1) Anlage 12 2) Anlage 13
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10843
        (A) (C)
        (D)(B)
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        18.06.2015
        Baerbock, Annalena BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        18.06.2015
        Dinges-Dierig,
        Alexandra
        CDU/CSU 18.06.2015
        Dröge, Katharina BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        18.06.2015
        Gleicke, Iris SPD 18.06.2015
        Groneberg, Gabriele SPD 18.06.2015
        Groß, Michael SPD 18.06.2015
        Hartmann (Wackern-
        heim), Michael
        SPD 18.06.2015
        Ilgen, Matthias SPD 18.06.2015
        Karawanskij, Susanna DIE LINKE 18.06.2015
        Krellmann, Jutta DIE LINKE 18.06.2015
        Kunert, Katrin DIE LINKE 18.06.2015
        Müller (Chemnitz),
        Detlef
        SPD 18.06.2015
        Silberhorn, Thomas CDU/CSU 18.06.2015
        Weinberg, Harald DIE LINKE 18.06.2015
        Anlage 2
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Lothar Binding (Heidel-
        berg), Heike Baehrens, Sabine Dittmar, Karin
        Evers-Meyer, Angelika Glöckner, Ulrich
        Hampel, Marcus Held, Wolfgang Hellmich,
        Frank Junge, Cansel Kiziltepe, Helga Kühn-
        Mengel, Klaus Mindrup, Susanne Mittag, Ulli
        Nissen, Detlev Pilger, Mechthild Rawert, Bernd
        Rützel, Udo Schiefner, Dr. Dorothee Schlegel,
        Ewald Schurer, Stefan Schwartze, Svenja
        Stadler, Kerstin Tack, Bernd Westphal,
        Waltraud Wolff (Wolmirstedt), Gülistan Yüksel
        (alle SPD) zu der namentlichen Abstimmung
        über den Änderungsantrag der Fraktion Bünd-
        nis 90/Die Grünen zum Entwurf eines Gesetzes
        zur Anhebung des Grundfreibetrags, des Kin-
        derfreibetrags, des Kindergeldes und Kinderzu-
        schlags (Tagesordnungspunkt 6 a)
        Der Deutsche Bundestag stimmt heute in zweiter und
        dritter Lesung über den Gesetzentwurf der Bundesregie-
        rung zur Anhebung des Grundfreibetrags, des Kinder-
        freibetrags, des Kindergeldes und Kinderzuschlags ab.
        Mit dem Gesetz wird den Ergebnissen des 10. Existenz-
        minimumberichts der Bundesregierung Rechnung getra-
        gen und sowohl der Grundfreibetrag als auch der
        Kinderfreibetrag für 2015 und 2016 erhöht. Zusätzlich
        konnte die SPD eine weitreichende Entlastung der Al-
        leinerziehenden in das Paket hineinverhandeln.
        Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fordert in ihrem
        Änderungsantrag eine rückwirkende Anhebung von Kin-
        derfreibetrag und Kindergeld für das Jahr 2014. Eine
        rückwirkende Anhebung des Kinderfreibetrags ist aus
        verfassungsrechtlichen Gründen von großer Bedeutung.
        Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist das Existenz-
        minimum steuerlich zu verschonen. Im Rahmen des Ge-
        setzes zur Bekämpfung der kalten Progression wurde das
        für 2014 festgelegte Existenzminimum der Erwachsenen
        durch eine Anhebung des Grundfreibetrags steuerfrei ge-
        stellt. Eine entsprechende Steuerfreistellung des Kinder-
        existenzminimums durch eine Anhebung des Kinderfrei-
        betrags unterblieb dagegen. Um eine entsprechende
        Entlastung von Familien zu erreichen, die von der Anhe-
        bung des Kinderfreibetrags nicht oder nur in geringem
        Maße profitieren, erfolgte bisher gleichzeitig eine rück-
        wirkende Anhebung des Kindergeldes.
        Die Koalitionsfraktionen von CDU, CSU und SPD
        konnten sich nicht auf eine Anhebung von Kinderfreibe-
        trag und Kindergeld verständigen. In einer Koalition ist
        nur möglich, was alle Koalitionspartner beschließen,
        denn SPD und CDU/CSU haben sich verständigt, im
        Deutschen Bundestag nicht gegeneinander abzustim-
        men. Aus diesem Grund unterbleibt nun leider die Anhe-
        bung des Kinderfreibetrages und des Kindergeldes. Bei-
        des bedauern wir sehr.
        Aus diesem Grund lehnen wir den Änderungsantrag
        der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unter Drucksache
        18/5259 ab.
        Anlage 3
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Dr. Nina Scheer (SPD) zu der
        namentlichen Abstimmung über den Ände-
        rungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
        nen zum Entwurf eines Gesetzes zur Anhebung
        des Grundfreibetrags, des Kinderfreibetrags,
        des Kindergeldes und Kinderzuschlags (Tages-
        ordnungspunkt 6 a)
        Der Deutsche Bundestag stimmt heute in zweiter und
        dritter Lesung über den Gesetzentwurf der Bundesregie-
        rung zur Anhebung des Grundfreibetrags, des Kinder-
        freibetrags, des Kindergeldes und Kinderzuschlags ab.
        Anlagen
        10844 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        Mit dem Gesetz wird den Ergebnissen des 10. Existenz-
        minimumberichts der Bundesregierung Rechnung getra-
        gen und sowohl der Grundfreibetrag als auch der
        Kinderfreibetrag für 2015 und 2016 erhöht. Zusätzlich
        konnte die SPD eine weitreichende Entlastung der
        Alleinerziehenden in das Paket hineinverhandeln.
        Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fordert in ihrem
        Änderungsantrag eine rückwirkende Anhebung von
        Kinderfreibetrag und Kindergeld für das Jahr 2014. Eine
        rückwirkende Anhebung des Kinderfreibetrags ist aus
        verfassungsrechtlichen Gründen von großer Bedeutung.
        Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist das Existenz-
        minimum steuerlich zu verschonen. Im Rahmen des Ge-
        setzes zur Bekämpfung der kalten Progression wurde das
        für 2014 festgelegte Existenzminimum für Erwachsene
        durch eine Anhebung des Grundfreibetrags steuerfrei ge-
        stellt. Eine entsprechende Steuerfreistellung des Kinder-
        existenzminimums durch eine Anhebung des Kinderfrei-
        betrags unterblieb dagegen. Um eine entsprechende
        Entlastung von Familien zu erreichen, die von der Anhe-
        bung des Kinderfreibetrags nicht oder nur in geringem
        Maße profitieren, erfolgte bisher gleichzeitig eine rück-
        wirkende Anhebung des Kindergeldes.
        Die Koalitionsfraktionen von CDU, CSU und SPD
        konnten sich nicht auf eine Anhebung von Kinderfrei-
        betrag und Kindergeld verständigen. In einer Koalition
        ist nur möglich, was alle Koalitionspartner beschließen.
        Aus diesem Grund unterbleibt nun leider die Anhebung
        des Kinderfreibetrags und des Kindergeldes.
        Ich erwarte, dass trotz der bisher nicht erfolgten Eini-
        gung in der Koalition auch aufseiten des Koalitionspart-
        ners weiter auf eine verfassungskonforme Handhabung
        des Kinderfreibetrags hingewirkt wird.
        Vor diesem Hintergrund lehne ich den Änderungs-
        antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unter Druck-
        sache 18/5259 ab.
        Anlage 4
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Nina Warken (CDU/CSU) zu
        der namentlichen Abstimmung über den Ände-
        rungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
        Grünen zum Entwurf eines Gesetzes zur Anhe-
        bung des Grundfreibetrags, des Kinderfreibe-
        trags, des Kindergeldes und Kinderzuschlags
        (Tagesordnungspunkt 6 a)
        Ich erkläre, dass mir ein Fehlwurf unterlaufen ist. Ich
        gebe hiermit zu Protokoll, dass mein Votum Nein lautet.
        Anlage 5
        Berichtigung
        einer offenbaren Unrichtigkeit im Entwurf ei-
        nes Bilanzrichtlinie-Umsetzungsgesetzes durch
        den Berichterstatter Metin Hakverdi (SPD) (Ta-
        gesordnungspunkt 15)
        In Artikel 7 des Entwurfs des Bilanzrichtlinie-Umset-
        zungsgesetzes (Bundestagsdrucksache 18/5256) wird im
        Änderungsbefehl sowie in der einzufügenden Über-
        gangsbestimmung jeweils die Angabe „§ 5“ durch die
        Angabe „§ 6“ ersetzt.
        Anlage 6
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Solidaritätszuschlag
        für gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz
        Deutschland verwenden (Tagesordnungs-
        punkt 18)
        Olav Gutting (CDU/CSU): Der Deutsche Bundestag
        hat den Solidaritätszuschlag 1995 eingeführt, damit alle
        Bevölkerungsgruppen einen solidarischen finanziellen
        Beitrag in Form einer Ergänzungsabgabe zur Bewälti-
        gung der einheitsbedingten Kosten tragen.
        Ich glaube, wir sind uns hier alle einig, wenn ich sage:
        Der Soli und die Einheit sind eine beispiellose Erfolgs-
        geschichte, bei der alle Steuerzahler – egal ob aus den al-
        ten oder neuen Bundesländer – zum Abbau der teilungs-
        bedingten Folgen beigetragen haben. Aber jede gute
        Geschichte sollte auch mal zu Ende gehen. Auch wenn
        der Soli für sich genommen keine Befristung enthält,
        halte ich die dauerhafte Belassung für verfassungsrecht-
        lich bedenklich.
        Bereits bei der ersten Einführung 1991 war eine Be-
        fristung vorgesehen. Damit kann man feststellen, dass
        sowohl aus historischer Sicht als auch wegen seiner Aus-
        gestaltung und Funktion eine dauerhafte Geltung nicht
        vorgesehen ist.
        Man muss kein Hellseher zu sein, um zu wissen, dass
        auch nach dem Auslauf des Solidarpaktes II nach 2019
        weiter erhebliche Belastungen des Bundes für die neuen,
        aber auch die alten Bundesländer kommen. Wie wir
        diese Belastungen des Bundes und die Finanzausstattung
        der Länder ab 2020 interessengerecht lösen, steht auf un-
        serer Agenda für die laufende Legislaturperiode ganz
        oben.
        Dabei sind wir weiterhin dem Ziel Erreichung gleich-
        wertiger Lebensverhältnisse verpflichtet. Bereits im
        Koalitionsvertrag haben wir die Einrichtung einer Bund-
        Länder-Finanzkommission unter Einbeziehung von Ver-
        tretern der Kommunen vereinbart.
        Wir wissen, dass den Ländern die Verteilung der Auf-
        gaben zwischen Bund und Ländern sowie die zukünftige
        finanzielle Ausstattung der finanzschwachen Länder im
        Rahmen des Finanzausgleichs besonders wichtig sind.
        Eine Lösung dieser Fragen kann nur im Rahmen der
        anstehenden Bund-Länder-Verhandlungen erfolgen, die
        durch eine Festschreibung der Solimittel im Rahmen
        eines Solidarpaktes III speziell für strukturschwache
        Regionen nicht einfacher würde.
        Das Einzige, was wir mit dem Antrag der Linken er-
        reichen, wäre, dass wir an einem verfassungsrechtlich
        unsicheren Status festhalten würden.
        Die Verhandlungen über die zukünftige Finanzaus-
        stattung der Länder werden schwierig werden. Wir wis-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10845
        (A) (C)
        (D)(B)
        sen, dass die Länder – egal unter welcher Regierung –
        von liebgewonnenen Einnahmequellen nicht mehr weg-
        zubekommen sind. Die Länder wollen heute auch nichts
        mehr davon wissen, dass diesen im Zusammenhang mit
        der Einführung des Solis Anfang der 90er-Jahre ein er-
        höhter Anteil an der Umsatzsteuer zugesprochen wurde.
        Zur Ehrlichkeit bei jeder Solidebatte gehört, dass wir
        den Soli nicht auf einen Schlag abschaffen können. Dies
        muss haushaltsverträglich geschehen. Uns geht es bei
        der Debatte um den Soli in der Perspektive um eine
        echte Abschaffung und nicht um ein Wegtricksen. Eine
        vollständige Integration in den allgemeinen Einkom-
        mensteuertarif – wie von manchem Bundesland ge-
        wünscht – ist lediglich eine versteckte Steuererhöhung
        zum überwiegenden Nutzen der Länder.
        Wir wollen den schrittweisen Abbau des Solis ab
        2020. Wir werden dafür im Rahmen der Diskussionen
        der Bund-Länder-Finanzen eine haushaltsverträgliche
        und verfassungsfeste Lösung finden.
        Ihr Antrag wird dem nicht gerecht, sodass wir diesen
        ablehnen werden.
        Alois Rainer (CDU/CSU): Mit der erstmaligen Ein-
        führung des Solidaritätszuschlags 1991 wurde ein Zu-
        schlag zur Einkommensteuer erhoben. Die Grundlage
        dafür war die Finanzreform von 1955, die dem Bund
        nach Artikel 106 I Nummer 6 GG das Recht einräumt,
        eine Ergänzungssteuer zur Einkommen- und Körper-
        schaftsteuer zu erheben. Die Möglichkeit dieser Ergän-
        zungsabgabe wurde bis jetzt zweimal genutzt, zum einen
        in den 70er-Jahren und zum anderen 1991, um die neuen
        Bundesländer bei den notwendigen Investitionen zu un-
        terstützen.
        Nach fast 25 Jahren der Wiedervereinigung und dem
        damit verbundenen zeitlichen Abstand ist es meines Er-
        achtens richtig, dass wir uns mit der Frage auseinander-
        setzen, ob der Solidaritätszuschlag überhaupt noch dem
        ursprünglichen Zweck dienlich ist. Völlig ausgenommen
        ist hierbei zunächst die juristische Bewertung der Sache.
        Denn erfreulicherweise wurde mit den Mitteln aus dem
        Solidaritätszuschlag in den letzten 25 Jahren Erstaunli-
        ches geleistet. Ob das nun verfassungsmäßig ausreicht
        und das Ziel „Aufbau Ost“ erreicht ist und damit dann
        die Ergänzungsabgabe wegfällt, kann derzeit nicht genau
        gesagt werden.
        Wichtig ist meines Erachtens eine Prüfung der gesam-
        ten Finanzverteilung zwischen Bund und Ländern mit
        besonderem Blick auf die der Kommunen. Die Neurege-
        lung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen ist momentan
        in der Beratung.
        In Ihrem Antrag sprechen Sie davon, einen Teil der
        Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag für die kom-
        munale Daseinsvorsorge zu nutzen. Hierzu möchte ich
        grundsätzlich auf unser föderales System hinweisen, in
        dem die Länder für die finanzielle Ausstattung der Kom-
        munen verantwortlich sind. Weiter möchte ich nicht un-
        erwähnt lassen, dass die jetzige Bundesregierung die
        Kommunen so stark unterstützt, wie es keine andere
        Bundesregierung je zuvor getan hat: erstens 1 Milliarde
        jährlich, aufgeteilt über KDU, Umsatzsteuer, zweitens
        2017 zusätzlich 1,5 Milliarden, drittens Investitionspro-
        gramm für finanzschwache Kommunen in Höhe von
        3,5 Milliarden und viertens Unterstützung bei den Kitas.
        Wir müssen mit der bevorstehenden Finanzverfas-
        sungsreform eine Antwort darauf finden, ob der Finan-
        zierungsbedarf aus dem Wiedervereinigungsprozess ab-
        geschlossen ist und damit auch mit Blick auf die
        Schuldenbremse die Handlungsfähigkeit aller staatlichen
        Ebenen – Bund, Länder und Gemeinden – gewährleistet
        bleibt. Deswegen ist es auch so wichtig, dass wir eine
        vernünftige Lösung beim Thema der Bund-Länder-Fi-
        nanzbeziehungen für die Verteilungssituation finden,
        und ich bin mir sicher, dass wir diese finden werden.
        Voreilige Beschlüsse und Entscheidungen nutzen nie-
        mandem. Fest steht jedoch, dass der Solidarpakt II zum
        Aufbau der ostdeutschen Bundesländer und zur Bewälti-
        gung der einheitsbedingten Lasten 2019 ausläuft.
        Wenn das Ziel des Aufbaus der neuen Bundesländer
        und der Bewältigung der durch die Einheit bedingten
        Lasten erreicht ist, dann wird es mit Sicherheit schwerer
        werden, das Solidaritätszuschlagsgesetz rechtlich, aber
        auch gesellschaftlich aufrechtzuerhalten. Daher wäre
        zum Beispiel ein etappenweiser Ausstieg eine Lösung,
        um die Bürgerinnen und Bürger steuerlich zu entlasten
        und das Vertrauen in die Politik zu stärken. Der Solidari-
        tätszuschlag darf sich nicht per se zu einer dauerhaften
        Steuer entwickeln. Dafür war die Möglichkeit der Ergän-
        zungsabgabe im Artikel 106 I Nummer 6 ursprünglich
        nicht gedacht.
        Bernhard Daldrup (SPD): Ja, es ist zutreffend: Der
        Solidaritätszuschlag ist zeitlich unbefristet, der Solidar-
        pakt nicht. Es gibt keine Zwangläufigkeit, den Solidari-
        tätszuschlag einzustellen, ebenso wenig wie eine Ver-
        pflichtung, ihn fortzuführen. Weil das so ist und er zur
        Disposition gestellt worden ist, will die Fraktion der Lin-
        ken eine Positionierung erzwingen. Ihr gutes Recht!
        Doch will man den Solidaritätszuschlag fortführen,
        braucht er eine besondere Begründung, um verfassungs-
        fest zu bleiben. Jedenfalls ist das Volumen des Solidari-
        tätszuschlags für den Bundeshaushalt und die daraus fi-
        nanzierten Aufgaben unverzichtbar – das jedenfalls war
        die Meinung nicht nur, aber besonders wahrnehmbar der
        Kanzlerin im Wahlkampf. Sollte er entfallen, müsste er-
        klärt werden, wie dieses Volumen auf anderem Weg ge-
        sichert werden kann.
        Denn auch wenn in wenigen Jahren die Mittel nicht
        mehr für den Solidarpakt verwandt werden, bleibt den-
        noch der Auftrag des Grundgesetzes an den Bund,
        gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen.
        Der Antrag der Fraktion Die Linke nennt Instrument
        und Aufgabe: erstens den Solidaritätszuschlag und zwei-
        tens die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in
        Deutschland:
        Der Solidaritätszuschlag ist ein Mittel, mit dem ein
        besonderer Zweck finanziert werden soll. Während
        „Die Linke“ ihn auch nach 25 Jahren noch zur wei-
        10846 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        teren Finanzierung der Deutschen Einheit fortfüh-
        ren möchte, sehen einzelne Unionskollegen diese
        Einnahmen des Bundes als Objekt der Begierde der
        Länder.
        Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in
        Deutschland ist demgegenüber ein Verfassungsziel.
        Das Grundgesetz fordert, dass die sozioökonomi-
        schen Bedingungen in den Regionen Deutschlands
        nicht zu weit auseinanderdriften dürfen. Es ist die
        räumliche Seite des Sozialstaatsgebotes.
        Fazit: Über das Instrument kann man streiten, über
        das Ziel nicht. Der Gleichwertigkeit der Lebensverhält-
        nisse sind wir verpflichtet – dies ist in diesem Hause
        auch Konsens.
        Nun will die Linke einen Beschluss zur Beibehaltung
        des Solidaritätszuschlags, obwohl die Abschaffung noch
        gar nicht beschlossen ist.
        Nicht nur die Bundeskanzlerin verteidigte den Soli
        mit dem Verweis auf die Finanzierung des Aufbaus Ost.
        Auch aus dem Westen trat Armin Laschet von der CDU
        in NRW explizit für eine Fortschreibung des „Soli“ ohne
        Regionalbegrenzung ein: „2019, wenn der Solidarpakt
        für den Aufbau Ost endet, sollten die Mittel aus dem So-
        lidaritätszuschlag zweckgebunden und nach Priorität
        vergeben werden“ (Die Welt). Frau Kamp-Karrenbauer
        wird das kaum anders sehen.
        Kommen wir zur Zukunft: Finanzminister Dr. Schäuble
        ist offenkundig weit von einer abrupten Abschaffung des
        Solis entfernt. Just Dienstagmorgen im Finanzausschuss
        brachte er den Gedanken ins Spiel, den heutigen Auf-
        schlag auf die Einkommensteuer in Höhe von 5,5 Pro-
        zent jährlich um 0,5 Prozent zu verringern. Dann würden
        elf Jahre vergehen, bis der Soli ausgelaufen ist; man
        würde voraussichtlich das Jahr 2030 zählen. Allein die
        inflationsbedingten Mehreinnahmen des Fiskus würden
        die Ausfälle ausgleichen. Auch in den bisherigen Posi-
        tionen zu den Bund-Länder-Verhandlungen ist von einer
        kurzfristigen Abschaffung nicht die Rede.
        Deshalb eine Warnung an alle, die glauben, den Soli
        zum Programm der Steuersenkung machen zu können.
        Allen Beteiligten ist bekannt, dass die damit verbunde-
        nen Aufgaben weiterhin finanziert werden müssen.
        Heute fließen die Einnahmen aus dem Soli, rund
        15 Milliarden Euro, zum Großteil in den Bundeshaushalt
        und leisten zur derzeitigen „schwarzen Null“ einen er-
        heblichen Beitrag. Schließlich sind die Ausgaben für den
        Solidarpakt II kontinuierlich gesunken. Waren diese
        2011 noch mit rund 13 Milliarden so hoch wie die dama-
        ligen Einnahmen aus dem Soli, wurden 2014 nur noch
        gut 7,5 Milliarden für den Solidarpakt II ausgegeben.
        Das Aufkommen des Solis fließt also schon heute in
        den Bundeshaushalt und wird dort flexibel verwendet
        und trägt dazu bei, dass keine Schulden aufgenommen
        werden mussten.
        Mit der Haushaltssolidität ist aber dennoch der Auf-
        trag zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse
        verbunden. Es geht nicht mehr nur um die Wahrung der
        Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse. Seit 1994 spricht
        das Grundgesetz von gleichwertigen Lebensverhältnis-
        sen als Auftrag des Bundes. Bezugspunkt war natürlich
        die Herstellung der Deutschen Einheit in räumlicher und
        sozialstaatlicher Hinsicht, was bis heute auch aktuell ge-
        blieben ist, allerdings mit der Veränderung, dass die Dis-
        paritäten nicht nur zwischen West und Ost, sondern je
        nach Lage in ganz unterschiedlichen Regionen zwi-
        schen, ja sogar innerhalb von Bundesländern gilt.
        Der Bedarf ist da, die Aufgabe mithin ebenso, aber
        nicht mehr nach Himmelsrichtung und einem Ost-West-
        Schema, sondern nach Bedürftigkeit.
        In den Kommunen explodieren die Sozialausgaben,
        wichtige Investitionen in Breitband, Kinderbetreuung
        und Infrastruktur hingegen bleiben liegen. Geeignete In-
        strumente sind deshalb gefragt.
        Die Koalition hat mit zahlreichen Maßnahmen auf die
        Forderung nach Entlastung von Sozialausgaben und
        Stärkung der Investitionskraft den Kommunen geholfen.
        Das Kommunalinvestitionspaket in Höhe von 3,5 Mil-
        liarden ist das jüngste Beispiel in einer Reihe von Maß-
        nahmen. Auch den Ländern sind Hilfen zugutegekom-
        men, denken Sie an die BAföG-Entlastung oder die
        zusätzlichen 10 Milliarden Investitionen in die Verkehrs-
        infrastruktur, etc.
        Die Reform der Bund-Länder-Finanzbeziehungen er-
        schöpft sich nicht in der Frage der Fortführung des Solis
        bzw. seiner Abschaffung. Auch die letzte Positionsbe-
        schreibung des Bundes erklärt lediglich den Beginn des
        stufenweisen Abbaus des Solidaritätszuschlags nach
        2020. Mehr nicht.
        Es geht im Kern um einen gerechteren horizontalen
        Finanzausgleich – in erster Linie Sache der Länder – und
        im vertikalen Finanzverbund um die Frage, inwieweit
        der Bund die Finanzkraft von Ländern und Kommunen
        stärken kann. Ob dazu auch ein bundesseitiges Investi-
        tionsprogramm geeignet ist, falls sich Bund und Länder
        nicht einigen sollten, wie dies Herr Dr. Schäuble im letz-
        ten Finanzausschuss andeutete, kann nur im Lichte der
        Ergebnisse der Verhandlungen zwischen Bund und Län-
        dern beurteilt werden.
        Angefangen von Infrastrukturfinanzierung bis zur
        Stärkung der Investitionskraft der Kommunen und be-
        sonderen Hilfen für die am höchsten verschuldeten Län-
        der gibt es gute Gründe, am Solidaritätszuschlag festzu-
        halten. Auch die Struktur des Solidaritätszuschlags sollte
        im Blick bleiben, weil angesichts von Freigrenzen der
        Soli bis zu 11 Millionen Menschen gar nicht betrifft.
        Wichtiger als das Instrument ist uns aber das Ziel:
        Wer gleichwertige Lebensbedingungen schaffen will,
        muss die Frage der Finanzierung beantworten. Dabei ist
        – wie es der Soli auch vorsieht – die Leistungsfähigkeit
        der Steuerzahler zu berücksichtigen. Artikel 72 des
        Grundgesetzes ist die normative Stütze einer Steuer- und
        Finanzpolitik, die sich den Aufgaben des regionalen
        Ausgleiches und der Umverteilung aktiv stellt.
        Da die Verhandlungen zu den Bund-Länder-Finanz-
        beziehungen laufen und die Koalition selbst bereits mit
        Anträgen zur Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10847
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        in Deutschland befasst ist, werden wir hoffentlich in der
        zweiten Jahreshälfte konkret über die Zielsetzungen
        auch Ihres Antrages erneut diskutieren.
        Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Im Rahmen der Ver-
        handlungen um die Neugestaltung des Länderfinanzaus-
        gleiches verdichten sich die Befürchtungen, dass der
        Bundesfinanzminister den Solidaritätszuschlag ab 2019
        schrittweise abschaffen will. Unterstützung hat er hierfür
        schon von Olaf Scholz, dem sozialdemokratischen Re-
        gierungschef des Bundeslandes Hamburg, erhalten. Die-
        ses Vorhaben muss mit aller politischen Entschiedenheit
        verhindert werden. Dazu dient unser heute eingereichter
        Antrag.
        Der Solidaritätszuschlag ist eine Bundessteuer ohne
        Verfallsdatum. Seine Einnahmen sind haushaltsrechtlich
        nicht zweckgebunden, sondern frei verwendbar.
        Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach die
        Verfassungsgemäßheit des Solidaritätszuschlags – Soli –
        unterstrichen und Verfassungsbeschwerden und Nor-
        menkontrollanträge in den letzten Jahren stets zurück-
        gewiesen. Diese Argumentation unterstützt auch ein
        jüngstes Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des
        Bundestages. Zu neuerlichen Bedenken, der Soli stelle
        grundsätzlich ein juristisches Haushaltsrisiko dar, gibt es
        daher keinen Anlass.
        Eine ersatzlose schrittweise Abschaffung des Solida-
        ritätszuschlags ab 2019 würde einen einschneidenden
        Einnahmeausfall von mindestens 19 Milliarden Euro
        jährlich für den Bund darstellen.
        Aufgrund der spezifischen Ausgestaltung des Solida-
        ritätszuschlags würden von seinem Wegfall vor allem
        Gutverdiener und Kinderlose profitieren. Zudem wäre
        eine solche Schwächung des finanziellen Spielraums des
        Staates unverantwortlich angesichts der fortschreiten-
        den wirtschaftlichen Abkopplung strukturschwacher
        Gebiete in Ost und West. Es wäre daher falsch, den
        Solidaritätszuschlag abzuschaffen oder in Stufen zurück-
        zufahren – er wird nach wie vor dringend gebraucht.
        Das Solidaritätszuschlagsgesetz 1995 wurde mit der
        Herstellung der Einheit Deutschlands, der langfristigen
        Sicherung des Aufbaus in den neuen Ländern, der Neu-
        ordnung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs und der
        Entlastung der öffentlichen Haushalte begründet. Der
        Solidaritätszuschlag dient also nicht ausschließlich dem
        Aufbau Ost, sondern sieht ebenso die Nutzung zur Haus-
        haltsentlastung vor und ist Bestandteil des allgemeinen
        Länderfinanzausgleichs.
        Nichts spricht dagegen, ihn weiterhin in diesem Sinne
        einzusetzen, vor allem angesichts der strukturellen Aus-
        einanderentwicklung von strukturschwachen und struk-
        turstarken Regionen im Bundesgebiet.
        Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, der Solida-
        ritätszuschlag kann durch den Bundestag nur abgeschafft
        werden, wenn ihr dieser Entscheidung zustimmt. Im Ge-
        gensatz zu vielem, was ihr in der Großen Koalition mit
        der CDU/CSU mitgetragen habt, „weil es im Koalitions-
        vertrag vereinbart wurde“, sind die Entscheidungsmög-
        lichkeiten hier anders. Von der Abschaffung des Solida-
        ritätszuschlags steht nichts im Koalitionsvertrag.
        Wenn ihr schon mit jedem Verzicht auf Steuererhö-
        hungen eure Versprechungen aus dem Wahlkampf 2013
        gebrochen habt und damit zur weiteren Unterfinanzie-
        rung der öffentlichen Haushalte von Bund, Ländern und
        Gemeinden beitragt, solltet ihr die Hände von der größ-
        ten Steuersenkung der letzten Jahre lassen.
        Ab 2019 wird die Schuldenbremse für die Bundeslän-
        der scharfgeschaltet – in diesen Zeiten Steuersenkungen
        zusammen mit der CDU/CSU zu beschließen, ist ein
        Vergehen an der Zukunft. Sollte es wirklich so weit
        kommen, wird die Linke zusammen mit Gewerkschaf-
        ten, Wohlfahrtsverbänden und vielen anderen zu Besu-
        chen in euren Partei- und Abgeordnetenbüros aufrufen.
        20 Milliarden Euro Steuersenkung müsst ihr dann den
        Bürgerinnen und Bürgern erklären.
        Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
        Fraktion Die Linke fordert in ihrem Antrag, den Solida-
        ritätszuschlag beizubehalten. Auch wir sind uns nicht
        sicher, dass so ohne weiteres auf die Einnahmen des
        Solis verzichtet werden kann, wie Herr Schäuble dies
        behauptet. Der Finanzminister verspricht große Steuer-
        senkungen, anstatt wirksam und nachhaltig die Altschul-
        denproblematik der Länder und Kommunen anzugehen.
        Zwar bietet Schäuble den Ländern Unterstützung an,
        aber das reicht nicht, um die finanzielle Tragfähigkeit
        nach Einführung der Schuldenbremse zu gewährleisten.
        Tatsächlich ist dieser Tag eine gute Gelegenheit, über
        einen Antrag zum Solidaritätszuschlag zu diskutieren;
        denn eigentlich sollte heute der große Durchbruch bei den
        Bund-Länder-Finanzbeziehungen gelingen. Die Kanzlerin
        hat sich mit den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten
        getroffen, um eine Reform der Bund-Länder-Finanzbezie-
        hungen auf den Weg zu bringen.
        Anstatt sich zumindest auf einen Minimalkonsens ei-
        nigen zu können, sind die festgefahrenen Verhandlungen
        wohl abermals vertagt worden. Doch die im Koalitions-
        vertrag vollmundig angekündigte große Reform der
        Finanzbeziehungen rückt damit in die Ferne. Wichtige
        Wahlkämpfe in den Ländern rücken näher, und zu glau-
        ben, dass man sich unter diesen Bedingungen auf einen
        großen Wurf einigen kann, bedarf einiger politischer Na-
        ivität.
        Es war ein großer Fehler von Frau Merkel, Herrn
        Schäuble und Herrn Gabriel, eine so bedeutende Reform
        in Hinterzimmern verhandeln zu wollen. Eine Kommis-
        sion wie im Koalitionsvertrag vorgesehen – gerne auch
        im überschaubaren Format – wäre die bessere Variante
        gewesen. Den Preis dieser gescheiterten Strategie zahlen
        die Regionen und Länder, die mit Strukturschwächen
        und Altschulden zu kämpfen haben. Auch für die großen
        Infrastrukturinvestitionen, etwa im Verkehrsbereich, gibt
        es damit weiterhin keine Planungssicherheit.
        Ich kann nur an die Regierung appellieren, aus diesem
        Scheitern zu lernen und zumindest jetzt eine transparente
        Diskussion zuzulassen. Denn eine Reform ist dringend
        nötig, da die jetzigen Regelungen im Jahr 2019 auslau-
        10848 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015
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        fen. Das Grundgesetz stellt die Aufgabe, gleichwertige
        Lebensverhältnisse im Bundesgebiet herzustellen. Die
        derzeitige Struktur des Länderfinanzausgleiches wird
        diesen Herausforderungen nicht mehr gerecht und ist
        schon gar nicht auf die zukünftige demografische- und
        sozialräumliche Entwicklung vorbereitet. Viele Kommu-
        nen leiden unter einer maroden Infrastruktur, hohen
        Schuldenständen und einem immensen Investitionsstau.
        Dabei geht die Schere zwischen armen und reichen
        Kommunen immer weiter auseinander. Hinzu kommt,
        dass ab dem Jahr 2020 die Schuldenbremse auch für die
        Bundesländer gilt. Alleine werden viele Länder ihr Alt-
        schuldenproblem nicht lösen können.
