Das wird sich im Großen und Ganzen auch nicht ganz so
einfach ändern lassen.

Was wir natürlich sicherstellen müssen, ist, dass die
ODA-Gelder vor allem dort eingesetzt werden, wo sie
am dringendsten gebraucht werden. Sie müssen dorthin
fließen, wo sie eine Hebelwirkung auslösen können.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wo denn?)


Wir hoffen, dass wir durch das Mixen der ODA-
Gelder mit privaten Mitteln nachhaltig weitaus mehr be-
wegen können, als es in der Vergangenheit der Fall war.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das ist so schwammig! Nichts Konkretes!)


Es geht nämlich nicht nur ums Geld, sondern auch um
die Weitergabe von Know-how, um Technologietransfer
und um fairen globalen Handel. Dass man da etwas be-
wirken kann, hat sich gerade durch unser Textilbündnis
gezeigt. Ich möchte noch ein Wort zur Eigenverantwor-
tung sagen. Es muss klargemacht werden, dass alle Staa-
ten für ihre Entwicklung erst einmal selbst verantwort-

lich sind. Meine Damen und Herren, ordnungspolitisch
geht es hier auch um das Subsidiaritätsprinzip. Das muss
gesehen werden, und das spielt in der Diskussion mit
eine Rolle.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das dürfen wir bei der Finanzierungsdiskussion nicht
vergessen.

Ich darf daran erinnern: Die Steuerrate beispielsweise
erreicht in vielen Entwicklungsländern kaum 15 Prozent.
Das kann man sich in Deutschland gar nicht vorstellen.
Das ist natürlich viel zu wenig, um eine vernünftige
Infrastruktur oder Sozialsysteme aufzubauen.

Die OECD hat vor kurzem darauf hingewiesen, dass
es einer Verdopplung des weltweiten ODA-Betrags ent-
spräche, wenn alle Entwicklungsländer ihre Steuern nur
um etwas mehr als 1 Prozentpunkt erhöhen würden.
Auch diese Frage muss insgesamt sehr intensiv bespro-
chen werden.

Da geht es darum, dass von jedermann mehr Verant-
wortung eingefordert wird, dass die nationalen Ressour-
cen entsprechend mobilisiert werden und dass gleichzei-
tig von den Ländern, die dazu in der Lage sind, mehr
Unterstützung beim Aufbau effizienter und fairer Steuer-
systeme gegeben wird. Es geht auch um Veränderungen
der internationalen Rahmenbedingungen, um Steuer-
flucht zu vermeiden und so den Entwicklungsländern
überhaupt eine Chance zu geben, Steuern zu erheben.
Beim G-7-Gipfel sind auch in dieser Hinsicht die Wei-
chen hervorragend gestellt worden.

Noch ein Wort zu Entwicklungsbanken. Das ist eine
Fragestellung, die viel zu wenig beachtet wird. Hier
kann erheblich mehr entstehen. Das habe ich als deut-
scher Gouverneur bei der Asiatischen, der Inter-Ameri-
kanischen und der Karibischen Entwicklungsbank schon
an verschiedenen Stellen gemerkt und mitbetrieben. Wir
haben beispielsweise durch eine weitreichende Reform
des Asiatischen Entwicklungsfonds erreichen können,
dass die vorhandenen Kapitalressourcen effizienter ge-
nutzt werden, was dazu führt, dass das jährliche Ausleih-
volumen von aktuell 14 Milliarden US-Dollar auf im-
merhin 18 bis 20 Milliarden US-Dollar steigt. Das ist
doch eine beachtliche Summe.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Stefan Rebmann [SPD] – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Nichts Konkretes!)


Auf dem Weg zu einer verbesserten Finanzierung der
Entwicklungszusammenarbeit, meine lieben Kollegin-
nen und Kollegen, und bei der Struktur unserer künfti-
gen Finanzen auf diesem Gebiet liegen noch viele
Steine. Ich habe einmal gelernt – das hat mir immer wie-
der Hoffnung gegeben –: Wenn irgendwo Steine auf dem
Weg liegen, kann man mit diesen Steinen noch sehr viel
Schönes bauen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE] – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Jetzt wundert mich überhaupt nichts mehr! Was für eine Lebensweisheit!)






Parl. Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel


(A) (C)



(D)(B)


In diesem Sinne, meine Damen und Herren: Gehen wir
mit Optimismus in die nächste Runde, und hoffen wir,
dass wir hervorragende Ergebnisse präsentieren können!

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811226100

Vielen Dank, Hans-Joachim Fuchtel.

Ich möchte gern die Besuchergruppe meines Kollegen
Auernhammer aus Weißenburg-Gunzenhausen recht
herzlich begrüßen.


(Beifall)


Nächste Rednerin in der Debatte: Heike Hänsel für
die Linke.


(Beifall bei der LINKEN – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: An die Gruppe aus Gunzenhausen: Aufgemerkt! Jetzt kommt was Gutes!)



Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811226200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Gäste! Zu später Stunde diskutieren wir jetzt noch
ein Entwicklungsthema. Wir haben heute schon mehr-
fach Entwicklungsfragen diskutiert. Jetzt geht es um die
Finanzierung, die ja nicht ganz unwichtig ist.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: So ist es!)


Wir haben es ausdrücklich begrüßt, dass es für die
nächsten Jahre mehr Geld für Entwicklung geben soll.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU] und Stefan Rebmann [SPD])


Aber wenn wir uns die Zahlen genau anschauen, stellen
wir fest: Die Bundesregierung wird weiterhin stagnieren
bei ungefähr 0,4 oder 0,41 Prozent, trotz der Zusagen,
die gemacht wurden, nämlich dass jeder Staat mindes-
tens 0,7 Prozent seines Bruttonationaleinkommens für
Entwicklung ausgeben soll. Die Bundesregierung wird
also in den nächsten Jahren diese international gemach-
ten Zusagen nicht einhalten können und sie wieder ein-
mal brechen. Das finde ich dann im Zusammenhang mit
der aktuellen Diskussion, die wir zum Beispiel um Grie-
chenland führen und in der tagtäglich gesagt wird: „Ihr
müsst eure internationalen Zusagen einhalten“, doch
sehr interessant. Ich finde, die Bundesregierung hat kein
Recht, Griechenland hier in irgendeiner Weise zurecht-
zuweisen.


(Beifall bei der LINKEN)


Herr Fuchtel, Sie haben das ja so toll gesagt: Elmau
war ein Riesenerfolg. – In Elmau waren Sie vor
allem sehr erfolgreich im Geldausgeben. Dieser zwei-
tägige G-7-Gipfel, dieser Klub der Reichen, der sich da
getroffen hat, hat die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler
nämlich 360 Millionen Euro gekostet.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ein Schnäppchen!)


Wenn man sich anschaut, dass der Entwicklungsetat von
diesem Jahr zum nächsten um 830 Millionen Euro auf-
wächst und die Bundesregierung mit ihrer G-7-Wertege-
meinschaft in zwei Tagen fast die Hälfte davon verprasst
hat, dann erkennt man, dass Ihre Prioritäten vorne und
hinten nicht stimmen. G-7-Gipfel können wir uns spa-
ren.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wenn ich mir dann auch noch anschaue, dass zeit-
gleich mit der Erhöhung der Entwicklungsgelder auch
die Rüstungsausgaben in den nächsten Jahren um unge-
fähr 8 Milliarden Euro steigen sollen, zusätzliche Mil-
liarden für teure Rüstungsprojekte wie zum Beispiel das
Raketenabwehrsystem MEADS ausgegeben werden sol-
len, eventuell neue europäische Drohnen angeschafft
werden sollen und wir auch noch das NATO-Ziel haben,
dass wir zukünftig 2 Prozent unseres Bruttonationalein-
kommens für Rüstung ausgeben sollen, dann kann ich
nur sagen: Sie bewegen sich hier in die völlig falsche
Richtung. Wir brauchen keine neue Rüstungsspirale,
sondern eine Entwicklungsdividende.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diese ist auch bitter nötig; denn wir haben – das
wurde ja schon formuliert – viele hehre Ziele. Dieses
Jahr werden die Nachhaltigkeitsziele in New York ver-
abschiedet. Wir wollen weltweit die soziale Ungleichheit
bekämpfen. Herr Fuchtel, ich hoffe, Sie hören zu; denn
der Minister Müller macht sehr viele Ankündigungen. Er
will bis 2030 eine Welt ohne Hunger haben. All diese
Ankündigungen sind nicht ohne eine Finanzierung um-
zusetzen. Gleichzeitig brauchen wir mehr Geld für die
Klimaanpassungsmaßnahmen usw. Hier reicht Ihr Haus-
halt vorne und hinten nicht. Wir lehnen es auch ab, dass
Sie nicht sagen, wie viel Geld es für die Klimaanpas-
sungsmaßnahmen und wie viel Geld es für Entwicklung
gibt. Das kann nicht gegeneinander ausgespielt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Zum Schluss möchte ich noch auf eines hinweisen.
Interessant finde ich, dass im Antrag der Koalitionsfrak-
tionen steht, dass Sie den Ländern des Südens empfeh-
len, funktionierende Steuersysteme aufzubauen, um die
soziale Ungleichheit in ihren Ländern bekämpfen zu
können. Da frage ich mich: Wieso macht das eigentlich
die Bundesregierung nicht auch? Wo sind denn Ihre Rei-
chensteuer, Ihre Vermögensteuer und Ihre gerechte Erb-
schaftsteuer, die endlich einmal dazu beitragen könnten,
dass soziale Ungleichheit bei uns bekämpft wird und wir
gleichzeitig mehr Geld haben, um die weltweite soziale
Ungleichheit zu bekämpfen?


