Protokoll:
18109

insert_drive_file

Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 109

  • date_rangeDatum: 11. Juni 2015

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:02 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 22:10 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/109 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 109. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 I n h a l t : Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- neten Hans-Christian Ströbele . . . . . . . . . . . 10375 A Wahl des Abgeordneten Harald Petzold (Ha- velland) als persönliches stellvertretendes Mitglied eines Vertreters der Bundesrepublik Deutschland zur Parlamentarischen Ver- sammlung des Europarates . . . . . . . . . . . . . 10375 A Wahl der Abgeordneten Hans-Werner Kammer als ordentliches Mitglied und Matthias Lietz als persönliches stellvertre- tendes Mitglied des Eisenbahninfrastruk- turbeirats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10375 B Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10375 B Absetzung der Tagesordnungspunkte 21 und 29 10376 A Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . 10376 A Tagesordnungspunkt 3: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Entlastung insbesondere der mittelständischen Wirtschaft von Büro- kratie (Bürokratieentlastungsgesetz) Drucksache 18/4948 . . . . . . . . . . . . . . . . . 10376 B b) Antrag der Abgeordneten Dr. Thomas Gambke, Kerstin Andreae, Dieter Janecek, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bürokratie gezielt abbauen statt Still- stand manifestieren Drucksache 18/4693 . . . . . . . . . . . . . . . . . 10376 B Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10376 C Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 10378 A Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 10380 C Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 10382 C Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10383 B Andrea Wicklein (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10384 C Dr. Helge Braun, Staatsminister BK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10385 D Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10387 B Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . 10388 C Helmut Nowak (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 10390 B Dr. Matthias Heider (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 10392 B Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Luise Amtsberg, Ekin Deligöz, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: In die Zukunft investieren – Asylsuchende auf ihrem Weg in Arbeit und Ausbildung unterstützen Drucksache 18/5095 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10393 D Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10394 A Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU) . . . . . . . 10395 D Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10397 A Daniela Kolbe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10398 C Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10400 B Jutta Eckenbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 10401 D Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 10403 C Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 Kerstin Griese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10405 A Andrea Lindholz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 10406 D Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 10408 D Andrea Lindholz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 10409 A Dr. Matthias Bartke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 10409 A Dr. Martin Pätzold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 10410 C Dr. Karamba Diaby (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 10411 C Kai Whittaker (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 10412 D Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10413 C Tagesordnungspunkt 5: Bericht des Petitionsausschusses: Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bundestag – Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages im Jahr 2014 Drucksache 18/4990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10415 A Kersten Steinke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 10415 B Andreas Mattfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 10417 C Kerstin Kassner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 10418 C Martina Stamm-Fibich (SPD) . . . . . . . . . . . . 10419 C Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10420 C Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 10421 D Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10422 A Birgit Wöllert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 10423 C Dr. Simone Raatz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10424 C Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10425 D Antje Lezius (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 10426 C Annette Sawade (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10427 C Christel Voßbeck-Kayser (CDU/CSU) . . . . . . 10428 C Stefan Schwartze (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10429 C Günter Baumann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 10430 C Zusatztagesordnungspunkt 2: a) Antrag der Abgeordneten Steffi Lemke, Nicole Maisch, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Wilderei und illegalen Artenhandel stoppen Drucksache 18/5046 . . . . . . . . . . . . . . . . . 10432 C b) Antrag der Abgeordneten Beate Walter- Rosenheimer, Dr. Franziska Brantner, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Kinder- und Jugendhilfe – Betei- ligungsrechte stärken, Beschwerden erleichtern und Ombudschaften ein- führen Drucksache 18/5103 . . . . . . . . . . . . . . . . . 10432 D Tagesordnungspunkt 30: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit zu der Unter- richtung durch die Bundesregierung: Bau- kulturbericht 2014/15 der Bundesstif- tung Baukultur und Stellungnahme der Bundesregierung Drucksachen 18/3020, 18/4850 . . . . . . . . 10433 A b) Beratung der Dritten Beschlussempfeh- lung und des Berichts des Wahlprüfungs- ausschusses: zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Wahl zum 8. Europäi- schen Parlament am 25. Mai 2014 Drucksache 18/5050 . . . . . . . . . . . . . . . . . 10433 A c)–i) Beratung der Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersich- ten 190, 191, 192, 193, 194, 195 und 196 zu Petitionen Drucksachen 18/4953, 18/4954, 18/4955, 18/4956, 18/4957, 18/4958, 18/4959 . . . . 10434 B Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . 10433 B Zusatztagesordnungspunkt 3: Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Luise Amtsberg, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: zu dem Vor- schlag einer EU-Datenschutzverordnung – KOM(2012) 11 – hier: Stellungnahme ge- genüber der Bundesregierung gemäß Arti- kel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes – Hohes Schutzniveau im Rat und im Trilog sicher- stellen Drucksache 18/5102 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10435 A Zusatztagesordnungspunkt 4: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Ehe für alle . . . . . . . . . . . . . . . 10435 B Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 10435 B Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10436 D Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10438 B Johannes Kahrs (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10439 D Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 10440 D Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 III Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE) . . . 10442 B Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD) . . . . . . . . . . . . 10443 C Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10444 D Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . 10445 D Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10447 B Alexander Hoffmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . 10448 B Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . 10449 C Tagesordnungspunkt 6: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Versor- gungsstärkungsgesetz – GKV-VSG) Drucksachen 18/4095, 18/5123 . . . . . . 10451 C – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/5124 . . . . . . . . . . . . . . 10451 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit – zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Wöllert, Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion DIE LINKE: Wohnortnahe Ge- sundheitsversorgung durch bedarfs- orientierte Planung sichern – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Maria Klein- Schmeink, Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gesundheitsversorgung umfassend verbessern – Patienten und Kommu- nen stärken, Strukturdefizite behe- ben, Qualitätsanreize ausbauen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Maria Klein- Schmeink, Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mehr Transparenz der Selbstver- waltung im Gesundheitswesen Drucksachen 18/4187, 18/4153, 18/1462, 18/5123 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10451 D Hermann Gröhe, Bundesminister BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10452 A Birgit Wöllert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 10453 C Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 10454 D Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10456 A Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10457 A Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10458 D Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 10459 D Hilde Mattheis (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10460 B Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10461 B Karin Maag (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 10462 A Dirk Heidenblut (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10463 B Reiner Meier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 10463 D Sabine Dittmar (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10464 D Tagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Michael Schlecht, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Exportüberschüsse abbauen – Wende in der Lohnpolitik einleiten Drucksache 18/4837 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10466 C Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 10466 C Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 10467 D Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . 10469 A Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . 10470 A Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD) . . . . . . 10470 D Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 10471 D Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . 10473 C Tagesordnungspunkt 8: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Ernährung und Landwirtschaft – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und SPD: Gesunde Ernährung stärken – Lebensmittel wertschätzen – zu dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Gute Lebensmittel für eine gesunde Ernährung – zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Friedrich Ostendorff, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gute Ernährung für alle Drucksachen 18/3726, 18/3730, 18/3733, 18/5008 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10475 A Katharina Landgraf (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 10475 B Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 10476 B IV Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 Jeannine Pflugradt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 10477 B Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10478 D Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 10480 A Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10481 A Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 10481 D Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 10482 B Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . . 10482 C Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 10483 C Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Agnieszka Brugger, Katharina Dröge, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Eckpunkte für ein Rüstungsexportkontrollgesetz Drucksache 18/4940 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10484 C Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10484 D Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 10486 B Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 10487 D Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10488 D Bernd Westphal (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10489 C Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10490 B Helmut Nowak (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 10491 A Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD) . . . . . . . . . . . . 10492 C Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 10492 D Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10493 D Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der interna- tionalen Sicherheitspräsenz in Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Vereinten Natio- nen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch- Technischen Abkommens zwischen der in- ternationalen Sicherheitspräsenz (KFOR) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien (jetzt: Republik Serbien) und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999 Drucksache 18/5052 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10494 C Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10494 D Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE) . . . . . . . 10496 B Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 10497 C Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10498 C Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE) . . . . . 10499 A Dirk Vöpel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10499 C Peter Beyer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 10500 B Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 10501 C Tagesordnungspunkt 11: Zweite und dritte Beratung des von den Abge- ordneten Halina Wawzyniak, Dr. Petra Sitte, Jan Korte, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE sowie den Abgeordne- ten Tabea Rößner, Dr. Konstantin von Notz, Renate Künast, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Auf- hebung des Achten Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes (Leistungsschutz- rechtsaufhebungsgesetz – LSR-AufhG) Drucksachen 18/3269, 18/4987 . . . . . . . . . . . 10502 C Martin Dörmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10502 C Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . 10503 D Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 10504 D Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10505 D Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 10506 C Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Multidimensionalen In- tegrierten Stabilisierungsmission der Ver- einten Nationen in Mali (MINUSMA) auf Grundlage der Resolution 2100 (2013) und 2164 (2014) des Sicherheitsrates der Ver- einten Nationen vom 25. April 2013 und 25. Juni 2014 Drucksache 18/5053 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10507 C Edelgard Bulmahn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 10507 D Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 10509 B Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10510 B Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10511 B Julia Obermeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 10512 A Tagesordnungspunkt 13: Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz, Katharina Dröge, Claudia Roth (Augsburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Ab- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 V geordneten Heike Hänsel, Niema Movassat, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Wirtschafts- partnerschaftsabkommen mit der West- afrikanischen Wirtschaftsunion dem Bun- destag zur Abstimmung vorlegen Drucksache 18/5096 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10512 D Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10513 A Charles M. Huber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 10513 D Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 10515 B Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10516 A Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der „United Nations Inte- rim Force in Lebanon“ (UNIFIL) auf Grundlage der Resolution 1701 (2006) vom 11. August 2006 und nachfolgender Verlän- gerungsresolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, zuletzt Resolution 2172 (2014) vom 26. August 2014 Drucksache 18/5054 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10517 C Niels Annen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10518 A Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 10519 B Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10520 A Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10521 A Julia Obermeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 10522 B Tagesordnungspunkt 15: Antrag der Abgeordneten Halina Wawzyniak, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Rechtliche Klarstellung der Vertraulichkeit von Äuße- rungen im Internet Drucksache 18/2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10523 A Tagesordnungspunkt 16: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Das Europäische Semester stärken, besser umsetzen und weiterentwickeln Drucksachen 18/4426, 18/5071 . . . . . . . . . 10523 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der Abgeordneten Katharina Dröge, Kerstin Andreae, Manuel Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nationales Reformpro- gramm 2015 – Wirtschaftspolitische Steuerung in der EU ernst nehmen und Investitionen stärken Drucksachen 18/4464, 18/4717 . . . . . . . . 10523 C Tagesordnungspunkt 17: Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz- ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Steuerfreie Risikoausgleichsrücklage für Agrarbe- triebe ab 2016 Drucksachen 18/3415, 18/4729 . . . . . . . . . . . 10523 D Tagesordnungspunkt 18: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richt- linie über alternative Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten und zur Durch- führung der Verordnung über Online- Streitbeilegung in Verbraucherangelegen- heiten Drucksache 18/5089 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10524 A Tagesordnungspunkt 19: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Zugang und Teilhabe ermöglichen – Die Dekade für Alphabetisierung in Deutschland umsetzen Drucksache 18/5090 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10524 B Tagesordnungspunkt 20: Antrag der Abgeordneten Ute Bertram, Yvonne Magwas, Michael Kretschmer, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Burkhard Blienert, Marco Bülow, Martin Dörmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Zukunftsweisende Kulturpolitik im demografischen Wandel – Stärkung der Kultur im ländlichen Raum Drucksache 18/5091 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10524 C Tagesordnungspunkt 22: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Transparenzrichtlinie- Änderungsrichtlinie Drucksache 18/5010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10524 D Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10525 C VI Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 10527 A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Rudolf Henke (CDU/CSU) zu der Abstim- mung über den von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Stär- kung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Versorgungsstär- kungsgesetz – GKV-VSG) (Tagesordnungs- punkt 6 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10527 B Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Rechtliche Klarstellung der Ver- traulichkeit von Äußerungen im Internet (Ta- gesordnungspunkt 15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10529 C Wilfried Oellers (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 10529 C Tobias Zech (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 10530 B Markus Paschke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 10531 A Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . 10532 A Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10532 D Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Antrag: Das Europäische Semester stärken, besser umsetzen und weiterentwickeln – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Antrag: Nationales Reformprogramm 2015 – Wirtschaftspolitische Steuerung in der EU ernst nehmen und Investitionen stärken (Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b) . . . . . . 10533 A Uwe Feiler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 10533 B Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 10534 A Christian Petry (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10534 D Thomas Lutze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 10535 D Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . 10536 B Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Steuerfreie Risikoausgleichs- rücklage für Agrarbetriebe ab 2016 (Tages- ordnungspunkt 17) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10537 A Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU) . . . . 10537 A Rita Stockhofe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 10537 D Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . 10538 D Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . 10539 D Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10541 A Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie über alternative Streitbeile- gung in Verbraucherangelegenheiten und zur Durchführung der Verordnung über Online- Streitbeilegung in Verbraucherangelegenhei- ten (Tagesordnungspunkt 18) . . . . . . . . . . . . . 10541 C Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . 10541 C Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU) . . . . . . . . 10543 A Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . 10543 C Dennis Rohde (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10544 B Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 10544 D Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10545 C Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Zugang und Teilhabe ermöglichen – Die Dekade für Alphabetisierung in Deutsch- land umsetzen (Tagesordnungspunkt 19) . . . . 10546 C Xaver Jung (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 10546 C Sven Volmering (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 10547 B Oliver Kaczmarek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 10548 B Marianne Schieder (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 10549 C Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . 10550 C Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10552 A Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Zukunftsweisende Kulturpolitik im demografischen Wandel – Stärkung der Kultur im ländlichen Raum (Tagesordnungs- punkt 20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10552 D Ute Bertram (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 10552 D Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU) . . . . . . 10553 C Burkhard Blienert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 10554 C Sigrid Hupach (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 10556 A Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10557 A Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 VII Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie (Ta- gesordnungspunkt 22) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10557 D Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU) . . . . . 10557 D Christian Petry (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10558 C Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 10559 B Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10559 C Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10560 D Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10375 (A) (C) (D)(B) 109. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 Beginn: 9.02 Uhr
  • folderAnlagen
    (D) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10527 (A) (C) (B) Anlagen zum Stenografischen Bericht (D) Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11.06.2015 Baerbock, Annalena BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11.06.2015 Barthel, Klaus SPD 11.06.2015 Behrens (Börde), Manfred CDU/CSU 11.06.2015 Dröge, Katharina BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11.06.2015 Ferner, Elke SPD 11.06.2015 Freese, Ulrich SPD 11.06.2015 Hartmann (Wackernheim), Michael SPD 11.06.2015 Ilgen, Matthias SPD 11.06.2015 Karawanskij, Susanna DIE LINKE 11.06.2015 Dr. Nick, Andreas CDU/CSU 11.06.2015 Nietan, Dietmar SPD 11.06.2015 Post (Minden), Achim SPD 11.06.2015 Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11.06.2015 Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Rudolf Henke (CDU/CSU) zu der Abstimmung über den von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurf eines Ge- setzes zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Ver- sorgungsstärkungsgesetz – GKV-VSG) (Tages- ordnungspunkt 6 a) Der Deutsche Bundestag stimmt heute mit voraus- sichtlich großer Mehrheit der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum GKV-Versorgungsstärkungsge- setz zu. Dies schließt 56 Änderungsanträge ein, die Union und SPD gestern im federführenden Ausschuss für Gesundheit beschlossen haben. Damit hat der Aus- schuss zahlreiche Konsequenzen aus der öffentlichen Diskussion und den parlamentarischen Beratungen des Gesetzes gezogen, einschließlich der öffentlichen Ausschussanhörung. Es liegt in der Natur der Sache, dass in einem solchen Konvolut nicht alle Aspekte jeden in gleicher Weise entzücken können. In den bisherigen Erörterungen des Gesetzes habe ich öffentlich wie nicht- öffentlich einer Reihe von Punkten aus dem ursprüngli- chen Entwurf widersprochen. Zum Teil hat es in diesen Punkten Änderungen des Entwurfes gegeben, die ich für Verbesserungen halte, zum Teil ist es zu keinen Änderungen gekommen, und es gibt auch einzelne Änderungen, die ich für nachteilig halte. Insgesamt verbessern die beschlossenen Ände- rungsanträge den Gesetzentwurf beträchtlich. Mit ein- zelnen Änderungswünschen bin ich in den bisherigen Beratungen durchgedrungen, mit anderen nicht. In den heutigen Abstimmungen zum Versorgungsstär- kungsgesetz stimme ich in dem Sinne ab, wie es die Arbeitsgruppe Gesundheit meiner Fraktion beschlossen hat und wie es in der Fraktion verabredet ist. Dennoch möchte ich von der nach der Geschäftsord- nung des Deutschen Bundestages gegebenen Möglich- keit Gebrauch machen, zu einzelnen Punkten in der Sache Stellung zu nehmen. Das Wunsch- und Wahlrecht der Versicherten wird über die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation hinaus auch für stationäre Vorsorgeleistungen und Leis- tungen zur medizinischen Vorsorge für Mütter und Väter gestärkt. Zudem wird die Verhütung von Zahnerkran- kungen bei Pflegebedürftigen und Menschen mit Behin- derungen verbessert. Beides sind gute Entscheidungen für die Wahrnehmung von mehr Eigenverantwortung. Das Verfahren zur Erstattung von Fahrtkosten und die Entgeltfortzahlung für Spender von Organen, Geweben und Blutstammzellen oder anderen Blutbestandteilen wird vereinfacht. Das ist gut für die Spendebereitschaft. Viele offene Fragen des Verfahrens zur Erbringung von Zweitmeinungen werden durch den entsprechenden Änderungsantrag geklärt, sonst notwendige langwierige Beratungen können dadurch abgekürzt werden. Sonst nicht an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende besonders erfahrene Ärzte können an der Erbringung von Zweitmeinungen teilnehmen. Das als hochkomplex und bürokratisch geltende Verfahren der Heilmittelversorgung von Versicherten mit langfristigem Behandlungsbedarf soll durch eine entsprechende Fristsetzung für den GBA bis zum 30. Juni 2016 vereinfacht werden. Über die Umsetzung des neu geschaffenen Anspruchs der Versicherten auf individuelle Beratung und Hilfestel- lung durch die Krankenkassen zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit muss das Bundesministerium für Ge- Anlagen 10528 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) sundheit dem Deutschen Bundestag bis zum 31. Dezem- ber 2018 einen Bericht erstatten. Dann kann auch ge- prüft werden, ob und wie sich dieser Anspruch auf das Vertrauensverhältnis zwischen Ärzten und Patienten aus- wirkt. Probleme, die sich in der Praxis vor allem nach Wochenenden bei der verspäteten Ausstellung von Ar- beitsunfähigkeits-Folgebescheinigungen gezeigt haben, werden gelöst. Im Fall der umstrittenen Terminservicestellen, deren zu erwartende Wirkungen ich für sehr bescheiden und damit stark bürokratieverdächtig halte, findet – erstmals zum 30. Juni 2017 – eine jährliche Evaluation durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung statt. Das sollte die künftige Debatte in diesem derzeit stark emotional bela- denen Punkt in Zukunft versachlichen. Ich bin sehr froh über die Klarstellung, dass in ambu- lanter Weiterbildung befindliche Ärztinnen und Ärzte zukünftig eine dem Tarifgehalt in Krankenhäusern entsprechende Vergütung erhalten sollen. Nach dem Gesetzentwurf sollen ambulante Weiterbildungsstellen verpflichtet werden, den von der Kassenärztlichen Verei- nigung und den Krankenkassen zur Verfügung gestellten Förderbetrag auf die im Krankenhaus gezahlte Vergü- tung anzuheben und an die in Weiterbildung befindli- chen Ärztinnen und Ärzte auszuzahlen. Das ist klug. Es muss unbedingt verhindert werden, dass sich Fälle wiederholen, in denen Weiterbildungsstellen diese För- dergelder nicht im vollen Umfang an die angestellten Ärzte ausgezahlt haben. Die gesetzliche Klarstellung ist notwendig, um diese rechtswidrige Praxis endlich ver- lässlicher zu unterbinden. Anders als im Krankenhaus erzielt die Arbeitsleistung der in Weiterbildung befindli- chen Ärzte in vertragsärztlichen Praxen bisher vielfach keinen zusätzlichen Erlös. Es ist gut, die Fördergelder extrabudgetär zur Verfügung zu stellen und die Mittel nach Tariferhöhungen im Krankenhaus zu dynamisieren. Besonders hervorzuheben sei die vorgesehene Regelung in der ÄrzteZulassungsverordnung, die Weiterbildungs- bereitschaft dadurch zu fördern, dass den Weiterbildern die Ausweitung des bisherigen Praxisumfangs erlaubt werde. Je nach Ausgestaltung kann dies die Anreize zur ambulanten Weiterbildung deutlich erhöhen. Die Verant- wortung dafür tragen künftig die Kassenärztlichen Verei- nigungen. Ich hoffe sehr, dass es in diesem Bereich künf- tig zu direkten Tarifverträgen kommt. Weiterbildung ist ärztliche Berufsausübung und ent- sprechend als Arbeitsleistung zu vergüten. Dieser Grundsatz darf nicht durch falsche Etikettierungen in- frage gestellt werden. Deshalb sind einige begriffliche Klarstellungen im Gesetz sehr zu begrüßen. Approbierte Ärztinnen und Ärzte sind keine Auszubildenden oder Stipendiaten, sondern gleichberechtigte Kolleginnen und Kollegen. Versuche, junge Ärzte nach holländischem Vorbild zu „Arztassistenten“ umzudefinieren, sind ab- zuzlehnen. Ich freue mich, dass die Änderungsanträge von Union und SPD zum GKV-Versorgungsstärkungsgesetz keine Verpflichtung enthalten, Mittel aus der Förderung der Weiterbildung in der Allgemeinmedizin zu universitär angebundenen Kompetenzzentren umzuschichten. Durch entsprechende Pläne der Umschichtung wären Fördermittel in zweistelliger Millionenhöhe für 375 Stel- len in der allgemeinmedizinischen Weiterbildung ge- fährdet. Leider ist diese Gefahr noch nicht ganz vom Tisch; die endgültige Entscheidung liegt in Zukunft bei dem GKV-Spitzenverband, der Kassenärztlichen Bun- desvereinigung und der Deutschen Krankenhausgesell- schaft. Nach der Krankenhauseinweisungs-Richtlinie des G-BA in der Neufassung vom 22. Januar 2015 ist Kranken- hausbehandlung notwendig, wenn die Weiterbehandlung mit den Mitteln des Krankenhauses aus medizinischen Gründen erfolgen muss. Hier heißt es unter anderem: „Die Verordnung stationärer Krankenhausbehandlung kommt allein aus medizinischen Gründen in Betracht. Alle Beteiligten sollten mitwirken, Belegungen der Krankenhäuser mit Patientinnen und Patienten zu ver- meiden, die der Behandlung mit den Mitteln des Kran- kenhauses nicht bedürfen.“ Die Regelung folgt dem Grundsatz „ambulant vor stationär“ und setzt darüber hinaus das Wirtschaftlichkeitsgebot des SGB V um, nach dem Leistungen, die nicht notwendig oder unwirt- schaftlich sind, von den Leistungserbringern nicht be- wirkt werden können. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Kompetenzen erforderlich sind, um die Notwendigkeit einer medizinischen Weiterbehand- lung zu beurteilen. Nach der Krankenhauseinweisungs- Richtlinie wird den Ärzten die Pflicht auferlegt, vor der Verordnung einer stationären Krankenhausbehandlung zunächst abzuwägen, ob die Behandlung unter Einbin- dung anderer ambulanter Leistungserbringer fortgesetzt werden kann. Bei konsequenter Anwendung hätte ein psychologi- scher Psychotherapeut nicht die Möglichkeit, ohne die Expertise eines somatisch-psychotherapeutisch tätigen Arztes zu entscheiden, ob eine medizinische Weiter- behandlung mit den Mitteln des Krankenhauses indiziert ist. Diese Möglichkeit hat nur der ärztliche Psychothera- peut. Darüber hinaus halten Krankenhäuser nahezu keine Einrichtungen vor, die eine stationäre Weiter- behandlung des therapeutischen Spektrums der psycho- logischen Psychotherapeuten vorsehen. Denkbar wäre die Einweisung in eine psychiatrische oder auch eine psychosomatische Einrichtung. Ob die je- weilige Behandlung nur mit den Mitteln des Kranken- hauses medizinisch möglich ist, kann wiederum nur ein entsprechend aus- und weitergebildeter Arzt entschei- den, das heißt, wiederum ist die Expertise etwa eines Psychiaters oder eines Psychosomatikers erforderlich, bzw. die ärztliche Einschätzung, ob der Patient durch diese Fachärzte ambulant weiter versorgt werden kann. Insbesondere muss die Möglichkeit einer begleiten- den Pharmakotherapie geprüft werden, bevor der Patient in die stationäre Behandlung gelangt. Vor diesem Hinter- grund ist die im Gesetz jetzt enthaltene Neureglung der Einweisungsbefugnisse für psychologische Psychothera- peuten in der Krankenhauseinweisungs-Richtlinie nur mit einer groben Verletzung von Regeln der Wirtschaft- lichkeit möglich. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10529 (A) (C) (D)(B) Darüber hinaus werden die Patienteninteressen nicht geschützt, wenn die Möglichkeiten der ambulanten medizinischen Weiterbehandlung unter Auslassung so- matischer bzw. pharmakotherapeutischer Expertise ge- prüft werden. Mit meinem Werben für eine andere Ent- scheidung bin ich in den Beratungen leider unterlegen. Für gelungen halte ich dagegen die Änderungen zu den Antragsberechtigungen für den Innovationsfonds. Der Kreis der möglichen Antragsteller ist somit nicht mehr begrenzt. Die Regelungen zu Zulassungsbeschränkungen und dem Aufkauf von Arztsitzen sind durch die beschlosse- nen Änderungsanträge erheblich abgemildert, wenn auch die Grundlage für die Grenze bei 140 Prozent ebenso zu hinterfragen ist wie die bei 110 Prozent oder jede andere. In der Sache führt es vor allem weiter, eine grundlegende Überarbeitung der Bedarfsplanung in An- griff zu nehmen. Gegenüber dem Ursprungsentwurf ist die Rolle der Hochschulambulanzen für Forschung und Lehre in der Ausschussfassung des Gesetzes wesentlich verbessert. Ich freue mich sehr, dass es gelungen ist, die ins Auge gefasste Wählbarkeitsvoraussetzung für die Vertreter der Ärzte im beratenden Fachausschuss für Psychotherapie, überwiegend psychotherapeutisch tätig sein zu müssen, ersatzlos entfallen zu lassen. Damit wird die Rolle der Ärztinnen und Ärzte, die eine ganzheitliche Patienten- versorgung unter Einschluss somatischer wie psychothe- rapeutischer Aspekte anstreben und verwirklichen, ge- stärkt. Es gehört zu den Errungenschaften moderner Medizin, die Abgrenzung in der Betrachtung von kör- perlicher, seelischer und geistiger Gesundheit zu über- winden. Für eine Verbesserung des Ursprungsentwurfes halte ich ebenfalls, dass es möglich wird, künftig bis zu 1 000 Stellen in der Weiterbildung für in der ambulanten Grundversorgung tätige Facharztdisziplinen finanziell zu fördern. Zu den besonders gelungenen Verbesserungen bereits im Ursprungsentwurf zähle ich die mit § 119 c SGB V erfolgende Einführung von Medizinischen Zentren für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen. Mehrere Deutsche Ärztetage haben die Etablierung dieser Versorgungsform im An- schluss an die Versorgung in sozialpädiatrischen Zentren verlangt. Dies ist ein wichtiger Schritt zu einer verbes- serten und nachhaltigen ärztlich geleiteten Versorgung von Menschen mit den genannten Einschränkungen. Ich danke unter anderem Professor Seidel aus Bielefeld und Helmut Peters aus Mainz für ihr nimmermüdes beharrli- ches Drängen in dieser Frage. Mit den aufgeführten Beispielen möchte ich den Weg, den das Gesetz in den Beratungen genommen hat, etwas deutlicher werden lassen und meine Einschätzung unter- streichen, dass es Licht wie Schatten enthält. Im Diskurs über das Gesetz ist vor allem die Schattenseite betont worden. Ich hoffe darauf, dass nun vor allem die Licht- seite wirkt. Wie bereits ausgeführt, stimme ich in den Abstim- mungen gemeinsam mit meiner Fraktion und damit der Ausschussfassung des Gesetzes zu. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Rechtliche Klarstel- lung der Vertraulichkeit von Äußerungen im Internet (Tagesordnungspunkt 15) Wilfried Oellers (CDU/CSU): Wir beraten heute den Antrag der Fraktion Die Linke zum Thema „Rechtliche Klarstellung der Vertraulichkeit von Äußerungen im Internet“. Mit diesem Antrag soll die Bundesregierung auf- gefordert werden, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der sicherstellt, dass Äußerungen, die sich im Internet an einen eingeschränkten Personenkreis richten, als ver- traulich gelten und somit keine arbeitsrechtlichen Maß- nahmen nach sich ziehen dürfen. Hiermit sind insbeson- dere Äußerungen gemeint, die als Schmähkritik und Formalbeleidigungen zu bezeichnen sind und über Inter- netplattformen wie zum Beispiel Facebook kommuni- ziert werden. Die Fraktion Die Linke beanstandet insbesondere, dass es zur Definition der Vertraulichkeit in derartigen Fällen keine einheitliche Auffassung in der Rechtspre- chung gebe. Sie macht dies an einer Gerichtsentschei- dung des LAG Hamm vom 10. Oktober 2012 und an einer Entscheidung des VGH München vom 29. Februar 2012 fest. Beide Entscheidungen widersprächen sich in dem Umgang mit dem Begriff der „Vertraulichkeit“, so- dass eine klarstellende gesetzliche Definition erforder- lich sei. Schaut man sich jedoch beide Entscheidungen einmal genau an, so stellt man keinen Widerspruch fest. Der Unterschied beider Entscheidungen liegt darin, dass die eine Entscheidung (LAG Hamm) zuungunsten des Arbeitnehmers und die andere Entscheidung (VGH München) zugunsten des Arbeitnehmers ausging. Der Unterschied liegt allerdings auch darin, dass beiden Ent- scheidungen unterschiedliche Sachverhalte zugrunde lagen. In beiden Fällen handelte es sich bei den Äußerungen des Arbeitnehmers bzw. Auszubildenden um Schmäh- kritik. Bezogen auf die Entscheidung des LAG Hamm han- delte es sich jedoch nicht um „einen bestimmten Freun- deskreis“ an den das „Posting“ gerichtet war. Hier ist die von der Fraktion Die Linke vorgenommene Darstellung des Sachverhalts, der der Entscheidung des LAG Hamm zugrunde lag, schlichtweg falsch. Es handelte sich bei dem Eintrag auf der Plattform Facebook um einen Pro- file-Eintrag, der allgemein zugänglich war und somit von jedem Nutzer des Internets eingesehen werden konnte. Auch wenn die Fraktion Die Linke hier vorge- ben möchte, dass es sich in diesem Fall um einen ver- 10530 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) traulichen Facebook-Eintrag handelte, so war dies offen- sichtlich nicht der Fall. Die Entscheidung des VGH München wird von der Fraktion Die Linke auch nicht richtig wiedergegeben. Das VGH München hat nicht gesagt, dass damit gerech- net werden darf, dass eine Äußerung über einen Face- book-Account als vertraulich angesehen werden könne. Vielmehr hat das VGH München gesagt, dass man nicht ohne jede Grundlage und insbesondere nicht ohne eine sachverständige Klärung entscheiden könne, ob es sich bei einer Äußerung um eine öffentliche oder vertrauliche Äußerung handelt. Warum hat das Gericht dies so for- muliert? Weil es sich hier um einen Prozesskostenhil- feantrag handelte und es hierbei zunächst nur zu einer summarischen Prüfung des Sachverhalts kommen kann. Die eigentliche Überprüfung obliegt in derartigen Fällen dem Hauptsacheverfahren. Damit sagt das Gericht, dass die Beantwortung der Frage nach der Vertraulichkeit derartiger Äußerungen immer eine Frage des Einzelfalls ist. Hier hat das Gericht sämtliche Umstände des jeweili- gen Falles zu berücksichtigen. Starre gesetzliche Regelungen werden hier also nicht weiterhelfen. Damit können beide Entscheidungen nicht dazu herangezogen werden, eine unzureichende Rechts- lage zu begründen. Beide Urteile widersprechen sich nicht. Darüber hinaus verweist die Fraktion Die Linke in ih- rem Antrag auf Verhandlungen auf europäischer Ebene zur sogenannten EU-Datenschutz-Grundverordnung. Sie soll nach Angaben der Fraktion Die Linke zur gestellten Frage weitere Hinweise geben. Es bietet sich in meinen Augen an, diese Verhandlungen zunächst einmal abzu- warten und dann zu sehen, welche Anhaltspunkte sich daraus für die hier geführte Diskussion ergeben. Dieses Verfahren ist schon fortgeschritten und soll nach den mir derzeit bekannten Angaben bis Ende des Jahres 2015/ Anfang 2016 abgeschlossen sein. Da die Rechtsprechung nicht derart widersprüchlich ist, wie es von der antragstellenden Fraktion behauptet wird, besteht derzeit auch kein dringender gesetzgeberi- scher Handlungsbedarf, sodass der hier vorliegende Antrag abzulehnen ist. Es bleibt zunächst das Verfahren auf europäischer Ebene abzuwarten. Tobias Zech (CDU/CSU): Dieser doch erstaunlich kurze Antrag meiner Kollegen der Linken hat in vier Zeilen zwei entscheidende Komponenten: zum einen eine inhaltliche, zum anderen eine zeitliche. Zunächst die positive Nachricht: Inhaltlich sind wir gar nicht so weit auseinander. Inhaltlich stimme ich mit Ihnen sogar in einigen Punkten überein. Zeitlich ist er nur leider vollkommen unpassend. Aber zunächst zum Inhaltlichen: Die zurzeit noch bestehende Datenschutzrichtlinie der EU (Rili 95/46/EG) ist von 1995. Da kann von digitalen Medien, geschweige denn Facebook oder Twitter noch gar nicht die Rede gewesen sein. Daher ist es natürlich wichtig, dass wir diese Richtlinie erneuern. Sie muss dem Zeitalter der Digitalisierung dringend angepasst werden. Und natürlich ist es – wie auch Sie es fordern, meine Damen und Herren – unsere Aufgabe, den Gerichten mit Gesetzen das richtige Werkzeug an die Hand zu legen. Sie brauchen Gesetze, die sie zur Grundlage ihrer Urteile machen können. Und das haben wir bisher noch nicht getan. Ich betone: bisher. Denn nun steht die Datenschutzgrundverordnung der EU in den letzten Zügen. Und damit komme ich zur zeit- lichen Komponente. Wir sind auf dem besten Weg, in Europa ein einheitli- ches Datenschutzrecht zu schaffen und damit auch den Arbeitgebern und Arbeitnehmern Rechtssicherheit zu gewährleisten. Mit der Datenschutzgrundverordnung und der Daten- schutzrichtlinie bringen wir ein umfassendes Paket auf den Weg, das sich nur auf EU-Ebene lösen lässt. Auf der Ratstagung der Justiz- und Innenminister am 15./16. Juni 2015 wird eine Einigung zum Datenschutzpaket ange- strebt. Die Verhandlungen zwischen dem Europäischen Parlament und dem Ministerrat unter Beteiligung der EU-Kommission über eine endgültige Einigung sollen noch in diesem Jahr zu Ende gebracht werden. So haben wir es auch im Koalitionsvertrag beschlossen und wer- den es auch umsetzen: Wir wollen europaweit ein einheitliches Schutzniveau beim Datenschutz garantieren und dabei die strengen deutschen Standards bewahren. Facebook, Microsoft, Twitter oder LinkedIn, sie alle haben ihre europäischen Hauptquartiere in Irland aufge- schlagen – und das nicht ohne Grund! Mit der Datenschutzgrundverordnung wäre das Schutzniveau auf einen Schlag überall gleich, das heißt, die Software-Riesen könnten kein Cherry-Picking mehr betreiben. Natürlich sind diese unterschiedlichen Rechtslagen nicht von heute auf morgen angeglichen; EU-weit gelten extrem unterschiedliche Bedingungen. Bezüglich der von Ihnen angesprochenen arbeits- rechtlichen Maßnahmen bei vertraulichen Äußerungen an einen eingeschränkten Personenkreis wird Artikel 82 der Datenschutz-Grundverordnung den Staaten die Mög- lichkeiten geben, im Rahmen nationaler arbeitsrechtli- cher Vorschriften entsprechend zu handeln. Dann – und erst dann – werden wir uns mit den ent- scheidenden Fragen beschäftigen: Was sind in der heuti- gen digitalen Medienwelt öffentliche Meinungsäußerun- gen? Was sind private Meinungsäußerungen? Wie definiert sich ein geschützter Personenkreis? Ist dabei derjenige überhaupt schützenswert, der seine Arbeit auf Facebook als „dämliche Scheiße“ bezeichnet? Und sei- nen Arbeitgeber als „Sklaventreiber“? Wie kann eine Aussage über Facebook, die sich „nur“ an den Freundes- kreis richtet, vertraulich sein? In diesem „Freundeskreis“ befinden sich gerne mal 3 000 sogenannte Freunde, bes- tenfalls auch alle Kollegen. Das ist doch nicht vertrau- lich. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10531 (A) (C) (D)(B) Facebook gibt es seit 2004, Twitter seit 2006. Dass es zu dieser heutigen massenhaften Nutzung kommt bezie- hungsweise für ein Beschäftigungsverhältnis relevant sein kann, steckt noch in den Kinderschuhen. Wir müssen daher einige bisher ausreichende Vor- schriften vom Offline- in den Onlinemodus erweitern. Aber das können wir nur gemeinsam mit der EU, da es andernfalls viel zu viele Möglichkeiten gibt, nationale Regelungen durch Verlegung von Firmensitzen etc. zu umgehen. Diesbezüglich sind wir auf dem besten Wege. Die CDU/CSU-Fraktion wird den Antrag der Linken zum jetzigen Zeitpunkt daher ablehnen. Markus Paschke (SPD): Das Problem mit dem rechtlichen Umgang mit Äußerungen im Internet haben Sie zutreffend benannt: Die unterschiedliche Rechtspre- chung spricht für einen Regelungsbedarf. Nehmen wir das Beispiel einer Auszubildenden, die auf ihrer Facebook-Seite postete; „Ab zum Arzt und dann Koffer packen“. Sie hatte sich krankschreiben las- sen und reiste anschließend nach Mallorca. Sie postete zudem Fotos ihrer Reise auf ihrer Facebook-Seite. Der Arbeitgeber kündigte ihr. Das Arbeitsgericht Düsseldorf hätte dem Arbeitgeber recht gegeben. Da beide Parteien vorher jedoch zu einem Vergleich kamen, kam es nicht mehr zu einem Urteil. Anderes Beispiel, anderes Urteil: Ein Mitarbeiter äußerte sich unter einem Alias-Na- men in einem Internetforum über die schlechte medizi- nisch-technische Ausstattung seines Arbeitsgebers. Ein Kollege hatte daraufhin dem Arbeitgeber einen Tipp ge- geben. Da der betreffende Mitarbeiter Betriebsratsmit- glied war, hätte ihm nur außerordentlich und fristlos ge- kündigt werden dürfen, was der Arbeitgeber auch tat. Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg entschied jedoch, dass die Äußerung kein Grund für eine außeror- dentliche Kündigung darstelle. Allein diese zwei Beispiele zeigen die unterschiedli- che Handhabung mit Äußerungen im Internet. Ich bin aber auch der Meinung, dass es viel mehr zu bedenken gibt, als das, was Sie in Ihrem Antrag formu- liert haben. Es stellt sich doch vielmehr die grundsätzli- che Frage: Welche Daten darf ein Arbeitgeber sammeln, erstellen und verwenden? Und diese Frage betrifft nicht nur mögliche Daten im Internet, sondern muss generell geklärt werden. Das Internet, soziale Netzwerke und neue Kommuni- kationsformen bedeuten besondere Herausforderungen für den Gesetzgeber. Und der gesetzliche Regelungsbe- darf in diesen Bereichen geht weit über das hinaus, was Ihr Antrag forderte. Also ja: Da müssen wir ran. Aber ist jetzt der richtige Zeitpunkt? Ich sage nein und möchte auch kurz erklären, warum: Derzeit – Sie wissen das – wird in Brüssel die Daten- schutzgrundverordnung verhandelt. In diesem Zusam- menhang brauchen wir eine Öffnungsklausel, die den Mitgliedstaaten eigene, weiter gehende Regelungen im Umgang mit Beschäftigtendaten ermöglicht. Ich begrüße sehr, dass die Reform der EU-Daten- schutzverordnung endlich vorankommt. Anfang nächs- ter Woche sollen die Verhandlungen des Rates der EU beendet werden. Daran anschließend kann dann endlich der Trilog zwischen Kommission, EU-Parlament und Rat aufgenommen werden. Unsere vornehmliche Aufgabe sehe ich deshalb darin, gemeinsam unsere Anstrengungen darauf zu verwenden, auf EU-Ebene Handlungsspielräume zu schaffen und zu sichern, Handlungsspielräume für einen besseren Daten- schutz. Alle Fraktionen im Deutschen Bundestag sind nun aufgefordert, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten in diesen Prozess einzubringen. Solange die Beratungen noch in Gang sind, macht es für mich keinen Sinn, mög- lichen Ergebnissen vorzugreifen. Erst wenn geklärt ist, was für Rahmenbedingungen die EU-Datenschutzgrund- verordnung ermöglicht, können wir uns an die Defini- tion machen, was wann und wie vertraulich ist. Denn ganz so einfach ist das ja auch nicht. Wenn ich mich beispielsweise mit meinem Nachbarn über schlechte Arbeitsbedingungen im Betrieb unterhalte, ist das grundsätzlich vertraulich. Aber ist es auch vertraulich, wenn ich das an meine 2 635 Facebook-Freunde poste? Was passiert denn, wenn ich ein Häkchen falsch gesetzt habe und statt mei- ner Familie die ganze Welt über meinen Stress auf der Arbeit informiere? Was ist ein eingeschränkter Perso- nenkreis? Nach meinem Verständnis beschreibt das so- wohl zwei Chatteilnehmer, wie auch eine von mir ausge- wählte Gruppe von 423 Personen. Was für Äußerungen sollen vertraulich behandelt werden können? Unter „Äußerungen im Internet“ kann ich Chats ge- nauso fassen wie auch Kommentare, neudeutsch „posts“ genannt. Ist es wirklich als vertraulich einzustufen, wenn ich eine Bemerkung an einer virtuellen Pinnwand hinter- lasse? Spielt es eine Rolle, ob jeder die Pinnwand einse- hen kann, oder gilt es schon als geschlossene Gruppe, wenn ich mich mit Namen und Kennwort anmelden muss? Genau betrachtet werden muss auch der Bereich „Äu- ßerungen in sozialen Netzwerken bzw. Internetforen“. Nicht alle sozialen Netzwerke sind gleich, schon gar nicht in der Ausrichtung ihrer Mitglieder. Heute wurde schon mehrfach Facebook genannt, aber was ist mit Netzwerken, die auf berufliche Vernetzung angelegt sind, wie zum Beispiel Xing oder LinkedIn? Kann und muss hier der gleiche Vertrauensschutz gelten? Eine Äu- ßerung dort hat eine ganz andere Reichweite, schon al- lein wegen der Ausrichtung als geschäftliches Netzwerk. Noch eine Überlegung dazu: Wie verhält es sich mit noch spezifischeren Netzwerken wie dem IG-Metall- Netzwerk ZOOM für Zeitarbeiterinnen und Zeitarbeiter? Wäre hier nicht besonderer Schutz vor Sanktionen bei Äußerungen geboten? 10532 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) All das fällt unter „Äußerungen, die sich im Internet an einen eingeschränkten Personenkreis richten“. Sie se- hen also, hier liegt eine Menge Arbeit vor uns. Da wir unsere Gesetze nicht jedes Jahr ändern wollen und können, müssen wir auch klären, wie wir zukünftige Entwicklungen in der Kommunikation berücksichtigen. Das ist deutlich mehr Arbeit, als der Antrag auf den ersten Blick vermuten lässt. Aber wir werden die He- rausforderung anpacken, deshalb wurden wir ja gewählt. Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Wer kennt das nicht? Sich einen Moment so richtig geärgert, und schon rutscht einem ein böses Wort über die Lippen. In einigen Fällen war dies vielleicht ein böses Wort über den eige- nen Arbeitgeber. Konsequenzen mussten Sie natürlich keine fürchten, denn solange Sie dieses böse Wort nicht in ein Mikrofon vor Tausenden Leuten brüllten, konnten Sie darauf vertrauen, dass Ihre Äußerung als privat galt und somit keine arbeitsrechtlichen Konsequenzen wie beispielsweise eine Kündigung nach sich ziehen konnte. Genauso schnell, wie ein böses Wort gesagt ist, ist ein böses Wort getippt. Zum Beispiel in ein soziales Netz- werk wie beispielsweise Facebook. Und hier beginnen die Probleme. Nun kann man natürlich entgegnen: Selber schuld! Was schreibt man auch so einen Unsinn in ein soziales Netzwerk. – Damit verkennt man aber, dass Nutzerinnen und Nutzer zum großen Teil soziale Netzwerke wie Facebook nicht als eine öffentliche Plattform für Ver- kündigungen verstehen – ich weiß, gerade Politiker ver- stehen Facebook fälschlicherweise genau so –, sondern ganz privat für sich nutzen, um mit Freundinnen und Freunden in Kontakt zu bleiben und sie an ihrem persön- lichen Leben teilhaben zu lassen. Niemand – so hoffe ich doch – würde hier auf die Idee kommen, dass ein böses Wort über den Arbeitgeber im Freundeskreis eine fristlose Kündigung rechtfertigt. Warum soll dann eine Äußerung, die im Freundeskreis eines sozialen Netz- werks getätigt wird, eine Kündigung rechtfertigen? Trotz dieser berechtigten Frage wurden Kündigungen wegen Äußerungen in einem sozialen Netzwerk von Gerichten bestätigt. So urteilte das Landesarbeitsgericht Hamm am 10. Oktober 2012, dass auch dann keine Vertraulichkeit gegeben ist, wenn ein Posting nur einem bestimmten Freundeskreis zugänglich ist. Doch einheit- lich ist die Rechtsprechung nicht. Der Verwaltungs- gerichtshof München urteilte am 29. Februar 2012 in ei- nem anderen Fall, dass ein Benutzer selbst dann, wenn er über seinen privaten Facebook-Account eine Äußerung verbreitet, damit rechnen darf, dass diese vertraulich be- handelt wird. Es geht hierbei im Übrigen nicht immer um Beleidigungen. Es geht auch um Geheimnisverrat und Ähnliches. Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bleibt also die Unsicherheit, was in einem sozialen Netzwerk ge- postet werden darf und was besser nicht. Es ist dringend an der Zeit, diese Unsicherheit zu beenden. Leider haben unsere Kleinen Anfragen zu dem Thema nur ergeben, dass die Große Koalition keinerlei Handlungsbedarf sieht. Das kann es aber nicht sein. Dazu sind die bekann- ten Urteile zu unterschiedlich, dazu betrifft es zu viele Menschen. Wir von der Linken haben deshalb einen Antrag ein- gebracht und sind der Auffassung, dass eine im Internet getätigte Äußerung dann als vertraulich gelten soll, wenn sie sich an einen eingeschränkten Personenkreis richtet. Das kann unseres Erachtens dann der Fall sein, wenn sie beispielsweise in einer begrenzten Facebook- Gruppe fällt oder sich an einen begrenzten Freundeskreis innerhalb des sozialen Netzwerks richtet. Mit Absicht haben wir die Frage offengelassen, in welchem Rahmen sich dieser Personenkreis bewegen darf, um noch als be- grenzt zu gelten. Darauf habe ich persönlich selbst noch keine Antwort. Vielleicht finden wir gemeinsam eine. Sehen Sie unseren Antrag also als Anfang einer dringend notwendigen Diskussion und nicht als Ende. Es ist klar, dass verbindliche Regeln geschaffen wer- den müssen, um Rechtssicherheit für Äußerungen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern herzustellen. Es ist an der Zeit, Regeln zu finden, die der Lebenswelt von Nutzerinnen und Nutzern in sozialen Netzwerken ent- sprechen. Das kann nur heißen, dass nicht jedes Face- book-Posting gleich als öffentlich abgestempelt wird, nur weil es theoretisch hundert Freundinnen und Freunde lesen können. Und das kann nur heißen, dass ei- nem nicht gleich die Kündigung droht, weil man mal im Affekt ein böses Wort über den Arbeitgeber auf Face- book schreibt. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenn es darum geht, Arbeitnehmerrechte zu stärken, bin ich im- mer gerne dabei. Aber was ihr da jetzt aufgeschrieben habt, ist wirklich nicht ansatzweise durchdacht. Bei allem Respekt! Ob ein Gesprächskreis vertraulich ist oder nicht, kann doch nicht der Gesetzgeber entscheiden. Jeder Mensch und auch jeder Arbeitnehmer muss sich überlegen und entscheiden, welche Art von Äußerungen er in welchem Gesprächskreis und in welchem Umfeld tätigen will und kann. Das ist in der analogen Welt nicht anders als in der digitalen Welt. Ein uralter deutscher Rechtssatz lautet: Trau, schau, wem! Und wenn ich im Netz kommuniziere, ohne meine Gesprächspartner vor Augen zu haben, sind die Sorg- faltspflichten eher noch höher als bei einer Kommunika- tion von Angesicht zu Angesicht. Da kann der Gesetzge- ber keinen Freibrief erteilen. Es gibt schließlich auch kein Gesetz, das besagt, dass ich an meinem Küchen- tisch ungestraft jede Schmähkritik und Beleidigung äu- ßern darf. Es weiß ja schließlich keiner, wie groß meine Küche ist und ob nicht gerade ein Empfang mit hundert Leuten in meiner Küche stattfindet. Gleiches gilt für Fo- ren mit eingeschränktem Personenkreis. Da kommt es eben auch darauf an, wie genau ich diese Personen kenne und einschätzen kann und wie viele Personen es sind. Einen Zusammenhang mit der Datenschutzverord- nung sehe ich nicht, denn bei den Kündigungsfällen geht Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10533 (A) (C) (D)(B) es nicht darum, dass der Arbeitgeber auf Daten des Ar- beitnehmers zugreift, sondern alleine darum, dass ruf- schädigende Äußerungen den Kreis derer verlassen, für die sie bestimmt waren. Das ist aber keine Folge einer Rechtsunsicherheit, sondern einer Fehleinschätzung über die Vertraulichkeit der Kommunikation. Da muss ich leider mal der Bundesregierung recht ge- ben, wenn sie in ihrer Antwort auf die kleine Anfrage schreibt: Eine Beurteilung kann im Übrigen nur anhand des konkreten Einzelfalls erfolgen. Die Größe des Empfängerkreises, das Ziel und der Zweck des Kommunikationsforums oder die soziale Akzep- tanz und Ortsüblichkeit stellen weitere Kriterien für die Beurteilung dar. Dem habe ich wenig hinzuzufügen. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Antrag: Das Europäische Semester stärken, besser umsetzen und weiterentwickeln – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Antrag: Nationales Reformprogramm 2015 – Wirtschaftspolitische Steuerung in der EU ernst nehmen und Investitionen stärken (Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b) Uwe Feiler (CDU/CSU): Die Kompetenz, über die Wirtschaftspolitik zu entscheiden, liegt grundsätzlich bei den EU-Mitgliedstaaten. Das ist im Vertrag über die Ar- beitsweise der Europäischen Union geregelt. Die Mit- gliedstaaten betrachten die Wirtschaftspolitik als eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse und koordi- nieren sie im Rat. Um unsere Wirtschaft steht es wirklich gut. Die Er- werbstätigkeit liegt auf Rekordniveau, die Arbeitslosig- keit sinkt und die Löhne steigen. Auch in diesem Jahr wird der Bundeshaushalt annähernd ausgeglichen sein und strukturell einen leichten Überschuss ausweisen. Insbesondere die Vervollständigung des Binnenmark- tes sowie die Einführung des Euros haben jedoch ver- stärkt die Notwendigkeit einer besseren wirtschaftspoli- tischen Koordinierung auf europäischer Ebene gezeigt. Jahrelang wurde der Fokus seitens der EU lediglich auf die Überwachung der Schulden und Defizite gelegt; im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise ist dann die Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitiken deut- lich verstärkt worden. Euro-Plus-Pakt, Fiskalvertrag, Six-Pack und Two-Pack sind hier einige Schlagworte. Im Jahr 2010 wurde schließlich das Europäische Se- mester als Instrument der wirtschafts-, finanz- und be- schäftigungspolitischen Koordinierung eingeführt. Die Ergebnisse der letzten Europäischen Semester haben ge- zeigt, dass die ergriffenen Reformen bereits zu einer verbesserten Koordinierung geführt haben. Allerdings erweist sich die Umsetzung der länderspezifischen Emp- fehlungen weiterhin als Schwierigkeit des Europäischen Semesters. Im Jahr 2013 wurden 10 Prozent vollständig umgesetzt, bei 45 Prozent der länderspezifischen Emp- fehlungen war nur eine eingeschränkte oder überhaupt keine Umsetzung festzustellen. Frei nach dem letzten Finanzminister unseres Koali- tionspartners zur Abgeltungsteuer: „10 Prozent von x ist besser als nix“, dürfen wir hier nicht verfahren und uns zufriedengeben. Es liegt in unserem Interesse, die Sicht- barkeit, Verbindlichkeit und Wirksamkeit des Europäi- schen Semesters zu verbessern. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Kommission im Rahmen des Europäischen Semesters eine Aufgabe erle- digt, die ihr die Mitgliedstaaten selbst übertragen haben. Ihre Empfehlungen sollten nicht ignoriert werden, son- dern zum Wohle der europäischen Bevölkerung umge- setzt werden. Mit dem vorliegenden Antrag werden wir dieser Zielsetzung gerecht. Wir wollen das Europäische Semester stärken, für eine bessere Umsetzung sorgen und die Koordinierung weiterentwickeln. Eine offenere politische Debatte, engere Abstimmung mit den nationalen Parlamenten sowie mehr Transparenz werden zu einer größeren Akzeptanz der Empfehlungen in den Mitgliedstaaten führen. Dabei muss die Kommission ihre Stellungnahmen und Empfehlungen nach objektiven Kriterien und ohne politische Intervention der Mitgliedstaaten erarbeiten. Eine weitere entscheidende Grundlage für die Akzep- tanz und bessere Umsetzung der länderspezifischen Empfehlungen ist die Qualität und Vergleichbarkeit der erhobenen statistischen Daten. Deswegen fordern wir in dem Antrag auch, dass den Empfehlungen konsentierte und belastbare statistische Daten der Mitgliedstaaten zugrunde gelegt werden. Als Beispiel sei hier der Leistungsbilanzüberschuss in Deutschland genannt. In den länderspezifischen Empfehlungen für Deutsch- land fordert die Kommission erneut, den Leistungs- bilanzüberschuss zu verringern. Dabei muss man beach- ten, dass der Überschuss insbesondere durch eine große Nachfrage nach Produkten aus Deutschland erzielt wor- den ist. Wir sind stolz darauf und wollen, dass es so bleibt. Weitere Gründe für den Überschuss sind auch die op- timale Konjunkturlage in wichtigen Abnehmerländern sowie der schwache Euro und die niedrigen Erdölkosten. Außerdem geht der Überschuss überwiegend aus den Geschäften mit außereuropäischen Handelspartnern her- vor. Nichtsdestotrotz müssen auch wir uns kritisch mit den Empfehlungen auseinandersetzen. Mit dem Leistungs- bilanzüberschuss werden die niedrigen öffentlichen und privaten Importe kritisiert. Die nominalen öffentlichen 10534 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) Bruttoinvestitionen sind zwar in den vergangenen Jahren gestiegen. Dennoch soll die Struktur der öffentlichen Haushalte noch stärker auf Investitionen ausgerichtet werden. Da in Deutschland die Investitionen nicht nur durch den Bund, sondern insbesondere auch von Ländern und Kommunen getätigt werden, war es richtig und wichtig, hier eine entsprechende Unterstützung auf den Weg zu bringen, um Investitionsreize auf allen Ebenen zu setzen. Diese Politik werden wir fortsetzen und mit dem Europäischen Semester die bestmögliche globale Wett- bewerbsfähigkeit der europäischen Volkswirtschaften schaffen. Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU): Antrag Union: Wir wollen die Koordinierung der europäischen Wirtschafts- politik weiter stärken. Das europäische Semester kann ganz wesentlich dazu beitragen. Die Koalitionsfraktio- nen haben hierzu einen entsprechenden Antrag auf den Weg gebracht. Zunächst ist es wichtig, Transparenz im Verfahren zu schaffen. Grundlage der Empfehlungen der Kommission müs- sen belastbare statistische Daten aus den Mitgliedstaaten sein. Zur Stärkung der Akzeptanz muss bei der Umset- zung der Maßnahmen das Parlament von Beginn an beteiligt werden. Ziel des europäischen Semesters muss es sein, die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit der Mitgliedstaaten zu stärken. Dazu wurde es 2010 als In- strument eingeführt. Durch die Stärkung der wirtschafts-, finanz- und beschäftigungspolitischen Koordinierung wird dieses Ziel verfolgt. Zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit in der Euro- päischen Union sind Strukturreformen in genau diesen Politikfeldern notwendig. Zudem braucht Europa zusätz- liche Investitionen in Forschung, Bildung und Infra- struktur. Wir nutzen so das Reformprogramm, um die europäi- sche und die deutsche Wirtschaft voranzubringen. Antrag Bündnis 90/Die Grünen: Bündnis 90/Die Grü- nen stellen ebenso wieder einmal einen Antrag zum eu- ropäischen Semester. Außenhandel: Darin kritisieren Sie die Außenhan- delsüberschüsse. Applaus! Diese sind jedoch ein Zeichen der hohen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Von der deutschen Wettbewerbsfähigkeit profitieren die gesam- ten EU-Länder: 58 Prozent aller deutschen Importe stammen aus an- deren EU-Mitgliedstaaten. Das schafft Beschäftigung und Wohlstand nicht nur bei uns, sondern auch in den anderen EU-Ländern. Hier muss noch einmal klar betont werden, dass die Kommission für Deutschland eben gerade keine „zu- kunfts- und stabilitätsgefährdenden“ Ungleichgewichte sieht. Binnenkonsum: Sie bemängeln in Ihrem Antrag die zu geringe Binnennachfrage. Wir hatten 2014 einen Bruttolohnzuwachs von 3,2 Prozent und einen Reallohnzuwachs von 1,6 Prozent, die größte Zunahme seit 2010. 2015 werden 42,8 Millionen Menschen erwerbstätig sein – so viele wie noch nie in der Geschichte der Bun- desrepublik. Auf diese Entwicklung können wir stolz sein. Deutschland hat im Hinblick auf die Europa-2020-Ziele in den Bereichen Beschäftigung, Bildung und Armut alle Zielwerte übererfüllt. So lag die Erwerbstätigenquote für die 20- bis 64-Jäh- rigen mit 78,1 Prozent 2014 deutlich über der Zielmarke von 75 Prozent. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist zwischen 2008 und 2012 um rund 40 Prozent gesunken. Akademikerquote: Sie bemängeln, dass Deutschland beim EU-2020-Ziel bei der Quote der Hochschulab- solventen hinterherhinke, so wörtlich. Man sieht hier einmal mehr, wo Sie Ihre Prioritäten setzen. Wir wissen, was wir an der beruflichen Bildung ha- ben. Auch die OECD, die Deutschland lange wegen der im Vergleich niedrigen Akademikerrate kritisiert hatte, erkennt dies mittlerweile an. Nur Sie nicht! Sie fordern einen Ausbau der Kinderbetreuung – das machen wir bereits, wir investieren 6 Milliarden Euro in die Bildung und Betreuung. Wir wollen Wahlfreiheit für die Eltern – Sie wollen Bevormundung. Investitionen: Wir setzen die Schwerpunkte bei den öffentlichen Investitionen gezielt in den Erhalt und den Ausbau der öffentlichen Infrastruktur, den Breitbandaus- bau, aber auch bei der CO2-Minderung. Außerdem ent- lasten wir die Kommunen. Diese zusätzlichen Investitio- nen werden ohne neue Schulden geleistet – wir setzen die Sanierung der öffentlichen Haushalte konsequent fort. Wir legen also die Grundlagen für eine weiterhin positive Entwicklung und schaffen Stabilität für Investi- tionen. Schönen Gruß an die Frau Dröge, die ja ihre ganze geistige Kapazität in die Anträge der Grünen zu diesem Thema steckte – diese ist, glaube ich, schon im Mutter- schutz, das ist ja auch wichtig. Ihren Antrag müssen wir dennoch ablehnen. Christian Petry (SPD): Bevor ich auf die jeweiligen Anträge zu sprechen komme, möchte ich einige grund- sätzliche Worte zum Europäischen Semester sagen. Ziel des 2011 erstmals durchgeführten Semesters ist eine engere und verbindlichere Abstimmung der bislang rein national geregelten Wirtschaftspolitik innerhalb der Europäischen Union. Auf Grundlage der von der Euro- päischen Kommission jährlich vorgelegten länderspezi- fischen Empfehlungen erlassen hierbei alle EU- Mitgliedstaaten nationale Reformprogramme, um den Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10535 (A) (C) (D)(B) wirtschaftspolitischen Vorschlägen der Kommission nachzukommen. Seit Schaffung des Europäischen Semesters wird die- ses kritisch begleitet. Zu unverbindlich und einseitig seien die wirtschaftspolitischen Empfehlungen, ist ein oft geäußerter Kritikpunkt. Man darf bei all dieser Kritik jedoch nicht verkennen, dass das Europäische Semester ein ganz wesentlicher Schritt hin zu einer besseren und effektiveren Abstimmung der nationalen Wirtschafts- politik innerhalb der Europäischen Union ist. Unter die- sem Gesichtspunkt kommt dem Europäischen Semester ein immenser Stellenwert zu. Mit dem Semester wurden folglich die richtigen Leh- ren aus der Krise der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion gezogen: Eine supranational organi- sierte Währungspolitik braucht weitere, einheitlich gere- gelte Politikbereiche, die sie flankiert und somit unter- stützt. Eine gemeinsame Währung innerhalb eines heterogenen Wirtschaftsraums kann langfristig nur bestehen, wenn sie von einer echten Wirtschaftsunion begleitet wird. So gesehen ist die Schaffung des Euro- päischen Semester mit einem Paradigmenwechsel inner- halb der europäischen Wirtschaftspolitik gleichzusetzen. Das Europäische Semester ist seit der Einführung teils harscher Kritik ausgesetzt. Wichtig ist dabei: Es handelt sich um ein junges, in der Entwicklung befindli- ches Instrument. Daher ist die 2014 von der Europäi- schen Kommission vorgeschlagene Verbesserung des Semesters nur zu begrüßen. In unserem Antrag hat die Regierungskoalition zen- trale Anforderungen an das Europäische Semester für die kommenden Jahre formuliert. Ich finde, dass mit den neun vorgelegten inhaltlichen Punkten viel von dem auf- genommen wurde, was in der parlamentarischen Debatte – oftmals berechtigt – kritisch am Europäischen Semes- ter hinterfragt wurde. Beginnen möchte ich mit dem Brief der Bundesminis- ter Gabriel und Schäuble aus dem Oktober 2014, in dem EU-Kommissar Katainen zu einer noch engeren Abstim- mung zwischen Rat und Kommission auf der einen Seite und dem Deutschen Bundestag auf der anderen Seite aufgefordert wurde. Ich glaube, dass die europäischen Institutionen durch ein frühes Einbeziehen der nationa- len Parlamente viele politische Konflikte umgehen kön- nen. Exemplarisch ist das Konsultationsverfahren im Rahmen der Kapitalmarktunion durch Kommissar Hill zu nennen. Dieser hat frühzeitig alle relevanten Akteure zu Stellungnahmen ermuntert. Der Deutsche Bundestag ist dem nachgekommen. Ich finde, dass das ein gutes Beispiel für die Zusammenarbeit von nationalen und eu- ropäischen Institutionen ist. Für das Europäische Semester und seine Legitimation in der Bevölkerung ist es unabdingbar, dass nationale Regierungen die Stellungnahmen der Kommission aner- kennen und nicht als unerlaubten Eingriff in ihre Souve- ränität verstehen. Die Mitgliedstaaten haben schließlich die Kommission eigenständig aufgefordert, diese Stel- lungnahmen abzugeben. Die Kommission kommt damit ihrem Arbeitsauftrag nach und darf nicht aufgrund natio- nalpolitischer Erwägungsgründe an ihrer Arbeit gehin- dert werden. Ein weiterer zentraler Punkt des Antrags ist die Einbeziehung sozialer Indikatoren bei der Analyse der länderspezifischen Situationen – eine ursozialdemokrati- sche Forderung, die sich im Antrag wiederfindet. Neben makroökonomischen und fiskalischen Indikatoren müssen soziale Indikatoren zukünftig mehr Berücksich- tigung im Semester finden. Ergänzend hierzu sollte die Kommission ihre für die Nationalstaaten vorgeschlage- nen Reformen immer auch unter dem Gesichtspunkt der sozialen Verträglichkeit prüfen. Ich bin überzeugt, dass dies dann auch bei den länderspezifischen Empfehlun- gen zu einer höheren Umsetzungswahrscheinlichkeit in den nationalen Parlamenten führen wird. Als letzten inhaltlichen Punkt möchte ich noch auf die Investitionsoffensive der Kommission eingehen. Ich denke dabei im Besonderen an den Europäischen Fonds für strategische Investitionen, EFSI. Natürlich kann man über die Ausgestaltung dieses Fonds im Detail streiten. Doch eines müssen wir doch alle anerkennen: Die Zeit der einseitigen Sparpolitik ist vorbei. Die Kommission unter Jean-Claude Juncker hat einen Paradigmenwechsel eingeläutet, über den wir Sozialdemokraten uns beson- ders freuen. Die Investitionsoffensive mit ihrem Fonds und ihrem Projektverzeichnis ist ein entscheidendes Werkzeug, um nationalen Staaten Möglichkeiten aufzu- zeigen, die im Europäischen Semester geforderten wirt- schaftspolitischen Maßnahmen schneller und effizienter umsetzen zu können. Ich glaube, dass wir mit der heutigen Verabschiedung des Koalitionsantrags einen wichtigen Schritt zur Wei- terentwicklung des Europäischen Semesters gehen. Der Deutsche Bundestag steht zu diesem europäischen Koor- dinierungsinstrument und hat klare Vorstellungen von dessen zukünftiger Ausgestaltung. Das ist ein Signal an die europäischen Institutionen, aber auch eine Aufforde- rung, das bestehende Instrument zu verbessern. Thomas Lutze (DIE LINKE): Bei der Einführung des Euro hat die damalige PDS kritisiert, dass eine Wäh- rungsunion ohne Wirtschafts- und Sozialunion nicht funktionieren werde. Wie zutreffend sich diese Kritik im Nachhinein erweist, erleben wir seit nunmehr mehreren Jahren in Form der europäischen Banken- und Wäh- rungskrise. Dass es in der Europäischen Union kein Zuviel, son- dern ein Zuwenig an wirtschaftspolitischer Koordination gibt, hat sich seit einigen Jahren nun auch anderswo he- rumgesprochen. Im Jahr 2010 wurde der Europäischen Kommission deshalb mit dem sogenannten Europäi- schen Semester ein Instrument zur Koordinierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik der Mitglied- staaten an die Hand gegeben. Im Prinzip wäre das begrü- ßenswert. In der Realität erweist sich das Europäische Semester als ein weiteres Instrument zur Angleichung von Löhnen und Sozialleistungen nach unten. Deshalb wird es als Mittel der wirtschaftlichen Koordinierung von der Linken abgelehnt. 10536 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) Die maßgebliche Ursache für das wirtschaftliche Ungleichgewicht in Europa liegt in der Dominanz der deutschen Exportwirtschaft und des gleichzeitigen ge- waltigen Investitionsstaus unter dem Dogma von Schul- denbremse und schwarzer Null. Dieser Logik folgt die Kommission auch im Europäischen Semester: In ihren Empfehlungen für die nationalen Reformprogramme fordert sie Anhebungen im Renteneintrittsalter, Bindung der Löhne an die Produktivität oder die Ausrichtung von Wissenschaft und Forschung auf die Bedürfnisse der Wirtschaft. Dabei sind es genau diese neoliberalen Irrwege, die Europa zusammen mit einem völlig unterre- gulierten Bankensektor in die derzeitige Krise geführt haben. Was Deutschland und Europa statt weiterer Spar- programme und Privatisierungswellen brauchten, ist eine umfassende Investitionsoffensive in den Bereichen Infrastruktur, Bildung, Steigerung der Energieeffizienz, Förderung von erneuerbaren Energien, öffentlicher Nah- verkehr, Barrierefreiheit und öffentliche Beschäftigung. Damit können wir hierzulande anfangen, indem wir un- sere Autobahnen und bröckelnden Brücken sanieren, den Investitionsstau an den Universitäten und in den Kommunen auflösen, für ausreichend Personal im Pflege- und Gesundheitsbereich sorgen und diese Men- schen auch noch angemessen bezahlen. Da kleckern Sie nur. Angesichts der Milliardenspielräume, die uns der Haushalt bietet, wäre Klotzen angesagt. Damit könnten wir wirkliche Impulse für Wachstum und Beschäftigung hier und in ganz Europa schaffen. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN): Meine Fraktion bleibt bei der Feststel- lung: Das Europäische Semester muss gestärkt und wei- terentwickelt werden. Mit dem Antrag der Regierungs- fraktionen wird das aber wohl nicht passieren. Zum Teil geht er zwar in die richtige Richtung, zum Teil wider- spricht er sogar der aktuellen Politik der Bundesregie- rung, zum Beispiel in Bezug auf den Investitionsplan der Europäischen Union, den EFSI. So wird in dem Antrag die Finanzierung durch das Forschungsprogramm Hori- zon 2020 kritisiert, und es soll geprüft werden, ob der EFSI dadurch gestärkt werden kann, dass die Bundesre- gierung zusätzliches Geld in den Fonds einzahlt. Würde das passieren, würden wir das begrüßen. Denn ohne den Fonds durch zusätzliche nationale Mittel aufzustocken, droht der Investitionsplan zu scheitern. Deshalb fordern wir, dass sich Deutschland mit zusätzlichen 12 Milliar- den Euro an dem Fonds beteiligt, um damit auch Vorbild für andere Länder zu sein. Die Bundesregierung hat dies aber schon jetzt kategorisch abgelehnt und sich auch bei der Finanzierung nicht für die im Antrag der Regie- rungskoalitionen genannten Forderungen eingesetzt. Dieser Antrag der Koalition interessiert die Regierung also nicht und ist somit nur ein Beschluss für den Papier- korb – zumal die Vorschläge in dem Koalitionsantrag kaum über Schlagwörter und Prüfaufträge hinausgehen. Unser grüner Antrag ist da viel konkreter. Für uns sind insbesondere folgende Punkte wichtig: Erstens. Wir brauchen eine stärkere Beteiligung so- wohl der nationalen Parlamente wie des Europaparla- ments. Die einzelnen Schritte müssen in den Ausschüssen beraten und auch im Plenum des Deutschen Bundestages debattiert werden. Zweitens mangelt es den länderspezifischen Emp- fehlungen an Beachtung. Bisher wird nur ein sehr kleiner Teil der länderspezifischen Empfehlungen umgesetzt – und Deutschland gehört hier zu den Schlusslichtern. Wir fordern, dass die Empfehlungen entweder umgesetzt werden oder bei Nichtberücksichtigung eine Erklärung dazu erfolgen muss – statt wie bisher die Empfehlungen einfach weitgehend zu ignorieren. Drittens ist uns wichtig, dass geeignete Maßnahmen ergriffen werden, um die Ziele der EU-2020-Strategie auch wirklich zu erreichen. Denn dieser Aspekt wird zu oft übersehen: Das Europäische Semester und die Erstel- lung des jährlichen Nationalprogrammes sind Instru- mente der Europa-2020-Strategie, bei der es neben öko- nomischen auch um ökologische und soziale Ziele geht. Wir fordern unter anderem, dass die europäischen Ziele auf nationale Ziele heruntergebrochen werden, die so ausgestaltet sein müssen, dass in der Gesamtsumme das europäische Ziel auch erreicht wird. Eines der fünf Hauptziele ist die Senkung der armutsgefährdeten Perso- nen in der EU um 20 Millionen bis 2020. Auch wenn wir uns ein ambitionierteres Ziel hätten vorstellen können, ist es gut, dass es ein quantifiziertes Ziel auf der Basis von gemeinsamen Indikatoren gibt. Sinnvoll wäre gewe- sen, dieses Ziel von 20 Millionen auf die einzelnen Län- der aufzuteilen. Der größte Teil davon wäre dann alleine wegen der Größe auf Deutschland entfallen. Was hat aber die deutsche Regierung gemacht? Sie hat gesagt: Wir akzeptieren die europäischen Indikatoren nicht und suchen uns selbst einen Indikator aus – bei dem dann rein „zufälligerweise“ das Ziel schon erreicht ist. Ganz abgesehen davon, dass das vom Verfahren her eine Un- verschämtheit ist – man stelle sich mal vor, wie die deut- sche Regierung reagieren würde, wenn Griechenland sich so verhalten würde –, wird damit das Gesamtziel fast unmöglich gemacht. Das muss dringend geändert werden. Wir brauchen nicht weniger, sondern wir brauchen mehr Europa; deshalb muss das Europäische Semester gestärkt werden. Die Bundesregierung muss endlich im eigenen sowie im europäischen Interesse aufhören, die von der EU gemachten Vorschläge und Ziele zu ignorie- ren. Es ist ja schön, dass von den Regierungsfraktionen ein Antrag mit Verbesserungsvorschlägen kommt – aber ge- gen das Glaubwürdigkeitsproblem, Spar- und Re- formmaßnahmen und den Defizitabbau von den Krisenlän- dern zu verlangen und selbst nur zu den Schlusslichtern bei der Umsetzung der länderspezifischen Reformemp- fehlungen zu gehören, hilft er nicht. Ein Lösungsvor- schlag liegt vor Ihnen. Er fordert mehr Transparenz, mehr Debatten, Beschlüsse des Bundestages zu den na- tionalen Reformprogrammen und konkrete Vorschläge, wie die länderspezifischen Empfehlungen besser umge- setzt und die EU-2020-Ziele besser erreicht werden kön- nen. Ich bitte deswegen um die Zustimmung zu unserem Antrag. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10537 (A) (C) (D)(B) Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Steuerfreie Risikoaus- gleichsrücklage für Agrarbetriebe ab 2016 (Ta- gesordnungspunkt 17) Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): Und täglich grüßt das Murmeltier, so könnte man sagen, wenn man sieht, dass die Kollegen von der Linken ihren bereits im Jahr 2012 gestellten Antrag im Dezember 2014 noch- mals eingebracht haben. Mit dem Antrag soll zur Entlastung der Landwirt- schaft ein weiterer steuerlicher Subventionstatbestand ausschließlich für Landwirte geschaffen werden: eine steuerfreie Ausgleichsrücklage für Agrarbetriebe, die aufgrund zunehmend extremerer Witterungsbedingun- gen, eingeschleppter neuer Tierseuchen und Ähnlichem besonderen Risiken ausgesetzt sind. Wir haben im Finanzausschuss den Antrag im April 2015 abschließend beraten und sind zu dem Ergebnis ge- kommen, dass wir mit den Stimmen der Koalitionsfrak- tionen und der Fraktion der Grünen den Antrag ableh- nen. Wir empfehlen dem Hohen Haus, sich unserem Votum anzuschließen. Letztlich würde mit diesem Antrag ein weiterer Sub- ventionstatbestand eingeführt, der nur der Landwirt- schaft dient. Was ist denn dann aber mit anderen Bran- chen der Wirtschaft, die auch stark von schwankenden Witterungsbedingungen abhängen: der Tourismusbran- che, die im Winter unter Schneemangel leiden kann, der Schaustellerbranche, die Einbußen durch verregnete Sommer erleiden kann, oder den Biergärten und Braue- reien, die ebenfalls unter schlechtem Wetter leiden kön- nen, um nur einige wenige Branchen aufzuzählen. Den teilweise extrem schwankenden Witterungsbedingungen ausgesetzt zu sein, ist kein Alleinstellungsmerkmal der Landwirtschaft, und eine Ungleichbehandlung anderer Branchen wird auch nicht durch die Sicherstellung der Ernährung der Bevölkerung durch die Landwirtschaft gerechtfertigt. Im übrigen ist ja eine Glättung von schwankenden Er- trägen in der Landwirtschaft in einzelnen Jahren schon durch eine Besonderheit bei den steuerlichen Vorschrif- ten für die Landwirtschaft gegeben, denn im Gegensatz zu gewerblichen Unternehmen werden bei der Einkom- mensermittlung jeweils zwei Wirtschaftsjahre des land- wirtschaftlichen Betriebes je zur Hälfte berücksichtigt. Dies alleine glättet die Schwankungen bereits in ziemli- chem Umfang. In einem Gutachten der Universität Hohenheim für das Landwirtschaftsministerium wurde nachgewiesen, dass der Effekt einer Ausgleichsrücklage gerade für die Betriebe, die es am nötigsten brauchen würden, wirklich eher gering wäre. Er beläuft sich im Durchschnitt gerade einmal auf 174 Euro pro Jahr. 30 Prozent der Betriebe würden überhaupt nicht be- günstigt, und weitere 30 Prozent erhielten gerade einmal 100 bis 500 Euro pro Jahr. Besonders begünstigt wären große und ertragsstarke landwirtschaftliche Unterneh- men, die von dieser Ausgleichsrücklage überproportio- nal profitieren würden. Auf 10 Prozent der Betriebe würde etwa die Hälfte der zu erwartenden gesamten Ent- lastung entfallen. Also wären 10 Prozent der Betriebe, also die, die sowieso schon besonders ertrags- und kapi- talstark sind, mit einem Wort: die Großbetriebe, begüns- tigt. Sie würden diese Unterstützung sicher gerne mit- nehmen, aber nicht wirklich benötigen, während die kleinen Betriebe, die es vielleicht bräuchten, keinen oder nur geringen Nutzen daraus ziehen könnten. Mit dieser Risikorücklage wäre also nicht nur die Landwirtschaft gegenüber anderen Branchen privile- giert, sondern es käme auch noch innerhalb der Land- wirtschaft zu erheblichen Verwerfungen zwischen gro- ßen und kleinen Betrieben. Schließlich gibt es zahlreiche Ausnahmeregelungen im Steuerrecht, die für alle Betriebe gelten. Ich nenne hier nur die Ansparabschreibung, die allerdings reform- bedürftig ist, und die Rücklage nach § 6 b EStG, die lei- der vom EuGH gerade als nicht europarechtskonform bewertet wurde und die deshalb möglichst bald europa- rechtskonform ausgestaltet werden muss. Der mit dieser von der Linken geforderten Rücklage verbundene bürokratische Aufwand steht auch in keinem Verhältnis zu dem erreichbaren Nutzen. An welche Bedingungen sollen denn die Bildung und die Auflösung der Rücklage geknüpft werden? Wer defi- niert und kontrolliert denn die entsprechende Ertrags- minderung? Es würde noch einmal eine weitere erhebliche büro- kratische Belastung unserer landwirtschaftlichen Be- triebe bedeuten, die durch andere endlose bürokratische Auflagen schon besonders gestraft sind. Neben dem Finanzausschuss haben auch der Haus- haltsausschuss und der Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft in ihren jeweiligen Sitzungen empfoh- len, den Antrag abzulehnen. Ich bitte deshalb das Hohe Haus, unseren Beschlussempfehlungen zu folgen und den Antrag ebenfalls abzulehnen. Rita Stockhofe (CDU/CSU): Wir beraten heute zum zweiten Mal den Antrag der Fraktion Die Linke zur „Steuerfreien Risikoausgleichsrücklage für Agrarbe- triebe ab 2016“, und dadurch ist der Antrag auch nicht besser geworden. Die Fraktion Die Linke will landwirtschaftliche Be- triebe durch Vorsorge vor ökonomischen Risiken besser schützen und fordert dazu auf, im Entwurf für das Jah- ressteuergesetz 2016 für Agrarbetriebe die Bildung einer steuerfreien betrieblichen Risikoausgleichsrücklage zu ermöglichen. Die Höhe der Rücklage solle sich aus den betrieblichen Umsätzen der vorangegangenen drei Wirt- schaftsjahre errechnen und bis zu 20 Prozent des durch- schnittlichen Jahresumsatzes betragen. Das ist doch ein Aufguss an alten Ideen, was die Linksfraktion hier beantragt. An sich ist der Grundge- 10538 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) danke einer Risikoausgleichsrücklage nicht verkehrt, und das haben wir auch immer wieder betont. Wir haben uns innerhalb der CDU/CSU-Fraktion intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt und sind der Ansicht, dass eine Risikoausgleichsrücklage jedoch in der Praxis schwer umzusetzen sein würde. Allein schon die Tatsache, dass man eine Bilanz mehrere Jahre offenhalten muss, führt doch zu Planungs- unsicherheiten. Dann müssten die Landwirte so lange warten, weil sie das Geld, welches sie in die Rücklage eingezahlt haben, mit 6 Prozent Zinszuschlag pro Jahr versteuern müssten. Darüber freuen könnten sich in ers- ter Linie die Steuerberater, denn die schicken den Land- wirten später ihre Rechnung. Natürlich sind die Landwirte zunehmend Risiken aus- gesetzt, die sie kaum beeinflussen können; aber das sind andere Saisonbetriebe doch auch. Außerdem hat es in der Landwirtschaft immer schon Ergebnisschwankungen gegeben. Wenn wir mit der Risikoausgleichsrücklage ei- nen Ausnahmetatbestand für die Landwirtschaft schaf- fen würden, müssten wir doch andere mittelständische Unternehmen, die ebenfalls wetterabhängig sind, ge- nauso berücksichtigen. Wir müssten Regelungen schaf- fen für Betreiber von Skiliften, Gartencafés oder Aus- flugsschiffen. In der Landwirtschaft besteht seit jeher das Prinzip der Eigenvorsorge, und es bestehen vielschichtige Möglichkeiten wie beispielsweise eine innerbetriebliche Vorhaltung ausreichender Vermögenspositionen und Finanzmittel. Passend dazu möchte ich an die alte Bau- ernweisheit „Eine Ernte auf dem Halm, eine in der Scheune und eine auf dem Konto“ erinnern. Zahlreiche Versicherungslösungen wie beispielsweise eine Hagelversicherung stehen den Agrarbetrieben zur Verfügung oder des Weiteren Absicherung über außer- landwirtschaftliche Marktteilnehmer wie zum Beispiel Warenterminbörsen. Die Risikoausgleichsrücklage bietet auch keine Ge- währ dafür, dass bei Schadensereignissen auf zusätzliche Hilfspakete immer verzichtet werden kann. Ich möchte hier auf das Gutachten der Universität Hohenheim hin- weisen, das zu dem Ergebnis kommt, dass eine Risiko- ausgleichsrücklage die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt. Die Untersuchung ergibt, dass eine steuer- freie Risikoausgleichsrücklage keinen wesentlichen Bei- trag zur Abfederung von markt- und wetterbedingten Risiken in der Landwirtschaft leisten könne. Zusammen- fassend stellt das Gutachten fest, dass circa 30 Prozent der Betriebe gar keinen Nutzen aus der Rücklage ziehen würden, bei weiteren 30 Prozent läge der Vorteil ledig- lich bei 100 bis 500 Euro und nur 10 Prozent der Agrar- betriebe erhielten die Hälfte der prognostizierten Entlas- tungen. Also nur einige Betriebe würden von einer Einführung profitieren, und das wären in erster Linie die großen und ertragreichen und nicht die kleineren, schutzbedürftigen Agrarbetriebe. Und für die präsentie- ren Sie auch keine Lösung. Auch der Wissenschaftliche Beirat Agrarpolitik hat sich kritisch zur Risikoausgleichsrücklage geäußert. Es ist ja nicht so, dass wir die Risikoausgleichsrück- lage nur ablehnen und uns nicht der besonderen Situa- tion der Landwirte annehmen. Natürlich trägt der Land- wirt zur Sicherung der Ernährung der Bevölkerung bei, und wenn es der Landwirtschaft nicht gut geht, merken wir das alle und nicht nur das einzelne Unternehmen. Wir sind doch schon aktiv, sei es, dass wir in § 13 a Einkommensteuergesetz die Ermittlung des Gewinns aus Land- und Forstwirtschaft pauschaliert haben. Diesen besonderen Schutz für Kleinstbetriebe haben wir darüber hinaus vor wenigen Monaten auch noch verbessert. Unabhängig von der Diskussion über die Risikoaus- gleichsrücklage wurden bereits zum 1. Januar 2013 die Steuersätze bei Mehrgefahrenversicherungen für Ele- mentarschäden in der Landwirtschaft, dem Garten- und Weinbau auf einheitlich 0,03 Prozent abgesenkt und hierdurch die Möglichkeiten der betrieblichen Risiko- vorsorge spürbar verbessert. Und in besonderen Notfällen helfen wir auch unbüro- kratisch: Mehrgefahrenversicherungen zu Sonderkondi- tionen werden begünstigt. Davon haben zuletzt die Forstwirte bei den letzten großen Sturmschäden profi- tiert. Ein besseres Modell, den Landwirten zu helfen, ist vielmehr eine Ansparrücklage. Hier hat die Bundes- regierung beschlossen, bei der Regelung zum Investi- tionsabzugsbetrag in § 7 g Einkommensteuergesetz künftig auf das Vorabbenennungserfordernis zu verzich- ten. Dieser Verzicht schafft Flexibilität und kommt den betrieblichen Bedürfnissen mehr entgegen als eine Risi- koausgleichsrücklage. Zusammenfassend möchte ich noch einmal klarstel- len: Die Schaffung der steuerfreien betrieblichen Risiko- ausgleichsrücklage ist kein geeignetes Instrument zur Unterstützung der Landwirte und trägt auch nicht zur Sicherung der Ernährung der Bevölkerung bei. Deshalb lehnen wir den Antrag der Fraktion Die Linke ab. Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Die Einfüh- rung der steuerfreien Risikoausgleichsrücklage für Agrarbetriebe wurde schon mehrfach gefordert. Den ers- ten Vorstoß machte die damalige Landwirtschaftsminis- terin Ilse Aigner, CSU, im Jahr 2009. Es folgte die Linke mit einer Initiative im Jahr 2012. Der vorliegende An- trag stellt nur den dritten Versuch dar. Die Initiatoren wechseln, der Inhalt bleibt im Wesent- lichen gleich. Eine Risikoausgleichsrücklage würde Er- gebnisschwankungen zwischen ertragsstarken und er- tragsschwachen Jahren reduzieren. Die Folge wäre eine Verschiebung der Gewinnbesteuerung in die Zukunft und eine besondere Förderung einiger starker Betriebe. Betriebe in anderen Branchen gingen leer aus. Die vorgetragenen Gründe für die Risikoausgleichs- rücklage überzeugen heute so wenig wie in der Vergan- genheit. Ergebnisschwankungen sind kein besonderes Problem der Land- und Forstwirtschaft, sondern können jede unternehmerische Tätigkeit treffen. Auch andere Branchen müssen Risiken eingehen und unterliegen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10539 (A) (C) (D)(B) Marktschwankungen. Die Risikoausgleichsrücklage würde somit der Land- und Forstwirtschaft einen Steuer- vorteil verschaffen, der anderen Unternehmen nicht zur Verfügung steht. Diese müssten dann im Unterschied zu den landwirtschaftlichen Betrieben weiterhin die Vor- sorge für ihre Risiken aus dem versteuerten Einkommen treffen. Ein im Jahr 2011 im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forschung von Pro- fessor Dr. Enno Bahrs vorgelegtes Gutachten zeigt, dass die Risikoausgleichsrücklage im Bereich der Land- und Forstwirtschaft zu recht ungleichen Entlastungen führen würde. Knapp die Hälfte des gesamten Steuervorteils – 47 Prozent – würde auf 10 Prozent der Betriebe ent- fallen. Weitere 44 Prozent der Entlastung würden auf 32 Prozent der Betriebe entfallen. Die übrigen 58 Pro- zent der Betriebe würden sich die restliche Entlastung von 9 Prozent teilen. Die Risikoausgleichsrücklage würde somit vor allem einen kleinen Teil der land- und forstwirtschaftlichen Betriebe begünstigen. Die meisten Betriebe hätten nur geringe Vorteile. Ich zitiere Professor Dr. Enno Bahrs vom Institut für Landwirtschaftliche Betriebslehre an der Universität Ho- henheim aus dem Abschlussbericht an Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung: „Diskussion und Bewer- tung der möglichen Einführung einer Risikoausgleichs- rücklage zum Ausgleich von wetter- und marktbedingten Risiken in der Landwirtschaft – Modellanalyse und Auf- zeigen von Alternativen in Anlehnung an die steuerfreie Rücklage nach § 3 Forstschäden-Ausgleichsgesetz (ForstSchAusglG)“. Auf Seite 52 finden wir unter der Überschrift: „6.4.5 Vorzüglichkeit der Risikoausgleichs- rücklage für unterschiedliche Betriebsgruppen“: Für die Entscheidung über die Einführung einer Risikoausgleichsrücklage ist neben dem gesamtsek- toralen Effekt auch die Verteilung auf unterschiedli- che betriebswirtschaftliche Ausrichtungen von Be- deutung. … So profitieren Veredelungsbetriebe im Vergleich zu Futterbaubetrieben um das 3,5fache. Die Einführung der Risikoausgleichsrücklage würde für nahezu ein Drittel der Veredelungsbe- triebe zu einer jährlichen Steuerersparnis von über 500 Euro führen. Futterbaubetriebe, die den größten Anteil der Betriebe im Datensatz stellen, können hingegen nur vergleichsweise wenig von der Ein- führung profitieren. Den besonderen witterungsbedingten Einflüssen in der Land- und Forstwirtschaft wird außerdem bereits durch das vom Kalenderjahr abweichende Wirtschafts- jahr und die Aufteilung des Gewinns auf zwei Veranla- gungszeiträume Rechnung getragen. Hierdurch wird eine Progressionsglättung erreicht, die es bei anderen be- trieblichen Einkünften nicht gibt. Darüber hinaus gelten die allgemeinen Verlustver- rechnungsvorschriften des § 10 d EStG natürlich auch für land- und forstwirtschaftliche Betriebe. Für den Verlustrücktrag gilt: Negative Einkünfte, die bei der Ermittlung des Ge- samtbetrags der Einkünfte nicht ausgeglichen wer- den, sind bis zu einem Betrag von 1 000 000 Euro … vom Gesamtbetrag der Einkünfte des unmittel- bar vorangegangenen Veranlagungszeitraums vor- rangig vor Sonderausgaben, außergewöhnlichen Belastungen und sonstigen Abzugsbeträgen abzu- ziehen. Für den Verlustvortrag gilt: Nicht ausgeglichene negative Einkünfte … sind in den folgenden Veranlagungszeiträumen bis zu ei- nem Gesamtbetrag der Einkünfte von 1 Million Euro unbeschränkt, darüber hinaus bis zu 60 Pro- zent des 1 Million Euro übersteigenden Gesamtbe- trags der Einkünfte vorrangig vor Sonderausgaben, außergewöhnlichen Belastungen und sonstigen Ab- zugsbeträgen abzuziehen. Sie profitieren somit von dem dort geregelten Verlust- vortrag und Verlustrücktrag, der ebenfalls Ergebnis- schwankungen ausgleicht. Der dritte Anlauf zur Einführung einer Risikoaus- gleichsabgabe begegnet deshalb den bisher schon beste- henden und wiederholt vorgetragenen Bedenken: Die Risikoausgleichsrücklage lässt sich ordnungspolitisch nicht begründen. Sie würde nur einen kleinen Teil der land- und forstwirtschaftlichen Betriebe spürbar begüns- tigen, während der Großteil kaum profitieren würde. Au- ßerdem bestehen mit dem vom Kalenderjahr abweichen- den Wirtschaftsjahr und den allgemeinen Regelungen zum Verlustvor- und Verlustrücktrag bereits Mechanis- men, die Ertragsschwankungen ausgleichen. Last but not least sind die Steuerausfälle in den Blick zu nehmen. Ich zitiere nochmals Professor Dr. Enno Bahrs: Anhand der ermittelten Werte aus dem Datensatz lassen sich die Steuerausfälle für den Staat hoch- rechnen. Unter der Annahme, dass der gewichtete Datensatz weitgehend repräsentativ für die deut- sche Landwirtschaft ist, ergeben sich mittels einer Hochrechnung auf 165 000 buchführende und der Einkommensteuer unterliegende Betriebe (Statis- tisches Jahrbuch, 2009) Steuerausfälle gegenüber der jetzigen Regelung (§ 4a EStG) von jährlich 29,4 Millionen Euro beim angenommenen zehnjäh- rigen Glättungszeitraum unter Berücksichtigung der DBV-Restriktionen. Ohne Restriktionen erhöht sich der Steuerausfall auf 32,7 Millionen Euro. Ein zu hoher Preis für eine solch ungerechte Förde- rung wie die steuerfreie Risikoausgleichsrücklage für Agrarbetriebe. Deshalb ist es klug, den Antrag auch heute abzulehnen. Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Nein, die steuerfreie Risikorücklage ist keine Erfindung der Lin- ken, sondern wir greifen eine Forderung auf, die uns seit Jahren auf nahezu jeder Veranstaltung vorgetragen wird – von der Landwirtschaft über den Gartenbau bis hin zu den Baumschulen. Das allein ist natürlich noch kein Grund, sie im Bundestag zu beantragen, sondern wir hal- 10540 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) ten diese Forderung aus agrarpolitischer Sicht für not- wendig und aus finanzpolitischer Sicht für klug. Ja, wir würden damit zunächst auf Steuereinnahmen verzichten. Das ist auch das Hauptargument bei Union, SPD und Grünen gegen unseren heutigen Antrag – wenn Sie ehrlich sind. Aber das ist entweder sehr kurzsichtig – denn es geht um die Vermeidung von großen steuer- finanzierten Hilfspaketen durch vorsorgende Hilfe zur Selbsthilfe – oder Sie haben den Antrag nicht verstanden und hätten besser Ihren agrarpolitischen Fachleuten zu- hören sollen. Das Mantra der „schwarzen Null“ ignoriert nämlich die realen Ängste und Sorgen in den Betrieben. Und wenn Sie schon unserem Antrag nicht zustimmen: Wo sind denn Ihre Vorschläge zur besseren Risikoabsi- cherung? Aktuell klagen die Betriebe wieder über eine wochen- lange, nun schon fast traditionelle Frühsommertrocken- heit. Wenn es nicht bald regnet, sind Rufe nach staatli- cher Unterstützung doch absehbar. Das kostet dann doch auch Steuergelder und wird vermutlich sogar noch teu- rer, als Vorsorge zu treffen, zum Beispiel um andere Sor- ten zu probieren oder Anbautechniken. Die Grünen sind doch eigentlich für eine steuerfreie Risikoausgleichsrücklage. Ihr baden-württembergischer Agrarminister, Alexander Bonde, betont sogar, wie wich- tig sie wäre. Aber während Sie sich im Agrarausschuss des Bundestages wenigstens noch heroisch der Stimme enthalten haben, gab es im federführenden Finanzaus- schuss doch ein Nein. Und die Union: in den Wahlkrei- sen dafür – hier im Bundestag dagegen. Und auch über den Bauernverband kann ich mich nur wundern. Sonst sind sie alles andere als zurückhaltend mit Lobbybriefen für oder gegen bestimmte Gesetzesvorhaben oder An- träge. Wenn aber die Linksfraktion eine ihrer jahrelan- gen Forderungen in den Bundestag einbringt, schweigt die DBV-Chefetage. Entweder ist ihnen die Forderung dann doch nicht so wichtig oder der Friede mit der Union ist ihnen noch wichtiger. Auf Kosten der betroffe- nen Betriebe! Dabei haben wir gerade jede Menge neue Argumente für unseren Antrag auf dem Tisch. Das Umweltbundesamt hat im „Monitoringbericht zur Deutschen Anpassungsstrategie an den Klimawan- del“ ein ganzes Paket von Gründen dokumentiert, wa- rum eine Abfederung der Risiken, für Vorsorge und für Notfallpläne im Bereich der Agrarwirtschaft dringend erforderlich ist. Denn es wird tendenziell wärmer. Das Wetter wird extremer – es gibt entweder viel zu viel oder viel zu wenig Regen. Das allein erhöht schon die Anbau- risiken erheblich. Darauf kann und muss sich die Land- wirtschaft einstellen, durch andere Anbaumethoden und -konzepte, andere Sorten und Rassen, mehr Vielfalt auf dem Acker und im Stall. Das bedeutet auch mehr For- schung, mehr Züchtung, mehr Ausprobieren. Um ein paar konkrete Beispiele aus dem Bericht für wachsende Risiken durch Klimaveränderungen zu zitie- ren: Erstens. Der Blühbeginn schwankt zunehmend zwi- schen den einzelnen Jahren, Tendenz eher früher als spä- ter. Im Vergleich zu den 1970er-Jahren blühen der Apfel und der Raps heute ganze zwanzig Tage früher. Hört sich für Laien nicht so schlimm an, erhöht aber zum Beispiel das Risiko von Spätfrostschäden. Viele Obstbaubetriebe müssen zu Frostschutzberegnungen greifen, um die Pflanzen vor der Kälte zu schützen. Das kostet zusätzli- ches Geld. Zweitens. Auch die Qualität der Ernteprodukte verän- dert sich witterungsabhängig. Beim Wein zum Beispiel sind Zuckergehalt, Säuregrad und Vorstufen diverser Aromastoffe sehr witterungsabhängig. Aber zu hohe Al- koholgehalte sind ebenso unerwünscht wie säurearme Rieslingweine. Drittens. Witterungsextreme werden häufiger: zum Beispiel die unterdessen fast regelmäßige Frühsommer- trockenheit. In Brandenburg gab es dieses Jahr im März und April nur 40 Prozent des normalen Niederschlags. In meinem Wahlkreis bauen einige Betriebe schon gar kein Sommergetreide mehr an, weil der Regen zur Saatzeit immer häufiger ausfällt. Im Trockenjahr 2003 lag der Weizenertrag im Bundesdurchschnitt wetterbedingt 12 bis 13 Prozent unter dem erwarteten Ertrag. Immer- hin haben Wetterextreme 470 Millionen Euro Schäden in den vergangenen 15 Jahren in der Pflanzenproduktion verursacht, die Hälfte davon durch Trockenheit und Dürre. Extremwitterungsschäden aber werden in der Re- gel nur bei Hagel durch Versicherungen abgedeckt. Das sind nur 20 Prozent aller Schäden, und nur 60 Prozent der Anbaufläche sind überhaupt gegen Hagel versichert, weil sich die Betriebe das leisten wollen und können. Eine Mehrgefahrenversicherung gibt es nicht. Und das in Zeiten, in denen man sich sogar gegen das Verpassen der Champions-League-Teilnahme versichern kann. Und bezahlbar wäre sie auch nur mit öffentlichen Zuschüs- sen, die vermutlich eher in die Taschen der Versicherer umgeleitet werden. Viertens. Klimaveränderungen und weltweite Waren- ströme erhöhen den Schädlingsdruck. Aktuell bereitet zum Beispiel die Einschleppung der aus Japan stammen- den Kirschessigfliege vielen Obstbauern und Winzern Sorgen. Auch der Rapsglanzkäfer profitiert von wärme- ren Wintern und trockenen Frühjahren. Diese Liste der aktuell neuen oder steigenden Risi- ken, auf die sich Landwirtschaft, Gartenbau und Baum- schulen einstellen müssen, ließe sich beliebig fortsetzen. Natürlich steigen nicht nur die Risiken, es gibt auch Chancen. Die Sojabohne bekommt auch in Mitteleuropa eine Chance, und auch die Rotweinsorten Merlot oder Cabernet Sauvignon dürften profitieren. Aber auch das heißt für die Betriebe in der Konse- quenz, dass sie sich neuen, schwieriger werdenden na- türlichen und gesellschaftlichen Bedingungen stellen müssen, und wir sollten sie dabei unterstützen. Dabei geht es uns vor allem um die Sicherung der öffentlichen Interessen, denn hier geht es – anders als in Industrie und Handwerk – um unsere Lebensgrundlage Nahrung und Natur. Die Linke will kein Rundum-sorglos-Paket für die Landwirtschaft, sondern wir wollen eine Unterstützung Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10541 (A) (C) (D)(B) bei der Vorsorge statt große staatliche Hilfsprogramme, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Die Rolle als Wohltäter in der Not mag für manchen vielleicht verfüh- rerisch sein. Vernünftiger und nachhaltiger ist es aber, die Betriebe dabei zu unterstützen, gar nicht erst in diese Lage zu kommen. Die Finanzpolitikerinnen und -politi- ker meiner Fraktion haben verstanden, dass das mittel- und langfristig sogar Geld sparen kann. Deshalb kann man unserem Antrag eigentlich nur zustimmen. Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Die Fraktion Die Linke hat anscheinend ihr Herz für die Agrarindustrie entdeckt. Nur so kann ich mir er- klären, warum sie ordnungspolitisch derart verfehlt eine neue steuerliche Sonderregelung fordert, von der in ers- ter Linie die Agrargroßbetriebe profitieren. Die bäuerli- che Landwirtschaft und dort die kleineren und mittleren Betriebe hätte wohl wenig von diesem Vorschlag einer steuerfreien Risikoausgleichsrücklage, der – und das ist nicht unschwer zu erkennen – ursprünglich einmal aus der Feder des Deutschen Bauernverbandes stammt. Dazu frage ich mich, wie das geforderte Steuerge- schenk gleichzeitig gegen unwetterbedingte Ernteaus- fälle, die Folgen des Freihandelsabkommens TTIP oder vermehrt auftretende Tierseuchen helfen soll, wie es zu- mindest in der Begründung des Antrags nachzulesen ist. Allein aus dieser Aufzählung können Sie schließen, was an dem Vorschlag der Fraktion Die Linke falsch ist: Er ist alles andere als zielgenau. Gegen Unwetterschäden können sich landwirtschaftli- che Betriebe versichern, dazu gab es in der Vergangenheit durchaus stärkere Anreize, etwa über starke Ermäßigun- gen bei der Versicherungsteuer auf Mehrgefahrenversi- cherungen. Außerdem gibt es immer wieder Hilfen von Bund und Ländern, die etwa die Folgen sehr starker Unwetter abfedern; die Unterstützungen im Rahmen der Beseitigung der Schäden durch das Elbehochwasser ha- ben das gezeigt. Wer negative Folgen aus Freihandelsabkommen ver- hindern will, muss an dieser Stelle klar benennen, was er will. Bei TTIP sind wir uns mit der Fraktion Die Linke ja einig, dass zum Beispiel Konkurrenz durch gentechnisch veränderte Industrielebensmittel kein Weg ist, den freien Handel im atlantischen Raum zu verbessern. Dagegen wehren wir uns. Und wir organisieren damit den Wider- stand gegen TTIP, eine Einfuhr von gentechnisch veränderten Futtermitteln, und betreiben damit die Ur- sachenbekämpfung an der Quelle. Eine steuerfreie Risi- korücklage aber hat nun wirklich gar nichts mit dem Thema Freihandel zu tun. Und zuletzt die Tierseuchen: Das Problem an dieser Stelle ist ganz eindeutig unsere Art der Fleischproduk- tion, die immer weiter expandiert und auf Massentierhal- tung setzt. Hier kämpfen wir gegen eine Ausweitung dieser Form des „Immer-Mehr“. Auch hier muss es da- rum gehen, die Quelle des Übels zu bekämpfen und nicht die möglichen negativen Auswirkungen. Die steu- erfreie Risikoausgleichsrücklage macht auch hier keinen Sinn, außer dass vorwiegend Großbetriebe ein bisschen weniger Steuern zahlen werden. Nicht zuletzt will ich den bürokratischen Aufwand einer solchen steuerlichen Risikoausgleichsrücklage benennen. Beklagen sich nicht die Landwirte – in vielen Fällen aus gutem Grund – über den Aufwand gerade auch im steuerlichen Bereich. Hier sollten wir weniger statt mehr machen! Ich kann es an dieser Stelle kurz machen: Ihr Vor- schlag ist schlicht nicht geeignet, um die durchaus vor- handenen Probleme in der Landwirtschaft zu lösen. Und dazu ist er ordnungspolitisch falsch. Das wiegt bei wei- tem nicht die Vorteile auf, die für einige wenige land- wirtschaftliche Betriebe mit der Steuerrücklage erreicht werden könnten. Deswegen lehnen wir den Vorschlag ab. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie über alternative Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten und zur Durchführung der Verordnung über Online-Streitbeilegung in Verbraucherangele- genheiten (Tagesordnungspunkt 18) Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Erstens. Die Richtlinie 2013/11/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2013 über die alternative Beile- gung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten und zur Än- derung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2009/22/EG (ABl. L165 vom 18.6.2013, S.63) verpflichtet die Mitgliedstaaten in Artikel 25, bis zum 9. Juli 2015 die Rechtsvorschriften zu erlassen, die erforderlich sind, um der Richtlinie 2013/11/EU nachzu- kommen. Nach der Richtlinie müssen die Mitgliedstaa- ten dafür sorgen, dass Verbrauchern bei Streitigkeiten mit Unternehmern außergerichtliche Streitbeilegungs- stellen zur Verfügung stehen. Die Verpflichtung bezieht sich auf Streitigkeiten aus „Kaufverträgen“ oder „Dienstleistungsverträgen“ im Sinne der Richtlinie 2013/11/EU. Die Streitbeilegungsstellen müssen bestimmte Anfor- derungen zu Fachwissen, Unparteilichkeit, Unabhängig- keit und Transparenz und zum Ablauf des Streitbeile- gungsverfahrens erfüllen. Die Einhaltung der Anforderungen ist durch staatliche Stellen zu prüfen. Zudem sieht die Richtlinie 2013/11/EU die Verpflich- tung von Unternehmern vor, Verbraucher über die zu- ständige Streitbeilegungsstelle zu informieren und sich bei der Ablehnung einer Verbraucherbeschwerde da- rüber zu erklären, ob sie zur Durchführung eines Streit- beilegungsverfahrens bereit sind. Artikel 7 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 22 Ab- satz 2 der Verordnung (EU) Nr. 524/2013 des Europäi- schen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2013 über die Online-Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkei- ten und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/ 2004 und der Richtlinie 2009/22/EG (ABl. L 165 vom 18.6.2013, S. 1) verpflichtet die Mitgliedstaaten, bis zum 10542 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) 9. Juli 2015 eine Kontaktstelle zu benennen, die als in- nerstaatliche Anlaufstelle für Verbraucher, Unternehmer und Streitbeilegungsstellen in grenzübergreifenden Kon- flikten aus online geschlossenen Verträgen zur Verfü- gung steht. Die Europäische Kommission wird eine internetge- stützte Plattform mit einer Datenbank der anerkannten Streitbeilegungsstellen in der Europäischen Union ein- richten. Die deutsche Kontaktstelle soll den Zugang zu der Schlichtungsplattform erleichtern. Zweitens. Die Richtlinie über alternative Streitbeile- gung in Verbraucherangelegenheiten bietet den Mit- gliedstaaten eine Chance für die konsensuale Streitbeile- gung in Verbraucherangelegenheiten, die grundsätzlich auch von der Justiz als unterstützenswert angesehen wird, ein für alle Beteiligten sinnvolles, sachgerechtes und bedarfsorientiertes Konzept zu entwickeln. Ziel der Umsetzung der Richtlinie kann es nicht sein, ein aus Steuermitteln finanziertes Parallelsystem zu den Gerichten zu schaffen. Vielmehr sollten primär die Vor- teile nichtförmlicher Verfahren, größerer Flexibilität nicht streng rechtsorientierter Lösungen und hoher Spe- zialisierung der alternativen Streitbeilegungsstellen be- darfsorientiert und daher branchenspezifisch nutzbar ge- macht werden. Somit könnten sowohl Verbraucherinnen und Verbraucher als auch die Unternehmen davon profi- tieren. Dies stellt eine gemeinsame Aufgabe einerseits der Wirtschaft, des Verbraucherschutzes und der Justiz und andererseits von Bund und Ländern dar, die eine enge Abstimmung der Beteiligten erfordert. Ziel der Umsetzung muss es sein, dass in vielen Be- reichen bereits vorhandene Schlichtungsangebot zu er- halten und soweit erforderlich an die Anforderungen der Alternativen-Streitbeilegungs-Richtlinie anzupassen. In den Bereichen, in denen noch kein Schlichtungsangebot besteht, sollten branchenspezifische und möglichst bun- deseinheitliche Schlichtungsstellen geschaffen werden, die zumindest auch von der Wirtschaft mitgetragen wer- den sollten. Die nur durch branchenspezifische und bun- deseinheitliche alternative Streitbeilegungsstellen zu er- reichende Spezialisierung der Streitmittler wird eine hohe Akzeptanz sowohl bei Verbraucherinnen und Ver- brauchern als auch bei Unternehmen fördern. Die dann noch zu schaffende Auffangschlichtungsstelle sollte ei- nen engen Anwendungsbereich haben, bundeseinheitlich tätig sein und in Bundeszuständigkeit geschaffen wer- den. Nur so kann die erforderliche Fallzahl erreicht wer- den, um innerhalb der Stelle Möglichkeiten der Speziali- sierung zu schaffen und die Fallkosten im Rahmen zu halten. Ferner kann nur eine einheitliche Stelle den für eine sinnvolle Aufgabenerledigung nötigen Bekannt- heitsgrad erreichen. Mit der Verabschiedung des Mediationsgesetzes ha- ben wir in der vergangenen Legislaturperiode die richti- gen Weichen gestellt, die Mediation in Deutschland zu fördern. Leider steht der Erlass der Mediationsausbil- dungsverordnung immer noch aus. Hier wird das Bun- desministerium der Justiz und für Verbraucherschutz aber sicher bald eine Lösung vorstellen. Wir müssen aber darauf achten, dass wir nicht zu viele Parallelstrukturen schaffen. Für die Verbraucherin- nen und Verbraucher muss klar sein, an welche Stelle Sie sich wenden können. Es darf keinen Streitbeilegungs- dschungel geben. Insbesondere sollten die bereits vor- handenen guten Mediatorinnen und Mediatoren in ihrer Arbeit weiter gestärkt werden. Drittens. Im Gegensatz zum Referentenentwurf wer- den unter anderem Verfahrensrechte von Verbrauchern und Unternehmern angeglichen. Der Referentenentwurf sah ein starkes Ungleichgewicht der Verfahrensrechte zulasten von Unternehmern vor. Unternehmer sollen nun richtigerweise, etwa ebenso wie Verbraucher, jederzeit berechtigt sein, das Verfahren abzubrechen. Keine Gleichbehandlung erfahren Unternehmer jedoch nach wie vor hinsichtlich der Gebührenlast. Während die Verfahrensbeteiligung für Verbraucher grundsätzlich kos- tenlos ist, sollen Unternehmer mit unverhältnismäßig hohen Verfahrensgebühren die Finanzierung der ADR- Stellen sicherstellen. Wenn der Unternehmer 190 Euro zu zahlen hat, obwohl der Streitwert lediglich bis zu 100 Euro beträgt, ist ersichtlich, dass ADR-Verfahren für Unternehmer unwirtschaftlich sind und in der Praxis keine Akzeptanz finden werden. Auch hinsichtlich der Umsetzungsverantwortung be- steht nach wie vor Handlungsbedarf. Es steht außer Frage, dass die Verantwortung zur Einrichtung von ADR-Stellen nicht allein der Wirtschaft auferlegt wer- den darf. Verbraucherschutz ist von allgemeinem Interesse und kann deshalb nicht einseitig von Unternehmen, Wirt- schaftsverbänden oder öffentlichen Einrichtungen der gewerblichen Wirtschaft getragen werden. Handwerks- organisationen beispielsweise haben den gesetzlichen Auftrag, die Interessen des Handwerks und der Hand- werksbetriebe zu vertreten. Die Finanzierung von ver- braucherschützenden ADR-Verfahren mit Beitragsmit- teln der Handwerksbetriebe wäre insoweit zweckwidrig. Ähnliches gilt für andere Verbände. Die im Referentenentwurf noch eindeutig zum Aus- druck gebrachte Intention, unter anderem die Selbstver- waltungskörperschaften in die Pflicht zur Einrichtung von ADR-Stellen zu nehmen, findet sich im Gesetzent- wurf der Bundesregierung nicht mehr explizit wieder. Um Rechtssicherheit zu schaffen, sollte aber eine ent- sprechende Klarstellung erfolgen, dass die Kammern und Innungen hierzu auch nicht verpflichtet werden dür- fen. Ebenso wie der Referentenentwurf überträgt auch der Gesetzentwurf den Ländern die Verantwortung, ein flä- chendeckendes Angebot an ADR-Stellen zu gewährleis- ten, wenn sich nicht genügend freiwillige Träger finden. Hier ist zu prüfen, ob die Schaffung einer einzigen, bun- desweit zuständigen Universalschlichtungsstelle nicht personell und finanziell leichter umzusetzen wäre. Letztlich ist auch zu fragen, ob die Einführung einer Schutzgebühr hilfreich wäre. Hier könnte ein kleiner Be- trag in Höhe von etwa 50 Euro dafür sorgen, dass die Ef- fizienz der Schlichtungsstellen auf Dauer erhalten bleibt. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10543 (A) (C) (D)(B) Die Missbrauchsgebühr wird sicher nur in den seltensten Fällen Anwendung finden und daher zu keiner Entlas- tung führen. Viertens. Der vorgelegte Gesetzentwurf enthält be- reits viele begrüßenswerte Regelungen. In den anstehen- den parlamentarischen Beratungen werden wir sicher noch diskutieren und verändern müssen. Ich bin aber da- von überzeugt, dass wir so zu einem guten Gesetzesab- schluss finden werden. Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU): Das Leitbild un- serer Verbraucherschutzpolitik ist der Verbraucher auf Augenhöhe, auf Augenhöhe mit der Wirtschaft und den Dienstleistern. Wenn wir die Verbraucher befähigen, im Binnenmarkt zu agieren, und mit entsprechenden Rech- ten ausstatten, dann müssen sie diese Rechte auch durch- setzen können. Ein Weg ist das gerichtliche Verfahren als klassische Form der Rechtsdurchsetzung. Es gibt aber auch noch einen anderen Weg. Die USA und Kanada zeigen, dass die außergerichtliche Streitbeilegung gut funktionieren kann. Bevor ich hier in den Bundestag gekommen bin, durfte ich als Europaabgeordnete miterleben, wie die Richtlinie über die alternative Streitbeilegung in Ver- braucherangelegenheiten entstanden ist. Und ich glaube, dass uns mit dieser Richtlinie etwas Zukunftsweisendes gelungen ist. Denn die Richtlinie ermöglicht eine einfa- che, schnelle, kostengünstige und effektive Art der Bei- legung von Streitigkeiten. Und sie orientiert sich an der Lebenswirklichkeit, indem sie den Onlinehandel mit ein- schließt. Aktuell haben wir den Entwurf für das Verbraucher- streitbeilegungsgesetz vorliegen. Die Frist für die Um- setzung der EU-Richtlinie endet am 9. Juli. Es besteht kein Zweifel daran, dass wir es nicht schaffen werden, fristgerecht umzusetzen. Daher möchte ich an Sie appel- lieren: Lassen Sie uns dieses Gesetz ordentlich diskutie- ren, offene Fragen klären und Baustellen beseitigen. Ein paar Wochen mehr oder weniger sollten nun auch keine Rolle mehr spielen. Eine strittige Frage betrifft die Kostenverteilung. Ver- braucher können sich laut Gesetzentwurf direkt und vor allem kostenfrei an die einzurichtenden Schlichtungs- stellen wenden. Nur wenn die Verbraucherin oder der Verbraucher das Verfahren missbräuchlich in Anspruch genommen hat, soll sie oder er zur Kasse gebeten wer- den. Von den Unternehmen hingegen wird ein angemes- senes Entgelt eingefordert. An dieser Stelle werden wir noch einmal diskutieren müssen, ob der Wirtschaft die alleinige Kostenverantwortung aufgebürdet wird. Bei Universalschlichtungsstellen fallen Gebühren von bis zu 380 Euro für die einzelnen Betriebe an. Dies birgt das Risiko, dass die außergerichtliche Streitschlichtung unat- traktiv für die Betriebe wird, zumal die Betriebe nicht verpflichtet sind, am Schlichtungsverfahren teilzuneh- men. Die alternative Streitbeilegung funktioniert aber nur, wenn sie von den Betrieben angenommen wird und möglichst viele Verbraucherstreitigkeiten über dieses In- strument abgewickelt werden. Auch gebe ich zu beden- ken, dass mit einer einseitigen Finanzierung durch die Wirtschaft die Prinzipien der alternativen Streitbeile- gung, nämlich die Unabhängigkeit, die Unparteilichkeit sowie Transparenz und Fairness, infrage gestellt werden könnten. Längst haben sich auch bei uns Alternativen zum klassischen gerichtlichen Verfahren etabliert. Ich denke hier zum Beispiel an die Ombudsleute, die schon heute von einigen Branchen, wie Banken, Energieversor- gungsunternehmen oder Versicherungen, auf freiwilliger Basis eingerichtet wurden. Auch die Kammern bieten kostenfreie Schlichtungsverfahren zwischen Kammer- mitgliedern und den Verbrauchern an. In der letzten Le- gislaturperiode wurde das Mediationsgesetz auf den Weg gebracht. Allerdings ist es bislang nicht gelungen, eine Ausbildungsordnung für die Schlichter zu verab- schieden. Sie sehen, die Vielfalt der offenen Fragen ist groß. Ich würde mir wünschen, dass wir das Verbraucherstreitbei- legungsgesetz auch dazu nutzen, diese Vielfalt zu sortie- ren und zu harmonisieren. Damit ist nicht nur den Ver- brauchern geholfen, sondern auch der Wirtschaft. Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Ich begrüße, dass jede Verbraucherin und jeder Verbraucher zukünftig in allen Branchen – bis auf ganz wenige Ausnahmen – Zu- gang zu einer Schlichtungsstelle bekommen und damit die Chance besteht, dass es für sie/ihn im konkreten Streitfall eine schnelle, kostenlose und unbürokratische Lösung geben kann. Erinnern Sie sich? An gleicher Stelle haben wir in der letzten Wahlperiode über die Einführung einer Schlich- tungsstelle im Luftverkehr gestritten. Lange wollten die großen Airlines da nicht mitmachen. Und an der bereits bestehenden Schlichtungsstelle für den öffentlichen Per- sonenverkehr, söp, wollten sie sich gleich gar nicht be- teiligen. Inzwischen haben sich die Wellen geglättet, viele Airlines arbeiten nun doch mit der söp zusammen, und die konnte im Jahr 2014 allein im Bereich Flug etwa 3 500 Fälle abschließen. Na also! Dank der EU-Richtlinie über die alternative Beile- gung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten müssen wir heute nicht über die Frage, ob wir alternative Streit- schlichtung einführen wollen, diskutieren. In dem Fall war die EU einen Schritt schneller: Die EU-Mitglied- staaten müssen dafür sorgen, dass Verbrauchern bei Streitigkeiten mit Unternehmen, die aus Kaufverträgen bzw. Dienstleistungsverträgen entstehen, außergerichtli- che Streitbeilegungsstellen zur Verfügung stehen. Leider mauert diesmal wieder ein Großteil der Wirt- schaft. Schade! Warum orientieren sie sich nicht an den erfolgreichen Modellen der Banken, Versicherer und Verkehrsunternehmen? Schnell, unbürokratisch und kos- tengünstig Lösungen im Streitfall zu finden, motiviert in der Regel Kunden eher, dem Unternehmen treu zu blei- ben, als eine Klärung der Streitigkeiten durch das Ge- richt oder eine Auffangschlichtungsstelle. 10544 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) Um entsprechendes Vertrauen für die Beteiligung an einer Schlichtung sowohl bei den Verbrauchern als auch bei den Unternehmen aufzubauen, muss natürlich ge- währleistet sein, dass die Streitmittler unabhängig sind, über entsprechende Rechtskenntnisse verfügen und die Schlichtungsstellen selbst durch die zuständige Behörde anerkannt und regelmäßig überprüft werden. Bei Letzte- rem habe ich allerdings meine Zweifel, wenn ich sehe, wie verschieden die einzelnen Bundesländer die Lebens- mittelkontrolle durchführen. Besondere Aufmerksamkeit bei Umsetzung der ADR- Richtlinie verdient meiner Meinung nach der elektroni- sche Geschäftsverkehr. Der sogenannte Onlineschlichter, eine hierauf spezialisierte Schlichtungsstelle, sollte da- her – wie im Koalitionsvertrag der Bundesregierung an- gekündigt – bundesweite Zuständigkeit bekommen. Da über das Internet alle möglichen Arten von Kauf- und Dienstleistungsverträgen zwischen Unternehmern und Verbrauchern abgeschlossen werden, scheint der Online- schlichter auch besonders geeignet, die Aufgabe einer Universalschlichtungsstelle nach § 29 des Regierungsent- wurfs zu übernehmen – das heißt die sektorübergreifend zuständig ist, sofern es keine speziellere Schlichtungs- stelle gibt. Ich verweise hier auf die guten Erfahrungen beim Onlineschlichter des Europäischen Verbraucher- zentrums in Kehl. Ein Problem sehe ich allerdings im Gesetzentwurf noch nicht gelöst. Die Ansprüche der Verbraucher dür- fen während des Schlichtungsverfahrens nicht verjähren. Hier unterstütze ich voll und ganz die Forderung des vzbv. Mein Fazit: Der Grundgedanke, einen Zugang zu Schlichtungsstellen für jeden in jeder Branche zu schaf- fen, ist gut. Ich möchte, dass sich eine Schlichtungskul- tur in Deutschland durchsetzt. Lassen Sie uns gemein- sam den guten Entwurf im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher verbessern. Dennis Rohde (SPD): Die außergerichtliche Schlichtung ist in Deutschland bereits seit Jahrzehnten ein Erfolgsmodell. Sie sorgt dafür, dass Konflikte ent- schärft werden können, statt zu eskalieren – und entlastet durch die einvernehmliche Lösung von Streitigkeiten unsere Gerichte. Zudem bieten Schlichtungsstellen eine Streitbeilegung, die oft günstigere und schnellere Ergeb- nisse erbringt als der klassische Rechtsweg. Es über- rascht daher kaum, dass es neben den traditionellen Schiedsämtern eine zunehmende Zahl von Schlichtungs- stellen gibt, die Verbraucher und Unternehmer an einen Tisch bringen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir diese Entwicklung vorantreiben. Mit der Umsetzung der EU-Richtlinie zur alternativen Streitbeilegung sorgen wir dafür, dass jede Verbraucherin und jeder Verbraucher in Deutschland Zugang zu einer Schlichtungsstelle er- hält. Das erreichen wir, indem wir verbindliche Stan- dards für bestehende, etwa von Branchenverbänden ge- tragene Schlichtungsstellen setzen – und durch die Länder dort ergänzende Universalschlichtungsstellen einrichten, wo das Angebot noch nicht ausreichend ist. Wichtig ist dabei, dass wir die Gerichte entlasten und ihre Arbeit ergänzen wollen – nicht aber Parallelstruktu- ren aufbauen. Der Rechtsweg steht jederzeit offen, einen Ausschluss des Gangs zu regulären Gerichten in den Verfahrensordnungen der Schlichtungsstellen verbieten wir ausdrücklich. Zugleich setzen wir konsequent auf Einigung und guten Willen – und deswegen auf Freiwil- ligkeit: Weder Verbraucher noch Unternehmer werden gezwungen, teilzunehmen, und eine Beendigung des Schlichtungsverfahrens oder eine Ablehnung des Schlichtungsvorschlags steht den Parteien jederzeit frei. Die Teilnahme an einem Schlichtungsverfahren soll für die Verbraucherinnen und Verbraucher kostenlos sein. Dennoch werden die laufenden Kosten zu einem großen Teil durch Einnahmen durch Gebühren gedeckt: Für Schlichtungsverfahren an den behördlichen Univer- salschlichtungsstellen zahlen die Unternehmen nämlich eine nach dem Streitwert gestaffelte Gebühr. So wollen wir auch einen Anreiz setzen, zügig zur Anerkennung der Ansprüche von Verbraucherinnen und Verbrauchern zu kommen. Unternehmen müssen künftig auf ihrer Homepage und in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen auswei- sen, ob sie an der Schlichtung teilnehmen. Damit kann jeder klar sehen, ob ein Unternehmen Verbraucherrechte ernst nimmt und Vertrauen verdient – oder eben nicht. Durch diese Regelung zur Transparenz wollen wir errei- chen, dass die Bereitschaft zur Schlichtung auch zum Wettbewerbsfaktor zwischen den Unternehmen wird – damit es für Unternehmen ein Vorteil wird, mehr für Verbraucherrechte zu tun. Transparenz wollen wir auch in den Schlichtungsstel- len selbst erreichen. In ihren jährlichen Tätigkeitsberich- ten müssen die Schlichter aufzeigen, welche Art von Verträgen oft zu Verfahren führt – und damit, welche Geschäftsmodelle tendenziell öfter problematisch oder konfliktträchtig sind. So bauen wir das Netzwerk der Marktbeobachtung aus und gehen konsequent den Weg weiter, den wir mit dem Aufbau der Marktwächter ein- geschlagen haben. Denn je mehr Transparenz auf den Märkten herrscht, desto besser funktionieren sie im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher. Das parlamentarische Verfahren steht mit der heuti- gen ersten Lesung erst am Anfang. Im Austausch mit Verbraucherschützern, Branchenverbänden und den Ländern wollen wir nun die Einzelheiten des Gesetzent- wurfs erörtern und die Meinung der Experten einholen. Dem sehe ich persönlich freudig entgegen. Mit dem hier vorgestellten Gesetzentwurf ist ein großer Schritt dazu getan, die Schlichtung in Deutschland weiter voranzu- bringen und so bessere Voraussetzungen zur Durchset- zung der Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher zu schaffen. Caren Lay (DIE LINKE): Die Idee ist ja grundsätz- lich nicht schlecht: Statt bei einem Streit mit einem Un- ternehmen erst immer den komplizierten und langwieri- gen Rechtsweg beschreiten zu müssen, soll es bald ein unbürokratisches und online durchführbares Schlich- tungsverfahren geben. Viele Verbraucherinnen und Ver- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10545 (A) (C) (D)(B) braucher lassen es bekanntermaßen auf sich beruhen, ge- rade wenn es sich nicht um gravierende Fehler seitens der Unternehmen handelt. Eine Klage wird laut aktuel- len Studien oftmals erst ab einem Wert von 2 000 Euro angestrebt. Eine gerichtliche Klage kostet Zeit, Nerven und auch Geld. Klar, dass die Unternehmen auch darauf spekulieren. Nicht selten wird sogar mit Angriff auf Be- schwerden reagiert, wenn Kundinnen und Kunden bei- spielsweise Geld einbehalten. Dann wird anstatt mit Ko- operation mit einschüchternden Inkassobriefen oder gar im Streitfall der Kündigung einer wichtigen Dienstleis- tung reagiert und darauf gesetzt, dass die Verbraucherin- nen und Verbraucher einfach aufgeben. Leider war es mal wieder nicht die Idee der Bundesre- gierung, ein Schlichtungsgesetz vorzulegen, sondern es handelt sich um die Umsetzung einer EU-Richtlinie. Und leider ist die Idee auch nur grundsätzlich gut, denn sie hat einen entscheidenden Konstruktionsfehler: Die Umsetzung ist für die Unternehmen völlig freiwillig und mal wieder eine der berühmten Selbstverpflichtun- gen, welche die Bundesregierung gerne mal als angebli- chen Handlungsnachweis erlässt. Das kennen wir ja bei- spielsweise aus dem Hause Maas schon von anderen Vorhaben, beispielsweise den Dispozinsen, wo Sie auf Warnhinweise statt auf Deckelung setzen wollen. Das Muster schleift sich scheinbar bei Ihnen ein. Dahin gehend ist es auch heuchlerisch, dass die Wirt- schaft sich jetzt darüber beklagt, dass sie selbst die Kos- ten der Schlichtungen grundsätzlich übernehmen soll und nur im Falle von Missbräuchlichkeit maximal 30 Euro Kosten auf die Verbraucherinnen und Verbrau- cher zukommen werden. Denn: Sie brauchen ja gar nicht mitzumachen. Welchen Anreiz haben die Unternehmen, freiwillig an einem Schlichtungsverfahren teilzunehmen? Wenn sie sich sicher sind, dass sie gewinnen, werden sie sowieso immer den juristischen Weg gehen. Maximal interessant wäre so ein Verfahren für die Unternehmen, wenn sie ei- nem öffentlichkeitswirksamen Verfahren aus dem Weg gehen können, um einen Imageschaden zu vermeiden. Das kann aber bereits heute schon durch ein Kulanzan- gebot seitens der Unternehmen ausgeglichen werden. Es gibt bereits einige branchenbezogene Schlich- tungsstellen wie zum Beispiel die Schlichtungsstelle der Fahrgastbranche oder der Versicherungsunternehmen. Die Teilnahme daran ist für das Unternehmen verpflich- tend. Dies haben sich die Unternehmen nicht selbst aus- gedacht oder im Rahmen der berühmten freiwilligen Selbstverpflichtung umgesetzt. Auch diese Schlich- tungsstellen musste man zum Jagen tragen. Warum sollte dies bei anderen Unternehmen anders sein? Werden, was zu erwarten ist, nicht ausreichend Schlichtungsstellen von privater Seite eingerichtet, haben die Bundesländer regionale Auffangschlichtungsstellen einzurichten. Der geschätzte Kostenaufwand für die Länder beträgt jähr- lich circa 4,919 Millionen plus einem Einmalaufwand von 9 Millionen. Da die Teilnahme der Unternehmen freiwillig ist, wird entgegen der Vermutung in dem Ge- setzentwurf kaum von einem nennenswerten Rückfluss aus Teilnahmegebühren und schon gar nicht von einer kostendeckenden Gebührenfinanzierung auszugehen sein. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Länder, die die personelle und sachliche Ausstattung der Auffang- schlichtungsstellen vorzufinanzieren haben, schlicht wieder einmal Geld verbrennen. Wie soll so halbherzig das Vertrauen in den Binnenmarkt gestärkt werden? Außerdem vergessen Sie hier eine nicht unwichtige Zielgruppe: Die Nonliner, also Menschen ohne Internet oder Internetaffinität. Gerade ältere Menschen werden von einer Onlineschlichtung, wenn sie denn stattfindet, nicht profitieren. Sie haben es in der Hand, ein wirksames Gesetz zu verabschieden – wenn Sie nachbessern und vor allem die Freiwilligkeit aus diesem Entwurf streichen. Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der vorliegende Gesetzentwurf für das Verbraucherstreitbei- legungsgesetz, VSBG, setzt eine EU-Richtlinie um. Das ist gut so, denn die Vorteile von Schlichtung liegen auf der Hand. Einige davon möchte ich hier kurz benennen: Schlichtungen können im Vergleich zu Gerichtsver- fahren Zeit und Geld sparen; sie werden in der Regel zü- gig abgewickelt und sind mit keinen oder nur geringen Kosten für die Verbraucherinnen und Verbraucher ver- bunden. Es besteht eine realistische Chance für eine güt- liche Einigung. Man kann die Schlichtung auch im Falle eines geringen Streitwertes nutzen, bei dem Verbrauche- rinnen und Verbraucher den Gang zum Gericht eher scheuen würden. Außerdem bleibt die Vertraulichkeit von privaten und geschäftlichen Angelegenheiten ge- wahrt, wenn eine öffentliche Gerichtsverhandlung ver- mieden wird. Es gibt derzeit rund 60 000 Streitbeilegungsanträge von Verbraucherinnen und Verbrauchern bei den beste- henden Schlichtungsstellen in den Bereichen Versiche- rung, Energieversorgung, öffentlicher Personenverkehr, Telekommunikation und Finanzdienstleistungen. Das zeigt, dass die Schlichtung für die Verbraucherinnen und Verbraucher durchaus eine Alternative zu den wesentlich aufwendigeren Gerichtsverfahren darstellen kann. Deshalb ist es umso wichtiger, dass die alternative Verbraucherstreitbeilegung hohen Standards unterliegt, damit Schlichtung zu einem Erfolgsmodell werden kann. Der vorliegende Gesetzentwurf hat hier noch erhebli- chen Nachholbedarf. Folgende Punkte bedürfen meiner Meinung nach einer Überarbeitung: Erstens: Die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit von Schlichtungsstellen sind die wichtigste Vorausset- zung, damit das niedrigschwellige Instrument der Schlichtung von den Verbraucherinnen und Verbrau- chern auch akzeptiert und angenommen wird. Deshalb müssen die Beteiligungsrechte klarer definiert sein. Ver- braucherverbände sollten die gleichen Beteiligungs- rechte erhalten wie Branchenverbände. Zweitens: Der Gesetzentwurf setzt auf die Freiwillig- keit der Unternehmen. Wenn sich in Deutschland die Schlichtung als Alternative zum Gerichtsgang etablieren soll, müssen auch möglichst viele Unternehmen mitma- 10546 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) chen. Bisher sieht der Gesetzentwurf das aber nicht vor, denn Unternehmen müssen sich keiner Schlichtung un- terwerfen. Besser wäre es, wenn sich Unternehmen in Wirt- schaftsbereichen, in denen dies besonders relevant ist, wie zum Beispiel im Telekommunikationsbereich, einer Branchenschlichtungsstelle anschließen müssten, damit eine hohe Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit gewähr- leistet ist. Vorbild könnten bereits existierende und gut funktio- nierende Branchenschlichtungsstellen sein wie beispiels- weise die Schlichtungsstelle des öffentlichen Personen- verkehrs, söp. Eine solche Form eines unabhängigen Trägervereinsmodells hätte zudem den Vorteil, dass sie paritätisch von Verbraucher- und Wirtschaftsvertretern besetzt wäre. Ich frage mich, wie die Bundesregierung die Unter- nehmen in Zukunft auf freiwilliger Basis überhaupt dazu bewegen will, weitere Schlichtungsstellen einzurichten. Drittens: Auch die vorgesehene Lösung von Univer- salschlichtungsstellen auf Länderebene ist kontrapro- duktiv, denn wir brauchen branchenspezialisierte Schlichter. Hier hätte die Bundesregierung eine bundes- weite Auffangschlichtung vorsehen sollen, damit sich bundesweite Branchenlösungen durchsetzen können, an- statt die Verantwortung den Ländern zuzuschieben. Vierter Punkt: Schlichtung kann eine Rechtsprechung nicht ersetzen und darf sie auch nicht gefährden. Bisher haben die Schlichtungsstellen nur Berichtspflichten ge- genüber den zuständigen Aufsichtsbehörden. Es ist je- doch wichtig, dass die Schlichtungsstellen ihre Entschei- dungen – selbstverständlich unter Wahrung des Anonymitätsgrundsatzes – möglichst transparent ma- chen. Denn nur so können die Verbraucherverbände ihre Klagebefugnis wahrnehmen, wenn Schlichtungsverfah- ren nicht weiterführen, noch offene Rechtsfragen beste- hen oder Verbraucherverbände Musterklagen anstreben wollen in Fällen, bei denen wiederholt gegen Verbrau- cherrechte verstoßen wird. Ein weiterer relevanter Punkt ist die Qualifikation der Schlichter. Hier brauchen wir klare Vorgaben. Damit die Schlichtung eine ernst zu nehmende Alternative zum Gerichtsverfahren darstellt, müssen die Schlichter auch über einen entsprechenden juristischen Abschluss verfü- gen. Ich möchte abschließend ausdrücklich vor einer Schlichtung light warnen, die bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern falsche Hoffnungen weckt. Wir brau- chen hohe Anforderungen und Standards, damit sich das Instrument der alternativen Streitbeilegung etablieren kann und hält, was es verspricht. Dazu gehört auch die Änderung der derzeitigen Verjährungsregelung. Ver- braucherinnen und Verbraucher müssen sich darauf ver- lassen können, dass Schlichtungsverfahren auch kurz vor der Verjährung sinnvoll sind. Deshalb muss der Schlichtungsantrag die Verjährung der Forderung hem- men. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Zugang und Teil- habe ermöglichen – Die Dekade für Alphabeti- sierung in Deutschland umsetzen (Tagesord- nungspunkt 19) Xaver Jung (CDU/CSU): 7,5 Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben. Seit 2010 ist diese Zahl, die die leo. – Level-One Studie veröffentlichte, bekannt. Auch immer noch herrscht eine große Ungläubigkeit darüber, dass 14 Prozent der er- werbstätigen Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht richtig lesen und schreiben können. 2012 bestätigte eine weitere Studie, PIACC, dass die Grundbildung und Lesekompe- tenzen der Menschen in Deutschland unter dem OECD- Durchschnitt liegen. Knapp jeder sechste Mensch in Deutschland kann nicht richtig lesen und schreiben? Das kann nicht sein! Dass dieser Fakt so unbekannt ist, bestätigt einmal mehr: Analphabetismus ist noch ein Tabuthema in unserer Ge- sellschaft. Und viele Betroffene, die sich Vermeidungs- strategien angeeignet haben, leben mit viel Angst, ent- deckt zu werden. Analphabetismus ist in unserer heutigen Gesellschaft ein großes Problem. Aber es ist leider immer noch mit großer Angst vonseiten der Betroffenen besetzt und wird tabuisiert. Auch wenn das „wissende Umfeld“, also enge Verwandtschaft und Kollegen, vielleicht Bescheid wis- sen – wie eine Studie der Stiftung Lesen 2014 ergab –, so wird die Alphabetisierung dennoch oftmals nicht ange- gangen, denn zu groß ist die Scham, sich Blöße zu ge- ben. 2012 haben sich Bund und Länder auf eine Nationale Strategie zur Alphabetisierung und Grundbildung Er- wachsener geeinigt. Viele Kooperationspartner haben sich diesem Bündnis angeschlossen und versuchen seit- dem, die Initiativen für Grundbildung in die Breite zu tragen und den Betroffenen zu helfen. Daraus haben sich viele gute Kurse und Netzwerke gebildet, die bereits jetzt schon einen wichtigen Teil des Weiterbildungs- systems in Deutschland bilden. Auch der vom BMBF initiierte Alphabund leistet gute Arbeit mit dem bundes- weiten ALFA-Telefon und der Sensibilisierung der Öf- fentlichkeit. Mit dem heute vorliegenden Antrag wollen wir aber mehr. Wir wollen eine nachhaltige Dekade für die Al- phabetisierung initiieren. Die Zahl der Betroffenen soll nachhaltig reduziert werden, und die Prävention und Sprach- und Schreibförderung soll verbessert werden. Besonders wichtig ist die Öffnung der Gesellschaft ge- genüber diesem Thema. Denn Analphabetismus betrifft die ganze Gesellschaft, besonders vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und des Fachkräfte- mangels. In der Dekade sollen die bestehenden Bündnisse in die Breite getragen und weitere Allianzpartner gefunden werden. Dies kann nur geschehen, wenn regelmäßig Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10547 (A) (C) (D)(B) Konferenzen zum Austausch und zur Vernetzung der Partner stattfinden. Wir haben die Senkung der Zahl der Analphabeten im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD für die 18. Wahlperiode festgeschrieben. Um dies nachhaltig garantieren zu können, soll eine an das Bundesministe- rium für Bildung und Forschung angegliederte Stelle ge- schaffen werden: Hier soll die Koordination stattfinden. Der Bund investiert bereits insgesamt 19,5 Millionen Euro in Maßnahmen der Alphabetisierung und Grundbil- dung. Das ist viel Geld, aber es muss auch dort ankom- men, wo es gebraucht wird. Die Koordinierungsstelle soll die weitere strategische Arbeit erledigen wie Schwerpunkte festsetzen, Maßnahmen fördern und die Öffentlichkeitsarbeit betreuen. Besonders das „wissende Umfeld“ und Arbeitgeber sollen gestärkt werden, An- reize zu schaffen. Gemeinsam mit den Bildungszentren und Koordinie- rungsstellen sollen die Alphabetisierungsangebote und besonders die personelle Ausstattung weiter erhöht werden. Darüber hinaus soll es passgenaue, nieder- schwellige Angebote geben, die für die Betroffenen am Arbeitsplatz, im Alltag und familiären Umfeld auch Ver- wendung finden können. Nur so können dauerhaft die Teilnehmerzahlen in den Alphabetisierungskursen auch erhöht werden. Es müssen auch andere Ressorts und Ministerien, wie zum Beispiel das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, und die Bundesarbeitsagenturen mehr Unterstützung darbieten. Nur wer die Grundkom- petenzen im Bereich Lesen, Schreiben, Mathematik und den Umgang mit Informations- und Kommunikations- technologien auch wirklich beherrscht, kann vollum- fänglich in den Arbeitsmarkt integriert werden. Eine weitere wichtige Arbeit dieser Koordinierungs- stelle ist die Auswertung und das Zusammenführen der vorliegenden Daten. In den vergangenen Jahren sind im- mer wieder Förderschwerpunkte und Projekte durchge- führt worden, die sich mit der Didaktik und dem Umgang mit Analphabetismus beschäftigt haben. Nicht zuletzt, weil hier noch Bedarf für die Praxis besteht, müssen diese Daten weiter ausgewertet werden. Auch um die Auswirkungen dieser Bemühungen sichtbar zu machen, wollen wir, dass diese Daten in die weitere Bildungsberichterstattung mit aufgenommen werden. Wir wollen die gesamte Gesellschaft ermutigen, sich für Alphabetisierung einzusetzen. Helfen Sie uns dabei! Sven Volmering (CDU/CSU): Die Boxlegende Mu- hammed Ali hat nach seiner Karriere gesagt, dass er sein bekanntes Gesicht unter anderem für den Kampf gegen den Analphabetismus einsetzen möchte. Das ist jetzt über 30 Jahre her. Ali hat viele Kämpfe alleine gewon- nen. Beim Kampf für die Alphabetisierung brauchen wir neben prominenten Gesichtern jedoch viele Mitstreiter in den Kitas, Schulen, Weiterbildungseinrichtungen und Betrieben. Das Erfreuliche an der heutigen Debatte ist, dass wir uns fraktionsübergreifend einig sind, Analpha- betismus zu bekämpfen, damit den betroffenen Men- schen ein selbstbestimmtes Leben in und Teilhabe an unserer Gesellschaft ermöglicht werden kann. Wenn 7,5 Millionen Menschen vom funktionalen Analphabe- tismus betroffen sind, dann ist dies eine gesellschaftliche Herausforderung. Es muss uns, die wir uns gerne mit dem Ehrentitel „Volk der Denker und Dichter“ schmü- cken, nachdenklich stimmen, dass die Lesekompetenz der Deutschen unter dem OECD-Durchschnitt liegt. Trotz vieler guter Maßnahmen ist Analphabetismus für noch zu viele Menschen aus unterschiedlichen Gründen tabubehaftet. Deshalb ist es richtig, dass die Koalitions- fraktionen mit einer Reihe von Vorschlägen eine Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung einfordern. Der auch in dieser Debatte wieder von der Opposition ge- brachte Hinweis auf das Kooperationsverbot im Schul- bereich läuft meines Erachtens bei diesem Thema doch ziemlich ins Leere. Natürlich ist es ein Bildungsthema, über das wir heute debattieren. Aber die Auswirkungen und notwendigen Maßnahmen erstrecken sich doch über die Familien-, die Integrations-, die Wirtschafts- bis hin zur Arbeitsmarktpolitik. Deshalb ist es sinnvoll, dass die Themen Alphabetisierung und Grundbildung stärker als Querschnittsaufgabe verstanden werden müssen, wobei es gut ist, dass das BMBF die Federführung bei der Koordinierung der entsprechenden Aktivitäten der Ministerien erhalten soll. Genauso wichtig ist, dass die gesellschaftlich relevanten Akteure, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Kirchen, Volkshochschulen sich noch stärker als bisher engagieren und das bestehende Netzwerk ausgebaut wird. Wenn es gelingt, den Kampf gegen Analphabetismus besser zu koordinieren, um die vielfältigen Angebote bekannter zu machen, dann wer- den auch die Teilnehmerzahlen erhöht werden. Es gibt keine Alternative zu dem Ansatz, die Förderung der Lese- und Schreibfähigkeit immer mit Grundbildung in anderen Bereichen zu verbinden. Dazu müssen zwei Punkte stärker als bisher berücksichtigt werden. Zum ei- nen müssen die bestehenden Angebote noch stärker mit der Lebenswirklichkeit und dem -umfeld der Betroffe- nen verbunden werden. Zum anderen müssen wir neue Anreize dafür schaffen, dass Kurse und Maßnahmen bis zum Ende durchgeführt und besucht werden. Deshalb ist es wichtig, wie im Antrag angesprochen, die Qualitäts- debatte zu führen. Wenn die zielgruppengerechte Quali- tät der Maßnahmen ausgezeichnet ist und als Mehrwert angesehen wird, der dem Kursteilnehmer etwas bringt und sogar Spaß macht, dann kommen wir ein gutes Stückchen bei dieser Daueraufgabe weiter. Und es ist auch ehrlich, zu sagen, dass diese Aufgabe mehr Zeit in Anspruch nehmen wird als zwei Legislaturperioden, zu- mal sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im- mer ändern. Als ich mich auf diese Rede vorbereitet habe, habe ich festgestellt, dass die Digitalisierung, drü- cken wir es vorsichtig aus, in den Debatten der letzten Legislaturperiode zu diesem Thema fraktionsübergrei- fend eher eine untergeordnete Rolle spielte. Als Bericht- erstatter für Digitale Bildung freue ich mich sehr, dass die Bedeutung der Informations- und Kommunikations- technologien und digitaler Medienkompetenz an ver- schiedenen Stellen des Antrags deutlich hervorgehoben wird. Wenn wir sagen, es ist wichtig, die Lebenswirk- lichkeit der Menschen einzubeziehen, dann gehören dazu selbstverständlich Aktivitäten am Arbeitsplatz, in 10548 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) der Aus-, Fort- und Weiterbildung, im Mehrgeneratio- nenhaus oder im Sportverein. Nichtsdestoweniger müssen wir auch die Chancen nutzen, die Blended- und Mobile-Learning-Angebote bieten. Gerade beim Thema Analphabetismus, das bei vielen Betroffenen mit Angst und Scham besetzt ist, weil sie aus unterschiedlichen Gründen bislang den Zugang zur Schrift und zum Lesen verpasst haben, bieten E-Learning- Angebote wie ich-will-lernen.de und ich-will-deutsch- lernen.de ausgezeichnete Möglichkeiten, zeit- und ortsunabhängig mit über 31 000 kostenlosen Übungen zu lernen, ohne dass man gleich immer das Gefühl haben muss, da ist jetzt ständig einer dabei, der alle meine Feh- ler sieht. Bedanken möchte ich mich bei der Bundesregierung für die wirklich sehr lesenswerte und ausführliche Be- antwortung der Grünen-Anfrage. Es wird in beeindru- ckender Weise dargestellt, wie viele gute Aktivitäten bereits durchgeführt werden. Exemplarisch nenne ich bspw. die Projekte Alpha PlusJob, ABC+ oder SESAM, dessen NRW-Sitz in meinem Wahlkreis in Bottrop ist, oder „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“. Es ist schön, zu sehen, dass viele Länder das Bundesprogramm „Schwerpunkt-Kitas Sprache & Integration“ mit eigenen Maßnahmen flankieren und den alltagsintegrierten Sprachprozess verstärken. Besonders loben möchte ich zum Ende meiner Rede noch einmal das Projekt Lesestart der Stiftung Lesen. Die 26 Millionen Euro des Bundes sind wirklich sehr gut investiertes Geld. In Dorsten, Gladbeck und Bottrop konnte ich sehen, mit wie viel Herzblut die Stadtbiblio- thek, die Lebendige Bibliothek, der Leseclub „anne Em- scher“ und die Kitas St. Marien und „die Initiative“ die Lesestart-Sets verteilen, kindgerechte Veranstaltungen durchführen und Kindern aus allen Bevölkerungsschich- ten Lust auf Bücher und aufs Lesen machen. Diese prä- ventiven Maßnahmen sind eine gute Basis, auf der eine vernünftige Lese- und Schreibförderung in den Schulen zwingend aufbauen muss. Deshalb ist es auch richtig, sich in dem Antrag an die Länder zu wenden. Zum Abschluss meiner Rede möchte ich mich bei den Berichterstattern Xaver Jung und Rainer Stiering für die Erarbeitung des Antrags bedanken. Dies ist immer mit viel Arbeit verbunden und sollte an dieser Stelle daher auch gewürdigt werden. In diesem Sinne freue ich mich auf die Fortführung der Diskussion im Ausschuss. Oliver Kaczmarek (SPD): 2011 hat die leo. – Level- One Studie der Universität Hamburg das ganze Ausmaß des funktionalen Analphabetismus in Deutschland zum Ausdruck gebracht. 7,5 Millionen Menschen in Deutsch- land zwischen 18 und 64 Jahren gelten als funktionale Analphabeten. Wir kennen nicht alle Ursachen dafür. Aber wir wissen seitdem, dass funktionaler Analphabe- tismus nicht nur gesellschaftliche Ränder betrifft, son- dern bis in die Mitte unserer Gesellschaft hinein zu fin- den ist. Über 56 Prozent der funktionalen Analphabeten haben einen Beruf, Deutsch ist bei über 58 Prozent der Betroffenen die Muttersprache, und über 70 Prozent ha- ben einen Schulabschluss. Deshalb eine Anmerkung gleich zu Beginn: Es ist gut, dass die Bundesregierung entschieden hat, die leo. – Le- vel-One Studie zu wiederholen und zu verstetigen. Es ist nicht nur wichtig, dass wir mehr über das Ausmaß erfah- ren, sondern auch über die Ursachen und die Kontexte des funktionalen Analphabetismus. leo liefert unver- zichtbares Wissen, mit dem wir politisch noch genauer gegensteuern können. Seit dem Alpha-Schock ist eine Menge in Bewegung geraten. Im Jahr 2011 hat die Bundesregierung gemein- sam mit den Ländern die Nationale Strategie für Alpha- betisierung und Grundbildung entwickelt. Neben Bund und Ländern sind zahlreiche weitere Verbände, Organi- sationen und Institutionen dem Bündnis beigetreten, wie der Deutsche Gewerkschaftsbund, die Kirchen, der Deutsche Städte- und Gemeindebund, die Bundesagen- tur für Arbeit, der Bundesverband Alphabetisierung, der Deutsche Volkshochschul-Verband oder die Stiftung Lesen. In die Vereinbarung der Partner der nationalen Strategie wurden Initiativen und weiter gehende For- schungsmaßnahmen aufgenommen. Auf regelmäßigen Treffen hat man sich über Aktivitäten und Ergebnisse ausgetauscht. Das Bundesbildungsministerium hat mit weiteren Maßnahmen wie dem Förderschwerpunkt Ar- beitsplatzorientierte Grundbildung und der öffentlich- keitswirksamen Kampagne „Mein Schlüssel zur Welt – Lerne Lesen und Schreiben“ den Kampf gegen Analpha- betismus verstärkt. Mit der Einführung der Nationalen Dekade, die die SPD im Koalitionsvertrag mit CDU/ CSU verankern konnte, geht es nun darum, die Zusam- menarbeit zwischen den Partnern und die unterschiedli- chen Maßnahmen stärker als bisher zu koordinieren, weiterzuentwickeln und nachhaltig zu verankern. Dieses Ziel spiegelt sich auch in den Haushaltsmitteln wider, die im Laufe der Jahre erhöht wurden. 