        Nun muss es weiter darum gehen, zukunftsfähige
        Reformvorschläge zu erarbeiten. Ziel muss es sein, fi-
        nanzschwache Länder und Regionen solidarisch zu un-
        terstützen – und zwar unabhängig von Himmelsrichtun-
        gen. Eine strukturelle Reform der Finanzbeziehungen
        zwischen Bund und Ländern muss die wachsende wirt-
        schaftliche Ungleichheit zwischen armen und reichen
        Regionen angemessen ausgleichen, um unserem Verfas-
        sungsauftrag gerecht zu werden. Hierzu gehört die
        Lösung der Altschuldenproblematik zahlreicher Länder
        und Kommunen durch einen Altschuldenfonds genauso
        wie die dauerhafte Unterstützung der finanz- und
        wirtschaftsschwachen Regionen in den neuen Bundes-
        ländern. Den Umsatzsteuervorwegausgleich zu refor-
        mieren und im Gegenzug die kommunale Finanzkraft
        stärker in die Bund-Länder-Finanzbeziehungen einzube-
        ziehen, halten wir für einen bedenkenswerten Vorschlag:
        Er birgt die Chance, das komplexe Ausgleichssystem
        einfacher und verständlicher zu machen. Ein solcher
        Reformschritt ist aber nur akzeptabel, wenn sich die
        neuen Bundesländer auf eine Kompensation ihrer Fi-
        nanzkraft durch den Bund verlassen können. Aber auch
        dieses Vertrauen hat die ostdeutsche Kanzlerin mit ihrer
        Hinterzimmerpolitik nicht herstellen können.
        Die Kollegen aus der Großen Koalition sollten aus ih-
        rem Scheitern lernen: Bei einem so bedeutsamen Projekt
        wie der Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehun-
        gen hilft es nichts, sich hinter verschlossenen Türen zu
        verschanzen. Wenn überhaupt noch eine Einigung erzielt
        werden kann, dann mit einer Öffnung der Diskussion.
        Wir jedenfalls sind gerne bereit, diese Plenumsdebatte
        als Anfang hierfür zu sehen und gemeinsam über eine
        kluge Neuordnung der Finanzbeziehungen zu diskutie-
        ren.
        Anlage 7
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts zu dem Antrag: Aufwertung der So-
        zial- und Erziehungsdienste jetzt (Tagesord-
        nungspunkt 20)
        Matthäus Strebl (CDU/CSU): Wir sprechen heute
        wieder einmal – wie schon im Frühjahr – über den An-
        trag der Fraktion Die Linke „Aufwertung der Sozial- und
        Erziehungsberufe jetzt“.
        An der Situation der weit über 700 000 Menschen, die
        in diesen Bereichen arbeiten, hat sich seitdem nichts
        oder doch nur wenig geändert. In der Zwischenzeit hat
        es jedoch einen Arbeitskampf gegeben, der zunehmend
        härter geführt wurde.
        Die Arbeitsniederlegungen der vergangenen Wochen
        haben gezeigt, dass die Anliegen der Erzieherinnen, Er-
        zieher sowie von Pflegekräften in der Bevölkerung auf
        breite Zustimmung stoßen. Dies ist umso bemerkens-
        werter, als ja viele Eltern, ledige besonders, Schwierig-
        keiten hatten, ihre Kinder in die Horte und Kitas zu brin-
        gen und selbst zur Arbeit zu fahren. So manchem wird
        hier erstmals die Wichtigkeit und Bedeutung dieser Be-
        rufszweige mit ihren Menschen bewusst geworden sein.
        Verständnis für die Forderungen – wenn auch nicht
        unbedingt für den Streik – brachte im Übrigen auch die
        Politik auf. Und das ist bekanntermaßen nicht bei allen
        Arbeitsniederlegungen so.
        Ich räume ein, dass es die Linke hervorragend ver-
        standen hat, die Situation der in den Sozial- und Erzie-
        hungsberufen Tätigen für ihre Zwecke zu nutzen.
        Zunächst einige wenige Zahlen: In Deutschland gibt
        es rund 53 000 Kindertageseinrichtungen, mehr als
        3,2 Millionen Kinder werden dort betreut. Die meisten
        Kitas werden jedoch von freien Trägern wie der Caritas
        oder der Arbeiterwohlfahrt unterhalten. Hinzu kommen
        Werkstätten und Einrichtungen für Behinderte. Heil-
        pädagogen, Sozialarbeiter und Sozialpädagoginnen im
        allgemeinen Sozialdienst, in Jugendzentren, an offenen
        Ganztagsschulen sowie in Heimen für Kinder und Ju-
        gendliche haben ebenfalls mit Arbeitsniederlegungen für
        ihre Anliegen demonstriert.
        Der Streik hat allerdings nur die Kitas öffentlicher,
        also kommunaler Träger, getroffen, und das sind deutsch-
        landweit etwa 17 500 Einrichtungen. Wer würde bestrei-
        ten, dass die Beschäftigten in diesen Einrichtungen einen
        äußerst schweren Job haben und von uns wohl kaum ei-
        ner mit ihnen tauschen möchte? Jedem Einzelnen gön-
        nen wir bessere Arbeits- und Lebensbedingungen.
        Aber wer das Anliegen der Linken näher betrachtet,
        wird feststellen, dass es sich um eine gut verpackte Mo-
        gelpackung handelt.
        Ich möchte das anhand einiger weniger Punkte nach-
        weisen:
        Ich habe auch hier im Deutschen Bundestag schon
        mehrfach betont, dass ich sehr wohl für eine Aufwertung
        der Sozial- und Erzieherberufe bin. Ich weiß aber auch,
        dass Zuständigkeit und Verantwortung hierfür überwie-
        gend bei den Ländern und Kommunen zu finden sind.
        Wenn der Bundestag dem Antrag der Linken folgen
        würde, hätte dies also wahrscheinlich gar keine Folgen,
        da dieses Hohe Haus überhaupt nicht zuständig ist.
        Weiter verlangen die Antragsteller beispielsweise eine
        Antistressverordnung. Diese Forderung aber ist längst
        überholt. Denn im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und
        SPD wird dem psychischen Gesundheitsschutz ein hoher
        Stellenwert eingeräumt. Hier ist also schon eine Menge
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10849
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        geschehen. Ich gestehe zu, dass wir noch längst nicht am
        Ziel sind.
        Geradezu symptomatisch für die Nachfolger einer
        früheren Staatspartei ist der Ruf nach neuen Gesetzen,
        hier nach einem Kitaqualitätsgesetz und nach einer
        Sachverständigenkommission. Aber auch hier sind die
        Antragsteller nicht auf neuestem Stand: Bereits Ende des
        vergangenen Jahres haben sich Bund und Länder auf
        eine Weiterentwicklung des Qualitätsprozesses verstän-
        digt.
        Nahezu alle Themen, die die Linken in ihrem Antrag
        nun verlangen, sind demnach schon im Fluss oder gar er-
        ledigt. Dass es bei dem Antrag hauptsächlich um Bau-
        ernfängerei geht, wird deutlich, wenn man sieht, dass
        Kostenrechnungen überhaupt nicht angestellt wurden.
        Ein solches Verfahren ist nicht akzeptabel.
        Die Große Koalition lehnt den Antrag daher ab.
        Gabriele Schmidt (Ühlingen) (CDU/CSU): Die
        Union unterstützt das Anliegen einer Aufwertung der
        Sozial- und Erziehungsberufe ausdrücklich! Das haben
        wir immer getan, schauen Sie sich die Gesetzgebung nur
        der laufenden Legislaturperiode an! Die Aufwertung
        geht nicht nur, aber natürlich auch über den Geldbeutel.
        Die Sozial- und Erziehungsberufe sind, wie die Pflege-
        berufe, in Deutschland eindeutig zu gering vergütet.
        In erster Linie liegt es jedoch in der Verantwortung
        von Tarifvertragsparteien, für eine leistungsgerechte
        Vergütung zu sorgen. Der Antrag der Linksfraktion lässt
        dies völlig außer Acht. Die Forderungen ignorieren die
        Strukturverantwortung von Ländern, Kommunen und
        Einrichtungsträgern. Das Ganze muss mit Augenmaß
        geschehen, da wir die Kommunen und andere Träger fi-
        nanziell nicht überfordern dürfen.
        Die Bundesregierung bleibt jedoch nicht untätig – im
        Gegenteil. Am 6. November letzten Jahres hat sich das
        Bundesfamilienministerium mit den Fachministern so-
        wie den zuständigen Vertretern des Bundes, der Länder
        und der Kommunen auf einen Fahrplan für länderüber-
        greifende verbindliche Qualitätsstandards geeinigt. Qua-
        litätsziele sollen unter anderem für Personalschlüssel,
        die mittelbare pädagogische Arbeitszeit sowie Fragen
        der Qualifizierung der Fachkräfte festgelegt werden. Die
        im Dezember 2014 gebildete Arbeitsgruppe „Frühe Bil-
        dung weiterentwickeln und Finanzierung sicherstellen“
        hat ihre Arbeit bereits aufgenommen und soll nächstes
        Jahr einen Bericht vorlegen. Es wäre daher ratsam, die
        Ergebnisse abzuwarten.
        Was die Teilzeit angeht, kann ich nur das im Aus-
        schuss letzte Woche Gesagte wiederholen und die
        Linksfraktion bitten, sich endlich mit der Realität anzu-
        freunden. Teilzeit ist keine Schikane oder Sparsamkeit
        der Trägereinrichtungen oder Kommunen, sie entspricht
        vielmehr ganz überwiegend dem Wunsch von Arbeit-
        nehmerinnen und Arbeitnehmern. Flexible Arbeitszeit-
        modelle muss es auch weiterhin geben, mit Teilzeit kann
        sehr viel besser und gewünscht Rücksicht genommen
        werden auf die individuelle Lebensplanung und die
        wechselnde familiäre Situation der Erzieherinnen und
        Erzieher.
        Was wir nicht wollen – und das haben wir im Koali-
        tionsvertrag auch vereinbart, einzudämmen –, ist die un-
        freiwillige Teilzeit. Wer sich jedoch freiwillig für die
        Teilzeit entscheidet, soll es ohne Einschränkungen auch
        weiterhin tun dürfen. Wir lassen im Gegensatz zu Ihnen
        den Menschen die Wahl im Sinne ihrer persönlichen Le-
        bensplanung. Wichtig ist einzig und allein die Möglich-
        keit des Wechsels zwischen unterschiedlichen Arbeits-
        zeitmodellen.
        Weiter fordern Sie für „jede Stunde Arbeit volle Sozi-
        alversicherungspflicht“. Auch diese Forderung geht an
        der Realität und den Bedürfnissen der Arbeitswelt, ins-
        besondere der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
        vorbei. Meist wird diese Möglichkeit des Minijobs ge-
        nutzt, um auf eine unkomplizierte Art und Weise sich
        neben dem Vollzeitjob etwas dazuzuverdienen. Das Ziel,
        der Schwarzarbeit entgegenzuwirken, wurde mit diesem
        Instrument ebenfalls erfolgreich erreicht. So ist die Zahl
        angemeldeter Minijobs in Privathaushalten von rund
        30 000 Mitte 2003 auf rund 285 000 Ende 2015 gestie-
        gen. Das sind doch nicht alles geknechtete, ausgebeutete
        Proletarier, die im finanziellen Elend versinken. Das
        sind Tausende von Menschen: Studenten, Rentner, Haus-
        frauen und -männer und – ja – auch versicherungspflich-
        tig Beschäftigte. Natürlich muss Missbrauch verhindert
        und verfolgt werden. Aber das Instrument an sich ist gut
        und wichtig – übrigens auch in den Erziehungs- und So-
        zialberufen.
        Im weit auseinandergezogenen Wahlkreis Waldshut-
        Hochschwarzwald, wo ich herkomme, gibt es viele Teil-
        zeitkräfte, die in den Sozialstationen die Vollzeitkräfte in
        ihrer wichtigen Aufgabe unterstützen und ergänzen.
        Ohne sie, auch ohne die Minijobberinnen, könnten die
        Sozialstationen ihre Aufgabe gar nicht erfüllen. Es wäre
        schön, wenn die Fraktion Die Linke dies einfach mal ak-
        zeptieren könnte.
        Wir wollen den Gesundheitsschutz in den Betrieben
        weiter stärken, genau wie die Linke, die das in dem vor-
        liegenden Antrag fordert. Ob eine Antistressverordnung
        dazu geeignet wäre, eine solche Wirkung zu erzielen, ist
        zumindest fraglich. Dazu braucht es fundierte wissen-
        schaftliche Erkenntnisse, die uns derzeit nicht vorliegen.
        Wir dürfen nicht vergessen, dass Menschen unterschied-
        lich sind, dass jeder Mensch Stress anders empfindet.
        Eine Standardisierung in Form einer Verordnung wäre
        aus meiner Sicht daher wenig zielführend. Eine entspre-
        chende Regulierung würde zudem die Arbeitgeber vor
        neue Herausforderungen stellen, auf jeden Fall ein Mehr
        an Bürokratie bedeuten – noch mehr Bürokratie. Das
        lehnen Sie doch sonst immer – zu Recht – ab, liebe Kol-
        leginnen und Kollegen.
        Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Vier Wochen lang ha-
        ben Beschäftigte aus den Sozial- und Erziehungsdiens-
        ten für eine Aufwertung ihrer Arbeit gestreikt. Das war
        einer der bisher längsten Streiks dieser Berufsgruppen in
        der Geschichte der Bundesrepublik.
        10850 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015
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        Zurzeit sind die Streiks ausgesetzt, denn das Verfah-
        ren befindet sich in der Schlichtung. Obwohl die Belas-
        tungen für Eltern und Kinder während des Streiks hoch
        waren, ist die Unterstützung für die Streikenden nach
        wie vor ungebrochen: Fast 70 Prozent der Bevölkerung
        stehen hinter den Forderungen und zeigen sich solida-
        risch mit den Beschäftigten. Die Wertschätzung für Er-
        ziehungs- und Sozialberufe ist in der Bevölkerung also
        vorhanden.
        Aber Solidarität allein reicht nicht. Die Wertschät-
        zung muss sich in den Gehaltsabrechnungen widerspie-
        geln. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
        stehen hinter den Streikenden und ihren berechtigten
        Forderungen. Das hat auch unser Vorsitzender Sigmar
        Gabriel beispielsweise am letzten Wochenende auf einer
        DGB-Kundgebung in Hannover noch einmal bekräftigt.
        Ich hoffe, dass die aktuell laufende Schlichtung eine ta-
        riflich gute Lösung für alle Beteiligten bringt.
        Beeinflussen können wir das hier im Bundestag aller-
        dings nicht, denn angestellt sind Erzieherinnen und Er-
        zieher in der Regel bei den Städten und Gemeinden –
        nicht beim Bund. Wir können aber dafür sorgen, dass
        klamme Städte und Gemeinden in die Lage versetzt wer-
        den, höhere Löhne und Gehälter bezahlen zu können.
        Wir spülen ihnen Geld in ihre Kassen.
        Gerade in der letzten Woche haben wir durchgesetzt,
        dass der Bund seine finanzielle Unterstützung für die
        Aufnahme von Flüchtlingen noch in diesem Jahr auf
        1 Milliarde Euro erhöht. Und ab 2016 wird er sich dauer-
        haft an den Kosten der Länder und Kommunen beteili-
        gen.
        Darüber hinaus haben wir von Bundeseite aus weitere
        spürbare Entlastungen der Länder und Kommunen auf
        den Weg gebracht:
        Die Grundsicherung im Alter übernimmt der Bund
        bereits komplett.
        Das BAföG bezahlt der Bund seit dem 1. Januar.
        Ein Entlastungs- und Investitionspaket in Höhe von
        5 Milliarden Euro wurde kürzlich für finanzschwache
        Kommunen beschlossen.
        Insgesamt kommen wir bis 2018 auf über 25 Milliar-
        den Euro, die wir an die Kommunen weiterreichen.
        Klar ist, die Städte und Gemeinden brauchen das
        Geld, um ihren Aufgaben für die Menschen vor Ort
        nachkommen zu können.
        Wichtig ist, dass endlich auch die Beschäftigten in
        den Erziehungs- und Sozialberufen mehr im Porte-
        monnaie haben. Es muss Schluss sein mit ungerechter
        Bezahlung der Altenpflegerinnen und Altenpfleger,
        Erzieherinnen und Erzieher, Kinderpflegerinnen und
        Kinderpfleger, Heilerzieherinnen und Heilerzieher, Sozi-
        alarbeiterinnen und Sozialarbeiter und Sozialpädagogin-
        nen und Sozialpädagogen. Sie verdienen mehr.
        Schauen wir uns doch einmal die fachlichen Anforde-
        rungen an die Erzieherinnen und Erzieher an. Sie sind in
        den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen: von früh-
        kindlicher Erziehung bis begleitender Förderung in der
        Schule und von besonderer Sprachförderung, bei denen
        Sprachlerntagebücher geführt werden müssen, bis zu in-
        klusiver und interkultureller Arbeit mit behinderten Kin-
        dern und Kindern mit Migrationshintergrund. Hier wird
        stetig mehr verlangt, aber nicht entsprechend höher ent-
        lohnt.
        Hinzu kommen besondere Erschwernisse, die der Be-
        ruf mit sich bringt. Dazu haben das Bundesinstitut für
        Berufsbildung, BIBB, und die Bundesanstalt für Arbeits-
        schutz eine Studie erstellt und festgestellt, dass die
        höchste Belastung der Lärm ist. Teilweise steigt der Ge-
        räuschpegel in einer Kita über 80 bis 85 Dezibel; norma-
        lerweise sind Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei
        diesen Werten dazu verpflichtet, einen Gehörschutz zu
        tragen.
        Eine andere Belastung ist die Haltung. Kitas sind nun
        einmal für kleine Leute gebaut. Wer Kinder betreut,
        muss auf Dauer in gebückter, hockender, liegender oder
        Kopfüberstellung arbeiten.
        Eine Belastung sind auch die Anforderungen an Mul-
        titasking; das bedeutet, viele Kinder gleichzeitig im
        Blick behalten, für jede Sorge ein offenes Ohr, einen wa-
        chen Blick und eine helfende Hand haben.
        Und das alles unter dem Dauerbeschuss von zahlrei-
        chen Krankheitserregern, die dem Immunsystem einiges
        abverlangen.
        Zum Glück haben wir noch Menschen – meistens
        Frauen – die bereit sind, für relativ schlechte Bezahlung
        diese Anforderungen auf sich zu nehmen. Sie kümmern
        sich um das Wertvollste was wir haben, um unsere Kin-
        der. Das muss sich dann aber auch im Gehalt widerspie-
        geln.
        Eine Aufwertung der Sozial- und Erziehungsberufe
        ist deshalb überfällig. Darin, meine Damen und Herren
        der Linksfraktion, sind wir uns einig. Nur bitte, wenn Sie
        schon Forderungen aufstellen, dann aber die richtigen.
        Mit Ihrer Forderung zur Leiharbeit ändern Sie die Situa-
        tion jedenfalls nicht zum Besseren. Denn gerade einmal
        0,3 Prozent der 1,2 Millionen Beschäftigten sind davon
        betroffen.
        Nun werden Sie wieder sagen, dass Sie diese Daten
        bei der Erstellung Ihres Antrags noch nicht gehabt ha-
        ben. Aber, so frage ich Sie: Warum haben Sie nicht auf
        die Antwort auf Ihre Kleine Anfrage an die Bundesregie-
        rung gewartet? Denn darin stehen diese Zahlen schwarz
        auf weiß.
        Aber auch ohne diese konkreten Zahlen hätten Sie
        wissen können, dass Leiharbeit kein Problem in diesen
        Berufsgruppen ist. Ich jedenfalls kenne keine einzige
        Kita, die mit Leiharbeiterinnen arbeitet.
        In Ihrem Antrag listen Sie allgemeine Forderungen
        auf, ohne die Besonderheiten dieser spezifischen Berufs-
        gruppen zu berücksichtigen. Und wichtige Forderungen
        fehlen. Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen.
        Wo zum Beispiel steht in Ihrem Antrag etwas zum
        Thema gleicher Lohn für gleiche Arbeit für Frauen und
        Männer? Im Bereich Erziehung und Unterricht beträgt die
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        Lohnlücke fast 13 Prozent. Das ist besonders schlimm,
        denn Erziehungs- und Sozialberufe sind mit 84 Prozent
        eine typische Frauendomäne, und dann verdienen die
        wenigen Männer für die gleiche Arbeit auch noch deut-
        lich mehr als die vielen Frauen. Mit dieser Lohndiskri-
        minierung muss endlich Schluss sein. Wir packen das
        Thema an und werden gemeinsam mit CDU und CSU
        ein Gesetz für Lohngerechtigkeit auf den Weg bringen.
        Mehr Geld bedeutet auch mehr Rente, das ist ein ganz
        wichtiger Aspekt. Viele Erzieherinnen haben einen ge-
        ringen Lohn, viele arbeiten darüber hinaus nur in Teil-
        zeit. Das wirkt sich dann natürlich noch negativer auf die
        Rente aus. Es wäre gut, wenn sich Frauen und Männer
        die Familienarbeit partnerschaftlich teilen würden. Dann
        kann Teilzeitarbeit sinnvoll sein. Es muss aber sicherge-
        stellt sein, dass es eine Möglichkeit zur Rückkehr auf die
        alte Arbeitszeit gibt.
        Wir werden deshalb noch in diesem Jahr ein Rück-
        kehrrecht von Teil- in Vollzeit einführen, um zeitweise
        Teilzeit zum Beispiel zur Betreuung der Kinder zu er-
        möglichen.
        Und natürlich kämpfen wir als SPD generell für gute
        Arbeit und bessere Arbeitsbedingungen. Im Koalitions-
        vertrag haben wir dazu eine Menge verankern können.
        Darunter auch viele im Antrag der Linken angespro-
        chene Themen. So haben wir den Mindestlohn umge-
        setzt. Wir werden den Missbrauch bei Leiharbeit und
        Werkverträgen noch in diesem Jahr mit einer Gesetzes-
        initiative bekämpfen. Wir werden den Gesundheitsschutz
        am Arbeitsplatz verbessern und eine neue Arbeitsstätten-
        verordnung umsetzen. Auch was die Kitaqualität anbe-
        langt, sind wir aktiv.
        Im November hat Familienministerin Manuela
        Schwesig alle Akteurinnen und Akteure an einen Tisch
        geholt: die Fachministerinnen und -minister der Länder,
        die Kommunalen Spitzenverbände und die verantwortli-
        chen Verbände und Organisationen. Ihr Ziel ist es, ge-
        meinsame Qualitätsziele in der Kindertagesbetreuung zu
        entwickeln. Hierbei geht es insbesondere um die The-
        men Fachkraft-Kind-Schlüssel und die Qualifizierung
        von Fachkräften. Wichtig ist natürlich auch die Finanzie-
        rung. Deshalb hat sich eine Arbeitsgruppe „Frühe Bil-
        dung weiterentwickeln und Finanzierung sicherstellen“
        gegründet. Sie wird Vorschläge auf den Tisch legen, wie
        gute Qualität in den Kitas bezahlt werden kann.
        Ich bin überzeugt davon, dass alle gemeinsam – Bund,
        Länder und Kommunen – für eine einheitlich gute Ki-
        taqualität und gute Arbeitsbedingungen sorgen können.
        Das ist der richtige Weg.
        Jutta Krellmann (DIE LINKE): Nach wie vor kämp-
        fen die Beschäftigten in den Sozial- und Erziehungsbe-
        rufen um eine Aufwertung ihrer Tätigkeit. Nachdem sich
        die kommunalen Arbeitgeberverbände leider kein Stück
        bewegt haben, wurde nach wochenlangen Streiks nun
        die Schlichtung eingeleitet. Ich hoffe, dass es zu einer
        echten Verbesserung für die Beschäftigten kommt –
        denn das haben sie verdient!
        Die Anforderungen in den Sozial- und Erziehungsbe-
        rufen sind in den letzten Jahren stetig gestiegen, ohne
        dass sich das in angepassten Arbeitsbedingungen oder
        im Gehalt widerspiegelt. Es ist höchste Eisenbahn, hier
        etwas zu tun. Viele Bürgerinnen und Bürger sehen das
        genauso, und es freut mich sehr, dass die Beschäftigten
        in der laufenden Tarifrunde so viel Unterstützung erfah-
        ren. Da können die Arbeitgeberverbände und die Große
        Koalition noch so gegen Gewerkschaften und deren Ver-
        antwortung für das Zusammenbrechen von öffentlicher
        Infrastruktur durch Streiks wettern – die Gesellschaft
        weiß es besser und bringt es auch zum Ausdruck. Wer
        eine gut arbeitende öffentliche Infrastruktur auch im So-
        zial- und Erziehungsbereich haben will, der muss sie
        auch finanziell und personell gut ausstatten. Das ist die
        Aufgabe von Bund, Ländern und Kommunen, und sie
        können sich nicht so einfach aus der Verantwortung steh-
        len.
        Die Tarifrunde zur Aufwertung der Sozial- und Erzie-
        hungsdienste ist noch nicht beendet. Aber eines zeigt sie
        schon jetzt – die Zeit, in der Tarifauseinandersetzungen,
        also der Kampf um bessere Arbeitsbedingungen, im stil-
        len Kämmerlein ohne Beachtung der Öffentlichkeit von-
        stattengehen, ist vorbei. Ohne Druck kein Ruck! Das ist
        die Voraussetzung, um in einer Schlichtung zu einem gu-
        ten Ergebnis zu kommen. Alles andere ist kollektives
        Betteln. Die Menschen machen sich wieder Gedanken
        darum, wie sie arbeiten wollen, und fordern nach Jahren
        der Zurückhaltung spürbare Verbesserungen. Und das
        eben nicht nur für den eigenen Hintern. Im Gegenteil.
        Sie interessieren sich wieder dafür, wie ihre Postboten
        entlohnt werden oder unter welcher Arbeitsverdichtung
        eigentlich der Kitaerzieher ihrer Kinder leidet. Die Men-
        schen denken wieder solidarisch, über das eigene Ar-
        beitsverhältnis oder die eigene Firma hinaus. Sie haben
        verstanden, dass nur durch gegenseitige Unterstützung
        bei dem Kampf um bessere Lebens- und Arbeitsbedin-
        gungen für alle ein Schuh daraus wird, der nicht drückt
        oder zu gesundheitlichen Schäden führt.
        Das ist eine gute Sache und muss uns als Parlamenta-
        rier darin bestärken, die politischen Rahmenbedingun-
        gen und deren Gesetzgebung zu hinterfragen, ob sie
        diese positive Entwicklung fördert oder ihr entgegen-
        steht. Helfen beispielsweise sachgrundlose Befristungen
        wirklich bei einem kontinuierlichen und quantitativen
        Ausbau der Kinderbetreuung? Fördern solch unsichere
        Arbeitsverhältnisse wirklich eine Berufswahl im Sozial-
        und Erziehungsbereich, wo es schon jetzt an qualifizier-
        tem Personal fehlt? Diese und ähnliche Fragen müssen
        wir uns stellen und sie auch beantworten, wenn wir die
        Beschäftigten der Sozial- und Erziehungsberufe und ihre
        Unterstützerinnen und Unterstützer ernst nehmen wol-
        len.
        Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Soziale Arbeit ist mehr wert. Das wissen die Be-
        schäftigten in den Sozial- und Erziehungsberufen schon
        lange. Jetzt reicht es ihnen aber mit den Sonntagsreden.
        Jetzt haben diese Beschäftigten, die in großer Mehrzahl
        Frauen sind, von Mai bis Juni fast einen Monat lang ge-
        10852 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015
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        streikt. Das ist enorm, und das verdient unsere Anerken-
        nung.
        Die gleichen Beschäftigten sind am letzten Wochen-
        ende zu Tausenden auf die Straßen gegangen, um ihrem
        Anliegen Nachdruck zu verleihen. Und sie wurden dabei
        von vielen Menschen unterstützt, deren Kinder in öffent-
        liche Kindergärten gehen oder in Schulen betreut wer-
        den. Ich habe großen Respekt vor diesen Streikenden.
        Denn für Menschen, die anderen Hilfe und Unterstüt-
        zung geben, für diese Menschen ist es nicht selbstver-
        ständlich, auf die Straße zu gehen. Für sie ist es auch
        nicht selbstverständlich, für die eigenen Anliegen zu
        kämpfen. Denn wenn sie das tun, dann lassen sie diejeni-
        gen alleine, denen sie sonst zur Seite stehen. Deshalb
        zeigt dieser Streik erstmals das Ausmaß, wie schlecht es
        um die Arbeitsbedingungen in den Sozialberufen bestellt
        ist. Hier muss endlich etwas passieren. Und ich hoffe,
        die Tarifparteien kommen mithilfe der beiden Schlichter
        zu einem akzeptablen und guten Ergebnis. Denn soziale
        Arbeit ist wirklich mehr wert.
        Der Streik und die Tarifverhandlungen sind natürlich
        Sache der Sozialpartner. Dennoch kann und muss auch
        die Politik etwas tun, um die sozialen Berufe aufzuwer-
        ten. Gerade wir sind gefragt, wenn es um bessere Ar-
        beitsbedingungen geht. Nur die Politik kann Rahmen-
        bedingungen schaffen – für gute und gesunde Arbeit
        auch in den Sozial- und Erziehungsberufen.
        Hier setzt der Antrag der Linksfraktion an. Und das
        ist gut so. Auch wenn wir nicht jede Forderung und jedes
        Detail unterstützen, stimmen wir diesem Antrag den-
        noch zu – denn die Richtung stimmt.
        Ein wichtiger Aspekt fehlt im Antrag ganz: die Forde-
        rung nach Entgeltgleichheit, und das ist mir ein besonde-
        res Anliegen. Frauen verlangen zu Recht, dass ihre päda-
        gogische Arbeit endlich genauso bezahlt wird wie die
        Facharbeit in anderen Bereichen. Heutzutage gelten die
        sozialen Dienste noch immer als Flopbranche, aber
        Chemie, Fahrzeugbau oder Metall als die Topbranchen.
        Männer, die sich um das Innenleben von Autos oder Ma-
        schinen kümmern, haben einen höheren Stellenwert und
        bessere Löhne als Frauen, die sich um Menschen küm-
        mern. Schlecht bezahlte Arbeit ist immer noch Frauensa-
        che. Das ist nicht fair und schon gar nicht gerecht.
        Dabei geht es nicht allein darum, dass Arbeit gleich
        bezahlt wird, sondern es geht um „Gleichen Lohn für
        gleichwertige Arbeit“. Die SPD setzt in erster Linie nur
        auf mehr Transparenz in den Unternehmen. Das greift zu
        kurz und kann nur ein erster Schritt sein. Bringen Sie
        endlich ein Entgeltgleichheitsgesetz auf den Weg, das
        seinen Namen auch verdient. Frauen verdienen mehr! Es
        muss endlich Schluss sein mit der Entgeltdiskriminie-
        rung und es muss Schluss sein mit niedrigen Löhnen in
        frauenspezifischen Berufen.
        Aber zurück zum Antrag: Die Personalbemessung in
        sozialen Einrichtungen muss endlich dem tatsächlichen
        Bedarf entsprechen und darf sich nicht angeblichen
        Sachzwängen unterordnen. Notwendig sind mehr Stellen
        im sozialen Bereich. Als Folge würde es auch weniger
        unfreiwillige Teilzeit geben. Und natürlich sind verbind-
        liche Mindestqualitätsstandards für die öffentliche Kin-
        dertagesbetreuung längst überfällig. Denn hier geht es
        um die Bildungs- und Lebensperspektiven der Kleinsten
        in unserer Gesellschaft. Das muss uns das Geld wert
        sein.
        Wichtig sind darüber hinaus gute und stressreduzierte
        Arbeitsbedingungen. Denn soziale Arbeit kann an die
        Nerven gehen. Die Beschäftigten sind hier oft emotional
        gefordert. Es geht um Zuhören, Unterstützen und stark
        machen. Es müssen Konflikte bewältigt werden. Not-
        wendig sind Geduld und Einfühlungsvermögen. Man-
        ches geht auch unter die Haut. Oft ist die Zeit aber
        knapp. So entsteht Stress – und zwar Stress, der Kraft
        raubt und krank macht. Und deshalb brauchen wir end-
        lich eine Antistressverordnung. Notwendig ist ein Ar-
        beitsschutz, der die Belastungsgrenzen der Beschäftigten
        – gerade im sozialen Bereich – endlich in den Mittel-
        punkt stellt.
        Vor allem muss die sachgrundlose Befristung endlich
        abgeschafft werden – das kann ich der SPD-Fraktion
        nicht ersparen. Mir kann niemand erzählen, Arbeitgeber
        wären dann nicht mehr flexibel genug in ihrer Personal-
        planung. Es gibt eine ausreichend lange Probezeit.
        Kleine Betriebe sind vom Kündigungsschutz befreit.
        Und für die anderen gibt es noch immer die Befristung
        mit sachlichem Grund. Die Flexibilität für die Arbeitge-
        ber darf keine Einbahnstraße sein, denn den Preis für Be-
        fristungen zahlen die Beschäftigten, und der ist zu hoch.
        Die Menschen brauchen Sicherheit für ihre Lebenspla-
        nung. Das gilt natürlich auch für die Beschäftigten in
        den Sozial- und Erziehungsberufen.
        Anstatt den Antrag nach dem Motto „aus den Augen,
        aus dem Sinn“ abzulehnen, erwarte ich von den Regie-
        rungsfraktionen eigene Vorschläge. Nehmen Sie sich des
        Themas an – legen sie endlich etwas auf den Tisch. Auch
        Ihnen sollte soziale Arbeit mehr wert sein.
        Anlage 8
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Internationalen Ju-
        gend- und Schüleraustausch als Fundament in
        der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik
        verankern (Tagesordnungspunkt 21)
        Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): Der Antrag über den
        internationalen Jugend- und Schüleraustausch umfasst
        ein zentrales Thema der deutschen Auswärtigen Kultur-
        und Bildungspolitik und ist an die wichtigste Zielgruppe
        unserer Gesellschaft, nämlich an die junge Generation,
        gerichtet.