(Beifall bei der LINKEN)


Noch eine Zahl, dann bin ich auch schon am Ende:
Laut FAZ von vor zwei Tagen liegt Deutschland mittler-
weile weltweit auf dem dritten Rang, was die Anzahl an
wohlhabenden Menschen, an Millionären angeht, die wir
im Land haben.





Heike Hänsel


(A) (C)



(D)(B)



(Peter Stein [CDU/CSU]: Das ist doch keine Schande, oder? – Johannes Selle [CDU/CSU]: Das ist keine Schande!)


Vor uns liegen nur noch die USA und Japan.


(Peter Stein [CDU/CSU]: Das ist keine Schande! Das ist ein Erfolg!)


Deswegen müssen Sie endlich handeln, wenn Sie wirk-
lich genügend Geld für Entwicklung und Klimaschutz
haben wollen.


(Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund [CDU/CSU]: Man muss einen Mantel haben, um ihn zu teilen!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811226300

Vielen Dank, Frau Kollegin Hänsel. – Die nächste

Rednerin in der Debatte ist Dr. Bärbel Kofler für die
SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Bärbel Kofler (SPD):
Rede ID: ID1811226400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Liebe Besucher auf den Tribünen! Liebe
Heike Hänsel, wir sind uns ja einig, dass man gerade im
Zusammenhang mit sozialen Fragen Steuersysteme auf-
bauen und nutzen soll. Aber so zu tun, als hätten wir
kein Steuersystem in Deutschland,


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Doch, aber ein ungerechtes!)


ist – in vielen Ländern des Südens ist das leider der Fall,
dort sind viele Haushalte ausschließlich auf Zolleinnah-
men angewiesen, weil es keine Steuersysteme gibt –
schon komisch, um es einmal vorsichtig zu sagen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wir diskutieren jetzt im Vorfeld der Konferenz von
Addis Abeba, die Mitte Juli dieses Jahres stattfinden
wird. Es ist die dritte Entwicklungskonferenz innerhalb
der letzten 15 Jahre. Die erste war in Mexiko, die zweite
in Katar. Aber diese Konferenz unterscheidet sich mas-
siv von den vorangegangenen Konferenzen. Hier geht es
um weit mehr als die wichtigen MDGs, die Millen-
niumsentwicklungsziele. Hier geht es um eine nachhal-
tige Agenda für alle Länder dieser Erde: für die Länder
des Südens genauso wie für uns. Es geht um den Hand-
lungsbedarf in unseren Gesellschaften und bei den Un-
gerechtigkeiten innerhalb unserer Gesellschaften. Des-
halb ist der Erwartungsdruck auf die Konferenz in Addis
Abeba hoch – zu Recht hoch.

Es geht darum, 17 Nachhaltigkeitsziele inhaltlich um-
fassender als alles das, was wir bisher diskutiert haben,
auf den Weg zu bringen und Gestaltungsmöglichkeiten
für eine andere Welt zu eröffnen. Es geht um Themen
wie inner- und zwischenstaatliche Ungleichheit. Es geht
um menschenwürdige Arbeit weltweit, um nachhaltige
Produktionsmuster, um Klima, Frieden und Sicherheit.

Wenn wir all diese positiven Ziele erfüllen wollen, dann
brauchen wir eines: eine ausreichende Finanzierung.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Das heißt aber auch, Addis Abeba muss gelingen, wenn
die nachfolgenden Konferenzen – sei es die SDG-Konfe-
renz, also die Konferenz um die Nachhaltigkeitsziele in
New York, oder die Klimakonferenz im Dezember in Pa-
ris – erfolgreiche Konferenzen werden sollen und wir zu
Fortschritten kommen wollen. Deshalb die Konzentra-
tion auf einige finanztechnische bzw. technische Fragen:
Ja, es geht um die sogenannte ODA-Quote. Sie ist eine
erste und wichtige Säule. Das sind also die Mittel der
staatlichen Finanzierung. Das ist angesprochen worden.
Darauf sind besonders die Länder im Süden angewiesen,
die unter Fragilität, unter schwachen Strukturen, schwa-
cher Staatlichkeit leiden. Sie sind auf diese Unterstüt-
zung besonders angewiesen. Wenn wir dort etwas dazu
beitragen wollen, dass zum Beispiel die viel zitierten
Fluchtursachen bekämpft werden, dann müssen wir
langfristig – ich betone: langfristig – in den Staatsaufbau
investieren. Dafür brauchen wir die sogenannten ODA-
Mittel.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Fuchtel, ich muss Ihnen leider widersprechen;
ich tue es sehr ungern, aber ich muss es an dieser Stelle
tun. Der EU-Ministerrat der Entwicklungsminister vom
26. Mai hat beschlossen, die Frist zur Erreichung des
0,7-Prozent-Ziels zu verlängern bzw. sich für das Errei-
chen des 0,7-Prozent-Ziels einzusetzen. Aber man muss
den Satz zu Ende lesen. Dort steht: „innerhalb des zeitli-
chen Rahmens der Post-2015-Agenda“. Ich muss ehrlich
sagen: Mir als Entwicklungspolitikerin, aber auch vielen
anderen Kolleginnen und Kollegen im Haus – fraktions-
übergreifend – ist und kann das nicht genug sein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir befinden uns im Jahr 2015. Für das Jahr 2015
haben wir als Völkergemeinschaft versprochen, das
0,7-Prozent-Ziel zu erreichen. Wenn wir im selben Jahr
versprechen, dass wir es ganz sicher im Jahr 2030 errei-
chen, dann ist das kein glaubwürdiges Signal an die Län-
der des Südens.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich betone: Auch ich freue mich über den Mittelauf-
wuchs in Höhe von 8,3 Milliarden Euro bis zum Haus-
halt 2018. Das ist ein wichtiger Schritt, sei es im Bereich
der Entwicklungszusammenarbeit, in der humanitären
Hilfe, bei den Mitteln des Auswärtigen Amtes wie auch
in Fragen des Klimaschutzes. Die Zahl, die von den Kol-
leginnen und Kollegen genannt wurde, ist richtig. Wir
haben unsere Quote damit aber nicht erfüllt. Wir bewe-
gen uns ungefähr auf einem 0,4-Prozent-Pfad. Das ist zu
wenig. Wir sind gefordert, den Aufwuchspfad vorzustel-
len, mit dem wir in den nächsten Jahren das 0,7-Prozent-
Ziel erreichen wollen.





Dr. Bärbel Kofler


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich betone: Es geht nicht um das Sammeln von Geld
um des Sammelns oder der Erfüllung irgendwelcher
Quoten willen, die man irgendwann versprochen hat,
sondern es geht darum – gerade das hat Elmau auch
deutlich gemacht –, dass die Weltgemeinschaft, dass
viele Staaten, auch die Industriestaaten, erkannt haben,
vor welchen Problemen wir stehen. Wenn es um die
Frage und das Versprechen geht, 500 Millionen Men-
schen in den Entwicklungsländern von Hunger und
Mangelernährung zu befreien, dann brauchen wir dafür
Mittel. Wenn es um den versprochenen Präventionsfonds
geht, mit dem Arbeitnehmer, die unter unwürdigen Pro-
duktionsbedingungen leiden, geschützt werden sollen,
oder wenn es um eine praktische Unfallversicherung
geht, dann werden wir dafür Mittel brauchen.