2011 lagen die Mittel bei 5,7 Millionen Euro. 2015 wurden insgesamt 19,5 Millionen Euro eingeplant. Zum Glück gibt es bereits seit Jahrzehnten in Deutschland engagierte Menschen, die sich für den Kampf gegen Analphabetismus einsetzen. Wichtige Träger der Alphabetisierungsarbeit sind unter anderem der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung, der Deutsche Volkshochschul-Verband und die Stiftung Lesen. Ich freue mich besonders darüber, dass sich seit Bekanntwerden der Studie deutschlandweit zahlreiche lokale und regionale Bündnisse und Pakte für Alphabeti- sierung und Grundbildung gegründet haben, so auch in meinem Wahlkreis im Kreis Unna. Viele Landesregie- rungen haben Initiativen und Maßnahmen aufgelegt, um im Kampf gegen Analphabetismus Erfolge zu erzielen. An dieser Stelle möchte ich meinen Dank an diese zahl- reichen engagierten Menschen zum Ausdruck bringen. Mit der Einführung der Nationalen Dekade für Alpha- betisierung und Grundbildung leisten wir als Bund unse- ren Beitrag und übernehmen Verantwortung im Kampf gegen Analphabetismus. Die nächsten zehn Jahre lang wird die Bundesregierung ihre bisherigen Maßnahmen verstärken, erweitern und in Absprache mit den Ländern koordinieren. Zentrale Ziele der auf Nachhaltigkeit ab- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10549 (A) (C) (D)(B) zielenden Dekade sind unter anderem: erstens der Aus- bau der Netzwerke der Länder zu einem nachhaltigen Netzwerk der Akteure der Alphabetisierungsarbeit, zweitens die Schaffung von dauerhaften und tragfähigen Strukturen der Alphabetisierungs- und Grundbildungsar- beit als Teil des Weiterbildungssystems in Deutschland, drittens die weitere Sensibilisierung des unmittelbaren Arbeits- und Familienumfeldes und der Öffentlichkeit für das Thema. Wenn wir nun von der Strategie gegen Analphabetis- mus zur Dekade kommen, dann handelt es sich nicht nur um eine Umetikettierung, sondern um einen substanziel- len Beitrag des Bundes im Kampf gegen den funktiona- len Analphabetismus und einen deutlichen Schritt nach vorne. Anhand der Mittelausstattung hatte ich das vorhin schon ausgeführt. Unsere Erwartungen als Deutscher Bundestag sind aber noch weiter gehend. Denn wir un- terstützen die Bundesregierung dabei, Probleme anzuge- hen, die bisher nicht oder nur unzureichend angegangen sind. Erstens: Nach wie vor ist beispielsweise die Wirt- schaft noch sehr zurückhaltend mit einem eigenen Bei- trag zur Bekämpfung des funktionalen Analphabetismus in Deutschland. Zwar gibt es Unternehmen, die sich dan- kenswerterweise intensiv für das Thema einsetzen, aber die großen Wirtschaftsverbände scheuen bisher mit Hin- weis auf die staatliche Zuständigkeit für Bildung eine aktive Teilnahme an den unterschiedlichen Maßnahmen. Ich bin der Meinung, wir sollten bei diesem Thema nicht locker lassen, denn es geht um die sinnvolle und absolut notwendige Einbeziehung des Themas Alphabetisierung und Grundbildung am Arbeitsplatz. Zweitens: Wenn wir über Alphabetisierung sprechen, sollten wir zudem unseren Blick erweitern und die Grundbildung ebenfalls benennen. Denn Lesen und Schreiben sind Schlüsselkompetenzen, aber wir wollen insgesamt Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermög- lichen. Dazu gehört neben Lesen, Schreiben und Rech- nen auch die Verfügbarkeit von Alltagskompetenzen. Die Grundbildung ist nicht von der Alphabetisierung zu trennen. Drittens: Die Maßnahmen zur Förderung von Grund- bildung in den einzelnen Bundesländern sind unter- schiedlich ausgeprägt. In Berlin gibt es beispielweise ein eigenes Grundbildungszentrum, einen Arbeitskreis Orientierungs- und Bildungshilfe und zahlreiche Mo- dellprojekte wie Grundbildungskurse in Moscheen. Auch die Zahl der Kursplätze an Volkshochschulen wurde deutlich erhöht. In anderen Bundesländern ist da- gegen noch keine breit angelegte Strategie im Kampf ge- gen Analphabetismus erkennbar. Dieses Nord-Süd- und Stadt-Land-Gefälle müssen wir aufbrechen. Jedes Land muss seinen Beitrag leisten. Viertens: Eine aktuelle Herausforderung, auf die wir auch im Themenfeld Alphabetisierung und Grundbil- dung stoßen, ist die Einbeziehung von Flüchtlingen. Für die betroffenen Flüchtlinge, die als funktionale Analpha- beten gelten, müssen zielgruppenspezifische und ad- äquate Angebote in ausreichender Weise geschaffen werden, um ihnen die Möglichkeit zu geben, lesen und schreiben zu lernen. Fünftens: Aus meiner Sicht ist die Einbeziehung der Verbände in der Dekade gegenüber der Strategie deutlich zu verbessern. Wir wollen eine Alpha-Dekade, die nicht allein die Sache von Regierungen und gesellschaftlichen Großverbänden ist. Wir wollen, dass die vorhandene Expertise der verschiedenen erfahrenen Akteure der Al- phabetisierungsarbeit wie beispielsweise des Volkshoch- schul Verbandes und des Bundesverbandes Alphabetisie- rung besser abgerufen und personell wie institutionell eingebunden ist. Es wäre töricht, wenn wir bei den ambi- tionierten Zielen der Dekade auf die teilweise seit Jahr- zehnten gewonnenen Erfahrungen in der Alphabetisie- rungs- und Grundbildungsarbeit verzichten würden. Ich bin überzeugt, dass wir mit der Einführung dieser Dekade einen wichtigen Schritt nach vorne gehen und ein Zeichen dafür setzen, dass wir die betroffenen Men- schen brauchen und stärker unterstützen. Marianne Schieder (SPD): Können Sie sich vorstel- len, in unserer Gesellschaft zu bestehen, am gesellschaft- lichen Leben teilhaben und Ihren Alltag bewältigen zu können, ohne richtig lesen, schreiben und rechnen zu können? Wohl kaum! In dieser Lage aber, so belegen zuverlässige Untersu- chungen, befinden sich in Deutschland 7,5 Millionen Menschen. Die Erkenntnis ist nicht neu und die Suche nach Wegen, um die Lage zu verbessern, auch nicht. Es gibt bereits eine Vereinbarung zwischen Bund und Län- dern zu einer nationalen Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung und auch schon eine Reihe von Maß- nahmen und Aktivitäten. Der Antrag, über den wir heute diskutieren, ein An- trag von SPD und CDU/CSU mit dem Titel „Zugang und Teilhabe ermöglichen – Die Dekade für Alphabetisie- rung in Deutschland umsetzen“, hat das Ziel, die Proble- matik noch intensiver und nachhaltiger anzugehen, um eine deutliche Verbesserung der Lage zu erreichen. Bevor ich aber auf den Antrag eingehe, möchte ich dem Berichterstatter der CDU/CSU Fraktion, meinem Kollegen Xaver Jung, sehr herzlich für die offene und konstruktive Zusammenarbeit danken. Wir haben mit dem nun vorliegenden Antrag eine sehr gute Basis für eine Dekade für Alphabetisierung geschaffen. 7,5 Millionen Menschen, die nicht richtig lesen oder schreiben können, das sind 14 Prozent der erwerbsfähi- gen Bevölkerung. Menschen ohne Schulabschluss, in prekärer Beschäftigung und über 50 gehören zu den be- sonders gefährdeten Risikogruppen. Insgesamt sind rund 57 Prozent der funktionalen Analphabetinnen und An- alphabeten berufstätig, häufig als un- oder angelernte Arbeitskräfte. Deutsch ist bei 58 Prozent der Betroffenen die Muttersprache, und über 80 Prozent haben einen Schulabschluss. Wie die Zahlen deutlich zeigen, durch- dringt der funktionale Analphabetismus die gesamte Ge- sellschaft. 10550 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) Bis heute ist das Thema Analphabetismus aber leider weitgehend noch mit Angst und Scham besetzt. So ha- ben sich Betroffene Vermeidungsstrategien von „Prü- fungssituationen“ angeeignet, in denen sie lesen oder schreiben müssen. Defizite werden meist erst angegan- gen, wenn die Betroffenen Kinder haben. Die Koalitionsfraktionen der 18. Wahlperiode haben sich darauf geeinigt, die „Nationale Strategie für Alpha- betisierung und Grundbildung“ in eine „Dekade für Al- phabetisierung und Grundbildung“ zu überführen. Hierbei sollen vorhandene und etablierte Instrumente fortgeführt werden und neue dazu kommen. Außerdem wird der Bund sich mit wesentlich mehr finanziellen Mitteln einbringen. Im Haushalt 2015 stehen jetzt fast 20 Millionen Euro zur Verfügung. Damit soll der Aus- bau der Netzwerke der Länder zu einem nachhaltigen Netzwerk der Akteure der Alphabetisierungsarbeit vor- angetrieben werden. Wir streben die Schaffung von dauerhaften und trag- fähigen Strukturen der Alphabetisierungs- und Grundbil- dungsarbeit als Teil des Weiterbildungssystems in Deutschland an. Über die Gründung einer Monitoring- und Koordinie- rungsstelle soll die Zusammenarbeit verbessert und in- tensiviert werden. Wir brauchen die weitere Sensibilisierung des unmit- telbaren Arbeits- und Familienumfeldes und der Öffent- lichkeit für das Thema. Ziel muss es sein, die Zahl der Betroffenen aller „Al- pha-Levels“ so stark wie möglich zu reduzieren. Um einen verstetigenden Lernprozess und eine langfristige Beratung zu garantieren, wird mit der Alphabetisie- rungsdekade ein angemessener Rahmen gesetzt. Wer am gesellschaftlichen Leben teilhaben und sei- nen Alltag gut bewältigen will, braucht ein Mindestmaß an Lese- und Schreibfähigkeiten, verbunden mit einem Mindestmaß an Grundbildung. Explizit zu nennen sind dabei: Rechenfähigkeit, Grundfähigkeit im IT-Bereich, Gesundheitsbildung, finanzielle Grundbildung, soziale Grundkompetenzen und kulturelle Grundbildung. Diese Kompetenzen sind von entscheidender Bedeu- tung für die Chancengleichheit und notwendig für die Teilhabe auf der gesellschaftlichen, beruflichen, politi- schen, digitalen, kulturellen und sozialen Ebene. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und des Fachkräftemangels begründen auch wirtschaftliche Gründe den Handlungsbedarf. Das Thema ist sehr komplex, die Angebote müssen sehr zielgruppenspezifisch und passgenau und oft auch sehr niedrigschwellig sein, um die Betroffenen wirklich zu erreichen und zur Mitarbeit zu bewegen. Entscheidend für die erfolgreiche Teilnahme an Al- phabetisierungsangeboten sind die Qualität der angebo- tenen Lernmaterialien und vor allem die Kursleiterinnen und Kursleiter selbst. Die Qualitätsentwicklung und Pro- fessionalisierung in der Alphabetisierungsarbeit muss weiter unterstützt werden. Rahmencurricula und Unter- richtsleitfäden sind zu modernisieren. Erarbeitete Kon- zepte zur Ausweitung und Verdichtung der Weiterbil- dung für Kursleitungen leisten hierfür unter anderem einen wichtigen Beitrag. Es ist grundsätzlich von Bund und Ländern darauf zu achten, dass bei den jeweiligen Maßnahmen und Angeboten das Weiterbildungspersonal angemessen honoriert wird. Ich gehe davon aus, dass die Kolleginnen und Kolle- gen der Opposition unserem sehr guten, differenzierten und umfangreichen Antrag zustimmen werden. Denn wir sind uns doch alle einig: Der Kampf gegen Bildungsarmut in Deutschland ist nicht auf das Kindes- und Jugendalter beschränkt. Alphabetisierung ist altersun- abhängig der Schlüssel zu mehr Bildungsgerechtigkeit und Teilhabe. Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): Der Deutsche Bundestag beschäftigt sich heute wiederholt mit dem Thema „Analphabetismus wirksam bekämpfen und eine gute Grundbildung für alle sichern“, und das ist auch richtig so. Denn: Nach wie vor wissen wir zu wenig über die Ursachen von Analphabetismus; nach wie vor verlas- sen zu viele junge Menschen die Schule nicht nur ohne Schulabschluss, sondern auch mit unzureichenden Lese- und Schreibfähigkeiten. Nach wie vor ahnen wir nur, wann und warum Menschen im Laufe ihres Berufslebens das Lesen und Schreiben wieder verlernen. Nach wie vor kommen zu wenige in die Alphabetisierungskurse. Und Analphabetismus wird immer noch als Tabu behandelt. Die in der vergangenen Wahlperiode beschlossene „Nationale Strategie für Alphabetisierung und Grundbil- dung“ soll mit dem nun vorliegenden Antrag in eine De- kade für Alphabetisierung und Grundbildung überführt werden. Das ist folgerichtig und erfüllt so – zwar verspä- tet, aber immerhin! – auch eine Forderung der Linken. Schon in unserem Antrag „Niemanden abschreiben – Analphabetismus wirksam entgegentreten, Grundbil- dung für alle sichern“ aus der vergangenen Wahlperiode haben wir die damalige Bundesregierung aufgefordert, ein Zehnjahresprogramm aufzulegen. Dem entsprechen Sie jetzt – dass hätte schon früher sein können und müs- sen. Offensichtlich sind Sie, liebe Kolleginnen und Kolle- gen der Koalition, selber nicht wirklich von den Erfolgen der bisherigen Nationalen Strategie überzeugt. Sie schrei- ben in Ihrem Antrag ja selber von nur – ich zitiere – „punktuell bereits bewährten Strategien“. Dabei mangelt es nicht an Förderprogrammen, Aufklärungskampagnen, Aufrufen und Aufforderungen von Bund und Ländern. Auch die Arbeitsplatzorientierung ist nun Thema, nachdem wir in der Anhörung im Ausschuss damals et- was Ratlosigkeit und wenig Problembewusstsein auf der Arbeitgeberseite konstatieren mussten. Doch es muss auch darauf geachtet werden, dass die nun beabsichtig- ten Maßnahmen zum Beispiel der Bundesagentur nicht zu neuen Hinderungsgründen für eine erfolgreiche Ar- beitsaufnahme werden, weil Sie sie zur Voraussetzung machen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10551 (A) (C) (D)(B) Neben einer sensiblen bundesweiten Informationskam- pagne „Lesen und Schreiben – mein Schlüssel zur Welt“, neben einigen Förderprogrammen zur arbeitsplatzorien- tierten Alphabetisierung und Grundbildung und den damit verbundenen Beratungs- und Schulungsangeboten, neben Onlinelernportalen und ersten entwickelten Curricula und Unterrichtsleitfäden beschreiben die nackten Zahlen noch immer die Misere: 300 000 Menschen in Deutsch- land können nicht einmal ihren Namen schreiben, circa 2,3 Millionen erwachsene und erwerbsfähige Menschen in Deutschland sind Analphabetinnen und Analphabeten im engeren Sinne, das heißt, sie unterschreiten die „Sat- zebene“, und 7,5 Millionen Menschen können nicht rich- tig lesen und schreiben und gelten somit als funktionale Analphabetinnen und Analphabeten. Es gibt noch einen gravierenden Unterschied zu den Forderungen der Linken: Wir wollten zumindest so viele Mittel aufwenden, wie es Großbritannien gelingt. Sie da- gegen schaffen zwar fast die Mindestforderung der SPD von damals – mindestens 20 Millionen sollten es sein, 19,5 Millionen stehen dieses Jahr im Haushalt –, aber es ist sonnenklar, dass das nicht reicht. Auch hier ist Ihnen die „schwarze Null“ wieder näher als die Lese- und Schreibkompetenz der Menschen in unserem Land. Wir brauchen eine andere, nämlich nachhaltige Finan- zierung der Bildungsaufgaben auf allen Ebenen und in ganz Deutschland. Die Sicherung gleicher Bildungsteil- habemöglichkeiten für alle ist eine Aufgabe öffentlicher Daseinsvorsorge von gesamtgesellschaftlicher Dimen- sion. Sie muss deshalb in gesamtstaatliche Verantwor- tung. Ich glaube überhaupt, der größte Erfolg Ihres Antrags ist, dass das Thema nicht wieder unter den Tisch gekehrt wird und es so am „Köcheln“ bleibt. Ich frage mich aber, warum Sie den Antrag gerade jetzt stellen. Kennen Sie die Ergebnisse der nächsten Level-One Studie schon und bauen vor? Arbeitet die Bundesregierung zu langsam oder zu wenig ergebnisorientiert, und Sie müssen ihr auf die Sprünge helfen? Finden Sie in Ihren eigenen Regie- rungskreisen zu wenig Gehör? Ihre vier beschriebenen Handlungsfelder für die Alpha- betisierungsdekade – Strukturierung, zielgruppendifferen- zierte Förderung und Kurse, Umfeldsensibilisierung und niedrigschwellige Angebote sowie die Qualitätsentwick- lung und Professionalisierung – machen deutlich, dass es noch ein weiter Weg ist, wenn es uns gelingen soll, dass die Zahl der Betroffenen aller Alphalevels so stark wie möglich reduziert wird und so alle Menschen ein Min- destmaß an Lese- und Schreibfähigkeiten verbunden mit einer guten Grundbildung erhalten können. Gerade das letztgenannte Handlungsfeld, die Qualitäts- entwicklung und Professionalisierung, ist das wichtigste hinsichtlich der Nachhaltigkeit der Grundbildungs- und Alphabetisierungsangebote – und das in Ihrem Antrag dünnste. Ganze zehn magere Zeilen bieten Sie hierfür auf. Halbherzig wird das Thema behandelt, und vage werden Maßnahmen und Aktionen umrissen. Ist nicht manches auch Aktionismus, und das Geld wäre an- derswo besser angelegt? Überhaupt fällt mir auf, dass wieder an den unbe- streitbar vorhandenen Symptomen herumgedoktert wird und die Bekämpfung der Ursachen aus dem Blick gerät. Ein halbherziger Appell an die Länder ist da deutlich zu wenig. Sie betreiben eine nachsorgende Bildungspolitik, weil Sie sich für die Vorsorge nicht für zuständig halten. Uns Linken fehlt weiterhin ein nachhaltiges Konzept lebensbegleitenden Lernens, dass Fragen der Weiterbil- dung außerhalb der Institutionen der Weiterbildung nicht vernachlässigt. Gilt das schon für die berufliche Weiter- bildung, so gilt das noch mehr für die allgemeine Weiter- bildung. Hier aber wäre der Ort für eine wirksame Ge- genstrategie zur fehlenden oder verloren gegangenen Grundbildung. Eine nachhaltige Verbesserung der Situation in den kommenden Jahren und Jahrzehnten kann aber auch nicht erreicht werden, wenn man in der öffentlichen all- gemeinen und beruflichen Schulbildung weitermacht wie bisher. Es muss gelingen, die Zahlen der Absolven- tinnen und Absolventen, die ohne Schulabschluss und ohne ausreichende Lese- und Schreibfähigkeiten die Schule verlassen, drastisch zu reduzieren. Die Fraktion Die Linke fordert darum, das Augen- merk auf die Verbesserung der Schulbildung zu legen. Mehr Ursachenforschung ist nötig, auch darüber wie und warum funktionaler Analphabetismus selbst nach erfolg- reichem Schulabschluss im Lebenslauf entsteht. Es geht nicht nur um Nachsorge, sondern um bessere Vorsorge. Und es muss deutlich mehr Geld ins System, in Bund und Ländern. Die Programme müssen finanziell besser ausgestaltet werden. Die Weiterbildnerinnen und Weiter- bildner müssen besser bezahlt werden. Die Bundesagen- tur für Arbeit darf keine Weiterbildungsleistungen vergeben, deren Träger nicht Tarif zahlen. Die Kür- zungsabsichten der Arbeitsministerin gerade in diesem Bereich sind dafür aber kontraproduktiv. Wir brauchen immer noch eine neue Offenheit, mit Analphabetismus umzugehen, um ihn zu überwinden. Dafür müssen diagnostische Fähigkeiten in der Lehramtsaus- und -wei- terbildung verbessert werden. Dabei bleibt zu bedenken, dass es für Analphabetismus sehr unterschiedliche Ursa- chen, sehr unterschiedliche Ausprägungen gibt und dass es notwendigerweise auch unterschiedliche Gegenstrate- gien geben muss. Die Forderung des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung e. V. nach qualifi- zierten Alphabetisierungs- und Grundbildungspädago- gen mit Beratungs- und Förderfunktion in SEK I und be- rufsbildenden Schulen ist richtig und findet unsere Unterstützung. Und natürlich wissen wir: Grundbildung umfasst mehr. Es geht um all das, was Menschen brauchen, um sich in dieser Gesellschaft Teilhabe zu sichern. Dazu ge- hören also nicht nur die einschlägigen Kulturtechniken, sondern auch ein Grundverständnis von demokratischen Zusammenhängen und Mitwirkungsmöglichkeiten. Ich glaube, es ist Zeit für eine erneute Anhörung im Ausschuss. Insofern freue ich mich auf die Beratungen. 10552 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In un- serem Land, wohlgemerkt einem der reichsten Länder dieser Welt, sind 7,5 Millionen Menschen zwischen 18 und 64 Jahren nicht in der Lage, einfache Texte zu le- sen und zu verstehen. Jeder siebte Mensch im erwerbsfä- higen Alter ist hierzulande ein sogenannter funktionaler Analphabet; er oder sie kann nicht richtig lesen und schreiben – die Tür zur Teilhabe am sozialen, berufli- chen, ökonomischen und kulturellen Leben bleibt für ihn oder sie damit verschlossen. Es war deshalb richtig und wichtig, dass sich alle Fraktionen infolge der 2011 veröffentlichten Level-One- Studie darauf verständigt haben, das Thema Analphabe- tismus aus der Tabuzone zu holen und entsprechende Anstrengungen zu unternehmen, um funktionalem An- alphabetismus wirksam zu begegnen und mehr Men- schen Teilhabe zu ermöglichen. Leider ist diesbezüglich – insbesondere in den öffent- lichen Debatten – der Drive etwas verloren gegangen und auch die Bundesregierung agiert nach wohlbekann- ter Art: Sie versteckt sich hinter wohlklingenden Ankün- digungen oder föderaler Nichtzuständigkeit. Dies hat nicht zuletzt die Antwort der Bundesregie- rung auf unsere Kleine Anfrage – Drucksache 18/4910 – „Analphabetismus und Grundbildung in Deutschland“ sehr deutlich gezeigt. Im Wesentlichen besteht diese Antwort aus schönen Überschriften, wohlklingenden Ankündigungen und jeder Menge PR. Das reicht nicht aus und hilft den Betroffenen in keiner Weise. Da soll zum Beispiel die „Nationale Strategie“ in eine „Dekade“ überführt werden – wie Sie es jetzt ja auch in ihrem Antrag fordern –. Details werden diesbezüglich aber ausgespart. Kernaussage ist, dass der Abstim- mungsprozess auch noch nicht abgeschlossen sei. Mit dem Geld nimmt es das BMBF leider auch nicht so genau. Die 19,5 Millionen Euro, die das BMBF für Präventionsmaßnahmen ausgibt, stimmen zwar, die zu- sätzlichen 6 Millionen Euro – ursprünglich waren ja 13,5 Millionen Euro vorgesehen – sollen im Jahr 2015 aber auch die Allianz für Aus- und Weiterbildung mitfi- nanzieren. Im Haushalt 2016 werden dann keine Mittel zu finden sein, im Wahljahr 2017 wird diese Bundesregierung dann vermutlich mit „unfassbaren“ Steigerungsraten punkten wollen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Angeschmiert sind dabei aber diejenigen, die in die- sem und im nächsten Jahr auf mehr Unterstützung ge- hofft hatten. Wie immer erfolgt auch der Verweis auf die föderale Zuständigkeit: „Verantwortungsbereich der Länder“, „Obliegenheit der Länder und Kommunen“ usw. Es ist wie immer: Wenn es konkret wird, macht sich die Bun- desregierung einen schlanken Fuß. So scheint die Bundesregierung auch das Projekt „al- phabund“ nach zwei Förderperioden von je vier Jahren auslaufen lassen zu wollen. Dieses Projekt hat immerhin dafür gesorgt, dass in dieser Zeit 8 000 Multiplikatorin- nen und Multiplikatoren geschult und 4 000 Lehrkräfte qualifiziert wurden. Das ist ein zentrales Instrument. Das ist gut und wichtig. Eine Weiterfinanzierung ist daher dringend notwendig. Trotz der Level-One-Studie fehlt uns noch ganz viel Wissen über die Gründe von Analphabetismus. Eine neue Studie zum Analphabetismus tut deshalb dringend not. Seit 2010, als die letzte Studie durchgeführt wurde, ist viel geschehen. Diese Bundesregierung rühmt sich, mit der Bildungsforschung einen wichtigen Beitrag zur Qualitätssteigerung unseres Bildungssystems zu leisten. Auf unsere Frage, ob denn eine neue Studie zum An- alphabetismus von Erwachsenen in Auftrag gegeben werden soll, weicht das BMBF jedoch aus. Damit bricht das BMBF die Vereinbarung zur Nationalen Strategie vom 7. September 2012. Dort haben Bund und Länder explizit die Wiederholung der Level-One Studie be- schlossen – davon ist nun nicht mehr die Rede. Das ist absolut enttäuschend und so nicht akzeptabel. Wenn sich diese Bundesregierung doch so sicher ist, dass ihre Anstrengungen hinsichtlich der Alphabetisie- rung und Grundbildung erfolgreich waren und sind – und vor allem auch ausreichend sind –, dann dürfte sie sich eigentlich nicht vor einer neuen Studie fürchten. Misstraut diese Bundesregierung da etwa sich selbst? Wir Grüne sind gespannt auf den Bericht, den die Partner der Nationalen Strategie noch in diesem Monat vorlegen wollen. Sie wollten ja scheinbar, dass wir hier schon vorher Ihre dünnen Vorschläge debattieren. Dem- nächst debattieren wir dann aber den Bericht und die Schlüsse, die wir daraus ziehen. Und wir debattieren ja dann bald auch schon wieder den Haushalt. Ich hoffe, dass die Menschen, denen das Schreiben und Lesen schwerfällt, davon mehr haben werden, als Ihr Antrag bisher erwarten lässt. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Zukunftsweisende Kulturpolitik im demografischen Wandel – Stärkung der Kultur im ländlichen Raum (Ta- gesordnungspunkt 20) Ute Bertram (CDU/CSU): Die Schlagworte des de- mografischen Wandels sind einprägsam: weniger, älter, bunter. Die knackigen Adjektive beschreiben eine ge- sellschaftliche Veränderung, die eine Mischung aus niedrigen Geburtenraten, hoher Lebenserwartung und vermehrter Zuwanderung ist. Mit diesen Veränderungen sind teils gravierende Pro- bleme verknüpft, die besonders die Bereiche Wirtschafts-, Arbeits-, und Gesundheitspolitik betreffen: Fachkräfte- mangel, Pflegenotstand, Landflucht dominieren die Schlagzeilen, wenn vom demografischen Wandel die Rede ist. Im Koalitionsvertrag ist der demografische Wandel als tiefgreifende Herausforderung beschrieben. Die De- mografiestrategie der Bundesregierung, die 2012 vorge- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10553 (A) (C) (D)(B) legt wurde, soll weiterentwickelt werden. Es sollen Ideen erarbeitet und umgesetzt werden, die das Zusam- menleben in Deutschland unter den neuen Bedingungen gestalten. Wir als Große Koalition wollen mit unserem Antrag einen kulturpolitischen Beitrag zur Demografie- diskussion leisten. In der Kulturpolitik hat der demografische Wandel bisher weniger Beachtung gefunden. Doch er ist ein wichtiger kulturpolitischer Aspekt, nicht so sehr in Städ- ten und Metropolen. Nach Berlin werden weiterhin viele – vor allem junge – Menschen strömen. Touristen und Zugezogene aus aller Welt wollen die Museen, Clubs und Theater der Hauptstadt erleben. Staatsoper und Deutsches Theater, Bode-Museum und Kulturforum werden weiterhin gut besucht sein und exzellente Insze- nierungen und Ausstellungen auf die Beine stellen kön- nen. Wie aber sieht es im ländlichen Bereich aus? Wie kann in einem Umfeld, das von Landflucht und Überal- terung geprägt ist, ein lebendiges kulturelles Leben ge- deihen? Wie können die Menschen, die in ihrer Heimat bleiben, ein anspruchsvolles Kulturleben genießen? Und wie können sich Theater, Museen und Kinos trotz schwindender Publikumszahlen gute Schauspieler und Kuratoren leisten? Bei all diesen Fragen sind wir uns als Große Koalition einig, dass alle Akteure gefordert sind, zusammenzuarbeiten. Wir fordern daher die Bundesregierung nach ihren im Rahmen stehenden Haushaltsmitteln auf, ihre Demogra- fiepolitik gemeinsam mit den Ländern und Kommunen weiterzuentwickeln, um neue Arbeitsformen und Ko- operationsmodelle zu unterstützen. Dazu gehört auch die Prüfung auf Vereinfachung des Antrags- und Vergabe- systems für Kulturförderung. Oftmals wissen die Kultur- schaffenden gar nicht, wie und wo sie Anträge für ihre Projekte stellen können. Besonders hervorheben wollen wir das bürgerschaftli- che Ehrenamt in Kultureinrichtungen. Der persönliche Bezug der Menschen zu ihren kulturellen Institutionen kann von besonderer Bindungskraft sein und spielt für den gesellschaftlichen Zusammenhalt eine wichtige Rolle. Auch hier fordern wir die Bundesregierung auf, zu prüfen, wie die Rahmenbedingungen für bürgerschaftli- ches Engagement weiter verbessert werden können. Doch nicht nur das klassische Kulturangebot ist für die Identifikation mit der Gemeinde oder Region bedeut- sam. Geht es doch nicht nur um die schönen Künste, sondern auch um sehr praktische und existenzielle Fra- gen, wenn wir hier über die kulturpolitische Dimension des demografischen Wandels sprechen. Besonders Un- ternehmen profitieren von einem lebendigen kulturellen Umfeld, das für Arbeitnehmer attraktiv ist. Daher ist nicht nur die Kulturpolitik für ein attraktives Kulturan- gebot in der Pflicht, sondern auch Unternehmer sollten noch stärker auf die Bedeutung von Kulturförderung aufmerksam gemacht werden. Denn Kulturpolitik ist mittlerweile auch Standortpolitik geworden. Unternehmertum und Industrie waren schon in der Vergangenheit wichtige Triebfedern für kulturelles Le- ben. Im Januar habe ich hier im Plenum zum Bauhaus- Jubiläum gesprochen und auch das Fagus-Werk in mei- ner Heimatstadt Alfeld erwähnt. Seit 2011 gehört die markante Fabrikhalle von Walter Gropius zum Weltkul- turerbe. Der Schuhleistenfabrikant Carl Benscheidt war damals Pionier, als er dem jungen Bauhaus-Architekten 1911 den Auftrag für ein Gebäude erteilte, das noch heute eine unglaubliche Modernität ausstrahlt und An- ziehungspunkt für viele Tausende Besucher im Jahr ist. Natürlich hat nicht jeder Ort ein Kulturangebot von Weltbedeutung. Aber Veränderung erfordert Kreativität! Uns Kulturpolitikern ist wichtig, dass weiter gedacht wird als nur an den Erhalt von Theatern, Orchestern und Museen – die auch wichtig sind! Kulturelle Identifika- tion zum Beispiel kann auch über die Geschichte des Heimat- bzw. Wohnortes erfolgen, der industriell ge- prägt ist, wie zum Beispiel die vogtländische Textil- industrie im sächsischen Plauen und Reichenbach oder der Steinkohleabbau in Nordrhein-Westfalen zeigen. Ich bin davon überzeugt, dass wir mit diesem Antrag ein positives Signal senden, dass die Kultur im ländli- chen Raum Zukunft hat. Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Wir alle wis- sen, wie schwer es sein kann, für einen Verein einen neuen ehrenamtlichen Vorsitzenden zu finden. Wir alle wissen, wie viel Mühe sich Vereine und Initiativen in- zwischen geben, um Nachwuchs an sich zu binden. Und wir alle wissen, wie viel Arbeit hinter der Organisation einer Ausstellung, eines Konzerts oder eines Diskussi- onsabends steckt und wie gering gelegentlich die Reso- nanz ist. All das sind Ausflüsse eines veränderten Arbeits- und Freizeitverhaltens, es sind auch die Konsequenzen ver- änderter Familienstrukturen – aber es sind eben auch ganz stark die Folgen des demografischen Wandels. Es sind eben nicht nur Fachkräfteengpässe in einigen Branchen und die Stabilität unserer Sozialversicherungs- systeme, die uns umtreiben müssen. Es geht auch um Veränderungen – und ich sage ganz bewusst: nicht um Verschlechterungen – im kulturellen Bereich. Fest steht: Bevor die Bevölkerung der Großstädte alt wird, wird sie in den kleinen Städten und Dörfern alt – und weniger. Hier wird man den demografischen Wandel zuerst und am deutlichsten spüren – vielerorts ist er schon jetzt deutlich zu sehen und zu spüren: Die Jugend- abteilungen in den Sport- und Musikvereinen werden immer kleiner, die Konkurrenz um den Nachwuchs zwi- schen den Vereinen nimmt zu. Es fehlen die Jungen. Diese Veränderungen mögen auch in der Kulturpoli- tik auf den ersten Blick wie Probleme aussehen. Doch Veränderungen können politisch so begleitet werden, dass sie gar nicht erst zu Problemen werden. Wir haben in unserem Antrag Projekte aufgezeigt, die heute bereits dazu beitragen: der von Staatsministerin Grütters ins Leben gerufene Preis für inhabergeführte 10554 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) Buchhandlungen etwa oder die Unterstützung kleiner Kinos bei der Digitalisierung. Auch das Programm „Invest Ost“, das die Kultureinrichtungen in den vom demografischen Wandel besonders früh betroffenen ost- deutschen Bundesländern stärkt, ist hier hervorzuheben. Das alles sind tolle Projekte, die an der richtigen Stelle ansetzen. Der wohl wichtigste Schritt ist aber eine weitere Stärkung des ehrenamtlichen Engagements. Die ehren- amtlichen Kulturakteure sind das Fundament der Brei- tenkultur. Und im ländlichen Raum ist das Engagement im Kulturbereich besonders groß. In Blasmusikvereinen, Theater- und Schauspielgruppen, in Heimatvereinen, Chören und Orchestern engagieren sich in Deutschland viele Millionen Menschen. Diese Breitenkultur ist es, die Identität schafft, die Heimat fühlbar macht. Ohne die Breitenkultur gäbe es im Übrigen auch keine Hochkultur. Wir müssen also die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass bürgerschaftliches Engagement „einfa- cher“ wird. Dass Bürokratie und Verpflichtungen weni- ger werden. Man sollte nicht Verwaltungswissenschaften studiert haben müssen, um Fördergelder für sein Kultur- projekt beantragen zu können. Durch eine neue Einfach- heit könnten noch mehr Menschen für ein ehrenamtli- ches Kulturschaffen gewonnen werden. Denn: Der demografische Wandel führt zwar dazu, dass es weniger „jungen“ Nachwuchs gibt. Er führt aber auch dazu, dass es mehr Rentner und Pensionäre geben wird – potenziel- len „alten“ Nachwuchs also. Diese Gruppe bringt etwas mit, was die Jungen so nicht haben – Erfahrung und vor allem Zeit! Für ehrenamtliches Engagement ist das einer der wichtigsten Faktoren. Der demografische Wandel verschafft uns also auch Chancen. Wir müssen sie nur ergreifen. Unser Antrag geht hier in die richtige Rich- tung. Der demografische Wandel betrifft aber nicht nur die Kulturakteure. Auch das Kulturangebot wird die spezifi- schen Bedürfnisse der älteren Generation stärker berück- sichtigen müssen – das ist keine Frage. Doch bei aller Dominanz der Älteren muss auch ein Kulturangebot für Kinder und Jugendliche bestehen bleiben, muss die Kul- turarbeit mit ihnen auf einem hohen Niveau erhalten und ihre kulturelle Bildung gefördert werden. Eine verstärkte Zusammenarbeit von Kultureinrichtungen mit Schulen und Kindergärten ist einer der Wege. Sie sehen also, wie vielschichtig die Veränderungen durch den demografischen Wandel für die Kulturpolitik im ländlichen Raum sind. Mit dem vorliegenden Antrag möchten wir sie zum Thema eines großen politischen Diskurses machen. Denn damit aus den Veränderungen Chancen werden und keine Probleme, müssen sehr viele Akteure mit anpacken. Ressortübergreifend müssen Städte und Gemeinden, Länder und Bund zusammenar- beiten. Wir müssen die Vielfalt unserer Kultur gerade im ländlichen Raum bewahren. Sie bildet den Kern unserer Identität. Sie gibt uns Orientierung und Heimat. Burkhard Blienert (SPD): „Älter, bunter, weniger“ – diese griffige Formel versucht die unterschiedlichen Dimensionen des demografischen Wandels auf den Punkt zu bringen. Aber damit beschreiben wir nur holzschnittartig einen komplexen Prozess. Es geht nicht nur darum, dass der Anteil der über 60-Jährigen in unserer Gesellschaft weiter rapide zu- nimmt. Es geht auch nicht nur um eine schrumpfende Bevölkerung, weil die Menschen aus bestimmten Regio- nen abwandern oder weil die Geburtenraten die Sterbe- zahlen seit langem nicht mehr ausgleichen. Es geht auch darum, dass wir mehr denn je ein Einwanderungsland sind. Die weiter zunehmenden Flüchtlingsströme wer- den diese Tendenz noch verstärken, und unsere Gesell- schaft wird sich nachhaltig verändern. Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch, dass sich der Wandel ganz unterschiedlich darstellt. Während die Bal- lungszentren Bevölkerungszuwächse verzeichnen und der Anteil des migrationsbedingten Wandels besonders groß ist, konzentrieren sich die Schrumpfungs- und Überalterungsprozesse eher auf die ländlichen Regio- nen. Aber auch hier muss man genau hinschauen. Denn auch im ländlichen Raum ist die Entwicklung nicht ein- heitlich. Festzuhalten bleibt, dass der demografische Wandel die öffentliche Daseinsfürsorge gerade in den ländlich strukturierten Gebieten vor enorme Herausforderungen stellt. Der Blick auf die Einnahmeseite der entsprechen- den kommunalen Haushalte macht das unübersehbar. Und in der Folge wird es immer schwieriger, Infrastruk- turen aufrechtzuerhalten. Wenn es sich dann noch – wie bei der Kultur – um eine freiwillige Leistung handelt, sieht es ganz schlecht aus. Überall, wo öffentliche Infrastrukturen bereitgestellt werden, muss die Politik auf die veränderten Bedingun- gen reagieren und Anpassungen vornehmen. Das gilt für die Bereiche Mobilität, Kommunikation, Bildung oder Gesundheitsversorgung genauso wie für das kulturelle Leben. Im September veranstaltet die Bundesregierung be- reits den dritten Demografiegipfel, auf dem sich Bund, Länder, Kommunen, Verbände, Sozialpartner, die Wis- senschaft und Vertreter der Zivilgesellschaft auf geeig- nete Strategien verständigen wollen, mit denen dem de- mografischen Wandel zu begegnen ist. Zudem haben Bund und Länder zahlreiche Förderprogramme für den ländlichen Raum aufgelegt. Uns kommt es darauf an, dass der Kulturbereich bei diesen Bemühungen ange- messen Berücksichtigung findet. Die Auswirkungen des demografischen Wandels auf die Kultur ländlicher Regionen erschöpfen sich nicht in der Frage der künftigen Finanzierbarkeit von Angebo- ten. Wir haben es auch mit einem veränderten Publikum zu tun. Kulturelle Interessen und die Fähigkeit zur Mobi- lität wandeln sich genauso wie die zur Verfügung ste- hende Kaufkraft. Auch die Möglichkeit und Bereit- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10555 (A) (C) (D)(B) schaft, sich ehrenamtlich zu engagieren, stellt sich anders dar. Auf all diese Aspekte muss die Politik reagieren und dabei ein Mehrfaches leisten: Sie muss ein kulturelles Angebot auf dem Land sicherstellen, und zugleich muss sie die Chancen ergreifen, die mit dem Bevölkerungs- wandel verbunden sind. Zusätzlich gilt es, den Mehrwert der kulturellen An- gebote zu erkennen und nutzbar zu machen. Denn ein lebendiges kulturelles Leben schafft nicht nur Lebens- qualität und Heimatbindung. Es ist zugleich ein Stand- ortfaktor, der Unternehmen in der Region hält und Neuansiedlungen bringt. Schließlich kann ein gutes kul- turelles Angebot die Grundlage für Kulturtourismus sein, der Wertschöpfung und Wirtschaftskraft in die Re- gion bringt. Für ganz entscheidend halte ich es, mit welcher Wahr- nehmung wir an die demografischen Veränderungen he- rangehen. Es macht einen großen Unterschied, ob wir den Bevölkerungswandel nur als Krise und Bedrohung erleben oder ob wir die damit verbundenen Chancen und Potenziale erkennen. Denn davon hängt es ab, ob wir uns auf ein Krisenmanagement beschränken oder ob wir den Wandel aktiv gestalten. Leere Kassen und schrumpfende Nachfrage nach kul- turellen Angeboten machen es schwierig bis unmöglich, gewachsene kulturelle Angebote auf Dauer unverändert aufrechtzuerhalten. Mehr denn je wird es darauf ankom- men, sich auf die lokalen Stärken zu konzentrieren und Lücken im Angebot durch Kooperationen zu ersetzen. Regionale Partnerschaften müssen aufgebaut und wo es sie bereits gibt müssen sie verstärkt werden. Zahlreiche Möglichkeiten zu Kooperationen bleiben – nicht nur in den Regionen – bisher allerdings unge- nutzt. So könnte ein stärker kooperativ orientierter Kul- turföderalismus das kulturfördernde Engagement des Bundes in der Fläche verstärken und beim Erhalt der Einrichtungen und Angebote helfen. Bisher gab und gibt es vereinzelte Programme, die im Zusammenwirken mit Länderförderungen bereits viel bewirkt haben, beispiels- weise die Kinodigitalisierungsförderung des Bundes. Damit ist es gelungen, unsere Kinolandschaft weitge- hend unbeschadet ins digitale Zeitalter mitzunehmen. Gerade die kleinen Kinos in den ländlich strukturierten Regionen haben profitiert, weil sie mit den Kosten der digitalen Umrüstung alleine überfordert wären. Im Er- gebnis bleibt für viele Menschen mit dem Kino der oft- mals einzige soziokulturelle Begegnungs- und Erlebnis- ort erhalten. Bei mir im Wahlkreis konnten so zwei Lichtspielhäuser gerettet werden. Besonders erfreulich: Diese Kinos werden von engagierten Fördervereinen ge- tragen. Hier hat öffentliche Förderung also zusätzlich bewirkt, das kulturelle Engagement der Bürger für ihr Kino zu unterstützen und am Leben zu halten. Ein weiteres Beispiel ist der Preis für inhabergeführte Buchhandlungen, der im Herbst erstmals vom Bund ver- geben wird. Buchläden beleben unsere Innenstädte und sind Garanten für Vielfalt auf dem Buchmarkt. Mit dem Preis wollen wir Mut machen, die eigenen Stärken wei- terzuentwickeln und innovative Geschäftsmodelle vo- ranzutreiben. Ich bin sicher, auch diese Maßnahme wird dazu beitragen, die kulturelle Infrastruktur gerade in den kleineren Orten zu stärken. Diesen Förderaktivitäten des Bundes sind durch den Kulturförderalismus enge Grenzen gesetzt. Mehr Ko- operation zwischen Bund und Ländern könnte hier ge- rade im Bereich der kulturellen Bildung noch mehr be- wirken. Auch dieses Potenzial müssen wir stärker nutzen. Ein lebendiges kulturelles Leben hängt nicht nur da- von ab, wie viel Geld gerade in der Kasse ist. Vielmehr kommt es darauf an, dass wir auch die Chancen des Wandels erkennen. So birgt der höhere Anteil an Älteren ein großes Potenzial für mehr bürgerschaftliches Engagement auch im kulturellen Leben. Die älteren Mitbürger, die nicht mehr im Berufsleben und in der Verantwortung für die Familie stehen, haben mehr freie Zeit zur Verfügung. Der Monitoring-Bericht des BMFSJ belegt, dass die über 65-Jährigen beim bürgerschaftlichen Engagement bisher unterrepräsentiert sind. Aber – und das ist die gute Nachricht – sie engagieren sich mit stark zunehmender Tendenz. Es wäre ein sträfliches Versäumnis, wenn wir diesen Trend jetzt nicht mit den geeigneten Maßnahmen fördern und verstärken. Aber nicht nur die Älteren müssen wir für die Kultur- arbeit mobilisieren. Schon bei den Jungen müssen wir ansetzen: nicht nur über die direkte Einbindung in die Kultur- und Heimatvereine vor Ort, auch durch eine ver- stärkte kulturelle Bildung, die den besonderen Wert der Kultur für das Zusammenleben vermittelt. Und nicht zu vergessen: durch kulturelle Angebote, die sich gezielt an die Jüngeren richten. Das schafft Bindung an die Heimat und beugt Abwanderung in die Ballungszentren vor. Bei meinen Veranstaltungen zum Thema höre ich im- mer wieder, dass sich die kulturell Ehrenamtlichen al- leingelassen fühlen, wenn es darum geht, Förderanträge zu stellen oder andere bürokratische Hürden zu nehmen. Für viele ist das Anlass, ihr Engagement zurückzufahren oder es sogar ganz einzustellen. Und viele hält es davon ab, sich überhaupt einzusetzen. Damit bleibt ein großes Potenzial ungenutzt. Das dürfen wir nicht zulassen. Wir dürfen nicht nach- lassen, die Bedingungen für ehrenamtliches Engagement weiter zu verbessern. Neben der Vereinfachung von An- tragsverfahren müssen wir den Engagierten vor allem Hauptamtliche an die Seite stellen, die mit Beratung, Unterstützung und Professionalisierung unterstützen können und die Mut machen, wenn die Projekte ins Sto- cken geraten. Eine weitere Chance bietet der migrationsbedingte Wandel. Die Menschen, die zu uns kommen, bringen ihre ganz eigenen kulturellen Themen und Ausdrucks- formen mit. Das ist die beste Gelegenheit für interkulturellen Aus- tausch, der das eigene kulturelle Verständnis befruchten und bereichern kann. Austausch bietet Anlass, sich über 10556 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) eigene Sichtweisen klar zu werden, und ist die Voraus- setzung für Verständigung und Integration. Wir müssen die Menschen, die migrationsbedingt zu uns kommen, zur Teilhabe an unserem kulturellen Leben einladen, uns auf ihre kulturelle Mitgift einlassen und sie als Bereicherung begreifen und schätzen lernen. Gerade im Wandel kann sich die besondere Kraft des Kulturellen für die Gesellschaft bewähren. Gerade in Umbruchzeiten vermag Kultur Orientierung zu geben und Identität zu stiften. Kultur kann kreative Ideen zur Bewältigung der Probleme beisteuern. Und sie bietet Raum und Gelegenheit zur Kommunikation und Aus- einandersetzung. Kulturelle Vermittlung kann die Menschen zum En- gagement mobilisieren. Und kulturelles Miteinander kann integrieren und die Gemeinschaft festigen. Alles gute Gründe, damit wir den demografischen Wandel ge- rade auch in den ländlichen Regionen mit Zuversicht an- packen. Sigrid Hupach (DIE LINKE): Ich freue mich sehr, dass wir – leider zu wenig prominenter Stunde und viel zu kurz – über das so wichtige und drängende Thema der Kultur im ländlichen Raum reden – noch dazu unter den besonderen Herausforderungen des demografischen Wandels. Immerhin, mehr als jeder zweite Mensch in Deutschland lebt in ländlichen Regionen. Es geht hier also um Politik für die Mehrheit der Bevölkerung, für die wir gleichwertige Lebensverhältnisse sichern müs- sen. Eine zukunftsweisende Kulturpolitik zur Stärkung des ländlichen Raumes ist dringend notwendig – der Titel des Antrags ist also richtig gewählt und auch Ihre Situa- tionsbeschreibung trifft in vielem zu. Jedoch: Schwach ist der Antrag bei den Schlussfolgerungen. Hier zeigt sich auch die konzeptionelle Leerstelle. Die von Ihnen im „Belobigungsteil“ genannten Pro- jekte und Vorhaben sind – jedes für sich genommen – gut und wichtig. Aber: Genau an diesem Aktionismus, an dieser Projekteritis ohne Abstimmung krankt nach Ansicht der Linken die Kulturpolitik im ländlichen Raum. Hier braucht es langfristige Planungsmöglichkei- ten, Überlegungen zur Nachhaltigkeit und eine Abstim- mung der verschiedenen Ebenen. Wir fordern einen von Bund, Ländern und Kommu- nen gemeinsam betriebenen und ressortübergreifenden Aufschlag. Gerade für den ländlichen Raum sind alle Politikbereiche gefragt – und warum Sie just bei der nun wirklich ressortübergreifenden kulturellen Bildung ex- plizit auf die Grenzen zwischen den Ressorts verweisen, wird wohl Ihr Geheimnis bleiben. Kultur ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Kultur ist eine Querschnittsaufgabe. Dieser Ansatz fehlt in Ihrem An- trag völlig. Dies könnte auch im Rahmen der Demogra- fiestrategie der Bundesregierung in Angriff genommen werden. Kultur dient hier bisher nur als Mittel zur Ge- winnung internationaler Arbeitskräfte. Ihr stattdessen eine aktive Rolle bei der Gestaltung der gesellschaftli- chen Wandlungsprozesse zuzuordnen, ihr Potenzial beim Stellen neuer Fragen, beim Eröffnen neuer Perspektiven auszuloten, das wäre doch mal eine schöne Forderung für Ihren Antrag – erst recht in einem Einwanderungs- land! Damit bin ich auch bei einem weiteren Kritikpunkt: Ihrem pathologischen Blick auf die Regionen, in denen die Menschen „weniger, älter, bunter“ werden, und in denen die Kommunen den Erhalt der kulturellen Infra- struktur finanziell nicht mehr schultern können. Sie stel- len die Frage, wie wir die Strukturen so anpassen kön- nen, um mit dem wenigen Geld auszukommen. Wie können wir für mehr Geld in den Kommunen sorgen? – Das wäre doch die eigentlich spannende Fragestellung. Die kulturelle Vielfalt in Deutschland wird gerade von der Vielfalt in den Regionen gespeist – geschützt ist die kulturelle Substanz insbesondere in Ostdeutschland auch durch Artikel 35 des Einigungsvertrags. Hier braucht es eine umfassende und gesellschaftlich breit ge- tragene Diskussion darüber, was wir uns als Gesellschaft vor Ort leisten müssen – nicht: noch leisten können. Eine rein fiskalische Betrachtung wird uns teuer zu stehen kommen. Sich hier an eine Kulturentwicklungskonzeption des Bundes zu wagen, ein Berichtwesen zu etablieren, die Kulturförderung des Bundes neu aufzustellen, die ge- wandelten Rahmenbedingungen, zu denen auch der de- mografische Wandel gehört, und die realen Praktiken kultureller Arbeit in die Überlegungen einzubeziehen, die Aufhebung des Kooperationsverbots zu thematisie- ren oder auch nur über das Staatsziel Kultur nachzuden- ken, das alles wäre eine gute Zielrichtung. Bürgerschaftliches Engagement, ein Schwerpunkt Ih- res Antrags, ist wichtig. Es stiftet auch Identität – aber es darf nie die staatliche Verantwortung ersetzen. Am Donnerstag vergangener Woche war ich in Senf- tenberg zu einer Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stif- tung zum Thema „Provinz versus Provinzialität“. Zu er- leben war dort nicht nur das Theater Neue Bühne mit seinen generationenspezifischen und generationenüber- greifenden Angeboten, sondern auch viele kleine Initia- tiven – übrigens auch aus der Verwaltung heraus –, die in den unterschiedlichsten Bereichen das kulturelle Leben in den abgelegensten Regionen gestalten. Manchmal ist es ja auch die Not, die erfinderisch macht – das will ich gar nicht verhehlen –, oder der Raum frei von bürokratischen Hürden, der Neues entste- hen lässt. Wenn wir mit Neugier schauen, was es an Ideen und Projekten gibt, dann haben wir die im Antrag gewünschten Modellprojekte schon und auch Anregun- gen genug, wie wir wirklich konzeptionell an die He- rausforderungen des demografischen Wandels im ländli- chen Raum herangehen könnten. Das Theater am Rand im Oderbruch, am gefühlten Ende der Welt, macht erlebbar, was Kultur als Moment einer nachhaltigen Regionalentwicklung leisten kann. Die Uckermärkischen Bühnen in Schwedt bespielen ei- nen 800-Personen-Saal und haben ganz spannende Wege in der interkulturellen Ausrichtung und so auch in der Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10557 (A) (C) (D)(B) Einbeziehung des polnischen Publikums eingeschlagen. Oder die obersorbische Gemeinde Nebelschütz in der Nähe von Bautzen kauft selbst Land an, um damit wie- der Gestaltungsmacht über das Gemeindeleben zu ge- winnen. Was ich mit den wenigen Beispielen aus dem Osten des Landes – denn hier hat der demografische Wandel schon längst zugeschlagen – illustrieren will, ist: Es gibt sehr innovative Ansätze, wie Kunst und Kultur den ge- sellschaftlichen Wandlungsprozess mitgestalten, andere Fragen stellen, neue Perspektiven eröffnen – und nicht nur Opfer der demografischen Entwicklung sind. Ich fürchte, dass wir auch im Kulturausschuss nicht die Gelegenheit haben werden, uns mit diesen modell- haften Ansätzen zu beschäftigen. Sie von der Koalition wollen das Thema mit diesem Antrag für sich reklamie- ren. Mit den aufgemachten Forderungen werden Sie sich aber nicht wirklich darum kümmern können – weil Sie sich nicht an die Rahmenbedingungen wagen. Das ist sehr schade. Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bibliotheken, Theater, Archive und Museen sind Orte der Begegnung und tragen so elementar zur sozialen Teilhabe und Lebensqualität bei. Sie prägen die Identität einer Region und müssen deshalb als Gemeinschaftsgut erhalten und weiterentwickelt werden. Gerade Dörfer in abgelegenen Regionen spüren den demografischen Wan- del schon lange: Ihre Einwohnerzahl sinkt, der Alters- durchschnitt steigt. Insbesondere in strukturschwachen ländlichen Kommunen sind deshalb öffentliche Kunst-, Kultur- und Freizeiteinrichtungen sowie die Freie Szene in ihrer Existenz bedroht. Denn angesichts leerer Haus- haltskassen wird zuerst bei den freiwilligen Leistungen gespart, und Kultureinrichtungen, die erst einmal ge- schlossen sind, bleiben es meist auch. Notwendig ist deshalb eine nachhaltige Sicherstel- lung der kulturellen Infrastruktur, auch in der sogenann- ten Provinz. Sachsen oder Nordrhein-Westfalen haben mit ihren Kulturraum- und Kulturfördergesetzen gezeigt, wie langfristige Kulturförderung in Ländern und Kom- munen verbindlich gestaltet werden kann. Zur Sicherung der kulturellen Infrastruktur im ländlichen Raum brau- chen wir aber auch gute Unterstützungsangebote von der Bundesebene. Zeitlich begrenzte Förderprogramme bei- spielsweise zur Unterstützung kleiner Kinos oder ein Preis für Spielstätten sind gut gemeinte Initiativen, stel- len aber keine nachhaltige Unterstützung kultureller An- gebote im ländlichen Raum sicher. Außerdem sollten wir die vorhandenen kreativen Potenziale im ländlichen Raum gezielter nutzen und stär- ken. Gerade sogenannte kreative Raumpionierinnen aus der Kulturwirtschaft können trotz oder gerade aufgrund von Schrumpfungsprozessen mit innovativen Ideen zum Erhalt des kulturellen Angebots beitragen. Ein gutes Beispiel ist etwa das „Kulturmobil“, das in die Dörfer fährt und jährlich neue Produktionen aus den unter- schiedlichen Sparten Theater, Musiktheater, Musik, Lite- ratur oder Film präsentiert. Bewohnerinnen und Bewoh- ner des ländlichen Raums erhalten so ein innovatives Kulturangebot, ohne in die weit entfernten Städte fahren zu müssen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Neuausrichtung von Kultureinrichtungen auf die demografischen Verän- derungen und neue Zielgruppen im ländlichen Raum. Ju- gendliche benötigen Rückzugsorte und Abwechslung im Freizeitbereich. Jugendkulturzentren und Jugendkultur- ringe müssen in ländlichen Gebieten beispielsweise durch eine Ausweitung der Soziokulturförderung ge- stärkt werden und erhalten bleiben. Die Bereitstellung von Räumlichkeiten ist ein wesentlicher Faktor zur För- derung des kreativen Potenzials junger Menschen. Hier kann das Modell der „Wächterhäuser“ in Sachsen als Vor- bild dienen: „Hauserhalt durch Nutzung“ ist für Kreative wie für Eigentümer ein Win-Win-Modell. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Ihrem Antrag sprechen Sie viele wichtige Aspekte an. Das Ziel, kultu- relle Angebote in Zeiten begrenzter finanzieller Ressour- cen im ländlichen Raum zu fördern, ist grundsätzlich richtig. Aber viele kulturpolitische Förderungen bleiben weiterhin kleinteilig und zeitlich befristet. Eine Modell- förderung hier, ein Wettbewerb da – das setzt keine nachhaltigen Anreize, neue Projekte und Kooperationen ins Leben zu rufen. Die Kulturfinanzierung vor Ort ist vielfach weiterhin prekär. Darüber kann man nicht hin- wegsehen. Auch bürgerschaftliches Engagement und Kooperationsmodelle allein können die Zukunft der Kul- tur im ländlichen Raum nicht sichern. Um die kulturelle Infrastruktur angesichts knapper Kassen auch in Zukunft im ländlichen Raum aufrechter- halten zu können, ist eine abgestimmte Gesamtstrategie unter Einbeziehung aller politischen Ebenen und Sekto- ren dringend erforderlich. Denn die Nutzung von Kultur- angeboten im ländlichen Raum kann ohne gute Mobili- tätsansätze nicht sinnvoll gewährleistet werden. Und die Forderung nach mehr kultureller Bildung muss mit den aktuellen Entwicklungen im Schulbereich im struktur- schwachen ländlichen Raum gut zusammengedacht wer- den. Neues, innovatives und vor allem ressortübergrei- fendes Denken und Handeln ist von allen Akteurinnen und Akteuren gefordert, damit auch unter veränderten Bedingungen weiterhin ein lebendiges kulturelles Leben auf dem Lande möglich ist. Showveranstaltungen wie der Demografiegipfel im Kanzleramt verpuffen aber bis- her, ohne wirkliche politische Impulse zu setzen. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- zung der Transparenzrichtlinie-Änderungs- richtlinie (Tagesordnungspunkt 22) Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU): Auch wenn einige Jahre vergangen sind, erinnert man sich noch lebhaft an die Übernahmeversuche Porsche/VW und Schaeffler/Continental. Damals haben Porsche und Schaeffler nur teilweise offen am Markt agiert. Melde- 10558 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) pflichtige Aktien wurden nur wenige gekauft. Die we- sentlichen Zugriffsrechte auf Aktien sicherte man sich über nicht meldepflichtige Finanzinstrumente, soge- nannte Swaps. Schaeffler hatte – ohne das der BaFin melden zu müssen – plötzlich Zugriff auf 36 Prozent der Anteile. Man hatte sich „angeschlichen“, ohne dass an- dere Marktteilnehmer das bemerken konnten. Porsche steuerte mit circa 40 Prozent Aktien und 30 Prozent Optionen offenbar über Monate den Kurs der VW-Aktie, ohne dass der Markt darüber informiert war. Schließlich kam es zu irrationalen Kursausschlägen, so- dass die VW-Aktie an einem Tag mit über 1 000 Euro die teuerste Aktie der Welt war. Für das Vertrauen gerade der Kleinanleger in einen transparenten und fairen Kapi- talmarkt war das ein maximaler Schaden. Für die Arbeitsplätze bei VW und bei Conti waren diese Aktionen zudem eine Bedrohung, weil die „An- schleicher“ auf Übernahmen spekulierten, bei denen sie die Kasse des Zielunternehmens „nutzen“ wollten. Um derartige Fälle zu verhindern, haben wir bereits im Jahr 2011 mit dem Gesetz zur Stärkung des Anleger- schutzes und Verbesserung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts die Meldebestimmungen für den Kauf von Aktien und anderen Finanzinstrumenten deutlich verschärft. Damit wurde Transparenz für einen fairen Markt und für ein faires Übernahmerecht geschaffen. Zu begrüßen ist nun, dass mit der zur Umsetzung an- stehenden Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie die Meldepflichten in den einzelnen Mitgliedstaaten der EU weiter angeglichen werden. Wir haben ein großes Inte- resse daran, dass gleiche Wettbewerbsbedingungen für börsennotierte Unternehmen in Deutschland und den an- deren Mitgliedstaaten der Europäischen Union gelten. Um Verstöße gegen die Transparenzregelungen zu vermeiden, bedarf es aber auch eines effizienten Sank- tionsregimes. Bisher konnte ein Verstoß gegen die Transparenzvorschriften des Wertpapierhandelsgesetz mit einem Bußgeld bis zu 1 Million Euro geahndet wer- den – eine geringe Summe, wenn man die immensen Werte bedenkt, um die es bei solchen Übernahmen geht. Bei einer Milliardenübernahme wird ein Millionenbuß- geld nicht abschrecken. Mit der Erhöhung des Bußgeld- rahmens und der regelmäßigen Veröffentlichung von Verwaltungsmaßnahmen und Sanktionen kann nun die abschreckende Wirkung der Sanktionen gesteigert wer- den. Auch der Stimmrechtsverlust ist ein effektives Mit- tel. Allerdings gilt es auch bei diesem Umsetzungsvorha- ben wieder zu berücksichtigen, dass wir Übernahmen nicht erschweren oder gar verhindern wollen. Übernah- men gehören zu einer gesunden Marktwirtschaft. Die Regelungen müssen deshalb klar, berechenbar und hand- habbar sein. Es darf keine eilfertigen „Kriminalisierun- gen“ geben. Alle Beteiligten müssen erkennen können, wie sie sich zu verhalten haben. Andererseits aber muss sichergestellt sein, dass „Anschleichen“, wie bei Schaeffler/Conti oder Porsche/VW, passé ist. – Übernah- men muss es weiter geben. Die Schritte dazu aber müs- sen transparent stattfinden. Christian Petry (SPD): Mit der Richtlinie zur Har- monisierung der Transparenzanforderungen im Bereich der Wertpapiermärkte haben wir innerhalb der Europäi- schen Union im Jahr 2004 eine Anpassung der nationa- len Vorschriften über die Pflichten von Aktienemittenten und Wertpapierhaltern festgelegt. Emittenten werden durch die Richtlinienumsetzung verpflichtet, ihre Anle- ger mehrmals im Jahr über aktuelle Geschäftszahlen zu unterrichten. Aktionäre hingegen müssen Aktienemit- tenten über bedeutende Aktienkäufe und Aktienverkäufe informieren. Aus diesen Anforderungen entstand ein re- gelmäßiger und laufender Informationsfluss, der europa- weit zu einem erhöhten Anlegerschutzniveau geführt hat. Überarbeitung der Transparenzrichtlinie: Heute behandeln wir nun in erster Lesung den Ge- setzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung der Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie in nationales Recht. Ziel der Überarbeitung der Transparenzrichtlinie ist die Aktualisierung der Informations- und Transparenz- anforderungen für Wertpapieremittenten und Aktionäre. Unter anderem sollen durch die Änderungsrichtlinie bestimmte Pflichten für Wertpapieremittenten verein- facht werden. Dies soll die Aufnahme von Kapital in Eu- ropa vereinfachen. Ich möchte nun auf einige zentrale Änderungen des Gesetzentwurfs zu sprechen kommen. Sieht man in der Ankurbelung der Investitionstätig- keit in Europa einen der Hauptgründe für die Überarbei- tung der Transparenzrichtlinie, so ist in diesem Zusam- menhang der Wegfall der bisherigen quartalsbezogenen Veröffentlichung von Geschäftszahlen einzuordnen. In den letzten Jahren wurde vermehrt kritisiert, dass das Aktualisieren und Veröffentlichen der Zahlen pro Quar- tal zu erheblichen Bürokratiekosten für kleinere Unter- nehmen führt. Als weiteres wichtiges Ziel der Änderungsrichtlinie ist die Verbesserung der bestehenden Transparenzrege- lungen zu nennen: Die Erhöhung des Bußgeldrahmens bei Verstößen gegen die Richtlinie ist hierbei ebenso zu begrüßen wie die im Gesetzentwurf der Bundesregie- rung vorgeschlagene Neuerung, Bußgelder für juristi- sche Personen und Personenvereinigungen verbindlich zu regeln. Die öffentlichkeitswirksame Auflistung von Verwal- tungsmaßnahmen und Sanktionen bei Verstößen gegen die Richtlinie wird für die Akteure am Wertpapiermarkt zusätzlich eine abschreckende Wirkung haben. Um eine angemessene und zeitnahe Information der Marktakteure sicherzustellen, ist es zudem mehr als überfällig, elektronische Meldeverfahren bei der BaFin zuzulassen. Auch dies ist eine ganz wesentliche Verbes- serung zu der bislang bestehenden Rechtslage. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10559 (A) (C) (D)(B) Transparenzrichtlinie und Kapitalmarktunion als gro- ßes Ganzes sehen: Mit Blick auf die Forderungen der Änderungsrichtli- nie lässt sich sagen, dass elf Jahre nach Verabschiedung der ursprünglichen Richtlinie europaweit etwas ganz Wesentliches verinnerlicht wurde: Nur durch eine euro- paeinheitlich geregelte Informationspflicht für Anleger und Emittenten von Wertpapieren ist sichergestellt, dass sich der europäische Binnenmarkt für Finanzdienstleis- tungen effizient zur Kapitalallokation und folglich zu wirtschaftlichem Wachstum entwickelt. Die Markttransparenz wird durch die vorliegende Än- derungsrichtlinie erneut verbessert; zudem wird der von Kommissar Hill angekündigte europäische Binnenmarkt für Kapital dazu führen, das Vertrauen der Anlegerinnen und Anleger in die europäischen Märkte zusätzlich zu stärken. Versteht man die Transparenzrichtlinie und die Kapi- talmarktunion als Teil eines großen Ganzen, so lässt sich sagen, dass die gezielte Harmonisierung der europäi- schen Kapitalmärkte zusätzliche grenzüberschreitende Finanzierungsquellen für Unternehmen schaffen kann. Die Transparenzrichtlinie und die Kapitalmarktunion können als sich ergänzende Regelungen mit ihren um- fangreichen neuen Finanzierungsmöglichkeiten Wirt- schaftswachstum und Beschäftigungszuwachs in Europa zu generieren. Die überarbeiteten Transparenzanforderungen am Wertpapiermarkt und der sie zukünftig flankierende eu- ropäische Binnenmarkt für Kapital sind damit vor allem eines: weitere Schritte hin zu einer noch engeren Verzah- nung mit unseren europäischen Nachbarn. Somit ist die Überarbeitung der Transparenzanforde- rungen an Akteure am Wertpapiermarkt nur zu begrü- ßen. Wir verbessern damit die Grundlage für einen noch stärker integrierten Binnenmarkt für Wertpapiere. Dies ist sowohl im Sinne des Anlegerschutzes als auch ganz grundlegend im Sinne der Effizienz der global vernetzten Märkte. Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Die EU hat vor zwei Jahren die Veröffentlichungspflichten von Unternehmen neu geregelt. Nach der Bilanzrichtlinie muss nun auch die Transparenzrichtlinie noch in nationales Gesetz um- gesetzt werden. Während die Bilanzrichtlinie Regeln für alle Unternehmen setzt, legt die Transparenzrichtlinie Veröffentlichungspflichten für börsennotierte Unterneh- men fest. Warum ist das wichtig? Unternehmen greifen relevant in unser Leben ein. Wir kaufen ihre Produkte, viele Menschen arbeiten für sie, und überhaupt kommen wir ständig mit Aktivitäten von Unternehmen in Berührung. Ein Hauptzweck börsennotierter Unternehmen ist es, Gewinne für die Anteilseigner zu erwirtschaften. Aktio- näre und Investoren haben logischerweise ein berechtig- tes Interesse an Unternehmensinformationen. Dafür die- nen die besagten Transparenzregeln, die etwa Vorgaben für Jahresabschlüsse und Quartalsberichte machen. Aber Kunden, Mitarbeiter, Geschäftspartner und andere soge- nannte Stakeholder haben ebenfalls ein berechtigtes In- teresse daran, was Unternehmen so treiben. Als Politiker haben wir die Pflicht, auch dazu Informationspflichten zu schaffen. Das klingt banal, ist aber alles andere als selbstverständlich. Von daher ist es erfreulich, dass die EU dem jahrelan- gen Drängen von NGOs nachgegeben hat und Rohstoff- firmen weiter gehende Offenlegungspflichten auferlegt hat. Die Bundesregierung hat sich lange dagegen ge- sperrt. Zukünftig müssen Unternehmen aus dem Berg- bau, der Öl- und Gasindustrie und des Holzeinschlags – Stichwort Regenwälder – länder- und projektbasiert Zahlungen an staatliche Stellen offenlegen. Dazu gehö- ren Steuern und Zahlungen für Schürfrechte und andere Lizenzen. Das soll Korruption, Umweltzerstörung und Menschenrechtsverletzungen erschweren, die in den rohstoffreichen Entwicklungsländern alltäglich sind. Schätzungen zufolge werden allein in Afrika jedes Jahr Bodenschätze im Wert von einer Viertelbillion Euro abgebaut und exportiert. Nach Annahmen der UNO ver- liert Afrika durch illegale Geldabflüsse – also etwa durch Preismanipulation bei Handelsgeschäften, Steuer- hinterziehung oder Korruption – jährlich bis zu 50 Mil- liarden Dollar. Diese Verluste zu begrenzen, ist ange- sichts der großen Armut ein Gebot der Menschlichkeit. Es wäre schön, wenn Europa dabei Vorreiter wäre und nicht erst, nachdem die USA 2012 sich entsprechende Transparenzregeln gegeben haben, nachgezogen hätte. Die EU-Richtlinie ist sehr eng definiert. Als Bundes- tag haben wir bei ihrer Umsetzung nur wenig Spielraum, etwa bei der Veröffentlichung der Daten und bei den Bußgeldern. Wir werden ein Augenmerk darauf werfen, dass die Daten möglichst gut zugänglich sein werden und die Sanktionen für Zuwiderhandlungen auch wirk- lich abschreckend wirken. Die Transparenzrichtlinie darf aber nicht das Ende der Fahnenstange sein. Ganz elementar ist es, die länder- und projektbezogene Offenlegung auch auf weitere Sek- toren auszudehnen. Damit ist es aber natürlich nicht ge- tan. Ziel muss sein, dass in Deutschland möglichst keine Waren verkauft oder eingeführt werden, die unter un- menschlichen oder umweltzerstörerischen Bedingungen in armen Ländern abgebaut, geerntet oder produziert wurden. Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Der vorliegende Gesetzentwurf soll die Transpa- renzrichtlinie-Änderungsrichtlinie der EU umsetzen. Dabei wird das Transparenzregime börsengehandelter Wertpapiere weiter harmonisiert. Zudem soll der Kapi- talmarkt durch vereinfachte Berichtspflichten für kleine und mittlere Emittenten attraktiver gemacht werden. Schließlich wird mit diesem Gesetz eine Transparenz- pflicht für die börsennotierte Rohstoffindustrie und Forstwirtschaft eingeführt. Diese Unternehmen müssen künftig Zahlungen an staatliche Stellen länderbezogen offenlegen. Für die nichtbörsennotierten Unternehmen aus diesen Branchen haben wir vergleichbare Offenle- 10560 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 (A) (C) (D)(B) gungspflichten im Rahmen des Bilanzrichtlinien-Umset- zungsgesetzes bereits vor einigen Wochen hier im Ple- num diskutiert. Auf den Punkt der länderbezogenen Offenlegungs- pflichten für Unternehmen möchte ich mich heute kon- zentrieren. Denn das vorliegende Gesetz ist einerseits ein Grund zu großer Freude – andererseits eine verpasste Chance. Große Freude, weil damit ein wichtiger und überfälliger Schritt gegen Korruption in den rohstoffrei- chen Ländern gelungen ist. Die Zivilgesellschaft vor Ort kann so ihre Regierungen deutlich besser kontrollieren. Aber in der vorliegenden Form ist das Gesetz auch eine verpasste Chance, weil die länderbezogenen Offen- legungspflichten nicht für alle Branchen eingeführt wur- den. Denn neben der richtigen Transparenzanforderung für die Rohstoff- und Holzindustrie gibt es ein weiteres drängendes Problem: Große internationale Konzerne entziehen sich durch Steuergestaltung systematisch ihrer Steuerpflicht und verweigern damit den einzelnen Staa- ten ihren Beitrag zur öffentlichen Daseinsvorsorge. Nach einer Studie für das Europäische Parlament entgehen Deutschland jährlich Steuereinnahmen von circa 150 Milliarden Euro durch Steuerhinterziehung und Steuer- vermeidung – in der gesamten EU rund eine Billion Euro. Die Finanzminister der G 20 und kürzlich erst wieder der G 7 bei ihrer Sitzung in Dresden haben der Bekämp- fung von Steuergestaltung höchste Priorität gegeben. Dann müsste doch eigentlich klar sein, dass wir erhöhte Transparenzforderungen für alle Unternehmen brauchen, um zukünftig Steuergestaltung zu unterbinden. Dies kann nur durch länderbezogene Offenlegungspflichten für Steuerzahlungen erreicht werden, allgemein bekannt unter dem Namen „Country-by-Country-Reporting“. Und um da gleich einem Hauptargument gegen diesen Transparenzforderungen zu begegnen: Es geht nicht da- rum, detaillierte Steuererklärungen öffentlich zu ma- chen, die in der Interpretation schwierig sind und in wettbewerbsschädlichem Maße Details aus den Unter- nehmen offenbaren würden. Es geht darum, eine Be- richtspflicht für aggregierte Steuerzahlungen und rele- vante Wirtschaftsdaten auf nationaler Ebene einzuführen, die es der Öffentlichkeit transparent ma- chen, ob ein Unternehmen seinen Beitrag zur öffentli- chen Daseinsvorsorge leistet oder sich dieser Pflicht ent- zieht. Und es ist schlicht Humbug zu behaupten, dass dies nicht in eine vernünftige Transparenzanforderung zu packen wäre. Die Bundesregierung betreibt bei länderbezogenen Transparenzpflichten leider eine massive Blockadepoli- tik. Dabei sind Transparenzpflichten wie das Country- by-Country-Reporting eines der entscheidenden Instru- mente, um Steuergestaltung nachhaltig einzudämmen. Zu dieser Einsicht sind viele politische Akteure gekom- men, nachdem – nicht zuletzt durch Skandale wie Lux- Leaks – immer deutlicher wurde, in welch hohem Um- fang Steuergestaltung möglich war und teilweise auch gezielt von einzelnen Ländern zur Exportförderung der eigenen Industrie oder zum Anlocken von Unternehmen eingesetzt wurde. So fordert das Europäische Parlament in seinem Jah- ressteuerbericht von diesem Frühjahr parteiübergreifend die Ausweitung der länderbezogenen Offenlegungs- pflichten auf alle Branchen. Die EU-Kommission hat in ihrem letzten Maßnahmenpaket in Auftrag gegeben, dass das Country-by-Country-Reporting für alle Bran- chen noch mal geprüft wird. Unzählige Nichtregierungs- organisationen auf der ganzen Welt kämpfen seit vielen Jahren für steuerliche Transparenz. Aus dem deutschen Finanzministerium ist aber nur zu hören: Wir sind dagegen. Man würde die Unternehmen sonst in eine Verteidigungsposition bringen. Die Daten sollen maximal zwischen den Finanzbehörden ausge- tauscht werden, so wie es das aktuelle OECD-Projekt vorsieht. Die Öffentlichkeit aber soll nichts erfahren. Die Einstellung der Bundesregierung ist fatal, denn die Bürgerinnen und Bürger, NGOs und Parlamente müssen wissen, wo und in welcher Höhe multinationale Unternehmen Steuern zahlen und wie dies im Verhältnis steht zur ihrer tatsächlichen wirtschaftlichen Aktivität an diesem Ort. Nur durch die Öffentlichkeit entsteht Druck zu nach- haltiger Veränderung: zum einen auf die entsprechenden Unternehmen, die sich ihrem Anteil an der Finanzierung des Gemeinwesens entziehen, zum anderen – und das ist entscheidend – auf die Nationalstaaten, die sich zum Beispiel darauf einigen müssen, schädliche steuerliche Sonderregime wie Patentboxen nicht mehr anzubieten. Länderbezogene Offenlegungspflichten allein können die Steuergestaltungen multinationaler Unternehmen na- türlich nicht eindämmen. Aber sie werden ein stärkeres gesellschaftliches Bewusstsein dafür schaffen, dass in- ternationale Zusammenarbeit gegen Steuerdumping not- wendig ist und Steuergesetze verändert werden müssen. Zudem helfen die Informationen uns Parlamentariern, zu sehen, wo genau Handlungsbedarf bei den Gesetzen be- steht. Und ein ganz gewichtiges Argument noch zum Schluss: Steuergestaltung führt zu einer gewaltigen Wettbewerbsverzerrung. Nicht umsonst legen viele Staa- ten einen großen Wert auf eine Überwachung des Wett- bewerbs. Denn sie wissen, dass nur im fairen Wettbe- werb wirtschaftliche Leistungsfähigkeit sich entwickelt. Wer also eine Verzerrung des Wettbewerbs zulässt, han- delt gegen die eigenen wirtschaftlichen Interessen. Und das sollte diese Bundesregierung nicht zulassen. Ich fordere die Bundesregierung zum wiederholten Mal auf: Hören Sie auf, Transparenz weiter zu blockie- ren! Machen Sie den Weg frei für länderbezogene Offen- legungspflichten für alle Branchen in der EU. Wir brau- chen dieses Instrument, um Steuergestaltung wirksam und nachhaltig zu bekämpfen. Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister der Finanzen: Transparenz ist ein wesentli- cher Faktor in einem funktionierenden Kapitalmarkt, vor allem wenn die Komplexität in den Märkten – wie in den letzten Jahren zu beobachten – angesichts einer Vielzahl neuer Handelsplätze, neuer Produkte und nicht zuletzt immer ausgefeilterer technologischer Innovationen ste- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 109. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Juni 2015 10561 (A) (C) (D)(B) tig zunimmt. Letztlich geht es um eine Stärkung des An- legervertrauens und um die Gewährleistung eines fairen Wettbewerbs. Im Bereich der börsengehandelten Wertpapiere regelt die EU-Transparenzrichtlinie die wesentlichen Transpa- renzvorgaben. Erstens. EU-Transparenzrichtlinie und aktuelle Ände- rungsrichtlinie: In ihrer heutigen Form trat die EU-Transparenzrichtli- nie im Jahr 2004 in Kraft. Die nun zur Umsetzung in na- tionales Recht anstehende Änderungsrichtlinie vom 27. November 2013 baut auf der bestehenden Regelung auf und passt diese an die Marktentwicklungen der letz- ten Jahre an. Beabsichtigt ist zum einen, die Kapitalmärkte zugäng- licher zu machen, vor allem für kleinere und mittlere Un- ternehmen, indem etwa Berichtspflichten vereinfacht werden. Zum anderen soll die EU-weite Harmonisierung des Transparenzregimes auf hohem Niveau weiter vor- angetrieben werden, insbesondere mit Blick auf die Ver- hinderung des verdeckten Aufbaus wesentlicher Unter- nehmensbeteiligungen – sogenanntes „Anschleichen an Unternehmen“. Hierzu gehört auch die Einführung von verbindlichen Mindestvorgaben zur Schaffung wirksa- mer und abschreckender Sanktionen bei Verstößen ge- gen die Vorgaben der Transparenzrichtlinie. Die Bundesregierung hat am 29. April 2015 den Ent- wurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Transparenzricht- linie-Änderungsrichtlinie beschlossen, der heute dem Deutschen Bundestag zur Beratung vorliegt. Die Bun- desregierung kommt damit ihrer Verpflichtung nach, die Neuerungen bei den Vorgaben der EU-Transparenzricht- linie im deutschen Recht nachzuvollziehen. Die Richtli- nie sieht eine Umsetzung bis Ende November 2015 vor. Zweitens. Wichtigste Punkte des Gesetzes: Zu den wichtigsten Änderungen im Gesetzentwurf gehören die folgenden: Überarbeitung der Regeln zur Meldung von Stimm- rechten zur besseren Erkennung des Aufbaus von Betei- ligungen durch Einsatz von Finanzinstrumenten – „An- schleichen an Unternehmen“. In Deutschland bestehen bereits sehr wirksame Vorgaben in dieser Hinsicht, so- dass hier nur punktuelle Anpassungen erforderlich sind. Aufhebung der gesetzlichen Verpflichtung von Emit- tenten zur Erstellung unterjähriger Zwischenmitteilun- gen; dies entlastet insbesondere kleine und mittlere Un- ternehmen. Einführung von jährlichen Berichtspflichten für Emit- tenten im Rohstoffsektor über Zahlungen an staatliche Stellen, um auch in diesem Bereich größtmögliche Trans- parenz zu gewinnen. Verschärfung der Sanktionen für Verstöße gegen Transparenzvorgaben. Für juristische Personen sind Geldbußen bis zu 10 Millionen Euro oder bis zu 5 Pro- zent des Jahresumsatzes beziehungsweise des Zweifa- chen der erlangten Vorteile möglich. Verpflichtung der BaFin zur grundsätzlichen Veröf- fentlichung verhängter Sanktionen beziehungsweise anderer Maßnahmen bei Rechtsverstößen, wobei in Aus- nahmefällen ein zeitlicher Aufschub oder eine Anonymi- sierung vorgesehen ist. Drittens. Erleichterungen für Wirtschaft und Verwal- tungsvereinfachung: Die neuen Regeln werden unter dem Strich für alle Marktteilnehmer spürbare Erleichterungen bewirken, auch im grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr. Nicht nur verbessern sich die Transparenz und der Zu- gang zu Informationen auf den Märkten noch weiter, es kommt zugleich auch zu einer deutlichen Verringerung des Verwaltungsaufwands, sowohl für die verpflichteten Unternehmen als auch die BaFin. Auf der Kostenseite rechnen wir etwa – ungeachtet eines gewissen einmaligen Umstellungsaufwands (circa 15 Millionen Euro) – mit einer dauerhaften Entlastung der Wirtschaft um jährlich circa 31 Millionen Euro. Hinzu kommen zahlreiche Vereinfachungen auf der Ebene der Verwaltungsverfahren, insbesondere durch die noch konsequentere Nutzung von Onlineverfahren, etwa bei der Meldung wesentlicher Unternehmensbetei- ligungen. Von einzelnen Marktteilnehmern haben wir bereits gehört, dass sich der administrative Meldeauf- wand infolge der geplanten Änderungen für sie voraus- sichtlich mindestens halbieren wird. Viertens. Einordnung in weitere EU-Kaptialmarkt- Reformen: Die eben dargestellten Änderungen infolge der Über- arbeitung der EU-Transparenzrichtlinie stellen nur den Auftakt dar zu einer ganzen Reihe von kapitalmarkt- rechtlichen Gesetzgebungsvorhaben, welche die Bun- desregierung zusammen mit ihren europäischen Partnern auf der Ebene der EU in den letzten Jahren auf den Weg gebracht hat und die in dieser Legislaturperiode zur Um- setzung in nationales Recht anstehen. Weiter zu nennen sind hier etwa die fünfte Novellie- rung der Richtlinie zur Regelung offener Wertpapier- fonds, OGAW V, die Überarbeitung der EU-Finanzmarkt- richtlinie, MiFiD 2, die neue EU-Marktmissbrauchs- Verordnung und die EU-Zentralverwahrerverordnung. Über die aktuellen Vorhaben hinaus werden am Horizont bereits die Grundlagen für eine europäische Kapital- marktunion gelegt, bei deren Erarbeitung Deutschland als einer der treibenden Akteure aktiv mitwirkt. Fünftens. Schluss: Zusammen mit den jüngsten Gesetzesänderungen im Bereich der Banken und der Versicherungen zeichnet sich eine umfassende Neuordnung des EU-Finanzmarkt- rechts ab, die den Lehren der Krisenjahre Rechnung trägt. – Die Zusage von Frau Bundeskanzlerin, keinen Finanzplatz, keinen Akteur und kein Produkt unreguliert zu lassen, wird damit auch auf europäischer Ebene Schritt für Schritt verwirklicht. Deutschland hat sich auf diesem Weg stets als verläss- licher Partner im Kreis der EU-Mitgliedstaaten erwiesen; mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Umsetzung der überarbeiteten EU-Transparenzrichtlinie können wir dies ein weiteres Mal unterstreichen. Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de 109. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 3 Bürokratieentlastungsgesetz TOP 4 Arbeitsmarktpolitik für Asylsuchende TOP 5 Tätigkeitsbericht des Petitionsausschusses 2014 ZP 2 Überweisungen im vereinfachten Verfahren TOP 30, ZP 3 Abschließende Beratungen ohne Aussprache ZP 4 Aktuelle Stunde zu dem Thema „Ehe für alle“ TOP 6 Gesundheitsversorgung TOP 7 Exportüberschüsse TOP 8 Gesunde Ernährung TOP 9 Rüstungsexportkontrolle TOP 10 Bundeswehreinsatz in Kosovo (KFOR) TOP 11 Leistungsschutzrecht für Presseverleger TOP 12 Bundeswehreinsatz in Mali (MINUSMA) TOP 13 Abkommen mit Westafrikanischer Wirtschaftsunion TOP 14 Bundeswehreinsatz in Libanon (UNIFIL) TOP 15 Vertraulichkeit von Äußerungen im Internet TOP 16 Wirtschaftspolitische Koordinierung in der EU TOP 17 Risikoausgleichsrücklage für Agrarbetriebe TOP 18 Online-Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten TOP 19 Alphabetisierung in Deutschland TOP 20 Stärkung der Kultur im ländlichen Raum TOP 22 Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810900000