        Als Obmann des Unterausschusses für Auswärtige
        Kultur- und Bildungspolitik, ehemaliger Jugendbildungs-
        referent beim evangelischen Landesjugendpfarramt und
        Berater für den Schüler- und Jugendaustausch bei der
        Arbeitsgemeinschaft evangelische Jugend, aej, liegt mir
        dieses Thema sehr am Herzen. Ich kann aus persönli-
        chen Erfahrungen nur ausdrücklich für mehr internatio-
        nalen Jugend- und Schüleraustausch werben, und unser
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10853
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        Antrag ist dafür der richtige Weg. Während meiner Tä-
        tigkeit im Landesjugendpfarramt Sachsen bot ich vielen
        jungen Deutschen die Gelegenheit, sich unmittelbar mit
        jungen Menschen aus unterschiedlichen Ländern auszu-
        tauschen. Ebenfalls bot ich ihnen die Möglichkeit, ihre
        Heimat aus fremder Perspektive zu betrachten. Dieses
        enorme interkulturelle Lernpotenzial spricht unmittelbar
        dafür, den Jugend- und Schüleraustausch im internatio-
        nalen Rahmen auszuweiten und in die Arbeit der Aus-
        wärtigen Kultur- und Bildungspolitik angemessen einzu-
        binden.
        An erster Stelle bringt der kulturelle Austausch junge
        Menschen aus unterschiedlichen Kulturen näher zuei-
        nander, fördert das gegenseitige Verständnis, stärkt Tole-
        ranz und baut Hürden in Form von Stereotypen und Vor-
        urteilen ab. Den Alltag in den deutschen Gastfamilien zu
        erleben, sorgt in den meisten Fällen für ein positives
        Deutschland-Bild auf der individuellen Ebene und legt
        einen Grundstein für ein tieferes Verständnis unserer
        Lebensweise und Kultur. Damit ist der Schüler- und Ju-
        gendaustausch eine wichtige Investition in die Zukunft
        unseres Landes, da wir auf diese Weise oft lebenslange
        Freunde und quasi Botschafter unseres Landes gewin-
        nen. Ein nicht zu unterschätzender Faktor ist zudem die
        auf dem Jugendaustausch basierende Stärkung des Wirt-
        schafts- und Wissenschaftsstandortes Deutschland, denn
        wer einmal einen Bezug zu unserem Land hat, wird sich
        später auch überlegen, hier zu studieren oder zu arbeiten.
        Mit den Kollegen der Koalitionsfraktionen im Unter-
        ausschuss für Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik
        bin ich mir darüber einig, dass wir in gemeinsamer An-
        strengung den internationalen Jugend- und Schüleraus-
        tausch weiter fördern müssen. Um ihn als wichtigen Be-
        standteil der deutschen Auswärtigen Kultur- und
        Bildungspolitik nachhaltig und noch wirksamer zu ge-
        stalten, ist die Einbeziehung der deutschen Mittlerorga-
        nisationen, insbesondere des Auslandsschulwesens, des
        Deutschen Akademischen Austauschdienstes und der
        Goethe-Institute sowie anderer Kulturaustauschprojekte
        der Länder und auch der Kirchen besonders wichtig.
        Deswegen werde ich mich für den gezielten Ausbau der
        Jugend- und Schüleraustauschprogramme einsetzen. Da-
        bei ist es für uns eine Selbstverständlichkeit, dass auch
        junge Menschen mit Behinderung gemäß Artikel 32 der
        UN-Behindertenrechtskonvention stärker in Austausch-
        programme einbezogen werden.
        Weiterhin erscheint es mir als besonders wichtig und
        sinnvoll, dass die aus diesen Austauschprogrammen er-
        standenen Alumninetzwerke gepflegt werden, um dauer-
        haft einen Mehrwert in der interkulturellen Verständi-
        gung zu schaffen. Ein gutes Beispiel für die Erreichung
        dieses Zieles ist das langjährig bewährte IPS-Programm
        des Deutschen Bundestages. In dessen Rahmen vergibt
        der Deutsche Bundestag jährlich Stipendien an politik-
        interessierte junge Menschen aus Mittel-, Ost- und Süd-
        osteuropa, Frankreich, Israel, den USA und dem arabi-
        schen Raum, um die kulturellen Beziehungen mit diesen
        Ländern zu festigen. Schlussfolgernd daraus wäre es be-
        grüßenswert, die im Rahmen der Auswärtigen Kultur-
        und Bildungspolitik geförderten Jugend- und Schüler-
        austauschprogramme an bereits identifizierten Schwer-
        punktregionen der deutschen Außenpolitik auszurichten.
        Nicht zuletzt möchte ich hervorheben, dass die an
        Austauschprogrammen teilnehmenden Jugendlichen hier
        in Deutschland im schulischen, aber auch im beruflichen
        Feld Erfahrungen sammeln können, die ihnen helfen,
        Berufsperspektiven erheblich zu verbessern. Gerade die
        Erfahrung des funktionierenden Systems der dualen be-
        ruflichen Bildung – insbesondere unter Berücksichti-
        gung der dramatisch ansteigenden Zahlen der Jugendar-
        beitslosigkeit in anderen europäischen Ländern – kann
        Ideengeber sein für Veränderungen in der eigenen Hei-
        mat. Daher möchte ich dafür plädieren, bestehende Part-
        nerschaften effektiv auszubauen und gemeinsam mit den
        jeweiligen Staaten weiter zu vertiefen und sie durch die
        Unterstützung der deutschen Mittlerorganisationen zu
        flankieren.
        Das Erleben von Gemeinsamkeit, gemeinsames Le-
        ben, Lernen und Erfahren sind die Grundlage unserer ge-
        meinsamen Zukunft – in Europa und weltweit. Mit dem
        vorliegenden Antrag wollen wir auf dem Feld der Aus-
        wärtigen Kultur- und Bildungspolitik die Bedingungen
        verbessern, um unseren Kindern und Jugendlichen die
        Welt noch besser erfahrbar zu machen.
        Jürgen Klimke (CDU/CSU): Jugendaustausch ist
        nicht nur ein wichtiges politisches Querschnittsthema, es
        ist auch ein Thema, das mich persönlich bewegt: einer-
        seits als Vater von vier Kindern, der selbst an einem
        Jugendaustausch nach England teilgenommen hat, wei-
        terhin als Hamburger, als Bürger einer weltoffenen
        – weil von internationalen Kontakten lebenden – Stadt.
        Außerdem nehme ich seit vielen Jahren die Stipendia-
        ten des Internationalen Parlamentsstipendiums in mei-
        nem Büro auf und wähle im Rahmen des Parlamentari-
        schen Patenschaftsprogramms, PPP, Schüler für ein
        Auslandsjahr in den USA aus.
        Vor diesem Hintergrund hat es mich besonders betrof-
        fen gemacht, dass das Parlamentarische Patenschaftspro-
        gramm zwischen Bundestag und US-Kongress gefährdet
        ist. Begründet ist das darin, dass die USA ihren Anteil
        daran nicht weiter zahlen wollen, weil sie andere Priori-
        täten im Jugendaustausch setzen und mit weniger entwi-
        ckelten Staaten verstärkt zusammenarbeiten möchten.
        Das Parlamentarische Patenschaftsprogramm, das
        bisher paritätisch von beiden Seiten getragen wurde, ist
        jedoch mehr als ein Austauschprogramm. Es wurde
        1983, zum 300. Jahrestag des Beginns der deutschen
        Einwanderung in Pennsylvania, ins Leben gerufen und
        ist schnell ein Symbol deutsch-amerikanischer Freund-
        schaft geworden.
        Das PPP ist ein Programm, das in jedem Jahr große
        politische und mediale Aufmerksamkeit erfährt, auch
        weil Bundestags- und Kongressabgeordnete es als Paten
        begleiten. Deshalb habe ich mich an das Bundeskanzler-
        amt gewandt und die Bundeskanzlerin um Unterstützung
        gebeten. Ich habe die Antwort erhalten, dass Angela
        Merkel dieses Thema auf dem letzten bilateralen Treffen
        mit Barack Obama angesprochen hat und die amerikani-
        10854 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        sche Regierung noch einmal die Streichung der Mittel
        prüfen will. Die Bundeskanzlerin hat zudem, um ihre
        Verbundenheit mit dem Programm zu zeigen, alle dies-
        jährigen Stipendiaten zu einem gemeinsamen Fototer-
        min ins Kanzleramt eingeladen. Für diesen Einsatz bin
        ich ihr sehr dankbar.
        Ich erhoffe mir jedoch ausdrücklich, dass auch alle
        Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundestag über die
        Fraktionsgrenzen hinweg gemeinsam für den Erhalt des
        PPP eintreten und dies bei allen Gesprächen mit Vertre-
        tern des Kongresses und der amerikanischen Regierung
        thematisieren. Dafür möchte ich mich schon im Voraus
        bedanken.
        Doch lassen Sie mich nach dieser Vorrede zu unserem
        Antrag „Internationalen Jugend- und Schüleraustausch
        als Fundament in der Auswärtigen Kultur- und Bil-
        dungspolitik verankern“ kommen.
        In unserem Antrag haben wir den Jugendaustausch in
        seiner Bedeutung ausführlich gewürdigt, nicht nur den
        Aspekt der Völkerverständigung, des Abbaus von Vorur-
        teilen sowie der Bedeutung für sprachliche Kompeten-
        zen. Mir war es vielmehr immer ein Anliegen, herauszu-
        stellen, wie stark gerade ein längerer Austausch die
        persönliche Entwicklung voranbringt. Denn genau diese
        Entwicklung habe ich mehrfach erlebt:
        Die jungen Menschen, die eine längere Zeit im Aus-
        land erlebt haben, waren in ihrer Persönlichkeit entwi-
        ckelter, waren selbstbewusster und selbstständiger im
        Denken, sie waren politisch interessierter und viel stär-
        ker in der differenzierten Analyse von Problemen und
        der Suche nach Lösungen. Ich denke, dass viele von Ih-
        nen dies aus Ihrer täglichen Arbeit bestätigen können.
        Jugendaustausch ist deshalb aus der Sicht eines
        Außen- oder Europapolitikers, eines Wirtschafts- oder
        Bildungspolitikers, aber auch eines Familien- oder
        Sozialpolitikers ein Segen für unsere Gesellschaft, ein
        Segen für unser Land und eine sehr gute Sache auch und
        gerade für die Austauschschüler.
        Deshalb kann ich als Politiker daraus nur eine Konse-
        quenz ziehen, nämlich den Jugendaustausch wo immer
        es geht zu unterstützen.
        Das gestaltet sich in der Praxis jedoch gar nicht so
        einfach. Denn Jugendaustausch ist – wie schon am
        Anfang formuliert – eine echte Querschnittsaufgabe.
        Zuständig sind auf Bundesebene Auswärtiges Amt, das
        Familien- und Jugendministerium, das Bildungsministe-
        rium, das Sozialministerium sowie in gewisser Weise
        das Wirtschaftsministerium. Wenn man die verschiede-
        nen Aspekte – von Förderungen über Stipendien, von
        Visafragen bis zu Sozialleistungen – betrachtet, ergibt
        sich ein buntes Spektrum an Zuständigkeiten, das es den
        Jugendaustauschorganisationen nicht immer einfach
        macht, Anliegen an die richtige Stelle zu bringen. Das
        gilt insbesondere für bildungspolitische Fragen, für die
        die Bundesländer zuständig sind.
        Vor diesem Hintergrund sind Verbesserungen für
        Schüler- und Jugendaustausch mit dem politischen Ge-
        schäft des Bohrens dicker Bretter verbunden. Umso
        mehr freut es mich, dass es uns heute gelungen ist, mit
        unserem Antrag einige substanzielle Punkte einzubrin-
        gen:
        Lassen Sie mich kurz auf drei Aspekte eingehen:
        Austauschprogramme erreichen immer noch zu we-
        nige Jugendliche aus benachteiligten Familien, wo die
        Kinder vielleicht kein Abitur machen und die Eltern
        keine Akademiker sind. Wichtig ist es, gerade Jugendli-
        che aus bildungsferneren Familien zu erreichen, auch
        aus solchen Familien, wo die Eltern Hartz IV beziehen.
        Wichtig ist auch, dass es spezielle Angebote für
        Jugendliche mit Behinderung gibt. In allen diesen Berei-
        chen wollen wir mehr Angebote und eine Neuausrich-
        tung bestehender Programme.
        Die Visavergabe beim Jugendaustausch ist leider häu-
        fig bürokratisch und kompliziert. Oft werden unsinnige
        Anforderungen gestellt, die daraus resultieren, dass die
        Vorschriften der Vergabe nicht auf den Jugendaustausch
        ausgerichtet sind. Kosten und immer neue Vorgaben
        sowie lange Bearbeitungszeiten stellen echte Mobilitäts-
        hemmnisse dar. Hier fordern wir konkrete Erleichterun-
        gen.
        Gastfamilien leisten großartige Arbeit weitgehend un-
        bemerkt von der Öffentlichkeit. Sie nehmen einen Schü-
        ler oft ein ganzes Jahr unentgeltlich bei sich auf und
        bringen ihm unsere Kultur und Lebensart nahe. Sie sind
        Botschafter des Gastgeberlandes, genauso wie der Aus-
        tauschschüler Botschafter seines Landes ist. Wir wollen
        das Engagement stärker würdigen, zum Beispiel durch
        öffentliche Ehrungen, wir wollen aber auch Entlastungen
        für Gasteltern prüfen. In diesem Jahr fand erstmals eine
        Veranstaltung zur Ehrung von Gasteltern im Auswärti-
        gen Amt statt, eine gelungene Veranstaltung, an der
        Staatsministerin Böhmer teilgenommen hat. Das sollte
        fortgeführt werden.
        Jugendaustausch ist der Schlüssel für Völkerverständi-
        gung und den Abbau von Vorurteilen, für Persönlichkeits-
        entwicklung und die Übernahme weltweiter Verantwor-
        tung. Er verdient unsere volle politische Unterstützung.
        Dieser Antrag kann in diesem Sinne nur ein Anfang sein,
        lassen Sie uns darauf aufbauen und den Jugendaustausch
        weiter fördern und unterstützen.
        Ulla Schmidt (Aachen) (SPD): Junge Menschen, die
        die Chance haben, einige Zeit im Ausland zu verbringen,
        machen Erfahrungen, die nicht hoch genug einzuschät-
        zen sind: für ihre Persönlichkeitsentwicklung, ihre sprach-
        liche, soziale und ihre interkulturelle Kompetenz. Aber
        ein solcher Austausch bringt noch viel mehr: lebens-
        lange Freundschaften zwischen den Teilnehmerinnen
        und Teilnehmern und zwischen unseren Ländern. Des-
        halb können wir ohne Scheu sagen: Der europäische und
        internationale Jugend- und Schüleraustausch ist in her-
        vorragender Weise geeignet, gegenseitiges Verständnis
        zwischen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen zu
        fördern, Toleranz zu stärken und ein positives Deutsch-
        landbild zu vermitteln.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10855
        (A) (C)
        (D)(B)
        Tolle Beispiele bieten hierfür etwa das Deutsch-Fran-
        zösische und das Deutsch-Polnische Jugendwerk: Mit
        beiden Ländern verbindet Deutschland eine Geschichte,
        die insbesondere nach den Schrecknissen des Zweiten
        Weltkrieges und den brutalen mörderischen Erfahrungen
        mit Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus von
        Feindseligkeit und Aggression gegenüber Deutschland
        und den Deutschen geprägt war. Es ist erst 70 Jahre her,
        da galt in vielen Ländern: „Only a dead German is a
        good German.“
        Es grenzt fast an ein Wunder, dass wir nun mit Frank-
        reich schon seit vielen Jahren und seit dem Ende des
        Kalten Krieges auch mit Polen ein so freundschaftliches
        Verhältnis pflegen.
        Beides hat viel mit der Arbeit der Jugendwerke zu
        tun. Auch deshalb will die Koalition den internationalen
        Jugend- und Schüleraustausch stärken und dazu unter
        anderem die bestehenden Programme besser vernetzen,
        Jugend- und Schüleraustauschprogramme in von der
        Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik identifizierten
        Schwerpunktregionen intensivieren, neue Austauschpro-
        gramme mit den Staaten Südosteuropas innerhalb und
        außerhalb der EU initiieren, internationale Jugend- und
        Schülerbegegnungen an historischen Gedenkorten, im
        In- und Ausland stärken, darauf hinwirken, dass die
        staatlich geförderten Austauschprogramme, auch die der
        Träger der freien Jugendhilfe, in Deutschland bekannter
        gemacht werden und wichtige Akteure, wie das Aus-
        landsschulwesen und die Goethe-Institute, einbezogen
        werden, um beispielsweise Jugendlichen aus der ganzen
        Welt das erfolgreiche Modell der dualen beruflichen
        Ausbildung näherzubringen.
        Ein Punkt liegt mir besonders am Herzen:
        Der europäische und internationale Jugend- und
        Schüleraustausch bringt junge Leute aus verschiedensten
        Ländern und Kulturen zusammen und befördert dadurch
        gegenseitiges Verständnis und Akzeptanz. Leider haben
        junge Menschen mit Behinderungen bislang nur selten
        die Möglichkeit, an diesen Angeboten teilzunehmen.
        Die UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009
        geltendes Recht in Deutschland ist, fordert in Artikel 32,
        „sicherzustellen, dass die internationale Zusammenar-
        beit Menschen mit Behinderungen einbezieht und für sie
        zugänglich ist“.
        Deshalb will die Koalition junge Menschen mit Be-
        hinderungen künftig noch gezielter in den Austausch
        einbeziehen. Uns ist bewusst, dass uns dies vor neue He-
        rausforderungen stellt: So müssen beispielsweise Träger
        und Gastfamilien gewonnen werden, um junge Men-
        schen mit Behinderungen bei sich aufzunehmen. Aber
        wir packen es an!
        Der vorliegende Antrag ist eine gute Grundlage, um
        den internationalen Jugend- und Schüleraustausch zu
        stärken, und dazu gehört für uns Sozialdemokraten auch,
        zu prüfen, inwieweit Teilnehmende von Programmen
        der Jugend- und Schüleraustauschorganisationen von
        Gebühren für Visa und Aufenthaltstitel befreit werden
        und inwieweit Erleichterungen im Visa-Informationssys-
        tem VIS vorgenommen werden können.
        Azize Tank (DIE LINKE): Ich begrüße sehr, dass der
        vorliegende Antrag die Bedeutung des internationalen
        Jugend- und Schüleraustausches für die Auswärtige Bil-
        dungs- und Kulturpolitik ins Blickfeld nehmen möchte.
        Der internationale Jugendaustausch wird von zahlrei-
        chen Freiwilligen, engagierten Schulen und Jugendaus-
        tauschorganisationen getragen, deren nachhaltige Wir-
        kung für den interkulturellen Dialog und die aktive
        Vermittlung demokratischer Grundwerte oft nicht die ge-
        bührende Beachtung in der Öffentlichkeit findet. Des-
        halb möchte ich mich bei den vielen jungen Teilneh-
        merinnen und Teilnehmern und engagierten Betreuern
        sehr herzlich bedanken.
        Dieses anspruchsvolle Engagement wird allerdings
        durch viele sowohl bürokratische als auch strukturelle
        Hindernisse erschwert. Die Problematik der Visaver-
        gabe, die die Fraktionen der CDU/CSU und SPD in ih-
        rem Antrag ansprechen, ist nur eine von vielen. Dabei
        liegt die Visavergabe in der Hand der antragstellenden
        Regierungskoalition und könnte schnell verbessert wer-
        den. Meine sehr verehrten Damen und Herrn, weisen Sie
        doch endlich die deutschen Botschaften im Ausland an,
        Verpflichtungserklärungen der Jugendaustauschorgani-
        sationen anzuerkennen. Sorgen sie für einheitliche Krite-
        rien bei der Visavergabe und verzichten sie darauf,
        Sprachnachweise zu verlangen, die von Germanistikstu-
        denten an Hochschulen verlangt werden könnten, nicht
        aber von Schülerinnen und Schülern, die im Rahmen ei-
        ner Schulpartnerschaft zu Gastfamilien nach Deutsch-
        land kommen.
        Mit großer Sorge nehme ich zugleich zur Kenntnis,
        dass die verschiedenen Lebensrealitäten der Jugendlichen
        in dem Antrag nicht angemessen gewürdigt werden. Ge-
        nau diese aber stellen eine entscheidende Voraussetzung
        der Teilnahme junger Menschen an grenzüberschreiten-
        den Begegnungen dar. Prekäre Lebenssituationen, wie
        ein erschwerter Zugang zum sozialen Menschenrecht auf
        Bildung sowie Hindernisse bei der kulturellen Teilhabe
        in unserer Gesellschaft verstärken diese bestehenden
        Bildungsbenachteiligungen.
        Jugendliche Migrantinnen, sozial Benachteiligte so-
        wie Kinder mit Behinderungen bzw. Beeinträchtigungen
        sind aufgrund der gesellschaftlichen Rahmenbedingun-
        gen oft von der Teilnahme am Jugendaustausch ausge-
        schlossen.
        Menschen mit beschränktem Aufenthaltsrecht dürfen
        vielfach an Austauschprogrammen gar nicht teilnehmen.
        Hier entsteht in den Schulen ein Zweiklassensystem. Da-
        bei wäre es für eine echte gesellschaftliche Teilhabe von
        Menschen mit Migrationshintergrund gerade wünschens-
        wert, dass sie gemeinsam mit ihren deutschen Mitschülern
        an geschichtspolitischen Bildungsreisen, die zum Bei-
        spiel das Thema Rassismus, soziale Ausgrenzung und
        Antisemitismus im Kontext der deutschen NS-Verbre-
        chen behandeln, teilnehmen. Wäre dies nicht weitaus
        effektiver für die von Ihnen geforderte Stärkung der
        „Willkommens- und Anerkennungskultur“, anstatt Ju-
        gendliche im Rahmen von internationalen Austausch-
        projekten als Botschafter misszuverstehen, die anstatt
        gemeinsamer Begegnung und eines Dialoges auf Augen-
        10856 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        höhe vielmehr ein positives Deutschlandbild zu vermit-
        teln hätten? Jugendliche können nicht zu Missionaren
        des „erfolgreichen deutschen Modells der dualen berufli-
        chen Bildung“ instrumentalisiert werden, wenn gerade
        oftmals die Nichtteilnahme von sozial benachteiligten
        Jugendlichen und Schülern der beste Beweis ist, dass die
        duale Ausbildung kein Allheilmittel zur Lösung sozialer
        Verwerfungen ist.
        Interessierte Jugendliche können dabei den Freiwilli-
        gendienst als Gelegenheit zur Orientierung nach der
        Schule oft nicht in Anspruch nehmen, weil ihnen sonst
        Leistungen wie Arbeitslosengeld oder Wohngeld gestri-
        chen werden würden. Nach wie vor werden Menschen
        mit Behinderung in der Sozialgesetzgebung wie Emp-
        fänger staatlicher Fürsorgeleistungen und nicht wie
        aktive Bürger betrachtet. Eine Teilnahme an einem
        Workcamp oder einer Bildungsreise führt oft zu einem
        Ausschluss von Teilhabeleistungen. Diese Benachteili-
        gungen müssen beendet werden!
        In diesem Sinne ist es fraglich, wie sich die Regie-
        rungskoalitionen vorstellen, der von der Linken geteilten
        Forderung nachzukommen um – ich zitiere – „in beson-
        derer Weise … gezielt benachteiligte Jugendliche und
        junge Menschen mit Behinderung gemäß Artikel 32 der
        UN-Behindertenrechtskonvention“ einzubeziehen, wenn
        im gleichen Atemzug der Vorbehalt formuliert wird,
        dass dies nur „im Rahmen der verfügbaren Haushalts-
        mittel“ zu gewährleisten sei.
        Die verfügbaren Mittel müssen vielmehr aufgestockt
        werden. Es genügt nämlich nicht, die große Bedeutung
        des Deutsch-Französischen Jugendwerkes, DFJW, oder
        des Deutsch-Polnischen-Jugendwerk, DPJW, hervorzu-
        heben und zugleich zu vergessen, dass zum Beispiel das
        DPJW den notwendigen Bedarf und das Interesse der Ju-
        gendlichen an Austausch- und Begegnungsprojekten
        nicht vollumfänglich decken kann. Deshalb sollten die
        Mittel des DPJW aufgestockt werden.
        Die Linke teilt die Einschätzung, dass der Besuch von
        Gedenkstätten, an denen die Relevanz der Geschichte
        für die Gegenwart deutlich wird, gezielt unterstützt und
        gefördert werden muss. Dafür ist es unumgänglich, die
        langfristige Planungssicherheit der Gedenkstätten zu ge-
        währleisten. Viele Gedenkstätten-Mitarbeiter werden
        aufgrund der Notwendigkeit, fehlende Mittel für interna-
        tionale Jugend-Begegnung einzuwerben, mit zusätzli-
        chem Bürokratieaufwand konfrontiert. Dies hindert sie
        daran, ihre pädagogische Expertise in die Begegnungsar-
        beit einzubringen. Ein weiteres gutes Beispiel, dass
        durch finanzielle Unterstützung konkrete Ergebnisse er-
        zielt werden können, sind die Bemühungen um eine
        langfristige Sicherung der Bildungs- und Erinnerungsar-
        beit an den Gedenkorten der ehemaligen deutschen Ver-
        nichtungslager Sobibor und Bełżec als Ergänzung der
        Infrastruktur der bestehenden Gedenkstätten. Die Stif-
        tung „Polnisch-Deutsche Aussöhnung“ arbeitet dort eng
        mit deutschen und polnischen Bildungsträgern zusam-
        men, um die vergessene Geschichte der deutschen Lager
        der sogenannten Aktion Reinhardt aufzuarbeiten und
        diese Gedenkorte als wichtige Orte der Begegnung, Bil-
        dung und des gemeinsamen Dialoges zu entdecken.
        Fundierte Bildungsarbeit und interkulturelle Einbe-
        ziehung von Jugendlichen lässt sich jedoch nur durch
        Bereitstellung zusätzlicher Mittel bewerkstelligen. Hier
        sehen wir noch Nachholbedarf und werden entspre-
        chende Vorschläge unterbreiten. Nur so können die ge-
        nannten Vorhaben realisiert werden. Das Thema ist in
        seiner Gesamtheit von hoher Bedeutung, weshalb die
        Linke dem Antrag auch zustimmt.
        Beate Walter-Rosenheimer (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN): Internationaler Jugend- und Schüleraus-
        tausch ist ein Thema, bei dem sich wahrscheinlich alle
        Fraktionen hier im Bundestag mehr oder weniger einig
        sind: Wir brauchen ihn, und wir wollen ihn stärken.
        Umso mehr bin ich irritiert, dass dieser Koalitionsantrag
        nun „holterdiepolter“ und ohne ordentliche Beratung in
        den Ausschüssen ins Plenum kommt und sofort abge-
        stimmt werden soll.
        Wir debattieren hier nicht über einen politischen Not-
        fall. Es kommt bei der Entscheidung nicht auf jede Mi-
        nute an. Nein. Es geht um internationalen Jugendaus-
        tausch. Den wollen wir schon lange stärken. Das hätten
        wir ohne Probleme auch gemeinsam in den Ausschüssen
        hinbekommen. Mit dieser unnötigen Sofortabstimmung
        bekleckert sich die Koalition in unseren Augen nicht mit
        Ruhm. Wir dürfen schon mal nachfragen: Um was geht
        es Ihnen hier heute eigentlich?
        Die Inhalte des Antrags unterstützen wir in großen
        Teilen. Auch wir wollen Jugend- und Schüleraustausch-
        programme stärken und die Voraussetzungen dafür
        schaffen, dass einmal gewonnene Erfahrungen und Kon-
        takte nicht verloren gehen. Die Stärkung einer Alumni-
        kultur ist da eine gute Sache.
        Aber wir sagen klar: Für uns Grüne ist Jugendaus-
        tausch keine einseitige Veranstaltung. Wir wollen nicht
        einfach nur junge Deutsche ins Ausland schicken. Wir
        wollen ganz gezielt auch, dass junge Menschen aus an-
        deren Ländern nach Deutschland kommen. Wertever-
        mittlung muss eine große Rolle spielen. Wir wollen ei-
        nen Austausch zu fundamentalen Säulen unserer Kultur
        wie Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Menschen-
        rechte. Dazu müssen junge Menschen zusammenkom-
        men, miteinander auf Augenhöhe reden und im besten
        Fall auch mal den Alltag der jeweils anderen kennenler-
        nen.
        Die im Antrag der Koalition angesprochenen Visums-
        erleichterungen sind ein Kernstück grüner Forderungen
        seit Jahren. Wir müssen dafür sorgen, dass Teilneh-
        mende in Jugendaustauschprogrammen nicht vor riesi-
        gen bürokratischen Hürden stehen und ein tolles Vorha-
        ben des internationalen Dialogs an der Verzögerung von
        Visumsentscheidungen scheitert. Das ist natürlich nicht
        nur ein Problem in Deutschland. Aber hier können wir
        aktiv werden und mit gutem Beispiel vorangehen. Wir
        sollten die deutschen Behörden darauf einstellen, den
        Zugang zu Visa für Jugendliche aus anderen Ländern
        zum Zwecke des Austausches so leicht wie möglich zu
        gestalten.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10857
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        Der Antrag der Koalition wäre also kein schlechter
        Aufschlag, wenn wir ihn gemeinsam hätten beraten, aber
        vor allem auch weiterentwickeln können.
        Ein Beispiel: Die Koalition fordert in ihrem Antrag,
        neue Austauschprogramme mit den Ländern Südosteu-
        ropas innerhalb und außerhalb der EU zu initiieren. Die-
        sen Vorschlag können wir Grüne unterstützen. Und ich
        möchte darüber hinausgehen. Wir brauchen im Sinne der
        europäischen Einigung auch mehr Austausch mit den
        Ländern Osteuropas. Ich war an den vergangenen beiden
        Wochenenden in der Ukraine und in Polen, um in den
        Hauptstätten Kiew und Warschau die Demonstrationen
        für gleiche Rechte von Lesben, Schwulen und anderen
        sexuellen Minderheiten zu unterstützen und die politi-
        schen Aktivistinnen und Aktivisten vor Ort kennenzuler-
        nen. Ich kann Ihnen sagen: Die Stimmung besonders in
        Kiew war mehr als aufgeheizt. Grund war eine große
        Gruppe teilweise gewaltbereiter Gegendemonstranten
        und Neonazis, die alles rund um das Thema Homosexua-
        lität als Teufelszeug und westliche Propaganda und euro-
        päischen Sittenverfall darstellen.
        Demgegenüber gab es glücklicherweise vor Ort auch
        eine Menge aufgeschlossener Leute, die die Werte von
        Menschenrechten, Minderheitenrechten und Demokra-
        tie teilen. Ich habe viel diskutiert, auch sehr viel mit jun-
        gen Menschen – mit den Vertreterinnen und Vertretern
        einer neuen Generation, die unsere liberalen Werte tei-
        len. Sie haben ein riesiges Interesse daran, zu erfahren,
        wie in Deutschland demokratische, transparente und die
        Grundrechte schützende Politik gemacht wird und Zivil-
        gesellschaft, Kultur und Wirtschaft funktionieren. Sie
        sollten noch viel mehr die Möglichkeit haben, im Rah-
        men von Jugendaustauschprogrammen problemlos nach
        Deutschland zu kommen.
        Aber auch junge Menschen hierzulande können und
        sollten eine Menge lernen und ihren Horizont erweitern.
        Darum ist es genauso wichtig, dass junge Deutsche unter
        anderem nach Osteuropa gehen, die jeweilige Sprache
        lernen und verstehen, wie die Gesellschaften funktionie-
        ren, wie Menschen dort leben und welche Werte sie tei-
        len. Gerade vor dem Hintergrund wachsender interna-
        tionaler Spannungen muss es für uns heißen: Mehr
        Verständigung bringt mehr Verständnis.
        Besonders für die heutigen Jugendlichen und jungen
        Erwachsenen ist der Austausch so wichtig. Sie werden
        die politische Zukunft Europas für die nächsten Jahr-
        zehnte prägen, wenn wir, liebe Kolleginnen und Kolle-
        gen, schon lange nichts mehr zu melden haben. Wir kön-
        nen aber schon heute positiven Einfluss nehmen und die
        Weichen dafür stellen, indem wir internationalem Ju-
        gendaustausch in Europa und weltweit einen besonderen
        Platz einräumen. Daran sollten wir gemeinsam denken,
        dafür müssen wir gemeinsam arbeiten.
        Leider stellen Sie von der Koalition ganz wesentliche
        Punkte Ihres Antrags unter den Vorbehalt der verfügba-
        ren Haushaltsmittel, verraten aber in keiner Silbe, um
        wie viel Geld es sich genau handeln wird. Wie viel Un-
        terstützung soll es denn wirklich für die Erweiterung des
        internationalen Schüler- und Jugendaustausches geben?
        Kein Wort von Ihnen. Ich hoffe im Sinne des internatio-
        nalen Jugendaustausches sehr, dass es sich hier nicht nur
        um einen Alibiantrag handelt. Schöne Formulierungen
        allein reichen nämlich nicht, wenn gute Programme we-
        gen Geldmangels letztendlich doch nicht zustande kom-
        men. Erwarten Sie wirklich, dass wir da zustimmen? Ich
        muss Sie leider enttäuschen. Eine Debatte in den Aus-
        schüssen hätte auch in Fragen der Finanzierung für Klar-
        heit sorgen können. Das wollen Sie anscheinend nicht.
        Darum können wir diesem in der Sache begrüßenswer-
        ten Antrag nicht zustimmen und enthalten uns.
        Anlage 9
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
        gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än-
        derung des Gesetzes über die internationale
        Rechtshilfe in Strafsachen (Tagesordnungs-
        punkt 23)
        Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Mit dem Gesetz
        zur Änderung des Gesetzes über die internationale
        Rechtshilfe in Strafsachen setzen wir zunächst einmal
        Rahmenbeschlüsse des Rates der Europäischen Gemein-
        schaft um.