(Stefan Rebmann [SPD]: Sehr richtig!)


Auch für die Gesundheitssysteme in den Ländern des
Südens – ihre Einführung wird im Ministerium oft ange-
mahnt – werden wir Mittel benötigen, wenn wir Epide-
mien wie Ebola in Zukunft verhindern wollen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Wir werden diese Mittel auch im Hinblick auf die in
Elmau gemachten Zusagen für den Klimaschutz brau-
chen. Denn selbstverständlich kann es nicht sein, dass
wir die Mittel für den Klimaschutz eins zu eins auf die
Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit übertragen.


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das planen Sie doch!)


– Herr Kekeritz, das planen wir nicht. Es gibt Mittel, die
man für beide Zwecke gut verwenden kann. Es gibt aber
auch eindeutige zusätzliche Aufgaben, die aufgrund der
veränderten Weltlage entstanden sind,


(Beifall der Abg. Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


und dafür brauchen wir zusätzliche Mittel.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die zweite Säule – sie ist angesprochen worden –
finde ich ebenso wichtig. Ich würde sie auch nicht mit
einem Nebensatz wegdiskutieren. Es muss selbstver-
ständlich – gemäß dem Prinzip der Universalität der
SDGs – um die Erhöhung von Steuereinnahmen in den
Ländern des Südens gehen. Es geht um die Frage, wie
man vernünftige Finanzverwaltungen und Steuerverwal-
tungen aufbauen kann, um auch die Reichen dieser Län-
der, die es sehr wohl gibt, ordentlich an der Finanzierung
ihrer Gemeinschaft zu beteiligen und die so gewonnenen
Mittel für die Armutsbekämpfung zu verwenden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Hierzu können und müssen wir einen Beitrag leisten. Es
geht um Kapazitätsaufbau, um Personal, aber auch um
die entsprechenden finanziellen Ressourcen, um Finanz-
verwaltungen, Rechnungshöfe und darum, Parlamente
stark zu machen, Transparenz zu schaffen. Es geht aber
auch – da weisen die Finger natürlich auf uns und unsere
Gesellschaft zurück – um das Schließen von Steuer-
schlupflöchern und um das Thema Steuervermeidung.

Wir haben gestern im Ausschuss eine Zahl gehört; das
ist nur eine Schätzung, aber wenn diese Schätzung nur
ungefähr der Wahrheit entspricht – ich habe mehrfach
nachgefragt –, dann ist das unglaublich und nicht mehr
zu tolerieren. Die UN gehen davon aus, dass den Ent-
wicklungsländern jährlich durch Steuervermeidung und
Steuerhinterziehung 500 Milliarden US-Dollar verloren
gehen. Was könnten wir mit diesem Geld bei der Ar-
mutsbekämpfung alles erreichen?


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Genauso wichtig ist es, in den nationalen Systemen
der Entwicklungsländer Steuereinnahmen zu generieren.
Erik Solheim, der Vorsitzende des Entwicklungsaus-
schusses der OECD sagte: Wenn es allen Entwicklungs-
ländern gelänge, ihre Steuereinnahmen um 1 Prozent zu
erhöhen, entspräche das einer Verdoppelung der welt-
weiten öffentlichen Entwicklungsfinanzierung. – Das ist
richtig. Dafür müssen wir uns gemeinsam einsetzen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben als Koalitionsfraktionen einen sehr guten
Antrag zur Entwicklungshilfefinanzierung vorgelegt. Ei-
nen kleinen Wermutstropfen gibt es allerdings; die Ent-
wicklungspolitiker der Unionsfraktion werden mir sicher
verzeihen, dass ich ihn anspreche. Ursprünglich standen
in unserem Antrag folgende Sätze: Die Bundesregierung
wirkt auf europäischer Ebene auf die Einführung einer
Finanztransaktionsteuer hin.


(Stefan Rebmann [SPD]: Jawohl!)


Dies begrüßen wir. Die Einführung ist auch für die wei-
tere Zukunft der Entwicklungsfinanzierung von Bedeu-
tung. – Leider haben die Finanzpolitiker der Union diese
wichtigen Sätze aus dem Antrag gestrichen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811226500

Vielen Dank, Dr. Bärbel Kofler. – Der letzte Redner

in der Debatte ist Uwe Kekeritz für Bündnis 90/Die Grü-
nen.


(Johannes Selle [CDU/CSU]: Hoffentlich muss ich keinen Zwischenruf machen! – Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


– Zwischenrufe sind erlaubt; mal schauen.






(A) (C)



(D)(B)



Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811226600

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Wir sind uns, glaube ich, alle einig darüber, dass die
Konferenz in Addis Abeba enormes Potenzial in sich
birgt, die Nachhaltigkeitsagenda auf ein neues Level zu
bringen. Wir sind uns aber auch einig, dass Addis Abeba
auch das Risiko birgt, ein Fehlschlag zu werden. Wir
wissen, was für eine negative Botschaft das an die Kon-
ferenz in New York, aber auch in Paris aussenden würde.
Deshalb ist es enorm wichtig, dass sich die Bundesregie-
rung in Addis Abeba als kraftvoller und glaubwürdiger
Vorreiter zeigt. Die Fraktionen sollten diese Position
durch klare Anträge untermauern.

Dann kam der Antrag von CDU/CSU und SPD, den
ich ganz anders einschätze als Bärbel Kofler. In diesem
Antrag lassen Sie sich stark vom Bericht des Experten-
ausschusses zur Finanzierung nachhaltiger Entwicklung
leiten. Dort haben Sie genau das gefunden, was Sie ge-
sucht haben. Der Bericht – so Ihr Credo – würde keine
einseitige Verantwortlichkeit definieren. Genau das
wirkt sich auf den gesamten Duktus Ihres Antrages aus.
Anstatt klar zu sagen, was diese Bundesregierung anbie-
ten müsste, um in Addis Abeba Erfolg zu haben, schie-
ben Sie das Thema „eigene Verantwortung“ weg und
führen in mehreren Punkten auf, was die Entwicklungs-
länder zu tun haben. So riskiert man von vornherein ei-
nen Misserfolg in Addis Abeba. Natürlich gibt es eine
gemeinsame Verantwortung; um aber erfolgreich ver-
handeln zu können, muss man selbst auch bereit sein,
klar zu sagen, was man liefern will.

Diesbezüglich ist der Antrag der Koalitionsfraktionen
leider eine Nullnummer. Sie sagen, die Konferenz in Ad-
dis Abeba sollte auf den Ergebnissen der Konferenz von
Monterrey aufbauen. Sie betonen zu Recht die Eigenver-
antwortung der Staaten und führen auch an, dass die in-
ternationale Gemeinschaft den Rahmen setzen muss;
aber konkreter werden Sie leider nicht. Das ist viel zu
dünn – wenn auch nicht falsch. Wo sind Ihre Forderun-
gen, die in Monterrey so herrlich und klar formuliert
wurden? Wie kann das internationale Finanzsystem im
Sinne einer gerechten Entwicklung verändert werden?
Was ist zur FTT zu sagen? Frau Bärbel Kofler hat ja
viele Punkte angesprochen, die völlig richtig sind; bloß,
es wäre hervorragend gewesen, wenn sie auch in dem
Antrag stünden.


(Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Da steht alles drin!)


Wie sind die Handelsbeziehungen zu ändern? Wie
wird mit extremen Handelsüberschüssen umgegangen?
Wie kann eine eigenständige Entwicklung erreicht wer-
den? Wo erklären Sie denn in Ihrem Antrag, wie Sie mit
Überschuldung umgehen? Welche Verantwortung müs-
sen Konzerne haben? Wie lösen Sie das Lieferket-
tenthema?


(Stefan Rebmann [SPD]: Da steht viel drin!)


Welche innovativen Finanzierungsformen nennen Sie?
Herr Kollege, Sie hätten Ihren Antrag mal lesen sollen.
Das steht alles nicht drin. Wo weisen Sie darauf hin, dass
Entwicklung, also FfD, mit den Nachhaltigkeits- und

Klimazielen zusammengedacht werden muss, aber trotz-
dem jeder Bereich eigenständig ist?


(Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Zu all diesen Themen haben wir Anträge vorgelegt!)


Wo nennen Sie einen konkreten Beitrag, und wo definie-
ren Sie einen vernünftigen Zeitraum? Ich sagte schon:
Der Antrag bringt das alles nicht.

In Ihrem Antrag nennen Sie an drei Stellen die mys-
tische Zahl von 0,7 Prozent – aber nur, um ihr auszu-
weichen. Sie erklären, was die Expertentruppe von
0,7 Prozent hält. Dann stellen Sie fest, dass sich die Ent-
wicklungsländer in Addis Abeba vermutlich sehr stark
auf die 0,7 Prozent beziehen werden. Im Punkt zwei Ih-
rer Forderungen arbeiten Sie mit einem semantischen
Trick, sodass der Punkt zwei einfach inhaltsleer und
sinnlos ist. 0,7 Prozent wollen Sie erreichen, Herr
Fuchtel – das ist schön –; so lautete auch die Antwort,
die ich von der Frau Staatssekretärin Schwarzelühr-
Sutter erhalten habe. Sie hat in der letzten Fragestunde
ausgeführt, dass 0,7 Prozent erreichbar sind, aber nur da-
durch, dass die Klimaschutzmittel – du hast es schön kri-
tisiert, Bärbel – mit den FfD-Mitteln zusammengelegt
werden; die Probleme hat sie hervorragend dargestellt.

Diese Methode führt aber dazu, dass die ODA-Mittel
in Zukunft nur noch begrenzt ausgegeben werden kön-
nen für Armutsbekämpfung, Gemeinwohlökonomie, in-
klusives Wachstum, soziale Gerechtigkeit, Strukturauf-
bau, Gesundheitsentwicklung, Good Governance, Hilfe
für die Ärmsten und noch mehr und noch mehr. Letztlich
wird dafür weniger zur Verfügung stehen; denn Sie pla-
nen ja, auch die Public-private-Partnerships massiv mit
ODA-Mitteln zu fördern. Es bleibt im Prinzip nur noch
zu hoffen, dass die deutsche Regierung in Addis Abeba
bei den Verhandlungen wesentlich sensibler vorgeht, als
es Ihr Antrag vermuten lässt.

Herr Fuchtel, Sie haben mich mit Ihrem Beitrag jetzt
nicht ganz überzeugt; aber Sie haben ja noch drei Wo-
chen Zeit.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811226700

Vielen Dank, Herr Kollege Kekeritz. – Ich schließe

die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache
18/5093 mit dem Titel „Entwicklungsfinanzierung vor
dem Hintergrund universeller Nachhaltigkeitsziele“.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Der Antrag ist angenommen bei Zu-
stimmung von CDU/CSU und SPD und Gegenstimmen
von Bündnis 90/Die Grünen und den Linken.

Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/5151 mit dem
Titel „Addis Abeba zum Erfolg führen – Einsatz für eine
gerechte internationale Entwicklungs- und Klimafinan-
zierung“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt





Vizepräsidentin Claudia Roth


(A) (C)



(D)(B)


dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist abgelehnt bei
Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünen und Linken,
Gegenstimmen von CDU/CSU und SPD.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Axel
Troost, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Solidaritätszuschlag für gleichwertige Le-
bensverhältnisse in ganz Deutschland verwen-
den

Drucksache 18/5221
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Haushaltsausschuss

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) – Sie
sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/5221 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind einver-
standen. Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von den Ab-
geordneten Arnold Vaatz, Erika Steinbach,
Elisabeth Winkelmeier-Becker, weiteren Ab-
geordneten und der Fraktion der CDU/CSU
sowie den Abgeordneten Dr. Rolf Mützenich,
Frank Schwabe, Dr. Johannes Fechner, wei-
teren Abgeordneten und der Fraktion der
SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Rechtsstellung und Aufgaben des
Deutschen Instituts für Menschenrechte

(DIMRG)


Drucksache 18/4421

– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes über die Rechtsstellung und Auf-
gaben des Deutschen Instituts für Men-
schenrechte (DIMRG)


Drucksache 18/4893

– Zweite und dritte Beratung des von den Ab-
geordneten Annette Groth, Inge Höger,
Wolfgang Gehrcke, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion DIE LINKE sowie den Ab-
geordneten Tom Koenigs, Annalena Baerbock,
Marieluise Beck (Bremen), weiteren Abge-
ordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes über die Rechtsstellung und Auf-
gaben des Deutschen Instituts für Men-
schenrechte (DIMRG)


Drucksache 18/4798

– Zweite und dritte Beratung des von den Ab-
geordneten Tom Koenigs, Annalena Baerbock,
Marieluise Beck (Bremen), weiteren Abge-
ordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes über die Rechtsstellung und Auf-
gaben des Deutschen Instituts für Men-
schenrechte (DIMRG)


Drucksache 18/4089

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Menschenrechte und Humani-
täre Hilfe (17. Ausschuss)


Drucksache 18/5198

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem An-
trag der Abgeordneten Tom Koenigs, Annalena
Baerbock, Marieluise Beck (Bremen), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Menschenrechtsförderung stärken – Gesetzli-
che Grundlage für Deutsches Institut für
Menschenrechte schaffen

Drucksachen 18/2618, 18/5198

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Auch dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.

Ich eröffne die Aussprache mit Dr. Karamba Diaby
für die SPD.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Karamba Diaby (SPD):
Rede ID: ID1811226800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Endlich brin-
gen wir das Gesetz über das Deutsche Institut für Men-
schenrechte auf den Weg. Ich danke Bundesjustizminis-
ter Heiko Maas für sein Engagement in dieser Frage.
Bereits im Oktober 2014 hatte er einen Gesetzentwurf
vorgelegt. Aus SPD-Sicht hätte das Institut damit wie
bisher weiterarbeiten können; aber die Union bescherte
uns eine Zitterpartie. Erst nach zähen Verhandlungen ist
es uns endlich gelungen, ganz im Sinne der Pariser Prin-
zipien das Deutsche Institut für Menschenrechte auf ge-
setzlicher Grundlage abzusichern.


(Beifall bei der SPD)


Damit erhalten wir die Unabhängigkeit des Instituts und
seinen A-Status.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist aber kein SPD-Projekt!)


Das ist gut für Deutschland, meine Damen und Herren.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Deutsche Insti-
tut für Menschenrechte ist ein Glücksfall für unsere De-
mokratie.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU Dr. Karamba Diaby Es leistet unabhängige Arbeit, die sich vor allem kritisch mit der Lage der Menschenrechte in unserem Land auseinandersetzt. Hierfür möchte ich zwei Beispiele aufgreifen. Das erste Beispiel betrifft den Begriff „Rasse“ in deutschen Gesetzestexten. Im Jahr 2010 hat das Deutsche Institut für Menschenrechte ein Gutachten veröffentlicht. Darin wird der Gesetzgeber aufgefordert, in deutschen Rechtstexten auf den Begriff „Rasse“ zugunsten einer Formulierung zu verzichten, die das Verbot rassistischer Benachteiligung abdeckt. Erlauben Sie mir, aus diesem Gutachten zu zitieren: Der Gebrauch des Begriffs „Rasse“ im Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes kann rassistisches Denken fördern, da er suggeriert, dass es unterschiedliche menschliche „Rassen“ gebe. Solange er in Bezug auf Menschen verwendet wird, löst er Irritation und Sprachlosigkeit aus, bis hin zu persönlichen Verletzungen. Dabei ist seine Verwendung keinesfalls notwendig. Daher empfiehlt das Institut – ich zitiere weiter – eine Abkehr von diesem Begriff zu vollziehen und stattdessen ein Verbot rassistischer Benachteiligung oder Bevorzugung aufzunehmen. Damit würde dem Schutzzweck der Norm, dem Schutz vor rassistischen Diskriminierungen und der Bekämpfung von Rassismus, zu voller Wirkung verholfen. Wem das nicht einleuchtet, der soll mir bitte die Frage beantworten, welcher Rasse er denn angehört. Diese Frage muss beantwortet werden. An diesem Beispiel können wir die Aufgabe des Instituts ablesen, nämlich wissenschaftliche Forschung, Politikberatung, Bildungsarbeit und Information der Öffentlichkeit über die Lage der Menschenrechte in unserem Land. Erlauben Sie mir, zum zweiten Beispiel zu kommen, dem Thema Racial Profiling. Im Jahre 2013 veröffentlichte das Institut eine Studie mit dem Titel „‚Racial Profiling‘ – Menschenrechtswidrige Personenkontrollen nach § 22 Abs. 1 a Bundespolizeigesetz“. Die Studie enthält Empfehlungen an den Gesetzgeber, Gerichte und Polizei. Meine persönliche Erfahrung mit Racial Profiling ist, von der Arbeit nach Hause zu fahren und als Einziger kontrolliert zu werden. Am 12. März 2014 um 19 Uhr fuhr ich nach der Arbeit von Magdeburg nach Halle und wurde als Einziger von mehreren Hundert Pendlerinnen und Pendlern beim Verlassen des Bahnhofs kontrolliert. Dem Beamten reichte weder mein biometrischer deutscher Personalausweis noch mein Stadtratsausweis. Nur weil ich das Glück hatte, einen Dienstausweis des Sozialministeriums des Landes Sachsen-Anhalt zu haben, durfte ich weiterlaufen. Das ist meine Erfahrung mit Racial Profiling. Meine dunkle Hautfarbe und meine Augenfarbe, kurzum mein nicht weißes Aussehen, wurden als Kriterium für eine anlasslose Personenkontrolle herangezogen. In einem vielfältigen Land wie Deutschland mit einer solch langen Einwanderungsgeschichte soll man am Aussehen die deutsche Staatsbürgerschaft ablesen können? Wer das kann, sollte unter die Hellseher gehen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])