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich. Besonders gerne hätte ich jetzt
den Kollegen Ströbele begrüßt, um ihm zu seinem
76. Geburtstag nachträglich zu gratulieren. Ich schlage
vor, wir holen das nach, falls und sobald er persönlich
auftritt.

Dann müssen wir noch eine Wahl eines Vertreters der
Bundesrepublik Deutschland zur Parlamentarischen
Versammlung des Europarates durchführen. Hierzu
schlägt die Fraktion Die Linke vor, den Kollegen
Harald Petzold als Nachfolger für die Kollegin Martina
Renner als persönliches stellvertretendes Mitglied des
Kollegen Andrej Hunko zu berufen. Können Sie dem zu-
stimmen? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist der
Kollege Petzold als persönliches stellvertretendes Mit-
glied gewählt.

Darüber hinaus haben wir noch ein Mitglied und ein
stellvertretendes Mitglied des Beirats für Fragen des
Zugangs zur Eisenbahninfrastruktur, also des Eisen-
bahninfrastrukturbeirats, zu wählen. Hier schlägt die
CDU/CSU-Fraktion vor, für den Kollegen Eckhardt
Rehberg den Kollegen Hans-Werner Kammer als or-
dentliches Mitglied und den Kollegen Matthias Lietz
als persönliches stellvertretendes Mitglied des Kollegen
Kammer zu berufen. – Ich stelle auch hierzu keinen
Widerspruch fest. Also ist der Kollege Kammer als or-
dentliches und der Kollege Lietz als persönliches stell-
vertretendes Mitglied des Eisenbahninfrastrukturbeirats
gewählt.

Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die Ta-
gesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten
Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und SPD:

Aktueller VN-Bericht – Menschenrechtsver-
letzungen in Eritrea stoppen

(siehe 108. Sitzung)

ZP 2 Überweisungen im vereinfachten Verfahren

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffi
Lemke, Nicole Maisch, Harald Ebner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Wilderei und illegalen Artenhandel stoppen

Drucksache 18/5046
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Walter-Rosenheimer, Dr. Franziska Brantner, Katja
Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kinder- und Jugendhilfe – Beteiligungsrechte
stärken, Beschwerden erleichtern und Ombud-
schaften einführen

Drucksache 18/5103
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

ZP 3 Weitere abschließende Beratung ohne Aus-
sprache

(Ergänzung zu TOP 30)


Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Luise Amtsberg,
Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu dem Vorschlag einer EU-Datenschutzver-
ordnung
KOM(2012) 11

hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-
gierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes

Hohes Schutzniveau im Rat und im Trilog si-
cherstellen

Drucksache 18/5102





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
DIE LINKE:

Ehe für alle
Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratun-

gen, soweit erforderlich, abgewichen werden.

Der Tagesordnungspunkt 21 – hier geht es um die ab-
schließende Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Verbesserung der internationalen Rechtshilfe bei der Voll-
streckung von freiheitsentziehenden Maßnahmen – und
der Tagesordnungspunkt 29 – Antrag zur Entwicklungs-
finanzierung vor dem Hintergrund universeller Nachhal-
tigkeitsziele – werden heute abgesetzt.

Schließlich mache ich noch auf eine nachträgliche
Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunkt-
liste aufmerksam:

Der am 22. Mai 2015 (107. Sitzung) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus-
schuss Digitale Agenda (24. Ausschuss) zur Mitbera-
tung überwiesen werden:

Erste Beratung des von den Abgeordneten
Renate Künast, Dr. Konstantin von Notz, Nicole
Maisch, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des
Bundesdatenschutzgesetzes – Verbesserung der
Transparenz und der Bedingungen beim Sco-
ring (Scoringänderungsgesetz)

Drucksache 18/4864
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss Digitale Agenda

Ich frage Sie, ob Sie mit diesen zwischen den Fraktio-
nen vereinbarten Veränderungen einverstanden sind. –
Das ist offensichtlich der Fall und damit so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ent-
lastung insbesondere der mittelständischen

(Bürokratieentlastungsgesetz)

Drucksache 18/4948
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss Digitale Agenda

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Thomas Gambke, Kerstin Andreae, Dieter
Janecek, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Bürokratie gezielt abbauen statt Stillstand
manifestieren
Drucksache 18/4693
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wir haben alles versucht!)


– Den Zwischenruf „Wir haben alles versucht“, um das
etwas zu straffen, nehme ich mit besonderem Respekt
zur Kenntnis und komme heute Nachmittag auf den Vor-
schlag zurück. – Dann ist das jedenfalls so vereinbart.

Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der
Parlamentarischen Staatssekretärin Iris Gleicke das
Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


I
Iris Gleicke (SPD):
Rede ID: ID1810900100


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung
zielt ab auf mehr Wachstum, mehr Beschäftigung sowie
mehr Innovationen. Das geht nur mit mehr öffentlichen
und mit mehr privaten Investitionen in Deutschland. Wir
stellen deshalb in großem Umfang zusätzliche Mittel für
Infrastruktur, Bildung und Forschung zur Verfügung.
Vor allem der Städtebau und die Bereiche Digitales und
Energie profitieren davon.

Ein ganz wichtiger Beitrag zu mehr öffentlichen In-
vestitionen ist auch der neu geschaffene Fonds für kom-
munale Investitionen in Höhe von 3,5 Milliarden Euro.
Zusammengerechnet kommen wir in dieser Legislatur-
periode auf ein Paket für kommunale Investitionen von
über 15 Milliarden Euro. Zudem schafft die Bundesre-
gierung die notwendigen Rahmenbedingungen, die es
unseren privaten Unternehmen ermöglichen, mehr zu in-
vestieren und neue Wachstumsfelder zu erschließen.

Der Abbau von unnötiger Bürokratie ist hier ein
wichtiger Punkt. Deshalb bringen wir auf Initiative unse-
res Bundeswirtschaftsministers Sigmar Gabriel hin die
größte Entlastung der Wirtschaft von unnötigen Büro-
kratiekosten in der Geschichte der Bundesrepublik auf
den Weg, und das ist erst der Auftakt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir sprechen hier über 744 Millionen Euro pro Jahr,
die unsere Unternehmen nun in Forschung und Entwick-
lung stecken können, in die Digitalisierung ihrer Pro-
zesse, in die Internationalisierung ihres Geschäftsmo-
dells und in die Qualifizierung ihrer Beschäftigten. Es
geht hier nicht um Kleinigkeiten, sondern um reale Kos-
tensenkungen, die insbesondere für Gründer und junge
Unternehmen wie ein Konjunkturprogramm wirken kön-
nen, das aber nicht viel kostet. Wir entlasten die Wirt-
schaft, ohne unseren ausgeglichenen Haushalt zu gefähr-
den.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Parl. Staatssekretärin Iris Gleicke


(A) (C)



(D)(B)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, über Bürokratieab-
bau wird immer viel geredet, in der Sache konkret getan
wird jedoch meist nur wenig, vor allem dann nicht, wenn
es an das Eingemachte geht und wenn man möglicher-
weise selbst betroffen ist. Klar ist, dass wir zwischen
notwendiger und nicht notwendiger Bürokratie unter-
scheiden müssen. Jeder funktionierende Rechtsstaat ist
auf eine gut funktionierende Verwaltung angewiesen, die
dem Allgemeinwohl dienende Gesetze umsetzt, also auf
eine effiziente Bürokratie. Unvermeidlich sind Vor-
schriften, wenn sie dazu dienen, demokratisch festgeleg-
ten Allgemeinwohlbelangen Geltung zu verschaffen und
damit Mensch und Natur zu schützen. Der Mindestlohn
und auch das notwendige Korrelat, die Kontrolle seiner
Einhaltung, sind hierfür ein gutes Beispiel; denn der
Rechtsstaat, der Gesetze erlässt, auf deren Einhaltung er
nicht pocht, verlöre seine Legitimation.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wer hier über mehr Bürokratie klagt, dem sage ich: Ar-
beitnehmerrechte sind weder Wachstumshemmnisse
noch überflüssige Bürokratie,


(Beifall bei der SPD)


und Lohnpflichten stellen keinen Erfüllungsaufwand
dar.

Unnötig jedoch sind übertriebene Buchführungs-,
Aufzeichnungs- und Meldepflichten, zu niedrige Schwel-
lenwerte oder ein nicht zu rechtfertigender Erfüllungs-
aufwand. Die Auflagen müssen insbesondere für kleine
Unternehmen verhältnismäßig sein. Unverhältnismäßige
Vorschriften sind wir mit dem Bürokratieentlastungsge-
setz angegangen.

Bei unserem Bürokratieentlastungsgesetz haben wir
vor allem unsere mittelständische Wirtschaft, Existenz-
gründer und wachsende Unternehmen im Blick. Es ist
ein wichtiger Beitrag für die neue Gründerzeit, die wir
als Ziel im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Die klas-
sische Gründerzeit war die Industrialisierung Europas.
Damals entstanden viele Unternehmen wie Siemens,
Borsig, Daimler, Thyssen und Krupp. Das liegt lange zu-
rück. Um unsere großen Herausforderungen zu meistern,
insbesondere den digitalen Wandel, brauchen wir aber
auch heute wieder neue Impulse. Sie kommen häufig
von jungen, dynamischen Unternehmen, die ihr Geld
und ihre Ressourcen dafür brauchen, ihre Ideen in Ge-
schäftsmodelle umzusetzen. Größere finanzielle Spiel-
räume und insbesondere eine verbesserte Wagniskapital-
finanzierung sind deshalb so wichtig.

Unser Ziel ist es, erstens mehr Wachstumsunterneh-
men an die Börse zu bringen. Dafür wird heute Nachmit-
tag der Startschuss für die neue vorbörsliche Plattform
Deutsche Börse Venture Network gegeben werden.

Zweitens werden wir die öffentlichen Mittel für die
Wagniskapitalfinanzierung deutlicher erhöhen. Dazu le-
gen wir einen Wachstumsfonds mit einem Volumen von
500 Millionen Euro auf. Die KfW steigt nach langer
Pause wieder mit 400 Millionen Euro in die Venture-Ca-
pital-Finanzierung ein.

(Beifall bei der SPD)


Drittens wollen wir die steuerlichen Rahmenbedin-
gungen für Wagniskapital verbessern. Ein zentrales
Thema sind dabei die Verlustvorträge bei Anteilseigner-
wechsel. Der Finanzminister und der Wirtschaftsminis-
ter haben vereinbart, hier für Verbesserungen zu sorgen.

Viertens werden wir mit unserem Bürokratieentlas-
tungsgesetz Existenzgründern und jungen Unternehmen
mehr Raum für die wichtigen Dinge geben. Sie sollen
sich auf ihre Geschäftstätigkeit konzentrieren und nicht
auf Formulare.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zu den wesentlichen Inhalten des Gesetzentwurfs ge-
hört deswegen, dass künftig mehr kleine Unternehmen
als bisher von Bilanzierungspflichten befreit werden. Sie
sollen länger einfachere Aufzeichnungspflichten nutzen
dürfen. Dazu werden die einschlägigen Grenzbeträge für
Umsatz und Gewinn um jeweils 20 Prozent auf 600 000
bzw. 60 000 Euro steigen. Vor allem auch Existenzgrün-
der werden spürbar entlastet. Dazu werden die Schwel-
lenwerte in verschiedenen Wirtschaftsstatistikgesetzen
und in der Intrahandelsstatistik angehoben. Es werden
erstmals Meldeschwellen in der Umweltstatistik einge-
führt.

Ein kraftvolles Signal für weniger Bürokratie ist auch
die sogenannte „One in, one out“-Regelung. Sie ist ein
Kernstück unserer verschiedenen Initiativen. Sie gilt be-
reits ab dem 1. Juli 2015. „One in, one out“ besagt: Wo
zusätzlicher Erfüllungsaufwand durch neue Gesetze und
Verordnungen entsteht, muss an einer anderen Stelle
eine Belastung wegfallen. Das gab es noch nie in
Deutschland. „One in, one out“ heißt aber nicht, dass die
Politik aufhört, zu gestalten. Wir werden die Vorhaben
des Koalitionsvertrages umsetzen. „One in, one out“
heißt jedoch, dass die Ministerien verpflichtet sind, nicht
immer nur auf die neue Regelung zu schauen. Sie müs-
sen das Gesamtsystem im Blick haben und überlegen,
wo Bürokratie entfallen kann. In diesem Zusammenhang
stärken wir den Normenkontrollrat, dem ich bei dieser
Gelegenheit für seine exzellente Arbeit danken möchte.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich weiß, dass Herr Ludewig sowie seine Mitstreiterin-
nen und Mitstreiter nicht immer einfache Zeitgenossen
für uns sind. Sie sind jedoch unerlässlich für die Selbst-
vergewisserung von Politik.

Auch die anderen Eckpunkte werden wir rasch umset-
zen. So werden wir beispielsweise die Umsetzung der
neuen europäischen Vergaberichtlinien in das neue
Recht nutzen, um öffentliche Beschaffungen einfacher
und anwenderfreundlicher zu gestalten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, dieses Ge-
setz verschafft insbesondere den Gründerinnen und
Gründern und jungen Unternehmen in unserem Land
mehr Luft zum Atmen. Weitere Erleichterungen, bei-
spielsweise im Steuerrecht, könnten dazu einen zusätzli-





Parl. Staatssekretärin Iris Gleicke


(A) (C)



(D)(B)

chen Beitrag leisten. Das werden wir jedenfalls im Blick
behalten.

Bürokratieabbau muss aber auch und vor allem auf
europäischer Ebene stattfinden. Hier setzt sich Sigmar
Gabriel zusammen mit seinen Ministerkollegen für eine
starke europäische Agenda für eine bessere Rechtset-
zung ein. Die EU-Kommission hat zentrale Elemente in
ihre Mitteilung zur besseren Rechtsetzung aufgenom-
men.

Beim Bürokratieabbau genau wie bei allen anderen
Maßnahmen, mit denen wir wichtige Zukunftsinvestitio-
nen in unserem Land ermöglichen, dürfen wir nicht lo-
ckerlassen. In einer Zeit, in der sich die Wirtschaft gut
entwickelt, die Beschäftigung Rekordwerte erreicht und
die Löhne steigen, geben wir den Unternehmen mehr
Spielraum. In diesem Sinne werbe ich auch bei diesem
Vorhaben um Ihre Unterstützung. Wir handeln hier vor
allem im Interesse unserer mittelständischen Wirtschaft
und ihrer Beschäftigten.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810900200

Das Wort erhält nun der Kollege Michael Schlecht für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Michael Schlecht (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810900300

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und

Herren! Bürokratie ist bei vielen ein nicht besonders be-
liebtes Wort. Das ist verständlich; man hat schon manche
unangenehme Erfahrung gesammelt. Bürokratieabbau
hört sich da schon besser an. Deshalb behandelt anschei-
nend die Große Koalition dieses Thema auch hier in der
Kernzeit im Parlament und beglückt das Parlament mit
96 Minuten Beratungszeit. Offensichtlich fehlen ihr an-
dere wichtige populäre Themen zur Gestaltung unserer
Gesellschaft, die sie eigentlich hier einbringen und statt-
dessen behandeln könnte.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Bemerkenswert an dem ganzen Vorgang ist, dass das
wichtigste Vorhaben der Bundesregierung zum Bürokra-
tieabbau gar nicht im Gesetz steht; vielmehr hat das Ka-
binett es bereits in seine interne Geschäftsordnung, in ei-
ner Art von Selbstverpflichtung, aufgenommen. Es geht
um die sogenannte „One in, one out“-Regelung, nach der
bei einer zusätzlichen bürokratischen Belastung durch
ein neues Gesetz eine zwingende Entlastung für Unter-
nehmen vorzusehen ist. Ich werde noch darlegen, wo da
die Problematik ist.

Es ist aber, finde ich, sehr befremdlich, dass unter
Umgehung des Parlaments eine relativ weitreichende
Norm für Gesetzesinitiativen geschaffen wird. Das ein-
zig Positive an dieser sogenannten untergesetzlichen Re-
gelung ist, dass jede andere Regierung diesen Unfug per
Kabinettsbeschluss gleich wieder abschaffen könnte. Zu-
mindest das ist positiv daran.
Mit der „One in, one out“-Regelung entscheidet nicht
mehr Sach- und Fachpolitik über Sinnhaftigkeit von ge-
setzlichen Regelungen, sondern das Gebot, dass die Kos-
tenbelastung der Unternehmen nicht durch Regelungs-
tatbestände – auch wenn sie sinnvoll sind – erhöht
werden darf. Witzig oder bemerkenswert ist auch, dass
für die Kontrolle dieser Regel extra Bürokratie geschaf-
fen wird. Ein Staatssekretärsausschuss soll über den Bü-
rokratieabbau wachen. Er soll zukünftig den ressorteige-
nen Bürokratieauf- und -abbau und den anderer Ressorts
– da ist ein relativ kompliziertes Verfahren vorgesehen –
kontrollieren. Es ist wirklich schon kabarettreif, dass un-
ter dem Titel „Abbau von Bürokratie“ erst einmal staatli-
che Bürokratie aufgebaut wird. Das muss man sich
schon einmal auf der Zunge zergehen lassen.


(Beifall bei der LINKEN)


Besonders interessant ist, welche Auswirkungen von
dieser sogenannten Bürokratiebremse auf künftige Ge-
setzgebungsvorhaben nun ausgehen werden. Ist etwa
eine Erweiterung der Mitbestimmung für Betriebsräte
nicht mehr möglich, weil sie die Kosten für Unterneh-
men erhöht? Sind weitere Maßnahmen der Teilhabe von
Menschen mit Behinderung überhaupt irgendwie auszu-
gleichen? Man merkt, da entwickeln sich schon sehr per-
fide Fragestellungen, die mit diesem Prinzip verbunden
sind.

Man muss davon ausgehen, dass damit etwa die Ein-
führung des Equal-Pay-Grundsatzes für die Leiharbeit,
das Entgeltgleichheitsgesetz oder die Revision der Ar-
beitsstättenverordnung – das sind ja alles Dinge, die
nach meinem Kenntnisstand die Große Koalition irgend-
wie noch auf ihrer Agenda hat – für die restliche Legisla-
turperiode wohl komplett beerdigt sind. Denn sinnvoll
konstruierte derartige Regelungen würden natürlich im-
mer zu ein bisschen mehr Bürokratieaufwand für die Un-
ternehmen führen. Da es aber kaum Möglichkeiten gibt,
sie zu kompensieren, also dafür zu sorgen, dass woan-
ders Bürokratie nach der „One in, one out“-Regelung ab-
gebaut wird, muss man davon ausgehen, dass jegliche
Reformpolitik in der Arbeitswelt durch die Regierung
faktisch aufgekündigt worden ist. Ich finde, es ist schon
ein Skandal, dass man mitten in der Legislaturperiode im
Grunde das Ende der Regierungstätigkeit erklärt.


(Beifall bei der LINKEN)


Man muss sich schon auf der Zunge zergehen lassen,
was man in einem trojanischen Pferd, das hier Bürokra-
tieabbau heißt, so alles verpacken kann. Das muss man
erst einmal zustande bringen. Man war sehr kreativ. Zu-
mindest dieses Lob muss ich an dieser Stelle ausspre-
chen.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wird auch Zeit!)


Hätte es diese Regelung bereits vor der Einführung
des Mindestlohns gegeben, wäre sie – das muss man sich
ja fragen – vielleicht sogar gescheitert; es wurde nämlich
behauptet – ich will das gar nicht bestätigen –, dass der
durch die Einführung des Mindestlohns verursachte Er-
füllungsaufwand bei immerhin 9,6 Milliarden Euro liegt.





Michael Schlecht


(A) (C)



(D)(B)

Ich bezweifle, dass das so ist; aber so hat es die Regie-
rung nun einmal verkündet.

Stünden wir heute vor der gleichen Aufgabe, müsste
die Bundesregierung nach ihrer eigenen Selbstverpflich-
tung Bürokratie in dieser Größenordnung abbauen, um
den Mindestlohn einführen zu können. Ich behaupte ein-
mal, wir können froh sein, dass der Mindestlohn so, wie
er ist – wir hätten uns einiges mehr gewünscht –, durch-
gesetzt worden ist, bevor diese Regelung geschaffen
worden ist. Wie gesagt, ich befürchte für die verblei-
bende Legislaturperiode Schlimmes. Ich finde, es droht
unserem Land und auch uns hier eine ziemliche Zumu-
tung. Dem, wie da verfahren wird, kann man in der Tat
nicht zustimmen.


(Beifall bei der LINKEN)


Eigentlich ist die Idee, Bürokratie abzubauen, nicht
verkehrt; man muss es nur richtig machen. Ich verrate
Ihnen, wie Sie millionenfach Jubelstürme auslösen kön-
nen: Schaffen Sie zum Beispiel das Bürokratiemonster
Hartz IV ab. Das wäre eine wirkliche Reform.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein Freund von mir, der alleinstehend ist, rutschte vor
Jahren in Hartz IV ab. Er hat mir damals seinen Antrag
auf Hartz IV gezeigt: Das gesamte Formular hatte
16 Seiten, in denen seine persönlichen Tatbestände akri-
bisch erhoben werden sollten. Wer Kinder hat oder eine
besondere Ernährung benötigt oder gar noch mit jeman-
dem zusammenlebt, bekommt gleich noch ein paar Sei-
ten Fragebogen dazu. Die durchschnittliche Akte eines
Hartz-IV-Haushalts bei der Agentur für Arbeit ist etwa
650 Seiten dick. Was ist das für ein Bürokratieunfug, der
dort betrieben wird!


(Beifall bei der LINKEN)


Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur
für Arbeit, kritisiert das auch. Er geht auf aus seiner
Sicht vermutlich sehr lebensnahe Dinge ein. Ich zitiere:

Es kann nicht unsere Aufgabe sein, sich mit DIN-
Normen von Schuhen und Einlagen zu beschäftigen
und darauf zu achten, dass nicht die falschen
Schuhe die richtigen Einlagen haben …

Das ist anscheinend die bürokratische Wirklichkeit,
mit der sich die Arbeitsagentur zum Teil herumschlagen
muss, und das müsste endlich beseitigt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Noch schlimmer ist die Situation für Aufstockerinnen
und Aufstocker. Wer regelmäßig ein Einkommen hat und
aufstocken will, muss in jedem Bewilligungszeitraum ei-
nen ganzen Wust an Formularen ausfüllen. Alle sechs
Monate sind das neben dem Weiterbildungsantrag auch
noch Arbeitgeberbogen, zusätzliches Einkommensfor-
mular usw. Ist es eigentlich die Schuld von Aufstocke-
rinnen und Aufstockern, dass die Jobcentermitarbeiterin-
nen und -mitarbeiter angesichts dieses Bürokratiewustes
überlastet sind? Mit Sicherheit nicht. Das müsste abge-
schafft werden.


(Beifall bei der LINKEN)

Das hätte vor allen Dingen auch einen ökonomischen
Effekt. Frau Staatssekretärin, Sie haben in Ihrer Rede so
getan, als nähmen Sie hier eine ganz tolle Entlastung vor.
Diese Entlastung beliefe sich nach Ihren Berechnungen
gerade einmal auf 700 Millionen Euro. Wenn Sie die Bü-
rokratie bei Hartz IV wirklich beseitigen würden, könn-
ten Sie Bürokratiekosten von effektiv sage und schreibe
5 Milliarden Euro abbauen. Das wäre in der Tat ein Fort-
schritt. Der eigentliche Bürokratieskandal sind nicht be-
stimmte Rechnungslegungsfristen oder -vorschriften für
einzelne Unternehmer, sondern gerade solcher Unfug
wie Hartz IV. Hinzu kommen sämtliche sozialpoliti-
schen Verwerfungen und das, was damit an unsäglicher
Bürokratie praktiziert wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Bundesregierung will mit diesem Gesetz kleinen
und mittleren Unternehmen helfen – es ist immer löb-
lich, wenn man Leuten helfen will, auch kleinen und
mittleren Unternehmen –, aber sie kommt über ein paar
Verzierungen wirklich nicht hinaus. Ich will das einmal
runterbrechen: Hilft man Unternehmen wirklich damit,
dass man sie um sage und schreibe 1,3 Stunden pro Mo-
nat für eine Meldung über Ausfuhren und Einfuhren ent-
lastet? Hilft man Sparkassen, Volksbanken etc. wirklich
damit, dass man sie bei der Kundenbetreuung um eine
halbe Minute, also 30 Sekunden, je Kunde entlastet? In
solchen Spitzfindigkeiten bewegt sich das Gesetz. Ich
finde, das ist wirklich aberwitzig. Hilft man Existenz-
gründerinnen und -gründern, wenn man sie von Pflich-
ten, über Statistik zu berichten, entlastet, die sich, nomi-
nal bewertet, auf gerade mal 190 Euro im Jahr belaufen?
Es ist alles lächerlich, was dort an Vorschlägen gemacht
wird, und es ist, wie gesagt, eigentlich abenteuerlich,
dass damit hier in der Kernzeit das Parlament 96 Minu-
ten beschäftigt werden soll.


(Beifall bei der LINKEN)


Die größte Entlastung, nämlich ungefähr 500 Millio-
nen Euro, soll das Gesetz schaffen, indem es die ordentli-
che Buchführung erst ab einem Umsatz von 600 000 Euro
und nicht, wie bisher, ab 500 000 Euro vorschreibt.
Auch das finde ich ziemlich abstrus. Jeder Unternehmer
mit mindestens 500 000 Euro Umsatz macht als ordentli-
cher Kaufmann eine Rechnungslegung mit Bilanz und
Gewinn-und-Verlust-Rechnung, allein schon deshalb,
damit er weiß, wo er ökonomisch steht und damit er
nicht plötzlich von seinen Zahlen überrascht wird. Wer
es nicht freiwillig macht, dem sollte man gesetzlich ei-
nen Fingerzeig geben und ihn, zumindest dann, wenn er
500 000 Euro Umsatz hat, dazu anhalten. Das ist schon
eine Fürsorgepflicht. Deswegen finde ich es abstrus,
diese Grenze zu erhöhen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Hauptproblem der Inhaber kleiner und mittlerer
Unternehmen liegt sowieso nicht in der ausufernden Bü-
rokratie. Fragen Sie doch mal einen Handwerker! Ich
höre an erster Stelle immer: Heute ist es so schwierig ge-
worden, gut bezahlte Aufträge zu bekommen, die dann
auch schnell bezahlt werden, vor allem bei der öffentli-
chen Hand. – Da gibt es manchmal ziemlich lange Fris-





Michael Schlecht


(A) (C)



(D)(B)

ten, bis bezahlt wird. Sie klagen vor allen Dingen auch,
dass sie von der öffentlichen Hand kaum noch Aufträge
bekommen. Das ist kein Wunder in Zeiten, in denen in
der Kasse vieler Kommunen Ebbe herrscht. In den Schu-
len lässt man die Toiletten lieber vergammeln, als dass
man Geld ausgibt und einen Handwerker, einen Maler,
einen Klempner beauftragt, etwas in Ordnung zu brin-
gen.

Auch noch so viele gestrichene Vorschriften bringen
keine Aufträge für die mittelständischen Unternehmen.
Deswegen: Wenn man für mittelständische und kleine
Unternehmen wirklich etwas tun will, dann muss man
dafür sorgen – das ist das Entscheidende –, dass sie wie-
der mehr Aufträge bekommen, und dann muss man die
Binnennachfrage stärken. Legen Sie ein groß dimensio-
niertes Zukunftsinvestitionsprogramm auf, und geben
Sie nicht nur diese Kleckerbeträge – unter einem ge-
samtwirtschaftlichen Blickwinkel –, die Sie hier immer
stolz vor sich hertragen! Legen Sie ein Zukunftsinvesti-
tionsprogramm von 100 Milliarden Euro auf! Damit
kann vieles geregelt werden. Das hätte dann auch den
Nebeneffekt, dass viele kleine und mittlere Unternehmen
wieder Aufträge bekommen und vor allen Dingen auch
zügig bezahlt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Sorgen Sie endlich dafür, dass die Löhne in Deutsch-
land wieder richtig steigen! Schaffen Sie andere Rah-
menbedingungen für gewerkschaftliches Handeln in der
Tarifpolitik! Das heißt: Leiharbeit muss weg, Befristun-
gen müssen anders geregelt werden; denn mit Leih-
arbeitern und befristet Beschäftigten lässt sich nicht be-
sonders gut streiken. So lassen sich auch nicht die
notwendigen Lohnerhöhungen durchsetzen. Da besteht
mittelbar Handlungsbedarf. Da muss etwas geschehen.

Es gibt gegenüber dem Jahr 2000 in Deutschland eine
Lohnlücke von mindestens 14 Prozent. Das entspricht
einer Nachfrage von ungefähr 100 Milliarden Euro.
Würden wir diese Lücke schließen, würde es in jedem
Jahr eine um 100 Milliarden Euro höhere Binnennach-
frage geben, und davon – das sage ich Ihnen – würden
vor allen Dingen auch kleine und mittlere Unternehmen
profitieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Damit könnten wir auch für diesen Personenkreis etwas
machen und eine wirklich anständige Wirtschaftsförde-
rung betreiben.

Bürokratieabbau ist sinnvoll, wenn er im Interesse der
Menschen ist. Aber so, wie Sie das hier betreiben, vor al-
len Dingen mit Ihrer „One in, one out“-Regel, ist es sehr
kontraproduktiv


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ihre Redezeit ist bürokratisch abgelaufen!)


und, wie gesagt, führt eher zum Ende der Reformpolitik
für diese Legislaturperiode.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810900400

Michael Fuchs ist der nächste Redner für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Michael Fuchs (CDU):
Rede ID: ID1810900500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege
Schlecht, ich habe selten eine Rede gehört, in der wie in
Ihrer gerade mit so viel Kunstfertigkeit für mehr Büro-
kratie gekämpft wurde.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Andrea Wicklein [SPD])


Es scheint so zu sein, dass die Linke wieder einmal vor-
hat, die Bürokratie in Deutschland zu verstärken.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Staatsgläubig sind die!)


Ansonsten fiel Ihnen nichts anderes ein als die Forde-
rung, noch mehr Geld auszugeben.


(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Nein, er hat etwas anderes erzählt! Er hat Vorschläge gemacht! – Weiterer Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


Wir sind stolz darauf, dass der Bundesfinanzminister
es geschafft hat, dass wir endlich einen ausgeglichenen
Haushalt haben. Das ist ein Wert an sich; für den haben
wir gekämpft. Das ist genau das Richtige, statt andau-
ernd zusätzliche Programme aufzulegen, wie Sie es im-
mer gemacht haben. Das wurde ja schon früher in der
DDR versucht. Nichts hat es gebracht. Das ist einer der
Gründe, weswegen die DDR damals pleitegegangen ist.


(Widerspruch bei der LINKEN)


– Das tut Ihnen weh, ich weiß das; aber damit müssen
Sie leben.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sie tun uns nimmer weh!)


Bei kaum einem Projekt gehen Reden und Handeln so
auseinander wie beim Bürokratieabbau. In Sonntags-
reden kommt der Bürokratieabbau immer wieder vor. Es
wird bei neuen Gesetzesvorhaben davon gesprochen,
dass wir dringend Bürokratie abbauen müssen. Aber
wenn man dann am Ende des Tages hinschaut, stellt man
fest, dass wir nicht allzu weit gekommen sind. Es gibt
viel Kreativität, was neue Gesetze angeht, aber wenig
Hoffnung, dass das dann auch zu einem echten Bürokra-
tieabbau führt. Das läuft nicht so, wie wir uns das wün-
schen. Bürokratie ist ein Riesenproblem; das sollten wir
wissen.

Der Normenkontrollrat hat festgestellt, dass allein im
Zeitraum von Juli 2013 bis Juni 2014 über 9,2 Milliar-
den Euro an neuen Bürokratiekosten aufgebaut wurden.


(Zuruf von der LINKEN: Da hat der Stoiber aber versagt!)






Dr. Michael Fuchs


(A) (C)



(D)(B)

Man lasse sich das bitte einmal auf der Zunge zergehen!
Das ist völlig unproduktiv. Diese 9,2 Milliarden Euro
fehlen der Wirtschaft an allen Ecken und Enden. Das
wäre, nebenbei gesagt, ein wunderbares Investitionspro-
gramm, wenn man 9,2 Milliarden Euro zusätzlich frei-
setzen könnte. Dem Normenkontrollrat muss man sehr
dankbar sein, dass er uns ständig auf diese Probleme auf-
merksam macht. Er muss ein Stachel im Fleisch des Par-
laments sein. Das finde ich auch in Ordnung so.

Bürokratie hat große Schäden verursacht und verur-
sacht sie nach wie vor. Junge Unternehmen trauen sich
nicht in den Markt hinein, weil sie Angst vor der Büro-
kratie haben. Die Benachteiligung betrifft aber beson-
ders kleinere mittelständische Unternehmen, weil diese
eben keine riesige Rechtsabteilung haben, die sich mit
all diesen bürokratischen Maßnahmen beschäftigen
kann. Bürokratie führt außerdem zu Lähmungserschei-
nungen in ganzen Volkswirtschaften. Das kann man am
allerbesten an Italien beobachten. Italien hat die
schlimmste Bürokratie in ganz Europa. Dort ist die Wirt-
schaft auch dementsprechend lahm.

Umso wichtiger ist es, dass wir heute nicht nur über
Bürokratieabbau reden, sondern das Thema auch kon-
kret angehen. Der heute vorliegende Gesetzentwurf ist
ein Schritt in die richtige Richtung. Drei Punkte will ich
dabei hervorheben:

Erstens. Die Anhebung der Schwellenwerte für Mel-
depflichten von Existenzgründern von 500 000 Euro auf
800 000 Euro im Bereich der Wirtschafts- und Umwelt-
statistik halte ich für richtig. Ein Gründer – ich selbst
war einmal einer – sollte sich in der ersten Phase seines
Unternehmens mehr mit dem Markt und mit dem Erwirt-
schaften von Gewinnen beschäftigen, als die ganze Zeit
Statistiken auszufüllen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Zweitens. Wir wollen beim Steuerrecht einiges verän-
dern. Der Gesetzentwurf sieht einzelne Entlastungen
vor: bei den Mitteilungspflichten für den Kirchensteuer-
abzug, eine erhöhte Lohnsteuerpauschalierungsgrenze
für kurzfristig Beschäftigte und eine Vereinfachung beim
Lohnsteuerabzug. Meine Damen und Herren, machen
wir uns nichts vor: Das ist kein Quantensprung. Es ist
nicht so, dass wir damit schon gewaltige Veränderungen
erreicht hätten, aber gerade im Steuerrecht sind die Be-
harrungskräfte besonders intensiv. 70 Prozent der Büro-
kratiepflichten, die wir den Unternehmen auferlegen,
entstehen im Steuerrecht. Da haben wir also noch einen
weiten Weg zu gehen.

Mir fällt dazu auch noch das eine oder andere ein: Ge-
rade bei den kleinen Unternehmen verursacht die Auf-
zeichnungspflicht, die bei geringwertigen Wirtschaftsgü-
tern besteht, erhebliche Bürokratie.


(Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])


Da könnte man ansetzen und überlegen, ob man die Ab-
schreibungsgrenze für geringwertige Wirtschaftsgüter
etwas anheben könnte.

(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das muss man machen, Herr Fuchs!)


Diese liegt momentan bei 410 Euro. Aber ich könnte mir
durchaus vorstellen, eine Grenze von 600 bis 800 Euro
einzuführen.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: 1 000 Euro! – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Das würde erhebliche Bürokratie in den Unternehmen
abbauen.


(Beifall des Abg. Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Auf der anderen Seite bedeutet es für den Staat eigent-
lich nur eine Verschiebung. Denn wenn die Abschrei-
bung in einem Jahr erfolgt, dann ist im nächsten Jahr
nichts mehr abzuschreiben; dann zahlt der Unternehmer
im nächsten Jahr mehr Steuern. Insofern stellt das keine
gewaltige Änderung dar.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Angesichts der niedrigen Zinsen halte ich das auch für
notwendig. Wir werden mit dem Bundesfinanzminister
noch einmal darüber zu sprechen haben.


(Beifall der Abg. Andrea Wicklein [SPD] – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Hört! Hört!)


Aber ich habe es auch noch nicht aufgegeben, an eine
wirkliche Steuervereinfachung zu glauben. Denn bei
dem, was wir bis jetzt gemacht haben, handelt es sich
immer nur um Marginalien. Da wurde immer nur so ein
bisschen an einer Stelle angepackt. – Diese Hoffnung
habe ich also noch nicht ganz aufgegeben.

Ich habe immer noch die Worte des estnischen Präsi-
denten Ilves, den ich vor zwei Tagen auf dem Wirt-
schaftstag des Wirtschaftsrates der CDU gehört habe, in
den Ohren. Er sagte, in Estland könne man eine Steuer-
erklärung in fünf Minuten fertigstellen. Das wäre ja ein
Ziel für uns.


(Zurufe der Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] und Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es wäre wirklich eine Aufgabe, die wir uns gemeinsam
stellen könnten, zu überlegen, wie wir die Steuererklä-
rungen so vereinfachen, dass auch so etwas bei uns mög-
lich ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf einem Bierdeckel!)


Der dritte Punkt, den ich für gut halte, betrifft die
neue „One in, one out“-Regelung. Herr Schlecht, auch
wenn Sie es nicht ganz verstanden haben: Sie macht
schon Sinn. Vor allen Dingen macht sie deswegen Sinn,
weil sie zumindest dazu führt, dass sich jeder einmal
überlegen muss: Was passiert denn da? Und: Wie kann





Dr. Michael Fuchs


(A) (C)



(D)(B)

ich es denn auf der anderen Seite abbauen? – Allein der
Druck, der dadurch entsteht, ist schon positiv. Nur, das
wollen Sie ja nicht; das ist ja bekannt. Ich halte es für
richtig, dass wir auf all die neuen Gesetze, die jetzt noch
kommen, diese Regelung anwenden. Mir wäre es am al-
lerliebsten, wir hätten ein rückwirkendes Inkrafttreten.
Stellen Sie sich einmal vor, wir würden das jetzt rück-
wirkend beim Mindestlohn machen. Das würde schon
Wirkung zeigen.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei der Maut! – Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, Maut auch!)


Das wäre doch eine gute Idee. Ich meine, wir sollten in
jedem Fall dafür sorgen, dass wir durch diese „One in,
one out“-Regelung nun in eine Phase kommen, wo bei
jedem neuen Gesetzesvorhaben geprüft wird: Wie kön-
nen wir ein anderes Gesetz so verändern, dass wir weni-
ger Bürokratie haben?

Ich bin vor allen Dingen dem Staatsminister Helge
Braun sehr dankbar, der sich um dieses Gesetz bemüht
hat und für den das ein Herzensanliegen war. Ich denke,
lieber Helge, das hast du gut gemacht. Dir gebührt unser
Dank dafür.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die „One in, one out“-Regelung wird in der nächsten
Zeit Veränderungen schaffen. Auch dazu zitiere ich noch
einmal den estnischen Präsidenten. Er sagte vor zwei Ta-
gen: Wir haben mittlerweile gesetzlich geregelt, dass die
Daten von jedem Bürger nur einmal vom Staat gespei-
chert werden dürfen und die Bürger dann nie mehr nach
ihren persönlichen Daten gefragt werden dürfen. – Wenn
der Staat die Daten also einmal hat, kann er sie anschlie-
ßend nicht noch einmal nachfragen. Das könnten wir
zum Beispiel als Regelung auch bei uns einführen.

Wir haben eine Reihe von Gesetzen gemacht, die
schwierig sind. Seien wir uns bitte im Klaren darüber,
dass die Regelungen, die wir beim Mindestlohn einge-
führt haben, so nicht umsetzbar sind. Die Bundeskanzle-
rin hat am selben Abend gesagt, dass man an dieses
Thema noch einmal herangehen wird. Das halte ich auch
für richtig. Frau Nahles ist gefordert, eine Regelung zu
finden, die weniger Bürokratie verursacht. Ich denke
auch, dass wir das schaffen können. Niemand redet beim
Mindestlohn über die 8,50 Euro. Die stellt auch keiner
mehr infrage. Die Bürokratie aber, die damit verbunden
ist, stellen wir infrage. Es stört mich auch ganz gewaltig,
dass wir mittlerweile 1 600 bewaffnete Zöllner in die
Bäckereien und Metzgereien schicken, um die Einhal-
tung des Mindestlohns zu kontrollieren.


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Blödsinn, diese Aussage! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das ist ein Skandal, was Sie hier behaupten! Das ist unverschämt! Das sind Staatsbeamte!)


– Das gibt es! Ich habe es schon selbst erlebt. Herr Ernst,
Sie können mit mir ja einmal zu einer Metzgerei gehen. –
Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass wir keine
Regelungen treffen sollten, welche die Unternehmen ge-
waltig belasten.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810900600

Herr Kollege Fuchs, der Kollege Ernst möchte gerne,

bevor er mit Ihnen eine Metzgerei aufsucht, mit einer
Zwischenfrage die Bedingungen klären. Können wir das
hier schnell erledigen?


Dr. Michael Fuchs (CDU):
Rede ID: ID1810900700

Das soll er gerne haben.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810900800

Bitte schön.


Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810900900

Herr Fuchs, ich bin der Auffassung, dass Sie sich ent-

schuldigen sollten. Sie haben eben Staatsbeamte der
Bundesrepublik Deutschland als bewaffnete Söldner-
truppe bezeichnet.


Dr. Michael Fuchs (CDU):
Rede ID: ID1810901000

Das habe ich nicht gesagt, sondern ich habe „Zöllner“

gesagt!


Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810901100

Ich denke, das geht einen Schritt zu weit.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Es handelt sich hier um Gesetze, die wir hier im Hause
beschlossen haben. Wir haben eine Steuerfahndung, die
dafür zuständig ist, den Mindestlohn zu überwachen.
Diese als bewaffnete Söldnertruppe zu bezeichnen, ist
ein Schlag ins Gesicht der Leute, welche die Gesetze zu
überwachen haben, die Sie mit Ihrer Truppe hier be-
schlossen haben. Das ist ein unglaublicher Vorgang!


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf des Abg. Michael Grosse-Brömer [CDU/ CSU])



Dr. Michael Fuchs (CDU):
Rede ID: ID1810901200

Herr Kollege Ernst, Sie sollten besser zuhören! Ich

habe „bewaffnete Zöllner“ gesagt. Und das ist der Fall.
Es sind bewaffnete Zöllner, die in die Metzgereien oder
Bäckereien fahren, um die Mindestlohnregelungen zu
überprüfen.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Gerade noch die Kurve gekriegt!)


Wenn Sie das sehen wollen, können Sie es selber über-
prüfen. Das ist auch keine Beleidigung der Zöllner. Sie
machen ihren Job, und sie müssen diese Aufgaben erle-
digen.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Eben!)


Ich kritisiere aber, dass wir dafür über 80 Millionen Euro
jährlich ausgeben. Die könnten wir besser bei der Polizei
unterbringen, denn da gibt es mehr Probleme.





Dr. Michael Fuchs


(A) (C)



(D)(B)


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die schaffen wir gleich mit ab! Und die Verkehrsüberwachung!)


Meine Damen und Herren, bringen wir unseren Un-
ternehmerinnen und Unternehmern genügend Vertrauen
entgegen! Passen wir auf, dass wir das Misstrauen nicht
so schüren, dass der eine oder andere sagt, er mache es
nicht mehr, er habe keine Lust mehr dazu, und sich aus
dem Bereich des Unternehmertums verabschiedet! Glau-
ben wir an die Kraft und Kreativität von Markt und
Wettbewerb, oder geben wir lieber der Kontrolle den
Vorzug? Haben wir noch den Mut zu Innovation und
Fortschritt, oder wollen wir den Istzustand zementieren?

Ich bin überzeugt: Unsere Unternehmerinnen und Un-
ternehmer haben in der Geschichte der Bundesrepublik
und der Geschichte der sozialen Marktwirtschaft unser
Vertrauen immer gerechtfertigt, und sie haben unser
Land entscheidend weitergebracht, vor allen Dingen der
Mittelstand. Wir müssen ihnen auch in Zukunft die
Spielräume geben, die notwendig sind, damit sie ihren
Unternehmergeist entfalten können. Dies sollte uns bei
allen in der Zukunft anstehenden Gesetzgebungsverfah-
ren leiten, und dafür müssen wir sorgen, damit die Un-
ternehmer auch ernsthaft entlastet werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810901300

Das Wort erhält nun die Kollegin Kerstin Andreae für

die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810901400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Staatssekretärin! Wir kritisieren gar nicht, was im
Gesetz steht. Entlastungen und Erleichterungen bei Mel-
depflichten, Grenzbeträgen und Schwellenwerten sind
richtig. Eine Entlastung der Wirtschaft um 744 Millio-
nen Euro pro Jahr, von der Sie gesprochen haben, ist
auch richtig. Das alles kritisieren wir nicht. Aber wir kri-
tisieren, was nicht drinsteht. Sie hätten viele Möglichkei-
ten. Wenn Sie sagen, dass es der erste Schritt ist, dann
hoffe ich auf die Beratungen nach der ersten Lesung.
Wir stellen ja einen eigenen Antrag zur Debatte. Darin
sind Vorschläge. Nehmen Sie sie mit auf. Dann kommen
Sie einen deutlichen Schritt weiter.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der Normenkontrollrat spricht von 200 bis 300 Mil-
liarden Euro Belastung pro Jahr. In Relation zu 200 bis
300 Milliarden sind 744 Millionen Euro nicht wirklich
viel. Sie haben ja auch in den ersten anderthalb Jahren
deutlich Bürokratie aufgebaut. Sie haben fast 2 000 neue
Verordnungen auf den Weg gebracht. Jetzt wird Ihnen
selber ein bisschen mulmig.

Jetzt nenne ich Ihnen einmal ein erstes Beispiel und
mache damit auch gleich einen ersten „One out“-Vor-
schlag. „One in, one out“ kann ja durchaus positiv sein:
Die Pkw-Maut für Ausländer ist das erste Beispiel.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Lassen Sie sie einfach, machen Sie etwas anderes, dann
haben Sie ein „One out“ und Möglichkeiten zu einem
neuen „One in“. Finanziell ist die Maut ja ein Desaster.
Sie sprechen von Einnahmen in Höhe von 500 Millionen
Euro. Unsere Studie hat errechnet, dass sie maximal
140 Millionen Euro einbringt. Demgegenüber stehen
laut Normenkontrollrat 164 Millionen Euro Verwaltungs-
kosten und 32 Millionen Euro für Kontrollen. Selbst wenn
wir Ihre 500 Millionen Euro nehmen, dann haben wir
200 Millionen Euro Verwaltungs- und Kontrollkosten.
Dazu sagt der Normenkontrollrat in seiner üblichen Be-
scheidenheit und in seiner diplomatischen Form, er habe
„gegenüber dem Ressort seine Bedenken hinsichtlich der
Relation zwischen dem anfallenden Erfüllungsaufwand
und den zu erwartenden Einnahmen geäußert“. Tempera-
mentvoll geht zwar anders, aber sie sagen ganz klar: Das
ist Unfug. Lasst diese CSU-Maut!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wir haben noch einen Vorschlag für „One out“, betref-
fend das Mehrwertsteuersystem. Sie haben in der letzten
Legislatur den Unfug mit den Hotelübernachtungen, der
sogenannten Mövenpick-Steuer, gemacht: 7 Prozent für
Übernachtungen, 19 Prozent für Frühstück – hochkom-
pliziert. Auf gepressten Fruchtsaft wird eine Mehrwert-
steuer in Höhe von 19 Prozent fällig, auf pürierten
Fruchtsaft – das musste ich auch lernen – in Höhe von
7 Prozent, für den Arbeitsesel werden 7 Prozent fällig,
für den Hausesel 19 Prozent – eine weitere Unterschei-
dung gibt es, ob er tot und lebendig ist –, für Currywurst
zum Mitnehmen 7 Prozent, für Vor-Ort-Verzehr 19 Pro-
zent. Wann endlich fangen Sie an, das Mehrwertsteuer-
system zu reformieren? Wann endlich fangen Sie damit
an?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Dass Gesetzestexte verständlich und für alle Bürge-
rinnen und Bürger nachvollziehbar sein sollen, ist
manchmal ein Fernziel, aber sie sollten doch wenigstens
logisch sein. Das sind sie hier nicht. Überhaupt ist im
Bereich der Steuervereinfachung einiges zu tun.

Herr Fuchs, man muss ehrlicherweise zur Steuerge-
setzgebung auch sagen: Es ist der Versuch, auf der einen
Seite Gerechtigkeit herzustellen und den Anliegen, die
an uns als Gesetzgeber herangetragen werden, gerecht
zu werden und auf der anderen Seite ein einfaches und
verständliches Steuersystem zu schaffen. Die Steuer-
erklärung auf dem Bierdeckel ist zu Recht überhaupt
nicht goutiert worden, weil niemandem eingeleuchtet
hat, was daran gerecht sein soll, drei Steuersätze auf al-
les zu erheben und dann alles laufen zu lassen. Ein biss-
chen mehr Anforderungen sollten wir an das Steuersys-
tem stellen, zum Beispiel, dass es auch gerecht besteuert.
Diesen Anspruch sollten wir haben, aber es spricht
nichts gegen Steuervereinfachungen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie sagen, Sie würden jetzt etwas für die Existenz-
gründer machen. Da wollen wir mal genauer hinschauen.
Wir haben in Deutschland eine Gründungsmisere. Es





Kerstin Andreae


(A) (C)



(D)(B)

gibt nach wie vor große Hemmnisse, sich selbst als
kleiner Gründer, als kleine Gründerin auf den Weg zu
machen. Die von Sigmar Gabriel eingesetzte Experten-
kommission hat Ihnen ja mitgegeben, dass der Abbau
bürokratischer Hemmnisse für Gründer eine der wesent-
lichen Innovationsbedingungen für Deutschland ist. Ich
bin mal gespannt, was Sie dann tatsächlich machen.

Wir haben Ihnen vorgeschlagen, Lotsen einzuführen
und die Idee von One-Stop-Shops weiterzuentwickeln,
dass also ein Gründer von einem Lotsen durch unser
System geführt wird und er sich nicht selbst bei sämtli-
chen Stellen melden muss. Überlegen Sie, wie Sie die
Arbeitsstättenverordnung etwas smoother gestalten kön-
nen. Überlegen Sie, ob Gründer unbedingt von Anfang
an eine monatliche Umsatzsteuervoranmeldung vorneh-
men müssen. Da gäbe es einiges zu tun, um einem Grün-
der Luft und Raum zu geben, seine Ideen zu entwickeln,
anstatt gleich mit der deutschen Bürokratiekeule zu
kommen und ihn damit zu erschlagen.

Sie alle haben gesagt, dass entsprechende Regelungen
im Gesetzestext stehen. Ehrlich gesagt: Wir haben sie
nicht gefunden. Das steht da nicht drin. Wenn wir uns
hier darauf einigen können, dass dies die erste Lesung ist
und sich bis zur zweiten Lesung noch etwas verändert,
dann ist das wunderbar. Wir machen in unserem Antrag
Vorschläge, wie man dem Gründungsgeschehen in
Deutschland Raum geben kann. Ich hoffe sehr, dass Sie
da den einen oder anderen Vorschlag übernehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt zum Zankapfel Mindestlohn. Für uns ist der
Mindestlohn nicht zu diskutieren. Ich bin froh – wir hat-
ten ja auch zugestimmt –, dass wir jetzt in Deutschland
den Mindestlohn haben. Wir haben aber an einer Stelle
immer Kritik geübt, und zwar haben wir gefragt, warum
die Dokumentationspflicht beim Mindestlohn, die nun
mal auch Bürokratie nach sich zieht, weil die Unterneh-
men aufschreiben müssen, wann ein Arbeitnehmer ange-
fangen und aufgehört hat zu arbeiten, bis zu einem Ein-
kommen des Beschäftigten von 2 958 Euro pro Monat
besteht. Das entspricht im Falle des Mindestlohns einer
Arbeitszeit von 348 Stunden im Monat, ungefähr 15 pro
Werktag. Der Vorschlag war: Setzen Sie doch die Ein-
kommensgrenze herunter. Dann erfassen Sie immer
noch jeden Einzelnen, der Anspruch auf Mindestlohn
hat; aber Sie entlasten an einer Stelle, an der Bürokratie
wirklich unnötig ist. Diese Bürokratie ist im wahrsten
Sinne des Wortes nicht nötig.

Ihre Bundeskanzlerin


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Unsere!)


hat am 21. Januar 2015 gesagt: „Wir schauen uns das
jetzt drei Monate an …“ – Dazu steht aber nichts in Ih-
rem Gesetzentwurf. Ich bin gespannt, ob Sie es sich
wirklich mal anschauen, ob Sie wirklich sagen: Ja, an
der Stelle können wir entlasten, ohne auch nur einen
Deut am Mindestlohn zu rütteln. – Wir werden nicht zu-
lassen, dass Sie am Mindestlohn rütteln. Aber wenn Sie
unnötige Bürokratie abbauen, haben Sie uns an Ihrer
Seite.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


Schließlich will ich, weil meine Redezeit abgelaufen
ist, ganz kurz unsere Forderungen benennen: eine Steu-
ergutschrift für Forschungs- und Entwicklungsausgaben
kleiner Unternehmen einführen, Möglichkeiten für junge
Asylsuchende schaffen, ihre Ausbildung hier mit einem
sicheren Status durchzuführen, E-Government konse-
quent einführen, die Grenze für die Abschreibung ge-
ringwertiger Wirtschaftsgüter auf 1 000 Euro anheben,
Sozialausgaben so auszahlen, dass das Ganze an einem
Tag terminiert ist, im Sinne eines One-Stop-Shops eine
einzige Anlaufstelle für Gründerinnen einführen.

Ja, es gäbe viel zu tun. Ich hoffe, dass wir in der De-
batte hier ein Stück weiterkommen. Wir haben viele Vor-
schläge für „One out“, aber wir haben auch viele Vor-
schläge für „One in“.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810901500

Für die SPD-Fraktion hat jetzt Andrea Wicklein das

Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Andrea Wicklein (SPD):
Rede ID: ID1810901600

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Bürokratie durchdringt unser Leben. Egal ob
wir einen Kredit oder Pflegeleistungen für unsere Eltern
beantragen, eine Firma gründen oder einen Baum fällen
wollen, ob wir Fördermittel oder BAföG in Anspruch
nehmen oder eine Wohnung mieten wollen – alles hat
mit Bürokratie zu tun.

Fast jedes neue Gesetz, das wir beschließen, schafft
neue Bürokratie. Es erfordert in seiner Durchführung
Verwaltungsaufwand, Kontrollaufwand oder Beantra-
gungsaufwand, Informations- oder Nachweispflichten.
Egal, ob wir den Mindestlohn einführen, höhere Stan-
dards für Lebensmittel oder Vorschriften für Arbeitsstät-
ten oder den Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmern erlassen – alles ist mit Bürokratie verbunden.

Bürokratie ist notwendig; denn Gerechtigkeit in unse-
rem Land erfordert klare Regeln und Vorgaben.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Heiko Schmelzle [CDU/CSU])


Wir sollten uns deshalb, bevor wir von Bürokratieabbau
sprechen, den hohen Stellenwert von notwendiger Büro-
kratie bewusst machen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin sehr froh,
dass wir heute die Gelegenheit haben, über die Themen
„überflüssige Bürokratie“ und „bessere Rechtsetzung“
im Plenum zu prominenter Zeit zu sprechen. Das ist ein
gutes Signal; denn es zeigt, dass der Deutsche Bundestag
die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmerinnen
und Unternehmer ernst nimmt, wenn sie bestimmte Re-
gelungen oder deren Vollzug als Belastung empfinden:





Andrea Wicklein


(A) (C)



(D)(B)

nämlich dann, wenn Anträge zu kompliziert oder zu lang
und von Einzelnen kaum noch zu bewältigen sind oder
aber Berichts- und Informationspflichten zu viel Arbeits-
und Lebenszeit in Anspruch nehmen – oder auch, wenn
Gesetze zu schwer verständlich sind und in ihrer Umset-
zung einen zu hohen Verwaltungsaufwand erfordern.
Genau darum geht es heute bei der Einbringung des Bü-
rokratieentlastungsgesetzes.


(Beifall bei der SPD)


Wir freuen uns sehr, dass der Bundeswirtschafts-
minister Sigmar Gabriel mit frischem Wind dieses
Thema, welches schon in der letzten Großen Koalition
eine hohe Priorität für uns hatte, nach vorne bringt. Er
hat 21 konkrete Vorhaben vorgelegt, von denen heute
mehrere im Gesetzentwurf stehen. Der Bürokratieabbau
hat mit dem vorliegenden Gesetzentwurf neuen Schub
bekommen, und wir sind an dieser Stelle ganz an der
Seite unseres Wirtschaftsministers.


(Beifall bei der SPD)


Wir freuen uns insbesondere über das Entlastungsvolu-
men, das erreicht werden konnte. Davon werden gerade
der Mittelstand und Start-ups profitieren. Die Schwellen-
werte für Buchführungs- und Aufzeichnungspflichten
sowie für Meldepflichten für Existenzgründer und junge
Unternehmen werden angehoben. Damit wird der Auf-
wand für rund 150 000 Unternehmen reduziert. Hinzu
kommen weitere Vereinfachungen beim Lohnsteuerab-
zug für Ehegatten bzw. Lebenspartner und eine Anhe-
bung der Pauschalisierungsgrenze für kurzfristig Be-
schäftigte. Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf
werden wir unsere Wirtschaft um rund 744 Millionen
Euro im Jahr entlasten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, darüber hi-
naus hat die Bundesregierung weitere Vorschläge be-
schlossen, die nicht mit diesem Gesetz geregelt werden
müssen; wir haben heute schon viel darüber gehört.
Wichtig ist auch aus meiner Sicht die „One in, one out“-
Regelung, weil sie die Bundesregierung verpflichtet,
dann, wenn durch neue Regelungen Belastungen für die
Wirtschaft aufgebaut werden, an anderer Stelle Belas-
tungen abzubauen. Deshalb kann ich die Kritik der Grü-
nen und der Linken an dieser Stelle nicht verstehen. Die
Bürokratiebremse ist in Wahrheit ein Riesenerfolg. Das
wissen auch Sie und sollten ihn nicht kleinreden.


(Beifall bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir ist es an dieser
Stelle wichtig, noch über einen anderen Punkt zu reden,
den die SPD-Fraktion sehr gerne mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf geregelt hätte. Es handelt sich um die
steuerliche Behandlung geringwertiger Wirtschaftsgüter.
Die SPD-Bundestagsfraktion sieht bei der Anpassung
der Schwellenwerte einen dringenden, längst überfälli-
gen Handlungsbedarf.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wer sich als Selbstständiger ein Diensthandy, einen
Farblaserdrucker oder einen Bürostuhl kauft, übersteigt
schnell den bisherigen Schwellenwert von 410 Euro
netto. Nur bis zu dieser Höhe, die übrigens seit Jahrzehn-
ten unverändert ist, ist es aktuell möglich, Wirtschafts-
güter im Jahr der Anschaffung vollständig abzuschrei-
ben. Wir schlagen deshalb eine deutliche Anhebung der
Schwellenwerte für die sofortige Abschreibung gering-
wertiger Wirtschaftsgüter


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo?)


und gleichzeitig die Abschaffung der Poolabschreibung
vor. Das würde zu einer steuerlichen Entlastung führen
und gleichzeitig eine substanzielle Vereinfachung der
Buchführung mit sich bringen und damit die Unterneh-
men in mehrfacher Hinsicht deutlich entlasten.


(Beifall bei der SPD)


Leider gibt es da noch den Widerstand vom Bundes-
finanzminister. Ich hoffe, dass er noch einlenkt.

An dieser Stelle möchte ich ganz herzlich meinem
Kollegen Helmut Nowak von der CDU/CSU-Fraktion
für die gute Zusammenarbeit danken. Wir sind uns einig,
dass in diesem Punkt dringender Handlungsbedarf be-
steht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD wird in der
Koalition beim Abbau unnötiger Bürokratie entschlos-
sen die nächsten Schritte gehen. Wir sind dazu in regem
Austausch mit Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden
und Vertretern der Wirtschaft. Wir brauchen auch dabei
das Engagement der Bürgerinnen und Bürger. Bringen
Sie sich ein! Machen Sie Vorschläge, wie wir gemein-
sam weiter vorankommen! Ich bin sicher, diese Anstren-
gungen lohnen sich.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810901700

Nächster Redner ist für die Bundesregierung der

Staatsminister Helge Braun.

D
Dr. Helge Braun (CDU):
Rede ID: ID1810901800


Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Welcher Bürger und welcher Unternehmer kennt die
Situation nicht? Man unterschreibt ein Formular, und als
letzter Satz steht unten drunter: Ich bestätige hiermit,
alle Angaben vollständig und richtig gemacht zu ha-
ben. – Nicht nur den, der dabei vorsätzlich Betrugsab-
sichten hat, sondern auch den rechtschaffenen Bürger
oder Unternehmer beschleicht dabei manchmal ein laues
Gefühl, weil die Regeln, die Anforderungen, die dem
Formular zugrunde liegen, so kompliziert sind, dass er
nur hoffen kann, alles richtig gemacht zu haben, aber es
nicht ganz genau weiß. Deshalb ist es ein Kernanliegen
von Politik, dass die Regeln, die Gesetze, die Verordnun-





Staatsminister Dr. Helge Braun


(A) (C)



(D)(B)

gen, die wir beschließen, einfach für den Bürger und für
den Unternehmer anwendbar und verständlich sind. Das
ist kein Nebenthema von Politik, sondern bessere Recht-
setzung ist ein Kernthema guter Politik. Deshalb widmet
sich die Bundesregierung diesem mit großer Hingabe.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Im Jahr 2006 hat die Große Koalition unter der Kanz-
lerschaft von Angela Merkel den Normenkontrollrat ge-
gründet und gesetzlich verankert. Jetzt, wieder in einer
Großen Koalition, können wir sagen: Wir haben seit
2006 – auf der rechtlichen Grundlage des Normenkon-
trollratsgesetzes, aber auch darüber hinaus bei der Ent-
wicklung unserer statistischen Methoden gemeinsam mit
dem Statistischen Bundesamt – die Methoden der Büro-
kratiemessung und die unabhängige Kontrolle der Da-
ten, die wir produzieren, so weit entwickelt, dass wir da-
bei methodisch Weltmarktführer geworden sind. Viele
Länder schauen auf uns und lernen von uns, wie man
Bürokratie transparent macht – und auch, wie man wel-
che abbaut.