        Viel wichtiger erscheint mir jedoch, dass wir über
        diese formale Aufgabe hinaus die Rechte des Beschul-
        digten in einem Ermittlungsverfahren stärken. Ausge-
        wogen und sachorientiert verbessern wir die Rahmen-
        bedingungen zur gegenseitigen Anerkennung von
        Entscheidungen über Auflagen und Überwachungsmaß-
        nahmen zur Vermeidung der Untersuchungshaft.
        So soll zukünftig die Möglichkeit bestehen, Auflagen
        und Überwachungsmaßnahmen zur Vermeidung einer
        Untersuchungshaft im Heimatland zu erfüllen, selbst
        wenn die Festnahme und das Ermittlungsverfahren im
        Ausland erfolgten bzw. eingeleitet wurden. Ein Bundes-
        bürger, der zum Beispiel in Frankreich im Rahmen eines
        dort eingeleiteten Ermittlungsverfahrens zunächst fest-
        genommen wurde, kann nun die Auflagen, die ihm zur
        Vermeidung der Untersuchungshaft in Frankreich ge-
        macht wurden, auch in Deutschland erfüllen. Somit ist
        also die Rückkehr in das Land möglich, in dem der Be-
        schuldigte seinen Wohnsitz hat, indem er dort Auflagen
        wie Hinterlegung einer Geldleistung oder Hausarrest er-
        füllt.
        So soll dem Beschuldigten weiterhin die Möglichkeit
        eröffnet werden, so weit als möglich seine sozialen Kon-
        takte zu pflegen. Wenn es die Entscheidung um die
        Vermeidung der Untersuchungshaft ermöglicht, soll der
        Beschuldigte auch in die Lage versetzt werden, zum Bei-
        spiel seinen beruflichen Verpflichtungen nachzukom-
        men. So werden die Fälle vermieden, in denen der
        Beschuldigte zwar nicht in Untersuchungshaft muss,
        sich das aufgezwungene Fernbleiben vom Arbeitsplatz
        aufgrund des verpflichtenden Auslandsaufenthalts aber
        als existenzgefährdend auswirkt.
        Die gesamte Reichweite der Neuregelung kann man
        sich meines Erachtens zudem erst dann vor Augen füh-
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        ren, wenn man sich vergegenwärtigt, dass ein Haftgrund
        für die Untersuchungshaft vor allem auch die Flucht-
        gefahr ist. Gerade dieser Haftgrund ist aber so gut wie
        immer den Situationen immanent, in denen jemand bei
        einem Auslandsaufenthalt festgenommen wird. So wird
        die Neuregelung gerade in der Praxis eine erhebliche
        Verbesserung erzielen.
        Insgesamt ist diese Zielrichtung richtig und wichtig.
        Sie muss jedoch auch ihre Grenzen haben:
        Trotz aller Erleichterung darf eine Neuregelung nicht
        dazu führen, dass sich ein Beschuldigter letztlich immer
        das Land aussucht, in dem die Auflagen und Überwa-
        chungsmaßnahmen am geringsten sind. Deshalb war
        darauf zu achten, dass auch in dem Land, in dem der
        Beschuldigte während des Ermittlungsverfahrens auf
        seinen Wunsch verweilt, exakt die Auflagen und Über-
        wachungsmaßnahmen gelten, die angeordnet wurden.
        Insgesamt eine – wie ich finde – praxistaugliche Re-
        gelung. Deshalb bitte ich um Zustimmung.
        Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): I. Mit dem
        Gesetz soll der Rahmenbeschluss zur gegenseitigen An-
        erkennung auf Entscheidungen über Überwachungsmaß-
        nahmen als Alternative zur Untersuchungshaft umge-
        setzt werden. Mit ihm wird das Gesetz über die
        internationale Rechtshilfe in Strafsachen geändert.
        Der zugrunde liegende Rahmenbeschluss bezweckt
        die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen An-
        erkennung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäi-
        schen Union auf Entscheidungen über Überwachungs-
        maßnahmen als Alternative zur Untersuchungshaft.
        Durch die Einschränkung „als Alternative zur Unter-
        suchungshaft“ wird aus dem Anwendungsbereich des
        Rahmenbeschlusses die Außervollzugsetzung eines
        Unterbringungsbefehls nach § 126 a Absatz 1 und 2,
        § 116 Absatz 3 StPO ausgenommen wie auch die Über-
        wachungsmaßnahmen im Rahmen der Strafvollstre-
        ckung, insbesondere der Strafaussetzung zur Bewährung
        gemäß §§ 56 ff. StGB und der Führungsaufsicht gemäß
        §§ 68 ff. StGB.
        Für die Anwendbarkeit des Rahmenbeschlusses ist er-
        forderlich, dass die Voraussetzungen aus Artikel 4 Buch-
        stabe a Rahmenbeschluss erfüllt sind. Danach muss eine
        rechtskräftige Entscheidung vorliegen, die während ei-
        nes Strafverfahrens von einer zuständigen Behörde des
        Anordnungsstaats im Einklang mit dem innerstaatlichen
        Recht und den innerstaatlichen Verfahren dieses Staates
        getroffen wurde und mit der gegen eine natürliche Per-
        son als Alternative zur Untersuchungshaft eine oder
        mehrere Überwachungsmaßnahmen verhängt werden.
        Im Rahmenbeschluss werden in Artikel 1 allgemein
        verbindliche Regeln festgelegt, nach denen ein Mitglied-
        staat eine in einem anderen Mitgliedstaat als Alternative
        zur Untersuchungshaft erlassene Entscheidung über Über-
        wachungsmaßnahmen anerkennt, die einer natürlichen
        Person auferlegten Maßnahmen überwacht und die be-
        troffene Person bei Verstößen gegen diese Maßnahmen
        dem Anordnungsstaat übergibt. Hierbei sind die Aner-
        kennung einer Entscheidung über Überwachungsmaß-
        nahmen, die Bewilligung der Übernahme der Überwa-
        chung und die Vollstreckung der Maßnahmen umfasst.
        Eines der Ziele des Rahmenbeschlusses ist es, ein ef-
        fizientes Verfahren zu gewährleisten und insbesondere
        sicherzustellen, dass die betroffene Person vor Gericht
        erscheint, wie es Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe a des
        Rahmenbeschlusses vorsieht. Erreicht werden soll dieses
        Ziel dadurch, dass der Rahmenbeschluss die Möglich-
        keit schafft, beschuldigte Personen im Vollstreckungs-
        staat zu überwachen. Bislang konnte dies nur dadurch
        erreicht werden, dass ein Haftbefehl gegen die beschul-
        digte Person erlassen und sie in Untersuchungshaft ge-
        nommen wurde oder seitens der Behörden auf das
        pflichtgemäße Erscheinen zum Hauptverhandlungster-
        min vertraut wird.
        Des Weiteren soll während eines Ermittlungsverfah-
        rens – soweit angebracht – die Anwendung von Maßnah-
        men ohne Freiheitsentzug in Bezug auf Personen geför-
        dert werden, die ihren Aufenthaltsort nicht in dem
        Mitgliedstaat haben, in dem das Verfahren stattfindet. Es
        soll der Gefahr entgegengewirkt werden, dass Gebiets-
        fremde eher in Untersuchungshaft genommen werden
        als Gebietsansässige. Dahinter verbirgt sich die An-
        nahme, dass ein Gericht bei Ersteren möglicherweise
        schneller zu der Annahme gelangt, es bestehe eine
        Fluchtgefahr.
        Maßnahmen ohne Freiheitsentzug sollen selbst dann
        gefördert werden, wenn nach dem Recht des betroffenen
        Mitgliedstaates Untersuchungshaft nicht von Anfang an
        verhängt werden könnte.
        In einigen Mitgliedstaaten wird in einem Ermittlungs-
        verfahren anfangs kein Haftbefehl erlassen, der dann
        gegebenenfalls gegen Auflagen und Weisungen außer
        Vollzug gesetzt wird. Vielmehr werden zunächst aus-
        schließlich Überwachungsmaßnahmen verhängt. Der Er-
        lass eines Haftbefehls kommt erst dann in Betracht,
        wenn die betroffene Person gegen die Maßnahmen ver-
        stoßen hat. Auch in einem solchen Fall soll der Anwen-
        dungsbereich des Rahmenbeschlusses eröffnet sein. Der
        Rahmenbeschluss ist also anwendbar, unabhängig da-
        von, ob Untersuchungshaft vermieden wird, weil ein be-
        stehender Haftbefehl außer Vollzug gesetzt oder erst gar
        nicht erlassen wird.
        Schließlich wird als Ziel des Rahmenbeschlusses die
        Verbesserung des Schutzes der Opfer und der Allge-
        meinheit genannt. Mit dem Rahmenbeschluss wird somit
        das Spannungsverhältnis zwischen der für eine beschul-
        digte Person geltenden Unschuldsvermutung und der
        staatlichen Pflicht, seine Bürger zu schützen sowie die
        Durchführung eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens zu
        gewährleisten, ausgeglichen.
        II. Obwohl der Bundesrat noch an zwei Punkten Än-
        derungen des Gesetzentwurfes vornehmen wollte, wird
        der Gesetzestext nun in seiner ursprünglichen Form ver-
        abschiedet.
        Der Bundesrat hatte am 08. Mai 2015 zu dem Gesetz-
        entwurf eine Stellungnahme abgegeben. Zu dieser Stel-
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        lungnahme erließ die Bundesregierung eine Gegenäuße-
        rung.
        Erstens. Der Bundesrat schlägt eine Änderung vor,
        die sowohl die Bewilligung ein- und ausgehender Ersu-
        chen als auch die gerichtliche Zuständigkeit für die Ent-
        scheidung über die Zulässigkeit sowie die Überwachung
        von Maßnahmen bei eingehenden Ersuchen betrifft. Bei
        dem Gesetzentwurf zur Verbesserung der internationalen
        Rechtshilfe bei der Vollstreckung von freiheitsentziehen-
        den Sanktionen und bei der Überwachung von Bewäh-
        rungsmaßnahmen hatte der Bundesrat den gleichen Ein-
        wand erhoben. Da dieses Gesetzesvorhaben wie das
        vorliegende am heutigen Tag verabschiedet wird, kann
        an dieser Stelle auf meine dortigen Ausführungen Bezug
        genommen werden. Die Gründe, den Änderungsvor-
        schlag des Bundesrates auch hier abzulehnen, werde ich
        daher nur kurz umreißen.
        Dem Bundesrat ist zwar darin zuzustimmen, dass die
        geplante Regelung eine Abkehr von der bisherigen Zu-
        ständigkeitsregelung im Rechtshilferecht in Strafsachen
        darstellt. Diese Abkehr ist jedoch bewusst vollzogen
        worden. Denn sie stellt eine konsequente Folge aus dem
        Zusammenwachsen Europas im justiziellen Bereich dar.
        Aufgrund des besonderen Vertrauens in die jeweili-
        gen anderen Rechtssysteme und zum Schutz des Raums
        der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist eine Über-
        wachungsanordnung eines Gerichts eines anderen Mit-
        gliedstaates der Europäischen Union anzuerkennen und
        auszuführen, wenn keiner der im Rahmenbeschluss ab-
        schließend aufgezählten Versagungsgründe gegeben ist.
        Dies ist unter anderem der Sinn der Rechtsinstrumente
        der gegenseitigen Anerkennung, zu denen auch der hier
        umgesetzte Rahmenbeschluss gehört.
        Zweitens fordert der Bundesrat in seiner Stellung-
        nahme, die vorgesehenen Vorschriften zur Umsetzung
        des Rahmenbeschlusses komplementär zum Ausliefe-
        rungsrecht in den Achten Teil des IRG einzuordnen.
        Bei der Übernahme einer Überwachungsanordnung
        handelt es sich allerdings nicht um eine der Auslieferung
        vergleichbare Gestaltung, da die zu überwachende Per-
        son ohne Zwang in den Vollstreckungsstaat reist. Auch
        ist die wesentliche Aufgabe der Überwachung nach der
        Grundsatzentscheidung im Vollstreckungsstaat durchzu-
        führen, während im Auslieferungsverfahren nach der
        Überstellungsentscheidung der Ausstellungsstaat tätig
        werden muss. Der Änderungsvorschlag des Bundesrates
        kann daher nicht unterstützt werden.
        III. Der vorliegende Gesetzentwurf stellt eine gelun-
        gene und ausgewogene Umsetzung der genannten Rah-
        menbeschlüsse dar. Somit darf ich um Zustimmung für
        den vorgelegten Gesetzentwurf werben.
        Dirk Wiese (SPD): Mit dem Gesetzentwurf wird
        der Rahmenbeschluss Überwachungsanordnung vom
        23. Oktober 2009 über die Anwendung des Grundsatzes
        der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen
        über Überwachungsmaßnahmen als Alternative zur Un-
        tersuchungshaft in deutsches Recht umgesetzt.
        Lassen Sie mich kurz ein paar Sätze zum Hintergrund
        sagen. Bei dem Rahmenbeschluss Überwachungsanord-
        nung handelte es sich um das zehnte Rechtsinstrument
        des „Maßnahmenprogramms zur Umsetzung des Grund-
        satzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Ent-
        scheidungen in Strafsachen“.
        Kennzeichnend für das Prinzip der gegenseitigen An-
        erkennung sind insbesondere der Grundsatz der gegen-
        seitigen Unterstützungspflicht sowie die Einführung von
        standardisierten Formularen, der überwiegende Verzicht
        auf die Überprüfung der dem Ersuchen zugrunde liegen-
        den ausländischen Entscheidung und der Wegfall der
        Umwandlung der ausländischen Entscheidung.
        Bislang fehlte im grenzüberschreitenden europäi-
        schen Raum ein einheitliches Instrument für eine effek-
        tive Überwachung der Auflagen und Weisungen bei Au-
        ßervollzugssetzung eines Haftbefehls. Mit dem heute zu
        beschließenden Gesetzentwurf schaffen wir nunmehr
        eine entsprechende Regelung zur Übergabe bzw. Über-
        nahme von Überwachungsmaßnahmen zur Vermeidung
        von Untersuchungshaft.
        Lassen Sie mich das kurz an einem Bespiel verdeutli-
        chen – ich spinne einfach mal den fiktiven Fall weiter,
        den der Kollege Ströbele neulich in der ersten Lesung zu
        den Abwesenheitsentscheidungen so schön vorgetragen
        hat –:
        Weil dem Politiker P die Themen ausgegangen sind,
        er sonst noch kaum Beachtung in der Öffentlichkeit fin-
        det und er außerdem das dringende Bedürfnis verspürt,
        das Sommerloch zu füllen, beschließt er, mit seiner
        Hanfpflanze in das europäische Land x zu fahren und
        dort am Strand Fotos von sich und der Hanfpflanze zu
        machen und diese Bilder dann an Kolleginnen und Kol-
        legen mit Urlaubsgrüßen aus der Ferne zu schicken. Da-
        mit möchte P natürlich für die europaweite Legalisie-
        rung des Hanfes eintreten. Leider wird P sehr schnell
        von der Realität eingeholt, denn obwohl P die Rechts-
        lage in dem Land X von seiner fleißigen Referentin R
        hat prüfen lassen, übersieht die studierte Politikwissen-
        schaftlerin leider, dass in dem Land X jeglicher Besitz
        und die Einfuhr von Hanf jedweder Art unter Strafe ste-
        hen. Es kommt also, wie es kommen musste: P packt
        voller Vorfreude die Hanfpflanze am Strand aus, aber
        schneller als sein Fotoapparat klicken die Handschellen
        von herbeigeeilten Ordnungshütern, die den Politiker P
        festnehmen.
        Nun stellen wir uns vor, dass die Rechtslage in
        Land X aber so ist, dass P eigentlich nicht in Untersu-
        chungshaft verbleiben müsste, wenn er Staatsbürger des
        Landes X wäre und gewisse Voraussetzungen wie festen
        Wohnsitz etc. erfüllen würde. Nach alter Rechtslage
        würde P aber zweifelsohne dennoch im Land X wegen
        Fluchtgefahr in Untersuchungshaft verbleiben müssen,
        da es bisher kein Abkommen auf europäischer Ebene für
        solche Fälle gab. Zukünftig können aber, dank des heute
        hier zu verabschiedenden Gesetzentwurfs, die Überwa-
        chungsmaßnahmen im Rahmen des Ermittlungsverfah-
        rens gegen P im europäischen Land X durch Deutschland
        übernommen werden. P ist damit von der Untersuchungs-
        haft befreit und kann, sehr zu seinem Unmut natürlich
        10860 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015
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        ohne seine heiß geliebte Hanfpflanze, nach Deutschland
        zurückkehren und hat, wenn auch anders als gedacht,
        sein Ziel erreicht, denn er ist endlich wieder Thema in
        den Medien.
        Neben dem hier geschilderten Fall ist das natürlich
        auch umgekehrt möglich, das heißt die Übertragung
        deutscher Überwachungsmaßnahmen ist auch an andere
        europäische Mitgliedstaaten möglich.
        Der Gesetzentwurf schafft für die Verfahren selbst na-
        türlich die erforderlichen rechtsstaatlichen Standards; so
        werden die betroffenen Personen beispielsweise ange-
        hört und haben das Recht, Beschwerde einzulegen. Das
        Gericht hat überdies im Rahmen seiner Ermessensaus-
        übung die Pflicht, Maßnahmen, die nach deutschem
        Recht nicht zulässig sind, entsprechend anzupassen.
        Gleiches gilt für Maßnahmen, die nicht hinreichend be-
        stimmt sind. Außerdem hat das Gericht die zu überwa-
        chenden Maßnahmen in seinem Beschluss genau zu be-
        stimmen.
        Liebe Kolleginnen und Kollegen, durch die Harmoni-
        sierung von Überwachungsmaßnahmen im Rahmen von
        Ermittlungsverfahren tragen wir insbesondere dem
        Grundsatz der Unschuldsvermutung sowie der Verhält-
        nismäßigkeit Rechnung und stärken somit den Schutz
        der Grundrechte im europäischen Strafrechtsraum.
        Zukünftig wird unnötige Untersuchungshaft für Per-
        sonen, die in einem EU-Mitgliedstaat beschuldigt wer-
        den und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem ande-
        ren Mitgliedstaat haben und denen allein deshalb eine
        U-Haft droht, vermieden werden.
        Damit stellt der Gesetzentwurf für alle betroffenen
        Personen eine deutliche Verbesserung und Entlastung
        zur bisherigen Rechtslage dar.
        Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Mit dem vorge-
        legten Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die inter-
        nationale Rechtshilfe in Strafsachen soll der Rahmen-
        beschluss 2009/829/JI des Rates vom 23. Oktober 2009
        über die Anwendung – zwischen den Mitgliedstaaten der
        Europäischen Union – des Grundsatzes der gegen-
        seitigen Anerkennung auf Entscheidungen über Überwa-
        chungsmaßnahmen als Alternative zur Untersuchungs-
        haft (ABl. L 294 vom 11. November 2009, Seite 20)
        umgesetzt werden.
        Der Rahmenbeschluss regelt als Alternative zur Un-
        tersuchungshaft – aber auch außerhalb des Eröffnungs-
        bereichs von Untersuchungshaft – den Transfer von
        Überwachungsmaßnahmen ohne Freiheitsentzug – zum
        Beispiel eine Verpflichtung, sich an einem bestimmten
        Ort aufzuhalten oder sich zu bestimmten Zeiten bei einer
        bestimmten Behörde zu melden – von dem Mitglied-
        staat, in dem der Gebietsfremde verdächtigt wird, eine
        Straftat begangen zu haben, an den Mitgliedstaat, in dem
        er einen Wohnsitz hat. Somit soll ein Verdächtiger einer
        Überwachungsmaßnahme in seinem Heimatmitglied-
        staat unterzogen werden können, bis das Verfahren in
        dem anderen Mitgliedstaat stattfindet, anstatt im Anord-
        nungsstaat in Untersuchungshaft genommen zu werden
        oder dort einer Überwachungsmaßnahme ausgesetzt zu
        sein.
        Nun ist es grundsätzlich immer richtig, wenn Haft
        und vor allem Untersuchungshaft vermieden wird. Inso-
        weit ist er im Hinblick auf die Unschuldsvermutung ein
        konstruktiver Beitrag zur Stärkung der Beschuldigten-
        rechte und zu begrüßen.
        Aber, es kommt immer ein Aber, der Gesetzentwurf
        kann das Problem nicht lösen, dass in den Mitgliedstaa-
        ten sehr unterschiedliche Eingangsschwellen zur Ver-
        hängung von Untersuchungshaft bestehen und einige
        Mitgliedstaaten unterhalb der Haftschwelle freiheits-
        beschränkende Überwachungsmaßnahmen anordnen
        können, was zur Konsequenz haben kann, dass im Voll-
        streckungsstaat Auflagen wegen des Tatverdachts hin-
        sichtlich eines Delikts überwacht werden müssen, das
        unterhalb der Haftschwelle liegt. Bei Verstößen gegen
        die Auflagen ergäbe sich die weitere Konsequenz, dass
        der Vollstreckungsstaat den Beschuldigten im Falle des
        Erlasses eines Haftbefehls im Anordnungsstaat an diesen
        übergeben müsste. Während zum Beispiel in Deutsch-
        land die Haftschwelle erreicht sein muss, um den Haft-
        befehl unter Auflagen außer Vollzug zu setzen – Substi-
        tutionsmodell –, existiert zum Beispiel in England/
        Wales, Italien und Polen ein Stufenmodell, wonach auch
        unterhalb der Anordnungsschwelle von Untersuchungs-
        haft freiheitsbeschränkende Maßnahmen zur Sicherung
        des Prozesses verhängt werden können. Sie sehen si-
        cherlich selbst, dass dies ein gravierendes Problem dar-
        stellt. Zwar sieht Artikel 21 Absatz 3 RB EuÜA vor,
        dass die Pflicht zur Rücküberstellung des Beschuldigten
        bei Bagatelltaten, die im Höchstmaß von weniger als
        zwölf Monaten Freiheitsstrafe bedroht sind, durch die
        Mitgliedstaaten abdingbar ist. Von der Abdingung hat
        Deutschland bislang keinen Gebrauch gemacht. Genau
        das wäre aber eine Voraussetzung um unsere Zustim-
        mung zu diesem Gesetzentwurf zur erlangen.
        Darüber hinaus bleibt noch das Problem, dass der
        Rahmenbeschluss grundsätzlich eine Pflicht des
        Vollstreckungsstaats zur Anerkennung von Überwa-
        chungsmaßnahmen vorsieht, die nur in begrenzten Fäl-
        len – Artikel 15 RB EuÜA – vom Vollstreckungsstaat
        zurückgewiesen werden können. Dies führt wiederum
        – wie schon beim Europäischen Haftbefehl etc. –, dazu,
        dass Deutschland Vollstreckungsmaßnahmen auch bei
        Taten, die nach deutschem Recht gar nicht strafrechtlich
        sanktioniert sind, durchführen muss. Wir finden dies
        verfassungsmäßig sehr bedenklich, wenngleich es sich
        bei diesem konkreten Rahmenbeschluss um eine Er-
        leichterung – Überwachungsmaßnahmen als milderes
        Mittel zur Untersuchungshaft – handelt. Aus unserer
        Sicht wäre es ausgesprochen sinnvoll, all diese Aspekte
        noch einmal in einem Berichterstatter/innengespräch zu
        besprechen.
        Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Wir verhandeln hier heute Nacht gleich zwei
        Gesetze im Rahmen der internationalen Rechtshilfe in
        Strafsachen. Bei beiden geht es überwiegend um die Um-
        setzung verschiedener europäischer Rahmenbeschlüsse.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10861
        (A) (C)
        (D)(B)
        Ziel des einen Rahmenbeschlusses ist die Vermeidung
        unnötiger Untersuchungshaft bei Personen mit Wohnsitz
        in einem Mitgliedstaat, die einer Straftat verdächtigt
        werden, die in einem anderen Mitgliedstaat verfolgt
        wird.
        Etwa: Die Person X hat die deutsche Staatangehörig-
        keit und wohnt für drei Monate in Italien. Ihren Lebens-
        mittelpunkt – Familie, Freunde und ihre Arbeit – hat die
        Person aber weiterhin in Deutschland. Während des
        Aufenthalts in Italien wird X in einen Betrugsfall verwi-
        ckelt und ein Ermittlungsverfahren gegen sie eingeleitet.
        Um die Verhängung einer Untersuchungshaft zu vermei-
        den, wird X die Auflage erteilt, sich wöchentlich auf der
        örtlichen Polizeidienststelle zu melden.
        Inzwischen musste X aber wieder nach Deutschland
        zurückkehren, sie muss zurück zu ihrer Familie und auch
        zu ihrer Arbeitsstelle, will sie diese nicht verlieren.
        Durch den Gesetzentwurf können die in Italien ver-
        hängten Auflagen nun auch unter bestimmten Vorausset-
        zungen – zum Beispiel Einverständnis der betroffenen
        Person – in Deutschland überwacht werden.
        Für X ist das ein erheblicher Vorteil – sie kann sich
        nun einfach wöchentlich bei der Polizeidienstelle in der
        Nähe ihrer Heimatstadt melden.
        Auch wir begrüßen diese Möglichkeit, dass Auflagen
        und Weisungen, die ein anderer EU-Mitgliedstaat gegen
        eine Person zur Vermeidung der Untersuchungshaft ver-
        hängt hat, so auch in Deutschland überwacht werden
        können.
        Im vorliegenden Gesetzentwurf wurden im Gegensatz
        zur Vollstreckungsübernahme, die wir zwei Tagesord-
        nungspunkte weiter noch behandeln werden, Anregun-
        gen der Bundesrechtsanwaltskammer aufgenommen: Im
        Vergleich zum Vorentwurf wurde zum Beispiel gestri-
        chen, dass der Beschuldigte über verschiedene Zulässig-
        keitshindernisse, wie Straflosigkeit nach deutschem
        Recht oder Schuldunfähigkeit, frei disponieren konnte
        und durch seine Zustimmung diese Hindernisse überwun-
        den wurden. Dieser problematische Teil ist nun nicht
        mehr enthalten. Die genannten Zulässigkeitshindernisse
        gelten.
        Ein paar Grundprobleme bleiben gleichwohl beste-
        hen: Die EU-Mitgliedstaaten haben unterschiedliche
        Eingangsschwellen zur Verhängung von Untersuchungs-
        haft. In einigen Mitgliedstaaten können freiheitsbe-
        schränkende Überwachungsmaßnahmen auch schon un-
        terhalb der Haftschwelle angeordnet werden. Mögliche
        Folge ist, dass beispielsweise in Deutschland Auflagen
        zu einem möglicherweise begangenen Delikt überwacht
        werden müssen, das hierzulande unterhalb der Haft-
        schwelle liegt. Verstößt nun der Tatverdächtige, zum
        Beispiel die X aus dem oben genannten Beispiel, gegen
        die ihr auferlegte Meldepflicht, müsste Deutschland sie
        an Italien übergeben, sofern es einen Haftbefehl erlässt.
        Im Rahmen der internationalen Rechtshilfe ergeben
        sich immer wieder Probleme daraus, dass EU-Mitglied-
        staaten unterschiedliche Verfahrensordnungen und Min-
        deststandards haben.
        In dem eben genannten Fall ist es dennoch vertretbar,
        wenn Deutschland die Überwachung übernimmt – selbst
        wenn X im Falle eines Verstoßes gegen die Auflagen
        wieder nach Italien geschickt werden müsste. Denn
        letztlich wäre sie dann nicht schlechter gestellt, als wenn
        das Instrument der Überwachungsübernahme nicht exis-
        tieren würde. Anders ist es im Falle der Vollstreckung
        von Haft aus Urteilen, die die Höchststrafe nach deut-
        schem Recht übersteigen, oder Haft aus Urteilen zu De-
        likten, die nach deutschem Recht nicht strafbar sind.
        Hier liegt ein sehr viel intensiverer Eingriff vor als bei
        Überwachung von bestimmten Auflagen.
        An einigen Stellen sehen wir dennoch Nachbesse-
        rungsbedarf.
        Damit nicht jeder kleinere Verstoß gegen eine Über-
        wachungsmaßnahme dazu führt, dass der Anordnungs-
        staat unterrichtet wird und unter Umständen um Ausliefe-
        rung des Tatverdächtigen ersucht, sollte § 90 w IRG-E,
        der die Durchführung der Überwachung regelt, geändert
        werden. Statt eines einfachen Verstoßes gegen jede
        Überwachungsmaßnahme sollten nur schwerwiegende
        oder grobe Verstöße erheblich sein. Das entspricht dem
        § 116 Absatz 4 StPO.
        Ansonsten müsste X, der einen Meldetermin ver-
        schläft, fürchten, dass dies umgehend der zuständigen
        italienischen Behörde gemeldet würde. Das wäre unver-
        hältnismäßig und erzeugt nur unnötigen Aufwand.
        Warum die Zustimmung der zu überwachenden Per-
        son entbehrlich ist, wenn die Person bereits in den Voll-
        streckungsstaat zurückgekehrt ist, leuchtet auch nicht
        ein.
        Das Ermittlungsverfahren gegen X läuft – sie will
        aber gar nicht längerfristig nach Deutschland zurückkeh-
        ren, sondern ist nur für einen Wochenendbesuch nach
        Deutschland gekommen. Soll sie damit konkludent ihr
        Einverständnis zur Übernahme der Meldeauflagen erteilt
        haben? Das erscheint unbillig. Auch in diesen Fällen
        hätte die Bundesregierung weiterhin die Einholung der
        Zustimmung vorsehen sollen.
        Widersprüchlich ist, dass die Überwachung in Steuer-,
        Zoll- und Währungsangelegenheiten nach der einen Vor-
        schrift zulässig ist, wenn deutsches Recht keine solche
        Bestimmungen enthält. Andererseits sollen aber nur
        dann Überwachungsmaßnahmen zulässig sein, wenn
        auch nach deutschem Recht eine Strafe verhängt werden
        könnte.
        Warum diese Ausnahme in Steuer-, Zoll- und Wäh-
        rungsangelegenheiten gilt, lässt sich allenfalls mit dem
        Vorliegen einheitlicher europäischer Vorschriften für
        diese Bereich erklären.
        Die vorgelegte Regelung zur Übernahme der Überwa-
        chung von Auflagen und Weisungen wahrt die Interes-
        sen von Betroffenen überwiegend, ohne zu erheblicher
        Verletzung des deutschen Rechts zu führen.
        Deshalb stimmen wir zu.
        10862 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        Anlage 10
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
        gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär-
        kung des Rechts des Angeklagten auf Vertre-
        tung in der Berufungsverhandlung und über die
        Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen
        in der Rechtshilfe (Tagesordnungspunkt 24)
        Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): I. Am 15. Ja-
        nuar 2015 debattierten wir in erster Lesung zu diesem
        Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag. Im parlamenta-
        rischen Verfahren war es möglich, den zunächst vorge-
        legten Gesetzentwurf an entscheidenden Stellen noch zu
        verändern und zu verbessern. Der heute zu verabschie-
        dende Gesetzestext ist nun ausgewogen und gelungen.
        In dem Gesetz geht es um Folgendes:
        Nach § 329 Absatz 1 Satz 1 der Strafprozessordnung,
        StPO, ist eine Berufung des Angeklagten ohne Verhand-
        lung zur Sache zu verwerfen, wenn der Angeklagte zu
        Beginn der Berufungshauptverhandlung ohne genü-
        gende Entschuldigung nicht erscheint. Bislang galt das
        auch dann, wenn für ihn ein Verteidiger mit schriftlicher
        Vollmacht erschienen war, jedoch keiner der wenigen
        Ausnahmefälle vorlag, in denen die Strafprozessordnung
        eine Vertretung des Angeklagten im Hauptverhandlungs-
        termin zulässt.
        Mit Urteil vom 8. November 2012 hat der Europäi-
        sche Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass
        die Verwerfung einer Berufung nach § 329 Absatz 1
        Satz 1 StPO im Fall des Erscheinens eines Verteidigers
        des Angeklagten eine Verletzung des durch Artikel 6
        Absatz 1 EMRK garantierten Rechts auf ein faires Ver-
        fahren in Verbindung mit dem durch Artikel 6 Absatz 3
        Buchstabe c EMRK garantierten Recht des Angeklagten,
        sich durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu
        lassen, darstelle.
        Am 26. Februar 2009 hat der Rat der Europäischen
        Union ferner den Rahmenbeschluss zur Stärkung der
        Verfahrensrechte von Personen und zur Förderung der
        Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Aner-
        kennung auf Entscheidungen, die im Anschluss an eine
        Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person
        nicht erschienen ist, verabschiedet. Dieser Rahmen-
        beschluss hat zum Ziel, die Regelungen der gegenseiti-
        gen Anerkennung beziehungsweise der Vollstreckung
        von Abwesenheitsentscheidungen, die bereits in den
        Instrumenten zur gegenseitigen Anerkennung justizieller
        Entscheidungen vorhanden sind, zu ergänzen und zu
        vereinheitlichen und damit die Rechte der betroffenen
        Person zu stärken.
        § 329 StPO und § 340 StPO wurden daher im Hin-
        blick auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für
        Menschenrechte dahin gehend geändert, dass eine Ver-
        werfung der Berufung des Angeklagten nicht mehr erfol-
        gen darf, wenn statt des Angeklagten ein entsprechend
        bevollmächtigter und vertretungsbereiter Verteidiger in
        einem Termin zur Berufungshauptverhandlung erschie-
        nen ist. Anstelle der nicht mehr zulässigen Verwerfung
        soll in Anwesenheit des Verteidigers ohne den Ange-
        klagten verhandelt werden, soweit nicht besondere
        Gründe dessen Anwesenheit erforderlich machen.