(A) (C)


(D)(B)


(Beifall bei der SPD)


Ich habe mich in der Bundespolizei umgehört: Es gibt
Beamte, die sagen, es gebe kein Racial Profiling, und es
gibt jene, die argumentieren, dass das Aussehen gemäß
§ 22 Absatz 1 a Bundespolizeigesetz als Verdachtsmo-
ment herangezogen werden darf. Hört man sich bei der
Union zu diesem Thema um, erfährt man, dass allein die
Thematisierung angeblich ein Generalverdacht gegen
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte ist. Das ist absurd,
meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Umso bedeutender ist das Gutachten des Deutschen
Instituts für Menschenrechte, das uns, den Gesetzgeber,
auffordert, zu handeln. Der Wissenschaftliche Dienst des
Bundestages geht in einer Ausarbeitung davon aus, dass
Racial Profiling durch geltendes Recht verboten ist; Ra-
cial Profiling ist ein Ermessensfehler. Zu diesem Ergeb-
nis kommt der Wissenschaftliche Dienst in diesem
Hause.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie der Abg. Dr. Bärbel Kofler [SPD])


Das unabhängige Gutachten des Deutschen Instituts
für Menschenrechte geht weiter und empfiehlt unter an-
derem, § 22 Absatz 1 a Bundespolizeigesetz zu strei-
chen, denn:

Die Regelung ist grund- und menschenrechtlich
nicht haltbar. Sie verstößt gegen Art. 3 Abs. 3 GG
und das Recht auf informationelle Selbstbestim-
mung …


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich komme langsam zum Ende. Frau Präsidentin hat
schon angezeigt, dass ich aufhören soll. – Kein Zweifel:
Racial Profiling ist illegal und diskriminierend. Daher
kann niemand die Position einnehmen, es wäre derzeit
zulässig.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Wer tut das denn?)


Meine Damen und Herren, ich sagte es zu Beginn:
Das Deutsche Institut für Menschenrechte ist ein
Glücksfall für unsere Demokratie. Ich freue mich also
weiterhin über seine unabhängigen und kritischen Ana-
lysen und Empfehlungen und darüber, dass wir mit ihm
zusammenarbeiten können.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811226900

Vielen herzlichen Dank, Herr Kollege. – Nächste

Rednerin in der Debatte: Annette Groth für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Annette Groth (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1811227000

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren auf

der Tribüne! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir ha-
ben es gerade gehört: Es hat ein Jahr intensivster Dis-
kussion gebraucht, und jetzt endlich stellen wir das
Deutsche Institut für Menschenrechte auf gesetzliche
Grundlage.

Es ist schon kurios und Außenstehenden schon gar
nicht zu vermitteln, dass sich alle Fraktionen einig sind,
es aber trotzdem vier gleichlautende Gesetzentwürfe
gibt. Wenn ich mich recht erinnere, war es die CDU/
CSU-Fraktion, die die Linke absolut nicht auf dem Ge-
setzentwurf haben wollte. Das ist sehr schwer verständ-
lich und in meinen Augen auch absurd. Na ja!


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Das Menschenrechtsinstitut ist wichtig – das haben
wir schon von Karamba Diaby gehört –, weil es immer
wieder auf Menschenrechtsverletzungen in Deutschland
und in Europa hinweist.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie der Abg. Frank Schwabe [SPD] und Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Beispiel eins. Das DIMR, das Deutsche Institut für
Menschenrechte, kritisiert deutlich die Speicherung von
Telekommunikationsverkehrsdaten. Es bezeichnete sie
als besonders schweren Eingriff in das Menschenrecht
auf Privatsphäre – Zitat –:

Selbst eine begrenzte Speicherdauer von nur vier
Wochen ermöglicht im digitalen Zeitalter die Er-
stellung aussagekräftiger individueller Persönlich-
keits- und Bewegungsprofile und die Aufdeckung
gruppenbezogener Einflussstrukturen und Entschei-
dungsabläufe.

Die Bundesregierung sollte hier auf den menschenrecht-
lichen Sachverstand hören und die Pläne zur Vorrats-
datenspeicherung endlich in die Tonne treten.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Beispiel zwei. Zu den Vorwürfen der Misshandlung von
Flüchtlingen durch die Bundespolizei in Hannover spricht
das DIMR ebenso eine klare Sprache und – Zitat –:

empfiehlt, eine unabhängige Kommission oder ei-
nen Untersuchungsausschuss des Bundestages zur
Aufklärung der Misshandlungen oder sogar Folte-
rungen einzusetzen. Dieses Gremium sollte vor
allem die strukturellen Ursachen analysieren, die
dazu geführt haben, dass es offensichtlich über
einen längeren Zeitraum wiederholt zu schwerwie-
genden, rassistisch motivierten Misshandlungen
kommen konnte, die zudem folgenlos geblieben
sind.

Beispiel drei. Wiederholt hat sich das DIMR mit der
menschenrechtlichen Situation bei der Pflege älterer
Menschen befasst und hier einen „großen Verbesse-
rungsbedarf“ festgestellt. Dass DIMR weist darauf hin,
dass „UN-Menschenrechtsgremien … wiederholt struk-
turelle Mängel in der Pflege angemahnt“ haben. Das ist
doch eine richtige Ohrfeige für die Verantwortlichen bei
uns; immerhin sind wir eines der reichsten Länder der
Welt. Wir können froh sein, ein Institut zu haben, das
solche Wahrheiten ausspricht.


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist höchste Zeit für eine absolute Verbesserung in den
Pflege- und Seniorenheimen. Dies sollte im Übrigen
auch in unserem eigenen Interesse sein; denn auch Sie,
verehrte Kolleginnen und Kollegen, könnten eines Tages
in einem solchen Heim leben.


(Heiterkeit und Beifall der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])


Mein letztes Beispiel hat mein Vorredner schon er-
wähnt. Es geht um das Racial Profiling. In der Tat sind
wir diesbezüglich wiederholt vom UN-Menschenrechts-
rat kritisiert worden. Er hat immer auf Abschaffung
gedrängt. Bislang ist da nur wenig passiert. Das DIMR
fordert, dass die Bekämpfung von Rassismus zu einem
wichtigen Politikfeld in Deutschland wird. In diesem
Zusammenhang nennt das Institut die „rassistische
Diskriminierung“ in der „Praxis der Bundespolizei, bei
Kontrollen in Zügen Personen nach äußerlichen Merk-
malen wie Hautfarbe auszuwählen“. Das haben wir ge-
rade gehört.

Wir alle müssen jetzt dafür sorgen, dass das Institut
für Menschenrechte seine Arbeit in Zukunft ebenso
gründlich und unabhängig fortsetzen kann wie bisher.
Regierung und Parlament – und damit wir alle – sollten
die Empfehlungen unseres Menschenrechtsinstituts viel
stärker als bisher aufgreifen und umsetzen.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Frank Schwabe [SPD])



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811227100

Vielen Dank, Frau Kollegin Groth. – Nächste Redne-

rin in der Debatte: Erika Steinbach für die CDU/CSU-
Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Frank Schwabe [SPD])



Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1811227200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Was lange währt, wird doch endlich gut.