(Beifall des Abg. Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir haben in der aktuellen Legislatur ein neues Ar-
beitsprogramm. Wir haben einen Eckwertebeschluss ge-
fasst und jetzt das Bürokratieentlastungsgesetz auf den
Weg gebracht, das konkrete Abbauschritte in der Grö-
ßenordnung – es ist gesagt worden – von 744 Millionen
Euro enthält. Aber wir entwickeln auch die Methodik
des Bürokratieabbaus weiter: Die Bürokratiebremse
– ein Wort, das ich bevorzuge gegenüber der eher engli-
schen Wendung „One in, one out“ – ist ein zentrales Ele-
ment dieser methodischen Weiterentwicklung. Dass die
Linken damit ein Problem haben, verstehe ich gut; denn
hinter „One in, one out“, hinter der Bürokratiebremse
steht der Grundgedanke, dass die Wirtschaft, dass die
Unternehmen, dass die Unternehmer Zeit brauchen für
das Wesentliche – Zeit für ihre Kunden, Zeit für die Aus-
bildung von Azubis, Zeit für die Entwicklung neuer Pro-
dukte – und weniger Zeit aufwenden sollten für das Aus-
füllen von Formularen und dem Nachkommen von
Berichtspflichten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Weil wir Unternehmer entlasten wollen, haben wir
beschlossen, dass wir in dieser Legislaturperiode keine
Steuern erhöhen und trotzdem keine Neuverschuldung
machen. Dazu tritt jetzt, dass wir als Bundesregierung
ein Versprechen abgeben. Natürlich ist der Bundestag
frei, nach unserem Kabinettsbeschluss das zu beschlie-
ßen, was er für richtig hält. Aber wir als Bundesregie-
rung stehen Ressort für Ressort zu dem Ziel, dass wir,
wenn wir selber Gesetze initiieren, im gleichen Umfang
Erfüllungsaufwand abbauen wollen, wie wir an anderer
Stelle welchen aufbauen. Das heißt im Klartext: Durch
von uns motivierte Gesetze wird es in Zukunft, ab dem
1. Juli, keine neue Bürokratie in Deutschland geben. Das
ist ein gutes Signal für die deutsche Wirtschaft.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Eine häufig geäußerte Kritik an dieser Bürokra-
tiebremse ist, dass wir die Eins-zu-eins-Umsetzung eu-
ropäischer Regeln ausgenommen haben. Das heißt aber
nicht automatisch, dass wir uns nicht auch auf der euro-
päischen Ebene bemühen. Ganz im Gegenteil: Zwar ist
in den letzten Monaten und Jahren durch die Probleme
der Euro-Zone und durch andere EU-außenpolitische
Fragen das Thema „Bürokratie in Europa“ vielleicht ein
bisschen in den Hintergrund getreten; aber wenn wir ein-
mal schauen, was die Menschen im Hinblick auf die Zu-
kunft Europas bewegt, dann sehen wir: Einer der zentra-
len Kritikpunkte ist, wie wir im Europawahlkampf und
auch sonst immer wieder gehört haben, dass Europa eher
zu viel regelt als zu wenig. Deshalb hat Deutschland ge-
meinsam mit anderen Staaten, die das ähnlich sehen, im
Zuge der Bildung der neuen Kommission zahlreiche
Vorschläge gemacht, wie wir auch in Europa Bürokratie
reduzieren können.

Der Vizepräsident Frans Timmermans hat jetzt selbst
ein Konzept vorgelegt, das ebenfalls mehr Kontrolle und
ein mit mehr Rechten ausgestattetes Kontrollgremium
vorsieht. Das Ganze wird gerade kritisch im Europäi-
schen Parlament diskutiert. Ich kann für die Bundesre-
gierung sagen – ich hoffe, ich habe dabei die Unterstüt-
zung des ganzen Hauses –, dass wir uns wünschen, dass
zumindest das, was Frans Timmermans zum Bürokratie-
abbau in Europa vorgeschlagen hat, umgesetzt wird. Es
darf gerne mehr sein, aber sicher nicht ein Jota weniger.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir gehen nicht nur die Regelungsvorhaben der Bun-
desregierung durch, um zu schauen, an welchen Stellen
wir Bürokratie abbauen können, sondern wir befragen
auch Bürger und Unternehmen. In diesem Jahr befragen
wir über 7 000 Bürger und über 3 000 Unternehmen
nach der praktischen Bürokratiewirkung in wichtigen
Lebenslagen, zum Beispiel bei der Einstellung eines
Mitarbeiters oder bei der Anmeldung eines neugebore-
nen Kindes. Wir wollen wissen, was Unternehmer und
Bürger im Alltag wirklich belastet. Mit diesem Lebens-
lagenkonzept schließen wir eine Lücke. Bisher haben
wir im Wesentlichen auf die Kosten geschaut. Durch
diese Befragung erfahren wir nun mehr über den Zeit-
aufwand, über die gefühlte Bürokratie und über die
Dauer von Verfahren.

Wir schauen also unter diesen Gesichtspunkten auf
unsere neuen Gesetzentwürfe. Damit sind wir – ich habe
es gesagt – Weltmarktführer. Jeder Spiegelstrich eines
neuen Gesetzes wird haargenau bilanziert. Dafür können
wir dem Statistischen Bundesamt nur dankbar sein. Dass
dieses Vorgehen Erfolge zeitigt, wird daran deutlich,
dass wir den Bürgern in Deutschland im letzten Jahr
quasi 8 Millionen Stunden Zeit zurückgegeben haben.
Ich glaube, das ist eine gute Botschaft, auch wenn wir im
Bereich der Wirtschaft noch große Aufgaben vor uns ha-
ben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)






Staatsminister Dr. Helge Braun


(A) (C)



(D)(B)

Es ist noch viel zu tun. Meine Kollegin Frau Gleicke
hat es eingangs angesprochen: Eine Gruppe, die uns bei
diesem Bürokratieentlastungsgesetz besonders am Her-
zen liegt, sind die jungen Unternehmen. Wir diskutieren
über die Gründungskultur in unserem Land und darüber,
wie wir es schaffen können, dass mehr Menschen den
Mut haben, ein Unternehmen aufzubauen. Wir können
feststellen, dass diese Unternehmen, gerade wenn es um
Hoch- und Spitzentechnologie geht, viele Menschen ein-
stellen, sehr große Erfolge erzielen und in Krisenzeiten
wesentlich stabiler sind als andere. Deshalb müssen wir
den Gründergeist in Deutschland fördern.

Dieses Bürokratieentlastungsgesetz sieht vor – wir
sind alle Gesetze durchgegangen –, dass junge Unter-
nehmen in den ersten drei Jahren nach Möglichkeit von
Berichtspflichten entlastet werden. Wir haben aber auch
festgestellt, dass man jungen Unternehmen nicht alle Be-
richtspflichten ersparen kann. Die Berichtspflichten, die
wir ihnen ersparen können, ersparen wir ihnen jedoch.

Zum Schluss möchte ich noch einen Vorschlag unter-
breiten, einen Vorschlag, der nicht in diesem Gesetz-
entwurf stehen kann, weil er nicht allein vom Bundes-
tag beschlossen werden kann. Zur Umsetzung dieses
Vorschlags brauchen wir die Unterstützung der Länder
und der Kommunen. Das können wir nur gemeinsam
schaffen. Wir schlagen vor, dass wir uns auf allen staatli-
chen Ebenen auf das Prinzip verständigen, dass junge
Unternehmen, wenn sie in den ersten drei Jahren hin-
sichtlich der verbleibenden Berichtspflichten Fehler ma-
chen, beraten und nicht bestraft werden. Das wäre,
glaube ich, ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der
Gründungskultur in Deutschland.

Ich bedanke mich bei Ihnen allen für die Unterstüt-
zung beim Bürokratieabbau. Wir haben viel getan, aber
es ist auch noch viel zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810901900

Thomas Gambke ist der nächste Redner für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wer hat als Bürger nicht
schon mal gestöhnt beim Ausfüllen einer Lohnsteuerer-
klärung oder beim Anmelden des Autos? Auch Unter-
nehmen melden immer wieder zurück: Bürokratieabbau
steht auf Platz Nummer eins oder zwei der Dinge, die
wir als Politiker im Auge haben sollten. Insofern ist die-
ses Gesetz sehr wichtig; das ist schon gesagt worden.
Eine Debattenzeit von 96 Minuten ist angesichts der Be-
deutung dieses Themas durchaus gerechtfertigt, Herr
Schlecht. Wir müssen aber fragen: Ist das, was uns hier
vorgelegt wurde, genug? Ist das ambitioniert genug,
wenn man den Bürokratieabbau als so wichtiges Ziel be-
schreibt? Diesbezüglich melde ich ernsthafte Zweifel an.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In den letzten Jahren wurden Bürokratiekosten von
immerhin 12 Milliarden Euro abgebaut. Der Herr Staats-
sekretär hat es erwähnt: Der Normenkontrollrat hat dabei
eine wichtige Rolle gespielt; denn die Messbarkeit, die
der Normenkontrollrat herstellt, ist eine wichtige Vo-
raussetzung, um Veränderungsprozesse zu begleiten.
Aber Messbarkeit alleine, Herr Staatssekretär, ist nicht
genug. Sie müssen sich – jetzt wende ich mich an die
Große Koalition – auch Ziele setzen, und zwar ambitio-
nierte Ziele. Aber die setzen Sie sich nicht.

In der letzten Großen Koalition gab es das 25-Pro-
zent-Bürokratieabbauziel. Jetzt gibt es überhaupt kein
Ziel mehr. Das ist doch beschämend. Diese „One in, one
out“-Regelung, die gut klingt und sicher auch ein ver-
nünftiger Ansatz ist, ist nichts anderes als Rosstäusche-
rei. Der Kollege Fuchs hat dies mit seinen Ausführungen
sehr schön gezeigt. Herr Dobrindt sagt: Grüß Gott! Aber
die Maut wird aus die Regelung herausgenommen. – Sie
haben entschieden, dass alle Gesetze bis zum Sommer
dieses Jahres nicht unter die „One in, one out“-Regelung
fallen. Das ist doch eigentlich eine Täuschung. Sie täu-
schen den Bürger und uns.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Die führen uns hinter die Fichte!)


Sie haben jetzt, praktisch als Entlastung, Ihr Bürokra-
tieabbaugesetz vorgelegt. Wir wollen fair sein: Es ist
nicht schlecht. Es sind richtige Elemente dabei. Über-
flüssige Berichts- und Statistikpflichten werden abge-
schafft. Am Ende soll eine Entlastung von rund 750 Mil-
lionen Euro stehen. Auch wenn ich die präzise Angabe
von 744 Millionen Euro etwas anzuzweifeln wage,
möchte ich sagen: Das ist ein guter Ansatz. Aber schöp-
fen Sie das Potenzial aus?

Ich war von dieser Debatte wirklich überrascht. Ich
hatte etwas ganz anderes vorbereitet, nämlich auch die
Behandlung des Themas „Geringwertige Wirtschaftsgü-
ter“. Dazu gibt es einen Antrag von uns. Dem brauchen
Sie eigentlich nur zuzustimmen. Das kann mit drei Fe-
derstrichen gemacht werden. Herr Kollege Fuchs, ich
bin 1990 kaufmännischer Werkleiter geworden und habe
mich mit dem viel zu niedrigen Abschreibungsbetrag
von damals 800 DM, der aus dem Jahre 1964 stammt,
gequält. Mehr als 50 Jahre gibt es diese Schwelle schon.
Wir fordern, sie auf 1 000 Euro anzuheben. Schaffen Sie
außerdem endlich die Poolabschreibung ab! Steuerbera-
ter sagen dazu, sie sei ein Arbeitsbeschaffungspro-
gramm.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh ja! Das ist Bürokratie!)


Gerade die kleinen und mittleren Unternehmen, die Sie
ja anführen, fragen sich: Soll ich eine Poolabschreibung
oder eine Einmalabschreibung vornehmen? Was ist
günstiger? – Gerade kleine und neu gegründete Unter-
nehmen werden hier gequält.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)






Dr. Thomas Gambke


(A) (C)



(D)(B)

Aber Sie stellen sich hier hin und sagen: Herr Schäuble
will das nicht. – Es geht doch nur um Liquidität. Sie
sprechen immer von den sprudelnden Steuerquellen. Ja,
dann handeln Sie doch auch einmal entsprechend!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich war, wie gesagt, schon etwas verwirrt, dass Sie die-
sen Vorschlag nicht umsetzen.

Herr Fuchs, wir Grüne werden ja oft kritisiert.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Zu Recht! – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ungerechtfertigterweise im Übrigen!)


Wir werden kritisiert für unseren Ruf nach Kontrollen.
Aber ökologische und soziale Rahmensetzungen erfor-
dern Transparenz, und Transparenz erfordert schlicht
und einfach, dass man auch Kontrollen durchführt. Sonst
funktioniert das nicht; das wissen wir.

Wenn es um Bürokratie geht, steht an erster Stelle das
Finanzministerium. An zweiter Stelle steht das Justiz-
ministerium. Dann folgt das Gesundheitsministerium,
dann das Wirtschaftsministerium, und ganz zum Schluss
kommen das Umwelt- und das Arbeitsministerium; so ist
es. Wenn lamentiert wird, dass ökologische und soziale
Rahmensetzungen überbordende Bürokratie erfordern,
so entspricht dies schlicht und einfach nicht den Tatsa-
chen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vom Finanzministerium wurde über eine Gelangens-
bestätigung entschieden – nur die Unternehmen werden
wissen, was das bedeutet –, ein Monster, das zurückge-
nommen werden müsste. Herr Schäuble hat es fertigge-
bracht, bei der nahezu einzigen Änderung im Bereich
der Mehrwertsteuer, die übrigens das Europäische Parla-
ment an uns herangetragen hat, eine Ausnahme zu schaf-
fen, und zwar für Holzrückpferde.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Für was?)


– Für Holzrückpferde, Herr Heil; das sollten Sie sich
einmal ansehen. – Auch Hörbücher sind ausgenommen.
Hier hat man noch weiter differenziert und noch mehr
Bürokratie geschaffen. Gehen Sie endlich zu Ihrem Fi-
nanzminister, reden Sie mit ihm über die heutige Situa-
tion, und beschließen Sie Maßnahmen, die Sie umsetzen
können und dann auch umsetzen sollten!

Bei Selbstständigen – wir haben es gesagt – muss
man genau hingucken. Hier ist noch viel Raum für Ent-
lastung vorhanden. Allein eine Änderung bei den gering-
wertigen Wirtschaftsgütern soll nach Aussage des DIHK
rund 350 Millionen Euro bringen.

Wenn Sie sich hier also ambitionierte Ziele setzen,
dann sind wir dabei, und wenn Sie sie umsetzen wollen,
dann sind wir auch dabei. Reden Sie jetzt nicht, sondern
handeln Sie!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Machen wir ja gerade!)

– Nein.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810902000

Ich erteile dem Kollegen Hubertus Heil für die SPD-

Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1810902100

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Es gibt diesen schönen Satz: Wenn es nicht notwen-
dig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es nicht notwen-
dig, ein Gesetz zu machen.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Montesquieu!)


– Herr Kollege Grosse-Brömer ist belesen und weiß,
dass er von Montesquieu ist.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Nicht bei jedem Thema!)


Genau da liegt das Problem. Dieser schöne, einfache
Satz ist Gegenstand von Streitigkeiten, wenn es darum
geht, zu entscheiden, was notwendig ist. Es ist in einem
politischen Wettstreit aber auch vernünftig, darüber zu
debattieren, welche Gesetze notwendig sind: Ist es not-
wendig, ein Pkw-Maut-Gesetz zu machen, oder nicht?
Ist es notwendig, die Vorratsdatenspeicherung durchzu-
führen, oder nicht? Ist es notwendig, einen Mindestlohn
einzuführen, oder nicht? Das wird im demokratischen
Wettstreit immer auch Gegenstand von Diskussionen
sein.

Wir müssen uns nicht die Frage stellen, ob es notwen-
dig ist, dass der Gesetzgeber Regeln setzen darf, sondern
wir müssen die Frage stellen, ob sie verhältnismäßig
sind. Ist es überbordende Bürokratie? Drückt diese Bü-
rokratie die Menschen an die Wand? Nimmt sie den Un-
ternehmerinnen und Unternehmern Spielräume? Oder
gibt es auch Regelungen, die vernünftig sind?

Wenn man Befürworter eines starken und handlungs-
fähigen Rechtsstaates ist – ich bin das –, dann kommt
man nicht umhin, festzustellen, dass sich der Rechtsstaat
selbst ad absurdum führen würde, wenn er einen Wust an
Regeln aufbaut, den keiner mehr überblicken kann, an
dem die Menschen verzweifeln und der in der Realität
von den Menschen nicht mehr ernst genommen wird. Sie
sagen: „Das sind so viele Regeln, dass ich das gar nicht
mehr nachvollziehen kann“, und fragen sich, ob sie das
überhaupt noch ernst nehmen sollen. Für unser demokra-
tisches Gemeinwesen ist der Abbau unnötiger Bürokra-
tie ein notwendiger Schritt, um die Handlungsfähigkeit
und die Akzeptanz demokratischer Politik in unserem
Rechtsstaat zu stärken.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das gilt in besonderem Maße in Bezug auf die Wirt-
schaft in unserem Land. Wer mit Unternehmerinnen und
Unternehmern redet – mit kleinen und mittleren zumal –
und fragt, wo der Schuh drückt, der erfährt, dass sich die





Hubertus Heil (Peine)



(A)



(D)(B)

Prioritäten in vielen Bereichen binnen Jahresfrist oder
auch innerhalb von Jahrzehnten ändern. Topthemen sind
heute die Fachkräftesicherung und die Frage, wie es mit
den Energiepreisen und der Energiesicherheit weiter-
geht.

Ein Dauerbrenner seit vielen Jahren und Jahrzehnten
ist aber das Klagen über bürokratische Belastungen. Die
Relation – mein Vorredner von den Grünen hat sie zu
Recht genannt – dürfen wir an dieser Stelle nicht ver-
schweigen. Ungefähr 70 Prozent der Bürokratie, mit der
kleine und mittlere Unternehmen in diesem Land zu
kämpfen haben, ist Steuerbürokratie. Darauf komme ich
gleich noch einmal. Kollege Fuchs, diese Relation müs-
sen wir im Blick behalten.

Wir müssen über alles und auch über alle Bereiche re-
den. Auch die Sozialdemokraten stellen sich nicht schüt-
zend vor unnötige Bürokratie. Wir müssen darüber re-
den, was sozusagen der Schwerpunkt dessen ist, was
Unternehmen – vor allen Dingen auch Existenzgründer
und junge Unternehmer – belastet.

Deshalb ist dieser Gesetzentwurf heute ein Anfang
und ein wesentlicher Schritt in dieser Legislaturperiode.
Er reiht sich ein bisschen – Herr Kollege Braun und Frau
Kollegin Gleicke haben darauf hingewiesen – in eine
Tradition der letzten Großen Koalition ein. Damals ist der
Normenkontrollrat geschaffen worden, der den Gesetzge-
ber natürlich nicht ersetzen kann, der aber die Regierung
und vor allem das Parlament bei der Frage beraten kann,
ob Gesetze in Bezug auf den Erfüllungsaufwand verhält-
nismäßig ausgestaltet sind.

Bei aller Skepsis, die es damals bei der Etablierung
dieses Normenkontrollrates gegeben haben mag, sind
wir inzwischen alle miteinander froh, dass es ihn gibt. Er
sagt manchmal auch Dinge, die einem nicht schmecken,
weil man politisch anderer Meinung ist. Aber es ist ver-
nünftig, sich das anzuhören und sich als Parlamentarier
bei der Formulierung von Gesetzentwürfen ständig zu
fragen, ob es wirklich notwendig ist, das so auszugestal-
ten, oder ob es an der einen oder anderen Stelle nicht
eine Nummer kleiner geht.

Die Mittelstandsgesetze und der Normenkontrollrat
als Ergebnis der letzten Großen Koalition sind auch ver-
antwortlich dafür, dass wir jetzt diese Diskussion führen.
Viele Vorschläge des Normenkontrollrates hat Bundes-
minister Sigmar Gabriel aufgenommen, und es lässt sich
sehen, was wir an dieser Stelle schaffen.

Noch einmal: Ich behaupte nicht, dass das das Ende
der Fahnenstange ist, aber allein durch den Abbau von
Statistik-, Buchführungs- und Aufzeichnungspflichten
können wir die Unternehmen in diesem Land nach Be-
stätigung des Normenkontrollrates jährlich um 744 Mil-
lionen Euro entlasten. Das ist ein Stück Investitions-
anreiz in diesem Land – wenn Sie so wollen, ein
Konjunkturstimulus –, ohne dass wir in die Haushalts-
kasse greifen müssen. Das ist ein vernünftiger Schritt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir entlasten vor allen Dingen Existenzgründer und
junge Unternehmen von statistischen Meldepflichten.
Ich gebe zu: Auch in diesem Bereich kann und muss
man mehr machen. Wir haben beispielsweise über die
Rahmenbedingungen für Existenzgründungen und für
das Wachstum junger Unternehmen insgesamt zu reden,
Stichwort „Wagniskapitalgesetz“. Ich finde, auch in die-
sem Bereich ist das Bundesfinanzministerium mit in der
Verantwortung, dass wir vorankommen. Aber immerhin:
Der Abbau von Statistikpflichten hilft den Unternehme-
rinnen und Unternehmern, vor allem den jungen Leuten,
die sich in die Selbstständigkeit aufgemacht haben, ganz
konkret.

Des Weiteren ist die bereits angesprochene Bürokra-
tiebremse nach dem Prinzip „One in, one out“ vorgese-
hen. Herr Kollege Braun, ich nehme an, dass man diesen
Anglizismus deshalb verwendet, weil die Regelung aus
Kanada stammt. Ich gebe zu: Wir müssen damit Erfah-
rungen sammeln. Denn ich glaube, dass in vielen Minis-
terien erst durch die Praxis deutlich wird, was das tat-
sächlich bedeutet. Es ist sehr anspruchsvoll, in jedem
Ressort darauf zu achten, dass man für jedes neue Gesetz
den Erfüllungsaufwand ermittelt und ihn bei bestehen-
den Gesetzen entsprechend reduziert, und zwar mög-
lichst im selben Politikfeld. Das ist eine Selbstverpflich-
tung der Regierung – das steht außer Frage –; es hat für
den Gesetzgeber keinen Verfassungsrang. Aber es wird
hochspannend, zu sehen, was demnächst daraus an Ge-
setzesvorlagen der Regierung erwächst. Wir werden das
jedenfalls im Blick behalten.

Ich finde, das ist ein sehr spannender Ansatz, der nach
vorne weist. Manche wünschen sich eine rückwirkende
Geltung. Das ist bei Dingen, die man nicht mag, poli-
tisch verständlich. Ob die Pkw-Maut dauerhaft Bestand
hat, entscheidet wahrscheinlich nicht die „One in, one
out“-Regelung, die, wie gesagt, nicht rückwirkend wirkt.
Die Pkw-Maut ist jetzt Gegenstand der Diskussion auf
europäischer Ebene. Das Ergebnis bleibt abzuwarten.

Wir haben mit dem Prinzip etwas etabliert, was sich
sehen lassen kann. Ich bin sehr gespannt, wie es in der
Praxis funktioniert.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Im Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf müssen
wir uns auch mit der Frage der geringwertigen Wirt-
schaftsgüter befassen. Ich stelle in dieser Debatte fest,
dass bis auf die Linken, die dazu offensichtlich keine
Meinung haben, alle Fraktionen übereinstimmend der
Meinung sind, dass in diesem Bereich eine Anpassung
notwendig ist. So habe ich die Einlassungen des Kolle-
gen Fuchs verstanden, und die Kollegin Andreae hat es
ebenso ausgeführt wie die Kollegin Wicklein aus meiner
Fraktion, der ich übrigens sehr dankbar dafür bin, dass
sie sich seit vielen Jahren intensiv um das Thema küm-
mert. Sie alle haben völlig recht. 1964 war das Referenz-
jahr für die Möglichkeit, geringwertige Wirtschaftsgüter
mit damals 800 D-Mark – das entspricht etwa 400 Euro –
abzusetzen. Eine Änderung in diesem Bereich könnte
tatsächlich auf einen Schlag einen Stimulus für Investi-
tionen geben. Das ist nämlich zurzeit unser Hauptthema.
Wir setzen ganze Kommissionen ein, die sich mit der

(C)






Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)

Frage befassen, wie wir die öffentlichen, aber auch vor
allen Dingen die privatwirtschaftlichen Investitionen in
Deutschland unterstützen. Wir können und müssen hier
etwas tun.

Es ist richtig, dass es sich gesamtwirtschaftlich rech-
net, wenn wir an dieser Stelle ein bisschen lockerlassen.
Deshalb ist meine Bitte in der heutigen ersten Lesung,
dass wir uns im Gesetzgebungsverfahren diesen konkre-
ten Punkt vornehmen und sagen: Wir können und müs-
sen an dieser Stelle ein bisschen lockerlassen. – Die
SPD-Fraktion reicht auch der Unionsfraktion dazu die
Hand. Wir werden das auch im Rahmen der Anhörung
miteinander zu diskutieren haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810902200

Herr Kollege.


Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1810902300

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Ich hatte

am Anfang gesagt: Wenn ein Gesetz nicht notwendig ist,
ist ein Gesetz nicht notwendig. Wir werden weiter da-
rüber streiten, welche Gesetze notwendig sind. Es geht
um Freiraum für Bürgerinnen und Bürger und für die
Wirtschaft in diesem Land. Deshalb ist es ein ehrenwer-
tes Anliegen, und ich finde, dass wir heute einen großen
Schritt nach vorne gehen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810902400

Helmut Nowak hat nun das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Helmut Nowak (CDU):
Rede ID: ID1810902500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf giganti-
sche 200 Milliarden bis 300 Milliarden Euro jährlich
schätzt der Nationale Normenkontrollrat die gesamte
durch gesetzliche Auflagen verursachte Kostenbelastung
der Unternehmen in Deutschland. Das wurde bereits an-
gesprochen. Allein etwa 43 Milliarden Euro, so das Sta-
tistische Bundesamt, entfallen im Jahr 2015 auf Rege-
lungen der Bundesebene. Über 17 000 Einzelregelungen
gelten derzeit für Unternehmen und Bürger.

Keine Frage, ein hochentwickeltes staatliches Ge-
meinwesen wie die Bundesrepublik Deutschland benö-
tigt eine gut ausgebaute Bürokratie. Dennoch müssen
wir uns fragen, ob wir nicht hin und wieder zu viel des
Guten tun. Unternehmer und Freiberufler sollen sich
doch in erster Linie um ihre Unternehmung kümmern
und nicht so sehr um die Befriedigung der Statistik.

Angesichts der Unzahl an Berichtspflichten und Mel-
dungen, die bereits kleine Firmen heute zu bewerkstelli-
gen haben, lässt sich durchaus nachvollziehen, dass viele
Menschen in unserem Land schlicht keine Lust haben,
sich selbstständig zu machen. Sicher sind wir uns da-
rüber einig: Ein Land wie Deutschland benötigt eine
leistungsfähige, schnell arbeitende, transparente und vor
allem serviceorientierte Bürokratie. Alles andere wäre
zweifelsohne ein Standortnachteil.

In einer Welt, die zunehmend vernetzter arbeitet, in
der das Internet und digitale Datenverarbeitung Stand-
ortentscheidungen von Unternehmen – möglicherweise
auch zu unseren Ungunsten – erleichtern, können wir es
uns schlicht nicht leisten, Unternehmen und Unterneh-
mer mit unnötigen bürokratischen Belastungen zu be-
schweren und damit auch ihre Kreativität einzuschrän-
ken. Wir müssen aufpassen, dass wir neben hohen Lohn-
und Energiekosten nicht auch noch überbordende Büro-
kratiekosten produzieren.

Die Wichtigkeit des Themas Bürokratie und Bürokra-
tiekosten dringt zunehmend auch international in den
Vordergrund. Auf europäischer Ebene hat sich die neue
Kommission unter Jean-Claude Juncker eine schlankere
Verwaltung zum Ziel gemacht. Dass die bessere Recht-
setzung und der Bürokratieabbau direkt beim ersten
Vizepräsidenten der Kommission, Frans Timmermans,
angesiedelt wurden, ist sicherlich positiv. Denn das be-
deutet ja auch für uns gegebenenfalls weniger Bürokra-
tie.

Juncker hat recht, wenn er sagt: Nicht jedes Problem
in Europa ist ein Problem der EU. – Ölkännchen, Dusch-
köpfe und Fahrtenschreiber sind Paradebeispiele euro-
päischer Regelungsfantasie. In diesem Zusammenhang
freut es mich außerordentlich, dass Edmund Stoiber
seine höchst erfolgreiche Arbeit in Brüssel als Sonderbe-
rater für bessere Rechtsetzung fortsetzen kann.


(Zuruf des Abg. Herbert Behrens [DIE LINKE])


Immerhin hatten die Vorschläge seiner Kommission ein
Entlastungsvolumen von 41 Milliarden Euro. 33 Milliar-
den Euro davon konnten zwischen 2006 und 2012 tat-
sächlich schon als Entlastung verzeichnet werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


In Deutschland muss es uns künftig gelingen, die Er-
füllungsaufwandskosten für neue Gesetze noch frühzei-
tiger zu erkennen. Hilfreich wäre hierzu, wenn die
belastbaren Zahlen zum Erfüllungsaufwand gesetzgebe-
rischer Entscheidungen kurzfristig nach dem Kabinetts-
beschluss über den Normenkontrollrat zu uns kämen,
wenn wir als Abgeordnete auch Zahlen vom NKR bekä-
men, die bereits den zusätzlichen Erfüllungsaufwand
enthalten, der durch unsere Gesetzentwürfe entsteht. Zur
Politik gehört, dass man Dinge gestalten und verändern
möchte. Zur Grundlage jeder politischen Entscheidung
gehört aber meines Erachtens auch, dass man über die
Kosten seiner eigenen Wünsche und Entscheidungen un-
terrichtet ist. Außerdem wäre eine spätere Überprüfung
nach Beendigung des parlamentarischen Verfahrens auf
Grundlage der korrekten Kostenbasis wesentlich ge-
nauer.





Helmut Nowak


(A) (C)



(D)(B)

Wir wollen die Wirtschaft von unnötiger Bürokratie
befreien. Das Bürokratieentlastungsgesetz der Bundes-
regierung setzt an der richtigen Stelle an. Ein Schwer-
punkt dieses Gesetzes ist die Entlastung insbesondere
kleiner und mittlerer Unternehmen sowie von Existenz-
gründern. So werden mehr kleine Firmen als bisher von
Buchführungs- und Aufbewahrungsfristen befreit, was al-
lein Einsparungen in Höhe von – dies wurde schon mehr-
fach gesagt – über 700 Millionen Euro bringen wird. Exis-
tenzgründer sollen von Mitteilungs- und Meldefristen
entlastet werden. Hier ist eine effektive Entlastung not-
wendig. Ich freue mich besonders, dass für diesen Kreis
spürbare Entlastungen vorgenommen werden.

Entlastungen bedeuten dabei nicht – das klang hier
auch schon an –, dass Standards abgebaut oder notwen-
dige Kontrollen verringert werden müssen. Überhaupt
bedeutet Bürokratieabbau nicht, wie so häufig vorgehal-
ten, ein Weniger an staatlichem Schutz für Arbeitneh-
mer, Umwelt oder im Rahmen von Sicherheitsvorschrif-
ten. Wenn wir hier über Bürokratieabbau sprechen, dann
meinen wir ein Weniger an überflüssiger oder gänzlich
überholter Bürokratie.

Übrigens: Wenn wir derzeit bei anderen Ländern in
Europa den Abbau von bürokratischen Hemmnissen for-
dern, um die Wirtschaft anzukurbeln, dann bleibt anzu-
merken, dass es nicht unbedingt nachvollziehbar ist, dass
wir im Koalitionsvertrag zwar ein quantitatives Kos-
tenabbau- oder Kostenbegrenzungsziel auf europäischer
Ebene für richtig halten, uns selbst aber national ein sol-
ches Ziel für diese Wahlperiode noch nicht gegeben ha-
ben.


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wohl wahr!)


Seit 2006 gab es in Deutschland immerhin Bürokratieab-
bau in einer Größenordnung von 12 Milliarden Euro für
die Wirtschaft. Lassen Sie uns diesen erfolgreichen Weg
weitergehen.

Einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung geht
die Bundesregierung auch mit der Einführung der „One
in, one out“-Regelung oder Bürokratiebremse. Kern die-
ses Ansatzes ist es, in gleichem Maße Belastungen abzu-
bauen, wie durch neue Regelungsvorhaben zusätzlich
entstehen. Das Ziel der Bundesregierung ist dabei, den
Anstieg von Belastungen dauerhaft zu begrenzen, ohne
politisch gewollte Maßnahmen zu behindern. Auch an-
dere europäische Länder gehen diesen Weg. Italien,
Frankreich, Spanien, Litauen und Portugal haben die
„One in, one out“-Regelung schon übernommen. Groß-
britannien will sogar gleich zwei alte Gesetze abschaf-
fen, wenn ein neues eingebracht wird. Manche reden
sogar vom Wegfall von drei, allerdings mit tausend Aus-
nahmen.

Um es vorwegzusagen: Meines Erachtens ist „One in,
one out“ bei genauerem Hinsehen kein Allheilmittel,
trotzdem ein wichtiger Schritt in Richtung Vermeidung
eines Bürokratieaufbaus. Gleichzeitig wollen wir aber
auch versuchen, unnötige Bürokratie abzubauen. Einer
aktuellen Studie vom Mai 2015 über „Bürokratie im
deutschen Mittelstand“ zufolge ist nur 1 Prozent der
400 befragten Mittelständler der Meinung, dass sie 2014
einen Rückgang der Bürokratie feststellen konnten, wäh-
rend 70 Prozent eine Zunahme beklagen. 96 Prozent hal-
ten die Anzahl der Gesetze und Verordnungen insgesamt
für zu hoch, 65 Prozent beklagen die schlechte Verständ-
lichkeit von Gesetzen. 73 Prozent fordern eine Verbesse-
rung der Zusammenarbeit von staatlichen Behörden und
Unternehmen.

Da ist auch der neue Ansatz der Bundesregierung und
des
Dr. Helge Braun (CDU):
Rede ID: ID1810902600
Wo ist Bürokratie besonders unangenehm, nervig
und überflüssig? Nicht zuletzt nach vielen Gesprächen
mit Unternehmen und Verbänden weiß ich, dass für die
meisten Betroffenen die im Bürokratieentlastungsgesetz
aufgegriffenen Themen wichtige Probleme der Wirt-
schaft adressieren.

Gleichzeitig wird aber auch von fast allen Spitzenver-
bänden der deutschen Wirtschaft bemängelt, dass die hohe
Dichte an bürokratischen Regelungen und der damit ver-
bundene Kostenaufwand weitere Entlastungsschritte not-
wendig machen. Hierzu gehören beispielsweise die
Rücknahme der sogenannten Vorfälligkeit und eine Ver-
ringerung der Anforderung an Aufbewahrungspflichten
und viele weitere sinnvolle Vorschläge, die wir uns viel-
leicht in den nächsten Monaten noch einmal vornehmen
sollten.

Ich persönlich mache kein Geheimnis daraus, dass ich
mir noch weiter gehende Vereinfachungen wünsche. Ich
werbe daher bei jeder Gelegenheit – wirklich bei jeder Ge-
legenheit – nachdrücklich um die Anhebung der Pauschbe-
träge auf 1 000 Euro bei der Abschreibung für gering-
wertige Wirtschaftsgüter bei gleichzeitiger vollständiger
Abschaffung der Poolabschreibung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Inflationsbereinigt müssten es sogar 1 200 Euro sein.
Das wäre ein deutliches Signal an alle Unternehmen in
Deutschland, zumal die Anpassung des Pauschbetrages
schon seit über einem halben Jahrhundert aussteht. Wenn
Sie heute zum Beispiel ein Smartphone erwerben, müs-
sen Sie dieses über fünf Jahre und damit über eine deut-
lich längere Spanne abschreiben, als Sie das Handy
überhaupt gebraucht haben. Das entspricht weiß Gott
nicht der Lebenswirklichkeit.

Die Abschaffung der Poolabschreibung würde auch
die komplette Führung von Sachanlagekonten und Lis-
ten überflüssig machen, also eine echte Bürokratieent-
lastung für alle Unternehmen. Ich bin sicher, dass dies
mein Konterpart aufseiten unseres Koalitionspartners
genauso sieht. An dieser Stelle noch einmal herzlichen
Dank für die konstruktive Zusammenarbeit, liebe Frau
Kollegin Wicklein, die ich mit Ihnen gerne auch künftig
weiterführen möchte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)






Helmut Nowak


(A) (C)



(D)(B)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, zusammenfas-
send stelle ich fest: Der von der Bundesregierung vorge-
legte Entwurf eines Bürokratieabbaugesetzes ist für die
Betroffenen gut. Er führt in die richtige Richtung und ist
daher zu begrüßen. Wir sollten ihn sogar gemeinsam
noch ein Stück besser machen


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


und die Erhöhung des Pauschbetrages für GWGs auf
1 000 Euro unter Wegfall der Poolabschreibung in der
parlamentarischen Befassung noch mit aufnehmen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das wäre eine echte Win-win-Situation: Bürokratiekos-
tenentlastung nach Schätzung des DIHK von circa
385 Millionen Euro – diese Zahl wurde hier schon ge-
nannt –, die dann für Investitionen frei würden, und zwar
ohne Verringerung der Steuereinnahmen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810902700

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der

Kollege Matthias Heider.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Matthias Heider (CDU):
Rede ID: ID1810902800

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Meine Damen und Herren! Ich will zum Schluss
der Debatte gar nicht erst versuchen, alle guten Argu-
mente, die genannt worden sind, zu wiederholen. Sie
sind in meinen Augen völlig unstrittig.

Wir wissen alle, dass die Erwartungen des Mittelstan-
des und der Familienunternehmen in Deutschland an
dieses Gesetz und an die folgenden Gesetze hoch sind.
Alle Fraktionen dieses Hauses betonen immer wieder
gerne, dass der Mittelstand das Rückgrat der deutschen
Wirtschaft sei. Angesichts der Regelungsdichte in
Deutschland, die auch aus den verschiedenen Anträgen
hier im Hause spricht, bin ich mir nicht so ganz sicher,
wie ernst es der einen oder anderen Fraktion mit diesem
Vorhaben wirklich ist. Die Regelungsdichte ist so hoch,
dass die Bereitschaft, Unternehmer in diesem Land zu
bleiben oder zu werden, inzwischen relativ gering ge-
worden ist.

Wenn Sie einmal hier im eigenen Haus schauen wol-
len: Was sagt Ihnen die Zahl 14 838? Genau, das ist die
Anzahl der Drucksachen, die wir in der letzten Legisla-
turperiode hier produziert haben.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gefühlt waren es mehr!)


Es ist nicht so, als wären wir nicht auf diese Informatio-
nen angewiesen, aber unter diesen Drucksachen sind ei-
nige Hundert Gesetze und Gesetzesänderungen, die wir
hier verabschiedet haben.
Meine Damen und Herren, der Parameter guter Ge-
setzgebung bemisst sich nicht allein in der Bewertung
der Quantität. Wichtig ist die Qualität. Wichtig ist das,
was an Kosten verursacht wird. Wichtig ist die Abschät-
zung der Folgen. Bei der Abschätzung der Kosten haben
wir mit dem Standardkostenmodell eine Methode, mit
der wir relativ gut ermitteln können, wie die Belastung
der Wirtschaft ist.

Aber was ist eigentlich mit der Folgenabschätzung?
Schauen wir heute noch genug darauf? Das ist gerade für
Unternehmen, die beispielsweise in der Gründungsphase
sind, besonders wichtig. Wenn bei der Mittelstandsverei-
nigung der CDU vor kurzem in Berlin über 400 junge
Unternehmer, Gründer und Interessierte zusammenkom-
men und feststellen, dass die Zugangsvoraussetzungen
zum Markt der digitalen Wirtschaft bei uns so schlecht
sind wie in keinem anderen EU-Land, dann ist das ein
Alarmzeichen, das wir ernst nehmen sollten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Zukunft unseres Wirtschaftsstandortes hängt da-
von ab, ob wir es schaffen, ein positives Gründungs-
klima zu erzeugen, ob wir Menschen dafür begeistern
können, mit ihren Ideen für Arbeitsplätze und für Unter-
nehmensgründungen zu sorgen. Deshalb müssen wir an
dem Abbau der bürokratischen Hürden arbeiten. Estland
macht es uns beispielsweise vor. Dort ist eine Unterneh-
mensgründung online in weniger als 20 Minuten mög-
lich. Ich wage kaum, zu sagen, wie lange das hier in
Deutschland dauert.

Neben den Dokumentations- und Informationspflich-
ten, über die wir schon gesprochen haben, sind es gerade
auch die praktischen Probleme, die den Arbeitsalltag
erschweren. In Deutschland werden jährlich ungefähr
2,9 Milliarden Tonnen Güter per Lkw auf den Straßen
transportiert. In Nordrhein-Westfalen und in Baden-
Württemberg sitzt eine Anzahl von großen Anlagen- und
Maschinenbauern, die zum Teil wirklich große und
schwere Maschinen produzieren. Wenn diese eine solch
große Maschine auf die Reise zum Kunden bringen müs-
sen, dann stehen sie in aller Regel vor dem Problem,
dass die nächste Autobahnbrücke, die sie benutzen wol-
len, überhaupt nicht mehr für eine solche Gewichts-
klasse zugelassen ist. Das bedeutet, sie müssen auf Bun-
des- und Landstraßen ausweichen. Liebe Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen in diesem Zusammenhang
– da Sie immer wieder die Maut ansprechen –: Wir ge-
hören nicht zu denjenigen, die sagen, wir müssten keine
nutzergestützte Mitfinanzierung der Straßen haben. Wir
gehören auch nicht zu denjenigen, die sagen, eine halbe
Milliarde Euro sei wenig Geld, sondern wir gehören zu
denjenigen, die sagen, dass wir auch diejenigen an den
Kosten beteiligen müssen, die als auswärtige Teilnehmer
am Straßenverkehr durch Deutschland fahren.


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind die Lkw!)


Sie müssen einen Beitrag zu diesen Kosten leisten.





Dr. Matthias Heider


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wenn die Unternehmen dann die Landstraßen benut-
zen, stehen sie vor dem Problem, dass sie von jeder ein-
zelnen Gebietskörperschaft der 20 Kreise und kreisfreien
Städte, durch die sie fahren müssen, die Genehmigung
brauchen. Wenn die 16. oder die 17. Gebietskörperschaft
aus welchen Gründen auch immer dem Lkw-Transport
nicht zustimmt, dann fangen sie in Deutschland mit dem
ganzen Verfahren wieder von vorn an. Meine Damen
und Herren, auch das ist ein Beispiel dafür, wie Bürokra-
tie in Deutschland funktioniert.

Ein anderes kleines Beispiel ist, dass wir in Deutsch-
land für Lastkraftwagen immer noch das Samstagsfahr-
verbot während der Ferienzeit haben. Die meisten Urlau-
ber fahren freitags in den Urlaub. Samstags sind die
Autobahnen meist leerer als in der Woche. Das ist ein
Grund dafür, auch über dieses Verbot nachzudenken.


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat das jetzt mit Bürokratie zu tun?)


Es schmerzt, wenn man die vielen kleinen Beispiele
sieht. Noch mehr schmerzt es, wenn man die großen
Beispiele wie den Anlagenbau ansieht mit den Um-
weltauflagen und anlagespezifischen Auflagen, die er-
teilt werden; all das ist nicht dazu angetan, den Wirt-
schaftsstandort Deutschland attraktiv zu machen.

Meine Damen und Herren, eines muss man fairer-
weise sagen: Ein Großteil unserer Arbeitsvorlagen
kommt inzwischen aus Brüssel; Staatsminister Braun hat
dies bereits angesprochen. Vorgaben, die in deutsches
Recht zu transformieren sind, sind der Quell manchen
Übels. Ich will Ihnen gar nicht alle bekannten Beispiele
nennen.

Nur ein Beispiel ist die Richtlinie des Rates zur An-
gleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten
über vor dem Führersitz angebrachte Umsturzvorrich-
tungen für land- und forstwirtschaftliche Schmalspur-
zugmaschinen auf Rädern. Allein der Titel ist schon
lang. Die mehreren Hundert Seiten, die diese Richtlinie
umfasst, sind sicherlich nur eingeschränkt lesenswert.
Die Verordnung zur Einfuhr von Karamellbonbons ent-
hält übrigens über 25 000 Worte. Die amerikanische Un-
abhängigkeitserklärung kommt mit 300 Worten aus. Ein
weiteres Beispiel ist die EG-Maschinen-Richtlinie mit
Hinweispflichten betreffend die sichere Benutzung von
Rolltreppen. All dies gibt uns Fragezeichen bei der Bü-
rokratie auf. 21 000 EU-Verordnungen und Richtlinien
gibt es, niedergeschrieben in 24 Amtssprachen. Sie fül-
len ganze Regalreihen von Bibliotheken und verursa-
chen einen jährlichen Aufwand in Höhe von 124 Milliar-
den Euro in der Europäischen Union. Ob das sein muss
und ob das nicht im Rahmen der Folgenabschätzung be-
rücksichtigt werden kann? Unsere Bitte an Brüssel lau-
tet, dass dort etwas zur Entlastung der Unternehmen und
der Bürger in Europa getan wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Lassen Sie mich ein anderes Beispiel nennen. Hier
können gerade Sie von der Fraktion der Grünen zeigen,
dass Sie es mit der Entlastung des Mittelstandes in
Deutschland ernst meinen. Bei den vielfältigen Zulas-
sungsvorschriften, die bei den Freihandelsabkommen
angeglichen werden und zu weniger Aufwand führen
sollen, können Sie beweisen, dass Sie dahinterstehen.


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da machen wir sofort mit!)


Das ist ein Beispiel, das belegt, wie Sie konkret zur Be-
seitigung von Bürokratie beitragen können. Da haben
Sie uns an Ihrer Seite. Da werden wir Sie nach allen
Kräften unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann entschlackt mal!)


Ob der heutige Tag bei der Bürokratieentlastung eine
Sternstunde des Parlaments ist, entscheiden Sie und ich
nicht heute. Das wird die Zukunft zeigen. Wir werden
das bei der Gesetzgebung prüfen müssen. Wir werden
uns den Erfüllungsaufwand genauer ansehen müssen.
Hoffen Sie bitte nicht darauf, dass das Bundesverfas-
sungsgericht im Rahmen der Normenkontrolle unsere
Gesetze wegen des Erfüllungsaufwands aufhebt. In
Karlsruhe werden nur Rechtsverletzungen geprüft. Wir
müssen den Anspruch an unsere Arbeit haben, nachhal-
tige Gesetze zu verabschieden. Dieser Anspruch muss
für uns jeden Tag in diesem Haus gelten.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Darüber reden wir morgen noch einmal!)


Lassen Sie uns diese Chance nutzen! Lassen Sie uns die
Wirtschaft entlasten, sie von unnötigen Regelungen be-
freien und für ein investitionsfreundliches Klima in
Deutschland sorgen! Das ist unsere Aufgabe. Wir als
Union werden unseren Beitrag dazu leisten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810902900

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/4948 und 18/4693 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Also
sind die Überweisungen so beschlossen.

Dann rufe ich nun den Tagesordnungspunkt 4 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Luise Amtsberg, Ekin Deligöz, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

In die Zukunft investieren – Asylsuchende auf
ihrem Weg in Arbeit und Ausbildung unter-
stützen

Drucksache 18/5095





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

Auch hierzu ist eine Aussprachedauer von 96 Minu-
ten vorgesehen. – Ich erkenne keinen Widerspruch.
Dann ist das so vereinbart.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Katrin Göring-Eckardt für die Antragsteller.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wir sprechen heute über die Verbesserungen beim Ar-
beitsmarktzugang von Flüchtlingen, von Ausbildung
statt Abschiebung. Wir hatten in der Sitzung unserer
Bundestagsfraktion am letzten Dienstag Leoluca
Orlando, den Bürgermeister von Palermo, zu Gast. Wie
Sie wissen, ist Süditalien eine der strukturschwächsten
Regionen. Die Arbeitslosenquote liegt dort bei 21 Pro-
zent. Insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit ist sehr
hoch. Bis Anfang Juni waren schon 103 Menschen per
Boot über das Mittelmeer in griechische und italienische
Hoheitsgewässer gelangt. Der Bürgermeister von Pa-
lermo, der vor Ort wirklich eine riesige Leistung erbrin-
gen muss, hat zum Thema Flüchtlinge einen Satz gesagt,
den ich von vielen deutschen Politikern gerne hören
möchte: Es gibt kein Flüchtlingsproblem, sondern ein
Problem im Umgang mit Flüchtlingen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Deutschland macht sich seine Probleme im Umgang
mit Flüchtlingen selbst. Die deutschen Probleme im Um-
gang mit Flüchtlingen stammen eigentlich noch aus
dem Jahr 1993 mit der Einführung der Drittstaatenrege-
lung und des Asylbewerberleistungsgesetzes. Aus die-
sem Geist stammt das gescheiterte Dublin-Regime – das
gibt inzwischen auch der Bundesinnenminister zu –, das
Italien und Griechenland mit den Mittelmeerflüchtlingen
alleinlässt. Aus eben diesem Geist stammen auch die ar-
beitsmarktpolitischen Beschränkungen. Die Flüchtlinge
könnten ja Arbeitsplätze wegnehmen, Probleme machen
oder gar einen dauerhaften Aufenthalt hier erlangen. Wir
müssen uns endlich von diesem Geist lösen. Wir sind
längst weiter in dieser Republik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Dafür reicht es nicht, den Zugang zu Arbeit auf dem
Papier zu öffnen, wenn dann doch ein bayrischer Land-
rat diesen Zugang verweigern kann. Es braucht Deutsch-
kurse von Anfang an, das heißt Zusagen des Bundes für
diese Deutschkurse, es braucht Zugang zu Sprache, da-
mit tatsächlich Arbeit aufgenommen werden kann; denn
Arbeit und Sprachkenntnisse sind die Garanten für gutes
Zusammenleben in unserem Land. Das wollen wir, das
müssen wir auch wollen. Dafür legen wir heute unsere
Vorschläge vor.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Erste ist, dass wir mehr Berater in den Arbeits-
agenturen verlangen; denn die Bundesregierung hat sich
zwar mit Mühen bei der Arbeitserlaubnis bewegt, aber
sie hat vergessen, die Arbeitsverwaltung auch mitwach-
sen zu lassen. Das bedeutet, dass diese Integration nur
sehr bedingt stattfinden kann. Nur dann, wenn es direk-
tes Engagement vor Ort gibt, das an vielen Stellen da ist,
das alleine aber nicht hilft, und wenn genug Personal
vorhanden ist, kann es gelingen, eine wirkliche Struktur
aufzubauen.

Wir fordern Sprachkurse, und zwar für alle Schutzsu-
chenden vom ersten Tag an. Eine größere Hürde für den
Zugang zum Arbeitsmarkt für Flüchtlinge als die fehlen-
den Sprachkenntnisse gibt es nicht. Ehrlich gesagt, was
das Goethe-Institut weltweit macht, wollen wir hier in
Deutschland doch nicht verweigern. Das ist doch völlig
unvernünftig, das versteht doch niemand.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Es ist so: Asylsuchende und Geduldete sind bislang
von all diesen Angeboten ausgeschlossen. Sie sind es
zum Teil monatelang, sie sind es zum Teil sogar jahre-
lang; denn das Bundesamt hat nach wie vor nicht ausrei-
chend Personal, trotz aller Bemühungen, die da unter-
nommen worden sind. Wir müssen uns vor Augen
halten: Wir haben im Moment einen Antragsstau von
200 000 Asylanträgen. Da geht es um Menschen, die
Monate warten, um angehört zu werden. Gleichzeitig
werden Monate verschwendet, um sich hier einzuleben
und wirklich hier anzukommen. Das ist und bleibt doch
absurd. Wir lassen Potenziale verkümmern. Warum ei-
gentlich?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es geht weiterhin um die Anerkennung ausländischer
Abschlüsse, die unbürokratisch laufen muss. Es geht da-
rum, dass wir nach- und weiterqualifizieren. Auch dafür
braucht es Geld. Das ist allerdings wirklich gut investier-
tes Geld, gerade angesichts des Fachkräftemangels.


(Beifall der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir und Sie stehen dabei an der Seite der Unternehmen,
des Handwerks, der IHK, die zu Recht fordern, dass
Flüchtlinge während der Ausbildung vor einer Abschie-
bung geschützt sind. Dass dem immer noch nicht so ist,
ist und bleibt absurd.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Da will ich Ihnen mit ein paar Zitaten helfen: „Den
Flüchtlingen, die in unserem Land Zuflucht suchen, soll-
ten wir eine Perspektive geben.“ – Das fordert der Präsi-
dent des Deutschen Industrie- und Handelskammertags,
Eric Schweitzer, und setzt sich deshalb dafür ein, dass es
einen schnelleren Arbeitsmarktzugang und einen huma-
nitären Ausbildungsaufenthalt gibt. Erwerbstätigkeit ab
Erteilung der Duldung ohne Vorrangprüfung, das fordert
der Präsident des BDA, Ingo Kramer. Der Chef des Insti-





Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

tuts der deutschen Wirtschaft in Köln, Michael Hüther,
erklärt:

Besonders problematisch ist es, wenn Flüchtlinge
mit negativem Asylbescheid für einen Wechsel in
die Arbeitsmigration (etwa über die Blaue Karte)

erst wieder ausreisen müssen, um einen Visuman-
trag zu stellen. Warum wird der Statuswechsel nicht
einfach hier vor Ort ermöglicht?

Hier wäre der Schulterschluss mit der Wirtschaft
nicht nur angebracht, er wäre vernünftig, und er würde
tatsächlich allen helfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen erwarte ich Bewegung, und zwar von allen
und auf allen Seiten. In diesen Tagen wird zwischen
Bund und Ländern weiter verhandelt. Sie müssen hier
endlich liefern. Ich erwarte aber vor allem auch echte
Bewegung von der SPD. Rhetorisch sind die Sozialde-
mokraten immer an der Spitze der Bewegung. Wenn es
um die Verbesserung der Lage der Auszubildenden geht,
überbieten sich die Ministerpräsidenten der SPD in For-
derungen. Einen entsprechenden Gesetzentwurf aus dem
Hause von Frau Nahles gibt es nicht.


(Daniela Kolbe [SPD]: Das stimmt doch so nicht!)


Sigmar Gabriel schafft es sogar, in Flüchtlingsfragen
Opposition und Regierung in einer Person zu sein. Das
muss man erst einmal hinkriegen. Angesichts von
Schlagzeilen wie „Sigmar Gabriel fordert rasche Lö-
sung“ oder „Sigmar Gabriel fordert einen Aufstand der
Zuständigen“ frage ich: Ja, liebe Leute, wer ist denn zu-
ständig? Zuständig ist ja wohl die Bundesregierung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Zuständig sind damit der Vizekanzler dieser Bundesre-
gierung und das Bundesarbeitsministerium. Die zustän-
dige Ministerin stellt die SPD.

Dass das Wirtschaftsministerium sich nicht um das
schert, was die Vertreter der Wirtschaft sagen, das ist
wirklich ein Armutszeugnis. Hören Sie auf mit dem Ge-
dröhne, und handeln Sie endlich. Hier lohnt es sich ein-
mal, zu kämpfen, und zwar richtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ja, alle Beteiligten müssen an einen Tisch, und dazu
gehört es, dass die Kommunen endlich nicht mehr am
Katzentisch sitzen. Dazu gehört es, dass diejenigen, die
die Hauptlast tragen und die es in den allermeisten Fäl-
len wirklich gut machen, auch tatsächlich einbezogen
werden.

Dass Sie es immer noch nicht geschafft haben, die
Zusage vom letzten Jahr umzusetzen und die Gesund-
heitskarte auf den Tisch zu legen, auch das ist ein Ar-
mutszeugnis, und es schafft nicht gerade Vertrauen, nicht
zwischen Bund und Ländern, nicht, was die Bürgerinnen
und Bürger angeht, die sich da engagieren. Diese Zusage
müssen Sie einhalten, weil es um das geht, was die
Flüchtlinge am allermeisten brauchen, nämlich Gesund-
heitsschutz. Vielleicht sollten Sie einmal auch nur ein
paar Tage mit denen mitgehen, die in den Kommunen
Unterkünfte suchen, die sich darum kümmern, Trauma-
experten zu finden, die Leute einspannen, die ehrenamt-
lich Sprachkurse anbieten.


(Daniela Kolbe [SPD]: Also komm! Das machen wir! Unterstell uns das mal nicht! Voll daneben! – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/ CSU]: Das tun wir! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Glauben Sie, da waren wir noch nicht? Ich habe mit ihnen geredet!)


Ich kann nur sagen: Wenn das so weitergeht, dann
vergeigen wir das, was wir eigentlich zu Recht „natio-
nale Aufgabe“ nennen. Solange man dieses Problem
nicht versteht und solange man die Flüchtlinge immer
noch als Problem versteht, hat man leider das Problem
insgesamt nicht verstanden. Bewegen Sie sich, und zwar
richtig. Gerade wenn es um den Zugang zu Sprache, zum
Arbeitsmarkt und zu Gesundheit geht – darum geht es
jetzt und hier –, können Sie handeln, und zwar schnell.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810903000

Für die CDU/CSU-Fraktion erhält nun Sabine Weiss

das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Sabine Weiss (CDU):
Rede ID: ID1810903100

Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-

legen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ja, Frau Göring-
Eckardt, es ist richtig: Die Integration der zu uns kom-
menden Menschen als Asylsuchende und Flüchtlinge in
Gesellschaft und Arbeit ist von höchster Bedeutung. Ja,
es ist richtig: Spracherwerb und Anerkennung berufli-
cher Qualifikation sind wichtig; denn sie sind die Grund-
lage für eine erfolgreiche Integration. Deshalb bin ich
froh, dass wir dieses wichtige Thema heute diskutieren.

In der letzten Woche haben Sie, Frau Pothmer, in der
Presse schon ordentlich für Ihren Antrag getrommelt. Da
enthielt er allerdings noch konkrete Finanzforderungen
von insgesamt 520 Millionen Euro. Heute wird uns da-
gegen ein eher weichgespülter Antrag präsentiert, in des-
sen Begründung nur noch von einem jährlich dreistelli-
gen Millionenbetrag für die Sprachförderung die Rede
ist.

Möglicherweise ist Ihnen mittlerweile bewusst ge-
worden, dass Sie von der aktuellen Entwicklung längst
eingeholt sind.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Daniela Kolbe [SPD])


Konkret: Heute Abend wird im Kanzleramt das Thema
Asyl- und Flüchtlingspolitik gemeinsam mit allen Minis-
terpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Bundes-
länder – das ist der richtige Weg – beraten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)






Sabine Weiss (Wesel I)



(A) (C)



(D)(B)

Wir wissen – auch das müssen Sie uns nicht sagen –,
dass die weltweiten Flüchtlingsströme noch nie so groß
waren wie jetzt. Wir wissen auch, dass immer mehr
Menschen auf dem Weg nach Europa sind. Sie wollen in
Sicherheit leben und wollen fern von Bürgerkriegen und
Krisen eine sichere Existenz. Aber die für uns als Ziel-
land vieler Flüchtlinge entstehenden Herausforderungen
müssen eben Bund, Länder und Kommunen gemeinsam
stemmen. Das Konzept dazu wird heute im Kanzleramt
abgestimmt. Dabei werden Maßnahmen für alle Flücht-
linge, Asylsuchende und Geduldete verabredet. Es geht
dabei um ein ganzes Bündel von Maßnahmen: Sprach-
kurse, Fragen der Bildung und Berufsvorbereitung, Ar-
beitsmarktintegration, Unterbringung, Gesundheitsversor-
gung und Personalausstattung der beteiligten Behörden.

Aber schauen wir uns nun einige Forderungen aus Ih-
rem Antrag etwas genauer an.

Thema Sprachkurse. Sprachkurse gibt es bereits für
unterschiedliche Zielgruppen. Mittel dafür sind bis Ende
2016 eingestellt. Die Ministerin hat für die Zeit danach
bereits weitere Mittel beantragt und setzt sich darüber hi-
naus auch für ein Bundesprogramm Sprachkurse ein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Auch im Bundeskanzleramt werden heute Abend zusätz-
liche Finanzmittel für Sprachkurse ein wichtiges Thema
sein. Im Übrigen – das als deutlicher Hinweis von mei-
ner Fraktion – kann nicht verlangt werden, dass Sprach-
und Integrationskurse für alle Menschen, ungeachtet ih-
rer sicheren Bleibeperspektive, vom ersten Tag ihres
Aufenthaltes an angeboten werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Kerstin Griese [SPD])


Ein Beispiel: Es gab im Jahre 2014 rund 60 000 Asylbe-
werber vom Balkan, die zu 99 Prozent keine sichere
Bleibeperspektive in Deutschland erhalten. Sprachkurse
machen aber nur Sinn für die Menschen, die hier auf
Dauer leben werden. Dies entscheidet sich eben nicht
gleich am ersten Tag, sondern das braucht Zeit.

Thema „Qualifikation und Bildungsabschlüsse“. Die
zügige Anerkennung beruflicher Qualifikation ist Sache
der Länder. Im Kanzleramt wird auch heute wieder ge-
meinsam mit diesen über die Stellenaufstockung in den
zuständigen Behörden und deren adäquate personelle
Ausstattung verhandelt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Im Übrigen hilft zum Beispiel das Bundesprogramm zur
frühen Kompetenzanerkennung von Flüchtlingen, Mög-
lichkeiten zur Berufsanerkennung zu erschließen und zu
begleiten – und das ist nur ein Programm von vielen. Die
Überprüfung und Anerkennung von beruflichen Qualifi-
kationen sollten außerdem sehr sorgfältig betrieben wer-
den. Das braucht Zeit. Ich möchte – das am Rande be-
merkt – beispielsweise nicht von einem Zahnarzt
behandelt werden, der in Wahrheit nicht den notwendi-
gen Berufsabschluss hat. Es ist also eben kein reflexhaft
populistisches Handeln gefragt, sondern es geht um
Rechtssicherheit für potenzielle Arbeitgeber und deren
Kunden, aber auch für die künftigen Arbeitnehmer
selbst. Wir wollen nicht, dass Arbeitgeber Zuwanderer
und Flüchtlinge nicht oder nicht mehr einstellen, weil sie
Stress, Haftungsfragen, Rechtsunsicherheit und zusätzli-
che Belastungen fürchten. Denn da gäbe es letztlich nur
Verlierer.

Lassen Sie mich aber noch auf einige Aspekte mit
Blick auf die Entwicklungspolitik eingehen. In der Ent-
wicklungspolitik wird im Zusammenhang mit der wach-
senden Zahl von Flüchtlingen und Asylsuchenden im-
mer wieder über die Bekämpfung von Fluchtursachen
gesprochen. Damit ist nachhaltige Entwicklungspolitik
gemeint, also eine Politik, die die wirtschaftlichen und
sozialen Lebensbedingungen der Menschen in ihren
Herkunftsländern so stärkt, dass der Druck abnimmt, das
eigene Heimatland zu verlassen. Dazu gehört auch, dafür
zu sorgen, dass sich die gebildeten und ausgebildeten
Menschen nicht alle auf den Weg zu uns machen müs-
sen, sondern eine Chance erhalten, sich in ihren eigenen
Ländern eine auskömmliche Lebensgrundlage zu schaf-
fen. Damit werden dann auch wieder die Heimatländer,
die Herkunftsländer gestärkt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es gibt viele Länder, in denen durch die Abwande-
rung Fachkräftemangel entstanden ist: Mehr als ein Drit-
tel der in Südafrika ausgebildeten Ärzte verlässt das
Land wegen einer Arbeit im Ausland. In Kenia herrscht
Ärztemangel, weil kenianische Ärzte nach Großbritan-
nien auswandern. In Simbabwe bricht das Gesundheits-
system zusammen, während 18 000 Krankenschwestern
aus Simbabwe im Ausland arbeiten. Mehr als 20 Prozent
der Hochschulabsolventen in Mosambik und Angola ge-
hen nach der Ausbildung ins Ausland und stehen für den
nachhaltigen Aufbau in ihren Heimatländern nicht zur
Verfügung. All das kann nicht in unserem Interesse sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb brauchen wir einen ausgewogenen Ansatz
für den Umgang mit dem Zustrom von Menschen aus
dem Ausland. Ein solcher Ansatz muss die Interessen al-
ler betroffenen Menschen wahren, organisatorisch und
finanziell von den zuständigen Stellen umsetzbar sein
und negative Rückwirkungen auf die Herkunftsländer
vermeiden.

Jetzt noch einmal abschließend: Ein solches Konzept
für Deutschland wird heute beim Flüchtlingsgipfel be-
sprochen. Nicht allein der Bund ist hier in der Pflicht
und Verantwortung, sondern alle Akteure. Auch die Län-
der und die Kommunen müssen gleichgerichtet mitzie-
hen. Und da sind wir dann als Parlamentarier auch in
diesem Hause auf allen Ebenen gefragt.

Deshalb ist der Antrag der Grünen aus meiner bzw.
aus unserer Sicht – abgesehen von inhaltlicher Kritik –
einfach überflüssig und an dieser Stelle nicht sinnvoll.





Sabine Weiss (Wesel I)



(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja!)


Lassen Sie uns also gemeinsam mit den Bundesländern
den Einsatz des Bundeskanzleramtes unterstützen und
dafür in der Gesellschaft – jeder in seiner Region, in sei-
nem Wahlkreis – werben.

An dieser Stelle möchte ich die Gelegenheit nutzen
und es nicht versäumen, Dank an die vielen Menschen
überall in Deutschland auszusprechen, die sich ehren-
amtlich mit ganzem Herzen um alle Belange der Flücht-
linge und Asylsuchenden kümmern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich denke, da spreche ich auch im Namen meiner Kolle-
ginnen und Kollegen. Dieses Engagement ist mit keinem
Geld zu bezahlen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1810903200

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine

Zimmermann für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810903300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Frau Weiss, ich weiß nicht, woher Sie die Ge-
wissheit nehmen, dass heute Abend beim Kanzleramts-
gipfel etwas herauskommen wird. Ich bin mir gar nicht
so sicher, dass sich die Regierung bewegen und den
Kommunen mehr finanzielle Unterstützung – vor allen
Dingen in den Bereichen Unterbringung und Gesund-
heit – geben wird. Denn da gibt es große Probleme.
Wenn Sie sich das vor Ort anschauen würden, würden
Sie auch wissen, dass es so ist.


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Das tun wir!)


– Nein, ich glaube eher nicht, dass Sie die Realität ken-
nen.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Unterstellen Sie doch nichts! Was wir tun und was nicht, können Sie doch gar nicht wissen! Unverschämt!)


Meine Damen und Herren, Menschen kommen aus
Not nach Deutschland. Viele von ihnen beantragen Asyl,
weil es für sie lebensgefährlich ist, in ihre Heimatländer
zurückzukehren. Das gilt auch für Mohamed Moussa aus
Syrien. Der schreibt in seiner Geschichte:

Ich bin 41 Jahre alt. … Ich bin Kardiologe. Ich bin
wegen des Kriegs in Syrien nach Deutschland ge-
kommen. Ich hatte einen sehr guten Job in Syrien,
deswegen habe ich nie daran gedacht, nach
Deutschland zu gehen. … Und so habe ich es … ge-
macht. Weil es keinen anderen Weg gab.
Er ist verheiratet und hat vier Kinder. Seine Kinder und
die restliche Familie sind noch in Jordanien. Er ist der
Erste, der jetzt hierherkommt, und er hofft, dass seine
Familie bald nachkommen wird.

Viele verlassen schweren Herzens ihre Heimat und
begeben sich auf eine gefährliche Reise. Nach vielen
Umwegen in Deutschland angekommen, beantragen sie
Asyl, wollen ein neues Leben beginnen und durch ihrer
Hände Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie stel-
len dann aber fest, dass ganz hohe Hürden vor ihnen lie-
gen. Wir alle hier im Saal sollten uns vielleicht einmal
für einen Moment in ihre Lage versetzen und darüber
nachdenken, wie es für uns wäre, wenn wir in der glei-
chen Situation Hilfe und Unterstützung bräuchten.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es braucht Gesetze und Regelungen, die denjenigen
Menschen, die bei uns Schutz, Zuflucht und eine neue
Heimat suchen, helfen und sie nicht weiter ausgrenzen.
Genau deshalb fordert die Linke bei der Aufnahme von
Flüchtlingen eine Integration von Beginn an. Das, was
jetzt hier geschieht, sollte nicht stattfinden.

Wir brauchen auch eine ehrliche Debatte. Wir können
davon ausgehen, dass der größte Teil der Menschen, de-
ren Asylantrag bewilligt wurde oder die geduldet sind,
dauerhaft in Deutschland bleiben wird. Wir als Linke sa-
gen: Unterstützung und Solidarität ist das Gebot der
Stunde, meine Damen und Herren!


(Beifall bei der LINKEN)


Wir sagen, dass die Menschen, die hierherkommen,
eine große Bereicherung für uns sind. Sie bringen viele
unterschiedliche Kenntnisse, Erfahrungen und Fähigkei-
ten mit. Wir alle gemeinsam müssen eine Willkommens-
kultur schaffen, damit Nachbarn miteinander leben –
und nicht wie Fremde nebeneinander.

Lassen Sie mich nun zum Arbeitsmarkt kommen.
Ende letzten Jahres wurden zwar einige rechtliche Hür-
den für den Zugang zum Arbeitsmarkt abgesenkt – so
weit, so gut –, aber leider nur abgesenkt und nicht besei-
tigt. Das ist schlecht, und dazu hätte ich mir einiges
mehr im Antrag von den Kolleginnen und Kollegen der
Grünen gewünscht. Vieles geht in die richtige Richtung.
Das unterstützen wir. Dazu haben auch wir im Januar ei-
nen Antrag vorgelegt.

Das Arbeitsverbot wurde nicht abgeschafft, es wurde
nur die Frist von neun auf drei Monate abgesenkt. Aber
leider ist die Realität immer noch eine andere. Denn es
besteht weiter die sogenannte Vorrangprüfung, das heißt:
Wenn ein Flüchtling arbeiten will und einen konkreten
Arbeitsplatz in Aussicht hat, muss die Arbeitsagentur
oder das Jobcenter in den ersten 15 Monaten seines Auf-
enthaltes prüfen, ob es nicht andere EU-Bürgerinnen-
und -Bürger gibt, die diese Arbeit auch machen können.
Diese Regelung führt faktisch in die Nichtarbeit, so die
verantwortlichen Arbeitsvermittler. Das ist nicht hin-
nehmbar, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der LINKEN)






Sabine Zimmermann (Zwickau)



(A) (C)



(D)(B)

Aber selbst für diejenigen, bei denen die rechtlichen
Einschränkungen nicht greifen, gestaltet sich die Suche
nach einem Arbeitsplatz oder einer Ausbildung sehr
schwierig. Es gibt Unwägbarkeiten und Stolpersteine.
Wie sieht es konkret aus? Natürlich muss der erste
Schritt das Erlernen der deutschen Sprache sein. Aber
wir wissen: Nur eine Minderheit der Asylsuchenden be-
kommt die Möglichkeit, einen Sprachkurs zu machen.
Zu den Integrationskursen des Bundes haben sie grund-
sätzlich gar keinen Zugang. Die Bundesregierung muss
dafür sorgen, dass es endlich ausreichend Angebote und
ein Recht auf einen Sprachkurs gibt, meine Damen und
Herren.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Hinzu kommt bei vielen eine unsichere Perspektive.
Sie wissen oft lange nicht, ob sie wirklich bleiben dür-
fen. Sie alle können sich doch vorstellen, dass man,
wenn man von Abschiebung bedroht ist, in ständiger
Angst und ständiger Verzweiflung lebt. Wir fordern des-
halb schnelle und faire Asylverfahren und ein großzügi-
ges Bleiberecht für langjährig Geduldete. Es darf doch
nicht sein, dass die Menschen, die aus großer Not zu uns
kommen, hier dauerhaft in der Schwebe und in Unsi-
cherheit gehalten werden.

Ein großes Problem sind auch die unzureichenden
Verfahren zur Anerkennung der Qualifikationen und Be-
rufsabschlüsse. Wir sagen: Diese Verfahren müssen
frühzeitig ansetzen und leichter zugänglich sein.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Auch die Kosten von nicht selten über 1 000 Euro für
Gebühren und Übersetzungen sind für viele Betroffene
eine große Hürde. Sie muss abgeschafft werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Völlig unverständlich ist mir auch, dass Menschen, die
in Ausbildung sind, abgeschoben werden können. Hier
ist eine Änderung der Rechtslage überfällig. Das kann
man doch nicht so lange hinnehmen.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, leider muss ich an dieser
Stelle ein bitteres Fazit ziehen: Diese Bundesregierung
ist weit davon entfernt, Asylsuchenden und Geflüchteten
einen uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsleben in
Deutschland zu gewähren, von einem sicheren Blei-
bestatus ganz zu schweigen. Deshalb kann ich Ihnen sa-
gen, dass meine Fraktion keine Ruhe geben wird, dass
wir weiter Druck machen werden, bis sich die Verhält-
nisse so geändert haben, dass man mit Fug und Recht sa-
gen kann, dass es menschenwürdige Bedingungen für
Asylbewerberinnen und Asylbewerber gibt. Sie können
lachen, aber so ist es. Das ist für mich ein Zeichen, dass
Sie das nicht ernsthaft wollen.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810903400

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-

ordneten Daniela Kolbe, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1810903500

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen

und Kollegen! Vor fast genau einem Jahr stand ich hier
und habe zu genau diesem Thema eine Rede gehalten,
damals zur ersten Lesung des Entwurfs eines Gesetzes
zur Aufhebung des Arbeitsverbotes für Asylsuchende
und Geduldete. Unser Ziel war damals, Geflüchteten
eine möglichst frühzeitige Teilhabe an unserer Gesell-
schaft durch Integration auf dem Arbeitsmarkt zu er-
möglichen und die oft jahrelange erzwungene Untätig-
keit von Geduldeten zu beenden. Ich denke, wir alle
waren in den letzten Tagen in Unterkünften für Asylsu-
chende; wir wissen, dass genau das das Schlimmste ist.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: So ist es!)


Die Menschen wollen eigentlich keine Sozialleistung
haben, sie wollen für ihre Familien sorgen und arbeiten.
Mit diesem Gesetz haben wir ihnen das ermöglicht. Es
ist gut für die Betroffenen, es ist gut für die Unterneh-
men und für die Gesellschaft. Wir haben also eine ganz
klare Win-win-win-Situation geschaffen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Heute, ein Jahr später, stehe ich hier an der gleichen
Stelle und muss mich mit Blick auf den Antrag der Grü-
nen und das, was Katrin Göring-Eckardt jetzt gerade und
Frau Pothmer via Welt gesagt haben, des Vorwurfs er-
wehren, die Bundesregierung sei auf diesem Feld untä-
tig. So ein Quatsch!


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das wird wieder eine gute Rede!)


Was haben wir innerhalb dieses Jahres erreicht? Sehr
viel. Innerhalb eines Jahres haben wir die grundsätzli-
chen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Asylsu-
chende überhaupt arbeiten können. Das Gesetz ist erst
im November letzten Jahres verabschiedet worden und
im Dezember in Kraft getreten. Erst seitdem können Ge-
duldete und Asylsuchende nach drei Monaten Arbeit
aufnehmen. Nach 15 Monaten besteht auch keine Vor-
rangprüfung mehr, sondern nur noch die Gleichwertig-
keitsprüfung – was vollkommen in Ordnung ist, um
Ausbeutung zu verhindern.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meine Güte! Das ist jenseits jeder Realität!)


Jetzt muss ich sagen: Ich bin sehr oft, ja ständig bei mei-
ner BA, im Jobcenter und frage, ob das mit der Vorrang-
prüfung ein Problem ist. Ich bekomme da andere Ant-
worten als Sie.





Daniela Kolbe


(A) (C)



(D)(B)


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gehen Sie mal zu den Flüchtlingen!)


Wenn es nach meiner Fraktion ginge, könnten wir die
Frist von 15 Monaten gerne noch streichen. Aber das ist
nicht der Punkt. Die vorhandene gesetzliche Grundlage
ist wirklich gut.


(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alles ist gut, wollen Sie uns sagen!)