        Besonders wichtig war bei der Neuregelung, dass sich
        diese an den Grundsätzen des deutschen Strafprozess-
        rechts messen lassen kann. Dies gilt insbesondere bei der
        jetzt vorliegenden Regelung, nach der beim Ausbleiben
        des Angeklagten eine Berufungsverhandlung grundsätz-
        lich möglich wird, wenn er sich durch einen Verteidiger
        mit schriftlicher Vertretungsvollmacht vertreten lässt.
        II. Im Folgenden werde ich mich darauf beschränken,
        die Änderungen seit dem vorgelegten Gesetzentwurf
        darzustellen. Diese betreffen den § 329 Absatz 2, 3 und 4
        und den § 340 StPO.
        1. Mit den neu gefassten Vorschriften über das Ver-
        fahren bei unentschuldigter Abwesenheit des Angeklag-
        ten soll klargestellt werden, dass die Durchführung der
        Hauptverhandlung ohne den Angeklagten in diesen Fäl-
        len nicht der gesetzliche Regelfall ist. Vielmehr ist eine
        Anwesenheit des Angeklagten auch künftig für eine
        Sachentscheidung des Berufungsgerichts immer dann
        erforderlich, wenn eine solche Entscheidung allein auf-
        grund der vom anwesenden Verteidiger für den Ange-
        klagten abgegebenen Erklärungen nicht möglich ist. In
        den zulässigen Grenzen soll zudem die Möglichkeit ei-
        ner Verwerfung der Berufung des Angeklagten in den
        Fällen geschaffen werden, in denen seine Anwesenheit
        trotz der Vertretung durch einen Verteidiger für eine
        Sachentscheidung erforderlich ist und er einer Ladung
        zu einem Fortsetzungstermin unentschuldigt keine Folge
        leistet.
        2. In § 329 Absatz 2 StPO-E soll der Begriff der „be-
        sonderen Gründe“, der auf eine Ausnahmeregelung hin-
        deuten könnte, durch eine neutrale Formulierung ersetzt
        werden. Das Gericht hat danach stets zu prüfen, ob die
        Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung
        erforderlich ist. Hierfür muss es sämtliche Gesichts-
        punkte, insbesondere auch die vom Verteidiger für den
        Angeklagten abgegebenen Erklärungen, berücksichti-
        gen. Es kann dabei auf die zu § 236 StPO entwickelten
        Grundsätze zurückgreifen, die in den bereits nach gel-
        tendem Recht zulässigen Fällen von Abwesenheits-
        verhandlungen das Erzwingen des persönlichen Erschei-
        nens des Angeklagten ermöglichen und zugleich
        begrenzen. Die vorgeschlagenen Änderungen in § 329
        Absatz 3 und 4 StPO-E sollen einerseits klarstellen, dass
        das Berufungsgericht die Notwendigkeit des persönli-
        chen Erscheinens des Angeklagten während des gesam-
        ten Verlaufs der Berufungshauptverhandlung prüfen und
        feststellen kann. Dies ermöglicht es insbesondere, die
        Ausführungen des Verteidigers in diese Prüfung einzu-
        beziehen. Kann die Hauptverhandlung danach nicht
        ohne Anwesenheit des Angeklagten durch eine eigene
        Sachentscheidung des Gerichts abgeschlossen werden,
        soll es für die Fälle, in denen die Staatsanwaltschaft Be-
        rufung eingelegt hat oder in denen das Verfahren nach
        einer Zurückverweisung erneut zu verhandeln ist, nach
        Absatz 3 dabei bleiben, dass der Angeklagte vorgeführt
        oder verhaftet werden kann, soweit dies verhältnismäßig
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10863
        (A) (C)
        (D)(B)
        ist, also insbesondere nicht zu erwarten ist, dass der
        Angeklagte in einem neuen Termin allein aufgrund
        nochmaliger Ladung freiwillig erscheinen wird.
        Ist dagegen über eine vom Angeklagten eingelegte
        Berufung zu entscheiden, wird vorgeschlagen, in Absatz 4
        anstelle der Vorführung oder Verhaftung eine Unterbre-
        chung der Hauptverhandlung vorzusehen und den Ange-
        klagten zum Fortsetzungstermin unter ausdrücklicher
        Anordnung seines persönlichen Erscheinens zu laden.
        Hierdurch soll es dem Gericht ermöglicht werden, die
        Berufung im Fortsetzungstermin, zu dem der ordnungs-
        gemäß geladene Angeklagte erneut nicht erschienen ist,
        zu verwerfen, ohne dass dabei das Recht des erschiene-
        nen Verteidigers auf Vertretung des Angeklagten in der
        Hauptverhandlung verletzt wird. Der Verteidiger hatte
        nämlich in dem Hauptverhandlungstermin die Gelegen-
        heit, für den Angeklagten umfassend vorzutragen. Diese
        Möglichkeit ist ihm, wenn er in dem Fortsetzungstermin
        erscheint, nochmals einzuräumen. Die Möglichkeiten ei-
        ner Vertretung enden aber dort, wo die persönliche An-
        wesenheit des Angeklagten für eine Sachentscheidung
        erforderlich ist. Das kann beispielsweise der Fall sein,
        wenn das Gericht zum Beispiel einen Abgleich der Per-
        son des Angeklagten mit einem Lichtbild vornehmen
        oder ihn mit einem Zeugen konfrontieren muss, um die
        Identität des Angeklagten zu klären. Die Anwesenheit
        des Angeklagten kann ferner erforderlich sein, wenn der
        Vortrag des Verteidigers für das Gericht erkennbar lü-
        ckenhaft ist oder Widersprüche aufweist. Schließlich
        kann auch der persönliche Eindruck vom Angeklagten
        für die Urteilsfindung des Gerichts wesentlich sein.
        Die vorgeschlagene Regelung trägt dem Rechnung.
        Außerdem können freiheitsbeschränkende Zwangsmaß-
        nahmen gegen den Angeklagten vermieden werden,
        sodass die vorgeschlagene Lösung dem Verhältnis-
        mäßigkeitsgrundsatz in besonderer Weise gerecht wird.
        Schließlich gewährleistet die Regelung, wonach eine
        Verwerfung nur bei einer Unterbrechung, nicht auch bei
        einer Aussetzung und Neuterminierung möglich ist,
        nicht nur die Einhaltung des Rechts auf effektive Vertei-
        digung in dem jeweiligen Termin, sondern trägt zugleich
        zu einer Verfahrensbeschleunigung bei.
        3. Die vorgeschlagene Änderung des § 340 StPO,
        Vorschrift über die Einschränkung der Revisionsgründe
        bei einer Abwesenheitsentscheidung, übernimmt zu-
        nächst die geänderte Terminologie des § 329 Absatz 2
        StPO-E. Sie umschreibt sodann genauer als die im
        Regierungsentwurf vorgesehene Regelung, dass die
        Beschränkung der Verfahrensrüge nur in den Fällen zur
        Anwendung gelangt, in denen nach § 329 Absatz 2
        StPO-E verfahren wurde.
        III. Nachdem an dem zunächst vorgelegten Gesetz-
        entwurf an wichtigen Stellen Änderungen vorgenommen
        wurden, ist es nun gelungen, einen ausgewogenen Ge-
        setzentwurf vorzulegen. Somit darf ich um Zustimmung
        für den Gesetzentwurf werben.
        Ich darf aber an dieser Stelle auch noch einmal Dank
        an alle sagen, die mit den parlamentarischen Beratungen
        betraut waren. Der nun vorliegende Gesetzentwurf war
        in seiner Ausgewogenheit nur realisierbar, weil die Zu-
        sammenarbeit effizient und ergebnisorientiert ablaufen
        konnte.
        Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Heute debattieren
        und beschließen wir die Umsetzung eines Urteils des
        Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Es geht
        um die Frage, ob sich der Angeklagte in der Berufungs-
        verhandlung durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen
        kann.
        Für einen Strafprozess in Deutschland gilt der Grund-
        satz, dass kein Urteil gefällt wird, wenn der Angeklagte
        in der Verhandlung nicht anwesend war. Dieses Prinzip
        hat sich als richtig erwiesen: Für den Angeklagten geht
        es um die Sicherstellung des Grundrechts auf rechtliches
        Gehör. Dem Gericht wird die Chance eingeräumt, die
        Wahrheit zu finden. Dazu soll sich das Gericht auch ei-
        nen persönlichen Eindruck vom Angeklagten verschaf-
        fen können.
        Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Men-
        schenrechte besagt, dass der Grundsatz des Rechts auf
        ein faires Verfahren verletzt sei, wenn ein verteidigungs-
        bereiter Verteidiger, der bevollmächtigt worden ist, in
        der Berufungsverhandlung nicht verhandeln kann, son-
        dern das Verfahren durch Urteil abgewiesen wird.
        Das Urteil kann nicht durch eine geänderte Recht-
        sprechung der Gerichte umgesetzt werden, da es dem
        vorgenannten Prinzip in einer Mehrzahl von niederge-
        schriebenen Regelungen in unserer Strafprozessordnung
        widerspricht. Es ist Aufgabe des parlamentarischen
        Gesetzgebers, eine Änderung des Gesetzestextes vorzu-
        nehmen und damit eine Regelung zu treffen, die die Vor-
        gaben des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für
        Menschenrechte umsetzt.
        In dem vorliegenden Gesetzentwurf und insbesondere
        im Änderungsantrag der Regierungsfraktionen gelingt
        der Spagat zwischen der Umsetzung des Urteils, ohne
        das Prinzip der Anwesenheit des Angeklagten in der Be-
        rufungsverhandlung im deutschen Recht aufzugeben.
        Nunmehr ist die Abwesenheit des Angeklagten in der
        Berufungsverhandlung möglich. Für eine gerechte Sach-
        entscheidung bleibt es aber den Gerichten offen, die
        Notwendigkeit des persönlichen Erscheinens des Ange-
        klagten festzustellen. Den Gerichten wird ein umfassen-
        des Prüfungsrecht eingeräumt, das die Feststellung der
        Notwendigkeit des persönlichen Erscheinens im Verlauf
        des ganzen Verfahrens möglich macht. Dies bedeutet,
        dass auch nach Beginn eines Verfahrens das Erscheinen
        des Angeklagten noch festgestellt werden kann.
        Das persönliche Erscheinen des Angeklagten wird
        vor allem dort notwendig sein, wo die Ausführungen des
        Verteidigers für die Wahrheitsfindung nicht genügen.
        In diesem Zusammenhang sollten wir uns nochmals
        vor Augen führen, dass ein Rechtsanwalt niemals einen
        Angeklagten ersetzen kann. Der Verteidiger spricht für
        den Angeklagten und nimmt seine Interessen in der Ge-
        richtsverhandlung wahr. Er ist aber zugleich Organ der
        Rechtspflege. Der Grundsatz der Selbstbelastungsfrei-
        heit, der auch das Recht zur Lüge umfasst, gilt in unein-
        10864 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        geschränktem Maß nur für den Betroffenen eines Straf-
        verfahrens. Diesen Grundsatz gilt es zu wahren.
        Ich hoffe, dass die Gerichte von diesem Prüfungsrecht
        zur Notwendigkeit der Anwesenheit des Angeklagten in
        der Berufungsverhandlung umfassend Gebrauch ma-
        chen. Ich bin weiterhin überzeugt, dass eine gerechte
        Wahrheitsfindung, abgesehen von Ausnahmefällen, nur
        mit einem anwesenden Angeklagten möglich ist. Das in
        der Strafprozessordnung verankerte Prinzip der Anwe-
        senheit des Angeklagten hat sich bewährt und bean-
        sprucht weiterhin Geltung.
        Dirk Wiese (SPD): Wie bereits in der ersten Lesung
        von mir dargestellt, sind die Kernstücke des vorliegen-
        den Gesetzentwurfes die Umsetzung des Neziraj-Urteils
        des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die
        Neuregelung des § 329 StPO sowie die Umsetzung des
        EU-Rahmenbeschlusses „Abwesenheitsentscheidun-
        gen“ des Rates aus dem Jahre 2009.
        Entsprechend der Urteilsvorgabe des Europäischen
        Gerichtshofs für Menschenrechte soll künftig ein Nicht-
        erscheinen des Angeklagten nicht mehr zwingend zur
        Verwerfung der Berufung führen, sofern ein nachweis-
        lich zur Vertretung bevollmächtigter Verteidiger an sei-
        ner statt erscheint und eine Anwesenheit des Angeklag-
        ten nicht aus besonderen Gründen erforderlich ist.
        Ich habe bereits in der letzten Lesung angekündigt,
        dass wir die Kritik an dem Gesetzentwurf in seiner ur-
        sprünglichen Fassung ernst nehmen. Deswegen hat sich
        nunmehr für diesen Gesetzentwurf das Struck’sche Ge-
        setz bewahrheitet, denn auch dieses Gesetz wird den
        Bundestag nicht so verlassen, wie es hineingekommen
        ist.
        Wir haben uns in den Ausschussberatungen insbeson-
        dere der Vorschriften zur Vertretung in der Berufungs-
        hauptverhandlung angenommen, und das Ergebnis ist
        der Änderungsantrag, den wir heute hier vorlegen. Da-
        nach soll das grundsätzliche Regelungskonzept zwar
        beibehalten werden. Künftig werden die Berufungsge-
        richte also in allen Fällen, in denen die Anwesenheit des
        Angeklagten für die Entscheidung nicht erforderlich ist,
        die Berufungshauptverhandlung mit dem als Vertreter
        erschienenen Verteidiger durchführen können.
        Ist die Anwesenheit des Angeklagten jedoch erforder-
        lich, so kann die Sicherstellung seiner Anwesenheit in
        einem Folgetermin, seine Vorführung oder Verhaftung,
        angeordnet werden. § 329 Absatz 2 StPO-E haben wir
        gegenüber dem ursprünglichen Entwurf aber dergestalt
        angepasst, dass klar wird, dass der Gesetzgeber keine
        dieser beiden Optionen als gesetzlichen Regelfall aus-
        gestalten will. Lassen Sie mich hier auch noch einmal
        ausdrücklich klarstellen, dass hier kein Recht auf
        Abwesenheit des Angeklagten in der Berufungshaupt-
        verhandlung begründet werden soll.
        Ferner haben wir die Möglichkeit geschaffen, in
        engen Grenzen auch weiterhin eine Verwerfung der Be-
        rufung zu ermöglichen, indem wir in § 329 Absatz 4
        StPO-E die Möglichkeit geschaffen haben, die Haupt-
        verhandlung zu unterbrechen und die Berufung im Fort-
        setzungstermin zu verwerfen, wenn der Angeklagte dort
        erneut unentschuldigt nicht erscheint. Das ist ein guter
        Kompromiss, mit dem wir den zwingend erforderlichen
        Vorgaben des EGMR-Urteils „Neziraj“ gerecht werden.
        Ich darf an dieser Stelle noch mal ausdrücklich darauf
        hinweisen, dass die bisherige Verwerfungslösung nach
        diesem Urteil nicht beibehalten werden darf – und wir
        gleichzeitig auch den Kritikern am ursprünglichen Ge-
        setzentwurf entgegenkommen.
        Mit der Neureglung bieten wir den Berufungsgerich-
        ten künftig drei praktikable Handlungsoptionen:
        Erstens das „Durchverhandeln“ mit dem erschienenen
        Verteidiger, zweitens die Vorführung oder Verhaftung
        des unentschuldigt nicht erschienenen, aber für eine
        Sachentscheidung zwingend benötigten Angeklagten
        und drittens die Unterbrechung der Hauptverhandlung
        und Verwerfung bei neuerlichem unentschuldigtem Aus-
        bleiben.
        Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Bereits am 15. Ja-
        nuar 2015 haben wir im Plenum über dieses Thema ge-
        sprochen. Der Gesetzentwurf soll das Recht des oder der
        Angeklagten auf Vertretung in Berufungsverhandlungen
        stärken. Gleichzeitig soll der Rahmenbeschluss über die
        Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der
        Rechtshilfe umgesetzt werden. Der Europäische Ge-
        richtshof für Menschenrechte hat mit Urteil vom 8. No-
        vember 2012 entschieden, dass das in Artikel 6 Absatz 3
        der EU-Menschenrechtskonvention garantierte Recht
        des Angeklagten, sich in einer Strafsache durch einen
        Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen, dann ver-
        letzt ist, wenn das Gericht die Berufung des abwesenden
        Angeklagten trotz Erscheinens eines von ihm bevoll-
        mächtigten Verteidigers als Vertreter verwirft. Vor die-
        sem Hintergrund ist der § 329 StPO unstreitig zu ändern.
        Ich hatte bereits in der ersten Lesung ausgeführt, dass
        das, was sie vorschlagen, nicht komplett falsch ist. Ge-
        rade wenn ich mir das Protokoll der damaligen Debatte
        noch einmal ansehe, muss ich aber feststellen, dass nicht
        alle aufgeworfenen Fragen geklärt werden konnten.
        Ich hatte bereits in der ersten Lesung die Änderung
        des § 329 Absatz 1 Satz 2 StPO angesprochen. In ihm
        ist vorgesehen, dass unter bestimmten Bedingungen die
        Berufung des Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache
        dennoch verworfen werden kann. Dies ist der Fall, wenn
        der vertretungsberechtigte Verteidiger aus irgendeinem
        Grund den Saal verlässt, wenn der Angeklagte selber im
        Prozess anwesend war und während der Verhandlung
        geht und wenn er sich drittens extra verhandlungsunfä-
        hig macht und deshalb nicht erscheinen kann. Der Kol-
        lege Ströbele hatte in der ersten Lesung vorgeschlagen,
        diese Ausnahmen wieder zu streichen. Dem stimme ich
        zu, denn es würde dem EGMR-Urteil besser gerecht
        werden.
        Nun kann ich Ihre Begründung, es solle verhindert
        werden, dass ein Verfahren verzögert und eine weitere
        Verhandlung vereitelt wird, aber durchaus nachvollzie-
        hen. Deshalb hatte ich vorgeschlagen, dass in diesen Fäl-
        len zunächst eine Zweitansetzung vorgeschrieben wird.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10865
        (A) (C)
        (D)(B)
        Wenn eine Zweitansetzung gesetzlich festgeschrieben
        wird und auch zu dieser niemand erscheint, dann wäre es
        aus meiner Sicht nachvollziehbar, ohne Verhandlung zur
        Sache zu entscheiden. Dann wären die Einschränkungen,
        die Sie vornehmen, auch nicht so gravierend. Denn dann
        kann tatsächlich davon ausgegangen werden, dass der
        Angeklagte oder der Rechtsanwalt, der den Angeklagten
        vertritt, kein Interesse mehr am Verfahren hat. In meinen
        Augen hätte das die Option eröffnet, die Ausnahmen
        nicht zu streichen und trotzdem dem von Ihnen formu-
        lierten Interesse an einer Verhinderung einer Verfahrens-
        verzögerung gerecht zu werden. Die Zweitansetzung
        wäre also ein sinnvoller Kompromiss geworden. Leider
        haben Sie weder den Vorschlag des Kollegen Ströbele
        noch meinen Vorschlag in Ihrem Änderungsantrag auf-
        gegriffen.
        Die nach § 329 Absatz 4 StPO mögliche Verhandlung
        in Abwesenheit des Angeklagten, der nicht entschuldigt
        fehlt und auch nicht durch einen Verteidiger vertreten
        wird, finde ich aber höchst problematisch. Denn die vor-
        geschlagene Regelung vernachlässigt, dass die Anwe-
        senheit des Angeklagten während der Verhandlung eine
        sehr wichtige Voraussetzung für ein faires Verfahren ist.
        So wird der verfassungsrechtliche Anspruch auf rechtli-
        ches Gehör verwirklicht und abgesichert, dass der Ange-
        klagte nicht zum bloßen Objekt staatlichen Handelns
        wird. Zugleich dient dies auch der Wahrheitsfindung,
        weil sich der Richter einen Eindruck von dem Angeklag-
        ten und seiner etwaigen Einlassung machen kann und
        weil der persönliche Eindruck für die Rechtsfolgenbe-
        stimmung maßgeblich ist. Das gilt vor allem bei Jugend-
        lichen und Heranwachsenden, da für die verschiedenen
        Sanktionsformen ihre Anwesenheit besondere Bedeu-
        tung hat – zum Beispiel Verwarnung –, aber auch weil
        das Verfahren selbst erzieherisch auf sie einwirken soll.
        Die Ausnahmen vom Anwesenheitsgrundsatz in derzei-
        tiger Form sind schon nicht unproblematisch, erst recht
        stellt deshalb die Ausweitung ein Problem dar.
        Das Problem hat der Änderungsantrag der Koalition
        abgeschwächt, in dem er nun ausdrücklich vorsieht, dass
        das Gericht auf die Anwesenheit durch Vorführung be-
        stehen kann. Gelöst ist das Problem aber nicht, denn es
        verbleibt im Ermessen des Gerichts; zudem wäre eine
        Neuterminierung schonender als eine Verhaftung zwecks
        Vorführung des Angeklagten.
        Der Kollege Sensburg hat in der damaligen Debatte
        auf ein weiteres Problem verwiesen, welches durch die
        Vertretung des Angeklagten durch einen Verteidiger auf-
        tritt, jedenfalls dann, wenn der Verteidiger in der Sache
        Einlassungen für den Angeklagten macht. Wie ist das
        mit seiner Stellung als unabhängiges Organ der Rechts-
        pflege zu vereinbaren? Auch die Bundesrechtsanwalts-
        kammer hat in ihrer Stellungnahme ähnliche Fragen auf-
        geworfen. Hier gab es zumindest teilweise Abhilfe, denn
        bei Einlassungen zur Sache kann das Gericht wegen Er-
        forderlichkeit der Anwesenheit des Angeklagten gemäß
        dem Änderungsantrag der Koalition nun das Erscheinen
        des Angeklagten für den Fortsetzungstermin anordnen
        und, wenn er dann nicht erscheint, verwerfen. Das ist
        zwar eine Abschwächung des vom EGMR aufgestellten
        Vertretungsgrundsatzes. Sie ist aber wegen der Bedeut-
        samkeit des Anwesenheitsgrundsatzes und des häufig
        notwendigen persönlichen Eindrucks des Gerichts vom
        Angeklagten nachvollziehbar.
        Ich hätte mir auch noch gewünscht, dass die vom Kol-
        legen Ullrich aufgeworfene Frage, wie konkret die Be-
        vollmächtigung des Verteidigers für den Fall, dass er für
        den Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung
        auftreten soll, aussehen soll, noch genauer geklärt wor-
        den wäre.
        Doch mit dem Gesetzentwurf geht es nicht nur um
        § 329 StPO. Der EU-Rahmenbeschluss zu Abwesen-
        heitsentscheidungen aus dem Jahr 2009 wird durch Än-
        derungen in den §§ 83, 87 b und 88 a des Gesetzes über
        die internationale Rechtshilfe in Strafsachen umgesetzt.
        Es werden abschließend die Fälle geregelt, in denen aus-
        nahmsweise eine Verpflichtung zur Anerkennung und
        Vollstreckung einer Abwesenheitsentscheidung besteht.
        Auch diese Regelung ist nicht ganz unkompliziert, da sie
        eine gegenseitige Anerkennung und Auslieferung er-
        möglicht, obwohl in vielen Mitgliedstaaten keine so
        strengen Regeln für die Anwesenheit des Angeklagten
        gelten.
        Die Linke begrüßt ausdrücklich die leichte Anhebung
        bei Teilen der Rechtsanwaltsvergütung.
        Angesichts der Balance von Vor- und Nachteilen der
        Regelung wird sich die Fraktion Die Linke enthalten.
        Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, der das
        Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
        rechte vom 8. November 2012 Neziraj versus Deutsch-
        land umsetzt, haben wir uns schon intensiv befasst: An-
        fang des Jahres haben wir in einer ersten Lesung die
        verschiedenen positiven Veränderungen wie auch kriti-
        schen Punkte diskutiert. Im Februar kamen wir zu einem
        sogenannten Berichterstattergespräch zusammen, in dem
        uns verschiedene Sachverständige aus Wissenschaft und
        Praxis ihre fachliche Einschätzung zum Gesetzentwurf
        gaben.
        Überwiegend besteht wohl Einigkeit, dass die Ziel-
        richtung des Gesetzes eine Gute ist: Die Berufung des
        Angeklagten darf nicht mehr automatisch verworfen
        werden, wenn anstelle des Angeklagten ein entspre-
        chend bevollmächtigter und vertretungsbereiter Verteidi-
        ger in einem Termin zur Berufungshauptverhandlung er-
        scheint. Dann kann in Abwesenheit des Angeklagten
        verhandelt werden – soweit „die Anwesenheit des Ange-
        klagten nicht erforderlich ist“. Das finde ich begrüßens-
        wert.
        Bislang galt, dass die Berufung des Angeklagten ohne
        Verhandlung zu verwerfen ist, wenn er zu Beginn der
        Hauptverhandlung ohne genügende Entschuldigung
        nicht erscheint. Und das sogar dann, wenn ein schriftlich
        bevollmächtigter Verteidiger anwesend war.
        Eine Vertretung durch einen bevollmächtigten Vertei-
        diger war nur in einigen Ausnahmefällen möglich – die
        Regel war also die sofortige Verwerfung der Berufung.
        10866 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        In seiner Entscheidung hatte der Europäische Ge-
        richtshof zwar betont, dass die Anwesenheit des Ange-
        klagten durchaus eine große Bedeutung für den Strafpro-
        zess habe – er nennt dabei unter anderem die Stichworte
        „Gewährung rechtlichen Gehörs“, „Abgleich der Aussa-
        gen vom Angeklagten und Zeugen“. Demgegenüber sei
        ebenso von grundlegender Bedeutung das Recht des An-
        geklagten, „sich selbst zu verteidigen“ oder sich „durch
        einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen“.
        Dieses Recht soll ein Angeklagter nicht schon deshalb
        verlieren, weil er nicht zur Verhandlung erscheint.
        Die legitime Forderung nach der Anwesenheit des
        Angeklagten in der Verhandlung könne durch andere,
        weniger einschneidende Mittel als mit der Verwerfung
        des Rechtsmittels durchgesetzt werden.
        Wenn ich mir diese Argumente im Urteil des Ge-
        richtshofs anschaue, dann bleiben meine Bedenken in
        Bezug auf den § 329 Absatz 1 Satz 2 Nummer 1 bis 3
        des vorliegenden Gesetzentwurfs. Diese habe ich auch
        schon zur ersten Lesung geäußert und möchte sie hier
        nochmals wiederholen:
        Warum soll in den dort aufgeführten Fällen gleich
        eine Verwerfung des Berufungsverfahrens möglich sein?
        Wäre nicht eher ein milderes Mittel, zum Beispiel Ab-
        setzen des Termins, angemessen?
        Im Falle des § 329 Absatz 1 Nummer 1 StPO-E soll
        eine Verwerfung der Berufung unter anderem schon
        möglich sein, wenn „sich der Verteidiger ohne genü-
        gende Entschuldigung entfernt hat ... oder der Verteidi-
        ger den ohne genügende Entschuldigung nicht anwesen-
        den Angeklagten nicht weiter vertritt“.
        Angenommen, der Angeklagte ist – aus welchen
        Gründen auch immer – nicht zur Verhandlung erschie-
        nen und sein Anwalt sagt zu Beginn der Verhandlung:
        „Mir reicht’s – ich lege das Mandat nieder“ und geht.
        Nach dem Gesetzentwurf müsste sich der Angeklagte
        das Verhalten seines Verteidigers zurechnen lassen. Das
        mag im Zivilprozess zwar so gelten, nicht aber im Straf-
        prozess.
        In der Begründung führen Sie aus, dass die Verwer-
        fung in einem solchen Fall allein durch den Umstand ge-
        rechtfertigt sein soll, dass der Angeklagte seiner trotz
        Vertretungsmöglichkeit grundsätzlich fortbestehenden
        Pflicht zum Erscheinen ohne genügende Entschuldigung
        nicht nachgekommen ist.
        Es ist bedauerlich, dass in dem genannten Beispielfall
        nicht ein weniger einschneidendes Mittel gewählt wurde
        bzw. der Angeklagte nicht die Chance auf einen zweiten
        Termin für die Verhandlung bekommen soll und sich in
        der Zwischenzeit um einen Ersatzverteidiger bemühen
        kann.
        Nummer 2 des § 329 Absatz 1 StPO-E sieht ebenfalls
        eine Verwerfung unter anderem vor, wenn der Ange-
        klagte sich ohne genügende Entschuldigung entfernt hat.
        Wenn ich das richtig sehe, ist das eine nachteilige Verän-
        derung gegenüber der geltenden Rechtslage. „Entfernt
        sich der zunächst erschienene Angeklagte nachträglich
        eigenmächtig, so stellt dies“ – und jetzt zitiere ich wie-
        der aus der Begründung zum Gesetzentwurf – „künftig
        bei einer von ihm eingelegten Berufung auch keinen An-
        wendungsfall von § 231 Absatz 2 StPO mehr dar, nach
        dem eine Verurteilung in der Sache selbst in Abwesen-
        heit des Angeklagten ergehen darf, wenn dieser ,über die
        Anklage schon vernommen war und das Gericht seine
        fernere Anwesenheit nicht für erforderlich erachtet‘ oder
        andernfalls ein Fortsetzungstermin anberaumt werden
        muss, bei dem die Teilnahme eines unter Umständen
        nicht mehr rechtsmittelinteressierten Angeklagten mit
        Zwangsmitteln herbeigeführt werden müsste. Hier ist
        künftig zu verwerfen“. Eine solche Schlechterstellung
        lehnen wir ab.
        Außerdem erscheint es doch sehr merkwürdig, in
        einem Gesetzentwurf, der auf Grundlage des EGMR-
        Urteils die Angeklagtenrechte stärken will und dies in ei-
        nigen Fällen auch tut, sie gleichzeitig durch die Hintertür
        zu schwächen.
        Auch bezüglich § 329 Absatz 1 Nummer 3 des Geset-
        zesvorschlags ergeben sich einige Schwierigkeiten.
        Danach ist die Berufung zu verwerfen, wenn sich „der
        Angeklagte vorsätzlich und schuldhaft in einen seine
        Verhandlungsfähigkeit ausschließenden Zustand versetzt
        hat und kein Verteidiger mit schriftlicher Vertretungs-
        vollmacht anwesend ist“. Dies ist eine dem § 231 a Ab-
        satz 1 Satz 1 StPO geltende Fassung nachgebildete Fall-
        konstellation. Anders jedoch als bei § 231 a StPO soll es
        hier nach dem Entwurf allerdings unerheblich sein, ob
        der Angeklagte wusste, dass er dadurch gegebenenfalls
        die ordnungsgemäße Fortsetzung der Verhandlung ver-
        hindert. Sie begründen dies damit, dass er bereits zu ei-
        nem früheren Zeitpunkt, in dem er noch verhandlungsfä-
        hig war, über die entsprechenden rechtlichen Folgen des
        § 329 StPO-E in der Rechtsmittelbelehrung nach § 35 a
        Satz 2 StPO hingewiesen worden sein muss. Warum dies
        ein Grund für eine Abweichung im Verhältnis zu § 231 a
        StPO sein soll, erschließt sich nicht.
        Eine weitere Abweichung zu § 231 a StPO ist, dass
        die Verhandlung dann nicht trotzdem in Abwesenheit
        des Angeklagten fortgesetzt oder durchgeführt, sondern
        verworfen wird. Sicherlich ist es eine berechtigte Frage,
        wie der Rechtsstaat damit umgehen soll, wenn sich je-
        mand zielgerichtet in einen verhandlungsunfähigen Zu-
        stand versetzt. Ob dies dann gleich die Verwerfung der
        Berufungsverhandlung zur Folge haben sollte, ist zwei-
        felhaft.
        Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfrak-
        tionen, Sie haben kürzlich einige Änderungen an diesem
        Gesetz vorgeschlagen, die überwiegend gut waren. Des-
        halb haben wir ihnen im Rechtsausschuss zugestimmt.
        Warum Sie allerdings die genannten Schwierigkeiten, die
        sich aus dem § 329 Absatz 1, Nummer 1 bis 3 StPO-E er-
        geben, damit nicht gleich mit ausgeräumt haben, ver-
        stehe ich nicht. Bereits zur ersten Lesung hatte auch ich
        diese Problempunkte genannt.
        Es wäre durchaus möglich gewesen, in diesen Fall-
        konstellationen mildere Mittel als die Verwerfung vorzu-
        sehen. Insbesondere die oben angesprochene Schlechter-
        stellung im Vergleich zur geltenden Rechtslage hätten
        Sie rückgängig machen müssen und können.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10867
        (A) (C)
        (D)(B)
        Bei allem guten Willen und trotz der tatsächlich zu er-
        wartenden Verbesserungen der Angeklagtenrechte in der
        Berufungsverhandlung können wir daher leider nur mit
        „Enthaltung“ zu diesem Gesetz stimmen.
        Anlage 11
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
        gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes-
        serung der internationalen Rechtshilfe bei der
        Vollstreckung von freiheitsentziehenden Sank-
        tionen und bei der Überwachung von Bewäh-
        rungsmaßnahmen (Tagesordnungspunkt 25)
        Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Mit dem Gesetz
        zur Verbesserung der internationalen Rechtshilfe bei der
        Vollstreckung freiheitsentziehender Sanktionen und bei
        der Überwachung von Bewährungsmaßnahmen setzen
        wir nicht nur Rahmenbeschlüsse des Rates der Europäi-
        schen Gemeinschaft um.
        Vielmehr verbessern wir ausgewogen und sachorientiert
        die Rahmenbedingungen zum Beispiel bei Haftangelegen-
        heiten mit einer „grenzüberschreitenden Dimension“. So
        soll es zukünftig die Möglichkeit der Überstellung in das
        Heimatland zum Zwecke des Haftantritts geben. Ein
        Bundesbürger, der zum Beispiel in Irland zu einer Frei-
        heitsstrafe verurteilt wurde, kann nun die Überstellung
        nach Deutschland beantragen, um hier seine Strafe anzu-
        treten.