(Beifall des Abg. Frank Schwabe [SPD])


Das war keine leichte Geburt, aber sie ist gelungen. Wir
haben auch die Bundesregierung davon überzeugt, dass
es gut ist, ein bisschen auf das Parlament zu hören. Die
Bundesregierung hat einen guten Gesetzentwurf vorge-





Erika Steinbach


(A) (C)



(D)(B)


legt. Er ist identisch mit dem Gesetzentwurf der Koali-
tionsfraktionen. Das ist eine gute Sache.

Mit diesem Gesetzentwurf erhält das Deutsche Insti-
tut für Menschenrechte eine stabile Grundlage für seine
zukünftige Arbeit. Diese Grundlage entspricht voll und
ganz den Pariser Prinzipien. Diese Prinzipien dienten
uns bei der Erarbeitung des Gesetzentwurfs als Orientie-
rung für das Mandat, für die Regelung von Zuständigkeit
und Aufgaben sowie für die Zusammensetzung der Gre-
mien. Das war bei dem Institut bisher so nicht geregelt.

In all diesen Punkten ist der Gesetzentwurf so gestal-
tet, dass der Erhalt des A-Status absolut gesichert ist.
Das ist eine gute Sache für das Institut.

Wir schreiben ausdrücklich fest, dass das Deutsche
Institut für Menschenrechte die unabhängige nationale
Institution der Bundesrepublik Deutschland zur Informa-
tion der Öffentlichkeit über die Lage der Menschen-
rechte im In- und im Ausland ist, solange es die ihm
gestellten Aufgaben auch gemäß den Pariser Prinzipien
erfüllt.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir haben
einen so guten Gesetzentwurf gemacht, dass die Fraktion
der Grünen und die Fraktion der Linken gemeinschaft-
lich einen eigenen Gesetzentwurf gemacht haben, der
Wort für Wort, Satz für Satz, Komma für Komma, Punkt
für Punkt von unserem Gesetzentwurf abgeschrieben
worden ist.


(Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum wohl? Da war doch was, Frau Steinbach! Können Sie sich erinnern?)


Meine lieben Kolleginnen und Kollegen aus den Opposi-
tionsfraktionen, da schon in der Schule Abschreiben nie-
mals belohnt wurde, müssen Sie unserem Gesetzentwurf
zustimmen und Ihren eigenen Gesetzentwurf doch wie-
der zur Seite legen. Ich freue mich, wenn Sie zustimmen.


(Dr. Karamba Diaby [SPD]: Ich bitte darum! – Michael Brand [CDU/CSU]: Jetzt nicht die Mehrheit gefährden!)


Damit tun Sie dem DIMR einen guten Dienst. Sie dürfen
gerne mit uns stimmen, aber Ihren Gesetzentwurf über-
nehmen wir nicht.

Einen schönen Abend noch.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Frank Schwabe [SPD] – Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Passen Sie auf! Gleich kommt der Koenigs!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811227300

Danke, Frau Steinbach. – Nächster Redner in der De-

batte: Tom Koenigs für Bündnis 90/Die Grünen.


Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811227400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wir haben eine gesetzliche Grundlage des Deut-
schen Instituts für Menschenrechte als unabhängiges
Institut, das den A-Status behält und verdient. Alhamdu-
lillah!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Michael Brand [CDU/CSU]: Inschallah!)


Woran hat es eigentlich gefehlt? Wer hat eigentlich et-
was dagegen gehabt? Wir beantragen das seit vielen Jah-
ren. In den Einzelheiten sind wir uns immer völlig einig
gewesen,


(Michael Brand [CDU/CSU]: Stimmt!)


aber es ging nicht. Ein steiniger Weg, hätte Herr Fuchtel
gesagt;


(Heiterkeit der Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


leider ist er nicht mehr da.

Wir alle sind dafür, dass dieses Institut so weiterarbei-
tet, wie es bisher gearbeitet hat: segensreich, initiativ,
unbequem, mal für die einen, mal für die anderen. So
wird es auch bleiben. Das ist gut. Das Institut hatte sich
auf einen gemeinsamen Gesetzentwurf und einen ein-
stimmigen Beschluss gestützt. Wir hätten es zusammen
mit der Linken sehr viel besser gefunden, einen gemein-
samen Gesetzentwurf einstimmig zu verabschieden. Das
wollte die CDU/CSU nicht, unter keinen Umständen
– keinen einstimmigen Beschluss, keinen gemeinsamen
Gesetzentwurf –, obwohl das die Garantie für gemein-
same aktive Zusammenarbeit an der Unabhängigkeit
dieses Institutes und mit dem unabhängigen Institut ge-
wesen wäre.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])


Das ist nicht nur passiv: „Ja, ja, wir sagen, die haben
recht“, sondern aktiv: Wir machen mit. Das ist der Un-
terschied zwischen einem gemeinsamen Gesetzentwurf
und einem Antrag von irgendjemanden, dem andere zu-
stimmen.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Irgendjemand?)


Das wollten Sie ganz explizit nicht. Wir haben das im-
mer wieder angeboten.

Wir haben jetzt natürlich mit Verfahrensmitteln ver-
sucht, Gemeinsamkeit bei der Antragstellung herzustel-
len. Das gelingt leider nach der Geschäftsordnung nicht,
sodass jetzt ein Gesetzentwurf vorliegt, den die CDU/
CSU von der Regierung abgeschrieben hat und dem wir
alle zustimmen werden.

Prima, dass wir alle zustimmen. Aber was hindert Sie
eigentlich? Sie werden die Linken nicht mehr los.


(Heiterkeit bei der LINKEN)


Was hindert Sie, einmal einen Antrag oder Gesetzent-
wurf gemeinsam mit den Linken zu machen?


(Beifall der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ist das eigentlich der demokratische Umgang? Es würde
dieses Haus zieren, wenn wir mehr gemeinsame Resolu-
tionen und Anträge hätten.





Tom Koenigs


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es würde den Menschenrechtsausschuss zieren, wenn
wir mehr gemeinsame Anträge und Resolutionen hätten.
Dass das nicht geschieht, liegt an Ihnen, weil Sie am
Schluss sagen wollen: Wir haben keinen Antrag mit den
Linken gemacht. – Das ist Unfug. Das ist auch kein de-
mokratisches Vorgehen.

Sie werden sich daran gewöhnen müssen, dass die
Linke im Parlament ist. In Brandenburg haben Sie ja
schon gelernt, ich hoffe, dass Sie irgendwann auch in
diesem Hause lernen, dass Demokratie die Gemeinsam-
keit in der Aktivität, im Finden von Kompromissen und
letzten Endes auch im Einbringen von gemeinsamen Re-
solutionen und Anträgen ist.

Noch ein Letztes. Wir alle wollen auch weiterhin an
diesem Institut und mit diesem Institut arbeiten, und
zwar in den Gremien. Bitte sorgen Sie mit Ihrer 80-pro-
zentigen Mehrheit dafür, dass in den Gremien alle politi-
schen Strömungen so vertreten sind – einschließlich der
Linken, mit der Sie ja nie etwas zusammen machen wol-
len, Frau Steinbach; oder telefonieren Sie gerade mit
Herrn Gysi? –,


(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Brand [CDU/CSU]: Die sind ja schon da!)


dass wir gemeinsam dieses Institut tragen und mit dem
Institut aktiv für die Menschenrechte eintreten.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Michael Brand [CDU/CSU]: Wenn es keine größeren Sorgen gibt, dann ist es ja gut!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811227500

Vielen Dank, Tom Koenigs. – Und der letzte Redner

in dieser Debatte: Dr. Bernd Fabritius für die CDU/CSU-
Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Dr. h.c. Bernd Fabritius (CSU):
Rede ID: ID1811227600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Gäste, besonders aus der Landeshaupt-
stadt München! Bereits Ende Februar dieses Jahres habe
ich an dieser Stelle deutlich gemacht, dass wir das Deut-
sche Institut für Menschenrechte genau den Pariser Prin-
zipien entsprechend aufstellen und mit einer stabilen
Grundlage versehen wollen. So hatten wir es bereits im
Koalitionsvertrag vereinbart, und unter genau diesen
Vorzeichen verliefen auch die Gespräche innerhalb der
Koalition. Ich habe damals auch darauf hingewiesen,
dass bei einem solchen Vorhaben selbstverständlich
Gründlichkeit vor Schnelligkeit gehen muss. Es freut
mich, dass wir heute einen Gesetzentwurf zur Abstim-
mung stellen können, der genau das erfüllt. Unser Gesetz
stärkt die Arbeit des Deutschen Instituts für Menschen-

rechte entsprechend den Pariser Prinzipien und schreibt
seine Unabhängigkeit fest.