Wir müssen noch an der Umsetzung arbeiten – gar keine
Frage –, aber wir haben da Ende letzten Jahres einen
Riesenschritt gemacht.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Früher, das heißt vor einem halben Jahr, gab es ein
De-facto-Arbeitsverbot. Jetzt gibt es den Wunsch der ge-
samten Gesellschaft: Leute, die ihr hierherkommt und
Asyl sucht, geht arbeiten! – Das ist ein grundsätzlicher
Paradigmenwechsel in der Flüchtlingspolitik, den wir,
die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, er-
kämpft und erstritten haben und in den Koalitionsvertrag
hineinverhandelt haben, und wir haben ihn umgesetzt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mir ist an der Stelle ein Punkt sehr wichtig: Auch
wenn der Zugang zum Arbeitsmarkt für Flüchtlinge öko-
nomisch und sozial äußerst sinnvoll ist, reden wir beim
Thema Asyl über ein Grundrecht; wir unterscheiden im
Asylrecht nicht danach, ob jemand gut oder schlecht
ausgebildet ist, sondern danach, ob er oder sie verfolgt
ist oder nicht. Das wird so bleiben, und das ist auch gut
so.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Gleichzeitig ist es so: Wenn die Menschen einmal da
sind, dann sollen sie ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten
– das, was sie mitbringen – in unsere Gesellschaft ein-
bringen können. Frau Pothmer hat recht, wenn sie in der
Welt sagt – das steht auch im Antrag –, dass wir die Rah-
menbedingungen noch verbessern müssen, damit die
Menschen tatsächlich arbeiten können. Es liegt auf der
Hand, welche Punkte da anzugehen sind und auch schon
angegangen werden: Vermittlung von Sprachkenntnis-
sen, Anerkennung der Abschlüsse sowie Beratung und
Vermittlung. Das sehen wir auch so.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Also doch!)


Man muss kein Experte sein, um das zu erkennen. Das
wurde schon vor längerem erkannt: Die Bundesagentur
für Arbeit hat bereits Anfang 2014 ein Pilotprojekt auf
den Weg gebracht. Es heißt „Early Intervention“. Da ar-
beiten BA und BAMF an sechs Standorten zusammen.

Man fragt sich jetzt vielleicht: Warum die BA? Für
Feinschmecker: Es ist, wie alles in Deutschland, kompli-
ziert. Für Asylsuchende ist die Bundesagentur für Arbeit
zuständig; sie gehören also zum Rechtskreis des
SGB III. Wenn sie anerkannt worden sind, sind die Job-
center im Rechtskreis des SGB II zuständig. Es ist schon
ganz spannend, was wir da mit Menschen veranstalten,
die zu uns kommen. Das wäre durchaus eine Diskussion
wert.

Die BA fragt erst einmal: Was bringt ihr mit? Wir
wissen das nämlich gar nicht so genau. Angesichts des
Paradigmenwechsels vor einem halben Jahr müssen wir
hier tatsächlich noch viel verändern. Wir wissen heute
nicht, welche Ausbildung Flüchtlinge mitbringen. Sie
werden derzeit nur sporadisch gefragt, ob sie freiwillig
angeben möchten, welche Ausbildung sie haben. Im
Rahmen von „Early Intervention“ wird danach gefragt,
und dann wird direkt in die intensive Vermittlung einge-
stiegen.

Wir müssen uns solche Angebote anschauen, sie ver-
stetigen und erweitern. Das ist genau der Weg, den wir
gehen. Wir können aus den Zwischenergebnissen von
„Early Intervention“ lernen. Es gibt eine Zwischeneva-
luation, die man sich einmal anschauen kann. Das
Thema der Vorrangprüfung steht da nicht im Mittel-
punkt. Ein anderes Thema wird dort ganz massiv ange-
sprochen, nämlich die Frage der flächendeckenden Be-
reitstellung von Deutschkursen. Das ist der zentrale
Punkt, wenn es darum geht, die Menschen wirklich ver-
mitteln zu können.


(Beifall bei der SPD – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen! – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen!)


– Genau: Macht es doch! – Da sind wir auch dran. Es
geht einerseits um die Öffnung der Integrationskurse,
das heißt: Grundspracherwerb, damit ich mich draußen
verständigen kann, im Leben zurechtkomme. Im Bun-
desministerium des Innern wird derzeit über die Öffnung
der Integrationskurse debattiert. Es ist aus meiner Sicht
überfällig, dass auch Asylsuchende Zugang zu Integra-
tionskursen bekommen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Über die Details wird noch debattiert – das ist auch in
Ordnung –, aber ich denke, die Öffnung wird kommen.

Zweiter Punkt. Wir brauchen mehr Ressourcen für
berufliche Sprachkurse. Ich denke, wir alle hier im
Hause unterstützen die Forderung von Andrea Nahles,
mehr Ressourcen zur Verfügung zu stellen, sodass die
Ärzte Ärztedeutsch und die Ingenieure Ingenieurdeutsch
lernen können. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Auf-
gabe und gut investiertes Geld.


(Beifall bei der SPD)


Wir haben übrigens – das war eben auch ein Vor-
wurf – die Asylsuchenden bereits bei der gesetzlichen
Regelung der assistierten Ausbildung mit bedacht.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bedacht, aber nicht geöffnet!)


Auch asylsuchende junge Menschen haben Zugang zu
assistierter Ausbildung; das ist ein ganz wichtiger Punkt.
In Bezug auf das Bleiberecht sind wir in der Diskussion,





Daniela Kolbe


(A) (C)



(D)(B)

um einen gesicherten Aufenthalt für junge Geduldete zu
schaffen, wenn sie eine Ausbildung machen.


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Richtig!)


Wir tun hier jede Menge. Sie sehen: Es ist beileibe nicht
so, dass wir untätig wären, sondern der Zug ist in Bewe-
gung, und zwar genau in die richtige Richtung.


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Läuft alles!)


Sie können sich darauf verlassen, dass wir auch weiter-
hin Dampf machen werden.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810903600

Frau Kollegin, apropos Bewegung. Auf Parlaments-

deutsch gesagt: Die Redezeit ist leider abgelaufen.


(Beifall des Abg. Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Koalition hat eine Masse Zeit, –


Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1810903700

Das stimmt.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810903800

– aber versuchen Sie, zum Schluss zu kommen.


(Dr. Karamba Diaby [SPD]: Dein letzter Satz!)



Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1810903900

Gut. – Was soll ich sagen?


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Es läuft gut!)


Der Zug ist auf dem richtigen Gleis, und er wird ans Ziel
kommen. Sie können uns gerne dabei begleiten. Ich
denke, dass Sie viel Gelegenheit haben werden, uns Ap-
plaus zu spenden; denn eigentlich machen wir genau
das, was Sie in Ihrem Antrag fordern.


(Beifall bei der SPD)


Das ist Regierungshandeln oder Regierungsverhandeln.
Von daher: Gerne auch Applaus von Ihrer Seite.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810904000

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-

ordneten Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen. –
Bitte schön.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810904100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ver-

ehrte Frau Weiss, Ihre Rede hat vor allen Dingen eines
dokumentiert: Die CDU ist in dieser Frage immer noch
Teil des Problems und nicht Teil der Lösung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Die CDU handelt! – Michael Grosse-Brömer [CDU/ CSU]: Haben Sie die Rede der Kollegin gerade nicht gehört?)


Wenn Sie hier sagen, die Integration von Asylbewer-
bern und Flüchtlingen sei eine Aufgabe von Bund, Län-
dern und Kommunen, dann müssen Sie uns erklären, wa-
rum dann die Kommunen bei diesem Gipfel nicht einmal
am Katzentisch sitzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Das ist eine Frage der Länder! Fragen Sie in Nordrhein-Westfalen nach!)


Wenn sowohl Sie als auch Frau Kolbe hier sagen: „Es
ist doch alles gut“,


(Dr. Karamba Diaby [SPD]: Das hat sie nicht gesagt! Wir sind dabei!)


dann frage ich Sie, Frau Kolbe: Warum fordert dann Ihre
eigene Ministerin ein Sonderprogramm? Hat sie ihre
Rolle nicht verstanden? Sie ist nicht Opposition, sie ist
Regierung.


(Beifall der Abg. Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Sie soll keine Forderungen an sich selber stellen, sie soll
machen, verdammt noch mal!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Dr. Karamba Diaby [SPD]: Wir sind doch dabei! Wir sind auf dem Weg! Mannomann!)


Das, was wir Ihnen mit unserem Antrag vorlegen, ist
auch ein Investitionsprogramm in die Zukunft. Wir wol-
len in die Asylbewerberinnen und Asylbewerber inves-
tieren. Wir wollen sie unterstützen, damit sie einen Zu-
gang zu Ausbildung und Arbeit finden.


(Dr. Karamba Diaby [SPD]: Machen wir doch schon!)


Das ist gut für die Menschen, die vor Krieg, Elend und
Verfolgung flüchten, das ist aber auch gut für die Gesell-
schaft in Deutschland.


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Ja, genau!)


Es kann doch nicht nur darum gehen, dass die Menschen
hier überleben. Sie müssen hier ankommen, sie müssen
leben. Wenn sie hier leben wollen, dann gehört dazu,
dass sie hier arbeiten und hier ihren Lebensunterhalt ver-
dienen,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Ja, genau!)


und die Grundvoraussetzung dafür ist die deutsche Spra-
che.


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Ja, haben wir doch gesagt!)






Brigitte Pothmer


(A) (C)



(D)(B)

Wir müssen die Sprachkurse allen, aber auch allen Asyl-
bewerberinnen und -bewerbern von Anfang an zur Ver-
fügung stellen, und zwar unabhängig von der Bleibeper-
spektive, liebe Frau Weiss.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE])


Frau Kolbe, Sie sagen hier, dass wir doch schon so
viel geschafft haben. Ja, wir haben den erleichterten Ar-
beitsmarktzugang. Aber dieser Arbeitsmarktzugang läuft
doch ins Leere für diejenigen, die keinen Sprachkurs
machen, die kein Deutsch sprechen.


(Daniela Kolbe [SPD]: Nein, das stimmt so nicht!)


Auch bei der Anerkennung beruflicher Abschlüsse
muss unheimlich viel nachgesteuert werden: Immer
noch arbeiten die Asylbewerberinnen und Asylbewerber
unter ihrem Qualifikationsniveau. Das ist schlecht für
die Menschen, aber auch schlecht für uns hier in
Deutschland. Also: Da gibt es unheimlich viel zu tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn die Asylbewerber immer noch monatelang auf ei-
nen Termin im Jobcenter warten, dann bleibt der
Wunsch, hier einen Arbeitsplatz zu finden, doch ein
frommer Wunsch. Deswegen müssen wir da sehr, sehr
viel tun.

Unter den Flüchtlingen – das wissen Sie – sind viele
Fachkräfte. Die BA hat herausgefunden, dass ungefähr
die Hälfte eine akademische Ausbildung oder eine Be-
rufsausbildung hat. Bei dem Modellprojekt „Early Inter-
vention“ – das kein Modellprojekt bleiben darf – haben
40 Prozent der Teilnehmer einen Hochschulabschluss
und weitere 25 Prozent eine Berufsausbildung. Die Wirt-
schaft – Frau Göring-Eckardt hat es gesagt – hat längst
erkannt, dass hier ein enormes Potenzial ist. Wenn alles
so gut ist, wie es hier dargestellt wird, warum gibt es
dann die Forderung der IHKs, warum gibt es dann die
Forderung des Arbeitgeberverbandes, hier wirklich drin-
gend etwas zu tun?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich frage Sie, warum diese Behörde, die immer so zu-
rückhaltend ist, die Bundesagentur für Arbeit, mit massi-
ven Forderungen, da Verbesserungen herbeizuführen, an
die Öffentlichkeit geht. Sie weiß, es kommt darauf an,
die Flüchtlinge früh und schnell zu unterstützen. Natür-
lich kostet das Geld, aber ich sage Ihnen: Das ist wirk-
lich eine gute Investition in die Zukunft. Die Investition
in Fähigkeiten und Fertigkeiten zahlt sich mehrfach aus.

Ich sage Ihnen etwas, Frau Weiss: Diese Investition
zahlt sich sogar aus, wenn die Flüchtlinge in ihre Hei-
matländer zurückkehren. Sie von der Union sind doch
diejenigen, die immer, auch jetzt in Ihrer Rede, sagen:
Wir müssen die Bedingungen in den Herkunftsländern
so gestalten, dass die Menschen da nicht rausgedrängt
werden.


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Genau!)

Ja, aber es hilft doch, wenn sie dann in ihre Länder zu-
rückkehren mit neuen Kontakten, mit neuen Qualifika-
tionen.


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Wenn sie dann zurückkehren!)


Dann können sie mittun und die Bedingungen dort ver-
bessern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Welt ist nicht
gerecht: Meine Redezeit ist gleich abgelaufen.


(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Lassen Sie mich Folgendes – –


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810904200

Darf ich mal kurz korrigieren: Sie war schon abgelau-

fen.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: Gerechtigkeit wird anders interpretiert bei uns!)


Aber es gibt ja rhetorische Tricks. Sie dürfen noch weiter
sprechen.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810904300

Lassen Sie mich bitte noch sagen: Deutschland hat

einmal schwer versagt: als es um die Integration von
Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern und ihren Kindern
ging. Das ist uns teuer zu stehen gekommen, dafür zah-
len wir noch heute, sozial und ökonomisch.


(Dr. Karamba Diaby [SPD]: Immer gestern! Wir reden von heute!)


Lassen Sie uns diesen Fehler nicht wiederholen!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Stimmen Sie unserem Antrag zu, unterstützen Sie unsere
Forderungen!

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810904400

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-

ordneten Jutta Eckenbach, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Daniela Kolbe [SPD])



Jutta Eckenbach (CDU):
Rede ID: ID1810904500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau

Pothmer, als ich gerade Ihre Rede gehört habe und auch
die Äußerungen von Frau Göring-Eckardt, habe ich
mich gefragt: Wo waren Sie eigentlich in den letzten
Monaten, als wir etwas getan haben? Haben Sie sich
weggeduckt?





Jutta Eckenbach


(A) (C)



(D)(B)

Sie kommen heute mit einem Antrag und mit einer
Pressemitteilung, Frau Pothmer, die eigentlich wieder
nichts anderes macht, als die Welt – Sie machen sie sich
sowieso sehr einfach – in Gut und Böse einzuteilen: Die
Grünen sind bei Ihnen die Guten, und wir sind alle die
Bösen.


(Beifall der Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Nein, das werden wir nicht mitmachen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir waren in der Vergangenheit gut, und wir sind auch
heute gut.

Eines vorweg, was mich die ganze Zeit wirklich
wahnsinnig geärgert hat. – Wenn Sie mir zuhören wür-
den, könnten Sie an dieser Stelle auch noch etwas ler-
nen; denn Ihre Anträge weisen immer wieder aus, dass
Sie bestimmte Dinge vielleicht nicht verstehen. Das gilt
für Frau Göring-Eckardt, das gilt genauso für Frau
Pothmer; aber der Blick aufs Telefon ist im Moment,
glaube ich, wichtiger.

Machen wir uns in dieser Frage doch mal eines klar:
Wenn ein Flüchtling Deutschland erreicht hat, kommt er
in ein Aufnahmelager. Er hat vieles durchlebt, ist unter
Umständen traumatisiert oder wurde von der Familie
weggerissen. Und dann? Dann belegen wir ihn mit
Sprachkursen und der Forderung, eine Arbeit aufzuneh-
men. – Das alleine soll reichen? Nein, das reicht bei Gott
nicht. Deswegen werden wir Ihre Forderung – Sprach-
kurse von Anfang an – nicht aufgreifen. Es geht immer
darum, den einzelnen Menschen zu stabilisieren, ihn
mitzunehmen, damit er seine Fachkenntnisse hier ein-
bringen kann. Darum geht es.

Ich will noch einen Punkt ansprechen, den wir deut-
lich anders sehen als Sie – der DIHK und der Deutsche
Städtetag sehen das übrigens genauso wie wir –: Wir
sollten für die Menschen, die ein Bleiberecht haben und
für viele Jahre in Deutschland sind, besser Sorge tragen
und sie als Fachkräfte ausbilden. Ich will das, was die
Kollegin Sabine Weiss vorhin gesagt hat, deutlich unter-
streichen: Wir unterstützen die Forderung – das wird
auch beim heute Abend stattfindenden Flüchtlingsgipfel
mit Vertretern des Bundes und der Länder herauskom-
men –, dass wir auch dafür Sorge tragen müssen, dass
die Menschen in ihren Heimatländern unterstützt wer-
den. Es darf nicht erneut dazu kommen, dass uns der Au-
ßenminister des Kosovo davor warnt, die Menschen
hierzulassen, weil das Kosovo sonst ausblute. Das wol-
len wir nicht. Das will ich in aller Deutlichkeit für die
CDU/CSU-Fraktion sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Lassen Sie mich auf das hinweisen, was wir alle mit-
einander bereits auf den Weg gebracht haben; denn es ist
ja nicht so, dass wir nichts getan haben. Seit 2009 ist es
für geduldete Migranten einfacher, eine duale Ausbil-
dung aufzunehmen. Rechtliche Hürden wurden damals
abgebaut und Perspektiven eröffnet: Mit einer Ausbil-
dung und einer qualifizierten Beschäftigung können sie
leichter eine Aufenthaltserlaubnis erhalten. 2012 wurde
mit dem sogenannten Anerkennungsgesetz ein Rechts-
anspruch auf eine Gleichwertigkeitsprüfung der im Aus-
land erworbenen Berufsqualifikation geschaffen. 2014
wurde das Arbeitsverbot für Asylsuchende auf drei Mo-
nate beschränkt.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das läuft ins Leere!)


Mit all dem sind wir – das ist heute Morgen schon gesagt
worden – auf dem richtigen Weg, Frau Pothmer.

Aktuell wird unter der Federführung des Innenaus-
schusses über Änderungen im Bleiberecht diskutiert.
Auch das ist eine wichtige Frage, wenn wir über gedul-
dete Jugendliche und unbegleitete jugendliche Flücht-
linge in Deutschland reden. An dieser Stelle möchte ich
deutlich machen, dass vieles aufgrund der heutigen Ge-
setzgebung bereits möglich ist. Dabei sind drei Stadien
zu unterscheiden:

Erstens. Das Asylverfahren ist noch nicht abgeschlos-
sen: Solange sich Asylsuchende im Asylverfahren befin-
den, darf der Aufenthalt nicht beendet werden. Eine Ab-
schiebung muss nicht befürchtet werden.

Zweitens. Eine Anerkennung als Asylberechtigter ist
erfolgt oder ein subsidiärer Schutzstatus wurde durch
das Bundesamt für Migration anerkannt: Dann kann die
Ausbildung ebenso uneingeschränkt fortgesetzt werden.

Drittens. Wenn dies nicht gegeben ist, gibt es immer
noch die Möglichkeit, unter Bezugnahme auf das Auf-
enthaltsgesetz eine Duldung aus dringenden persönli-
chen Gründen zu erwirken, um einen Aufenthalt bis zum
Ende der Ausbildung zu ermöglichen.

Sie sehen, meine Damen und Herren von den Grünen
und den Linken: Bereits heute erhalten die Auszubilden-
den und die Ausbildungsbetriebe die Sicherheit, dass die
Investition in die Berufsausbildung nicht vergebens ist.
Wir müssen an die Arbeitgeber appellieren; denn sie
sollten sich noch ein wenig deutlicher für diese Men-
schen einsetzen und sie befähigen, eine Ausbildung zu
absolvieren.

Ich will gar nicht abstreiten, dass es Verbesserungs-
möglichkeiten gibt, dass es noch weitere Verbesserungen
geben muss. In dem Antrag der Grünen wird gefordert,
das Erlernen der deutschen Sprache sofort zu ermögli-
chen. Ich habe gerade schon einmal versucht, unsere
Meinung dazu deutlich zu machen: Erst einmal muss der
Status geklärt werden. Die Menschen müssen stabilisiert
werden. Das Erlernen der deutschen Sprache ist das
Wichtigste überhaupt; aber es geht auch darum, beim Er-
lernen der deutschen Sprache auf die spezifischen Be-
sonderheiten einzugehen. Das ist ganz wichtig; denn wir
müssen die Fachkräfte befähigen, in ihren Berufen tätig
zu sein. Sie sollten nicht irgendeinen Beruf aufnehmen
müssen. In der Tat ist es richtig, dass die Menschen ar-
beiten gehen wollen. Ich möchte aber nicht, dass ein
Mediziner in irgendeinem Landschaftsgartenbaubetrieb
tätig ist. Nichts gegen Landschaftsgärtner, aber der Me-
diziner muss als Mediziner eingesetzt werden können.
Auch die Pflegerin muss als Pflegerin eingesetzt werden
können. Auch sie sollte nicht irgendeinen Beruf aufneh-





Jutta Eckenbach


(A) (C)



(D)(B)

men müssen. Die Bedingung dafür ist, dass wir das ent-
sprechende Programm der BA stärken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Das sollten wir in aller Ruhe machen. Das bedeutet
Zeit, das bedeutet Geduld, und das wird nicht von heute
auf morgen gehen. Die Welt ist nicht einfach, Frau
Pothmer. Die Welt ist etwas komplizierter. Wir können
sie uns in Deutschland auch nicht einfach stricken. Man-
ches bedarf Zeit. Qualifizierung braucht Zeit, und die
müssen wir uns auch nehmen.

Lassen Sie mich noch auf eines eingehen – ich denke,
auch das ist eine wichtige Geschichte, die wir hier ange-
hen müssen –: Wir müssen immer den Handlungsbedarf
sehen und reagieren. Wir haben heute Abend eine große
Runde mit den Ländern. Ich habe jetzt schon zweimal
die Frage gehört: Warum sind die Kommunen nicht ein-
geladen? Wenn Sie unser Föderalismussystem kennen


(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch jetzt eine Ausrede! Das hat doch mit den reellen Problemen nichts zu tun! – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Ausflucht!)


– ich denke, Sie sind lange genug dabei, und Sie kennen
es mittlerweile –, dann wissen Sie, dass der Bund in die-
ser Sache natürlich mit den Ländern verhandelt. Hier
will ich auf eines hinweisen: Es wäre ganz toll, wenn
auch die Bundesländer, und zwar alle Bundesländer, die
500 Millionen Euro, die der Bund zur Verfügung gestellt
hat, an die Kommunen weitergeben würden.


(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh ja! Das wäre ganz toll!)


Das ist nämlich nicht in allen Bundesländern so. Dann
kämen wir vor Ort an dieser Stelle weiter.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zum Zweiten. Die Bundesländer engagieren sich ja.
Ich will deutlich machen, dass es zwei Bundesländer
gibt, die von sich aus auch eigene Sprachkurse anbieten.
Auch das ist etwas, was wir benötigen: Gemeinsamkei-
ten von Kommunen, Ländern und Bund. Wir werden
nicht alles zentral regeln können. Denn ansonsten wür-
den wir an dieser Stelle dem Föderalismus in Deutsch-
land nicht mehr gerecht werden. Ich glaube, das wollen
auch Sie nicht; denn das würde vieles aushebeln.

Sie können also etwas machen. Sie können es in den
Ländern machen. Sie können es auch und gerade in
Nordrhein-Westfalen machen. Insofern sind wir darauf
gespannt, was kommt.

Es ist vorhin von einem Zug die Rede gewesen; Frau
Kolbe hat davon gesprochen. Ich denke, Sie sind mit Ih-
rem Antrag letztendlich auf dem Abstellgleis gelandet.


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Genau das Gegenteil! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh Gott!)


Wir sind da weiter. Wir werden Sie überholen, und das
wird sich schon morgen herausstellen.
Ich danke Ihnen recht herzlich für Ihre Aufmerksam-
keit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810904600

Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten

Sevim Dağdelen, Fraktion Die Linke, das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810904700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Frau Kollegin, Sie meinten, Sie würden uns überholen.
Ich meine, das ist tatsächlich eine Ansage, auf die ich
schon seit zehn Jahren, seitdem ich Mitglied des Bun-
destages bin, warte. Insofern möchte ich kurz anmerken:
Zu Beginn Ihrer Rede meinten Sie, die Grünen würden
die Welt in Gut und Böse einteilen. Das Problem ist
doch, dass es gerade Ihre Schwesterpartei und Ihr Koali-
tionspartner, die CSU, ist, die die Welt in Gut und Böse
einteilt, gerade in Flüchtlingsfragen, und mit dazu bei-
trägt, dass es in diesem Land teilweise eine Stimmung
gibt, die wirklich flüchtlingsfeindlich und damit auch
menschenfeindlich ist.


(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU – Jutta Eckenbach [CDU/ CSU]: Was? Das ist doch unverschämt! Nehmen Sie das zurück! – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Eine Unverschämtheit!)


Ich möchte Ihren Partner Horst Seehofer zitieren, der
– neben NPD und AfD – den Spruch von sich gegeben
hat, dass Deutschland nicht das Sozialamt der Welt ist.
Ich finde wirklich, das ist nicht nur schändlich, sondern
auch wahrheitswidrig, meine Damen und Herren. Laut
UNHCR gibt es in Deutschland gerade einmal 5 Flücht-
linge pro 1 000 Einwohner. Ich wiederhole: 5 Flücht-
linge auf 1 000 Einwohnerinnen und Einwohner hier in
Deutschland! In Malta sind es 18, in Slowenien 24, im
Libanon 260. Aber Sie erzeugen hier durch solche Paro-
len Stimmung. Das ist schändlich. Sie sollten endlich da-
mit aufhören! Hören Sie auf, Pegida und AfD hinterher-
zurennen!


(Beifall bei der LINKEN – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Wer erzeugt denn hier gerade Stimmung? Ich glaube, da sind wir ja wohl die falsche Adresse! – Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: Richten Sie sich da mal lieber an Ihre eigene Fraktion! Eine Unverschämtheit ist das!)


Meine Kollegin ist, was den grünen Antrag betrifft,
schon auf einige Kritikpunkte im Hinblick auf die ver-
bliebenen Beschränkungen beim Zugang zum Arbeits-
markt eingegangen. Ich finde, dass der grüne Antrag
zwar in die richtige Richtung geht, hier aber etwas zu
kurz springt.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach ja? Wo denn?)






Sevim Dağdelen


(A) (C)



(D)(B)

– Ja. – Für die Linke gilt das Prinzip der gleichen
Rechte. Wir machen keine Ausnahmen bei Arbeit und
Beschäftigung. Wir unterstützen allerdings die Forde-
rungen des grünen Antrags.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für Sie springt ja jeder zu kurz! Sie können ja auch alles besser!)


– Ja, natürlich. Wir machen es auch besser, Herr Kol-
lege; lesen Sie sich unsere Anträge durch.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo denn?)


Wir stimmen auch nicht im Bundesrat einer Verschär-
fung des Asylrechts zu und kommen dann mit solchen
Anträgen im Bundestag.


(Beifall bei der LINKEN)


Trotzdem unterstützen wir Ihre Forderungen. Aber Sie
müssen eben auch ergänzt werden – Kritik sollte hier er-
laubt sein –, damit das Recht auf Arbeit eben nicht von
migrationspolitischen Erwägungen abhängig gemacht
wird.

Wir fordern ein gleiches Recht auf Arbeit von Beginn
an. Das beinhaltet eben auch die Abschaffung der soge-
nannten Vorrangprüfung; meine Kollegin hat es gesagt.

Daneben fordert die Linke die Abschaffung der Be-
schäftigungsverbote, die die Ausländerbehörden gegen-
über Personen mit einer Duldung erteilen können.


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Unterirdisch!)


Dabei unterstellen die Behörden, dass deren Abschie-
bung aus Gründen scheitere, die sie selbst zu vertreten
hätten, zum Beispiel, weil sie die für die Abschiebung
notwendigen Papiere nicht besorgen würden. Oder ihnen
wird – zumeist eben auch völlig haltlos – unterstellt,
dass sie nur wegen des Sozialhilfebezugs nach Deutsch-
land eingereist seien.

Ich frage mich wirklich: Was ist das für ein Wahn-
sinn? Erst durch das Arbeitsverbot werden die Betroffe-
nen nämlich zwangsweise zu Empfängerinnen und Emp-
fängern von staatlichen Transferleistungen.


(Jutta Eckenbach [CDU/CSU]: Sie könnten nur ihre Pässe zeigen!)


Die Gemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung
Asylsuchender e. V. führt hier ein sehr interessantes Bei-
spiel aus Ostwestfalen an – gerade die CDU/CSU sollte
hier einmal gut zuhören –: Frau K. ist türkische Staatsan-
gehörige. Sie hat eine Duldung und lebt seit zwölf Jah-
ren in Deutschland. In ihrer Duldung steht: „Beschäfti-
gung nur mit Zustimmung der Ausländerbehörde …
gestattet“. Sie hat eine Stelle in der Gastronomie gefun-
den und beantragt die Arbeitserlaubnis. Doch diese wird
ihr verwehrt. Sie sei ja ausreisepflichtig, und eine Ar-
beitserlaubnis würde dem zuwiderlaufen und zu einer
Aufenthaltsverfestigung führen. – So wird sie sich eben
trotzdem noch in Deutschland aufhalten, aber arbeiten
darf sie nicht.
Das bringt auf den Punkt, wie absurd das im Auslän-
derrecht geregelt ist. Das muss sich ändern. Die Vorrang-
prüfung und die Beschäftigungsverbote gehören einfach
abgeschafft. Ich bin froh, dass Sie gesagt haben: Der Zug
hat sich in Bewegung gesetzt. Aber noch mehr würde ich
mich freuen, wenn der Zug endlich einmal auf die Ziel-
gerade einbiegen und sich nicht nur im Schneckentempo
in Bewegung setzen würde.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir wollen auch die Wohnortverpflichtungen in
Flüchtlingsunterkünften und die Einschränkungen der
Bewegungsfreiheit durch die Residenzpflicht wirklich
umfassend aufheben. Ich glaube nämlich, das ist eines
der Integrationshemmnisse für viele Flüchtlinge in
Deutschland.

Ich möchte auch noch darauf aufmerksam machen,
dass wir als Linke es ablehnen, Menschen nur nach ihren
Qualifikationen zu bewerten und gerade im Rahmen der
Flüchtlings- bzw. Migrationspolitik zu sagen: Sie sind
für die deutsche Wirtschaft nützlich; deshalb ist es in
Ordnung und muss etwas in der Gesetzgebung gesche-
hen. – Wir sind vielmehr der Auffassung, dass das nur
den Nützlichkeitsrassismus fördert und Wasser auf die
Mühlen von Pegida ist, in deren Zehnpunkteprogramm
auch steht: Fachkräfte sind willkommen, aber der Rest
soll draußen bleiben.

Das ist eine erschreckende Logik, und ich fordere
dazu auf, einfach einmal darüber nachzudenken, welche
Auswirkungen man mit so einer Logik hier in Deutsch-
land vielleicht mitbefördert.


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Das ist unglaublich!)


Zuletzt möchte ich auf eine Initiative zum Zeichen
gegen Rassismus und Menschenfeindlichkeit und für ei-
nen grundsätzlichen Wandel in der Flüchtlingspolitik der
Bundesregierung und der Europäischen Union aufmerk-
sam machen. Wir freuen uns, dass es am 20. Juni 2015
eine entsprechende Veranstaltung geben wird, und ich
hoffe, an diesem Tag viele Menschen um 13 Uhr am
Oranienplatz zu einer Demonstration bis zum Branden-
burger Tor anzutreffen – es wird viele Redebeiträge von
Flüchtlingsverbänden und Musik geben –, um ein star-
kes Zeichen zu setzen. Ich hoffe, dass sich auch die
CDU/CSU das anschauen kann. Sie, Frau Kollegin, sind
herzlich willkommen. Dann können Sie sich vielleicht
ein anderes Bild machen.


(Beifall bei der LINKEN – Jutta Eckenbach [CDU/CSU]: Das ist unverschämt!)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810904800

Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten

Kerstin Griese, SPD-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt mal ein bisschen Sachlichkeit in die Debatte!)







(A) (C)



(D)(B)


Kerstin Griese (SPD):
Rede ID: ID1810904900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Frau Kollegin Dağdelen, wirklich ärgerlich und
auch schädlich für diese Debatte ist,


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Ja, schädlich!)


dass Sie so tun, als sei dieses ganze Land rassistisch und
flüchtlingsfeindlich. Das stimmt nicht.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben so viel ehrenamtliches Engagement in den
Städten, vor Ort, quer durch alle Vereine, Parteien, poli-
tische Richtungen und Kirchengemeinden. Es gibt so
viel Engagement für Flüchtlinge wie noch nie. Wir ha-
ben eine komplett andere Situation als vor 20 Jahren,
und ich bin sehr dankbar dafür, dass das so ist.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es hilft der Sache nicht, das Gegenteil zu behaupten.
Natürlich ist noch nicht alles gut. Vieles kann noch bes-
ser werden. Aber wir haben in den letzten Monaten in
diesem Bereich so viel verbessert wie noch nie. Wir ha-
ben das in dieser Koalition geschafft. Manchmal hat es
mich auch gewundert, dass wir es zusammen geschafft
haben.


(Heiterkeit bei der SPD)


Wir haben die Arbeitserlaubnis erleichtert, die Resi-
denzpflicht abgeschafft und das Asylbewerberleistungs-
gesetz verbessert. Wir haben wirklich viel verändert, und
wir sind für alle Anregungen dankbar, was man noch
mehr tun kann. Für die Flüchtlinge muss noch mehr ge-
tan werden – dazu kommen wir noch –, aber so zu tun,
als gäbe es nur Rückschritte, ist komplett falsch und hilft
der Sache und vor allen Dingen den Flüchtlingen über-
haupt nicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Jahr wer-
den 400 000 Menschen aus schwerster Not zu uns kom-
men und bei uns Asyl beantragen. Unser Land will und
soll eine Willkommenskultur zeigen. Das kostet Geld.
Deshalb ist es gut, dass es heute Abend im Kanzleramt
ein Gespräch darüber gibt, wie die Leistungen für
Flüchtlinge, für Asylbewerber finanziert werden können.

Der Bund hat bereits jeweils 500 Millionen Euro zu-
sätzlich für dieses und noch einmal für nächstes Jahr zur
Verfügung gestellt. Auch das ist nicht „nichts“, sondern
es ist eine ganze Menge. Aber ich sage auch ganz klar:
Es reicht noch nicht aus. Die Situation in den Kommu-
nen zeigt, dass der Bund noch weiter und noch mehr un-
terstützen muss.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

In der Frage, was eine gelingende Integration aus-
macht – darum geht es nämlich –, geht es um drei Berei-
che: Gesundheit – dieser Bereich wäre eine eigene De-
batte wert –, Sprache und Integration durch Arbeit. Wir
konzentrieren uns gerade bewusst auf die Themenfelder
Sprache und Arbeit, die auch zusammengehören. Denn
gerade nach einer Flucht mit traumatischen Erlebnissen
ist es zur Stabilisierung sehr wichtig, hier einen Arbeits-
platz zu finden, soziale Kontakte zu haben, Wertschät-
zung zu erleben. Oft hilft das dabei, schlimme Erfahrun-
gen zu verarbeiten.

Die Grünen fokussieren sich in ihrem Antrag und in
der Debatte auf 1 000 neue Stellen bei der Bundesagen-
tur für Arbeit. Das klingt erst einmal gut. Ein Sofortpro-
gramm klingt nach Aktivität. Manchmal nutzt das mehr
denjenigen, die laut danach rufen, als denen, für die es
sein soll. Ich glaube, wir müssen erst einmal die vorhan-
denen Aktivitäten besser vernetzen und unterstützen,
und wir brauchen eindeutig mehr Mittel für den Sprach-
erwerb.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dass wir einen Fachkräftemangel haben, ist schon an-
gesprochen worden. Wir brauchen Menschen, die bei
uns leben und arbeiten wollen. Wir brauchen ihre Kennt-
nisse und Fähigkeiten, und wir brauchen sie mit ihren
Familien. Wir wollen sie in dem Willen und Wunsch,
rasch Arbeit zu finden, unterstützen, damit sie nicht auf
staatliche Leistungen angewiesen sind.

Es ist durchaus ein Fortschritt in der Debatte, dass ne-
ben den humanitären Argumenten, die mir sehr sympa-
thisch sind und die ich immer in den Vordergrund stelle,
jetzt auch ökonomische hinzukommen und die großen
Unternehmen, das Handwerk, der Mittelstand und die
Arbeitgeberverbände sich für Flüchtlinge engagieren.
Die Wirtschaftswoche hat neulich sogar getitelt, „Mana-
ger wollen sich um die Flüchtlingspolitik kümmern“,
und ein großer Automobilkonzern hat einer Landes-
hauptstadt Geld für die Einrichtung eines „Welcome-
Fonds“ gespendet und Flüchtlingsprojekte unterstützt.

Diese Aktivitäten helfen, die Stimmung in unserem
Land und die Situation der Flüchtlinge zu verbessern.
Ich unterstütze das ausdrücklich.


(Beifall bei der SPD)


Ich bin froh, dass jetzt auch die Arbeitgeberverbände
eine rasche Integration von Flüchtlingen in den Arbeits-
markt fordern und dass sie fordern, dass junge Men-
schen, die hier eine Ausbildung machen, ein Bleiberecht
bekommen, damit sicher ist, dass sie sie auch abschlie-
ßen können. Denn das alles zeigt, dass Flüchtlinge in un-
serem Land als Bereicherung und Chance erfahren wer-
den. Das ist der Wandel, in dem wir uns befinden, und
das ist eine gute und richtige Entwicklung, die wir unter-
stützen wollen.


(Beifall bei der SPD)


Wir haben schon einiges zur Unterstützung getan. Wir
haben die Arbeitserlaubnis nach drei Monaten statt wie





Kerstin Griese


(A) (C)



(D)(B)

früher nach einem Jahr ermöglicht. Wir haben einge-
führt, dass die Vorrangprüfung nach kurzer Zeit wegfällt.
Die Residenzpflicht haben wir übrigens völlig abge-
schafft, Frau Kollegin. Da waren Sie noch im falschen
Film; das war veraltet.


(Widerspruch der Abg. Sevim Dağdelen [DIE LINKE] – Zuruf von der CDU/CSU: Sie ist in vielen Dingen im falschen Film!)


Wir haben im Bereich der Sprachkurse dafür gesorgt,
dass die Mittel für die Integrationskurse um 25 Millio-
nen Euro auf 269 Millionen Euro erhöht werden.

Das sind wichtige Schritte, aber es muss noch mehr
folgen. Es gibt die Sprachkurse, die berufsbezogene
Deutschkenntnisse vermitteln, und wir unterstützen aus-
drücklich die Forderung von Ministerin Andrea Nahles,
dass wir hier mehr Geld brauchen. Wir brauchen ein
Anschlussprogramm, ein eigenständiges Bundespro-
gramm, mit dem die Sprachförderung zur Integration in
den Arbeitsmarkt weitergeführt und verbessert wird.

Wir brauchen aber auch eine bessere Vernetzung.
Denn oft scheitert es an den Schnittstellen. Vielen fehlt
der grundständige Sprachkurs; sie brauchen gerade die-
sen zuerst. Wir müssen zudem die richtig guten Förder-
projekte zur Vermittlung in Arbeit, die es bereits gibt,
weiterführen und unterstützen.

In meinem Heimatbundesland Nordrhein-Westfalen
hat die Bundesagentur für Arbeit 32 zusätzliche Vermitt-
lungsfachkräfte eingestellt, die die Potenziale der Flücht-
linge erkennen und sie auf den Arbeitsmarkt vorbereiten
sollen. Das ist ein richtig guter praktischer Schritt.


(Beifall bei der SPD)


Sie arbeiten zusammen mit den Bleiberechtsnetzwer-
ken, die eine sehr erfolgreiche Quote haben. Dadurch
können tatsächlich viele Menschen vermittelt werden.
Meine Kollegin Daniela Kolbe hat schon das Modellpro-
jekt „Early Intervention“ vorgestellt, das ein Beispiel für
gelingende Integration durch Spracherwerb, durch Aner-
kennung der Abschlüsse und durch Vermittlung in Ar-
beit ist. Wir haben das Förderprogramm „Integration
durch Qualifizierung“, das schon seit 2005 daran arbei-
tet, Menschen mit Migrationshintergrund in Arbeit zu
bringen. Auch das ist ein wichtiger Schritt.

Ich führe das auf, um deutlich zu machen: Das müs-
sen wir verstetigen, das müssen wir fortführen, das müs-
sen wir auch besser koordinieren. Ich wünsche mir, dass
heute Abend im Kanzleramt auch darüber gesprochen
wird. Denn wichtig ist, dass eine Jobvermittlung in Zu-
kunft nicht an der Dublin-Regelung scheitern darf. Ein
Ausbildungsplatz darf nicht am Aufenthaltsstatus schei-
tern. Und eine Arbeitsmöglichkeit darf nicht an fehlen-
den Sprachkenntnissen scheitern. Da wollen und müssen
wir noch mehr tun.


(Beifall bei der SPD)


Ein letzter Punkt, der auch dazu gehört und mir am
Herzen liegt, ist die Betreuung, Unterbringung und Ver-
sorgung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge. Das
sind oft Jugendliche, das sind oft junge Männer, die drin-
gend mehr Unterstützung brauchen. Ich bin sehr froh,
dass Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig das
Programm „Willkommen bei Freunden“ aufgelegt hat,
um sich dieser Gruppe, um die man sich bisher viel zu
wenig gekümmert hat, anzunehmen und ihr eine Per-
spektive zu geben, sie zu begleiten und möglichst in eine
Ausbildung zu vermitteln.


(Beifall bei der SPD)


Es liegen viele Chancen darin, dass Menschen zu uns
kommen. Wir arbeiten daran, ihre Situation zu verbes-
sern. Ich appelliere noch einmal eindeutig an die Runde
heute Abend im Kanzleramt: Wir brauchen dafür mehr
Geld: mehr Geld für Sprachkurse, für die Unterstützung
der Kommunen, für die Fortführung der erfolgreichen
Projekte zur Arbeitsvermittlung. Wir brauchen eine ge-
meinsame Kraftanstrengung von Bund, Ländern, Kom-
munen und Zivilgesellschaft, damit wir ein Land sind,
das Menschen willkommen heißt und ihnen eine Chance
gibt – eine Chance auf gute Arbeit und gutes Leben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810905000

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-

ordneten Andrea Lindholz, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Andrea Lindholz (CSU):
Rede ID: ID1810905100

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren Kollegen! Natürlich müssen anerkannte
Flüchtlinge, die in Deutschland Schutz erhalten und dau-
erhaft bei uns bleiben, schnell integriert werden. Aller-
dings muss man ganz klar zwischen Asylbewerbern im
Allgemeinen und anerkannten Flüchtlingen unterschei-
den. Ihr Antrag blendet diese zentrale Herausforderung
der Asylpolitik wie immer aus und verallgemeinert, an-
statt klar zu trennen. Asyl dient nach wie vor ausschließ-
lich und in erster Linie dem Schutz von verfolgten Men-
schen und nicht der Anwerbung von Fachkräften.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Mehr als die Hälfte aller Asylanträge in Deutschland
wird derzeit von Menschen gestellt, die aus dem West-
balkan stammen, obwohl diese Anträge seit Jahren zu
nahezu 100 Prozent als offensichtlich unbegründet abge-
lehnt werden. Im letzten halben Jahr wurden dreimal
mehr Asylbewerber vom Westbalkan registriert – drei-
mal mehr! – als syrische Kriegsflüchtlinge. Nur rund
15 Prozent aller Asylbewerber stammen aus Syrien. Seit
dem Ausbruch des Krieges haben über 100 000 syrische
Flüchtlinge hier in Deutschland Schutz gefunden. Im
Gegensatz zu den Asylbewerbern aus dem Westbalkan,
die nicht auf der Flucht sind, suchen sie Schutz vor
Krieg und Verfolgung.

Die Flüchtlinge aus dem Westbalkan sind auf der Su-
che nach Arbeit. Viele geben das in den Befragungen
auch ganz offen zu. Dass sie auf der Suche nach Arbeit
sind, ist auch nachvollziehbar, das ist auch nichts Ver-





Andrea Lindholz


(A) (C)



(D)(B)

werfliches, aber die Regelungen hierfür sind nicht im
Asylrecht zu suchen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


Aktuell sind rund zwei Drittel aller Asylbewerber also
nicht schutzbedürftig. Diese abgelehnten Asylbewerber
brauchen, so leid es mir tut, keine Integrationshilfen,
sondern sie müssen zügig ausreisen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist kein Populismus, sondern die ganz klare gesetzli-
che Rechtslage.


(Zuruf der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


Wir müssen unser Asylrecht konsequent durchsetzen
und abgelehnte Asylbewerber ausweisen und abschie-
ben. Wir riskieren ansonsten die öffentliche Zustimmung
für unser Asylsystem. Die vielen aussichtslosen Anträge
binden Ressourcen. Wir brauchen diese Ressourcen für
die Versorgung der Flüchtlinge, damit diejenigen, die
wirklich unsere Hilfe benötigen, Hilfe bekommen und
damit die Verfahren schneller erledigt werden können.

Wir wecken damit aber auch Hoffnungen in den Her-
kunftsländern, die wir nicht wecken dürfen. Der im An-
trag geforderte Statuswechsel für Asylbewerber zum
Beispiel würde einen massiven Fehlanreiz setzen und die
Verfahren noch mehr in die Länge ziehen. Es ist nicht
unsere Aufgabe, zu prüfen, aus welchem Grund jemand
ein Recht hat, zu uns zu kommen.

Mich haben in dieser Woche im Bundestag 25 junge
Asylbewerber aus einer Berufsschule meines Wahlkrei-
ses mit ihren Lehrern besucht. Auf meine Frage, woher
sie kommen und wer schon einen Bescheid hat, haben
drei von ihnen – syrische Flüchtlinge – geantwortet, be-
reits einen positiven Bescheid erhalten zu haben. Ein
junger Mann hatte einen Duldungsstatus. Alle anderen
haben noch auf ihren Bescheid gewartet, auch diejenigen
aus den Westbalkanstaaten.


(Zuruf der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die durchschnittliche Verfahrensdauer ist noch zu
lang. Sie beträgt laut Statistik sieben Monate, in der Rea-
lität geht sie noch darüber hinaus. Auch die Zahl hin-
sichtlich des Rückstandes ist korrekt. Hieran müssen wir
in erster Linie arbeiten. Das ist das aktuell größte Pro-
blem für unser Asylsystem, aber auch für die Menschen,
die zu uns kommen. Es ist wichtig, dass sie schnell wis-
sen und Sicherheit bekommen, ob sie bleiben dürfen
oder nicht. Es ist nicht richtig, dass sie eine Ausbil-
dungsklasse besuchen und nicht wissen, ob sie bleiben
dürfen.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dafür können Sie die Voraussetzungen schaffen!)


Es ist nicht richtig, dass sie Deutsch lernen, dass sie sich
Hoffnungen machen und dann vielleicht zurückge-
schickt werden.
Hier müssen wir ansetzen. Wir müssen schnellere
Entscheidungen treffen. Ich hoffe, dass das mit den
neuen Stellen im BAMF gelingt: 2 000 weitere Stellen
sind zugesagt. Das wird seine Wirkung zeigen. Das ist
wichtig für die Asylbewerber, für die Kommunen und
auch für die Herkunftsländer.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Natürlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, bin auch
ich und sind auch wir dafür, dass den tatsächlich Schutz-
bedürftigen, wie zum Beispiel den syrischen Flüchtlin-
gen, den Schülern, die mich am Montag im Bundestag
besucht haben, schnell und unbürokratisch geholfen
wird. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass sich
nach wie vor über 50 Millionen Menschen auf der Flucht
befinden. Dieses Problem werden wir nicht alleine mit
Geld und mit Personal lösen. Wir müssen auch für Ver-
besserungen in den Herkunftsländern und in den Anrai-
nerstaaten sorgen. Hier ist die ganze Europäische Union
und nicht nur Deutschland gefordert.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Daniela De Ridder [SPD])


Auch ich möchte, dass die jungen Menschen aus dem
Westbalkan, die in dieser Woche bei mir im Bundestag
waren, wissen, woran sie sind, dass wir sie vor Ort auf-
klären, welche, Frau Kollegin, legale Möglichkeit es
gibt, um nach Deutschland zu kommen und hier zu ar-
beiten oder eine Ausbildung aufzunehmen. Wir haben
diese Möglichkeiten.


(Widerspruch der Abg. Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE])


Dann setzen sie auch keine Hoffnungen in aussichtslose
Asylverfahren.

Wenn ein Unternehmen wie Daimler Fachkräfte
sucht, dann sollte es erst einmal die legalen Einreise-
möglichkeiten für Fachkräfte aus dem Ausland nutzen.
Das geltende Arbeitsmigrationsrecht für Hochqualifi-
zierte und für Fachkräfte aus Drittstaaten wurde vor zwei
Jahren massiv ausgeweitet. Wir haben 70 Mangelberufe
definiert, um den Branchen, die tatsächlich unter einem
Fachkräftemangel leiden, die Anwerbung von Fachkräf-
ten auch aus Nicht-EU-Staaten zu erleichtern. Zudem
stellte Deutschland im letzten Jahr rund 90 Prozent aller
Blauen Karten aus der EU aus. Es ist doch nicht so, dass
es keine Möglichkeit gibt, zu uns zu kommen. Erzählen
Sie uns das doch nicht immer! Das ist schlicht falsch.
Wir müssen zwischen berechtigten Asylbewerbern und
Arbeitsuchenden trennen, für die es andere Möglichkei-
ten und Wege gibt, zu uns zu kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich möchte auf einen anderen Aspekt eingehen. Laut
Studie des DGB liegt die Jugendarbeitslosigkeit in
Deutschland trotz des Rekordniveaus der Beschäftigung
bei 300 000. So viele junge Menschen in Deutschland
sind ohne Arbeitsplatz. Von denen spricht in der Zwi-
schenzeit kein Mensch mehr.


(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)






Andrea Lindholz


(A) (C)



(D)(B)

In vielen freizügigkeitsberechtigten EU-Staaten wie
Spanien, Frankreich und Italien ist die Jugendarbeitslo-
sigkeit nach wie vor extrem hoch. Deutschland muss da-
her nach wie vor erst hier bei uns, danach in Europa und
dann im Rest der Welt nach Arbeitskräften suchen. Das
hat nichts mit der Frage zu tun, wer einen Asylanspruch
hat und wem wir auf diesem Weg zügig helfen.


(Widerspruch von der LINKEN)


Ich wehre mich dagegen, dass Sie alle, die zu uns
kommen, in einen Topf schmeißen. Ich wehre mich auch
dagegen, dass die Wirtschaft hier nicht differenziert und
aus meiner Sicht teilweise falsche Forderungen erhebt
und suggeriert, man hätte keine Möglichkeit, Asylbe-
werber auf legalem Wege bei sich arbeiten zu lassen.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810905200

Frau Kollegin, es gibt vom Kollegen Rossmann aus

der SPD-Fraktion den Herzenswunsch nach einer Zwi-
schenfrage. Wollen Sie sie zulassen?


Andrea Lindholz (CSU):
Rede ID: ID1810905300

Ich möchte gern den einen Aspekt noch abhandeln.

Dann können Sie Ihre Zwischenfrage stellen.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810905400

Dann ist aber Ihre Redezeit um.


Andrea Lindholz (CSU):
Rede ID: ID1810905500

Ich dachte, die Zwischenfrage stoppt die Redezeit.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810905600

Ja, aber wenn sie um ist, dann gibt es nichts mehr zu

stoppen.


(Heiterkeit)



Andrea Lindholz (CSU):
Rede ID: ID1810905700

Dann rede ich jetzt zu Ende. – Asylbewerber und

Flüchtlinge haben bei uns bereits viele Möglichkeiten.
Der Besuch einer Schule, einer Berufsschule oder auch
einer Universität ist bei uns erlaubnisfrei möglich. Nur
in Deutschland gibt es mit § 60 a Aufenthaltsgesetz für
Geduldete die Möglichkeit, die Ausweisung aufgrund ei-
ner laufenden Ausbildung auszusetzen. Nicht einmal im
liberalen Schweden gibt es diese Möglichkeit. Ihre For-
derung im Antrag unter Punkt 8 ist damit überflüssig.

Wir haben im letzten Jahr die Residenzpflicht einge-
schränkt, wir haben den generellen Zugang zum deut-
schen Arbeitsmarkt nach drei Monaten erleichtert. Mit
dieser relativ zügigen Erteilung der Arbeitserlaubnis
schaffen wir zwar auf der einen Seite Verbesserungen,
aber auf der anderen Seite müssen wir uns immer wieder
vor Augen halten, dass das auch migrationspolitische
Anreize setzt, zu uns zu kommen. Ich halte die Forde-
rung, dass man hier vom ersten Tag an arbeiten darf, mi-
grationspolitisch schlicht für einen Fehlanreiz. Allein
jetzt schon wird jeder dritte Asylantrag in der EU in
Deutschland gestellt. Warum ist das denn so? Wir haben
nach wie vor die besten Bedingungen. Deshalb höre ich
mir von der Kollegin von der Linken nur ungern diesen
im Übrigen unqualifizierten Vorwurf an, Deutschland sei
nicht aufnahmefreundlich, Deutschland oder auch Bay-
ern oder die CDU oder die CSU seien am Ende auch
nicht zuwanderungsfreundlich. Das ist völliger Blödsinn
und geht an dem vorbei, was wir in den letzten Monaten
und Jahren in diesem Bereich schon für die Menschen
getan haben.


(Widerspruch der Abg. Sevim Dağdelen [DIE LINKE])


Im Übrigen treten Sie auch das Engagement der vielen
Bürgerinnen und Bürger in diesem Land, die sich für die
Asylbewerber engagieren, mit Ihrer Rede


(Zurufe von der LINKEN)


– es ist empörend, was Sie vorhin gesagt haben – mit Fü-
ßen, und ich hätte von Ihnen erwartet, dass Sie sich dafür
entschuldigen. Das war wirklich eine Unverschämtheit.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich wünsche dem Gipfel bei der Kanzlerin heute viel
Erfolg. Ich bedanke mich bei den Kolleginnen und Kol-
legen der SPD ganz ausdrücklich für die gute Zusam-
menarbeit auch im Bereich der Innenpolitik. Ich weiß,
dass wir in den kommenden Monaten weiterhin für die
Menschen, die zu uns kommen, gute Regelungen schaf-
fen werden und dass wir für eine gute Politik und auch
für eine gute Integrationspolitik stehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810905800

Eine Kurzintervention des Kollegen Dr. Rossmann.


Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1810905900

Liebe Frau Kollegin, dem Engagement, das Sie in die

Rede gelegt haben und wofür Sie viel Zustimmung aus
dem ganzen Hause bekommen werden, wollte ich an ei-
ner Stelle Unterstützung geben: Tatsächlich ist es so,
dass wir uns über die jugendlichen Arbeitslosen in Por-
tugal, in Griechenland und anderswo Gedanken machen.
Aber man wird dieser Bundesregierung nicht vorwerfen
wollen, dass sie sich nicht mindestens genauso viele Ge-
danken um die 300 000 jungen Menschen machte, die
bei uns ohne Arbeit sind. Sonst würden wir vergessen
machen, was wir mit der Allianz für Aus- und Weiterbil-
dung und mit den Engagements, die Frau Wanka und an-
dere in ihren Häusern für mehr Berufsorientierung und
mehr Qualifizierung usw. zeigen, tun.

Ich finde, wir dürfen das nicht befördern, indem wir
selbst etwas als Angriff formulieren, was tatsächlich
nicht auf die Praxis dieser Regierung zutrifft. Diese Re-
gierung nimmt dies engagiert in den Blick, und sie enga-
giert sich mit vielen konkreten Maßnahmen für die jun-
gen Menschen, die bei uns noch ohne Ausbildung und
ohne berufliche Perspektive sind. Vielleicht können wir
dies zusammen festhalten, statt heute auf eine falsche
Weise Fronten aufzubauen, die tatsächlich nicht da sind.
Das zu sagen, war mir wichtig. Damit wollte ich Sie
nicht angreifen; ich wollte nur noch einmal das Engage-





Dr. Ernst Dieter Rossmann


(A) (C)



(D)(B)

ment auch für diese 300 000 Jugendlichen deutlich he-
rausstellen.


(Beifall bei der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810906000

Bitte schön, Frau Kollegin Lindholz.


Andrea Lindholz (CSU):
Rede ID: ID1810906100

Ich möchte mich ganz herzlich für die Klarstellung

bedanken.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810906200

So, der Koalitionsfrieden ist hergestellt.


(Heiterkeit)


Nächster Redner ist der Kollege Dr. Matthias Bartke,
SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Matthias Bartke (SPD):
Rede ID: ID1810906300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Mel-

dung ist noch frisch, aber sie war absehbar: Seit Jahres-
beginn haben mehr als 100 000 Menschen die gefährli-
che Flucht über das Mittelmeer nach Europa gewagt. Die
meisten von ihnen kommen aus dem Nahen Osten und
aus Afrika. Der Anstieg der Zahlen ist dramatisch und
stellt uns vor neue Herausforderungen. Es geht um Tau-
sende persönliche Schicksale, tausendfach um Zukunft
und Hoffnung; Frau Zimmermann, ich fand, dass Sie das
durchaus anschaulich dargelegt haben. Deswegen dürfen
wir uns von dem Flüchtlingsstrom gefordert fühlen.
Aber wir müssen gleichzeitig klarstellen, dass wir nicht
überfordert sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Seit Beginn unserer Regierungszeit haben wir daher
schon eine ganze Reihe von Maßnahmen ergriffen, um
Länder und Kommunen bei der Versorgung und der Inte-
gration von Flüchtlingen zu unterstützen.

Geld spielt dabei eine ganz wesentliche Rolle. Des-
wegen erhalten die Länder 2015 und 2016 einen höheren
Anteil an den Einnahmen aus der Umsatzsteuer. Dieser
Anteil beträgt jeweils 500 Millionen Euro. Außerdem ha-
ben wir die Zahl der Personalstellen beim Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge 2014 und 2015 um 750 aufge-
stockt. Weitere 750 Stellen wurden im Nachtragshaus-
halt 2015 bewilligt. Es ist ein erster Erfolg, dass dies be-
reits zu einer deutlichen Verkürzung der Asylverfahren
geführt hat.

Aber Asylverfahren sind das eine, ein Dach über dem
Kopf ist das andere. Mit Veränderungen im Baurecht ha-
ben wir deshalb dafür gesorgt, dass Flüchtlingsunter-
künfte schneller zur Verfügung stehen. Diese Veränderung
ging auf eine Bundesratsinitiative meiner Heimatstadt
Hamburg zurück. Hinzu kommt: Die Bundesanstalt für
Immobilienaufgaben überlässt Flächen zur Unterbrin-
gung von Flüchtlingen künftig mietfrei. Das spart Kom-
munen und Ländern jährlich weitere 25 Millionen Euro.
Mit dem Bundesprogramm „Willkommen bei Freunden“
unterstützen wir – Frau Griese hat darauf hingewiesen –
gemeinsam mit der Deutschen Kinder- und Jugendstif-
tung die Kommunen dabei, junge Flüchtlinge willkom-
men zu heißen.

Das alles sind Maßnahmen, die Flüchtlingen hier in
Deutschland bessere Bedingungen bieten. Das allein
reicht jedoch nicht aus. Voraussetzung dafür, dass die
Flüchtlinge auch in unserer Gesellschaft ankommen, ist
das Erlernen der deutschen Sprache. Deshalb haben wir
die Integrationskurse zum Spracherwerb nachhaltig ge-
stärkt.


(Beifall bei der SPD)


Im parlamentarischen Verfahren zum Bundeshaushalt
2014 konnten wir die Mittel hierfür um 40 Millionen auf
244 Millionen Euro erhöhen und im Haushalt 2015 ver-
stetigen. Über den Nachtragshaushalt konnten wir die
Mittel um weitere 25 Millionen Euro erhöhen.


(Beifall bei der SPD)


Die Sprache ist Ausgangspunkt, um im Alltag mit
Mitmenschen zusammenzukommen. Das gilt auch und
ausdrücklich für Asylbewerber. Wir haben die Mittel für
die Sprachförderung massiv aufgestockt. Das ist doch,
meine Damen und Herren von der Linken, nicht
„nichts“; das ist schon sehr, sehr viel. Aber es stimmt:
Das Erlernen der Sprache bleibt nur ein erster Schritt.
Teilhabe an der Gesellschaft funktioniert bei uns ganz
wesentlich über Beschäftigung.

In den vergangenen Monaten habe ich an dieser Stelle
mehrfach Reden zum Abbau der Langzeitarbeitslosig-
keit gehalten. Ich habe dabei immer wieder betont, dass
Arbeit hilft, soziale Ausgrenzung zu vermeiden. Zwi-
schen Langzeitarbeitslosen und Flüchtlingen gibt es je-
doch einen wesentlichen Unterschied. Bei Langzeit-
arbeitslosen ist die Vermittlung in Arbeit so wichtig,
damit sie der Gesellschaft nicht verloren gehen. Bei
Flüchtlingen hingegen ist sie so wichtig, um sie in die
Gesellschaft überhaupt erst zu integrieren. Es war uns
deswegen ein zentrales Anliegen, den Arbeitsmarktzu-
gang für Asylbewerber und Geduldete schon früher als
bisher zu ermöglichen. Wir haben uns damit durchge-
setzt. Asylbewerber und Geduldete können sich nun
schon nach drei Monaten um einen regulären Job bewer-
ben. Nach 15 Monaten Aufenthalt entfällt außerdem die
Vorrangprüfung, ob nicht ein deutscher Staatsbürger
oder EU-Bürger die Stelle besetzen könnte. Ich sage
dazu: Wenn es nach mir ginge, könnten wir das noch
einmal deutlich reduzieren.


(Beifall bei der SPD)


Durch die Verkürzung der Geltungsdauer des Arbeits-
verbots sowie die Lockerung der Vorrangprüfung und
der Residenzpflicht wird der Zugang zum Arbeitsmarkt
für Flüchtlinge erleichtert; Frau Kolbe hat zutreffend da-
rauf hingewiesen. Der schnellere Zugang zum Arbeits-
markt und die große Anzahl an Flüchtlingen stellen uns





Dr. Matthias Bartke


(A) (C)



(D)(B)

nun vor neue Aufgaben. Wir müssen deutlich mehr
Asylbewerber bei der Arbeitsmarktintegration unterstüt-
zen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/
Die Grünen, an dieser Stelle setzt Ihr Antrag durchaus zu
Recht an. Er nimmt zu Recht auf laufende Maßnahmen
Bezug. Dazu gehört das Projekt „Early Intervention“,
das hier schon mehrfach – so auch in Ihrem Antrag – er-
wähnt wurde. Hier wird erprobt, wie eine schnelle, qua-
litativ hochwertige Arbeitsmarktintegration von qualifi-
zierten Asylbewerbern gelingen kann. Das Projekt ist im
Januar 2014 gestartet und zeitigt bereits Erfolge. Ich
stimme Ihnen hier ausdrücklich zu.

Mit vielen Ihrer Forderungen, die auch aus dem Pro-
jekt resultieren, rennen Sie daher bei uns durchaus of-
fene Türen ein.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann bekommen wir ja von Ihnen Zustimmung!)


Nicht umsonst bin ich in meiner Rede schon mehrfach
auf Sprachkenntnisse zu sprechen gekommen. Obwohl
wir die Mittel für Integrationskurse zum Spracherwerb
bereits deutlich erhöhen konnten, wird deutlich, dass die
Mittel zukünftig nicht ausreichen werden.


(Beifall bei der SPD)


Auch die berufsqualifizierenden Kurse bei der Bundes-
agentur für Arbeit müssen ausgebaut werden. Unsere
Arbeitsministerin Andrea Nahles hat diesen Bedarf er-
kannt und wird sich für die Bereitstellung der Mittel ein-
setzen. Asylsuchende und Geduldete, die mit hoher
Wahrscheinlichkeit lange Zeit in Deutschland bleiben,
sollten von Beginn an die Möglichkeit zum Spracher-
werb und zu berufsqualifizierenden Angeboten haben.


(Beifall der Abg. Daniela Kolbe [SPD])


Ich freue mich, dass wir mit dem Nachtragshaushalt für
Integrationskurse einen Schritt in diese richtige Richtung
unternommen haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auch im Hinblick auf Jugendliche und ihre Ausbil-
dung sehen wir keinen Dissens. Jugendliche und junge
Erwachsene sollten meines Erachtens unabhängig von
ihrem Asylverfahren eine berufliche Ausbildung aufneh-
men und beenden können. Dabei ist es nur konsequent,
auch nach Beendigung der Ausbildung einen sicheren
Aufenthaltsstatus zu bieten. Ich freue mich, dass Sie mit
Ihrem Antrag unserem Handeln Nachdruck verleihen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Es liegt in unser aller Interesse, Flüchtlinge bei uns
willkommen zu heißen und ihnen die besten Startmög-
lichkeiten zu bieten. Deswegen werden wir auch in den
nächsten Monaten unsere Anstrengungen hierfür fortset-
zen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810906400

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Herr

Dr. Pätzold von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Martin Pätzold (CDU):
Rede ID: ID1810906500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Auf Antrag von Bündnis 90/Die Grünen de-
battieren wir heute die Frage, wie es gelingen kann,
Flüchtlinge schneller in Arbeit und Ausbildung zu brin-
gen. Es ist – angesichts der emotionalen Debatte, die hier
im Haus geführt wurde –, wie ich glaube, sehr wichtig,
dass wir darüber sachlich diskutieren. Dafür ist es not-
wendig, dass wir uns mit den Zahlen derer beschäftigen,
die nach Deutschland gekommen sind und hier Asyl be-
antragt haben.

Im letzten Jahr waren es knapp über 200 000 Men-
schen. Die Schutzquote derer lag bei 31,5 Prozent; das
heißt, die Wahrscheinlichkeit, hierbleiben zu können und
eine Perspektive zu haben, lag ungefähr bei jedem Drit-
ten vor. Die größte Gruppe kam mit 41 000 Personen aus
Syrien. Bei diesen lag die Schutzquote bei 90 Prozent.
Wenn man die Bilder aus den Nachrichten kennt und
wenn man weiß, was dort vor Ort passiert, dann ist es
keine große Überraschung, dass die Zahl mittlerweile
sogar gegen 100 Prozent tendiert. Für Serben, die zweit-
größte Personengruppe mit 27 000 Anträgen, lag die
Schutzquote bei 0,2 Prozent; jeder Fünfhundertste hatte
somit eine Bleibeperspektive. Wenn man die gesamten
Westbalkanstaaten betrachtet, dann kann man von einer
Schutzquote von 1 bis 2 Prozent ausgehen. Das heißt
also, jeder Hundertste bis Fünfzigste hat eine Perspek-
tive, hierbleiben und sich in die Gesellschaft integrieren
zu können und auch perspektivisch hier arbeiten zu dür-
fen und natürlich arbeiten zu müssen; denn wir wollen
die Menschen über Arbeit integrieren.

Wenn wir uns die Zahlen in den ersten Monaten an-
schauen – wir haben gehört, dass knapp 100 000 Flücht-
linge bisher schon nach Deutschland gekommen sind,
davon mehr als die Hälfte aus den Westbalkanstaaten –,
dann müssen wir die Diskussion sehr ehrlich führen.
Wenn es darum geht, diese Zahlen nicht nur sachlich
vorzutragen, sondern auch zu schauen, wie die Situation
vor Ort ist, dann möchte ich in Richtung von Frau
Zimmermann von der Fraktion Die Linke sagen, dass
sich unsere Abgeordneten vor Ort natürlich die Einrich-
tungen ansehen. Meine Kollegin Frau Weiss schaut sich
nicht nur in ihrem Wahlkreis die Einrichtungen an und
redet mit den Menschen vor Ort, sondern sie macht seit
23 Jahren auch ein Projekt auf den Philippinen, mit dem
sie versucht, die Entwicklung vor Ort zu unterstützen.
Deshalb ist sie genau die falsche Person, die Sie kritisie-
ren, weil sie sich angeblich nicht für die Flüchtlinge vor
Ort interessiere und nicht mit den Menschen rede.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Weil wir uns für die Themen vor Ort interessieren, ist
auch ein Großteil unserer Abgeordneten direkt gewählt.
Das gilt für mich nicht. Aber man muss auch noch Ziele





Dr. Martin Pätzold


(A) (C)



(D)(B)

im Leben haben. Trotz allem habe ich mir am 27. Mai
dieses Jahres alle sechs Einrichtungen, in denen Flücht-
linge in Lichtenberg untergebracht sind, angeschaut. Ins-
gesamt sind dort knapp 2 000 Personen untergebracht.
Auch hier gilt, dass über die Hälfte von ihnen, knapp
1 200, aus den Westbalkanstaaten kommen, deren Blei-
beperspektive überschaubar ist. Aber immer mehr kom-
men mittlerweile aus Syrien und dem Irak. Wenn man
sich mit diesen Personen unterhält, merkt man, dass sie
gern in ihrem Heimatland geblieben wären, aber durch
die Situation vor Ort hier eine neue Heimat suchen und
natürlich auch – da haben Sie vollkommen recht – arbei-
ten möchten.

Das zeigt uns, dass wir als Gesellschaft die Verant-
wortung haben, Integration vernünftig zu gestalten. Ich
komme aus einem Ostberliner Wahlkreis, wo die Debat-
ten über dieses Thema am Anfang nicht immer einfach
waren. Deshalb bin ich sehr glücklich darüber, dass
durch die Diskussionen hier im Bundestag und auch in
der Öffentlichkeit mittlerweile sehr sachlich darüber ge-
sprochen wird,


(Jutta Eckenbach [CDU/CSU]: Aber nicht von allen!)


wie man Flüchtlingen helfen kann, und dass die Gesell-
schaft vor Ort, die Vereine vor Ort, die Träger vor Ort
und auch die politischen Parteien Verantwortung tragen
und bereit sind, zu helfen, dass es einen großen gesell-
schaftlichen Konsens gibt, die Integration zu gestalten.

Was haben wir bisher getan? Man muss sich ja immer
die Entwicklung ansehen. Wir als Bundesgesetzgeber
haben noch im Jahr 2013 die Möglichkeit geschaffen,
bereits nach neun Monaten eine Arbeit aufzunehmen,
natürlich nur, wenn zuvor eine Vorrangprüfung stattge-
funden hat. Ich höre aber von meinen Akteuren vor Ort,
dass das in der Praxis kein Problem darstellt. Wir, die
Koalitionsfraktionen, haben im letzten Jahr dafür ge-
sorgt, dass diese Frist auf drei Monate verkürzt wird. Wir
als Gesetzgeber haben also eine Entwicklung aufgenom-
men und entsprechend gehandelt. Ich fand das sehr
wichtig und richtig.

Jetzt ist der Antrag der Grünen eingebracht worden.
Ich glaube, er verfolgt das Ziel, eine aus ihrer Sicht
wichtige gesellschaftliche Debatte in Gang zu bringen.
Der Fokus ist ein etwas anderer als der, den meine Frak-
tion hat; aber auch in diesem Antrag sind sehr vernünf-
tige Forderungen enthalten.

Ich verweise in diesem Zusammenhang auf den darin
angesprochenen Punkt „Anerkennung von Qualifikatio-
nen“. Auch auf meiner Besichtigungstour am 27. Mai
2015 wurde mir deutlich: Das ist relativ klar formuliert
und einfach beschrieben; aber wenn es in der Praxis da-
rum geht, dass Menschen, die aus Syrien oder dem Irak
geflohen sind, keine Urkunden darüber haben, dass sie
ein Studium absolviert haben, entsteht im Zusammen-
hang mit unserer deutschen Bürokratie das nicht ganz
einfach zu lösende Problem, wie man diese Qualifikatio-
nen anerkennt. Ich will deutlich sagen: Ich finde es
schon wichtig, dass es für alles Urkunden gibt. Das ist
sehr deutsch, sehr bürokratisch und sehr klar. Aber es
gibt auch vor Ort viele Personen, die versuchen, zu hel-
fen und Brücken zu bauen. In der Praxis wird geschaut,
dass man zu Lösungen kommt; aber das dauert natürlich
seine Zeit.

Das, was Sie in Ihrem Antrag formulieren, sind
Punkte, die in der Praxis zum Teil umgesetzt werden.
Das Asylrecht ist nicht dazu da, zu entscheiden, wer qua-
lifizierter ist und deswegen eine bessere Perspektive hat,
in der Bundesrepublik Deutschland zu bleiben. Das
Asylrecht ist geschaffen worden, um Menschen eine
neue Heimat zu geben, die Schutz brauchen. Dafür wird
sich die CDU/CSU-Fraktion weiter einsetzen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810906600

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Dr. Diaby

von der SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Karamba Diaby (SPD):
Rede ID: ID1810906700

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! 1 Milliarde Euro zu-
sätzlich vom Bund an die Länder für die Aufnahme und
Integration von Flüchtlingen, bis zu 2 000 neue Stellen
beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge für zü-
gige Asylverfahren, Veränderungen im Baurecht, um
schnell Unterkünfte zur Verfügung zu stellen, die Öff-
nung des Arbeitsmarkts nach drei Monaten für Asylbe-
werberinnen, Asylbewerber und Geduldete, die Ab-
schaffung der Residenzpflicht, um Asylbewerbern und
Geduldeten endlich Bewegungsfreiheit im Lande zu er-
möglichen, ein neues Bundesprogramm „Willkommen
bei Freunden“ für unbegleitete minderjährige Flücht-
linge, ein reformiertes Asylbewerberleistungsgesetz mit
dem Grundsatz „Geld- statt Sachleistungen“ – liebe Kol-
leginnen und Kollegen, diese Auswahl von bereits er-
folgten und begonnenen Maßnahmen macht deutlich:
Wir sind längst dabei, uns vom alten Geist der Abschot-
tung und der Abwehr im Asylrecht zu verabschieden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir befinden uns mitten in einer neuen Phase, in der wir
die Potenziale der Geflüchteten in den Blick nehmen und
ihnen Chancen eröffnen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, Sie
schreiben in Ihrem Antrag:

Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf, ein
Konzept zu entwickeln, das Flüchtlinge auf ihrem
Weg in Arbeit und Ausbildung unterstützt …


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


Ganz ehrlich: Entweder haben Sie nicht besonders gut
aufgepasst, was in den letzten Monaten alles auf den
Weg gebracht wurde, oder Sie versuchen, das sensible





Dr. Karamba Diaby


(A) (C)



(B)

Thema der Asylpolitik für sich zu nutzen. Ich bin der
Meinung: Dieses Themenfeld eignet sich nicht für Par-
teitaktik.


(Beifall bei der SPD)


Ich habe in den letzten Jahren die Erfahrung gemacht,
dass das Themenfeld „Migration und Asyl“ der Aufklä-
rung, der Argumente und sachlicher Arbeit bedarf. Ich
bin dankbar, dass wir nicht die Debatte der 90er-Jahre
wiederholen und dass wir aktuell einen parteiübergrei-
fenden Konsens haben.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810906800

Herr Diaby, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kolle-

gin Pothmer zu?


Dr. Karamba Diaby (SPD):
Rede ID: ID1810906900

Nein. Ich möchte gerne mein Konzept erst einmal zu

Ende bringen; dann können wir diskutieren.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schade! – Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Man kann ja noch mal nachfragen!)