        Die damit verfolgten Ziele liegen, so denke ich, auf
        der Hand: So soll zum einen zum Beispiel die Besuchs-
        situation verbessert werden. Zum anderen soll sich aber
        auch die Möglichkeit eröffnen, sich unwürdigen Haftbe-
        dingungen zu entziehen. So erfüllen wir als Gesetzgeber
        letztlich auch unsere Fürsorgepflicht, die wir gegenüber
        Menschen haben, die in Deutschland ihren Lebensmit-
        telpunkt haben. Wir wollen ein Entgegenkommen for-
        mulieren bei extrem schlechten Haftbedingungen und
        bei gerade längeren Freiheitsstrafen.
        Diese Idee, die ich richtig und wichtig finde, muss je-
        doch auch ihre Grenzen haben:
        So soll die Regelung nur ein einmaliges Wahlrecht
        beinhalten – und das Wahlrecht ist dann ausgeschlossen,
        wenn in diesem Land bereits schon einmal eine Verurtei-
        lung vorgelegen hat. Denn trotz aller Richtigkeit kann
        das Gesetz nicht die Möglichkeit eines „Prison-Shop-
        ping“ eröffnen, wie es Kollege Dr. Sensburg so trefflich
        formulierte.
        Deshalb sehe ich auch für die hier formulierten Wün-
        sche der Grünen keinen Raum, insbesondere für die
        Fälle von Verurteilungen im Ausland bei Taten, die bei
        uns nicht strafbar sind bzw. deren Strafmaß bei uns weit-
        aus niedriger ist als in dem Land, wo die Verurteilung er-
        folgte.
        Man muss sich auch vor Augen führen, dass es juris-
        tisch-dogmatisch bei diesem Gesetz um die Ebene der
        Vollstreckung geht und nicht um die materiell strafrecht-
        liche Seite oder die Ebene der Strafzumessung. Es wäre
        auch naiv zu glauben, dass wir den anderen Staaten un-
        sere Regelungen zum materiellen Strafrecht oder zur
        Strafzumessung „überstülpen“ könnten.
        Ich war dem Ministerium sehr dankbar, dass es die
        schwierige Situation im Einzelfall anhand eines aktuel-
        len Beispiels nochmals dargelegt hat: Da sitzt ein Mann
        seit 28 Jahren in den USA in Haft. Bei uns wäre schon
        lange die Frage des Halbstrafenerlasses zu stellen. Die
        amerikanischen Behörden verweigern aber ausdrücklich
        eine Überstellung unter diesen Bedingungen. Diese
        Haltung ist auch unter Beachtung der nationalen, souve-
        ränen Rechtssetzungsbefugnis einer jeden Nation zu
        respektieren. Ein jeder Rechtstaat hat die freie Berechti-
        gung, in seinem Hoheitsgebiet zu definieren, was er
        strafwürdig einstuft und was nicht. Und ein jeder Recht-
        staat hat die eigene Kompetenz, die Rechtsfolgenseite
        unter den Aspekten der Prävention, der Schuld und der
        Sühne eigenständig zu formulieren.
        Und nun haben wir die Wahl: Akzeptieren wir die Be-
        dingungen der amerikanischen Justizbehörden und errei-
        chen so zumindest die Besserstellung durch die deutschen
        Haftbedingungen und die optimierte Besuchssituation
        oder sperren wir uns mit der Folge, dass einzig Leidtra-
        gender der Gefängnisinsasse ist.
        An diesem Beispiel zeigt sich sehr deutlich, dass man
        immer viel fordern kann. Man muss sich aber auch Ge-
        danken machen, ob die Forderung gemessen an der Pra-
        xis auch realistisch ist.
        Deshalb kann ich das angekündigte Abstimmungsver-
        halten der Grünen in diesem Punkt nicht nachvollziehen.
        Wir wollen hier eine Begünstigung für den Verurteilten
        und keine Regelung, die ihn faktisch benachteiligt.
        Einen ähnlichen Ansatz verfolgt der Gesetzentwurf
        auch bei der Überwachung von Bewährungsmaßnah-
        men. Beim Haftvollzug darf auch die Frage der Resozia-
        lisierung nicht ausgeblendet werden. Gerade Bewäh-
        rungsmaßnahmen sind ein beliebtes Instrument, einem
        Straftäter den Weg zurück in die Mitte der Gesellschaft
        zu ermöglichen. Deshalb muss die Möglichkeit eröffnet
        werden, Bewährungsmaßnahmen auch im Heimatland
        zu absolvieren.
        Auch dies gelingt dem vorliegenden Entwurf, wes-
        halb ich um Zustimmung bitte.
        Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): I. Mit dem Ge-
        setz zur Verbesserung der internationalen Rechtshilfe bei
        der Vollstreckung von freiheitsentziehenden Sanktionen
        und bei der Überwachung von Bewährungsmaßnahmen
        sollen drei Rahmenbeschlüsse der EU umgesetzt wer-
        den. Hierzu sind wir als Mitgliedstaat verpflichtet, und
        wir machen dies auch gerne.
        Die Rahmenbeschlüsse sollen durch Änderungen des
        Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsa-
        chen, dem IRG, umgesetzt werden. Zudem sollen aus
        diesem Anlass weitere Änderungen im Recht der Voll-
        streckungshilfe vorgenommen werden. Insbesondere soll
        die Grundlage dafür geschaffen werden, dass die Bun-
        10868 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015
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        (D)(B)
        desrepublik Deutschland die Vollstreckung bestimmter
        weiterer freiheitsentziehender Sanktionen übernehmen
        kann.
        Dabei handelt es sich zum einen um freiheitsentzie-
        hende Sanktionen, deren Höhe das nach deutschem
        Recht angedrohte Höchstmaß übersteigt, und zum ande-
        ren um freiheitsentziehende Sanktionen, die in einem
        ausländischen Verfahren verhängt wurden, in dem be-
        stimmte rechtsstaatliche Mindestgarantien verletzt wor-
        den sind. Die Vollstreckung solcher freiheitsentziehen-
        den Sanktionen soll allerdings nur übernommen werden,
        wenn sie nicht gegen die wesentlichen Grundsätze der
        deutschen Rechtsordnung verstößt.
        Bei den Beratungen zu dem Gesetzentwurf zur Ver-
        besserung der internationalen Rechtshilfe bei der Voll-
        streckung von freiheitsentziehenden Sanktionen und bei
        der Überwachung von Bewährungsmaßnahmen ergab
        sich die Notwendigkeit, im Rahmen eines Anhangs auch
        eine Änderung des Jugoslawien-Strafgerichtshof-Geset-
        zes und des Ruanda-Strafgerichtshof-Gesetzes vorzu-
        nehmen. Die Änderung in diesem letztgenannten Gesetz
        ist zeitlich dringend erforderlich und wird deshalb an das
        vorliegende Gesetzgebungsverfahren angehängt.
        In der gebotenen Kürze darf ich im Folgenden aus-
        führen, welche Regelung insofern vorgenommen wird.
        Mit der Resolution 1966 (2010) vom 22. Dezember 2010
        des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen nach
        Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen wurde als
        Nachfolgeorganisation für den Internationalen Strafge-
        richtshof für das ehemalige Jugoslawien – IStGHJ – und
        für den Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda –
        IStGHR – der Internationale Residualmechanismus für
        Ad-hoc-Strafgerichtshöfe geschaffen. Der Internatio-
        nale Residualmechanismus ist ein internationaler Ge-
        richtshof, der die materiellen, territorialen, zeitlichen
        und personenbezogenen Zuständigkeiten sowie die
        Rechte, die Pflichten und die wesentlichen Funktionen
        des seit 1993 bestehenden Internationalen Strafgerichts-
        hofs für das ehemalige Jugoslawien, ICTY, und des 1994
        gegründeten Internationalen Strafgerichtshofs für Ru-
        anda, ICTR, übernimmt.
        Der Residualmechanismus besteht laut Resolution
        1966 (2010) aus zwei Abteilungen. Die Abteilung für
        den IStGHR hat ihre Tätigkeit am 1. Juli 2012 aufge-
        nommen. Die Abteilung für den IStGHJ begann ihre Ar-
        beit am 1. Juli 2013. Nach außen tritt aber einheitlich der
        Residualmechanismus auf, sodass im Normtext nicht
        zwischen den Abteilungen differenziert werden muss.
        Der Mechanismus führt die verbliebenen Aufgaben des
        IStGHJ und des IStGHR gemäß den in Anlage 2 der Re-
        solution 1966 (2010) festgelegten Übergangsregelungen
        fort.
        Die Organe des Mechanismus werden in Artikel 4 der
        Anlage 1 der Resolution 1966 (2010) aufgeführt. Hierzu
        zählen die Kammern – Strafkammer und Berufungskam-
        mer –, der Ankläger sowie die Kanzlei. Wir im Deut-
        schen Bundestag tun gut daran, diesem Gesetz zuzustim-
        men.
        Im Folgenden soll nun vertieft auf das Gesetz zur
        Verbesserung der internationalen Rechtshilfe bei der
        Vollstreckung von freiheitsentziehenden Sanktionen und
        bei der Überwachung von Bewährungsmaßnahmen ein-
        gegangen werden.
        II. Obwohl der zunächst von der Bundesregierung
        eingebrachte Gesetzentwurf bereits viele wichtige
        Aspekte beachtet hatte, waren nach intensiver Auseinan-
        dersetzung insbesondere mit den Empfehlungen des
        Bundesrates noch wichtige Änderungen vorzunehmen.
        Der Bundesrat hatte am 19. Februar 2015 Empfehlun-
        gen der Ausschüsse zu dem Gesetzentwurf vorgelegt. Zu
        dieser Stellungnahme erließ die Bundesregierung eine
        Gegenäußerung. Schließlich wurden im parlamentari-
        schen Verfahren noch einige Änderungen vorgenommen.
        1. Der Gesetzentwurf sieht die Übertragung der
        Bewilligungszuständigkeit für ein- und ausgehende Er-
        suchen auf die Staatsanwaltschaften beziehungsweise
        die Vollstreckungsbehörden vor. Diese originäre Zustän-
        digkeitsübertragung bedeutet eine grundlegende Abkehr
        von der bisherigen Systematik des IRG.
        Die vom Bundesrat bevorzugte bisherige Systematik,
        nach der die Entscheidung über die zuständigen Bewilli-
        gungsbehörden im Rahmen des strafrechtlichen Rechts-
        hilfeverkehrs mit EU-Mitgliedstaaten durch die Länder
        getroffen werden, ermöglicht es, die unterschiedlichen
        Strukturen und bei den einzelnen Behörden vorhandenen
        fachlichen Kompetenzen zu berücksichtigen. Aus die-
        sem Grund empfahl der Bundesrat hier eine Änderung.
        Die vom Bundesrat vorgeschlagene Änderung, die
        darauf abzielt, die Bewilligungszuständigkeit der Bun-
        desregierung beziehungsweise den Landesregierungen
        zuzuweisen, erscheint nicht geboten. Dem Bundesrat ist
        zwar darin zuzustimmen, dass die geplante Regelung
        eine Abkehr von der bisherigen Zuständigkeitsregelung
        im Rechtshilferecht in Strafsachen darstellt. Diese Ab-
        kehr ist jedoch bewusst vollzogen worden. Denn sie
        stellt eine konsequente Folge aus dem Zusammenwach-
        sen Europas im justiziellen Bereich dar.
        Aber auch aus praktischen Gründen ist die Ansied-
        lung der Bewilligungszuständigkeit bei den Staats-
        anwaltschaften richtig; denn die Staatsanwaltschaft be-
        reitet schon nach den bestehenden Vorschriften im
        Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen
        die gerichtliche Entscheidung über die Vollstreckbarkeit
        eines ausländischen Urteils vor. Es ist daher sachgerecht
        und folgerichtig, dass sie auch die nach außen wirkende
        Bewilligungsentscheidung trifft. Der Änderungsvor-
        schlag des Bundesrates muss insofern abgelehnt werden.
        Hier wird auch nach intensiven parlamentarischen Bera-
        tungen an der Ausgangsregelung festgehalten.
        2. § 84 b Absatz 2 IRG-E eröffnet die Möglichkeit,
        auf Antrag der betroffenen Person die Vollstreckung ei-
        ner ausländischen freiheitsentziehenden Sanktion, ob-
        wohl die Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 84 b Ab-
        satz 1 IRG-E nicht gegeben sind, gleichwohl für zulässig
        zu erklären. Der Bundesrat hat angeregt, diese Möglich-
        keit auf die Verjährung gemäß Nummer 4 zu beschrän-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10869
        (A) (C)
        (D)(B)
        ken. Dies ist auch aus meiner Sicht nachvollziehbar, und
        wir sollten auch als Deutscher Bundestag diesem Ände-
        rungswunsch folgen. Daher ist es so nun auch im vorlie-
        genden Änderungsvorschlag geregelt.
        3. Der Bundesrat empfiehlt eine Änderung dahin
        gehend, dass eine Regelung geschaffen wird, die die
        Möglichkeit eröffnet, mit Einverständnis der betroffenen
        Person die Vollstreckung ausländischer Entscheidungen
        zu übernehmen, die das Höchstmaß der in der Bundes-
        republik Deutschland angedrohten Sanktion übersteigen.
        Da auch dieser Vorschlag nachvollziehbar und damit zu
        unterstützen ist, wurde er im parlamentarischen Verfah-
        ren übernommen und in das Gesetz eingearbeitet.
        4. Der Bundesrat schlägt weiter vor, das Absehen von
        der Vollstreckung im Falle der Flucht der verurteilten
        Person in das Ermessen der deutschen Vollstreckungs-
        behörden zu stellen. Auch diese Änderung unterstütze
        ich, und daher wurde sie ebenfalls in den Änderungsvor-
        schlag aufgenommen.
        5. Schließlich schlägt der Bundesrat die Änderung des
        § 90 c Absatz 2 IRG-E vor. Dieser eröffnet die Möglich-
        keit, auf Antrag der betroffenen Person die Überwa-
        chung einer ausländischen Bewährungsmaßnahme, bei
        der die Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 90c Absatz 1
        IRG-E nicht gegeben sind, gleichwohl für zulässig zu er-
        klären. Der Bundesrat regt an, diese Möglichkeit auf die
        Verjährung zu beschränken.
        Die Beschränkung auf die Verjährung stellt eine deut-
        lichere Abgrenzung in den genannten Fällen dar und
        schafft insoweit Klarheit. Die Regelung wird daher
        durch den vorliegenden Änderungsvorschlag unterstützt.
        III. Nachdem an dem zunächst vorgelegten Gesetz-
        entwurf noch an vier wichtigen Stellen Änderungen
        vorgenommen wurden, die auch durch die Länder unter-
        stützt und gefordert wurden, ist es nun gelungen, einen
        ausgewogenen Gesetzentwurf vorzulegen. Zudem konn-
        ten noch die Änderungen des Jugoslawien-Strafgerichts-
        hof-Gesetzes und des Ruanda-Strafgerichtshof-Gesetzes
        wie oben vorgestellt in diesem Gesetzentwurf umgesetzt
        werden.
        Nachdem wir auch der Opposition eine Verlängerung
        der Beratungen zugestanden haben und die Abstimmung
        auf diese Woche verschoben haben, darf ich um Zustim-
        mung für den vorgelegten Gesetzentwurf werben.
        Dirk Wiese (SPD): Mit dem vorliegenden Gesetz-
        entwurf der Bundesregierung setzen wir drei Rahmen-
        beschlüsse des Rates in nationales Recht um. Technisch
        erfolgt dies durch Änderungen am Gesetz über die in-
        ternationale Rechtshilfe in Strafsachen. Zielsetzung
        des Gesetzesvorhabens ist es, dass die Bundesrepublik
        Deutschland die Vollstreckung bestimmter im Ausland
        verhängter freiheitsentziehender Sanktionen überneh-
        men kann. Dabei handelt es sich zum einen um freiheits-
        entziehende Sanktionen, deren Höhe das nach deut-
        schem Recht angedrohte Höchstmaß übersteigt, und zum
        anderen um freiheitsentziehende Sanktionen, die in ei-
        nem ausländischen Verfahren verhängt wurden, in dem
        bestimmte rechtsstaatliche Mindestgarantien verletzt
        worden sind.
        Lassen Sie mich kurz die drei Kernpunkte des Gesetz-
        entwurfs aufzeigen:
        Erstens. Künftig besteht die Pflicht, die Vollstreckung
        einer im EU-Ausland verhängten freiheitsentziehenden
        Sanktion zu übernehmen, sofern sie sich gegen deutsche
        Staatsangehörige richtet, die ihren Lebensmittelpunkt in
        der Bundesrepublik Deutschland haben bzw. die ver-
        pflichtet sind, in die Bundesrepublik Deutschland auszu-
        reisen. Diese Pflicht besteht auch, wenn die freiheitsent-
        ziehende Sanktion im EU-Ausland gegen Ausländer
        verhängt wurde, die ihren rechtmäßigen gewöhnlichen
        Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. In
        bestimmten Fällen ist außerdem die Zustimmung der
        verurteilten Person über die bisherige Regelung in § 49
        Absatz 2 IRG hinaus nicht mehr erforderlich. Eine Ab-
        lehnung der Übernahme der Vollstreckung ist dabei nur
        aus den im Gesetz genannten Gründen zulässig: beispiels-
        weise, dass gegen eine Person mit deutscher Staatsange-
        hörigkeit vollstreckt werden soll, die ihren gewöhnlichen
        Wohnsitz nicht in der Bundesrepublik Deutschland hat,
        oder dass die Dauer der Bewährungsmaßnahme oder der
        alternativen Sanktion weniger als sechs Monate beträgt.
        Zweitens. Deutsche Behörden dürfen zukünftig die
        Überwachung von im Ausland verhängten Bewährungs-
        maßnahmen übernehmen. Im Verhältnis zu anderen EU-
        Mitgliedstaaten wird hierbei teilweise eine Pflicht zur
        Übernahme der Überwachung eingeführt. Auch die Fol-
        geentscheidungen, also die Entscheidung, weitere Aufla-
        gen oder Weisungen zu erteilen bzw. Entscheidungen
        nachträglich zu ändern oder aufzuheben, die Strafausset-
        zung zu widerrufen oder die Strafe zu erlassen, werden
        dann im Vollstreckungshilfeverkehr mit Mitgliedstaaten
        der Europäischen Union regelmäßig von deutschen Ge-
        richten übernommen werden können.
        Drittens. Wie bereits erwähnt, soll künftig die Voll-
        streckung von freiheitsentziehenden Sanktionen, die
        über das nach deutschem Recht angedrohte Höchstmaß
        hinausgehen, sowie von freiheitsentziehenden Sanktio-
        nen, in deren zugrunde liegenden ausländischen Verfah-
        ren bestimmte rechtsstaatliche Mindestgarantien verletzt
        worden sind, unter bestimmten, abschließend geregelten
        Voraussetzungen übernommen werden können. Wegen
        der Abweichungen zum deutschen Recht sind folgende
        Voraussetzungen für eine Vollstreckung dabei aber zwin-
        gend erforderlich. Die Vollstreckung dieser freiheitsent-
        ziehenden Sanktionen darf nicht gegen die wesentlichen
        Grundsätze der deutschen Rechtsordnung verstoßen.
        Außerdem ist die Grundvoraussetzung für die Über-
        nahme der Vollstreckung solcher freiheitsentziehenden
        Sanktionen immer das Einverständnis der verurteilten
        Person. Hiermit schaffen wir die notwendigen rechts-
        staatlichen Hürden für ein solches Übernahmeverfahren
        von im Ausland verhängten Sanktionen.
        Auch für den vorliegenden Gesetzentwurf gilt das
        Struck’sche Gesetz. So wird auch dieser Entwurf den
        Bundestag nicht so verlassen, wie er hineingekommen
        ist. Denn wir haben nach den Beratungen im Ausschuss
        10870 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        noch einmal nachgebessert und zeigen, dass wir die
        Kritik von Verbänden und Praktikern ernst nehmen. Das
        Ergebnis finden Sie in dem Änderungsantrag, den wir
        auch heute beschließen wollen. Wir lösen damit insbe-
        sondere problematische Fallkonstellationen, in denen die
        verurteilte Person aus der Haft geflohen ist, sowie Fälle,
        denen ein Abwesenheitsurteil zugrundeliegt oder bei de-
        nen gegen den Grundsatz „ne bis in idem“ verstoßen
        würde.
        Dadurch gelingt es uns, die Regelungen über die
        Sanktionsübernahme abzurunden, und mit Stolz können
        wir heute sagen, dass wir einen Gesetzentwurf vorlegen,
        der der Fürsorgepflicht Deutschlands gegenüber den ei-
        genen Bürgerinnen und Bürgern gerecht wird. Denn zu-
        künftig können im Ausland verhängte Strafen nunmehr
        auch in Deutschland und damit in einer vertrauten Um-
        gebung vollstreckt werden, was überdies auch einen
        positiven Effekt auf die Resozialisierung der Straftäter
        haben wird und damit auch der Allgemeinheit dienlich
        ist.
        Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Mit diesem Gesetz-
        entwurf sollen drei Rahmenbeschlüsse des Rates umge-
        setzt werden, der Rahmenbeschluss 2008/909/JI vom
        27. November 2008 – Grundsatz, dass freiheitsentzie-
        hende strafrechtliche Urteile in den jeweils anderen
        EU-Mitgliedstaaten anerkannt und vollstreckt werden –,
        der Rahmenbeschluss 2008/947/JI vom 26. Februar 2009
        – Grundsatz, dass Bewährungsmaßnahmen und alterna-
        tive Sanktionen aufgrund von strafrechtlichen Urteilen
        in den jeweils anderen EU-Mitgliedstaaten überwacht
        werden – und der Rahmenbeschluss 2009/299/JI vom
        27. Februar 2009 – im Wesentlichen Grundsatz, dass
        Entscheidungen, die im Anschluss an eine strafrechtli-
        che Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene
        Person nicht erschienen ist, in den jeweils anderen EU-
        Mitgliedstaaten anerkannt werden –.
        Die Umsetzung soll in Deutschland durch Änderun-
        gen des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in
        Strafsachen, IRG, erfolgen. Darüber hinaus sollen noch
        weitere Änderungen im Recht der Vollstreckungshilfe
        vorgenommen werden, zum Beispiel zur Ermöglichung
        der Vollziehung freiheitsentziehender Sanktionen, deren
        Höhe das nach deutschem Recht angedrohte Strafmaß
        übersteigt oder wo das zugrunde liegende ausländische
        Verfahren sogar bestimmte rechtstaatliche Mindestga-
        rantien verletzt hat.
        Im Grunde stellt der Gesetzentwurf eine Einführung
        eines europäischen Strafrechts durch die Hintertür dar.
        Als Konsequenz der Lissabon-Entscheidung des Bun-
        desverfassungsgerichts muss das Strafrecht als Kernbe-
        fugnis aber bei der Bundesrepublik als Mitgliedstaat der
        EU verbleiben, solange das Grundgesetz Geltung hat.
        Ein europäisches Strafrecht ist daher nur denkbar, wenn
        die Bundesrepublik sich eine neue gesamtdeutsche Ver-
        fassung gibt, die auch eine weitgehende Übertragung
        von Hoheitsbefugnissen auf die EU erlaubt, oder wenn
        alle Staaten der EU die an den Grundrechten der Bun-
        desrepublik orientierten Kernelemente und Grundideen
        des deutschen Straf- und Strafprozessrechts überneh-
        men. Beides ist gegenwärtig nicht der Fall und auch
        nicht absehbar.
        Mit dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, wie
        es in diesem Gesetzentwurf vorgesehen ist, werden die
        sehr unterschiedlichen Rechtsstandards und Rechtsgrund-
        sätze in Strafverfahren in den europäischen Mitgliedstaa-
        ten als gleichwertig behandelt, obwohl die Anforderun-
        gen – etwa an Beweisverfahren, Beweiserhebungen und
        Beweisverwertungen – sehr unterschiedlich sind.
        Unterschiedlich sind auch die Straftatbestände. Es be-
        stehen in Europa erhebliche Unterschiede bei der Beur-
        teilung der Frage, welches Verhalten überhaupt als straf-
        würdig zu erachten ist.
        Die Anerkennung und Vollstreckung einer strafrecht-
        lichen Entscheidung eines anderen Mitgliedstaates kann
        dabei auch zur Folge haben, dass die Bundesrepublik
        Delikte anerkennt, die sie in der eigenen Rechtsordnung
        nicht kennt, die ihr Parlament bewusst nicht für straf-
        würdig befindet, wie beispielsweise den straflosen
        Schwangerschaftsabbruch.
        Überdies scheint höchst fraglich, dass ausländische
        Urteile gegen eine entsprechend § 19 StGB schuldunfä-
        hige Person oder eine nach § 3 unseres Jugendgerichts-
        gesetzes strafrechtlich nicht verantwortliche Person voll-
        streckt werden sollen, wenn die verurteilte Person dies
        beantragt hat, wobei dieser Antrag gleichzeitig nicht zu-
        rückgenommen werden kann. Mir stößt da insbesondere
        die unterschiedliche Altersgrenze der Strafmündigkeit in
        Europa auf. Ich möchte keine langjährige Freiheitsstrafe
        gegen Kinder vollstrecken, die als 13-Jährige zu Haft-
        strafen verurteilt worden sind, wie dies in Frankreich
        möglich ist.
        Ähnliches gilt bei der Frage einer etwaigen zur Be-
        währung auszusetzenden Reststrafe. Bei einer Vollstre-
        ckung eines ausländischen Urteils kann bei allen noch so
        günstigen Prognosen des Verurteilten die Vollstreckung
        der Reststrafe nicht zur Bewährung ausgesetzt werden,
        wenn der verurteilende Staat nicht zustimmt.
        Der Grundrechtseingriff eines Staates gegenüber sei-
        nen Bürgerinnen und Bürgern kann nicht auf der Grund-
        lage des Rechts eines anderen Staates vorgenommen
        werden. Es ist zumindest auf dem Gebiet des Strafrechts
        eine unverzichtbare Bedingung der Demokratie, dass die
        Bürgerinnen und Bürger nur solchen Eingriffen in ihre
        Freiheit ausgesetzt sind, auf deren Regelung sie durch
        parlamentarische Rechtsetzung Einfluss nehmen konn-
        ten. Das erkennt auch das Bundesverfassungsgericht an,
        wenn es in seiner Lissabon-Entscheidung ausführt:
        „Das Strafrecht in seinem Kernbestand dient nicht als
        rechtstechnisches Instrument zur Effektuierung einer in-
        ternationalen Zusammenarbeit, sondern steht für die be-
        sonders sensible demokratische Entscheidung über das
        rechtsethische Minimum.“
        Daher kann selbst bei der positiven Intention des Ge-
        setzentwurfs, ausländische Strafurteile aus humanitären
        Gründen im Inland vollstrecken zu können, dem Gesetz-
        entwurf in seiner Gänze nicht zugestimmt werden.
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10871
        (A) (C)
        (D)(B)
        Dem Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/
        Die Grüne wird meine Fraktion zustimmen, da er die
        wesentlichen Bedenken auch meiner Fraktion aufgegrif-
        fen hat und versucht, das unterschiedliche Straf- und
        Prozessrecht in, wie sie es selbst beschreiben, „mög-
        lichst schonender Weise in Einklang“ zu bringen.
        Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Stellen sie sich vor: Der deutscher Staatsbürger D
        begeht im Land X einen Raub. Er wird gefasst, kommt
        vor Gericht und wird zu einer Haftstrafe verurteilt.
        Allerdings kam das Urteil gegen D unter rechtsstaats-
        widrigen Umständen zustande. Ihm wurde kein Rechts-
        anwalt zugeordnet und er hatte auch keine Möglichkeit,
        sich einen zu suchen, da er die Landessprache nicht be-
        herrscht. Schließlich musste er sich notdürftig selbst ver-
        teidigen. Hinzu kommt, dass im Land X der D 25 Jahre
        in Haft muss. In Deutschland können für Raub nur maxi-
        mal 15 Jahre verhängt werden.
        D möchte daher, dass seine Haftstrafe in Deutschland
        vollstreckt wird, auch wenn das Urteil rechtswidrig zu-
        stande kam und er mit einer viel höheren Strafe belegt
        wurde, als sie in Deutschland für die dieselbe Tat mög-
        lich ist.
        Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf soll genau
        dies passieren können: Gegen deutsche Staatsangehörige
        im Ausland ergangene Strafurteile sollen aus humanitä-
        ren Gründen leichter im deutschen Inland vollstrecken
        werden können. Diese Grundintention begrüßen wir aus-
        drücklich.
        Nach dem Gesetzentwurf könnte Deutschland die
        Vollstreckung der Haftstrafe des D übernehmen, obwohl
        die gegen ihn im Land X verhängte Strafe höher ist als
        die Höchststrafe für einen Raub hierzulande. Auch die
        Tatsache, dass das Urteil gegen D rechtsstaatswidrig zu-
        stande kam, würde einer Vollstreckung nicht entgegen-
        stehen. Voraussetzung dafür ist, dass D zustimmt.
        Nun kommt der problematische Teil:
        Übernimmt Deutschland die Vollstreckung eines
        Strafurteils, das im Ausland unter rechtsstaatswidrigen
        Bedingungen zustande gekommen ist, wird dadurch
        das Urteil legitimiert, obwohl es rechtsstaatlichen Min-
        destgarantien unserer Rechtsordnung widerspricht. Der
        Mangel soll durch die Zustimmung des Verurteilten ge-
        heilt werden.
        Nach deutschem Verfassungsverständnis darf die
        Rechtsordnung aber nicht zur Disposition des Beschul-
        digten stehen. Mag die dahinterstehende Intention noch
        so gut gemeint und nachvollziehbar sein – es bleibt
        höchst problematisch. Hier hätte die Bundesregierung
        einen anderen Weg finden müssen.
        Im Zusammenhang mit der erforderlichen Zustim-
        mung des Verurteilten zur Vollstreckung von konven-
        tionswidrig ergangenen Urteilen ergeben sich zusätzliche
        Schwierigkeiten. Kann denn wirklich garantiert werden,
        dass seine Zustimmung von einem „freien Willen“ getra-
        gen wird? Selbst wenn die Aussicht, im deutschen Straf-
        vollzug untergebracht zu sein, im Vergleich zu anderen
        Ländern häufig noch das kleinere Übel darstellt, so wird
        die Entscheidung oft nicht unter Abwägung aller rele-
        vanten Gesichtspunkte vorgenommen werden können
        und der Betroffene unter erheblichem Druck stehen.
        Das einmal erklärte Einverständnis zur Vollstre-
        ckungsübernahme in Deutschland kann nämlich nicht
        widerrufen werden. Damit werden die Handlungsmög-
        lichkeiten und Rechte des Verurteilten unnötig stark be-
        schnitten.
        Es gibt viele Gründe, warum D aus unserem Beispiel-
        fall seine Strafe nun doch im Urteilsstaat X verbüßen
        möchte. Sei es, Familienmitglieder können nicht mit
        nach Deutschland kommen, sei es, die Chancen einer
        früheren Haftentlassung stehen dort letztlich doch besser
        als in Deutschland – wegen Amnestie oder Strafverkür-
        zung, wie sich aus nachträglicher Rechtsberatung ergibt.
        Der Argumentation, durch die Widerrufsmöglichkeit
        entstünde eine Art „Vollstreckungstourismus“ kann ich
        nicht folgen.
        Übernimmt Deutschland die Vollstreckung rechtswid-
        rig zustande gekommener Urteile, mag das zwar unter
        Fürsorgegesichtspunkten gegenüber dem im Ausland
        Verurteilten vertretbar sein. Allerdings müssten in
        solchen Fällen Kompensationsmodalitäten vorgesehen
        werden, zum Beispiel im Rahmen der Ausgestaltung des
        Strafvollzugs, zum Beispiel in Form einer vorzeitigen
        Haftentlassung oder Ähnlichem. Ausdrücklich ist so et-
        was nicht vorgesehen.
        Auch die Übernahme der Vollstreckung von Freiheits-
        strafen über die Dauer hinaus, die das deutsche Straf-
        recht vorsieht, weckt verfassungsrechtliche Zweifel und
        sollte daher nach unserer Ansicht nicht vorgesehen wer-
        den. Daher haben wir gestern im Rechtsausschuss einen
        dahin gehenden Entschließungsantrag gestellt, der auch
        all die anderen hier genannten Problempunkte miteinbe-
        zieht.
        Ein weiteres Fallbeispiel hat das Justizministerium
        selbst dem Rechtsausschuss schriftlich genannt:
        Ein deutscher Staatsangehöriger wird in Spanien we-
        gen unerlaubten Besitzes von 30 Gramm Haschisch zu
        zehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Nach dem in
        Deutschland geltenden Betäubungsmittelgesetz (§ 29
        Absatz 1 Nummer 3) beträgt die Höchststrafe für solch
        ein Delikt fünf Jahre. Nach dem Gesetzentwurf – so
        schrieb uns das Bundesjustizministerium – müsste das
        zuständige deutsche Gericht die Freiheitsstrafe daher auf
        fünf Jahre ermäßigen. Allerdings kann die zuständige
        spanische Behörde Bedingungen für die Vollstreckung in
        Deutschland stellen. In dem Beispiel des Ministeriums
        verlangt sie, dass Deutschland mindestens sieben Jahre
        der Strafe vollstrecken soll.
        Aber wird ein deutsches Gericht für den unerlaubten
        Besitz von 30 Gramm Haschisch einen Freiheitsentzug
        von sieben Jahren vollstrecken lassen? Wohl kaum, zu-
        mal der Besitz von 30 Gramm niemals mit fünf Jahren
        sanktioniert würde.
        10872 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015
        (A) (C)
        (D)(B)
        Die Orientierung an Höchststrafen in Deutschland zur
        „Ermäßigung“ und Findung eines „Mittelwerts“ ist kein
        zulässiger Strafzumessungsgrund. Wenn überhaupt
        müsste sich das Gericht an den in Deutschland üblicher-
        weise verhängten Strafen für den jeweiligen Einzelfall
        orientieren.