Lieber Herr Kollege Diaby, die Art und Weise, wie
Sie heute Abend in Ihrer Rede Racial Profiling derart de-
zidiert angesprochen haben, halte ich für eine ungerechte
Unterstellung gegenüber der Polizei in der Bundesrepu-
blik Deutschland.


(Frank Schwabe [SPD]: Er hat doch gesagt, dass die das nicht macht! Das sollten Sie im Protokoll nachlesen, Herr Kollege! – Dr. Karamba Diaby [SPD]: Das habe ich nicht gesagt! Nehmen Sie das sofort zurück!)


Das ist ein Kollektivverdacht, den Sie heute formuliert
haben.


(Dr. Karamba Diaby [SPD]: Ich wiederhole noch einmal: Ich habe das nicht gesagt!)


Ich weiß aus meiner eigenen Tätigkeit als Strafverteidi-
ger, dass die Polizei mit anlassbezogenen Fahndungsras-
tern arbeitet. Können Sie ausschließen, dass bei dem
Vorfall, den Sie geschildert haben, ein solcher konkreter
Fahndungsverdacht bestand?


(Dr. Karamba Diaby [SPD]: Ja, ich bin ein Verbrecher! Danke schön! – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Schönrederei!)


Die von Ihnen, Herr Kollege Koenigs, im Verfahren
unermüdlich vorgetragene Zeitnot hat sich ja zum Glück
auch in Luft aufgelöst, nachdem unser Institut uns un-
mittelbar nach der Einigung über den Gesetzentwurf
postwendend mitgeteilt hat, Eile bestehe gerade nicht,
weil das ICC seine Entscheidung zur Re-Akkreditierung
des Instituts erwartungsgemäß erst im Herbst dieses Jah-
res, also nach der Sommerpause, treffen wird. Ich finde
das bedauerlich.

Ungeachtet seiner aus menschenrechtlicher Sicht
doch eher begrenzten Aussagekraft war es uns selbstver-
ständlich ein Anliegen, den A-Status des Institutes zu
erhalten. Wenn auch entsprechende Einrichtungen bei-
spielsweise in Aserbaidschan, in Russland, in Uganda
den A-Status zugesprochen bekommen, kann dessen
ideeller Mehrwert zwar nicht so groß sein, wie teilweise
mit viel emotionaler Entrüstung ob der behaupteten Ge-
fährdung vorgetragen wurde.

Es war uns allerdings wichtig, dass unser Institut
seine Arbeit weiterhin im Menschenrechtsrat der Verein-
ten Nationen zur Geltung bringen kann und den vollen
Entscheidungsspielraum behält. Dafür fordern die Pari-
ser Prinzipien nicht nur eine stabile gesetzliche Grund-
lage, sondern auch die Garantie einer pluralistischen
Vertretung relevanter gesellschaftlicher Kräfte in den
Gremien des Menschenrechtsinstituts. Dies war lange
Zeit in der Opposition umstritten und ein Schwachpunkt,
der vom Unterausschuss für Akkreditierung des ICC in
seinem Bericht vom Herbst 2008 deutlich gerügt worden
ist. Unser Gesetzentwurf trägt dem nun Rechnung und
stellt sicher, dass sich die gesamte Bandbreite der Ge-
sellschaft in den Gremien des Instituts widerspiegeln
kann.





Dr. Bernd Fabritius


(A) (C)



(D)(B)


Neben der Sicherstellung der Unabhängigkeit des
Deutschen Instituts für Menschenrechte haben wir eine
einheitliche Finanzierung der Einrichtung aus dem
Haushalt des Deutschen Bundestages geschaffen. Die
zuvor unübersichtliche Ausstattung des Instituts aus den
Haushalten vier verschiedener Ministerien wurde zu-
sammengeführt und transparent gestaltet.

Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen,
der uns bei diesem Vorhaben besonders wichtig war. Es
ist die Multiperspektivität, der Blick auf die Menschen-
rechtssituation anderer Länder. Die nationalen
Menschenrechtsinstitute sind vornehmlich geschaffen
worden, um die Lage im eigenen Land eingehend zu be-
leuchten. Das ist auch richtig so. Aber selbstverständlich
darf dabei der Blick in andere Länder nicht vollständig
ausgeblendet werden. Ich möchte nur drei Beispiele nen-
nen:

Man stelle sich vor, wir diskutieren über die Etablie-
rung von nicht nur ökologisch, sondern auch ethisch ein-
wandfreien Lieferketten quer über den Globus – ohne
dabei die Menschenrechtssituation in den jeweiligen
Ländern zu berücksichtigen.

Und wie sollen wir bei so relevanten Aufgaben wie
der Bekämpfung des Asylmissbrauchs Entscheidungen
etwa darüber treffen, ob die Rückführung abgelehnter
Bewerber in bestimmte Staaten möglich ist, wenn wir
gegenüber der dortigen Menschenrechtssituation blind
bleiben?

Wie sollen wir Entwicklungspolitik in fernen Regio-
nen menschenrechtsfördernd gestalten, ohne uns auf die
Expertise unseres Institutes verlassen zu können?

Dafür, meine Damen und Herren, wollen wir ein
Menschenrechtsinstitut mit einem weiten Blick auch
über den eigenen Tellerrand hinaus, und genau das ver-
wirklichen wir mit dem Gesetz.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich freue mich sehr, dass wir all das erreicht haben
und das Deutsche Institut für Menschenrechte mit unse-
rer heutigen Entscheidung gemäß den Pariser Prinzipien
auf eine stabile gesetzliche Grundlage stellen. Ich gehe
daher auch fest davon aus, dass der Unterausschuss für
Akkreditierung des ICC auf seiner Sitzung im kommen-
den Herbst das Institut mit dem A-Status reakkreditieren
wird.

Ich wünsche unserem Institut alles Gute und bin auf
den Output, den wir mit diesem Gesetz nun ermöglichen,
richtig gespannt.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811227700

Das Wort zu einer Kurzintervention hat Herr

Dr. Diaby.


Dr. Karamba Diaby (SPD):
Rede ID: ID1811227800

Herr Fabritius, Sie haben mich falsch zitiert und ge-

sagt, ich hätte den deutschen Beamtinnen und Beamten

unterstellt, sie seien rassistisch. Dem möchte ich hier wi-
dersprechen.

Ich habe als Trainer für interkulturelle Kompetenz in
Sachsen-Anhalt und bundesweit sehr viele Erfahrungen
mit Beamtinnen und Beamten gemacht und weiß ganz
genau, dass sich die Beamtinnen und Beamten bemühen,
diese Kompetenz durch viele entsprechende Elemente in
der Aus- und Fortbildung zu erreichen.

Die Erfahrung, die ich bei dem, was ich erlebt habe,
gemacht habe, betrachte ich als rassistisch; dabei bleibe
ich. Ich wiederhole aber noch einmal: Ich bedanke mich
bei den deutschen Beamtinnen und Beamten für ihre Tä-
tigkeit, weil sie eine hervorragende Arbeit leisten.

Eine Gesetzesänderung ist unsere Aufgabe hier im
Hause. Wir können Gesetze ändern. Mein Aufruf geht
deshalb an uns und nicht an die deutschen Beamtinnen
und Beamten.

Es war mir wichtig, diese Erklärung abzugeben.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Dr. h.c. Bernd Fabritius (CSU):
Rede ID: ID1811227900

Lieber Herr Kollege Diaby, ich habe Ihnen – weil ich

Sie kenne und schätze – nicht unterstellt, dass Sie den
Polizisten unterstellt hätten, sie wären rassistisch, son-
dern ich habe festgestellt, dass Sie durch den Vorwurf ei-
nes Racial Profiling den Spezialisten, die das machen
sollen, unterstellen, sie würden unprofessionell arbeiten,
und habe nur betont, dass meiner beruflichen Kenntnis
nach diese Spezialisten nach wissenschaftlich ausgear-
beiteten Fahndungskriterien arbeiten.