Ja, wir sind gefordert, aber nicht überfordert. Für die
SPD-Fraktion ist klar: Gute Asylpolitik gelingt nur mit
einer dauerhaften und substanziellen Beteiligung des
Bundes. Wir brauchen weiterhin eine sinnvolle Verant-
wortungsteilung zwischen Bund und Ländern. Mit gro-
ßen Erwartungen blicken wir auf die Ergebnisse des heu-
tigen Treffens im Kanzleramt. Es muss den Durchbruch
bringen. Aus meiner Sicht brauchen wir endlich eine
Öffnung der Integrationskurse, und wir brauchen eine
Bleibeperspektive für Auszubildende.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zehn Jahre Integrationskurse in Deutschland, das ist
die Erfolgsgeschichte unseres Einwanderungsgesetzes.
Sie läuteten den Paradigmenwechsel ein, hin zu einem
echten Angebot des Staates. Diese Kurse sind das wich-
tigste staatlich geförderte Angebot für Einwandernde.
Seit der Einführung der Integrationskurse vor zehn Jah-
ren haben sage und schreibe 1 Million Menschen an die-
sen Kursen teilgenommen. Das ist ein Erfolg.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Sie alle absolvieren 600 Stunden Deutschunterricht und
60 Stunden Orientierungskurs. Mehr als zwei Drittel
schließen den Kurs erfolgreich ab. Es klingt abgedro-
schen, aber es stimmt: Sprache ist die Eintrittskarte für
Teilhabe an Arbeit und gesellschaftlichem Leben. Ich
weiß aus meiner eigenen Erfahrung, wovon ich rede. Da-
her brauchen wir die Öffnung der Integrationskurse für
Asylsuchende und Geduldete.


(Beifall bei der SPD)


Bislang bieten einzelne Bundesländer wie mein Bun-
desland Sachsen-Anhalt und Berlin unter anderem
Sprachkurse für Asylsuchende auf freiwilliger Basis an.
Sie sind ein voller Erfolg. Es muss aber klar gesagt wer-
den: Der Spracherwerb darf nicht vom Zufall abhängen
oder auf Ehrenamtliche abgewälzt werden.


(Beifall der Abg. Daniela Kolbe [SPD])


Hier muss der Bund seinen Beitrag leisten. Damit ist
auch eine substanzielle Entlastung der Länder und Kom-
munen verbunden. Das verstehe ich unter moderner Inte-
grationspolitik.

Wir müssen Geflüchteten den Aufstieg ermöglichen.
Ich meine damit Aufstieg durch Bildung. Wir müssen
ihnen Chancen bieten, ihre Fähigkeiten und Talente zu
entfalten, sich einzubringen, und ihnen den Weg öffnen,
Teil dieser Gesellschaft zu werden. Das ist nicht nur
menschenrechtlich geboten, sondern auch volkswirt-
schaftlich vernünftig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, zu einer fairen und ver-
nünftigen Asylpolitik zählt die Bleibeperspektive für ju-
gendliche Asylsuchende in Ausbildung. Kirchen, Ge-
werkschaften und Arbeitgeber fordern zu Recht ein
sicheres Aufenthaltsrecht für die jugendlichen Asylsu-
chenden und Geduldeten, die eine Ausbildung beginnen
können. Die Arbeitgeber brauchen hier Rechtssicherheit.
Die SPD-Fraktion meint: Wir brauchen für diese Jugend-
lichen einen sicheren Aufenthaltsstatus für die Dauer der
Ausbildung und darüber hinaus für eine anschließende
Arbeitssuche. Daneben sollten wir auch über pragmati-
sche Ausnahmen nachdenken. Es ist ein Paradox: Wir
reden über Konzepte zur Lösung des Fachkräftemangels
und darüber, wie wir Menschen aus Drittstaaten anwer-
ben können. Gleichzeitig aber schieben wir Asylbewer-
ber ab, die mit gesuchten Qualifikationen kommen. Hier
brauchen wir pragmatische Lösungen.


(Beifall bei der SPD)


Werte Kolleginnen und Kollegen, alle diese Maßnah-
men machen deutlich, dass wir uns auf einem guten Weg
befinden – hin zu einem Paradigmenwechsel unseres
Asylrechtes: weg von Abwehr und hin zu einer moder-
nen Willkommenskultur.


(Beifall bei der SPD)


Lassen Sie uns diesen Weg weitergehen, indem wir die
Potenziale der Geflüchteten in den Blick nehmen und ih-
nen Chancen eröffnen.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810907000

Vielen Dank. – Als letzter Redner in dieser Debatte

hat Kai Whittaker von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Kai Whittaker (CDU):
Rede ID: ID1810907100

Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Ich kann den ver-

zweifelten Versuch der Kolleginnen Göring-Eckardt und
Pothmer verstehen, hier den Eindruck zu erwecken, als

(D)






Kai Whittaker


(A) (C)



(D)(B)

hätten wir in der Großen Koalition in den letzten Mona-
ten nichts getan.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind gar nicht verzweifelt! Das sind Sie vielleicht!)


Die Vorredner haben aber schon einige Punkte aufgegrif-
fen. Ich weiß, dass sie das nicht so gerne hören. Deshalb
wiederhole ich es einmal. Wir haben es in den letzten
zwölf Monaten geschafft, dass Flüchtlinge bereits nach
drei Monaten Arbeit aufnehmen dürfen. Sie dürfen nach
spätestens 15 Monaten frei ihren Beruf wählen. Dort, wo
es Fachkräftemangel gibt, können sie es sogar sofort. Sie
dürfen nach drei Monaten in Deutschland wohnen, wo
sie wollen. Und wir werden den Kommunen in den
nächsten zwei Jahren mit über 1 Milliarde Euro zusätz-
lich unter die Arme greifen. Darüber hinaus gibt der
Bund zusätzlich 40 Millionen Euro für Sprach- und Inte-
grationskurse aus. Ich finde, dass man wirklich nicht
sagen kann, dass wir die Hände untätig in den Schoß
gelegt haben. Vielmehr haben wir als Bund unsere Haus-
aufgaben gemacht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn ich mir Ihren Antrag so anschaue, bekomme
ich den Eindruck, dass Sie es nicht wirklich ernst mei-
nen. Werte Kollegen von den Grünen, ich weiß, es berei-
tet Ihnen eine diebische Freude, von diesem Pult aus zu
betonen, dass Sie in mehr Bundesländern regieren als die
Union.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir heute noch gar nicht gemacht! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gut, dass Sie uns daran erinnern!)


Offensichtlich aber wissen Sie nicht, wie Sie mit dieser
Verantwortung umgehen sollen. Die allermeisten Punkte,
die Sie in Ihren Antrag geschrieben haben, können Sie in
den Ländern schon längst umsetzen.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen wir auch!)


Ob es um Sprachkurse, Netzwerkarbeit, Beratung oder
Betreuung geht, das alles ist Sache der Länder. Stattdes-
sen laden Sie Ihre Verantwortung beim Bund ab.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der Bund ist für das Asylverfahren zuständig, die
Länder sind für die Flüchtlinge da. Dass das auch geht,
sieht man an den Bundesländern Bayern und Baden-
Württemberg. Ich bin wirklich unverdächtig, ein großer
Anhänger des grünen Ministerpräsidenten Winfried
Kretschmann zu sein; das trifft allerdings auch auf die
Bundestagsfraktion der Grünen zu. Kretschmann macht
genau das, was Sie fordern, nämlich zielgruppenspezifi-
sche Sprachkurse auf Kosten des Landes anzubieten. Ich
empfehle den grünen Landespolitikern anderswo, einen
Besuch im – das hat Jürgen Trittin, glaube ich, vor zwei
Jahren ganz charmant formuliert – „Waziristan“ der Grü-
nen abzustatten. Wahrscheinlich trauen sie sich nicht,
dorthin zu fahren. Es könnte eine unangenehme Begeg-
nung mit der Realität werden.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810907200

Herr Whittaker, die Kollegin Pothmer hat die Bitte

nach einer Zwischenfrage.


Kai Whittaker (CDU):
Rede ID: ID1810907300

Der Kollegin Pothmer kann ich keinen Wunsch ab-

schlagen. – Bitte schön.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)



Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810907400

Herr Kollege Whittaker, das kann Sie noch teuer zu

stehen kommen.


(Heiterkeit – Kai Whittaker [CDU/CSU]: Das werden wir ja gleich sehen!)


Herr Kollege Whittaker, unser Antrag ist mit dem Ti-
tel „In die Zukunft investieren – Asylsuchende auf ihrem
Weg in Arbeit und Ausbildung unterstützen“ überschrie-
ben. Da haben wir es im Wesentlichen mit bundespoliti-
schen Kompetenzen zu tun. Wenn Sie hier sagen, der
Bund habe seine Hausaufgaben gemacht, dann müssen
Sie uns hier einmal erklären, warum die Bundesagentur
für Arbeit ein 15-seitiges Papier mit dem Titel „Heraus-
forderung und Handlungsempfehlungen: Humanitäre Zu-
wanderer in Ausbildung und Arbeit bringen“ vorgelegt
hat.

Die Bundesagentur für Arbeit sieht erheblichen
Handlungsbedarf. Sie selber ist mit der Forderung an die
Öffentlichkeit getreten, 1 000 Stellen zusätzlich einzu-
richten, weil wir in den Jobcentern und bei den Agentu-
ren einen Flaschenhalseffekt haben und weil es unheim-
lich viel Nachsteuerungsbedarf gibt, zum Beispiel in der
Frage der Anerkennung von ausländischen Qualifikatio-
nen. Ich könnte diese Liste weiter fortsetzen.

Nehmen Sie doch bitte einmal zur Kenntnis, dass es
nicht nur die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist, son-
dern dass es darüber hinaus die Bundesagentur für Ar-
beit ist, dass es die Arbeitgeberverbände sind und dass es
die IHK und die Handwerkskammern sind, die einen er-
heblichen Handlungsbedarf sehen. Stellen Sie nicht fest,
dass Sie mit Ihrer Auffassung zunehmend einsam wer-
den?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Kai Whittaker (CDU):
Rede ID: ID1810907500

Frau Kollegin Pothmer, ich finde eher, dass es sehr

einsam um Ihre Fraktion geworden ist. Sie haben letzte
Woche in der Medienlandschaft groß verkündet, dass Sie
1 000 neue Stellen für die BA schaffen wollen, um die-
ses Problem zu beheben. In Ihrem Antrag steht davon
nichts mehr.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Natürlich steht es da drin!)






Kai Whittaker


(A) (C)



(D)(B)

Insofern mache ich mir um meine Einsamkeit keine Sor-
gen, Frau Kollegin Pothmer.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich nehme Ihren Antrag auch deshalb nicht wirklich
ernst, Frau Kollegin, weil ich glaube, dass es eher ein
Showeffekt ist, den Sie versuchen hier zu platzieren. Es
ist ja nicht so, dass die Flüchtlinge erst seit Sonntag in
dieses Land kommen. Wir diskutieren dieses Thema seit
über einem Jahr, und – andere Kollegen haben das schon
gesagt – es gibt keine einfachen Antworten. Aber Sie
zetteln für heute eine Debatte an und schaffen es gerade
einmal zwei Tage vorher, in Ihrer eigenen Fraktion zu
klären, was Sie überhaupt wollen, um einen Antrag im
Bundestag zu stellen,


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie bitte?)


und das an einem Tag, an dem der Flüchtlingsgipfel von
Bund und Ländern stattfindet. Ich kann nichts anderes
darin erkennen als den verzweifelten Versuch Ihrer Bun-
destagsfraktion, mit diesem Thema in den Medien zu
landen.

Die Opposition scheint manchmal zu vergessen,
dass wir hier Politik machen und keine Theatervor-
stellungen geben.

Das ist eine freundliche Erinnerung Ihres Parteifreundes
– ich hoffe, er ist noch Ihr Parteifreund – Joschka
Fischer. Das hat er von diesem Pult aus einmal gesagt.

Ich nehme Ihren Antrag aus einem dritten Grund
nicht ernst. Ihr Showantrag geht an der Realität vorbei.
Was ist das Hauptproblem dafür, dass Asylbewerber kei-
nen Job finden bzw. Schwierigkeiten bei der Jobsuche
haben?


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt habe ich Ihnen den Antrag schon im Vorfeld zugeschickt, und Sie haben ihn immer noch nicht gelesen!)


Vor kurzem wurde eine Bertelsmann-Studie veröffent-
licht, in der ganz klar steht, dass die Asylverfahren zu
lange dauern. Letztes Jahr betrug die durchschnittliche
Wartezeit circa sieben Monate. Diese Wartezeit ist nicht
hinnehmbar. Deswegen haben wir beim letzten Flücht-
lingsgipfel vereinbart, 2 000 neue Stellen im Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge zu schaffen. Damit ver-
doppeln wir fast das Personal in diesem Amt, um diesen
unsäglichen Wartestau zu beseitigen. Dazu steht in Ih-
rem Antrag nichts. Das ist enttäuschend.

In Ihrem Antrag schweigen Sie zu einem weiteren
Thema, das Ihnen unangenehm ist, nämlich zu der Frage,
wie wir Wirtschaftsflüchtlinge so schnell wie möglich in
ihre Heimatländer zurückbringen können. Die Deut-
schen – das nehme ich in meinem Wahlkreis wahr; das
wird sicherlich vielen Kollegen hier genauso gehen –
sind sehr offen und extrem hilfsbereit gegenüber den
Flüchtlingen, die Schreckliches erlebt haben. Sie enga-
gieren sich wirklich aufopferungsvoll als Sprachlehrer,
als Integrationshelfer oder sind einfach nur da.
Diese Haltung der Bürger könne sich aber ändern,
wenn die Probleme, die durch den großen Zustrom
von Asylbewerbern entstanden seien, nicht gelöst
würden.

Dieser bemerkenswerte Satz stammt nicht von mir, son-
dern vom grünen Ministerpräsidenten Winfried
Kretschmann, nachzulesen in der Zeit vom 19. Septem-
ber letzten Jahres.

Wer mit den Menschen spricht, wird merken, dass
dieser Satz wahr ist. Die Menschen in diesem Land se-
hen sehr wohl den Unterschied zwischen Wirtschafts-
flüchtlingen und aus humanitären Gründen Geflüchte-
ten. Sie wissen genau, wer dringend Hilfe braucht und
wer nicht. Deshalb wäre es ein starkes Signal von Ihnen,
liebe Grünen, wenn Sie hier im Deutschen Bundestag
und im Bundesrat Ihre Blockadehaltung endlich aufgä-
ben, damit wir alle Balkanstaaten endlich zu sicheren
Herkunftsländern erklären können.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Aber das wollen Sie nicht hören. Das passt nicht in Ihre
heile Flüchtlingspolitik.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Argumentation ist wirklich hanebüchen!)


Stattdessen ist es einfacher, sich hierhinzustellen und uns
als Union zu verunglimpfen. Aber ganz so einfach ist es
eben nicht.

Wir als Union haben schon nach dem Zweiten Welt-
krieg die Flüchtlingspolitik neu begründet.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie?)


Ich zitiere:

Jede Art von Selbsthilfe soll größtmögliche Förde-
rung erfahren, damit die Heimatvertriebenen in
freizügiger Weise am Wirtschafts- und Gesell-
schaftsleben teilnehmen können.

Das stand so im CDU-Wahlprogramm von 1949. Da wa-
ren Sie von den Grünen, wie man sagt, noch Quark im
Schaufenster.


(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen Sie?)


Deshalb heißen wir übrigens „Union“ und nicht „Par-
tei“: Wir haben es als politische Kraft verstanden, Men-
schen als Union zusammenzubringen und nicht als Partei
zu spalten. Es war eben die Union, die dafür gesorgt hat,
dass nach dem Zweiten Weltkrieg 8 Millionen Flücht-
linge und Heimatvertriebene eine neue Heimat in West-
deutschland gefunden haben.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie müssen sich noch mal ein bisschen die Geschichte angucken! Wo leben Sie eigentlich?)






Kai Whittaker


(A) (C)



(D)(B)

Heute reden wir von 400 000 Flüchtlingen. Es ist des-
halb schon, wie ich finde, eine Ironie der Geschichte,
wenn Sie uns vorwerfen, dass wir nichts von Flücht-
lingspolitik verstehen.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei Ihnen ist der Geschichtsunterricht ausgefallen!)


Dazu fällt mir und meinen Kollegen der CDU/CSU-
Fraktion wirklich nichts mehr ein. Sie nutzen diese De-
batte schlicht und ergreifend zur Effekthascherei, für
eine billige Schlagzeile in der Zeitung. Dafür sind wir
nicht zu haben.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810907600

Vielen Dank. – Damit, liebe Kolleginnen und Kolle-

gen, schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/5095 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:

Beratung des Berichts des Petitionsausschusses

(2. Ausschuss)


Bitten und Beschwerden an den Deutschen
Bundestag

Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des
Deutschen Bundestages im Jahr 2014

Drucksache 18/4990

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 60 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.

Ich werde die Aussprache eröffnen, sobald die Kolle-
ginnen und Kollegen ihre Plätze eingenommen haben. –
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Ausschussvorsitzende Kersten Steinke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Kersten Naumann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810907700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter! Peti-
tionsausschuss – das klingt zunächst nicht nach spannen-
der Politik, sondern eher nach verstaubter Verwaltungs-
arbeit. Aber ich kann Ihnen versichern: Weder unser
Ausschuss noch unsere Arbeit sind verstaubt. Es ist ar-
beitsintensiv und spannend, aber auch herausfordernd.
Das hat seine Gründe. Wir Abgeordnete bekommen im-
mer ganz aktuell und direkt zu sehen, wie sich die vom
Bundestag beschlossenen Gesetze auf die Bürgerinnen
und Bürger auswirken und wo sich bei Bundesbehörden
Verwaltungsfehler einschleichen. Hier Abhilfe zu schaf-
fen, ist unser Ziel.
Zunächst ein paar Zahlen und Beispiele. Im Berichts-
jahr 2014 wurden 15 325 Bitten und Beschwerden ein-
gereicht; das waren 525 mehr als 2013. Mehr als ein
Drittel aller Petitionen gingen auf elektronischem Wege
beim Petitionsausschuss ein. Zudem konnten im Be-
richtsjahr gut 18 000 Petitionen abschließend behandelt
werden. Die höhere Zahl hat mit dem Überhang aus dem
Wahlperiodenwechsel zu tun.

Der Petitionsausschuss wird täglich – neben Bitten
zur Gesetzgebung, die 45 Prozent aller Petitionen aus-
machen – mit Einzelschicksalen von Menschen konfron-
tiert, die zwischen die Mühlsteine der Bürokratie geraten
sind und nicht mehr ohne fremde Hilfe herauskommen.
Stellen Sie sich einmal Folgendes vor: Sie befinden sich
seit August 2012 in der Ausbildung und beantragen für
sich Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz, da
Ihr Vater verstorben ist und Ihre Mutter unbekannten
Aufenthaltes ist. Sie benötigen dieses Geld als Waise
und Alleinstehende ohne Einkommen dringend für Ihren
Lebensunterhalt. Sie beantragen es bei der zuständigen
Familienkasse an Ihrem Wohnort. Dann kommt endlich
der Bescheid – nach sieben Monaten –, eine Ablehnung.
Sie legen Widerspruch ein. Dem wird nach einem weite-
ren Monat stattgegeben, aber Sie erhalten kein Geld. Sie
rufen an, Sie werden vorstellig, Sie telefonieren, werden
vertröstet, rufen wieder an und erhalten die Auskunft,
dass diese Familienkasse gar nicht zuständig ist, sondern
eine andere. Das geht über ein weiteres Jahr so. Schließ-
lich wenden Sie sich an den Petitionsausschuss des
Landtages. Der ist nicht zuständig und schickt die Peti-
tion an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundesta-
ges. Dieser holt eine Stellungnahme des zuständigen
Ministeriums ein, und siehe da, die Stellungnahme des
Ministeriums ist sehr eindeutig: Alle Voraussetzungen
für den Bezug von Kindergeld sind erfüllt. Endlich, nach
fast zwei Jahren, erhalten Sie 2014 rückwirkend bis
2012 Ihr Kindergeld.

Es ist schlimm, dass es solche Fälle gibt, aber es ist
gut, dass es den Petitionsausschuss gibt und dass wir in
einem solchen Fall auch helfen konnten.


(Beifall im ganzen Hause)


Etwa 10 Prozent aller Anliegen wurde direkt und un-
kompliziert entsprochen. Weiteren 28 Prozent der Peten-
ten konnte mit Rat, Auskunft oder Materialien geholfen
werden. 5 Prozent aller Petitionen wurden an die Bun-
desregierung überwiesen mit der Bitte um Abhilfe.
Wenn wir helfen können, dass Bürgerinnen und Bürger
zu ihrem Recht kommen, dann ist das für uns eine große
Motivation, aber zugleich auch Ansporn, weiterhin für
die Petentinnen und Petenten unser Bestes zu geben.

Den Spitzenplatz unter den Gesamteingaben nimmt,
wie auch in den Jahren zuvor, das Ressort Arbeit und So-
ziales mit 3 175 Vorgängen ein, also mit etwa 21 Prozent
aller Eingaben. Wie in den Vorjahren lag der Schwer-
punkt in diesem Bereich bei den Eingaben zur Grund-
sicherung für Arbeitsuchende, so zum Beispiel zur Höhe
der Regelbedarfssätze und deren Berechnung. Im Be-
reich des Arbeitsrechts gab es zahlreiche Eingaben, die
die Abschaffung der Leiharbeit oder zumindest die An-
passung des Arbeitslohns verlangten. Zu dieser Thema-





Kersten Steinke


(A) (C)



(D)(B)

tik passte auch die zum 1. Januar 2015 beschlossene Ein-
führung des Mindestlohns, der von vielen Petentinnen
und Petenten unterstützt wurde. Kritisiert wurden hinge-
gen die ebenfalls beschlossenen Ausnahmen. Es ist also
abzusehen, dass uns die Auswirkungen des Mindest-
lohns in der nächsten Zeit weiter beschäftigen werden.

Ein weiterer großer Teil der Beschwerden an das
Bundesministerium für Arbeit und Soziales mit
1 393 Eingaben entfiel auf den Bereich der gesetzlichen
Rentenversicherung. Eine Vielzahl dieser Petitionen be-
fasste sich mit den Auswirkungen der zum 1. Juli 2014
in Kraft getretenen Rentenreform.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Kein Wunder!)


Dies spiegelte sich auch in den auf den Internetseiten des
Petitionsausschusses veröffentlichten Petitionen wider,
die rege diskutiert wurden, so zum Beispiel zur ab-
schlagsfreien Rente nach 45 Jahren Erwerbstätigkeit
oder zur Abschaffung der Abschläge bei Erwerbsminde-
rungsrenten. Ebenfalls sehr oft kritisierten Bürgerinnen
und Bürger aus den ostdeutschen Bundesländern die un-
terschiedliche Rentenanpassung in Ost und West.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Zu Recht!)


Auf dem zweiten Platz der Bundesressorts mit den
meisten Eingaben folgt das Bundesministerium der Jus-
tiz und für Verbraucherschutz mit 1 730 Eingaben, also
circa 11 Prozent. Hier ging es vorrangig um zahlreiche
Petitionen zum Mietrecht, in denen gesetzliche Ände-
rungswünsche vorgetragen wurden, die sowohl die Mie-
ter- als auch die Vermieterseite betrafen, oder Beschwer-
den, in denen es um den Abschluss von Verträgen im
Internet und deren Folgen geht, wie missbräuchliche Ab-
mahnungen oder illegale Downloads.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, neben sei-
nen 27 regulären Sitzungen hat der Ausschuss zwölf Be-
richterstattergespräche mit den einzelnen Ministerien ge-
führt, um Lösungen für schwierige Fälle zu finden.
Themen in den Gesprächen waren unter anderem Petitio-
nen zu Visaangelegenheiten, zur Erstattung der Auf-
wandsentschädigung für ehrenamtliche Betreuer oder zu
Regelungen der Altersrente. Hervorzuheben sind ferner
die vier öffentlichen Sitzungen, in denen elf Petitionen
zur Einzelberatung aufgerufen wurden. Hierbei ging es
unter anderem um die Abschaffung von Hartz-IV-Sank-
tionen, die Stabilisierung der Künstlersozialkasse, die
Vergütung von Logopäden oder das Transatlantische
Freihandelsabkommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Montag, also
am 15. Juni, feiern wir ein Jubiläum. Vor zehn Jahren hat
der damalige Ausschuss einstimmig den Modellversuch
„öffentliche Petitionen“ beschlossen. Seitdem können
Bürgerinnen und Bürger Petitionen im Internet veröf-
fentlichen, online unterstützen oder mitdiskutieren.

Unser Internetportal ist inzwischen klarer Spitzenrei-
ter bei den Internetangeboten des Deutschen Bundesta-
ges. Ein Beleg dafür sind die 1,8 Millionen registrierten
Nutzerinnen und Nutzer auf der Internetseite unseres
Ausschusses und über 500 000 Mitzeichnungen bei
436 im vergangenen Jahr veröffentlichten Petitionen.
Dabei ging es unter anderem um die Reform der Pflege-
versicherung auf der Grundlage eines neuen Pflegebe-
dürftigkeitsbegriffs mit über 176 000 Unterstützerinnen
und Unterstützern oder auch um die Abschaffung der
Intensiv- und Massentierhaltung bis 2020 mit über
98 000 Mitzeichnungen.

Trotz dieser beeindruckenden Zahl bei den öffentli-
chen Petitionen sieht sich der Ausschuss seit einiger Zeit
mit einer Konkurrenzsituation konfrontiert. Petitions-
plattformen von privaten Anbietern im Internet werden
immer populärer und führen zu Missverständnissen bei
Bürgerinnen und Bürgern, aber auch bei den Medien;
denn diese Art von Petitionen können nicht vom Bun-
destag anerkannt und bearbeitet werden. Natürlich kann
jedermann öffentlich auf einer von ihm gewählten Platt-
form eine Petition starten und zu Unterschriftenaktionen
aufrufen. Ich finde, das ist auch gut so: wenn Menschen
sich zusammentun, um sich gemeinsam für etwas einzu-
setzen. Dafür sind Kampagnen und soziale Netzwerke
auch da. Was uns aber wichtig ist: Man darf sie nicht mit
unserer Arbeit, dem parlamentarischen Petitionswesen
gemäß dem Grundgesetz, verwechseln. Denn: Nur beim
Deutschen Bundestag kann der Petent oder die Petentin
von einer mehrfachen Sicherheit ausgehen: Erstens. Die
Petition wird offiziell entgegengenommen und der Ein-
gang bestätigt. Zweitens. Die Petition wird sorgfältig ge-
prüft. Drittens. Das Parlament fällt eine demokratische,
abschließende Entscheidung. Nicht zuletzt werden die
Daten der Einreicher und Nutzer geschützt und nicht –
wie auf einigen Plattformen – durch Verarbeitung oder
Weitergabe als Finanzierungsquelle der Plattform ge-
nutzt. Außerdem empfinde ich es als wichtig, dass weder
eine Eigen- noch Fremdbewerbung für andere Petitionen
oder kommerzielle Produkte erfolgt.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und der SPD)


Ausdrücklich darauf hinweisen möchte ich aber auch,
dass alle Bearbeitungsschritte unabhängig von der Zahl
der Unterstützerinnen und Unterstützer stattfinden. Ob
es sich um eine Einzelpetition handelt oder ob die Peti-
tion 20 oder 120 000 Unterstützerinnen und Unterstützer
hat: Eine sorgfältige Bearbeitung ist beim Petitionsaus-
schuss des Bundestages garantiert.


(Beifall im ganzen Hause)


Hier bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen,
um Ihre Unterstützung, in Ihren Wahlkreisen für Klarheit
und Aufklärung zu sorgen. Sie werden es nicht glauben:
Wir freuen uns, wenn Sie uns mit noch mehr Arbeit ver-
sorgen.


(Heiterkeit – Günter Baumann [CDU/CSU]: Das gilt nur für die Vorsitzende! – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt klatscht keiner!)


Werte Kolleginnen und Kollegen, abschließend
möchte ich mich noch bei denjenigen bedanken, ohne
die wir als Ausschussmitglieder dem enormen Arbeit-
spensum hilflos ausgeliefert wären und die hinter den





Kersten Steinke


(A) (C)



(D)(B)

Kulissen für uns tätig sind. Ein herzlicher Dank geht an
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschuss-
dienstes, der Abgeordneten und der Fraktionen.


(Beifall im ganzen Hause)


Bedanken möchte ich mich aber auch bei meinen Aus-
schusskolleginnen und -kollegen. Wir sind eine tolle
Mannschaft: Bei uns wird gestritten, auch einmal ge-
lacht, um Lösungen gerungen und die Meinung des Ge-
genübers respektiert. Dafür möchte ich mich ganz herz-
lich bedanken. Lassen Sie uns weiter so arbeiten!


(Beifall bei der LINKEN, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Weil Petitionsausschussmitglieder stets und ständig
an Petitionen denken und versuchen, Abhilfe zu schaf-
fen, hoffe ich auch, mit meiner Rede einer Petentin
wenigstens ein wenig gerecht geworden zu sein, deren
Petition lautete: „Der Deutsche Bundestag möge be-
schließen, dass die erste politische Amtssprache im
Deutschen Bundestag Hochdeutsch ist.“


(Heiterkeit – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Was?)


Trotzdem sollten wir den Hinweis von Christian Mor-
genstern beherzigen, der schrieb:

Beim Dialekt fängt die gesprochene Sprache erst
an.

Doch wir beim Petitionsausschuss haben es auch schrift-
lich mit Dialekten zu tun. So wissen wir mittlerweile
auch, was „Prüttsucht“ und „Spökenkiekerei“ sind.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und der SPD)


Aber ich kann Ihnen versichern: Wir beim Petitions-
ausschuss lesen weder im Kaffeesatz, noch können wir
die Zukunft voraussagen. Wir halten uns an die Tatsa-
chen und wollen die Zukunft nicht voraussagen, sondern
sie mit unseren Entscheidungen positiv beeinflussen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall im ganzen Hause)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810907800

Ganz herzlichen Dank, Frau Kollegin Steinke. Ich

sage ausdrücklich herzlichen Dank dafür, dass Sie auch
noch einmal so klar und deutlich beschrieben haben,
welches Privileg und welches wichtige Recht in unserer
Verfassung verankert ist: dass jeder Bürger, jede Bürge-
rin in unserem Land eine Petition an den Deutschen
Bundestag stellen kann und dass auch jede Petition wirk-
lich sorgfältig bearbeitet wird und auch beantwortet
wird. Das ist eine Errungenschaft, die wir, glaube ich,
alle zu schätzen wissen, die aber leider nicht oft genug
unterstrichen und hervorgehoben wird. Deshalb sage
auch ich ausdrücklich Danke an alle Kolleginnen und
Kollegen, die diese wichtige Arbeit leisten.


(Beifall im ganzen Hause)

Als nächster Redner in der Debatte hat Andreas
Mattfeldt von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Andreas Mattfeldt (CDU):
Rede ID: ID1810907900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Ja, wir haben es gehört: Die Arbeit
im Petitionsausschuss ist eine herausragende für unser
Parlament. Tagtäglich dürfen wir uns als Mitglieder in
immer wieder neue Themenbereiche einarbeiten und hi-
neindenken, wie ich es in dieser Vielfalt in keinem ande-
ren Ausschuss erlebe. Wenn ich als Abgeordneter den
Bürgern in ganz vielen Fällen direkt und häufig persön-
lich helfen kann, ist dies wohl die schönste und auch be-
friedigendste Aufgabe, die man in unserem Parlament
als Abgeordneter erleben darf.

Bürger aus allen – allen! – Wahlkreisen unserer Repu-
blik wenden sich mit ihren Petitionen an uns Abgeord-
nete, damit wir ganz konkret ihr Anliegen persönlich zur
Kenntnis nehmen und – das wird natürlich erwartet – in
ihrem Sinne lösen. Dies gelingt nicht immer, aber, wie
wir eben von der Kollegin Steinke gehört haben, viel
häufiger, als man denken mag. Es ist eben die Bürger-
nähe, die die Arbeit dieses Ausschusses auszeichnet. Sie
haben es gesagt, Frau Präsidentin: Jedermann


(Kersten Steinke [DIE LINKE]: Und jederfrau!)


hat das Recht, wie es in Artikel 17 des Grundgesetzes
geschrieben steht, sich mit einer Petition an die Abge-
ordneten des Deutschen Bundestages zu wenden.


(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber da sind die Frauen eingeschlossen!)


Wir Abgeordneten erfahren so aus erster Hand, wo
sprichwörtlich der Schuh drückt, und erhalten auch Im-
pulse für die Gesetzgebung.

Gerade weil wir aus allen Wahlkreisen der Republik
Petitionen erhalten, würde ich mich freuen, wenn die Ar-
beit des Ausschusses ein wenig mehr gewürdigt würde,
als dies manches Mal der Fall ist.


(Beifall im ganzen Hause)


Es ist sicherlich ein Fortschritt, dass wir die Debatte über
den Bericht des Petitionsausschusses im Anschluss an
die Debattenkernzeit führen und nicht, wie ich es auch
schon erlebt habe, zu später Stunde. Allerdings sage ich
auch in aller Deutlichkeit, dass eine Debatte, in der es
um die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger geht, in die
morgendliche Kernzeit gehört,


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das machen wir nächstes Jahr, Andreas!)


um deutlich zu machen, dass die Menschen im Mittel-
punkt des politischen Handelns dieses Hauses stehen.


(Beifall im ganzen Hause)


61 Petitionen erhielt der Deutsche Bundestag im Jahr
2014 durchschnittlich pro Werktag. Insgesamt waren es





Andreas Mattfeldt


(A) (C)



(D)(B)

15 325 Eingaben. Bei so vielen Petitionen muss man na-
türlich einiges an Arbeit leisten, um den Durchblick
nicht zu verlieren. Damit wir die zahlreichen Petitionen
trotzdem bewältigen können, legen sich unser Aus-
schussdienst und unsere Mitarbeiter bei der Vorbereitung
mächtig ins Zeug. Deshalb steht an dieser Stelle unser
Dank für die ausgezeichnete Arbeit unseres Ausschuss-
dienstes, unserer Mitarbeiter, die unermüdlich, häufig
weit über die Erfüllung eines normalen Arbeitsvertrages
hinaus, für die Menschen bei uns im Land im Einsatz
sind.


(Beifall im ganzen Hause)


Viele dieser Petitionen machen uns sehr nachdenk-
lich; denn oftmals enthalten sie nämlich nicht nur rein
fachliche Anmerkungen oder Kritikpunkte. Häufig schil-
dern Betroffene ihre persönlichen Schicksale und wen-
den sich nahezu hilfesuchend an ihr Parlament. Als ein
besonderes Beispiel möchte ich hier eine Petition erwäh-
nen, in der berechtigterweise moniert wurde, dass es
nicht angehen könne, dass ehemalige Mitarbeiter der
Stasi beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des
Staatssicherheitsdienstes arbeiten, obwohl dies bereits
seit vielen Jahren bekannt ist. Meine Damen und Herren,
es darf doch nicht sein, dass Opfer der Stasi, die unsere
Jahn-Behörde aufsuchen, nunmehr 25 Jahre nach der
Wiedervereinigung immer noch Angst haben müssen, in
der Stasiunterlagenbehörde ihren früheren Peinigern
über den Weg zu laufen.


(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt so aber nicht!)


Wir Koalitionäre finden, dass die Forderung dieses Pe-
tenten mehr als berechtigt ist. Daher haben wir die Kul-
turstaatsministerin aufgefordert, diesem Missstand um-
gehend entgegenzuwirken. Sie sehen hieran: Der
Petitionsausschuss ist weit mehr als nur der Kummerkas-
ten des Deutschen Bundestages.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Allerdings möchte ich kritisch anmerken, dass eine
Vielzahl der Petitionen politisch motiviert ist und von
bezahlten Mitarbeitern von Verbänden eingereicht wird.
Viele Eingaben sind inhaltsgleich zu parallel stattfinden-
den Bundestagsdebatten. Deshalb sage ich ganz deut-
lich: Der jeweilige Fachausschuss des Bundestages ist
der richtige Ort, um solche Themen zu behandeln – nicht
der Petitionsausschuss. Leider – diese Kritik kann ich Ih-
nen nicht ersparen, meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition – benutzen Sie den Petiti-
onsausschuss zuweilen gerne als Spielball für parteitak-
tische Spielchen.


(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Sie nicht, ja? Das sehen wir jede Woche!)


Der Petitionsausschuss ist aber kein Ort für Spielchen,
und damit wird uns Zeit und Energie geraubt, die wir
den Bürgern und ihren Anliegen widmen sollten.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschlie-
ßend Folgendes klarstellen – das ist von Frau Steinke
schon gesagt worden, aber es kann gar nicht oft genug
gesagt werden –: Bei uns im Petitionsausschuss macht es
keinen Unterschied, ob es sich um eine Einzel- oder eine
Massenpetition handelt. Man hört und liest nahezu aus-
schließlich von Massenpetitionen mit Tausenden von
Mitzeichnungen, sodass in der Öffentlichkeit allzu leicht
der Eindruck entsteht, dass eine Petition nur dann über-
haupt erfolgreich sein kann, wenn sie möglichst viele
Unterstützer findet. Dem ist – auch Frau Steinke hat das
gesagt – definitiv nicht so. Vom Petitionsausschuss wird
jede Petition angenommen, geprüft und beschieden. Das
ist uns wichtig.

Herzlichen Dank an alle Fraktionen für die gute, sach-
lich und menschlich angenehme Zusammenarbeit!

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810908000

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Kerstin

Kassner von der Fraktion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Kerstin Kassner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810908100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Lassen Sie mich zuerst einmal die potenziel-
len und tatsächlichen Petenten, also die Bürgerinnen und
Bürger, ansprechen. Hier und heute geht es um die Mög-
lichkeit und das verbriefte Recht, eine Petition zu allen
interessierenden Themen, die mit der Bundespolitik zu
tun haben, einzureichen. Natürlich ist das in Worte ge-
gossene Politik, Kollege Mattfeldt. Es ist ganz klar, dass
natürlich all das, was politisch relevant ist, was den
Menschen am Herzen liegt, in eine Petition einfließt.
Das ist einmal mehr, einmal weniger anspruchsvoll; aber
es muss immer ernst genommen werden. Wir haben uns
verpflichtet, alle Petitionen gleichzubehandeln, und das
machen wir auch so.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn ich mir die öffentlich debattierten Petitionen
ansehe, dann stelle ich fest: Sie sprechen sehr deutlich
dafür, dass es tatsächlich um relevante politische The-
men geht, nämlich zum Beispiel um die Reform der
Pflegeversicherung, die Abschaffung der Massen- und
Intensivtierhaltung, die wohnortnahe Versorgung mit
Hebammen, den einheitlichen Umsatzsteuersatz auf Le-
bensmittel, die Kennzeichnung von Echtpelzprodukten,
die Reform hinsichtlich Hartz IV, was die Sanktionen
betrifft, oder die Kostenerstattung bei Cannabismedika-
menten. Das sind alles Themen, die viele Bürger tatsäch-
lich bewegen und berühren. Deshalb haben sie auch
mindestens 50 000 Unterstützer, wurden von uns öffent-
lich diskutiert und mit mehr oder weniger breiter Me-
dienresonanz verfolgt.

Ich wünschte mir aber, dass noch viel mehr Petitio-
nen, deren Themen für die Bürgerinnen und Bürger
ebenfalls wichtig sind, im Petitionsausschuss diskutiert
und somit von den Bürgern nachvollzogen werden könn-





Kerstin Kassner


(A) (C)



(D)(B)

ten. Deshalb wünsche ich mir eine öffentliche Debatte.
Das wäre auch ohne Probleme möglich. Denn wir nen-
nen dort keine Namen, wir nennen dort keine Firmen,
sondern wir reden über die Inhalte, um die es geht. Des-
halb könnte sehr viel mehr öffentlich debattiert werden.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das würde auch dazu beitragen, dem Anspruch der
Transparenz gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern,
den unser Parlament haben sollte, gerecht zu werden.
Also: Machen wir uns dafür stark!


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte den Dank an die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter des Ausschusses, den Frau Steinke ausgespro-
chen hat, gerne wiederholen. Es sind vom Ausschussse-
kretariat im vergangenen Jahr 70 000 Schriftstücke ver-
sandt worden. Wir wissen, es gab 15 325 Petitionen. Das
heißt, dass zu jeder Petition mehrere Schriftvorgänge auf
den Weg gebracht werden mussten. Das ist eine gewal-
tige Leistung. Schönen Dank an alle Mitarbeiter der
Fraktionen, die für Petitionen zuständig sind, aber auch
an die Fachpolitiker! Ohne sie würden wir die vielfälti-
gen Themen gar nicht behandeln können. Es geht dabei
wirklich um das Leben in seiner ganzen Breite. Natür-
lich weiß man nicht über jedes einzelne Thema selbst
Bescheid, sondern muss sich Hilfe holen. Also: Kolle-
gen, habt vielen Dank für eure Unterstützung!


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Abschließend möchte ich auf die Ausschussdrucksa-
che 18/4990 aufmerksam machen; das ist der Bericht des
Petitionsausschusses für das Jahr 2014. Er ist sozusagen
ein Parcoursritt durch alle Politikfelder. Wenn Sie sich
dafür interessieren, welche Themen man noch aufgreifen
könnte, dann schauen Sie bitte in diese Drucksache. Es
gibt viele Politikfelder, die noch beackert werden müs-
sen. Das lohnt sich im Interesse der Bürgerinnen und
Bürger ganz sicher. Es gibt vielfältige Themen – bis hin
zur Farbe der Parkscheibe an den Autos. Dort sollte man,
so die Petition, buntere Farben benutzen. Es gab auch
eine sehr interessante Einschätzung, die ich Ihnen nicht
ersparen möchte. Auf Seite 79 steht nämlich:

Zum Bereich des Wetterdienstes wurden im Jahr
2014 keine Petitionen eingereicht. Der Ausschuss
konnte somit erfreut feststellen, dass die Bürgerin-
nen und Bürger mit dem Wetter im Jahr 2014 wei-
testgehend zufrieden waren.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der CDU/CSU und der SPD – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Das ist doch schon mal was!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810908200

Damit, liebe Kollegin, müssen Sie zum Schluss kom-

men.

Kerstin Kassner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810908300

Ja. – Ich möchte mich sehr herzlich bei allen bedan-

ken. Es ist wirklich eine sehr gute und kollegiale Arbeit
in unserem Petitionsausschuss, und ich denke, das sind
wir den Bürgerinnen und Bürgern auch schuldig.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810908400

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin

Martina Stamm-Fibich von der SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Martina Stamm-Fibich (SPD):
Rede ID: ID1810908500

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Peti-
tionsausschuss ist nicht nur ein sehr arbeitsaufwendiger
Ausschuss, sondern er bietet vor allem auch ein sehr
spannendes Arbeitsumfeld, und das oft jenseits der gro-
ßen Politik. Gerade das macht diesen Ausschuss so be-
sonders.

Der Petitionsausschuss ist das verfassungsrechtlich
verankerte Sprachrohr zwischen Politik und Bürgern.
Diese Funktion ist extrem wichtig, gerade in einer Zeit,
in der die Zahl komplexer globaler Fragen zunimmt. Oft
sind diese Fragen so kompliziert, dass sie mit einfachen
Worten nicht zu beantworten sind. Kein Wunder, dass so
Politikverdrossenheit entsteht! Wenn ich nicht verstehe,
wo mein Geld hinkommt, dann werde auch ich ärgerlich.
Gerade hier liegt die Bedeutung des Petitionsausschus-
ses.

Wir als Mitglieder dieses Ausschusses müssen zuhö-
ren, und zwar vor allem denen, die keine große Lobby
hinter sich haben. Wir müssen die Sorgen und Nöte der
Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen, die sonst zu
leicht überhört werden. Das ist für mich die eigentliche
Bedeutung des Petitionsausschusses, und deshalb liegt
mir die Arbeit so sehr am Herzen.

Scherzhaft wurde ich vor kurzem in einem Interview
als „Kümmertante“ bezeichnet. Ich denke, mein Ge-
sprächspartner hatte recht; denn wir kümmern uns sehr
gerne und mit viel Engagement um die Anliegen der
Bürgerinnen und Bürger. Im Petitionsausschuss sam-
meln wir keine Stimmen, wir suchen Lösungen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Als Mitglied im Ausschuss für Gesundheit habe ich
es auch im Petitionsausschuss vor allem mit den Petitio-
nen aus dem Gesundheitsbereich zu tun. 2014 gab es im
Gesundheitsbereich rund 28 Prozent mehr Petitionen als
2013. Insgesamt 1 531 Petitionen richteten sich an das
Bundesministerium für Gesundheit. Die hohe Zahl er-
klärt sich durch die zwei Gesetze, die wir im letzten Jahr
beschlossen haben.

Petitionen sind aber weit mehr als Reaktionen auf Ge-
setzesvorhaben. Sie drücken das aus, was Bürger erle-





Martina Stamm-Fibich


(A) (C)



(D)(B)

ben, sie zeigen Grenzen, an die Bürger stoßen, und die
Alternativen auf, die sie sich für bestimmte Situationen
wünschen.

Im Bereich der Gesundheit sind es vor allem zwei
Themen, bei denen viele Bürgerinnen und Bürger der
Schuh drückt. Zum einen sind es die Beiträge zur gesetz-
lichen Krankenversicherung. 363 Petitionen beinhalteten
im Jahr 2014 die Beiträge zur GKV. Häufig wenden sich
freiwillig gesetzlich Versicherte, die selbstständig sind,
an uns. Viele der Selbstständigen haben ein zu geringes
Einkommen, um die hohen Beiträge der freiwilligen
Krankenversicherung zahlen zu können. Sie fordern des-
halb, dass die Beiträge nach dem tatsächlichen Einkom-
men berechnet werden. Aktuell gibt es hier eine Min-
destbemessungsgrenze.

Neben den Beiträgen zur GKV zeichnen sich zum an-
deren auch im Bereich der Leistungen der gesetzlichen
Krankenversicherungen Probleme ab. So wurde in einer
Petition die Zuzahlung zu einem elektrischen Rollstuhl
gefordert. Aus einer persönlichen Notlage heraus fordert
die Petentin, dass die Ungleichbehandlung von mittelba-
rem und unmittelbarem Behinderungsausgleich generell
abgeschafft werden muss. Auch mittelbare Hilfsmittel,
wie der genannte Rollstuhl, sollten es den Betroffenen
ermöglichen, so normal wie möglich am Leben teilzuha-
ben – so die Forderung der Petentin. Insgesamt haben
sich 77 Bürgerinnen und Bürger an uns gewandt, die
Probleme mit Zuzahlungen in der GKV hatten.

Besonders spannend sind für mich die Petitionen aus
dem Bereich der Arzneimittel. Im Fokus der Kritik steht
dabei oft die Substitution, also die Pflicht, Originalprä-
parate durch Generika zu ersetzen. Am 15. Juni, also am
kommenden Montag, beschäftigt sich der Petitionsaus-
schuss in einer öffentlichen Anhörung mit dem Thema
Substitution. In der Petition fordert die Deutsche Parkin-
son Vereinigung, dass die Indikation Parkinson auf die
sogenannte Substitutionsausschlussliste gesetzt wird.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, die
Arbeit des Petitionsausschusses ist vielfältig, aber
manchmal auch sehr kleinteilig. Ohne die engagierten
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes
wäre die Flut an Petitionen für uns nicht zu bewältigen.
Ich danke ihnen für die gute Zusammenarbeit.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Nur wenn wir uns gemeinsam kümmern, können wir die
besten Lösungen für die Petenten finden.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD, CDU/CSU und der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810908600

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin

Corinna Rüffer vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810908700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Ich schließe
mich dem an – das ist im Jahresbericht nachzulesen –:
Mit Petitionen kann man sehr viel erreichen. Da sind
zum Beispiel die vielen Petitionen, die fordern, endlich
das Leid der vergessenen Kinder anzuerkennen, die in
Einrichtungen der Behindertenhilfe und in Psychiatrien
unermessliches Leid erlitten haben. Wenn die Länder
sich jetzt endlich zu bewegen scheinen, in dieser Frage
ihrer Verantwortung gerecht zu werden, dann auch auf-
grund eines gemeinsamen Beschlusses der Abgeordneten
im Petitionsausschuss. Zu verdanken sind die meisten Er-
folge in allererster Linie den engagierten Bürgerinnen
und Bürgern und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des
Ausschussdienstes.


(Beifall im ganzen Hause)


Wenn wir im Ausschuss immer so engagiert debattie-
ren würden, wie es gestern Morgen auf einmal möglich
war, könnten wir uns auch selber auf die Schulter klop-
fen. Aber im Rückblick auf das letzte Jahr und die letz-
ten Monate kann ich nur sagen: An uns, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, liegen die Erfolge leider nicht immer.
Denn der Lust der Bürgerinnen und Bürger auf Mitspra-
che, Mitwirkung und Veränderung steht viel Verzagtheit
entgegen, Verzagtheit der Koalitionsabgeordneten, die-
ses Engagement aufzunehmen und Fehler zu korrigieren.

Um es deutlich zu sagen: In der heutigen Debatte
herrschen verkehrte Verhältnisse. Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Union und der SPD, haben wieder
zwei Drittel der Redezeit. Aber im Ausschuss bekom-
men Sie, abgesehen von der wirklich erfreulichen Sit-
zung gestern, zu selten den Mund auf.


(Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Sie kriegen den Mund auch nicht auf!)


In der Regel jagen wir im Schweinsgalopp in 30 Minu-
ten durch 30 Petitionen. Die Petitionen sind Ihnen im
Schnitt also 60 Sekunden wert.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Sie sagen gar nichts!)


– Wir sagen die ganze Zeit etwas. Das können wir uns
einmal angucken.

Für viele Bürgerinnen und Bürger ist der Petitionsaus-
schuss wie eine Laterne, die Licht ins Dunkel des Behör-
den- und Paragrafendschungels bringen kann.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Das war eine Rede der letzten Legislatur!)


Die Kolleginnen und Kollegen der SPD bräuchten dort
vor allen Dingen eine Laterne, um sich festzuhalten. Re-
gelmäßig mittwochmorgens dürfen wir erleben, wie die
SPD umfällt und sich widerstandslos von eigenen Grund-
sätzen verabschiedet. Petitionen zu Pflege, Gesundheit
und Arbeitsmarktpolitik, mit denen Bürgerinnen und
Bürger sozialdemokratische Kernanliegen formulieren,
werden von sozialdemokratischen Abgeordneten oft im
Minutentakt und diskussionslos beiseitegewischt.





Corinna Rüffer


(A) (C)



(D)(B)

Wir würden im Ausschuss gerne häufiger oder zumin-
dest ab und an eine Begründung dafür finden, warum be-
rechtigte Petitionen abgelehnt werden.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Ich würde häufiger mal gerne intensiv diskutieren!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD – die
Union schimpft gerade mehr, obwohl sie gar nicht ange-
sprochen ist –, was ist das für ein Verständnis von De-
mokratie und Parlamentarismus, wenn Sie auf eine Peti-
tion, mit der Hunderttausende von Bürgerinnen und
Bürgern die Bundesregierung auffordern, Konsequenzen
aus dem NSA-Skandal zu ziehen, nur antworten – ich zi-
tiere sinngemäß –: Mal ganz ehrlich, daran können wir
doch sowieso nichts ändern.

Warum machen wir uns eigentlich die Arbeit? Es ist
doch Sinn und Zweck des Petitionsausschusses, Regie-
rungshandeln zu kontrollieren und zu korrigieren. Sie
wissen schon, dass auch Abgeordnete der Regierungs-
koalition nicht verpflichtet sind, zu allem Ja und Amen
zu sagen, was ihre Minister verbocken. Wenn die
Merkel-Raute zum Symbol für Bewegungslosigkeit und
Stillstand in diesem Land geworden ist, dann ist der
Bremsklotz das Symbol für die Tätigkeit der Koalition
im Petitionsausschuss.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Günter Baumann [CDU/CSU]: Wer hat denn die Rede geschrieben?)


Die Liste von Petitionen – jetzt sollten vor allem auch
diejenigen zuhören, die nicht immer dabei sind –, die
von der Koalition nicht entschieden, sondern immer wie-
der geschoben werden, wird länger und länger. Es ist
wirklich leichter, einen Pudding an die Wand zu nageln,
als die Koalitionsabgeordneten im Ausschuss zu Ent-
scheidungen zu bewegen.


(Günter Baumann [CDU/CSU]: Den Redenschreiber entlassen!)


Wir alle wollen doch nicht den Petitionsausschuss
wieder in die muffige Ecke des Kummerkastens drän-
gen: Die Leute sollen bei Mutti ihr Herz ausschütten,
aber mit Konsequenzen ist nicht zu rechnen. Jetzt kom-
men Sie mir nicht damit, dass Sie Fortschritte im Be-
reich der Barrierefreiheit in der Pipeline haben. Es ist
wirklich peinlich, dass wir in diesem Bereich noch nicht
weitergekommen sind. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir
können das von unserer Seite aus heute entscheiden. Das
ist überhaupt kein Problem. Aber darüber hinaus steht
eine substanzielle Weiterentwicklung des Petitionsrechts
an. Warum nicht generell öffentliche Ausschusssitzun-
gen?


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Zum Schutz des Petenten!)


Es ist ziemlich absurd, dass mehr als 90 Prozent aller öf-
fentlichen Petitionen in nichtöffentlicher Sitzung beraten
werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Lassen Sie uns hier im Plenum über bedeutende Peti-
tionen debattieren. Lassen Sie uns die öffentliche Peti-
tion zu einer offenen Petition weiterentwickeln, sodass
die Bürgerinnen und Bürger gemeinsam Gesetzentwürfe
erarbeiten können. Dann können wir sie in den Fachaus-
schüssen und auch nachher hier im Plenum beraten. Das
wäre ein echter Fortschritt. Lassen Sie uns bessere
Zugänge schaffen für diejenigen, die sich nicht routiniert
im Netz bewegen, für Menschen mit geringem Einkom-
men, mit niedrigem Bildungsniveau und für alte Men-
schen. Solche Reformen wären die richtige Antwort auf
die zunehmende Politikverdrossenheit, von der wir alle
ein Lied singen können.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810908800

Frau Kollegin Rüffer, auch bei einer großzügigen Be-

messung der Redezeit müssen Sie zum Schluss kommen.


Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810908900

Ich komme zum Ende. – Die Menschen möchten sich

einbringen. Das beweist jede Petition, die uns erreicht.
Geben wir ihnen bitte mehr Möglichkeiten, als es heute
der Fall ist.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810909000

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege

Paul Lehrieder.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1810909100

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Zuschauerinnen! Liebe Zuschauer!
Sehr geehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Peti-
tionsausschusses hier auf der Regierungsbank, auch von
mir vorab ein herzliches Wort des Dankes.

Ich habe mich bemüht, eine sehr harmonische Rede
aufzusetzen, aber, liebe Frau Kollegin Rüffer, ich muss
gleichwohl anfangen, Sie zu korrigieren. An die Damen
und Herren Zuschauer, die die Kollegin Rüffer nicht so
gut kennen wie wir, sage ich: Sie ist eigentlich viel
netter.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


So wie heute – sie hat hier versucht, zu polarisieren – ist
sie zum Glück im Ausschuss ganz selten.

Liebe Frau Kollegin Rüffer, wenn im Ausschuss
Schweigen im Walde herrscht, dann liegt das oft genug
daran, dass wir unsere Petitionen sehr gründlich vor-
bereitet haben und unsere Meinung gefestigt haben, aber
von der Opposition kein Wort dazu kommt, warum und
weshalb über welche Petition so nicht abgestimmt wer-
den soll.


(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die kritischen Petitionen sind nicht auf der Tagesordnung!)






Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)

Frau Rüffer, wir sind auf eine Wortmeldung von Ihnen,
von den Grünen oder von den Linken noch nie eine
Antwort schuldig geblieben. Das Schweigen im Walde
betrifft also, wenn wir tatsächlich harmonisch eine Peti-
tion verabschieden, uns beide. Ich freue mich auf die
nächste Sitzung des Petitionsausschusses am kommen-
den Mittwoch. Da werden Sie wieder viel netter sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Sie wollen etwas fragen.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810909200

Ich entnehme Ihrer zustimmenden Geste, Herr Kol-

lege Lehrieder, dass Sie mit einer Zwischenfrage der
Kollegin Rüffer einverstanden sind.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1810909300

Selbstverständlich.


Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810909400

Herr Lehrieder, ich schätze Sie auch sehr.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1810909500

Das war schon mal gut. Bisher stimmt alles.


Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810909600

Ich schätze alle Kollegen, die im Petitionsausschuss

sind. Aber das ist nicht der Punkt. Ich nenne einmal ein
Beispiel: Es ist wirklich schwierig, über kritische Peti-
tionen zu diskutieren, wenn sie schlicht nicht auf der Ta-
gesordnung stehen. Ich hatte gestern Berichterstattung
zu fünf Petitionen. Vier dieser Petitionen sind geschoben
worden. Würden Sie mir nicht zustimmen, dass das ein
Problem sein könnte?


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1810909700

Liebe Frau Kollegin Rüffer, herzlichen Dank für die

Einlassung. Natürlich ist es oft so, dass noch Sachver-
halte oder neue Erkenntnisse bei der Bearbeitung einer
Petition oder bei der Vorbereitung einer Sitzung des
Petitionsausschusses auftauchen und dass es deshalb der
Petent verdient, dass wir die Petition, bevor wir eine vor-
schnelle Entscheidung treffen, schieben, um unserem ge-
samten Ausschuss die Wissensmehrung, auch im Inte-
resse der Opposition, zu ermöglichen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Markus Paschke [SPD])


Also, Frau Kollegin Rüffer, eine Verschiebung hat
sachliche und vernünftige Gründe. Das zeugt von einem
verantwortungsvollen Umgang mit den Petitionen, den
wir uns angewöhnt haben und den Sie in vielen Fällen
sicherlich gut mitmachen. – Bitte bleiben Sie noch ste-
hen, ich bin mit meiner Antwort noch nicht ganz fertig.
Bitte glauben Sie uns: Die Petitionen sind bei uns in
der Großen Koalition in guten Händen. Wir machen das
richtig. Das hat nichts mit einem Pudding, den man an
die Wand nageln kann, zu tun. Sie dürfen uns dabei
gerne weiterhin kritisch begleiten. Ich freue mich schon
auf die nächste Sitzung. – So, jetzt dürfen Sie sich set-
zen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Henning Otte [CDU/CSU], an die Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] gewandt: Vertrauen Sie auf die Große Koalition!)


Meine Damen und Herren, wir treffen uns hier zum
ersten Mal in der 18. Legislaturperiode, um den Jahres-
bericht 2014 des Petitionsausschusses vorzustellen.
Nach der Bundestagswahl 2013 änderte sich natürlich
auch die Zusammensetzung des Ausschusses, sodass
diese Beratung eines Jahresberichtes heute für einige
Kolleginnen und Kollegen die erste ist.

Sie konnten sich bereits ein Bild über die sehr arbeits-
reiche, aber auch über die Fraktionsgrenzen hinweg äu-
ßerst angenehme und sehr kollegiale Zusammenarbeit
im Petitionsausschuss machen. Das betrifft unseren
Koalitionspartner von der SPD. Das betrifft aber auch
Sie, Frau Steinke, und die ganzen Kollegen der Links-
partei, aber auch die Kollegin Rüffer und den Kollegen
Meiwald von den Grünen. Im Großen und Ganzen mö-
gen wir uns sehr viel mehr, als es hier den Anschein hat.

Im Vergleich zu den meisten anderen Ausschüssen
des Bundestages findet die Arbeit des Petitionsausschus-
ses bedauerlicherweise nach wie vor eher fernab der öf-
fentlichen Wahrnehmung statt. Ich will nicht verhehlen,
Frau Kollegin Rüffer: Oft ist das auch gut so. Oft enthält
eine Petition wirklich sensible und personenbezogene
Daten. Dabei kann der Petent völlig zu Recht darauf ver-
trauen, dass wir seine Daten vertraulich behandeln und
sie nicht coram publico erörtern oder auf dem Markt-
platz herumtragen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Unsere Tätigkeit ist gleichwohl nicht weniger wich-
tig. Im Gegenteil: Kaum eine Institution innerhalb des
politischen Systems der Bundesrepublik setzt sich mit
den Befindlichkeiten innerhalb der Bevölkerung so in-
tensiv auseinander. Nirgendwo sonst können Bürger auf
so direkte Weise ihre Anliegen dorthin tragen, wo
Entscheidungen getroffen werden: in den Deutschen
Bundestag.

Meine Damen und Herren, wir alle bezeichnen uns als
Abgeordnete. Abgeordnet: Das heißt, wir sind von den
Bürgern aus unseren Wahlkreisen hier nach Berlin ent-
sandt, um zum einen gute Gesetze und gute Arbeit in den
Ausschüssen zu machen, aber um zum anderen natürlich
auch die Sorgen und Nöte der Menschen in unseren
Wahlkreisen, in unserer Heimat mit nach Berlin zu neh-
men und sie als Abgeordnete einer vernünftigen Lösung
zuzuführen. Das Vertrauen der Menschen rechtfertigen
wir auch durch die Arbeit im Petitionsausschuss, um als
Seismograf der Befindlichkeit unserer Bevölkerung kri-
tikwürdige Gesetze, kritikwürdige Entscheidungen, aber
auch kritikwürdiges Verwaltungshandeln zu korrigieren.





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)

Bevor meine Zeit zu Ende ist – lieber Herr Präsident,
die Uhr läuft heute wieder sehr schnell –, darf ich auf ei-
nige aktuelle Beispiele hinweisen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nur die Redezeit, Paul! – Christel Voßbeck-Kayser [CDU/CSU]: Guter Hinweis!)


– Lieber Kollege Birkwald, das stimmt. – Ich will ein
paar aktuelle Beispiele aufgreifen, damit sich die Men-
schen vorstellen können, welche Themen wir behandeln;
von den Kollegen wurden bereits Beispiele aus dem
Petitionsausschuss genannt.

In einer Petition vor einigen Jahren wurde gefordert,
die Kindererziehungszeiten bei der Rentenberechnung
von Frauen, deren Kinder vor dem 1. Januar 1992 gebo-
ren wurden, von einem Jahr auf drei Jahre zu erhöhen.
Wir haben diese Petition dem zuständigen Bundesminis-
terium für Arbeit und Soziales zur Erwägung überwie-
sen, weil wir hier eine Ungleichbehandlung sahen. Diese
Petition hat sinngemäß Eingang in die Koalitionsver-
handlungen gefunden. Wir haben zum 1. Juli 2014 die
sogenannte Mütterrente eingeführt, mit der die Erzie-
hungsleistung von Vätern und Müttern, deren Kinder vor
dem 1. Januar 1992 geboren wurden,


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 6,5 Milliarden!)


mit einem zusätzlichen Entgeltpunkt berücksichtigt
wurde.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben die Rücklagen geplündert!)


– Herr Kollege Kurth, bitte stellen Sie eine Frage. Ich
habe nur noch 40 Sekunden Redezeit. – Ich will nicht
behaupten, dass allein der Petitionsausschuss die Mütter-
rente auf den Weg gebracht hat. Aber wir haben kons-
truktiv daran mitgewirkt, dass hier mehr Gerechtigkeit
für Mütter von Kindern, die vor dem 1. Januar 1992 ge-
boren worden sind, entstehen konnte.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der nächste Punkt betrifft die Prostitution. Die Forde-
rung, Bordellwerbung auf öffentlichen Plätzen und auf
öffentlichen Veranstaltungen zu verbieten, betrifft das
Prostitutionsgesetz, dessen Neuregelung wir derzeit in
sehr konstruktiven und sehr leidenschaftlichen Diskus-
sionen mit unserem Koalitionspartner erarbeiten. Aus
diesem Grund hat der Petitionsausschuss empfohlen, die
Petition der Bundesregierung und damit dem zuständi-
gen Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend zu überweisen, was wir getan haben.

Ich begrüße die in die Arbeit vertiefte Frau Staatsse-
kretärin Caren Marks und darf gleichzeitig die Gelegen-
heit nutzen, mich für die gute Präsenz von Mitgliedern
der Bundesregierung auf der Regierungsbank sehr herz-
lich zu bedanken. Oft genug müssen wir uns mit euch
anlegen und einen Staatssekretär vorladen, wenn ihr
nicht sofort das macht, was der Petitionsausschuss will.
Manchmal müssen wir gemeinsam mit unserer Regie-
rung dicke Bretter bohren. Aber in vielen Fällen konnten
wir gemeinsam und konstruktiv eine gute Lösung errei-
chen.
Ich darf mich bei der Regierung, bei den Ausschuss-
mitarbeitern und auch bei den Kolleginnen und Kollegen
bedanken und wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.
Ich freue mich auf die weiterhin harmonische, konstruk-
tive und nette Zusammenarbeit, Frau Kollegin Rüffer.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1810909800

Es herrscht also eine ausgesprochen angenehme

Atmosphäre.


(Zuruf von der CDU/CSU: Kurzzeitig!)


Deshalb erteile ich jetzt das Wort der Kollegin Birgit
Wöllert für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Birgit Wöllert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810909900

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer und Zuhörerinnen
und Zuhörer! Zu Anfang sei gleich gesagt, dass es eine
spannende Arbeit in diesem Petitionsausschuss ist, weil
es eine Arbeit ist, die durch die Breite aller Politikfelder
reicht. Als Abgeordnete, die auch in einer Stadtverord-
netenversammlung und in einem Kreistag tätig ist,
schätze ich es sehr, diese Breite der Politik oftmals auch
in der politischen Bewertung zu haben. Das sei voraus-
geschickt.

Ganz interessant finde ich, dass das Bundesministe-
rium für Arbeit und Soziales deutlich auf Platz eins der
Liste der Petitionen liegt, gefolgt von dem Bundesminis-
terium für Gesundheit auf Platz vier, das auch eine recht
hohe Anzahl von Petitionen betrifft. Soziale Fragen – ich
zähle diese einmal zusammen –, sind somit mit einem
hohen Anteil Gegenstand von Petitionen. Ich denke, das
ist eine Widerspiegelung dessen, was gesamtgesell-
schaftlich diskutiert wird. Das halte ich für sehr wichtig,
und deshalb möchte ich dies an zwei ganz konkreten
Beispielen näher ausführen.

Wir hatten insgesamt elf öffentliche Petitionen in vier
Sitzungen. Davon waren 36 Prozent aus dem Bereich
des Ministeriums für Gesundheit. Spitzenreiter bei den
öffentlichen Petitionen war die Petition zur Reform der
Pflegeversicherung auf der Grundlage eines neuen Pfle-
gebedürftigkeitsbegriffs, an der sich 176 523 Menschen
beteiligt haben. Ich finde, das ist eine tolle Form, seine
eigenen Angelegenheiten selbst in die Hände zu neh-
men.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Worum ging es dabei? Es ging um ein neues Ver-
ständnis von Pflegebedürftigkeit. Ich bin immer für eine
konstruktive Arbeit. Harmonisch muss sie nicht immer
sein, das sind wir auch sonst nicht alle,


(Zuruf von der CDU/CSU: Gar nicht!)






Birgit Wöllert


(A) (C)



(D)(B)

und das unterscheidet uns als Opposition von der Koali-
tion.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Wir bemühen uns!)


Eine nur harmonische Opposition erübrigt sich eigent-
lich.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Was heißt das im Einzelnen? Der Hilfebedarf der
Menschen ist ganzheitlich und unter Einbeziehung von
seelischen, geistigen und körperlichen Einschränkungen
zu beurteilen. Seit 2009 liegen dazu Ergebnisse von
verschiedenen Sachverständigen vor. Nun will die Bun-
desregierung laut Koalitionsvertrag den Pflegebedürftig-
keitsbegriff erst 2017 wirklich auf die Tagesordnung
bringen. Das geht den Petentinnen und den Petenten zu
langsam, und ich sage: zu Recht.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Betroffenen haben einfach nicht so lange Zeit. Ih-
nen rennt die Zeit buchstäblich davon, und wir Politike-
rinnen und Politiker haben da einfach schneller zu sein.
Wenn Expertinnen und Experten sich in eigener Sache
zu Wort melden, geben sie auch immer gute Hinweise,
wie etwas finanziert werden kann. Es ist nämlich ein
Märchen, dass immer nur gefordert und nicht gesagt
wird, wie das bezahlt werden kann. Auch das zeigte sich
in der öffentlichen Anhörung. Ich sage noch einmal
recht herzlichen Dank dafür, dass alle, die sich diesen öf-
fentlichen Anhörungen stellen, mit einer solchen Sach-
kompetenz gut vorbereitet dorthin kommen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Beispiel zwei: Sicherstellung der flächendeckenden
wohnortnahen Versorgung mit Hebammenhilfe. Mit
88 512 Unterschriften lag diese Petition auf Platz drei,
hinter der Massentierhaltung. Hier ging es erstens um
Sofortmaßnahmen für die Hebammen wegen der Haft-
pflichtversicherung und zweitens darum, Voraussetzun-
gen zu schaffen, dass Hebammen ohne Einschränkung
bei normalen Geburten der Nachsorge und der Hilfe bei
Beschwerden ihrer Arbeit gut nachkommen können. Es
ist leider nicht gesetzlich gesichert – es wird auch mit
dem neuen Gesetz, dessen Entwurf wir im Rahmen der
zweiten und dritten Beratung unter Tagesordnungs-
punkt 6 verabschieden werden, nicht gesichert sein –,
dass Hebammen künftig eine Absicherung haben.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810910000

Frau Kollegin Wöllert, als erfahrene Parlamentarierin

wissen Sie, dass jede Redezeit einmal ein Ende hat.


Birgit Wöllert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810910100

Ich kann nur noch sagen: Ich habe das jetzt auf den

Weg gebracht. Die Sache läuft.

Liebe Petentinnen und Petenten, bleiben Sie weiterhin
so fleißig, und sorgen Sie dafür, dass der Bundestag so
viel Arbeit wie möglich hat. Sie haben durchaus Mög-
lichkeiten, hier mitzuwirken.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810910200

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Simone Raatz

für die SPD.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Simone Raatz (SPD):
Rede ID: ID1810910300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Mitarbeiter des Petitionsausschusses!
Einige meiner Vorredner haben das schon gesagt: Der
Petitionsausschuss ist sehr arbeitsintensiv. Frau Steinke
und Herr Mattfeldt haben bestimmte Zahlen genannt.
Alleine 2014 habe ich als Berichterstatterin für die The-
menbereiche Energie, Innen- und Netzpolitik sowie Bil-
dung und Forschung etwa 250 Petitionen bearbeitet. Nun
wurde der Ruf von einigen nach noch mehr Arbeit laut.
Ich bin mir nicht sicher,


(Heiterkeit bei Abgeordneten im ganzen Hause)


ob wir das dann noch bewältigen können. Ich finde, dass
schon 250 Petitionen ausreichend sind, wenn man sie or-
dentlich bearbeiten möchte. Wenn es sich um wichtige
Anliegen handelt, stehen wir Abgeordnete im Petitions-
ausschuss natürlich bereit, um alles ordentlich zu bear-
beiten.

Unter den 250 Petitionen gab es viele interessante, die
ein Nachjustieren auf politischer Ebene erforderlich
machten. Da viele allgemeine Sachverhalte bereits er-
wähnt wurden, möchte ich auf ein Beispiel näher einge-
hen. Sie alle kennen sicher die Wäscheetiketten in ihrer
Kleidung. Haben Sie diese auch schon einmal aus Ihrer
Kleidung entfernt – wenn nicht, sollten Sie dies tun –
und gesehen, dass manche Wäscheetiketten ein Innenle-
ben haben? Warum diese Frage? Weil genau dieses
Innenleben der Etiketten Bürger in unserem Land be-
schäftigt und sie dazu eine Petition an den Deutschen
Bundestag gerichtet haben. Denn in den Etiketten befin-
det sich häufig ein Chip, der sogenannte RFID-Chip, der
Radiofrequenz-Identifikations-Chip. Dieser dient den
Unternehmen der Warenverfolgung und der Inventur.
Aber er verbleibt nach dem Verkauf weiterhin im Klei-
dungsstück. Das fiel einem Petenten auf und machte ihn
stutzig. Er forderte daher in seiner Petition die automati-
sche Deaktivierung und Entfernung des Chips nach dem
Kauf des Kleidungsstücks.

Warum? Bisher können Kunden über diesen Chip,
ohne dass sie etwas davon wissen, im Umkreis von etwa
einem Kilometer identifiziert werden. Damit wäre es
zum Beispiel möglich, Bewegungsprofile zu erstellen,
das Kaufverhalten zu analysieren und damit individuelle
Werbebotschaften zu platzieren, und das alles mit han-
delsüblichen Lesegeräten. Das mag manchem gefallen.





Dr. Simone Raatz


(A) (C)



(D)(B)

Ich persönlich würde es sympathisch finden, wenn man
mir das eine oder andere anbieten würde.


(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Echt?)


Manche, wie dieser Petent, möchten das aber nicht. In
der Sitzung des Petitionsausschusses waren wir uns da-
her parteiübergreifend einig, dass hier Handlungsbedarf
besteht. Frau Rüffer, da waren wir einer Meinung und
haben gemeinsam gestimmt. Unterschiedliche Meinun-
gen im Petitionsausschuss dürfen und müssen möglich
sein. Ich gebe Ihnen dahin gehend recht, dass eine inten-
sivere Diskussion über manche Punkte wünschenswert
wäre. Vielleicht kommen wir noch dahin. Ich wünsche
es mir jedenfalls auch.

Solche RFID-Chips sollten – das war der Wunsch des
Petenten – beim Verkauf deaktiviert bzw. entfernt wer-
den. Um das zu erreichen, haben wir die Petition folgen-
dermaßen behandelt: Erstens. Diese Petition haben wir
zur Erwägung an die Bundesregierung überwiesen. Das
ist immerhin das zweithöchste Votum, welches der Peti-
tionsausschuss vergeben kann. Zweitens haben wir ein
Berichterstattergespräch mit den zuständigen Ministe-
rien in die Wege geleitet, um ganz konkret klären zu las-
sen, was getan werden muss, um dieser Petition gerecht
zu werden.

Ein bisschen ernüchtert waren wir nach dem Gespräch;
denn wir mussten feststellen, dass auch die Mitarbeiter in
den zuständigen Ministerien über relativ wenig techni-
sches Know-how bezüglich dieser Chips verfügten und
darum keine genauen Aussagen treffen konnten, wie die
Verwendung und Einsetzbarkeit zukünftig zu regeln ist.
Das macht die Entscheidung im Petitionsausschuss nicht
unbedingt einfacher.

Aber – und darauf kommt es an – die zuständigen
Ministerien BMWi und BMI haben jetzt den Auftrag,
sich intensiver mit der Thematik zu befassen, rechtliche
Klarheit zur Nutzung der RFID-Chips zu schaffen und
zukünftig eine automatische Deaktivierung der Chips zu
gewährleisten. Damit hat der Petent mit seiner Petition
auf ein allgemeines Problem aufmerksam gemacht und
uns als Petitionsausschuss zum Handeln aufgefordert.
Damit und mit der Reaktion, die ich gerade beschrieben
habe, machen wir doch deutlich, dass Petitionen sehr er-
folgreich zum Ziel geführt werden können, es also auch
sinnvoll ist, sich mit dem Anliegen an uns zu wenden.

Um auf den Chip zurückzukommen: Im Moment sind
die zuständigen Ministerien am Zug. Konkret bedeutet
das, dass die Ministerien spätestens bis Ende des Jahres
einen Bericht darüber vorlegen müssen, was sie diesbe-
züglich veranlasst haben. Das Beispiel zeigt eben, dass
wir die Anliegen von Petenten natürlich ernst nehmen
und jedes Anliegen behandelt wird. Meine Kolleginnen
und Kollegen haben es schon hier erwähnt. Wenn mög-
lich, werden wir die Anliegen zu einer guten Lösung
führen, und wir haben das in der Vergangenheit schon
getan. Darum kann man von Verzagtheit, Frau Rüffer,
hier eher nicht sprechen.