        Die Vollstreckungsübernahme von Freiheitsstrafen
        über die Dauer hinaus, die das deutsche Strafrecht vor-
        sieht, kann auch mit Zustimmung des Verurteilten nicht
        in Betracht kommen.
        Noch mehr muss dies gelten, wenn ein Strafurteil im
        Ausland auf Grundlage eines Verhaltens ergeht, welches
        nach deutschem Recht gar nicht strafwürdig ist, zum
        Beispiel ein nach deutschem Recht strafloser Schwan-
        gerschaftsabbruch.
        Übernimmt Deutschland hier die Vollstreckung, dann
        sitzt eine Person in einem deutschen Gefängnis, die dort
        nach deutschem Recht nicht sitzen würde und vor allem
        nicht dürfte. Das kann nicht sein. Das ist mit dem
        Grundgesetz nicht vereinbar.
        Es wäre unbillig und ein fatales Signal in die Rich-
        tung des Urteilsstaats. Deutschland muss klar für die
        Einhaltung rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher
        Standards einstehen.
        Warum die Übernahme der Vollstreckungshilfe über-
        wiegend nur für deutsche Staatsangehörige vorgesehen
        ist und nicht auch für Personen, die in der Bundesrepu-
        blik Deutschland rechtmäßig auf Dauer ihren gewöhnli-
        chen Aufenthalt haben, ist nicht nachvollziehbar. Wir
        haben in unserem Entschließungsantrag dafür plädiert,
        die Möglichkeit der Vollstreckungsübernahme zu erwei-
        tern.
        Auch die Regelung, die dem Urteilsstaat die Möglich-
        keit einräumt, die Aussetzung des Strafrestes zur Be-
        währung von seiner Zustimmung abhängig zu machen,
        ist nicht nachvollziehbar. Die Bundesrechtsanwaltskam-
        mer führt in ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf
        aus, ein ausländischer Staat sei aufgrund der strikten
        deutschen Rechtslage ohne diese Regelung wohl dazu
        bereit, auf die Festlegung einer Mindestvollstreckungs-
        dauer zu verzichten. Durch die gesetzliche Verankerung
        hätten die anderen Staaten nun überhaupt erst die Mög-
        lichkeit, solche Bedingungen gegenüber Deutschland zu
        stellen.
        Wir erkennen die Grundintention des Gesetzes an und
        sehen natürlich auch, dass der Staat gegenüber seinen
        Bürgern eine Fürsorgepflicht hat. Insbesondere wenn
        diese im Ausland unter rechtsstaats- und/oder menschen-
        rechtswidrigen Bedingungen zu einer Freiheitsstrafe ver-
        urteilt werden, muss es die Möglichkeit geben, darauf
        hinwirken zu können, dass die Strafe in Deutschland
        vollstreckt werden kann. Aber die Strafverbüßung in
        Deutschland darf nicht damit ermöglicht werden, dass
        Urteile, die mit deutschem Recht nicht übereinstimmen,
        vollstreckt werden.
        Wir stimmen dem Gesetz deshalb nicht zu, sondern
        enthalten uns.
        Anlage 12
        Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:
        – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
        Antrag: Entwicklungspolitische Chancen
        der Urbanisierung nutzen
        – Antrag: Urbanisierung in den Ländern des
        Südens – Staatliche und kommunale Funk-
        tionen stärken, Privatisierung verhindern
        (Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b)
        Peter Stein (CDU/CSU): Ich freue mich außeror-
        dentlich, dass unser Antrag „Entwicklungspolitische
        Chancen der Urbanisierung nutzen“ in die finale Lesung
        geht. Lassen Sie mich diese Gelegenheit nutzen, die
        wichtigsten Punkte noch einmal herauszustreichen:
        Ziel des Antrages ist erstens, die Chancen und He-
        rausforderungen der Urbanisierung klar zu benennen
        und ihnen so die Aufmerksamkeit zukommen zu lassen,
        die sie verdienen.
        Zweitens. Der Antrag formuliert tatsächlich umfas-
        sende Arbeitsaufträge an verschiedene Adressaten.
        Warum haben wir den Antrag gemacht?
        2050 werden wahrscheinlich über 9,5 Milliarden
        Menschen auf diesem Planeten leben. Zwei Drittel da-
        von, also über 6 Milliarden, werden in Städten leben.
        Bereits heute sind es über 50 Prozent der Weltbevölke-
        rung.
        Dieses rasante Städtewachstum findet seine Ursache
        in verschiedensten Gründen: Bevölkerungswachstum,
        Krisenfolgen, aber auch Ergreifen persönlicher Chancen
        aufgrund verbesserter Bildung. Als Konsequenz sind
        wirtschaftliches Wachstum und Mittelstand oft am sel-
        ben Platz anzutreffen wie hoffnungslose Armut.
        Die Urbanisierung ist besonders ein Thema für die
        EZ, weil 90 Prozent der Verstädterung in Schwellen- und
        Entwicklungsländern stattfindet und weil weit über die
        Hälfte der Stadtbewohner unter 18 Jahre sind und es
        auch in Zukunft sein werden.
        Der Zeitpunkt, das Thema auf den politischen Agen-
        den weltweit anzupacken, ist günstig wie nie: Mit der
        nächstes Jahr anstehenden UN-Habitat-III-Konferenz in
        Ecuador ist dazu ein wichtiger Termin aufgerufen, aus
        dem heraus eine „Neue Urbane Agenda“ entstehen soll.
        In diesem Kontext begrüße ich außerordentlich, dass
        die Bundesregierung ein eigenes Urbanisierungskonzept
        erarbeitet hat. Die „Leitlinien der Bundesregierung zur
        internationalen Zusammenarbeit für nachhaltige Urbani-
        sierung – Partner in einer Welt der Städte“ werden es uns
        erleichtern, uns mit unseren europäischen Partnern ab-
        zustimmen und für den Habitat-, aber auch den SDG-
        Prozess einheitliche europäische Positionen zu entwi-
        ckeln.
        Wir als Bundesrepublik haben allen Grund, uns ein-
        zubringen: Wir in Deutschland haben eine hohe Exper-
        tise, was Planer und Ingenieure, Architekten und Ent-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10873
        (A) (C)
        (D)(B)
        wickler im internationalen Einsatz betrifft. Viele
        internationale Projekte laufen weltweit unter deutscher
        technischer und finanzieller Begleitung, und unsere
        Leistungen sind weiterhin nachgefragt und willkommen.
        Als Ingenieur liegt mir dabei besonders eine voraus-
        schauende Planung am Herzen. Bauliche Strukturen
        schreiben über lange Zeiträume hin fest, wie inklusiv,
        wie wirtschaftlich erfolgreich, energieeffizient und nach-
        haltig sich ein Stadtteil entwickeln wird.
        Wir in Deutschland arbeiten mit unseren Instrumen-
        ten der Raumordnung und Bauleitplanung vorbildlich
        auf diesem Gebiet. Dieses Wissen muss auch durch ei-
        nen Rahmen aus GIZ, KfW und den anderen Durchfüh-
        rungsorganisationen und auch durch das Agieren der
        Bundesregierung weitergegeben werden. Ich würde mir
        zum Beispiel auch einen Ausbau unseres SES wünschen.
        Ich wünsche mir auch mehr Initiativen im Bereich
        Katasterwesen und Bodenrechtssicherung.
        Außerdem sollten wir unsere bilateralen Beziehungen
        noch aktiver pflegen. Unsere Wirtschaft ist offen und
        transparent, auch wir sollten sie im eigenen Interesse
        stärker mit einbeziehen.
        Auf internationaler Ebene wäre ein Ziel, für das wir
        uns einsetzen sollten, vielleicht sogar eine bei den Ver-
        einten Nationen angesiedelte Einheit, ich nenne sie
        gerne „Planer mit Blauhelmen“, die, quasi als „Peace-
        keeper“, Städten wie Staaten in den kritischen Brenn-
        punkten grundlegende, neutrale, fachlich hoch fundierte
        Hilfe leistet. Diese Hilfe setzt beispielsweise planerische
        Standards zu Lücken für nachträgliche Infrastruktur wie
        Nahverkehr, Schulen oder ärztliche Versorgung, wenn
        dazu zunächst nicht die Mittel da sind, aber gewährleis-
        tet sein muss, dass dies später nachgerüstet werden kann.
        Insgesamt sollte sich die deutsche EZ, meiner Mei-
        nung nach, auf die sogenannten Klein- und Mittelstädte
        konzentrieren. Entscheidend dabei ist nämlich, dass in
        absoluten Zahlen die meisten Menschen nicht in den
        Megacities, sondern zu fast 90 Prozent in den kleineren
        Zentren leben.
        Wir sollten daher auch einen dezentralen Ansatz för-
        dern, der Eigeninitiative von Kommunen und Städten
        unterstützt. Solche Ansätze sind flexibler und unbüro-
        kratischer zu realisieren als Programme alleine auf
        Staatsebene. Wir wollen dazu besonders kommunale
        Partnerschaften fördern, die kommunales Know-how in
        einen Austausch zu bringen helfen.
        Ein extrem wichtiger Punkt ist, dass wir den Klima-
        wandel durch CO2-Minderung gerade in den Städten
        bekämpfen und uns gleichzeitig jetzt schon auf seine un-
        vermeidlichen Auswirkungen einstellen. Die KfW ist ein
        gutes Beispiel für einen Player, der auf diesem Gebiet
        bereits aktiv ist. Wir statten den Green Climate Fund mit
        Milliarden aus, wir haben hohe Expertise in Küsten-
        schutz und Hochwasserprävention, wir sind gut in For-
        schung und Ausbildung, wir wissen, wie wichtig gute
        Verwaltungsführung ist.
        Bei all den Überlegungen zur Zukunft der Stadt soll-
        ten wir nie die symbiotische Verbindung zwischen einer
        Stadt und ihrem Umland vergessen. Bestimmte Einrich-
        tungen benötigen einen urbanen Rahmen, eine städtische
        Infrastruktur: Hochschulen, Regierung, Flughäfen, me-
        dizinische Zentren usw. Andere Dinge, in erster Linie
        natürlich die Landwirtschaft, finden weiter auf dem
        Land statt.
        80 Prozent des Bevölkerungswachstums findet in ur-
        banen Räumen statt, 20 Prozent jedoch weiterhin auf
        dem Land. Das bedeutet also, dass es auch auf dem Land
        weiterhin zu Verdichtungen kommt und auch zukünftig
        kleine urbane Zentren entstehen können, nicht nur in
        großen Ballungsgebieten.
        Ich denke, dass wir in Anbetracht der enormen Ge-
        schwindigkeit, mit der die Urbanisierung voranschreitet,
        mit allen Auswirkungen auch auf den ländlichen Raum,
        auf das regionale Wirtschaftswachstum, die Bevölke-
        rungskontrolle und auf unser Klima, eine höhere Tak-
        tung der UN-Habitat-Konferenzen brauchen können.
        Alle 20 Jahre halte ich unter aktueller Betrachtung für
        zu wenig. Die alle zwei Jahre stattfindenden World-
        Urban-Foren haben leider bisher nicht die starke ins-
        besondere öffentliche und politische Wirkung, die wir
        benötigen.
        Schließen möchte ich mit einem Punkt, der seine
        Ursachen auch in der fortschreitenden ungeordneten Ur-
        banisierung hat: der Migrations- und Flüchtlingsfrage.
        Stadtentwicklung, Umweltschutz, soziale Standards und
        Menschenrechte sind global vergleichbar, ebenso wie
        die Sehnsüchte und Hoffnungen gerade junger Men-
        schen auf eine gute Zukunft. Es sind meist die Mittello-
        sen, die die Stadtränder – oft in prekären Lagen – mit
        Armut füllen. Flüchtlinge verlassen zuerst ihr Dorf auf
        der Suche nach Perspektive und später dann die Stadt, in
        der sie gelandet sind. Funktionierende Städte, die ihren
        neuen Bewohnern Ausbildung und berufliche Zukunft
        bieten können, sind daher ein wesentlicher Helfer im
        Anliegen der Bundesregierung, aber auch der Heimat-
        länder der Betroffenen, die Fluchtursachen zu bekämp-
        fen. Mit unseren Entscheidungen von heute nehmen wir
        massiven Einfluss darauf, wie die Leute von morgen und
        übermorgen leben werden, bei uns in Europa und in der
        Welt. Unser Antrag soll einen winzigen Teil dazu beitra-
        gen.
        Gabriela Heinrich (SPD): Bereits in der ersten Le-
        sung des vorliegenden Antrags haben wir deutlich ge-
        macht, dass die Urbanisierung in Entwicklungsländern
        ein entscheidendes Thema ist, das bisher noch nicht aus-
        reichend auf der Agenda ist. Die Stadtbevölkerung in
        Entwicklungs- und Schwellenländern wird um über
        2 Milliarden Menschen bis zum Jahr 2050 wachsen. Nur
        wenn wir darauf angemessen reagieren, können wir ne-
        gative Entwicklungen vermeiden und die Chancen der
        Urbanisierung nutzen.
        Denn wenn wir Urbanisierung nicht gestalten, werden
        wir die Armut in der Welt nicht mindern können, keine
        Fortschritte bei der Reduzierung von Mütter- und Kin-
        dersterblichkeit, bei der Versorgung mit Trinkwasser und
        sanitären Anlagen sowie bei der Gesundheitsversorgung
        erreichen. Ohne nachhaltige Energieversorgung in den
        10874 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015
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        Städten werden wir auch das Ziel, die globale Erwär-
        mung auf maximal 2 Grad zu beschränken, nicht errei-
        chen. Und wir werden den globalen Flächenverbrauch
        – und damit den Verlust von Biodiversität – nicht stop-
        pen können, wenn sich die Städte ungeplant und weit-
        räumig ausbreiten, weil es an kompakter Stadtplanung
        bzw. überhaupt an Stadtplanung mangelt.
        Um die Urbanisierung in Entwicklungs- und Schwel-
        lenländern erfolgreich zu gestalten, müssen wir interna-
        tional vorgehen. Eine große Chance ist dabei die „New
        Urban Agenda“, die im nächsten Jahr auf der Habitat-
        III-Konferenz beschlossen werden soll.
        Wir begrüßen und unterstützen mit unserem Antrag
        ausdrücklich die Forderungen der Generalversammlung
        der Vereinten Nationen für diese „New Urban Agenda“.
        Dazu gehören unter anderem die Entwicklung nationaler
        Urbanisierungskonzepte sowie partizipative und inte-
        grierte Stadtentwicklung zugunsten kompakter Städte.
        Die Menschen brauchen eine bessere Infrastruktur, sie
        wollen gleichberechtigt leben und dass ihre Menschen-
        rechte beachtet werden. Bessere Wohn- und Lebensbe-
        dingungen und die Verringerung von Ungleichheit sowie
        eine lebenswerte Umwelt und kulturelle Teilhabe müs-
        sen das Ziel sein.
        Deutschland muss die Habitat-III-Agenda dafür nut-
        zen, für die integrative und partizipatorische Stadtent-
        wicklung zu werben und auch dafür, dass Kommunen
        weltweit mehr Einnahme- und Haushaltshoheit erhalten.
        Die Kommunen müssen Akteure werden, wenn sie ge-
        stalten sollen. Dazu sind eigene Finanzmittel unerläss-
        lich. Deswegen fordern wir mit unserem Antrag die
        Bundesregierung auf, gegenüber unseren Partnern für
        Dezentralisierung zu werben und sich für die Entwick-
        lung entsprechender nationaler Urbanisierungskonzepte
        einzusetzen. Wir wollen außerdem, dass die Bundes-
        regierung die „New Urban Agenda“ auf der dritten Kon-
        ferenz für Entwicklungsfinanzierung in Addis Abeba
        thematisiert und konkrete Vorschläge zur Schaffung ge-
        eigneter Finanzierungsmechanismen zur Gestaltung der
        Urbanisierung vorbereitet werden.
        Für die SPD-Bundestagsfraktion war es ganz wichtig,
        dass wir mit dem Antrag die Slums und ihre Bewohne-
        rinnen und Bewohner einbeziehen und gerade für sie auf
        Verbesserungen drängen. Dies auch vor dem Hinter-
        grund, dass sich die Zahl der Slumbewohner von heute
        1 Milliarde bis zum Jahr 2050 verdreifachen wird. In den
        Slums ist die Unsicherheit über die Eigentums- und Nut-
        zungsrechte besonders hoch. Das macht die Entwicklung
        eines Slums mit besseren Lebensbedingungen noch
        schwieriger. Wir fordern deswegen, dass die Lebensbe-
        dingungen der Slumbewohnerinnen und -bewohner auf
        die Habitat-III-Agenda gesetzt werden. Die Habitat-III-
        Agenda muss aber auch die Personalqualifizierung für
        die Bereiche Planung, Kataster und Bodenrecht sowie
        (Einwohner-)Statistik einschließlich der Registrierung
        von Geburten umfassen.
        Wenn man nicht weiß, welches Grundstück wem ge-
        hört, wie soll man dann die Stadt planen? Wenn ein Kind
        nicht in einer Stadt registriert ist, wie soll es dann an
        Leistungen kommen und wie soll der Bedarf an Schulen
        und Gesundheitsdienstleistungen ermittelt werden? Und
        dass Frauen in vielen Ländern überhaupt kein Land be-
        sitzen oder erben dürfen, ist ein Entwicklungshemmnis,
        das wir beseitigen müssen.
        Eine weitere internationale Chance ist die Erarbeitung
        der Post-2015-Agenda. Hier setzen wir uns für ein ei-
        genständiges globales Nachhaltigkeitsziel mit Stadt-
        bezug ein. Und wir wollen die Urbanisierung auf euro-
        päischer Ebene stärker berücksichtigen und fordern
        deswegen die Bundesregierung auf, sich für eine neue
        Urbanisierungsstrategie der EU einzusetzen. Wir wollen
        auf EU-Ebene Urbanisierungspartnerschaften mit Län-
        dern und Kommunen des globalen Südens.
        Natürlich geht es uns mit unserem Antrag auch da-
        rum, dem Thema Urbanisierung in der deutschen Ent-
        wicklungszusammenarbeit ein stärkeres Gewicht zu ver-
        leihen. Wir fordern, dass Klein- und Mittelstädte beim
        Aufbau demokratischer, partizipativer und leistungsfähi-
        ger kommunaler Selbstverwaltung sowie bei der Stadt-
        planung unterstützt werden. Und wir fordern, dass dabei
        Good-Governance-Prinzipien wie die Einbeziehung der
        Zivilgesellschaft, Gleichberechtigung der Geschlechter,
        diskriminierungsfreier Zugang zu öffentlichen Dienst-
        leistungen, Menschen-, Kinder- sowie Minderheiten-
        rechte im Vordergrund stehen. Es war ein wesentlicher
        Punkt der Anhörung zum Thema Urbanisierung, die wir
        letztes Jahr im Ausschuss durchgeführt hatten, dass
        Stadtplanung immer mit der Bevölkerung zusammen ge-
        macht werden muss. Die partizipative Stadtplanung ist
        nicht nur demokratischer, sondern vermeidet auch
        Geisterstädte. Deswegen haben wir sie fest in unserem
        Antrag verankert.
        Ich muss gestehen, dass ich die in der Ausschussbera-
        tung vorgetragene Kritik der Opposition, der Antrag be-
        schäftige sich zu wenig mit dem ländlichen Raum und
        den Ursachen für die Wanderung vom Land in die Stadt,
        nicht teile. Man kann Urbanisierung nicht auf die glo-
        bale Handelspolitik verkürzen, wie es der Antrag der
        Linken macht. Wir beschäftigen uns mit den Gründen
        für Wanderung – das sind vor allem Armut, Hunger und
        Perspektivlosigkeit –, mit zahlreichen anderen Anträgen
        und Initiativen, nicht zuletzt auch bei der Entwicklung
        neuer globaler Nachhaltigkeitsziele. In unserem Antrag
        fordern wir zudem gerade, dass der räumliche Zusam-
        menhang in Städtesystemen und Stadt-Land-Beziehun-
        gen berücksichtigt wird. Das ist ein ganz wichtiger
        Punkt: Es nützt nichts, wenn zum Beispiel im ländlichen
        Raum die landwirtschaftliche Produktion aufgebaut
        wird, die Wege in die Städte aber so schlecht ausgebaut
        sind, dass die landwirtschaftlichen Produkte verdorben
        sind, wenn sie in der Stadt ankommen.
        Wir fordern, dass die Zusammenarbeit deutscher
        Kommunen mit Kommunen in Entwicklungs- und
        Schwellenländern stärker gefördert und das Projekt „50
        Kommunale Klimapartnerschaften“ fortgeführt wird.
        Die Servicestelle der Kommunen in der Einen Welt soll
        weitere Konzepte für kommunale Entwicklungspartner-
        schaften entwickeln. Wir fordern zudem im Rahmen der
        Sonderinitiative „Fluchtursachen bekämpfen – Flücht-
        linge reintegrieren“ ein Modul für Flüchtlingsstädte. Das
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        Lager Dadaab in Kenia zum Beispiel besteht seit über
        20 Jahren und beherbergt etwa 400 000, meist aus Soma-
        lia stammende Flüchtlinge ohne Perspektive und ausrei-
        chende Infrastruktur. Wir müssen hier stärker unterstüt-
        zen.
        Urbanisierung findet in den Entwicklungsländern
        statt. Unsere Aufgabe ist es, jetzt die Urbanisierung zu
        gestalten und ihre entwicklungspolitischen Chancen zu
        nutzen, damit Urbanisierung für die Menschen in den
        Entwicklungs- und Schwellenländern zu einem besseren
        Leben führt und nicht zu Armut und Perspektivlosigkeit
        in einen Slum.
        Heike Hänsel (DIE LINKE): Die Mehrheit der Men-
        schen weltweit lebt in Städten. Das gilt mittlerweile auch
        für viele Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas.
        Mit steigender Tendenz. Deshalb ist es sinnvoll, dass wir
        uns mit den entwicklungspolitischen Herausforderungen
        und Chancen befassen, die die Verstädterung mit sich
        bringt. Die Koalition listet in ihrem Antrag einige de-
        mografische Trends auf, die auch Gegenstand der Anhö-
        rung zur Urbanisierung im Entwicklungsausschuss am
        12. November 2014 waren.
        Doch Verstädterung lässt sich nicht rein numerisch
        erfassen, sie ist ein gesellschaftlicher Prozess, eine an-
        dauernde Auseinandersetzung zwischen Interessen um
        Boden und andere städtische Ressourcen. Wenn wir wis-
        sen, wie viele Menschen jährlich in die Städte ziehen,
        wie viele dort geboren werden, wie hoch ihr Anteil an
        der Gesamtbevölkerung eines Landes ist, wie viele da-
        von in Slums leben und so weiter, dann wissen wir noch
        nicht viel über die Zusammenhänge: Warum verlassen
        Menschen ihre ländliche Heimat? Warum bieten ihnen
        die Städte keine echte wirtschaftliche Alternative? Wa-
        rum leben die Menschen auf dem Land wie in der Stadt
        unter prekären, oft menschenunwürdigen Bedingungen?
        Wer gestaltet den öffentlichen Raum? Wer entscheidet,
        wo und wie viele Wohnhäuser gebaut werden, wo Grün-
        flächen und wo Einkaufszentren hinkommen, wer wo zu
        welchem Preis wohnen oder bauen darf? Warum ist der
        Staat in vielen Ländern so schwach, warum die Versor-
        gung mit elementaren Dienstleistungen nicht gesichert?
        Die Städte in Asien, Afrika und Lateinamerika wach-
        sen unter ganz anderen Bedingungen als die europäi-
        schen Städte im Zeitalter der Industrialisierung. Deshalb
        bringt es auch nur bedingt etwas, wenn wir mit unseren
        Planungsinstrumenten und mit unseren Ansprüchen
        an Regularien und Entscheidungsprozesse, mit Good
        Governance und anderen „segensreichen“ Konzepten
        aus dem Norden auf die Städte im Süden zugehen, wenn
        wir nicht auch die Rahmenbedingungen verändern.
        Wir erleben es ja auch in Europa, dass selbst die bes-
        ten politischen Vorsätze und Beteiligungsverfahren wir-
        kungslos sind, wenn den Kräften des Marktes zu viel
        Raum gegeben wird. Auch in Europa ist Verstädterung
        immer mit Verdrängung und dem Widerstand dagegen
        verbunden. Auch in deutschen Städten sind Zwangsräu-
        mungen, Mietwucher, Verdrängung angestammter Be-
        völkerung, Gentrifizierung Probleme, die viele Men-
        schen umtreiben. Unnütze Großprojekte wie Stuttgart 21
        zerstören sogar Urbanität. Shopping Malls entfremden
        Menschen ihrer eigenen Stadt. Die himmelschreiende
        Ungleichheit, die gerade in den Städten des Südens, zu-
        nehmend aber auch in europäischen Städten so deutlich
        sichtbar wird, wird von der Koalition in keiner Weise ins
        Zentrum ihrer Überlegungen gerückt.
        Stattdessen bezieht sich der Antrag der Koalition auf
        technokratische Konzepte wie das der „Smart Cities“,
        das den Klima- und Energiehaushalt regulieren soll. Ich
        setze da ein Fragezeichen. Unter den politischen und vor
        allem wirtschaftlichen Kräfteverhältnissen, die wir vor-
        finden, kann das auch heißen: Big Data als Planungs-
        grundlage ersetzt die politische und soziale Auseinan-
        dersetzung um die Gestaltung des öffentlichen Raumes.
        Politische Entscheidungen werden technokratisiert und
        damit vermeintlich „unpolitisch“. Lückenlose Erfassung
        von Nutzungsmustern ermöglicht zwar maximale Effi-
        zienz im Angebot von Dienstleistungen und Konsumgü-
        tern oder bei der Energienutzung, aber im schlimmsten
        Fall auch Totalüberwachung.
        Global agierende private Investorengruppen haben in
        der Stadtentwicklung längst das Ruder übernommen.
        Ihre Profitinteressen formen unsere Städte weltweit und
        vereinheitlichen ihr Antlitz. Ob in Belgrad, Dubai oder
        Münster – überall entstehen dieselben Malls, Bürohoch-
        häuser, Erlebnislandschaften, finden dieselben Ausgren-
        zungs- und Verdrängungsmechanismen statt. So gibt es
        Investorengruppen, die dieselben Großstadtprojekte in
        Belgrad und in afrikanischen Städten anbieten. Antwor-
        ten darauf werden auch in Deutschland gerade diskutiert:
        öffentlicher Wohnungsbau, Sozialbindung von Wohn-
        raum, Privatisierungsstopp – das wären wichtige Maß-
        nahmen, die bei der Koalition nicht vorkommen.
        Die Linksfraktion stellt in ihrem Antrag deshalb drei
        Ziele in den Mittelpunkt, die wir im Rahmen der
        Entwicklungszusammenarbeit und im Hinblick auf die
        Entwicklung unserer Städte erreichen wollen:
        Erstens wollen wir den Austausch zwischen den
        Kommunen darüber stärken, wie die Bevölkerung und
        ihre politischen Vertretungen die Oberhoheit über die
        Stadtentwicklung von den kommerziellen Investoren zu-
        rückerobern können, wie Privatisierung gestoppt und
        privatisierte Daseinsvorsorge wieder in öffentliche Ver-
        antwortung überführt werden kann.
        Zweitens wollen wir die Mittel der Entwicklungszu-
        sammenarbeit gezielt dafür einsetzen, kommunale und
        staatliche Versorgungs- und Wohnungsbauunternehmen
        aufzubauen und öffentliche Investitionen in die städti-
        sche Infrastruktur zu erhöhen.
        Wir brauchen drittens andere wirtschaftspolitische
        Rahmenbedingungen. Wie sich der Freihandel, das
        Dogma der letzten 30 Jahre in den internationalen Wirt-
        schaftsbeziehungen, auf die Entwicklung sowohl des
        ländlichen, als auch des städtischen Raums auswirkt,
        sehen wir heute an vielen Beispielen. Bauern verlieren
        ihre Existenzgrundlagen, Städte verkommen zu großen
        Marktplätzen, auf denen importierte Billigwaren gehan-
        delt werden. Eine eigenständige Wertschöpfung kann
        kaum noch stattfinden. Eine andere Handelspolitik muss
        10876 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015
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        darauf ausgerichtet sein, die bäuerlichen Existenzgrund-
        lagen im ländlichen Raum zu schützen und weiterzuent-
        wickeln. Sie muss lokale Wirtschaftskreisläufe beför-
        dern, die den ländlichen und den städtischen Raum in
        einer produktiven Weise verknüpfen und für die Men-
        schen Einkommensquellen schaffen. Junge Industrien
        müssen vor Verdrängungswettbewerb geschützt, öffent-
        liche Daseinsvorsorge darf nicht den Profitinteressen
        privater Anbieter ausgesetzt werden.
        Widerstand der Stadtbewohnerinnen und -bewohner
        gegen neoliberale Dogmen kann erfolgreich sein: Die
        spanische Bewegung gegen Zwangsräumungen hat bei
        den Kommunalwahlen in diesem Frühjahr die politische
        Landschaft verändert. Ich freue mich, dass sie jetzt sogar
        die Bürgermeisterin von Barcelona stellt. In Athen bil-
        den sich solidarische Netzwerke, die ihre gegenseitige
        Unterstützung in der Not mit Widerstand gegen die okt-
        royierte Sparpolitik der EU verbinden. In Venezuela
        werden kommunale Räte gegründet und sind staatlich
        unterstützte soziale Programme fester Bestandteil der
        Stadtentwicklung. Und nicht zuletzt: In Berlin ist der
        Mietervolksentscheid auf den Weg gebracht worden und
        hat, mit Unterstützung durch die Linke, die erste Unter-
        schriftenhürde deutlich überschritten. Die Stadt sind wir,
        und wir müssen uns den öffentlichen Raum wieder an-
        eignen und gleichzeitig für eine nachhaltige Politik ein-
        treten, die im Süden auch menschliche Entwicklung er-
        möglicht, dafür sind solidarische Städteverbindungen ein
        gutes Beispiel.
        Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): In urbanen Zentren kumulieren Gegenwartspro-
        bleme; sie sind der Nukleus einer Welt, die sich rasant
        weiterdreht. In den Städten entscheidet sich also zuerst,
        wie die Menschen in der Gesellschaft leben, wie sie Ge-
        sellschaft begreifen. Wir haben es heute mit einem bei-
        spiellosen Trend zur Verstädterung zu tun: Bis 2050 wird
        sich weltweit die Bevölkerung in Städten auf 6 Milliar-
        den Menschen verdoppelt haben.
        So werden 80 Prozent des zukünftigen Energiebedarfs
        von Städten generiert, bereits heute nutzen Städte
        70 Prozent der zur Verfügung stehenden Energie und
        produzieren 70 Prozent des weltweit ausgestoßenen
        CO2.
        Städtischer Klimaschutz ist eine riesige Aufgabe, von
        deren Erfolg es abhängen wird, wie heftig uns der Kli-
        mawandel am Ende treffen wird. Weltweit stehen Städte
        also vor der Aufgabe, mit dem Klimawandel umzugehen
        und extreme Klimaereignisse wie Hitzewellen oder
        Starkregen zu bewältigen.
        Die Frage, die sich heute für unsere Zukunft mit am
        dringendsten stellt, stellt sich also ganz besonders in den
        Städten – und zwar weltweit: Wie können wir emissions-
        frei, sozial gerecht und nachhaltig leben und arbeiten?
        Für den Wissenschaftlichen Beirat Globale Umwelt-
        veränderungen der Bundesregierung gehören die ur-
        banen Räume zu einem der drei Hauptpfeiler – neben der
        Energie- und der Landnutzung –, an denen die Politik für
        eine nachhaltige Zukunft und eine sozial-ökologische
        Transformation ansetzen sollte.
        Für die nachhaltige Entwicklung von urbanen
        Räumen geht es um den Aspekt des Klimaschutzes, den
        Aspekt der Inklusion aller in einer Stadt lebenden Men-
        schen sowie den Aspekt der kulturellen Vielfalt.
        Alle Bewohner einer Stadt müssen als „Bürger“ aner-
        kannt werden, unabhängig vom Status ihrer Siedlung.
        Angesichts des schnellen urbanen Wachstums ist eine
        kluge und vorausschauende Planung von Städten daher
        zentral.
        Etwa 30 Prozent der Stadtbewohner in Entwicklungs-
        ländern leben in informellen Siedlungen ohne Basis-
        dienstleistungen. Sie haben darüber hinaus kaum Mit-
        wirkungs- oder Entscheidungsbefugnisse, beispielsweise
        bei Wahlen. Sie sind Städter, aber keine Bürger. Sie erle-
        ben, dass die lokale Verwaltung sie nicht als Anspruchs-
        träger von Rechten anerkennt. Für diese Menschen ist es
        unabdingbar, dass Stadtplanungsvorhaben ihre Belange
        hinsichtlich des Zugangs zu Land berücksichtigen, ihr
        Knowhow einbeziehen und ihre Ansprüche auf Zugang
        zu Land, auf dem sie bereits siedeln, im Sinne ihrer
        Rechtssicherheit bestätigt werden.
        Auch der Schutz, die Förderung und der Erhalt der
        kulturellen Vielfalt sind eine entscheidende Vorausset-
        zung für eine nachhaltige Entwicklung zugunsten gegen-
        wärtiger und künftiger Generationen. Entwicklung ohne
        Berücksichtigung der kulturellen Dimension ist undenk-
        bar – darüber stimmen internationale Forschung und
        Entwicklungspolitik mittlerweile überein –, die kultu-
        relle Säule ist ein anerkanntes Element der Nachhaltig-
        keit. Kultur und integrierte Stadtentwicklung gehören
        zusammen.