(Frank Schwabe [SPD]: Herr Fabritius, entschuldigen Sie! Da müssen Sie aber Ihren eigenen Text nachlesen!)


Ich habe Sie wörtlich gefragt, ob Sie ausschließen
können – das können Sie auch im Protokoll nachlesen –,
dass in dem ganzen konkreten Fall bei der Kontrolle ein
entsprechender Fahndungsanlass vorgelegen hat –
selbstverständlich nicht in Bezug auf Sie, sondern viel-
leicht in einem anderen Fall.

Danke.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1811228000

Ich schließe diese Aussprache.

Weil ich ihn gerade sehe und bei runden Geburtstagen
immer gratuliert wird, gratuliere ich Omid Nouripour zu
seinem


(Michael Brand [CDU/CSU]: 60.!)


– er wäre gerne 50.; er ist gerade mal 40 geworden –
40. Geburtstag.


(Beifall)


Wir kommen zur Abstimmung über die von den Frak-
tionen der CDU/CSU und SPD sowie der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwürfe eines Gesetzes über die





Vizepräsidentin Claudia Roth


(A) (C)



(D)(B)


Rechtsstellung und Aufgaben des Deutschen Instituts für
Menschenrechte.

Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 18/5198, die Gesetzentwürfe
der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksa-
che 18/4421 sowie von der Bundesregierung auf Druck-
sache 18/4893 zusammenzuführen und in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zwei-
ter Beratung bei Zustimmung von allen Fraktionen ange-
nommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist einstimmig angenommen.


(Beifall im ganzen Hause)


Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen
Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen über die Rechts-
stellung und Aufgaben des Deutschen Instituts für Men-
schenrechte.

Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 18/5198, den Gesetzentwurf der
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/4798 abzulehnen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. –


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das ist albern! Echt eine Lachnummer!)


Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das ist die absolute Lachnummer! Ihr lehnt euren eigenen Gesetzentwurf ab!)


Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt bei
Zustimmung zu der Empfehlung von CDU/CSU und
SPD und bei Ablehnung der Empfehlung durch Bünd-
nis 90/Die Grünen und die Linken. Damit entfällt nach
unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.

Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu
dem Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
über die Rechtsstellung und Aufgaben des Deutschen In-
stituts für Menschenrechte.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/5198, den Ge-
setzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/4089 für erledigt zu erklären. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Ent-
haltungen? –


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Jetzt habt ihr mit uns gestimmt! Ist euch das aufgefallen? Das sage ich Kauder!)


Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung aller
Fraktionen im Hause angenommen.

Tagesordnungspunkt 19 b. Wir setzen die Abstim-
mung zu den Beschlussempfehlungen des Ausschusses
für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf Drucksa-
che 18/5198 fort.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe d seiner
Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/2618 mit dem Ti-
tel „Menschenrechtsförderung stärken – Gesetzliche
Grundlage für Deutsches Institut für Menschenrechte
schaffen“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen.

Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es
geht aber noch weiter.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Jutta Krellmann, Norbert Müller (Potsdam),
Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE

Aufwertung der Sozial- und Erziehungs-
dienste jetzt

Drucksachen 18/4418, 18/5149

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) –
Ich sehe, Sie sind einverstanden.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 18/5149, den Antrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 18/4418 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD gegen
die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Lin-
ken angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:

Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD

Internationalen Jugend- und Schüleraus-
tausch als Fundament in der Auswärtigen
Kultur- und Bildungspolitik verankern

Drucksache 18/5215

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.2) –
Auch damit sind Sie einverstanden.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache
18/5215. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist bei Zu-

1) Anlage 7
2) Anlage 8





Vizepräsidentin Claudia Roth


(A) (C)



(D)(B)


stimmung von CDU/CSU, SPD und Linken und Enthal-
tung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines … Ge-
setzes zur Änderung des Gesetzes über die in-
ternationale Rechtshilfe in Strafsachen

Drucksache 18/4894

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Recht und Verbraucherschutz

(6. Ausschuss)


Drucksache 18/5257

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) –
Ich sehe und höre nichts anderes, als dass Sie einverstan-
den sind.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/5257, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
18/4894 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, jetzt um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenom-
men. Zugestimmt haben CDU/CSU, SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen, Enthaltungen bei der Linken, keine
Gegenstimmen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist angenommen. CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grü-
nen haben zugestimmt; enthalten hat sich die Linke.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Stärkung des Rechts des Angeklagten
auf Vertretung in der Berufungsverhandlung
und über die Anerkennung von Abwesen-
heitsentscheidungen in der Rechtshilfe

Drucksache 18/3562

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Recht und Verbraucherschutz

(6. Ausschuss)


Drucksache 18/5254

Die Reden sollen auch bei diesem Punkt zu Proto-
koll gegeben werden.2) – Ich sehe, Sie sind einverstan-
den.

Dann kommen wir jetzt zur Abstimmung. Der Aus-
schuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/5254,

den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa-
che 18/3562 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung angenommen: Zu-
stimmung von CDU/CSU und SPD, keine Gegenstim-
men, Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und von
der Linken.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist angenommen: Zustimmung von CDU/CSU
und SPD, Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und
von der Linken.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Verbesserung der internationalen
Rechtshilfe bei der Vollstreckung von frei-
heitsentziehenden Sanktionen und bei der
Überwachung von Bewährungsmaßnahmen

Drucksache 18/4347

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Recht und Verbraucherschutz

(6. Ausschuss)


Drucksache 18/5255

Der Gesetzentwurf beinhaltet in der Ausschussfas-
sung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
neben der Umsetzung verschiedener EU-Rahmenbe-
schlüsse Änderungen des Jugoslawien-Strafgerichtshof-
Gesetzes und des Ruanda-Strafgerichtshof-Gesetzes.

Auch da sollen die Reden zu Protokoll gegeben wer-
den.3)

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 18/5255, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/4347 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben
CDU/CSU und SPD; dagegen war die Linke; enthalten
haben sich Bündnis 90/Die Grünen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist angenommen. CDU/CSU und SPD waren da-
für; dagegen waren die Linken, und enthalten hat sich
Bündnis 90/Die Grünen.

1) Anlage 9
2) Anlage 10 3) Anlage 11





Vizepräsidentin Claudia Roth


(A) (C)



(D)(B)


Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Sibylle
Pfeiffer, Sabine Weiss (Wesel I), Frank Heinrich

(Chemnitz), weiterer Abgeordneter und der

Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Gabriela Heinrich, Dr. Bärbel Kofler, Axel
Schäfer (Bochum), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD

Entwicklungspolitische Chancen der Urbani-
sierung nutzen

Drucksachen 18/4425, 18/5130

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Wolfgang Gehrcke, Caren Lay, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Urbanisierung in den Ländern des Südens –
Staatliche und kommunale Funktionen stär-
ken, Privatisierung verhindern

Drucksache 18/5204

Die Reden werden zu Protokoll gegeben.1) Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist der Fall.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung zum Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD mit dem Titel „Entwick-
lungspolitische Chancen der Urbanisierung nutzen“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/5130, den Antrag der Fraktionen von
CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/4425 anzuneh-
men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen bei vollständiger Zustim-
mung vonseiten der Großen Koalition gegen Stimmen
der Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen.

Tagesordnungspunkt 26 b: Wir kommen zur Abstim-
mung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf

Drucksache 18/5204 mit dem Titel „Urbanisierung in
den Ländern des Südens – Staatliche und kommunale
Funktionen stärken, Privatisierung verhindern“. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Der Antrag ist abgelehnt bei Zustimmung
durch die Linke gegen Stimmen von CDU/CSU und
SPD und bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 25. Januar 1988 über
die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen
und zu dem Protokoll vom 27. Mai 2010 zur
Änderung des Übereinkommens über die ge-
genseitige Amtshilfe in Steuersachen

Drucksachen 18/5173, 18/5220
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Auch hier werden die Reden zu Protokoll gegeben.2)
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf den Drucksachen 18/5173 und 18/5220 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? –
Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung angekommen.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 19. Juni 2015, 9 Uhr,
ein.

Die Sitzung ist geschlossen.

Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Restabend in
der Nachbarschaft.