        Daneben müssen die Städte der Zukunft klar zu Ak-
        teuren der Außenpolitik werden und zu Akteuren für die
        Umsetzung der Nachhaltigkeitsagenda. Dort wird im
        vorgeschlagenen Nachhaltigen Entwicklungsziel 11 der
        Open Working Group gefordert: Make cities and human
        settlements inclusive, safe, resilient and sustainable!
        Neue Herausforderungen sind entstanden durch den
        Anstieg der Urban Refugees, also von Flüchtlingen, die
        in Städten Schutz und Aufnahme finden, vor allem in
        den Entwicklungsländern. Der Großteil von ihnen – ge-
        schätzt sind das aktuell über 80 Prozent – findet Auf-
        nahme in privater Unterbringung. Dieser Trend hat sich
        vor allem im Kontext der Syrien-Flüchtlingskrise ver-
        schärft: Hauptaufnahmeländer wie Libanon, Jordanien
        und Irak sind bereits bis zu 80 Prozent urbanisiert. Durch
        diese hohe Zahl von Flüchtlingen lastet auf den aufneh-
        menden Gemeinden zunehmender Druck. Lokale
        Infrastruktur muss unterstützt und lokale Verwaltungen
        müssen gestärkt werden, um sich wirksam mit Fragen
        der Raumordnung, Planung und Landnutzung auseinan-
        derzusetzen.
        Hinzu kommen die sich verstetigenden „Zeltstädte“,
        die sich häufig zu informellen städtischen Strukturen
        weiterentwickeln. Das älteste Flüchtlingslager der Welt,
        das Lager Dadaab in Kenia, besteht zum Beispiel seit
        über 20 Jahren. Zwei Drittel aller Flüchtlinge, die in
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10877
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        Flüchtlingslagern Aufnahme finden, verbringen dort
        durchschnittlich 17 Jahre. Aus temporären Flüchtlings-
        lagern werden zum Teil also informelle Siedlungen mit
        städtischem Charakter. Diese informellen Flüchtlings-
        siedlungen weisen viele Ähnlichkeiten und identische
        Herausforderungen mit den „klassischen“ Slums in Ent-
        wicklungs- und Schwellenländern auf.
        Die Urbanisierung stellt die Politik und die Entwick-
        lungszusammenarbeit vor große Herausforderungen.
        Das Bewältigen dieser Herausforderungen ist zentral für
        das Ziel, eine nachhaltige Entwicklung in allen Regio-
        nen der Welt möglich zu machen. Daher erfordert dieser
        Trend einen neuen globalen Gesellschaftsvertrag. Dieser
        Gesellschaftsvertrag kombiniert eine Kultur der Acht-
        samkeit – aus ökologischer Verantwortung –, mit einer
        Kultur der Teilhabe – als soziale und demokratische Ver-
        antwortung – und einer Kultur der Verpflichtung gegen-
        über zukünftigen Generationen – Zukunftsverantwor-
        tung.
        Doch im Bereich sozialer Sicherheit, nachhaltiger
        Energie und Klima scheinen die bisherigen Anstrengun-
        gen der Bundesregierung nicht ausreichend, und auch in
        Ihrem Antrag wird eine Veränderung der Schwerpunkt-
        setzung nicht erkenntlich. Dennoch teilen wir viele Ihrer
        Punkte. Auch der Antrag der Linken enthält viele rich-
        tige und wichtige Punkte, doch die zum Teil sehr un-
        differenzierten und pauschalisierenden Forderungen
        bringen uns dazu, uns auch bei diesem Antrag zu enthal-
        ten.
        Anlage 13
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
        gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
        Übereinkommen vom 25. Januar 1988 über die
        gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen und zu
        dem Protokoll vom 27. Mai 2010 zur Änderung
        des Übereinkommens über die gegenseitige
        Amtshilfe in Steuersachen (Tagesordnungs-
        punkt 27)
        Uwe Feiler (CDU/CSU): In den folgenden Minuten
        möchte ich mich im Rahmen der ersten Lesung einem
        wichtigen und in meinen Augen sehr bedeutenden steu-
        erlichen Thema zuwenden.
        Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll ein weiterer
        Schritt zur erfolgreichen Zusammenarbeit und zur erwei-
        terten Kommunikation auf internationaler Ebene ge-
        schaffen werden und vonseiten der Bundesrepublik
        Deutschland eine Botschaft des grenzüberschreitenden
        Zusammenwirkens ausgesandt werden.
        Folglich ist es im Zeitalter der Globalisierung von
        unabdingbarer Bedeutung, einen einheitlichen Rahmen
        zur Amtshilfe in Steuersachen festzulegen, um eine
        Bekämpfung des weltweiten Steuerbetrugs sowie die Si-
        cherung der Steuereinnahmen zu gewährleisten.
        Aus meinem persönlichen Werdegang kann ich Ihnen
        ans Herz legen, wie notwendig ein intakter Austausch
        von Informationen in Steuersachen ist.
        Staatseinnahmen basieren nicht nur auf der Anwen-
        dung der steuerlichen Gesetzestexte – nein, sie sind ein
        Resultat aus der Kenntnis von Besteuerungsgrundlagen
        und deren tatbestandsmäßiger Verknüpfung.
        Als großen Wegweiser zur Amtshilfe in Steuersachen
        betrachte ich die Unterzeichnung der globalen Standards
        hier in Berlin am 29. Oktober 2014. Es handelte sich um
        den Abschluss eines mehrseitigen Vertrages zwischen
        50 Staaten, welcher basierend auf dem Übereinkommen
        für die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen von 1988
        und dem Abkommen mit den Vereinigten Staaten von
        Amerika, dem sogenannten „Foreign Account Tax Com-
        pliance Act“, FATCA, gefertigt wurde.
        Seit diesem Tag trägt die Bundesrepublik Deutsch-
        land gewisse Übermittlungsverpflichtungen gegenüber
        den anderen Vertragsstaaten. Diese Pflichten beinhalten
        den Austausch von Daten wie Name, Anschrift, Steuer-
        identifikationsnummer, Kontonummer und Jahresend-
        salden der Finanzkonten.
        Zur Untermauerung der dringenden Umsetzung und
        des gemeinsamen Handelns der Staaten kam es am
        9. Dezember 2014 zur Übernahme der benannten
        Verpflichtungen in die EU-Amtshilferichtlinie, mit dem
        Privileg, den Austausch erstmals für die Besteuerungs-
        zeiträume ab 2016 zum 30. Juni 2017 vonseiten der
        Staaten zu ermöglichen.
        Folglich betone ich die Wichtigkeit einer schnellen
        Einigung vonseiten des Bundestages, um den beteiligten
        Finanzinstitutionen und Behörden ein Zeitfenster zu er-
        öffnen, damit eine rechtzeitige Umsetzung gesichert ist.
        Auch in dieser Thematik sollte Deutschland eine Vor-
        bildfunktion einnehmen und schnellstmöglich hoheitlich
        handeln.
        Der vorliegende Gesetzentwurf umfasst 17 Paragra-
        fen und legt Melde- und Sorgfaltspflichten der Finanz-
        institute sowie Zuständigkeiten fest. Hervorzuhebende
        Pflichten der Finanzinstitute sind die Wahrung der
        datenschutzrechtlichen Vorgaben, die Erhebung der steu-
        erlichen Ansässigkeit des Kontoinhabers und die Ermitt-
        lung des Kontosaldos zum 31. Dezember des jeweiligen
        Kalenderjahres.
        In Bezug auf die Verfahren zur Ermittlung der Daten
        erfordert das Gesetz eine differenzierte Betrachtungs-
        weise für bestehende sowie neu eröffnete Konten von
        natürlichen Personen oder Rechtsträgern.
        Eine entsprechende Behandlung von natürlichen Per-
        sonen soll sich nach einem geringeren oder hohen Wert
        richten. Hier spricht das Gesetz konkrete Indizien an, die
        im Rahmen der Einzelfallbetrachtung ausgewertet wer-
        den müssen. Weiterhin wird ein Augenmerk auf Konten
        von Rechtsträgern gesetzt, die einen Saldo von mehr als
        250 000 USD zum 31. Dezember 2015 aufweisen.
        Zuständig für den internationalen Austausch ist neben
        dem Bundesministerium der Finanzen das Bundeszen-
        tralamt für Steuern. Zum prognostizierten Aufgabenbe-
        10878 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015
        (A) (C)
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        reich gehören die Übermittelung der Informationen über
        Finanzkonten an andere Staaten, die Annahme und die
        Weiterleitung an die Landesfinanzverwaltungen, die
        Speicherung der Daten für einen Zeitraum von 15 Jahren
        und letztendlich die Prüfung der festgelegten Melde- und
        Sorgfaltspflichten der Finanzinstitute.
        Aufmerksam mache ich Sie über die mir bekannten
        eingeschätzten Aufwendungen für die Wirtschaft in
        Höhe von 386 Millionen Euro und einen Erfüllungsauf-
        wand der Verwaltung mit einer Summe von insgesamt
        25 Millionen Euro für 2015 bis 2019.
        Trotz der bevorstehenden Kosten und des Bürokratie-
        aufwands möchte ich mich abschließend ganz klar für
        dieses Gesetz zur Sicherung einer rechtmäßigen Besteu-
        erung aussprechen.
        Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und für
        das erfolgreiche und engagierte Zusammenwirken im
        Finanzausschuss.
        Andreas Schwarz (SPD): Vor wenigen Tagen fei-
        erte die Unterzeichnung der Magna Carta ihren 800. Ge-
        burtstag. Auch von uns herzliche Glückwünsche zu die-
        sem Jubiläum! Diese „Urkunde der Freiheiten“ war ein
        vom englischen Adel erzwungener Vertrag gegen die
        Willkür des herrschenden Königs. Die Magna Carta
        sollte unter anderem vor maßlosen Steuerforderungen
        der Krone schützen.
        800 Jahre später können wir für Deutschland vermel-
        den, dass die Steuerlast für manche Leute hier und da
        durchaus etwas geringer ausfallen könnte, aber eben kei-
        nesfalls maßlos ist. Maßlos ist vor allem die kriminell
        anmutende Energie, mit der jährlich viele Milliarden
        Euro am Fiskus vorbei ins Ausland geschleust werden.
        Ich rede hier nicht von legal und transparent ins Ausland
        transferierten Summen, die zur Geldanlage oder für In-
        vestitionen eingesetzt werden. Niemand möchte in einer
        globalen Welt den freien Kapitalverkehr einschränken,
        aber es muss eben auch hier Regeln und Kontrolle ge-
        ben. Uns geht es um das illegal ins Ausland transferierte
        Geld. Wir müssen Steuerbetrug noch konsequenter als
        bisher bekämpfen.
        Daher begrüßen wir, dass wir mit dem Gesetzentwurf
        in Zukunft mehr Möglichkeiten haben werden, schwar-
        zen Schafen besser auf die Spur zu kommen.
        Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf und der natio-
        nalen Umsetzung des OECD-Standards stehen uns end-
        lich deutlich bessere Instrumente und Regularien zur
        Verfügung. Aber der Reihe nach.
        Ein funktionierender Staat kostet viel Geld. Durch
        immer mehr Aufgaben, die Bund, Länder und Gemein-
        den zu bewältigen haben, geraten die Haushalte immer
        weiter unter Druck, mancherorts so stark, dass durch
        Haushaltskürzungen viele wichtige Aufgaben nicht mehr
        ausreichend finanziert werden können. Es mangelt also
        nicht an Aufgaben, die es zu meistern gilt. Nein, es man-
        gelt an Geld!
        Ein funktionierendes Gemeinwesen liegt im Interesse
        von uns allen. Folglich liegt es auch in unserem Interesse,
        dass es mit ausreichend finanziellen Mitteln ausgestattet
        ist. Dafür müssen dem Staat auch diese Geldmittel zuflie-
        ßen. Nun gibt es aber Menschen und Unternehmen, die
        sich weigern, ihren gerechten Anteil an der Finanzierung
        unseres Staates zu leisten.
        Viel zu lange haben wir mit ansehen müssen, dass
        viele Milliarden Euro am Fiskus vorbei ins Ausland ge-
        schleust wurden und durch Steuerhinterziehung drin-
        gend erforderliche Mittel für die Finanzierung des Ge-
        meinwesens nicht zur Verfügung standen. Diesem Treiben
        können wir nicht tatenlos zusehen. Und das tun wir auch
        nicht. Zuletzt haben wir beispielsweise auf nationaler
        Ebene die strafbefreiende Selbstanzeige verschärft. Das
        war ein wichtiger Schritt. Aber uns allen ist völlig klar,
        dass wir dem Problem der Steuerhinterziehung nur inter-
        national wirklich begegnen können.
        Es existieren ja internationale Abkommen und Rege-
        lungen, um der Steuerflucht zu begegnen. Das ist gut
        und richtig. Es hat sich aber herausgestellt, dass diese In-
        strumente dringend der Überarbeitung bedurften. In ei-
        ner globalisierten Welt brauchen wir noch innovativere
        und praktikablere Instrumente.
        Deshalb sind wir davon überzeugt, dass mit dem
        neuen OECD-Standard mehr Möglichkeiten bestehen,
        die weltweite Steuerhinterziehung noch konsequenter zu
        bekämpfen und zu unterbinden als bisher. Durch den Ge-
        setzentwurf wird dem Umstand Rechnung getragen, dass
        wir nur durch verstärkte internationale Zusammenarbeit
        vorankommen. Das gilt eben ganz besonders auch für
        die Steuerpolitik.
        Wir verlieren jedes Jahr Milliarden an Steuereinnah-
        men. Dies ist Betrug an der Allgemeinheit und ungerecht
        gegenüber den Menschen und Unternehmen, die ihrer
        Steuerpflicht in vollem Umfang nachkommen. Es kann
        nicht angehen, dass sich Menschen oder Unternehmen
        vor ihrer Steuerpflicht drücken; schließlich nutzen sie
        auch sonst gerne die Infrastruktur, die ihnen von staatli-
        cher Seite zur Verfügung gestellt wird.
        Deshalb ist es auch folgerichtig, dass das Steuerge-
        heimnis auf internationaler Ebene fällt. Allzu oft diente
        es als Deckmantel für Steuerhinterziehung. Sogar die
        Schweiz hat das längst akzeptiert. Deshalb ist es auch im
        Interesse der ehrlichen Menschen und Unternehmen,
        endlich ernst zu machen und auch im Bereich des Daten-
        austauschs von Steuerdaten den OECD-Standard in
        Deutschland zu beschließen.
        Unser Gemeinwesen kann nur auskömmlich finan-
        ziert werden, wenn alle nach ihrer Leistungsfähigkeit ih-
        ren Steueranteil entrichten und dieses Geld auch dem
        Gemeinwesen zufließt.
        Der vorliegende Gesetzentwurf bringt uns hier ein gu-
        tes Stück voran. Deshalb findet er die volle Unterstüt-
        zung der SPD-Bundestagsfraktion.
        Richard Pitterle (DIE LINKE): Eine „höchst nützli-
        che Entwicklung“, wie es im Abkommen und im Gesetz-
        entwurf heißt, ist der internationale, wohl eher unge-
        hemmte Kapitalverkehr mit Sicherheit nicht. Richtig
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10879
        (A) (C)
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        ist der Befund, dass zu den vielfältigen Schattenseiten
        des freien Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs
        auch die Steuervermeidung und Steuerhinterziehung zu
        zählen sind. Steuerflucht und Steuerhinterziehung sind
        in einer globalisierten Welt ein zunehmend ernstes Pro-
        blem, dessen Lösung nur in einer Zusammenarbeit von
        allen betroffenen Staaten zu finden ist.
        Das Abkommen über die gegenseitige Amtshilfe in
        Steuersachen ist ein Schritt in die richtige Richtung. Es
        ist ein bedeutender symbolischer Akt. Mit ihm unter-
        streichen die immerhin mehr als 70 Staaten, die das Ab-
        kommen schon unterzeichnet haben, ihren Willen zur
        gemeinsamen Bekämpfung der Steuerhinterziehung. Das
        Abkommen existiert seit mehr als 20 Jahren. Dass sich
        nun auch Deutschland entschieden hat, das Abkommen
        zu ratifizieren, war ein mehr als überfälliger Schritt.
        Ob das Abkommen mehr als dieser symbolische Akt
        ist, muss sich erst noch zeigen. Zwar klingen die Mög-
        lichkeiten in dem Abkommen sehr weitreichend und um-
        fassend: Vorgesehen sind der Informationsaustausch, die
        Möglichkeit gleichzeitiger Steuerprüfungen und die Teil-
        nahme an Steuerprüfungen im Ausland, die Amtshilfe bei
        der Beitreibung von Steuerforderungen und nicht zuletzt
        die Hilfe bei der Zustellung von Schriftstücken. Das um-
        fassende Recht, Vorbehalte zu erklären, Ausnahmerege-
        lungen, technische, rechtliche und finanzielle Hemmnisse,
        Sprachbarrieren und kulturelle Unterschiede erleichtern
        die Zusammenarbeit nicht.
        Dabei will ich nicht mit dem Finger auf andere zei-
        gen: Wir haben in Deutschland eine gewaltige Lücke bei
        der personellen und sachlichen Ausstattung der Finanz-
        verwaltung. Die Ressourcen reichen nicht einmal, um in
        Deutschland nennenswerte Steuerprüfungen durchzu-
        führen und für Steuergerechtigkeit zu sorgen – 2013 lag
        die Quote bei gerade einmal 2,4 Prozent aller Betriebe.
        Allein diese Prüfungen haben 17 Milliarden Euro Mehr-
        einnahmen erzielt.
        Und selbst unter den Mitgliedstaaten der Europäi-
        schen Union gibt es regelmäßig Schwierigkeiten bei der
        Zusammenarbeit. So existiert zwar eine Amtshilfericht-
        linie in Steuersachen. Nur sind viele Details bei der Zu-
        sammenarbeit höchst umstritten und binden Verwal-
        tungsressourcen bei der Klärung.
        Ich begrüße ausdrücklich, dass die Bundesrepublik
        Deutschland von der Vorbehaltserklärung nach Arti-
        kel 30 Gebrauch macht und jegliche Amtshilfe bei der
        Beitreibung von Steuerforderungen und Geldbußen ver-
        weigert. Steuerforderungen anderer Staaten wie eigene
        Forderungen zu behandeln, setzt das sichere Wissen vo-
        raus, dass die zu vollstreckenden Entscheidungen nach
        den gleichen hohen rechtsstaatlichen Maßstäben zu-
        stande gekommen sind, wie wir sie in Deutschland anle-
        gen. Nicht bei allen Vertragsstaaten dieses Abkommens
        würde ich dafür meine Hand ins Feuer legen wollen.
        Selbst bei einigen Mitgliedstaaten der europäischen
        Union müssen wir leider noch heute Vorbehalte bei dem
        Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Ent-
        scheidungen mit Straf- und Eingriffscharakter aufrecht-
        erhalten.
        Das Abkommen über die gegenseitige Amtshilfe in
        Steuersachen offenbart vor allem, dass die langfristige
        Lösung von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung
        nur in weltweiten Mindeststandards bei der Besteuerung
        und der Bekämpfung des Steuerwettbewerbs selbst zu
        finden sein wird.
        Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In den
        vergangenen Jahren erlebten wir eine Vielzahl an Steuer-
        hinterziehungsskandalen, die das Verstecken von Gel-
        dern in sogenannten Steueroasen, auf Offshorekonten
        oder in Offshorefirmen zum Hintergrund hatten. Be-
        zeichnend war, dass die Informationen zu den Steuerbe-
        trügern nicht auf offiziellem Wege zugänglich waren
        und dass sie auch nicht von deutschen Steuerfahndern
        aufgedeckt wurden. Es bedurfte engagierter Journalisten,
        die auf das nach wie vor immense Ausmaß an Steuerhin-
        terziehung aufmerksam machten. Lux-Leaks, Commerz-
        bank-Leaks und Swiss-Leaks glichen sich in diesem
        Punkt.
        Ein Grund, weshalb die rot-grüne Mehrheit im Bun-
        desrat vor drei Jahren das von Finanzminister Schäuble
        forcierte Steuerabkommen mit der Schweiz abgelehnt
        hat, war, dass Deutschland dauerhaft keinerlei Handhabe
        gegen die Schweiz besessen hätte, um an Informationen
        zu deutschen Staatsbürgern mit Vermögen in der
        Schweiz zu gelangen. Steuerhinterzieher hätten sich dau-
        erhaft – dem Schweizer Bankgeheimnis sei Dank – in ih-
        rer Anonymität sicher gefühlt.
        Schäubles mit der Schweiz verhandeltes Steuerab-
        kommen war – um es mit den Worten des ehemaligen
        Abgeordneten im Schweizer Nationalrat Jean Ziegler
        wiederzugeben – eine „Einladung an die Kriminellen“,
        ein Kotau vor dem System der organisierten Steuerhin-
        terziehung. Steuerhinterziehern im Rahmen dieses Ab-
        kommens Anonymität zuzusichern, während sich jeder
        redliche Steuerzahler dem Finanzamt offenbaren muss,
        war schlicht inakzeptabel.
        Was seit der Ablehnung des Steuerabkommens durch
        die rot-grüne Mehrheit in den Ländern plötzlich in Sa-
        chen Zusammenarbeit gegen Steuerhinterziehung geht
        mit der Schweiz, macht zum einen deutlich, wie wichtig
        die Ablehnung war, und zum anderen, welchen Unter-
        schied ein konsequenter Kampf gegen Steuerhinterzie-
        hung macht, denken wir nur an die Fälle wie Hoeneß
        und andere.
        Der heute vorliegende Gesetzentwurf zum Abkom-
        men über die gegenseitige Amtshilfe ist in diesem Sinne
        ein grundlegender Schritt in die richtige Richtung, den
        wir begrüßen. Besonders die vorliegenden Regelungen
        zum Informationsaustausch. Denn ein vereinfachter
        Austausch von Informationen zwischen Staaten ist der
        zentrale Schlüssel, um das Verstecken von Geldern vor
        dem Fiskus zu erschweren. Durch die mit diesem Gesetz
        erfolgende Ratifizierung des Übereinkommens über die
        gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen wird die Voraus-
        setzung für den automatischen Informationsaustausch
        geschaffen.
        10880 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015
        (A) (C)
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        Da für die konkrete Ausgestaltung eines automati-
        schen Informationsaustauschs inzwischen auch ein Refe-
        rentenentwurf vorliegt – es handelt sich um den „Refe-
        rentenentwurf für die Ratifizierung der Mehrseitigen
        Vereinbarung vom 29. Oktober 2014 zwischen den zu-
        ständigen Behörden über den automatischen Austausch
        von Informationen über Finanzkonten“ – und dessen Ra-
        tifizierung auch von zahlreichen anderen Staaten ange-
        kündigt wurde, scheint die Hoffnung auf eine endlich
        substanzielle Verbesserung im Kampf gegen Steuerhin-
        terziehung berechtigt.
        Allerdings stellt sich immer dringender die Frage, wa-
        rum die Bundesregierung nicht auch national das macht,
        was sie ändern kann, um Steuerhinterziehung besser zu
        bekämpfen. Ein Thema ist dabei das geltende, unzurei-
        chend wirkende Geldwäschegesetz.
        Überhaupt nicht zu verstehen ist die Weiterexistenz
        der Abgeltungsteuer und des steuerlichen Bankgeheim-
        nisses in Deutschland. Steinbrücks berühmtes Zitat „Lie-
        ber 25 Prozent von x als 45 Prozent von nix“ wirkt wie
        ein Anachronismus aus längst vergangenen Zeiten. Die
        massive Privilegierung von Kapitaleinkommen gegen-
        über Arbeitseinkommen war immer schon ungerecht, sie
        wurde lediglich begründet mit dem Argument, man
        könne gegen illegale Kapitalflucht nichts machen. Das
        Argument zieht nicht mehr. Die Abgeltungsteuer ist
        heute in meiner Sicht nicht nur ungerecht, sondern klar
        verfassungswidrig. Warum macht die Bundesregierung
        nicht ihre Hausaufgaben in Sachen Steuerhinterziehung?
        Es gibt keinen Grund, zu warten!
        Eine weitere wichtige nationale Leerstelle in Deutsch-
        land zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung ist die Effi-
        zienz der Steuerverwaltungsstrukturen. Gerade den im-
        mer komplexer werdenden Steuervermeidungsstrategien
        von multinationalen Unternehmen kann nur eine starke
        Steuerverwaltung entgegentreten. Zahlreiche Staaten ha-
        ben hier bereits gehandelt, indem sie in ihren Steuerver-
        waltungen Spezialeinheiten für große Konzerne und
        reiche Bürger und Bürgerinnen geschaffen haben. In
        Deutschland steht dieser Schritt noch aus. Auch deswe-
        gen sind die Finanzämter den großen Steuerabteilungen
        der Konzerne oft hoffnungslos unterlegen. Es macht da-
        her Sinn, in einem ersten Schritt die Zuständigkeit für
        große Unternehmen und für Einkommensmillionäre auf
        den Bund zu übertragen. Die neu zu schaffende Spe-
        zialeinheit für diese besonders wichtigen Steuerfälle
        muss personell und technisch auf Augenhöhe mit den
        Steuerabteilungen der Konzerne gebracht werden. Sie
        sollte über eine internationale Steuerfahndung verfügen
        und Steuerhinterziehung und Steuervermeidung auch
        wissenschaftlich analysieren, um Abwehrstrategien und
        Empfehlungen für den Gesetzgeber zu entwickeln. Eine
        solche Einheit kann die Informationen bündeln und auch
        im Rahmen eines internationalen Informationsaustau-
        sches gezielt zur Verfügung stellen bzw. anfordern. Wir
        haben dazu einen Antrag eingebracht.
        Abschließend bleibt die Frage, warum zu dem zu-
        grundeliegenden Abkommen von 1988 erst heute, im
        Jahr 2015, ein Gesetzentwurf eingebracht wird. Andere
        Länder, darunter die Niederlande und Großbritannien,
        haben das Abkommen schon vor Jahren ratifiziert.
        Deutschland hier an der Seite von Liechtenstein und der
        Schweiz zu finden, die das Übereinkommen über die ge-
        genseitige Amtshilfe in Steuersachen bisher ebenfalls
        noch nicht ratifiziert haben, wirft kein gutes Licht auf
        das Bemühen der Finanzminister um den Kampf gegen
        Steuerhinterziehung in den vergangenen Jahren.
        Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär beim Bun-
        desminister der Finanzen: Mit dem vorliegenden Ge-
        setzentwurf soll das von der Bundesrepublik Deutsch-
        land unterzeichnete Übereinkommen vom 25. Januar
        1988 über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen
        und das Protokoll vom 27. Mai 2010 zur Änderung des
        Übereinkommens über die gegenseitige Amtshilfe in
        Steuersachen in deutsches Recht umgesetzt werden.
        Gleichzeitig sieht der Gesetzentwurf in Artikel 2 vor,
        dass das Bundesministerium der Finanzen ermächtigt
        wird, Änderungen und Ergänzungen der Anlage A zum
        Übereinkommen, Steuern, für die das Übereinkommen
        gilt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bun-
        desrates in Kraft zu setzen.
        Das vorliegende Übereinkommen ist das erste und
        einzige mehrseitige weltweite Regelungswerk über die
        gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen, das sich insbe-
        sondere durch seinen zeitgemäßen umfassenden Ansatz
        auszeichnet. Dieses Übereinkommen ist das Ergebnis
        gemeinsamer Arbeit auf Ebene des Europarates und der
        OECD.
        Das zu dem Übereinkommen vereinbarte Protokoll
        von 2010 geht zurück auf den G-20-Gipfel von 2009 in
        London. Seinerzeit hat man sich darauf verständigt, den
        Informationsaustausch auf Ersuchen für alle Länder zu
        öffnen, einschließlich der Entwicklungsländer. Dies ist
        aus deutscher Sicht ein ganz wichtiger Punkt. Denn wie
        für alle anderen Staaten ist es auch für diese Staaten
        wichtig, auf rechtsstaatlichem Wege über die für die
        Durchsetzung des Steueranspruchs wesentlichen Infor-
        mationen verfügen zu können.
        Mit dem Übereinkommen verpflichten sich die Ver-
        tragsparteien untereinander, Amtshilfe in Steuersachen
        zu leisten. Die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen
        dient dem Ziel einer ordnungsgemäßen Ermittlung der
        Steuerpflicht und damit der Bekämpfung von Steuerhin-
        terziehung und Steuervermeidung sowie der Unterstüt-
        zung der Steuerpflichtigen bei der Wahrnehmung ihrer
        Rechte, insbesondere im Hinblick auf ein ordnungsge-
        mäßes rechtliches Verfahren, das in allen Staaten als für
        Steuersachen geltend anerkannt werden soll, sowie ei-
        nem Schutz gegen Ungleichbehandlung und Doppelbe-
        steuerung.
        Mit dem Gesetz wird zugleich ein einheitlicher
        Rechtsrahmen für die Amtshilfe in Steuersachen mit den
        Unterzeichnerstaaten geschaffen.
        Die Amtshilfe umfasst die Möglichkeit gleichzeitiger
        Steuerprüfungen und der Teilnahme an Steuerprüfungen
        im Ausland, die Amtshilfe bei der Beitreibung, ein-
        schließlich Sicherungsmaßnahmen, sowie die Zustellung
        von Schriftstücken. Ferner können zwei oder mehr Ver-
        Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Juni 2015 10881
        (A) (C)
        (D)(B)
        tragsparteien für Fallkategorien und nach Verfahren, die
        sie einvernehmlich festlegen, bestimmte Informationen
        automatisch austauschen.
        Zur Wahrung des Datenschutzes sieht das Überein-
        kommen die Abgabe einer Erklärung durch den jeweili-
        gen Vertragsstaat zum Schutz der personenbezogenen
        Daten und Grenzen der Verpflichtung zur Amtshilfe vor.
        Die Bundesrepublik Deutschland wird eine solche Aus-
        legungserklärung, die den deutschen Anforderungen
        Rechnung trägt, gemeinsam mit der Ratifikationsur-
        kunde abgeben. Der Schutz der Rechte der Steuerpflich-
        tigen wird damit sowie durch Nennung von Schutzbe-
        stimmungen im Sinne des Artikels 22 Absatz 1 des
        Übereinkommens gewährleistet. Durch die Bezugnahme
        in der Auslegungserklärung auf den deutschen und euro-
        päischen Grund- und Menschenrechtsstandard wird die
        Nutzung übermittelter Steuerdaten entsprechend dem
        hierin verbürgten Schutzniveau sichergestellt. Insbeson-
        dere wird jedwede Nutzung der Steuerdaten in Strafver-
        fahren ausgeschlossen, die zur Verhängung der Todes-
        strafe oder zur Missachtung des menschenrechtlichen
        Mindeststandards führen könnten. Damit soll sicherge-
        stellt werden, dass die Amtshilfe unter Einhaltung dieser
        Bedingungen erfolgt.
        Das Übereinkommen sieht in Artikel 6 die Möglich-
        keit des automatischen Informationsaustauschs in Steu-
        ersachen auf der Basis einvernehmlicher festgelegter
        Fallkategorien und Verfahren vor. Die am 29. Oktober
        2014 in Berlin am Rande der Jahrestagung des Global
        Forum von der Bundesrepublik Deutschland sowie wei-
        teren 50 Staaten und Gebieten unterzeichnete „Mehrsei-
        tige Vereinbarung zwischen den zuständigen Behörden
        über den automatischen Austausch von Informationen
        über Finanzkonten“ ist eine solche einvernehmliche
        Festlegung auf Grundlage von Artikel 6 des Überein-
        kommens. Zwischenzeitlich wurde die Vereinbarung
        von mehr als 60 Staaten unterzeichnet. Für diese mehr-
        seitige Vereinbarung ist die Zustimmung des Gesetzge-
        bers im Rahmen eines gesonderten Gesetzgebungsver-
        fahrens erforderlich.
        Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf und den Ihnen
        noch gesondert zur Entscheidung vorzulegenden weite-
        ren Gesetzentwürfen zur steuerlichen Amtshilfe tragen
        wir maßgeblich auf rechtsstaatliche Weise dazu bei, dass
        die Steueransprüche des Staates gesichert werden kön-
        nen und zugleich die Chancen auf Steuerhinterziehung
        geringer werden.
        Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
        112. Sitzung
        Inhaltsverzeichnis
        TOP 5 Regierungserklärung zum Europäischen Rat
        TOP 6 Grundfreibetrag, Kinderfreibetrag, -geld, -zuschlag
        TOP 7, ZP 1 Eheverbot für gleichgeschlechtliche Paare
        TOP 36, ZP 2 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
        TOP 37 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
        ZP 3 Aktuelle Stunde zur Pkw-Maut
        TOP 8 Weltweite Lage der Religions- und Glaubensfreiheit
        TOP 9 Gesundheitsförderung und Prävention
        TOP 10 Armuts- und Reichtumsberichterstattung
        TOP 11 Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika
        TOP 12 Investitionen in die Wissenschaft
        TOP 13 Sicherung des UNESCO-Weltkulturerbes
        TOP 14 Herkunft von Konfliktrohstoffen und Menschenrechte
        TOP 15 Bilanzrichtlinie-Umsetzungsgesetz
        TOP 16 Schutz von Whistleblowern
        TOP 17 Entwicklungsfinanzierung
        TOP 18 Solidaritätszuschlag
        TOP 19 Deutsches Institut für Menschenrechte
        TOP 20 Aufwertung der Sozial- und Erziehungsdienste
        TOP 21 Internationaler Jugend- und Schüleraustausch
        TOP 23 Internationale Rechtshilfe in Strafsachen
        TOP 24 Strafprozessrecht (Abwesenheitsentscheidungen)
        TOP 25 Internationale Rechtshilfe bei Freiheitsentzug
        TOP 26 Entwicklungspolitische Chancen der Urbanisierung
        TOP 27 Übereinkommen über Amtshilfe in Steuersachen
        Anlagen