(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, doch, kann man!)

Das war ein Beispiel von vielen. Im vorliegenden Jah-
resbericht sind weitere aufgeführt.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810910400

Frau Kollegin Dr. Raatz, darf ich auch Sie an die Re-

dezeit erinnern?


Dr. Simone Raatz (SPD):
Rede ID: ID1810910500

Ich komme zum Schluss, und zwar mit einem Dan-

keswort. – Alle anderen haben gedankt; daher möchte
auch ich jetzt danken.


(Günter Baumann [CDU/CSU]: Das ist Pflicht für jeden!)


Da diese Themenvielfalt alleine nicht zu bearbeiten
ist, gilt mein Dank an dieser Stelle all jenen, die es er-
möglichen, dass dieses Instrument der direkten Demo-
kratie funktioniert. Das sind alle Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter des Ausschussdienstes und der Fraktionen,
die eigenen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter sowie die Kolleginnen und Kollegen des
Ausschusses. Ich jedenfalls freue mich auf die weitere
Zusammenarbeit.


(Beifall im ganzen Hause)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810910600

Darf ich generell an die Kolleginnen und Kollegen

appellieren, die Redezeiten nicht als ungefähre Richt-
größe zu empfinden, sondern als präzise Abmachung
zwischen den Geschäftsführern?

Ich erteile in diesem Sinne das Wort dem Kollegen
Peter Meiwald für Bündnis 90/Die Grünen.


Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810910700

Vielen Dank, Herr Präsident. – Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Wieder einmal ist die Zahl der Eingaben
deutlich gestiegen. Das ist auch das, was wir uns wün-
schen. Wir wollen artikulationsstarke, wir wollen par-
tizipierende Bürger, wir wollen auch zwischen den
Wahltagen Menschen, die Anteil an unserem parlamen-
tarischen Verfahren nehmen. Erfreulich ist – das ist
schon angeklungen – der angenehme menschliche Um-
gang im Ausschuss. Erfreulich ist auch – Herr Kollege
Lehrieder hat es gesagt – die Unterstützung durch die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschusses und
der Fraktionen.

Doch wir wollen heute auch den Blick darauf werfen,
was eigentlich hinter den Petitionen steckt und welcher
Art die Petitionen sind, die wir Mittwoch für Mittwoch
bearbeiten. Es wird schnell deutlich: Das Petitionswesen
wird immer wieder von tragischen Einzelfällen be-
stimmt. Es handelt sich bei den Petenten um Menschen,
bei denen man wirklich lange überlegt, wie man ihnen
im Einzelfall helfen kann.

Es gibt andererseits aber auch die Menschen, die das
Petitionswesen als sachkundige Bürger im Sinne eines
politischen Korrektivinstruments nutzen. Das ist auch
gut so. Auch wenn es viele positive Beispiele für diese
Nutzung gibt, so ist das Bemühen leider oftmals vergeb-





Peter Meiwald


(A) (C)



(D)(B)

lich. Es wird viel zum Nachdenken angeregt – Kollege
Mattfeldt hat es gesagt, und das ist wohl wahr –, aber wir
stellen immer wieder fest, dass es dabei bleibt, dass man
nachdenkt, aber am Ende sagt: Diese Alarmsignale neh-
men wir wahr, aber wir können die Lage nicht ändern,
die Petition lässt diese Konsequenz nicht zu.

Vielleicht ein paar Beispiele dazu. Manchmal gibt es
ein gesetzgeberisches Problem – Corinna Rüffer hat das
angesprochen –, aber keine Möglichkeit, sich innerhalb
der Koalition zu einigen. Dann belässt man es dabei. Als
Beispiel nenne ich die vermurkste EEG-Reform aus dem
letzten Jahr. Es gibt immer wieder Bürgerinnen und Bür-
ger, die sich darüber beklagen, wie ungerecht die Lasten-
verteilung der EEG-Umlage zwischen finanzstarken Un-
ternehmen und weniger finanzstarken Bürgerinnen und
Bürgern ist. Es geht darum, zu schauen, wie man zu ei-
ner gerechteren Verteilung kommen kann. Viele Petitio-
nen mahnen das an und beklagen, dass die EEG-Reform
nicht zu dieser Gerechtigkeit geführt hat. Wenn man sich
das anschaut, stellt man fest: Am Ende des Tages kom-
men wir nicht zu Voten, die die Regierung auffordern,
etwas zu verändern. Es gelingt uns nicht, uns gemeinsam
darauf zu einigen, diesem Anliegen der Bürgerinnen und
Bürger Nachdruck zu verleihen.


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Das nennt man Demokratie!)


– Das ist sicherlich auch Teil der Demokratie und auch
eine Frage von Mehrheiten. – Aber natürlich würden wir
uns wünschen, dass wir diesen Seismografen der Bür-
gergesellschaft manchmal etwas besser zum Ausdruck
bringen könnten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ein anderes Beispiel, das ich noch kurz erwähnen
möchte – es wird immer wieder vorgebracht –, ist die
Frage der Krankenversicherung; es ist von den Kollegin-
nen Stamm-Fibich und Wöllert schon angesprochen
worden. Da gibt es einen enormen Handlungsbedarf.
Unser zweigliedriges Krankenversicherungssystem ist
überholt, vorgestrig, bürokratisch, im Einzelfall oftmals
ungerecht. Zu dieser Einschätzung kommen wir oft ge-
meinsam. Wir schlagen immer wieder vor, die Petition
der Bundesregierung als Material zu überweisen, um
eine Bürgerversicherung einzuführen. Das Ministerium
könnte mit Vorschlägen dieser Art wahrscheinlich schon
heute seine Bürowände pflastern. Aber die Überwei-
sungsvorschläge, die wir machen, bringen die Petition
nicht in das Ministerium, weil sie im Ausschuss blo-
ckiert werden. Ich sage das, um zu unterstreichen, was
Kollegin Rüffer meinte. Es gibt da viele Dinge, wo wir
noch Verbesserungsbedarf haben.

Auch wenn das Petitionswesen als solches noch Re-
formen vertragen könnte – das ist schon angesprochen
worden –: Wenn wir das, was wir schon können, nutzen
würden, könnten wir für die Bürgergesellschaft einiges
mehr tun, als wir bisher getan haben. Ich freue mich da-
rauf, daran in den nächsten Jahren konstruktiv weiter-
zuarbeiten, auch im Ringen um die besten Lösungen.
Natürlich gibt es in einer Demokratie Mehrheitsverhält-
nisse; das ist völlig klar. Aber ich glaube, wir sollten ge-
meinsam daran weiterarbeiten.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810910800

Die Kollegin Antje Lezius spricht jetzt für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Antje Lezius (CDU):
Rede ID: ID1810910900

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor ei-
nem Jahr durfte ich hier im Plenum eine Rede aus Sicht
eines Neumitglieds des Petitionsausschusses halten.
Heute rede ich zu Ihnen als jemand, die schon viele Er-
fahrungen sammeln durfte. Dazu gehört die sehr gute
Zuarbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Aus-
schussdienstes, die die vielen Petitionen und Eingaben
mit Bravour meistern. Herzlichen Dank an dieser Stelle!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nicht unerwähnt lassen möchte ich auch die gute und
konstruktive Zusammenarbeit in der Arbeitsgruppe der
CDU/CSU. Vielen Dank an meine Kolleginnen und Kol-
legen! Natürlich auch an meine Mitarbeiter hier an die-
ser Stelle ein herzliches Dankeschön!

Erfreulich ist zudem die hohe Zahl an Petitionen, de-
nen abgeholfen werden konnte. Bei 1 743 wurde dem
Anliegen entsprochen, und bei 5 130 Petitionen erfolgte
die Erledigung bereits durch Auskunft oder Verweisung.
Zudem hat der Ausschuss etliche Anliegen und Anre-
gungen mit Mehrheit aufgenommen und an die Bundes-
regierung überwiesen – immerhin 982. Die Erfolgsaus-
sichten einer Petition lassen sich nicht an der Anzahl der
Unterstützer messen, sondern es geht um die Berechti-
gung des Anliegens. In der Öffentlichkeit wird dies teil-
weise anders gesehen.

Ich begrüße natürlich, dass Petitionen auf der Inter-
netseite des Bundestages oder in Schriftform mitge-
zeichnet werden können. Es tut gut, zu wissen, welche
breite Basis manche Auffassungen haben. Nur wird eine
Idee nicht dadurch richtiger, dass viele sie vertreten.
Diese Erfahrung bestätigte sich in den öffentlichen Sit-
zungen zu den Themen TTIP oder Arbeitslosengeld-II-
Sanktionen.

Die Vielfalt macht gerade den Reiz dieses Ausschus-
ses aus. Ich bin immer wieder angenehm überrascht und
erfreut, dass sich so viele Menschen auf diesem Wege
Gedanken machen über unsere Gesellschaft und darüber
hinaus über die Probleme der Welt. Das ist für mich ak-
tive Bürgerbeteiligung.





Antje Lezius


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Eingaben reichen von der Idee, direkt vor dem
Reichstagsgebäude einen Kinderspielplatz zu errichten,
bis hin zur Forderung nach mehr Entwicklungshilfe. Von
regional bis global ist also alles dabei.

Es freut mich auch, dass Petitionen aus meinem
Wahlkreis kommen, zum Beispiel der Vorschlag, die Le-
gislaturperiode des Bundestags auf fünf Jahre zu verlän-
gern, ein Vorschlag, den ich für sehr unterstützenswert
halte. Mein Bundesland, Rheinland-Pfalz, liegt bei der
Anzahl der Petitionen pro 1 Million Einwohner aller-
dings auf dem letzten Platz.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Die sind alle zufrieden!)


Dabei sind wir doch eigentlich ein ideenreiches Land.
Meine Kollegin Corinna Rüffer, die aus Trier kommt,
wird mir hierin, glaube ich, zustimmen.

Vielleicht müssen wir noch mehr für das Petitions-
recht werben. Ich bin im Rahmen der Öffentlichkeitsar-
beit des Bundestages gerne auch persönlich dabei, wie
demnächst auf der renommierten Buchmesse in Frank-
furt am Main oder beim Tag der offenen Tür hier im
Bundestag. Mir wird dann immer bewusst, wie aufge-
schlossen die Menschen doch für unsere Ausschussar-
beit sind.

Viele Petitionen haben einen sehr persönlichen Be-
zug. Manch ein Petent schüttet sein Herz aus. Dies sind
teils bedrückende Erfahrungen, besonders wenn es um
gesundheitliche Probleme oder Schicksalsschläge geht.

Der mit 21 Prozent der Eingaben größte Posten be-
trifft den Bereich Arbeit und Soziales, den ich als Mit-
glied des Fachausschusses hier hauptsächlich bearbeite.
Bei vielen Eingaben merkt man, dass auch ein guter So-
zialstaat, den wir, objektiv betrachtet, haben und für den
wir dankbar sein dürfen, keine Garantie für Lebensglück
sein kann. Bei diesen Petitionen gilt es für uns Parlamen-
tarier auch, Professionalität zu wahren und den Petenten
jenseits aller emotionalen Aufwallungen ernst zu neh-
men. Ein Beispiel ist eine Petition, bei der der Petent zu
seiner Arbeitslosenhilfe zusätzlich eine Unfallrente von
mehreren Tausend Euro erhielt, dies aber nicht angab.
Bei allem Verständnis für schwierige Situationen fehlt
mir das Verständnis für meine Kolleginnen und Kollegen
von der Opposition, die die Forderung des Petenten,
nichts zurückzahlen zu müssen, unterstützten.

Ich wünsche mir, dass wir weiterhin alle gemeinsam
die Petenten ernst nehmen und auch einmal den Mut zei-
gen, eine Petition einstimmig abzuschließen, wenn die
konkrete Idee nicht durchführbar oder die Forderung un-
berechtigt ist, selbst wenn das Grundanliegen in den Au-
gen der Opposition unterstützenswert erscheint. Das hat
jede Petentin, jeder Petent, die bzw. der sich die Mühe
macht, eine Petition einzureichen, verdient.

Ich freue mich auf die weitere kollegiale Zusammen-
arbeit im Ausschuss.
Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810911000

Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Annette

Sawade.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Annette Sawade (SPD):
Rede ID: ID1810911100

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Vor-

sitzende Steinke! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschuss-
dienstes! Liebe Besucherinnen und Besucher auf der Be-
suchertribüne! Da es sehr viele jugendliche Besucherin-
nen und Besucher sind, sage ich Ihnen nur: Sie alle
dürfen eine Petition einreichen. Es gibt da keine Alters-
grenze. Also: Fröhlich voran!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Vor knapp einer Woche, am vergangenen Samstag,
habe ich den Petitionsausschuss am Stand des Deutschen
Bundestages beim Evangelischen Kirchentag in Stuttgart
vertreten. Ich kam mit vielen Bürgerinnen und Bürgern
ins Gespräch, die mich zu vielen Anliegen befragten, die
eigentlich fast alle petitionsreif waren. Dass es so etwas
gibt, also die Möglichkeit, Petitionen einzureichen,
wussten allerdings leider die wenigsten. Es ging um
Themen wie Asylverfahren, Betreuung von Flüchtlin-
gen, aber auch Fragen zur Maut. Darum habe ich einfach
einen Werbeblock für das Verfahren der Petition beim
Deutschen Bundestag eingelegt.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Nicht, dass wir nicht genügend zu tun hätten – es
wurde ja schon gesagt; die Zahlen sprechen eine andere
Sprache –, aber für mich ist der Petitionsausschuss der
direkte Weg der Bürgerinnen und Bürger zum Gesetzge-
ber und zur Regierung. Herzliche Bitte: Nicht alles
schlechtreden. Wir können und müssen noch vieles ver-
bessern; aber wir möchten auch, dass der Petitionsaus-
schuss als Organ noch mehr anerkannt und in die Öffent-
lichkeit getragen wird. Da hilft keine Pauschalkritik,
sondern nur konstruktive Kritik; und darum bitte ich.


(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber auch keine langweiligen Debatten!)


– Wir bemühen uns darum.

Es gilt außerdem – auch das ist mir wichtig –, die Un-
terschiede zu anderen öffentlichen Petitionsplattformen
aufzuzeigen. Sie haben zurzeit gewaltigen Zulauf, sie
haben aber im Gegensatz zu einer Petition an unseren
Petitionsausschuss keinen Einfluss auf die Gesetzge-
bung. Deshalb war ich sehr froh, die Chance auf dem
Deutschen Evangelischen Kirchentag nutzen zu können,
mit einigen Vorurteilen aufzuräumen.





Annette Sawade


(A) (C)



(D)(B)

Viele der Menschen waren wirklich überrascht, wie
niedrig die Hürden für das Einreichen einer Petition
beim Deutschen Bundestag tatsächlich sind. Alle können
Petitionen per Brief, per Fax, per E-Mail, per Postkarte
oder elektronisch, wie schon gesagt, über die Website
des Petitionsausschusses einreichen. Damit dürfte sich
auch die hohe Zahl der 2014 eingereichten Petitionen er-
klären. Es wurde bereits gesagt, 15 325 Petitionen wur-
den eingereicht: Bitten, Beschwerden, Anregungen, Hin-
weise an die Bundespolitik und ganz konkrete Probleme
einzelner Menschen. Immerhin wurde auch erwähnt: Es
gibt insgesamt 1,8 Millionen Nutzerinnen und Nutzer
der Internetseite des Petitionsausschusses. Das vom Ge-
setzgeber gewollte Recht, diese aus meiner Sicht sehr
wichtige Form der politischen Partizipation, wird also
von den Bürgerinnen und Bürgern sichtlich angenom-
men. Es kann und muss aber auch – das gehört zur
Wahrheit dazu – noch vieles verbessert werden. Zwei
Beispiele möchte ich nennen:

Erstens wünschen sich viele Petentinnen und Petenten
eine schnellere Bearbeitung ihrer Eingaben. Sieht man
sich die Zahl der eingegangenen Petitionen an und be-
denkt man, dass wir auch welche aus den vorangegange-
nen Wahlperioden zu bearbeiten hatten, wird einem klar,
dass es oftmals nicht möglich ist, sie schneller zu bear-
beiten. Es gibt aber schon Vorschläge, das beim nächsten
Legislaturperiodenwechsel zu ändern.

Manchmal ist, zum Beispiel, wenn es um Asylverfah-
ren, um Dublin-II-Verfahren geht, Eile geboten. Ich habe
in meinem Wahlkreis den Fall eines solchen Dublin-II-
Verfahrens gehabt. Ich konnte helfen; aber da mussten
wir wirklich sehr schnell arbeiten. Den Menschen ist
nämlich nur geholfen, wenn man rasch agiert.

Zweitens stehen wir – das wurde auch schon erwähnt –
vor der Aufgabe, das Petitionsrecht stetig weiterzuentwi-
ckeln und zu verbessern. Dazu gehört es, die Beschlüsse
des Petitionsausschusses in einer verständlichen und
adressatengerechten Sprache anzubieten. Auch gehört
dazu, die Beteiligungsrechte der Menschen mit Behinde-
rungen zu stärken, zum Beispiel über das Angebot einer
barrierefreien Internetseite oder – daran arbeiten wir –
durch die Übersetzung von öffentlichen Beratungen in
Gebärdensprache. Das würden wir gerne weiterführen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir als SPD-Fraktion haben im Januar ein Positionspa-
pier verabschiedet, in dem es um diese Probleme geht.

Nächste Woche feiern wir ein Jubiläum; wir haben
nämlich vor zehn Jahren öffentliche und Onlinepetitio-
nen – ein Dank geht hier auch an die Staatssekretärin
Lösekrug-Möller, die damals maßgeblich daran beteiligt
war – eingeführt; das war auch eine sehr große Verbesse-
rung.

Sehr geehrte Frau Vorsitzende, liebe Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir
haben unser erstes gemeinsames Jahr, denke ich, sehr
gut hinbekommen. Getreu der Losung des Evangeli-
schen Kirchentages „damit wir klug werden“ würde ich
mich freuen, wenn wir auch weiterhin unsere Offenheit
gegenüber den Themen, die über den Petitionsausschuss
tagtäglich an uns herangetragen werden, bewahren. Und
ich würde mich freuen, wenn wir weiterhin kollegial zu-
sammenarbeiten und auch überfraktionell zu guten Be-
schlüssen kommen, die dem Wohle der Petentinnen und
Petenten dienen. Uns fehlt dazu – das möchte ich an die-
ser Stelle einfach noch einmal sagen – wirklich nicht der
Mut.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Mein Dank gilt auch den Mitarbeiterinnen und Mitar-
beitern des Ausschussdienstes und natürlich ebenso un-
seren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Büros,
die ganz viel Vorarbeit leisten. Ansonsten könnten wir
dieses gewaltige Pensum an Petitionen, die wir jedes
Jahr bearbeiten, nicht bewältigen.

Noch einmal vielen Dank.


(Beifall im ganzen Hause)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810911200

Die Kollegin Christel Voßbeck-Kayser spricht jetzt

für die Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Christel Voßbeck-Kayser (CDU):
Rede ID: ID1810911300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! 15 325 Petitionen im vergangenen Jahr zei-
gen, dass die Bürger ihre Grundrechte kennen und von
ihnen auch immer wieder Gebrauch machen. Bei diesen
Eingaben handelt es sich um Themen aus allen Berei-
chen des täglichen Lebens, bei denen Bürger durch Ge-
setze direkt betroffen sind, sich benachteiligt oder einge-
schränkt sehen bzw. fühlen. Ich möchte daher einmal
drei Anliegen vortragen, wo wir zu unterschiedlichen
Ergebnissen gekommen sind.

Das erste Anliegen bezog sich darauf, durch die Ein-
richtung einer Schlichtungsstelle Qualitätsstandards in
unseren Pflegeheimen sicherzustellen. Das war eine gute
Anregung. Für uns im Petitionsausschuss war da die
Frage: Brauchen wir so eine Schlichtungsstelle, oder rei-
chen die vorhandenen Instrumente bzw. Gesetze aus?
Gibt es ausreichende Prüfinstanzen bzw. Ansprechpart-
ner? Beim Prüfverfahren wurde festgestellt, dass es auf-
grund des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes, des
Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes, durch die rechtlichen
Vorschriften der Länder in Bezug auf die Heimaufsicht
sowie durch die Heimbeiräte in den Pflegeheimen viele
Ansprechpartner und Mittler gibt, die hier, wenn man es
so nennen will, als Schlichtungsstelle zur Verfügung ste-
hen und sich auch mit Regelungen bezüglich Qualitäts-
standards befassen. Da diese Regelungen rechtlich
verbindlich sind, können sie auch nicht auf ein Schieds-
verfahren reduziert werden. Daher konnten wir diesem
Anliegen nicht entsprechen.

Beim zweiten Anliegen, das ich schildern möchte,
geht es darum, die Pflegedokumentation auf ein nötiges
Maß zu reduzieren. Mit der Effizienz der Pflegedoku-
mentation – sowohl in der ambulanten als auch in der
stationären Pflege – befasst sich die Bundesregierung
bzw. das Bundesministerium für Gesundheit seit gerau-





Christel Voßbeck-Kayser


(A) (C)



(D)(B)

mer Zeit; denn wir alle wollen, dass die Zeit für die
Pflege am Bett von Pflegebedürftigen und nicht am
Schreibtisch verbracht wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aufgrund der Tatsache, dass am Thema Pflegedokumen-
tation aktuell gearbeitet wird, hat der Petitionsausschuss
diese Petition als Material an das Bundesministerium für
Gesundheit überwiesen. So stellen wir sicher, dass Anre-
gungen, welche in und mit einer Petition eingehen, in
den Prozess eines Gesetzgebungsverfahrens mit aufge-
nommen werden können. Bürgerinnen und Bürger kön-
nen auf diesem Weg direkt an Prozessen der Gesetzge-
bung mitwirken. Dies nenne ich gelebte Demokratie.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Beim dritten Anliegen ging es um die Berechnung ei-
ner Erwerbsminderungsrente, welche – das gab der Pe-
tent/die Petentin an – falsch berechnet worden sei. Der
Petitionsausschuss – so ist das Verfahren – holte im Rah-
men des Prüfverfahrens eine Stellungnahme beim zu-
ständigen Versicherungsamt ein. Bei der Überprüfung
dieses Anliegens beim zuständigen Versicherungsamt
wurde der Fehler bei der Berechnung der Erwerbsminde-
rungsrente aufgedeckt. Er wurde seitens des Versiche-
rungsamtes sofort korrigiert, und zwar auch rückwir-
kend. So konnte der Frau bereits im Prüfverfahren bei
ihrem Anliegen geholfen werden.


(Beifall im ganzen Hause)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, das waren drei Bei-
spiele mit unterschiedlichen Ergebnissen aus dem ver-
gangenen Jahr. Auch wenn den Anliegen nicht immer
entsprochen werden konnte, so entspricht es unserem de-
mokratischen Selbstverständnis, sich jeder Eingabe und
damit jedem Anliegen eines Bürgers anzunehmen. Jede
dieser Eingaben wird sachgerecht geprüft, und das Er-
gebnis bzw. die Entscheidung wird dem Bürger mit einer
ausführlichen Begründung erklärt.

15 325 Petitionen gab es im Jahr 2014. Das sind über
60 Eingaben täglich. Für diese Zahl an Eingaben und
deren Bearbeitung braucht es motivierte Menschen. Des-
halb an dieser Stelle auch von mir ein herzliches Danke-
schön allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des
Ausschussdienstes, der Fraktionen und der Abgeordne-
tenbüros für diese Arbeit! Sie alle unterstützen uns Ab-
geordnete in großartiger Weise bei der Bearbeitung von
Petitionen. Gemeinsam kümmern wir uns mit Engage-
ment und Herzblut um diese Eingaben und um die Anlie-
gen von Bürgern und Bürgerinnen.

Ich danke für dieses gemeinsame Engagement und
freue mich auf unsere weitere Zusammenarbeit.


(Beifall im ganzen Hause)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810911400

Für die SPD spricht jetzt der Kollege Stefan

Schwartze.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Stefan Schwartze (SPD):
Rede ID: ID1810911500

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Sehr
geehrte Zuschauer!


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Und Zuschauerinnen!)


Ich möchte mich ganz herzlich für die gute Zusammen-
arbeit in den letzten Jahren bedanken. Ich möchte an die-
ser Stelle aber auch einen kleinen Einschub machen.
Liebe Corinna Rüffer, liebe Fraktion der Grünen, für le-
bendige Debatten im Ausschuss habe ich eine ganz revo-
lutionäre Idee.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dann sagen Sie es!)


Wenn Sie anderer Meinung sind als die Mehrheit, dann
begründen Sie diese Meinung, werben Sie für Ihre Argu-
mente, und dann kommen wir in die Diskussion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Natürlich begründen wir!)


Beschränken Sie sich nicht immer nur auf zwei, drei Ta-
gesordnungspunkte von über 30.


(Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir begründen das alles sogar schriftlich!)


– Also, zu einer Debatte gehört das gesprochene Wort
und kein begleitender Brief. Das ist an dieser Stelle doch
eine gute parlamentarische Übung.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Das muss man mal sagen!)


Ganz besonders bedanken möchte ich mich an dieser
Stelle bei den Regierungsvertretern, allen voran Gabriele
Lösekrug-Möller, für die gute Zusammenarbeit, die wir
pflegen, und dafür, dass wir im Sinne der Petenten dort
sehr oft nach Lösungen suchen und um Lösungen rin-
gen. Wie sehr sich die Zusammenarbeit geändert hat, hat
sich gerade in diesem Jahr noch einmal gezeigt, als wir
das erste Mal in einer öffentlichen Beratung zwei Bun-
desminister zu Gast hatten: Sigmar Gabriel und
Hermann Gröhe. Auch für diese Zusammenarbeit ganz
herzlichen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

[DIE LINKE])

Für die Intensivierung der Zusammenarbeit gibt es
aber auch einen guten Grund – er ist eben schon genannt
worden –, nämlich den zehnten Geburtstag der öffentli-
chen Petitionen, der Onlinepetitionen, der öffentlichen
Beratungen dieses Ausschusses.


(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, das war nur ein Geburtstagsgeschenk, oder was?)


Die Entscheidung dafür war ein Volltreffer. Sie machte
aus dem Petitionsausschuss – neben seiner wichtigen
Rolle als Anwalt der Bürgerinnen und Bürger – ein In-





Stefan Schwartze


(A) (C)



(D)(B)

strument der direkten Demokratie auf Bundesebene. Es
war eine Initiative der damaligen Koalition aus SPD und
Grünen; und nicht allen Fraktionen hat es gefallen, den
Petitionsausschuss aus der Ecke mit den vielen verstaub-
ten Akten herauszuholen.

Während öffentliche Petitionen beim Bundestag ihren
zehnten Geburtstag feiern, gibt es seit einiger Zeit immer
mehr private Petitionsplattformen. Sie bieten eine gute
Möglichkeit, bei Aktionen Gleichgesinnte zu finden. Ich
bin für Beteiligung. Ich finde es gut, wenn Menschen
sich gemeinsam für ein Anliegen einsetzen. Ich habe
auch selbst schon auf einer solchen privaten Plattform
die Proteste gegen Pegida unterstützt. Aber nur Petitio-
nen, die sich an den Bundestag wenden, können vom
Bundestag bearbeitet werden. Sollten Sie sich also be-
schweren wollen oder Anregungen zu Gesetzen haben,
schauen Sie genau hin, wohin Sie Ihre Beschwerden
oder Anregungen schicken! Beschweren Sie sich dort,
wo Sie auch Antworten bekommen, wo diejenigen sit-
zen, die etwas verändern können, wo Sachkunde und Zu-
ständigkeit gegeben sind! Wenden Sie sich direkt ans
Parlament!


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Lassen Sie mich einen Blick in die Zukunft wagen:
Wohin entwickelt sich unser Petitionsrecht? Ich sehe
gute, verständliche Informationen über das Recht auf
eine Petition für jeden und jede. Ich sehe Informationen
in einer Sprache, die alle verstehen, unabhängig davon,
welchen Bildungsstand sie haben, ob sie unsere Sprache
erst erlernen oder aufgrund einer Behinderung Leichte
Sprache benötigen. Übrigens: Die SPD bereitet eine In-
formation über das Petitionsrecht in Leichter Sprache
vor. Ich sehe Schulen, die über Petitionen informieren,
und Kinder und Jugendliche, die beim Deutschen Bun-
destag Petitionen einreichen. Ich sehe einen starken Peti-
tionsausschuss, der bei den Petitionen stets die Men-
schen und ihre berechtigten Anliegen und nicht den
Koalitionsvertrag im Sinn hat.


(Zurufe von der LINKEN: Oh!)


Ein Beispiel unserer Arbeit hat mich besonders be-
wegt – ich begleite diese Menschen seit fünf Jahren –:
Es geht um das Schicksal der ehemaligen sowjetischen
Kriegsgefangenen, das von unsäglichem, unfassbarem
Leid geprägt ist. Sie wurden unter unmenschlichen Um-
ständen in Lagern untergebracht. Es waren umzäunte
Felder ohne Infrastruktur. Auf diesen Feldern hockten
die Menschen sich selbst überlassen. Ihr Tod durch Hun-
ger und Krankheit war das Ziel der Unterbringung in
diesen Lagern. Zwei Drittel der Gefangenen überlebten
diese Hölle nicht. Für die Überlebenden gab es niemals
eine Entschädigung oder eine Anerkennung für das erlit-
tene Leid. Es ist eine Schande, dass es 70 Jahre gedauert
hat, dieses Unrecht anzuerkennen. Jetzt, nachdem der
Beschluss zur Anerkennung getroffen wurde und vom
Haushaltsausschuss im Rahmen des Nachtragshaushalts
Geld bereitgestellt wurde, sind wir in der Verantwortung,
die Mittel möglichst schnell den Opfern zugutekommen
zu lassen. Mein Dank gilt dem Verein Kontakte-Kon-
takty, ohne dessen unermüdlichen Einsatz wir nicht zu
dieser Lösung gekommen wären.

Danken möchte auch ich noch einmal den Kollegen
aller Fraktionen. Danken möchte ich den Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes für ihre her-
vorragende Arbeit. Danken möchte ich auch den Mitar-
beiterinnen und Mitarbeitern der Abgeordneten und der
Fraktionen. Denn wir alle wissen: Jeder Abgeordnete ist
nur so gut wie sein Büro, das ihm zuarbeitet.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mein ganz besonderer Dank gilt den Petentinnen und
Petenten. Ohne sie wüssten wir oft nicht oder viel zu
spät, wo die Probleme in dieser Gesellschaft liegen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810911600

Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der

Kollege Günter Baumann für die CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Günter Baumann (CDU):
Rede ID: ID1810911700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wenn man als Letzter sprechen darf, kann
man vielleicht die Gelegenheit nutzen, einen Strich unter
die Debatte zu ziehen. Ich möchte das mit wenigen Sät-
zen tun. Ich möchte zunächst allen ganz herzlich danken.
Ich denke, es war eine gute Diskussion, und die Bürge-
rinnen und Bürger, die zugeschaut haben, haben mit-
bekommen: Es gibt einen Petitionsausschuss, an den ich
mich wenden kann, und dort bemühen sich Abgeordnete
aller Fraktionen, etwas für mich zu bewegen. – Das be-
trifft auch das große Thema, dass wir darum werben,
dass die Bürgerinnen und Bürger zu uns kommen.

Eines fand ich allerdings sehr schade: Kollegin
Rüffer, Ihre Rede war am Thema vorbei.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Das stimmt! – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/ CSU]: Genau! Schade eigentlich!)


Ich sage Ihnen eines: Die CDU/CSU-Fraktion hat ges-
tern extra den Kollegen Mattfeldt für seine heutige Rede
weichgespült; das haben Sie ja sicher alle gemerkt.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Er lässt sich weichspülen? Das hätte ich nicht gedacht! – Zuruf von der LINKEN: Das war erfolglos!)


– Das haben wir gemacht. – Aber Kollegin Rüffer, Ihre
Rede war einfach falsch.


(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!)






Günter Baumann


(A) (C)



(D)(B)

Sie selbst wissen es besser. Sie wissen, dass wir gemein-
sam mit den Obleuten aller Fraktionen um Lösungen rin-
gen und auch immer einen Weg finden. Da können Sie
nicht sagen, dass Sie nicht zu Wort kommen. Wenn wir
in einer Stunde 35 Petitionen schaffen wollen, können
wir im Ausschuss nicht über Petitionen, die vorher be-
reits die Abgeordneten, die Arbeitsgruppe und die Ob-
leuten beraten haben, die also relativ klar sind, erst noch
lange diskutieren, bevor abgestimmt wird. Sie, Frau Kol-
legin Rüffer, haben dann, wenn Sie zu einem von dem
der Koalition abweichenden Votum kommen, die Pflicht,
dies zu begründen.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Genau so ist es! – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das tun wir auch!)


Aber Sie haben kein Votum begründet. Wenn Sie anderer
Meinung sind, dann müssen Sie einen Antrag auf Einzel-
ausweisung gemäß 8.2.2 unserer Verfahrensregeln stel-
len.


(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir begründen mündlich und schriftlich! Mehr geht nicht!)


– Entschuldigung, ansonsten ist Ihnen bisher nichts ein-
gefallen. – Wenn Sie zu jeder Petition gerne etwas sagen
wollen, dann müssen Sie nur beim Präsidenten beantra-
gen, die Beratungszeit des Ausschusses von einer Stunde
auf drei Stunden zu verlängern.


(Beifall der Abg. Kersten Steinke [DIE LINKE])


Dann können wir das gerne tun. Aber so ist es jetzt nicht
möglich.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Kersten Steinke [DIE LINKE] – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU], an die Abg. Kersten Steinke [DIE LINKE] gewandt: Aber nicht 37!)


Kollegin Rüffer, ich erinnere noch einmal daran, dass
wir in schwierigen Fällen gemeinsame Briefe geschrie-
ben haben, zum Beispiel den mit vier Unterschriften an
alle Bundesländer, als es um die behinderten Kinder
ging. Das haben wir gemeinsam gemacht. Dass Sie die
Arbeit heute derart negativ darstellen, das ist einfach
schade.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Stefan Schwartze [SPD])


Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich wollte
meinen Redebeitrag eigentlich anders beginnen als alle
anderen heute. Ich wollte nicht all denen danken, denen
schon gedankt worden ist. Vielmehr wollte ich den
Petenten danken, die mit großem Vertrauen zu uns kom-
men, die sich bei uns mit ihren Bitten und Beschwerden
aufgehoben fühlen und uns seit 2006 konstant jedes Jahr
etwa 15 000 bis 18 000 Petitionen schicken. Das ist eine
stolze Zahl. Nun muss man wissen: Die Zahl der Petitio-
nen ist konstant geblieben, obwohl die Zahl der Mit-
bewerber und anderer Anlaufstellen ständig gestiegen
ist. Es gibt mehr Ombudsmänner und Ombudsfrauen, es
gibt Beauftragte in allen möglichen Bereichen, die für
die Belange der Bürgerinnen und Bürger da sind, und es
gibt, wie schon erwähnt, viele Internetplattformen. All
das nimmt zu. Trotzdem wird jedes Jahr eine konstant
hohe Zahl von Petitionen bei uns eingebracht. Das zeigt:
Die Bürgerinnen und Bürger haben Vertrauen zu uns.
Das macht uns froh. Darauf kann man stolz sein.

An dieser Stelle möchte ich auch unseren Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeitern, allen Abgeordneten und natür-
lich dem Ausschussdienst ganz herzlich danken für die
Arbeit, die geleistet worden ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ohne die sachkundige und fachliche Zuarbeit des Aus-
schussdienstes würde uns manche Entscheidung sehr
schwer fallen. Ich bitte den Ausschussdienst, nicht über
uns zu schimpfen, wenn wir nicht jedes Votum von ihm
übernehmen. Oft haben wir eine andere Meinung. Aber
trotzdem ist die Recherche des Ausschussdienstes für
uns die Grundlage, wie wir mit einer Thematik umge-
hen.

Die Erfolgszahlen sind genannt worden. Wir liegen
bei über 40 Prozent positiv erledigter Eingaben. Das
kann sich sehen lassen. Wenn man bedenkt, wie hoch die
Prozentzahlen bei Gerichtsverfahren sind, dann stellt
man fest: Wir sind ein ganzes Stück besser. Ich schluss-
folgere daraus, dass die Bürgerinnen und Bürger uns ak-
zeptieren, zu uns kommen und unseren Rat und unsere
Hilfe annehmen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, leider steht
unser Ausschuss nicht jeden Tag in der Öffentlichkeit.
Es ist nicht ganz einfach, mehr Werbung für unsere
Arbeit zu machen, weil wir relativ geräuschlos die Berge
auf unseren Schreibtischen abarbeiten und erfolgreich
sind. Die Frage ist immer, wie wir es schaffen, ohne
große Schlagzeilen etwas bekannter zu werden. Frau
Sawade hat bereits erwähnt: Wir nutzen Messen und den
Tag der Ein- und Ausblicke. Trotzdem sollten wir ge-
meinsam überlegen, was man noch tun kann, um an die
Bürger heranzukommen und ihnen zu sagen: „Jawohl, es
gibt uns. Bitte, kommt zu uns!“


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Ich möchte ein Thema noch einmal ansprechen, auch
wenn es schon genannt wurde, weil es mir sehr am Her-
zen liegt. Für uns in der CDU/CSU-Fraktion ist es ein-
deutig: Jede Petition ist gleichwertig. Wir wollen uns um
jede Petition intensiv kümmern. Egal ob eine Bürgerin
mit unleserlicher Handschrift uns ihr Problem schildert
oder eine gut vernetzte Internetgemeinschaft mit
100 000 Unterschriften uns ihr Problem darlegt: Jeder-
mann hat das Recht, eine Petition einzureichen. Wir
kümmern uns um jedermann in gleichem Maße.

Kollegin Kassner, Sie forderten mehr Öffentlichkeit
bei den ganzen Beratungen. Der Bundestag hat eine Ge-
schäftsordnung, die eindeutig sagt – § 69 –: Ausschüsse
tagen nicht öffentlich. Das hat gute Gründe: Da ist zum





Günter Baumann


(A) (C)



(D)(B)

einen der Datenschutz, und wir wollen nicht – das gibt es
manchmal; das kennen wir auch –, dass die berühmten
Fensterreden gehalten werden. Wir wollen ein Problem
abarbeiten, und das ist in nichtöffentlicher Sitzung we-
sentlich besser möglich. Wir können in Ausnahmefällen
Öffentlichkeit beschließen – das machen wir auch, vier-
mal im Jahr, am nächsten Montag wieder –; aber gene-
rell, fast jede Sitzung öffentlich zu machen, dies wollen
wir einfach nicht. Das ist nicht das, was der Petent ei-
gentlich von uns will.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Stefan Schwartze [SPD] – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch!)


Ich glaube, das Wichtigste für jeden von uns, der sich
mit einer Petition befasst, ist, dass wir erkennen: Ist das
ein menschlich schweres Schicksal eines Bürgers, der an
zig anderen Stellen gescheitert ist und jetzt zu uns
kommt – da müssen und wollen wir uns reinknien –,
oder ist das ein Petent, der tagesaktuell ein Geschehen
aufgreift, das vielleicht schon in den Fachausschüssen ir-
gendwo beraten wird? Wichtig für uns ist einfach, dass
wir die Wertigkeit erkennen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich wollte
noch zum Abschluss ein Beispiel aus der letzten Zeit
bringen, und zwar hatten wir eine Petentin, die ihren
Lebensgefährten in Afghanistan verloren hat. Beide hat-
ten vorher ein Testament gemacht, dass die Versicherung
und andere Gelder an die Lebensgefährtin gehen sollten.
Die rechtliche Lage war dann aber so, dass die Lebens-
gefährtin nichts bekommen hat; das Geld ging an die
Eltern. Das war rechtlich alles sauber. Wir hätten eigent-
lich nichts machen können. Wir haben aber gesagt:
„Nein, so geht das nicht, wir wollen das anders haben“,
und haben die Verteidigungsministerin aufgefordert, mit
Mitteln aus dem Härtefallfonds, der ja vorhanden ist,
dieser Frau zu helfen. Es tut wirklich gut, wenn dann ein
Brief der Petentin kommt, in dem sie sich für das Geld
bedankt, das sie bekommen hat. Auch wir brauchen ja
manchmal Anerkennung und ein lobendes Wort. Hier
haben wir wirklich eine Lösung für ein schweres Schick-
sal gefunden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


Meine Damen und Herren – Herr Präsident, wenn Sie
mir noch ein paar Sekunden gestatten –, es kam das
Thema „schnelle Bearbeitung“. Wir wollen die Petitio-
nen schnell bearbeiten. Wir schaffen manche Petitionen
in vier, fünf Monaten; es gibt aber auch welche, deren
Bearbeitung Jahre dauert. Wir haben diese Woche eine
behandelt, die sechs Jahre alt war. Wenn man dann nach-
schaut, stellt sich heraus, dass sie in manchem Büro so-
gar mehrere Jahre lag. Deswegen wäre es gut, als Erstes
zu schauen: Was liegt in unserem eigenen Büro noch im
Schreibtischkasten? Das kann jeder Mitarbeiter im Aus-
schuss selbst einmal tun. Das Zweite ist: Für uns geht
Gewissenhaftigkeit vor. Wenn wir viel Zeit brauchen für
Stellungnahmen, dann nehmen wir uns die auch; ansons-
ten wollen wir die Petitionen schnell bearbeiten.
Ein berühmtes Beispiel haben wir jetzt schon das
zehnte Jahr auf dem Tisch: Das sind meine geliebten An-
tennengemeinschaften.


(Kersten Steinke [DIE LINKE]: Oh nein!)


Hier haben wir ja mit großer Mehrheit ein Votum ge-
fasst, das bis heute nicht umgesetzt ist. Wir haben wie-
derholt Gespräche mit der GEMA geführt, auch letzte
Woche wieder. Ich denke, wir werden irgendwann auf
einem guten Weg sein. Also: Wir können an Problemen
manchmal auch sehr lange dranbleiben – im Interesse
der Petenten, nicht um uns selbst zu beschäftigen. Ich
wünsche uns weiterhin viel Erfolg und Gespür für die
Arbeit.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810911800

Damit schließe ich die Aussprache, nicht ohne zu er-

wähnen, dass fast kein Redner es versäumt hat, Dank für
die Mitarbeiter auszusprechen, die Außerordentliches
geleistet haben, worauf sie auch stolz sein können.


(Beifall)


Ich rufe jetzt die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffi
Lemke, Nicole Maisch, Harald Ebner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Wilderei und illegalen Artenhandel stoppen

Drucksache 18/5046
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Walter-Rosenheimer, Dr. Franziska Brantner,
Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kinder- und Jugendhilfe – Beteiligungsrechte
stärken, Beschwerden erleichtern und Ombu-
dschaften einführen

Drucksache 18/5103
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe
niemanden, der nicht einverstanden wäre. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.





Vizepräsident Johannes Singhammer


(C)



(D)(B)

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 i so-
wie Zusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich dabei um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aus-
sprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 30 a:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Baukulturbericht 2014/15 der Bundesstiftung
Baukultur

und Stellungnahme der Bundesregierung

Drucksachen 18/3020, 18/4850

Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich-
tung eine Entschließung anzunehmen. Wer für diese Be-
schlussempfehlung stimmt, den bitte ich um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen
von CDU/CSU und SPD sowie der Fraktion der Linken
bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen an-
genommen.

Tagesordnungspunkt 30 b:

Beratung der Dritten Beschlussempfehlung und
des Berichts des Wahlprüfungsausschusses

zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der
Wahl zum 8. Europäischen Parlament am
25. Mai 2014

Drucksache 18/5050

Bevor ich die Beschlussempfehlung des Wahlprü-
fungsausschusses sowie einen Änderungsantrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Abstimmung stelle,
erteile ich dem Vorsitzenden des Ausschusses, dem Kol-
legen Dr. Johann Wadephul, das Wort zur Berichterstat-
tung. – Bitte schön.


Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1810911900

Herr Präsident, dafür danke ich Ihnen sehr herzlich. –

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem der Kollege
Baumann die mangelnde Bekanntheit des Petitionsaus-
schusses bedauert hat, kann ich nur sagen: Was soll ich
da erst sagen? Ich nutze daher die voraussichtlich letzte
Gelegenheit in dieser Wahlperiode, mit der der Wahlprü-
fungsausschuss Ihre Aufmerksamkeit erheischen kann.

Dieser Ausschuss hat eine große Bedeutung. Der Par-
lamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des
Innern hat zu Recht darauf hingewiesen, dass viele Kol-
legen aus dem Europäischen Parlament möglicherweise
mit einer gewissen Spannung jetzt auf uns blicken.

Ich will den Damen und Herren Berichterstattern
ganz herzlich für ihre Arbeit danken, aber insbesondere
natürlich den Mitarbeitern des Sekretariats. Es sind
– Herr Kollege Beck, das wird hier nicht immer so deut-
lich – zahlreiche Akten zu sichten, der Sachverhalt ist
umfassend aufzuarbeiten, und es sind schwierige
Rechtsfragen zu prüfen. Wir sind stolz darauf, dass wir
innerhalb eines Jahres nach der Europawahl diese Arbeit
seitens des Deutschen Bundestages abschließen konnten.
Einen ganz herzlichen Dank allen, die daran aktiv mitge-
wirkt haben.

Wie schon bei der Prüfung der Bundestagswahl ging
es auch bei der Prüfung der Europawahl um eine Fülle
von Einspruchsgegenständen, wenngleich keiner der
109 Wahleinsprüche im Ergebnis aus unserer Sicht be-
gründet war. Dies liegt daran, dass ein Wahleinspruch
nur dann begründet ist, wenn er einen Wahlfehler be-
nennt, der entweder Einfluss auf die Sitzverteilung hatte
oder das subjektive Wahlrecht der den Einspruch einle-
genden Person beim Wahlakt verletzte. Den Einsprüchen
ließen sich derartige Fehler aus Sicht des Ausschusses
nicht entnehmen.

Ich möchte betonen, dass der Wahlprüfungsausschuss
jedem behaupteten Wahlfehler sorgfältig nachgegangen
ist. Wie bei der Prüfung der Bundestagswahl haben wir
den Bundesminister des Innern, den Bundeswahlleiter
und die Landeswahlleiterinnen und Landeswahlleiter um
Stellungnahmen gebeten und diese einbezogen.

In nur einem Fall, der früh bekannt wurde, hat es ei-
nen nachweisbaren Wahlfehler gegeben. Es ging um eine
mehrfache Stimmabgabe. Ein vermutlich vielen von Ih-
nen bekannter Journalist bekundete schon am Wahl-
abend in einer Sendung der ARD,


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Giovanni!)


die demnächst übrigens ihren Moderator verliert, dass er
seine Stimme zweimal abgegeben hatte. Einmal wählte
er in einem deutschen Wahllokal und einmal in einem
italienischen.

Dieser Fall hat viele Bürgerinnen und Bürger dazu
veranlasst, einen Wahleinspruch einzulegen, und einen
vormaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes
zu der im Spiegel veröffentlichten Überlegung veran-
lasst, dass möglicherweise die ganze Europawahl un-
wirksam sein könnte. Dieser Auffassung ist der Wahl-
prüfungsausschuss nicht gefolgt. Denn es hat über diese
eine Person hinaus keine weitere Person gegeben, von
der nachgewiesen ist, dass sie ihre Stimme mehrfach ab-
gegeben hat. Es wird für Sie schnell nachvollziehbar
sein, dass eine einzige Person das Wahlergebnis nicht
entscheidend wird verändert haben können.

Gleichwohl hat dies den Ausschuss veranlasst, Ihnen
allen, liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Prüfbitte an
die Bundesregierung vorzulegen, in der es darum geht,
wie national oder auf Unionsebene für die Besitzer einer
Staatsangehörigkeit mehrerer EU-Mitgliedstaaten die
faktisch bestehende – rechtlich zwar verbotene – Mög-
lichkeit einer mehrfachen Stimmenabgabe in ähnlicher
Weise unterbunden werden kann, wie es für Unionsbür-
ger ohne doppelte Staatsangehörigkeit, die sich dafür
entscheiden, statt im Heimatstaat in ihrem EU-Wohnsitz-
staat zu wählen, bereits vorgesehen ist.

Auch bei der Europawahl haben wir uns mit der Frage
des Wahlrechts für Menschen mit Behinderung befasst.
Auch hier haben wir eine zweite Prüfbitte an die Bun-

(A)






Dr. Johann Wadephul


(A) (C)



(D)(B)

desregierung formuliert; ich bitte Sie herzlich um Ihre
Zustimmung dazu. Wir wollen die Bundesregierung bit-
ten, zu prüfen, welche Änderungserfordernisse sich für
das deutsche Wahlrecht aus der EU-Behindertenrechts-
konvention ergeben können, und zwar insbesondere in
Bezug auf die Aufhebung einzelner benannter Wahl-
rechtsausschlüsse und die Barrierefreiheit im Wahlrecht
und in den Wahllokalen.

Neben den genannten Themen hat der Wahlprüfungs-
ausschuss erneut typische Einspruchsgegenstände bera-
ten, wie sie bei jeder Wahlprüfung behandelt werden: zu
spät oder nicht zugestellte Briefwahlunterlagen, die re-
präsentative Wahlstatistik und den Identitätsnachweis im
Wahllokal.

Ich will nicht verschweigen, dass die Umstände bei
der Delegiertenwahl und der Kandidatenaufstellung der
AfD von einigen Einspruchsführern heftig kritisiert wor-
den sind. Das hat den Ausschuss dazu veranlasst, verein-
zelte verbesserungsfähig anmutende Vorgänge äußerst
umfangreich und gründlich zu prüfen. Im Ergebnis ha-
ben wir jedoch keine mandatsrelevanten Wahlfehler er-
kannt. Die Europawahl verlief, soweit wir sie beurteilen,
im Ergebnis rechtskonform. Ich bitte Sie daher sehr
herzlich um Ihre Zustimmung zur Dritten Beschluss-
empfehlung.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810912000

Vielen Dank dem Kollegen Wadephul und allen Mit-

gliedern des Ausschusses.

Wir kommen dann zur Abstimmung, und zwar zunächst
über den Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf der Drucksache 18/5120. Wer stimmt für
diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Die-
ser Änderungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/
CSU und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die
Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt.

Wer stimmt nun für die Beschlussempfehlung des
Wahlprüfungsausschusses? Ich bitte um ein Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist damit einstimmig angenom-
men.

Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 30 c
bis 30 i. Es handelt sich um die Beschlussempfehlungen
des Petitionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 30 c:

Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 190 zu Petitionen

Drucksache 18/4953

Wer stimmt dafür? Den bitte ich um ein Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist die
Sammelübersicht 190 einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 191 zu Petitionen

Drucksache 18/4954

Wer stimmt dafür? Den bitte ich um ein Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Diese Sam-
melübersicht ist damit mit Stimmen von CDU/CSU und
SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Ent-
haltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 30 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 192 zu Petitionen

Drucksache 18/4955

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 192 ist damit mit den
Stimmen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grü-
nen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 30 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 193 zu Petitionen

Drucksache 18/4956

Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sam-
melübersicht 193 ist damit mit allen Stimmen dieses
Hauses angenommen.

Tagesordnungspunkt 30 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 194 zu Petitionen

Drucksache 18/4957

Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist die
Sammelübersicht 194 mit den Stimmen von CDU/CSU,
SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 30 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 195 zu Petitionen

Drucksache 18/4958

Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sam-
melübersicht 195 ist damit mit den Stimmen von CDU/
CSU und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die
Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenom-
men.





Vizepräsident Johannes Singhammer


(A) (C)



(D)(B)

Tagesordnungspunkt 30 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 196 zu Petitionen

Drucksache 18/4959

Wer dafür stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sam-
melübersicht 196 ist damit mit den Stimmen von CDU/
CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke und von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Zusatzpunkt 3:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Luise Amtsberg,
Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu dem Vorschlag einer EU-Datenschutzver-
ordnung

KOM(2012) 11

hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes

Hohes Schutzniveau im Rat und im Trilog
sicherstellen

Drucksache 18/5102

Wer für diesen Antrag stimmt, den bitte ich um ein
Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Antrag ist damit mit den Stimmen von CDU/
CSU und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die
Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt.

Damit haben wir diesen Teil abgeschlossen.

Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 4 auf:

Aktuelle Stunde

auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE

Ehe für alle

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Caren Lay von der Fraktion Die Linke das
Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Caren Lay (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810912100

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Über 62 Prozent der Iren haben bei einer Volks-
abstimmung Ja zu gleichgeschlechtlichen Ehen gesagt –


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


ausgerechnet im erzkatholischen und konservativen Ir-
land. Das ist ein wunderbares Ergebnis und ein Riesen-
erfolg für die Lesben- und Schwulenbewegung, zu dem
wir auch aus dem Deutschen Bundestag ganz herzlich
gratulieren.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Schönste ist, dass dieses Ergebnis die Debatte da-
rüber in ganz Europa neu entfacht hat. Es wird höchste
Zeit, dass auch die Bundesregierung sich bewegt und die
Ehe für Lesben und Schwule endlich ohne Wenn und
Aber öffnet.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist natürlich für die Große Koalition, insbeson-
dere für die Union, ein unangenehmes Thema.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deren Wähler sind doch auch alle dafür!)


Sie hat in den letzten Wochen zu Recht viel Hohn und
Spott für ihre verstaubten und fadenscheinigen Argu-
mente geerntet. Ich habe mich gestern sehr geärgert, dass
Sie uns im Ausschuss verweigert haben, noch vor der
Sommerpause eine Anhörung zu unserem Gesetzentwurf
und zum Gesetzentwurf der Grünen durchzuführen.
Aber wenn Sie geglaubt haben, damit bekommen Sie das
Thema geschoben, haben Sie sich geschnitten: Genau
deswegen haben wir die heutige Aktuelle Stunde bean-
tragt.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Union blockiert das Vorhaben mit Rücksicht auf
ihre konservative Wählerschaft. Den Vogel hat Frau
Kramp-Karrenbauer abgeschossen, die tatsächlich sinn-
gemäß sagte: Wenn die Homoehe kommt, dann kommen
auch Inzest und Polygamie.


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Nein! Das hat sie nicht gesagt! – Manfred Grund [CDU/CSU]: Das hat sie nicht gesagt! Immer dicht bei der Wahrheit bleiben! Auch bei dem Thema!)


Das ist eine handfeste Beleidigung von Lesben und
Schwulen. Sie ist völlig unakzeptabel.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Getoppt wird dies nur noch vom Vatikan: Einer seiner
Sprecher sagte laut Presseberichten, das Ergebnis in
Irland sei eine Niederlage für die Menschheit. Auch
wenn es den einen oder anderen überraschen mag: Ich
wurde katholisch erzogen, und vor dem Hintergrund
kann ich, glaube ich, sagen: Lieber Vatikan, mit einer
etwas weniger dogmatischen Interpretation der Bibel
würden wir alle besser fahren, und der Kirche würden
nicht so viele junge Menschen davonlaufen.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Weniger Verbohrtheit und weniger Dogmatismus:
Das würde auch der Union guttun. Ich glaube, dass Ihre
Wählerschaft deutlich weiter ist als Sie selbst. Das bele-
gen auch alle Umfragen. Diese konservative Haltung





Caren Lay


(A) (C)



(D)(B)

fällt Ihnen auf die Füße. Keine der 15 größten deutschen
Städte wird noch von der CDU regiert. In Dresden hat
sich am Wochenende – Gott sei Dank, kann ich sagen –
Ihre Hoffnung auf einen CDU-Bürgermeister zerschla-
gen.


(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Da hat Pegida 10 Prozent bekommen! 10 Prozent für Pegida!)


Mit dieser hinterwäldlerischen Politik locken Sie nie-
manden mehr hinter dem Ofen hervor. Es wird endlich
Zeit, das zu ändern.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich bin fest davon überzeugt: Auch in Deutschland
würde jedes Referendum für die Ehe für alle haushoch
gewonnen. Das ist ein weiteres Argument dafür, auch in
Deutschland endlich Volksbegehren auf Bundesebene zu
ermöglichen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


65 Prozent der Deutschen haben in der letzten Um-
frage angegeben, sie seien für die Ehe für alle, ja sogar
58 Prozent, also eine satte Mehrheit, der CDU/CSU-
Wähler. Nur bei der AfD sind die Homophoben noch in
der Mehrheit. Aber das können wir uns nicht zum Vor-
bild nehmen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Beste ist: Die Ehe für alle tut niemandem weh.
Auch die Ehe von Frau Kramp-Karrenbauer wird nicht
dadurch beschädigt, dass die Lesben und Schwulen in
der Nachbarschaft jetzt auch einen Trauschein bekom-
men. Also, geben Sie Ihren Widerstand dagegen endlich
auf!


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein beliebtes und aus meiner Sicht das einzig wirklich
ernstzunehmende Argument der Gegnerinnen und Geg-
ner ist, die Ehe für alle würde dem Grundgesetz wider-
sprechen. Ich lese dort allerdings nirgends, dass mit dem
Schutz der Ehe nur der Schutz der Heteroehe gemeint
ist. Vielmehr lese ich in Artikel 3 Absatz 1: „Alle Men-
schen sind vor dem Gesetz gleich.“ Übersetzt heißt das
für mich: Wer Lesben und Schwulen die gleichen Rechte
verweigert, der verletzt den Gleichheitsgrundsatz. Es
wird endlich Zeit, die Ehe für alle einzuführen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Bundesregierung verheddert sich im Klein-Klein.
Hinter den Kulissen wird heftig gerungen, in welchen
Einzelgesetzen die eingetragene Lebenspartnerschaft an
die Ehe angepasst werden soll. Da frage ich mich: Wa-
rum so kompliziert? Ich glaube, die Zeiten, in denen wir
ein Sondergesetz für Lesben und Schwule brauchten,
sind vorbei. Lassen Sie uns die Ehe endlich für Lesben
und Schwule öffnen. Damit wird der Grundsatz „Ehe für
alle“ am einfachsten und am schnellsten umgesetzt.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben als Linke – darauf möchte ich abschlie-
ßend hinweisen – schon vor längerem einen Gesetzent-
wurf dazu vorgelegt. Im Bundesrat wird eine ähnliche
Initiative morgen hoffentlich eine Mehrheit finden.

Ich weiß, liebe SPD, Sie haben es mit diesem Koali-
tionspartner schwer. Es gibt eine kurzfristige Lösung:
Geben Sie die Abstimmung darüber einfach frei! Eine
rot-rot-grüne Mehrheit im Bundestag gibt es auch bei
diesem Thema rechnerisch schon längst.


(Zuruf von der CDU/CSU: Linke Republik!)


Wenn wir die Abstimmung freigeben, bin ich sicher,
dass auch der eine oder andere Unionspolitiker dazu bei-
tragen würde, dass eine Regenbogenallianz zustande
kommt und die Ehe für alle endlich auch in Deutschland
Realität wird.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810912200

Für die CDU/CSU hat jetzt das Wort die Kollegin

Elisabeth Winkelmeier-Becker.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU):
Rede ID: ID1810912300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Zuhörer! In der aktuellen Debatte sind für mich
drei Überlegungen wichtig.

Erstens. Mein Menschenbild differenziert nicht nach
sexueller Orientierung. Gleiche Würde und gleiche An-
erkennung folgen daraus unmittelbar und zwingend.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gleiche Würde, gleiche Rechte!)


Dass diese Selbstverständlichkeit lange in Abrede ge-
stellt worden ist, dass es noch lange nach der Geltung
des Grundgesetzes einen § 175 StGB gegeben hat, wirkt
auch heute noch verletzend.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Eine offizielle, dauerhafte und vielleicht auch gesegnete
Verbindung von zwei Menschen, die füreinander einste-
hen, hat ihren Wert, unabhängig von der Frage der sexu-
ellen Orientierung und auch unabhängig von der Frage,
ob diese Verbindung auch auf Familiengründung ausge-
legt ist oder nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)






Elisabeth Winkelmeier-Becker


(A) (C)



(D)(B)

Deshalb habe ich mich vor drei Jahren zusammen mit
zwölf anderen Kollegen in der Union für eine steuerliche
Gleichstellung von Lebenspartnerschaften eingesetzt.
Das hat damals nicht jedem gefallen. Das hat auch nicht
auf Anhieb geklappt. Aber es hat in unserer Partei eine
Diskussion ausgelöst, die in der Union und darüber hi-
naus in der Gesellschaft einiges bewirkt hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Ulli Nissen [SPD]: Sehr gut! Weiter so!)


Zweitens. Wir haben den weiteren Abbau von Un-
gleichheiten gerade auf den Weg gebracht. In dem
Zusammenhang werden wir natürlich auch Ihren Ge-
setzentwurf weiter bearbeiten und eine Sachverständi-
genanhörung dazu durchführen. Da wird überhaupt nicht
irgendeiner Diskussion oder Auseinandersetzung aus
dem Weg gegangen, sondern die beiden Dinge werden
zusammengefügt.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum haben Sie denn Angst vor dem 1. Juli, der schon vereinbart war?)


– Weil es mit einer anderen schon bereits vereinbarten
Sachverständigenanhörung kollidierte. – Wie gesagt, der
andere Gesetzentwurf zum selben Thema ist auf dem
Weg. Daher macht es Sinn, das zusammenzuführen. Das
ist der Grund.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da steht aber: „Alternativen: Keine“! Wie kann der in der gleichen Anhörung behandelt werden?)


Was dann noch bleibt, ist in der Tat eine Teilfrage der
Adoption, weil Lebenspartner ein Kind nicht gleich-
zeitig adoptieren können, sondern nur nacheinander. Da-
rauf möchte ich kurz eingehen. Wenn der Staat für ein
Kind neue Eltern sucht, dann ist es ganz normal, dass auf
das Einkommen der Eltern, auf ihre Gesundheit, auf die
verfügbare Zeit, die sie für das Kind haben, und auf ihr
Alter – sie sollten nicht älter als 40 Jahre sein – geschaut
wird. Wenn es an einem dieser Punkte nicht optimal
läuft, dann wird es schon schwierig mit der Adoption.
Mir leuchtet jetzt nicht ein, warum das Einkommen und
das Alter der potenziellen Eltern eine Rolle spielen dür-
fen, aber nicht die Frage, ob ein Kind Vater und Mutter
bekommt.

Ich weiß, dass Kinder auch in gleichgeschlechtlichen
Partnerschaften geliebt und umsorgt werden;


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


teilweise werden sie als Pflegekinder dorthin gegeben.
Ein guter Vater, eine gute Mutter zu sein, hängt nicht von
der sexuellen Orientierung ab.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Gleichzeitig habe ich Lebenserfahrung als Mutter von
drei Kindern und Großmutter eines Enkelkindes sowie
als langjährige Familienrichterin. Für mich war immer
klar, dass Vater und Mutter eine eigenständige Bedeu-
tung haben, die sich ergänzt. Der zweite Vater ersetzt
eben nicht die Mutter, und die zweite Mutter ersetzt
nicht den Vater. Deshalb betreiben wir, wenn sich Eltern
trennen, doch den ganzen Aufwand, damit das Kind den
Kontakt auch zu dem anderen Elternteil erhält.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch gar nicht mehr die Frage! Die ist doch längst entschieden von Karlsruhe! Sie haben die Rede von vor zehn Jahren rausgeholt!)


In der letzten Wahlperiode haben wir uns um die Verbes-
serung der Rechte nichtehelicher Väter bemüht. Auch
das war doch von dem Gedanken getragen, dass es für
das Kind von Anfang an wichtig ist, Kontakt zum Vater
zu haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Deshalb ist für mich klar, dass das bei der Adoption
eine Rolle spielen muss. Für mich ist aber auch klar, dass
dieser Aspekt genau wie die anderen, Alter, Einkommen
usw., im Einzelfall in der Abwägung zurücktreten kann.
Klare Beispiele wären Pflegekinder oder Kinder aus der
Verwandtschaft.

Jetzt haben wir die Sukzessivadoption. Sie führt,
wenn auch auf Umwegen, zumindest zu praktikablen
Ergebnissen. Mir ist kein anderer Fall bekannt. Ich ap-
pelliere: Vielleicht sollten wir von beiden Seiten nicht zu
viel Wert auf die Frage legen, ob das im Gesetz geregelt
ist oder untergesetzlich nur in der Verwaltungspraxis,
wie das auch für die anderen Kriterien gilt.

Drittens. Ich komme zu den Begriffen. Zunächst: Ich
finde den Begriff „Homo-Ehe“ unterirdisch, diskriminie-
rend und unwürdig.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich kann nachvollziehen, dass es gerade nach der Vorge-
schichte eine besondere emotionale Bedeutung hätte,
den Begriff der Ehe auch auf Lebenspartnerschaften
anzuwenden. Auf der anderen Seite hat aber nicht erst
unsere Rechtsordnung den Begriff der Ehe erfunden. Er
hat eine lange kulturgeschichtliche Vorgeschichte, auch
eine religiöse Vorprägung. Damit wird durchgängig die
offizielle Verbindung von Frau und Mann gemeint.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Salomo hatte tausend Frauen! Lange Geschichte! – Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht in der Bibel!)


– Auch da, Herr Beck, immer Mann und Frau.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oder ganz viele!)


Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil
aus dem Jahr 2002 zum Lebenspartnerschaftsgesetz und





Elisabeth Winkelmeier-Becker


(A) (C)



(D)(B)

auch seither immer wieder von der Verschiedenge-
schlechtlichkeit als einem Wesensmerkmal der Ehe ge-
sprochen und davon, dass der Gesetzgeber die wesentli-
chen Strukturprinzipien beachten muss, die sich aus der
Anknüpfung des Artikels 6 Grundgesetz an die vorge-
fundene Lebensform der Ehe ergeben.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat das Verfassungsgericht 2008 dazu gesagt?)


Deshalb habe ich meine Zweifel, dass wir diesen Begriff
der Ehe einfach hernehmen und umdefinieren können.


(Zuruf von der LINKEN: Wir definieren doch gar nichts um!)


Man muss auch sagen: Eine begriffliche Unterschei-
dung ist nicht mit einer Diskriminierung gleichzusetzen.
Das darf man nicht verwechseln. Bei der Einführung der
Lebenspartnerschaft war diese Unterscheidung klar ge-
wollt. Lesen Sie doch bitte die Reden von Herta
Däubler-Gmelin oder Margot von Renesse nach. Auch
Sie, Herr Beck, haben damals gesprochen und waren ge-
radezu enthusiasmiert.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810912400

Frau Kollegin Winkelmeier-Becker, darf ich Sie an

die Redezeit erinnern?


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie ist geradezu enthusiasmiert!)



Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU):
Rede ID: ID1810912500

Ich komme sofort zum Ende. – Aber ich wollte doch

noch das Glücksgefühl, das Sie damals ausgedrückt ha-
ben, erwähnen. Sie haben damals von den vielen Festen
gesprochen, die zu feiern wären. Genauso ist es doch
auch gekommen, und zwar unter Geltung dieses Geset-
zes und noch darüber hinaus.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb sind jetzt zwei Drittel der Menschen dafür!)


Deshalb ist mein Vorschlag: Reden wir über eine wei-
tere Aufwertung und bessere Wertschätzung des Begriffs
der Lebenspartnerschaft. Darüber sollten wir diskutie-
ren.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810912600

Der Kollege Dr. Anton Hofreiter spricht jetzt für

Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben in diesen Tagen eine große Chance:
Wir können erreichen, dass Homosexuellen mehr entge-
gengebracht wird als nur duldende Toleranz, nämlich
wirklicher Respekt für die Unterschiedlichkeit menschli-
chen Lebens und echte Gleichberechtigung für verschie-
dene Lebensentwürfe. Ich sage Ihnen eines – dabei
wende ich mich auch an meine Vorrednerin –: Alles an-
dere als echte rechtliche Gleichberechtigung von Homo-
sexuellen ist Diskriminierung, nicht mehr und nicht we-
niger.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Doch leider erleben wir, auch gerade eben wieder, nur
die Fortführung eines bizarren Schauspieles: Die Kolle-
ginnen und Kollegen von der Union sind gegen die echte
Gleichstellung von Lesben und Schwulen. Aber sie
können und wollen offensichtlich nicht so richtig sagen,
warum eigentlich. Also drucksen sie herum wie gerade
auch in der Rede. Sie drucksen herum wie ihre Partei-
vorsitzende im Wahlkampf 2013. So ist das eben, wenn
man offensichtlich selber weiß, dass man im Unrecht ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Was sollte der Staat, was sollte denn unsere Gesell-
schaft dagegen haben, wenn zwei Menschen Verantwor-
tung füreinander übernehmen und das verbindlich ma-
chen wollen? Auch auf die Religion können Sie sich
nicht wirklich berufen. Ich darf zitieren:

Für mich ergibt sich aus zentralen biblischen Gebo-
ten der Impuls zu einer Öffnung der Kirche gegen-
über gleichgeschlechtlichen Partnerschaften.

Das sagt nicht Volker Beck, das sagen nicht wir, sondern
das sagt einer der höchsten christlichen Repräsentanten
unseres Landes, der Ratsvorsitzende der EKD, Herr
Bedford-Strohm. Das sollten Sie aus den Parteien, die
das Christliche sogar im Namen tragen, sich wirklich zu
Herzen nehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, man-
che von Ihnen argumentieren ja, mit der Ehe für alle
würde die Familie gefährdet. Können Sie mir irgendwie
erklären, wie es mein Recht beeinflussen könnte, meine
Freundin zu heiraten, wenn unser Kollege Volker Beck
oder unser Kollege Jens Spahn das Recht hätten, ihren
Freund zu heiraten? Nein, das können Sie eben nicht er-
klären, denn das hat keinerlei Einfluss. Das stimmt ein-
fach nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Die Ehe für alle ist eben kein Nullsummenspiel. Wenn
Sie allen das Recht zur Eheschließung geben, nehmen
Sie doch den Heterosexuellen nichts weg. Einzig die
Schlange vor den Standesämtern wird vielleicht ein klei-
nes bisschen länger. Ist das so schlimm?


(Elisabeth Winkelmeier-Becker [CDU/CSU]: Die Verpartnerung geschieht auch vor dem Standesamt!)






Dr. Anton Hofreiter


(A) (C)



(D)(B)

Nein, liebe Gegner der Ehe für alle von der Union, Ihr
Widerstand gegen die Öffnung basiert doch nicht auf Ar-
gumenten oder auf Werten. Seien wir doch einmal ehr-
lich: Im Kern geht es um Ressentiments und um Vorur-
teile, um Vorurteile gegen Lesben und Schwule. Das
wollen Sie natürlich nicht so offen sagen, erst recht nicht
in einer solchen Debatte, aber das rutscht Ihnen immer
wieder raus.


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Das ist totaler Blödsinn!)


Annegret Kramp-Karrenbauer ist sich nicht zu
schade, Homosexualität, Inzest und Polygamie in einen
Topf zu werfen.


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Hat sie nicht getan!)


Bei der CSU – das war erst gestern wieder im Fernsehen
zu beobachten – gibt es sogar manche, die homosexuelle
Beziehungen minderwertig finden. Es ist genau diese
muffige Geisteshaltung, die überhaupt nicht mehr zu un-
serem offenen und modernen Land passt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Seien wir doch einmal ehrlich: Da war es ehrlicher, als
so mancher Konservative offen homophob war. Homo-
sexuelle Liebespaare erst mit Inzest zu vergleichen und
dann zu behaupten, das hätte nichts mit Homophobie zu
tun, ist nicht nur bigott, das ist wirklich verlogen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Schauen Sie sich die Umfragen an. Es gibt viele Um-
fragen, die zeigen: 65 Prozent, manchmal auch 70 oder
75 Prozent der Bürgerinnen und Bürger sind weiter als
Sie. Die Mehrheit im Bundesrat ist längst weiter als Sie.
Ich bin mir verdammt sicher: Die Mehrheit hier im Bun-
destag ist auch weiter als Sie. Sie vertreten doch längst
nicht mehr die Wertehaltung einer Mehrheit bei uns. Sie
sind doch selbst längst eine fundamentalistische Minder-
heit in diesem Zusammenhang.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Schauen wir uns das einmal an: In einer pluralen und
freien Gesellschaft haben Sie überhaupt kein Recht, der
Mehrheit diese Wertvorstellung aufzuzwingen.


(Zuruf der Abg. Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/ CSU])


Sie müssen nicht einmal Ihre Meinung ändern. Geben
Sie einfach die Abstimmung frei, und dann schauen wir
einmal, welche Mehrheit es hier im Deutschen Bundes-
tag gäbe.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Aber Sie stellen dieses Recht einfach darüber. Sie wollen
Fraktionsgehorsam, Sie wollen Parteigehorsam, das ist
Ihnen offensichtlich wichtiger.
Aber warum? Es stellt sich die spannende Frage: Wa-
rum machen Sie das eigentlich? Eine Ihrer stellvertreten-
den Bundesvorsitzenden hat selbst zugegeben, dass Sie
in ein paar Jahren diese Position räumen. Mit anderen
Worten: Das Ganze hat nichts mit Ihren Werten zu tun,
sondern es geht eher darum, bei der sogenannten konser-
vativen Klientel noch ein paar Punkte zu sammeln, viel-
leicht auch noch ein paar Punkte bei der AfD zu sam-
meln. Das ist doch das Einzige, worum es Ihnen da geht.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Stellen Sie Ihr Interesse am Machterhalt und Ihr Par-
teiinteresse nicht weiter über die Liebe vieler Menschen
und über die Bereitschaft und den Wunsch vieler Men-
schen, füreinander einzustehen. Das ist nämlich nicht
christlich, das ist maximal schäbig. Deshalb appelliere
ich an Sie: Geben Sie die Abstimmung frei, dann sehen
wir, wer bzw. welche Wertvorstellung hier die Mehrheit
hat.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810912700

Der Kollege Johannes Kahrs spricht jetzt für die SPD.


(Beifall bei der SPD)



Johannes Kahrs (SPD):
Rede ID: ID1810912800

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Diese Debatte ist keine neue, sondern eine,
die wir hier häufiger führen. Diese Debatte zeichnet sich
dadurch aus, dass Linke, SPD und Grüne eine Position
vertreten, CDU/CSU eine andere.


(Zuruf der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])


Wir können diese Debatte noch lange weiterführen. Da
ich zurzeit in einer Koalition mit der CDU/CSU bin und
man sich in einer Koalition – freundschaftlich verbunden –
den einen oder anderen Rat geben kann, glaube ich sa-
gen zu dürfen, dass es für die Union auf Dauer besser
wäre, wenn sie sich einer Entwicklung, die seit 1998 an-
dauert, nicht weiter in den Weg stellt,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


weil ich einfach glaube, dass die gesellschaftliche Ent-
wicklung nicht nur über sie hinweggeht, sondern der
Union auch irgendwann schadet.


(Zuruf von der CDU/CSU)


Es gibt Diskussionen, die man führen kann, in denen
man sich inhaltlich streiten kann. Aber inzwischen ha-
ben zwölf Länder in Europa die Ehe geöffnet. Wenn man
sieht, dass außerhalb von Europa selbst solche Länder
wie Brasilien, Uruguay und Argentinien


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Heimatland des Papstes!)






Johannes Kahrs


(A) (C)



(D)(B)

– das habe ich noch zu Europa gezählt –


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Argentinien? Der Papst kommt aus Argentinien!)


die Ehe geöffnet haben und deutlich weiter sind als Sie,
meine Damen und Herren von der Union, fragt man sich,
wie Sie noch gegen eine Öffnung der Ehe argumentieren
können.

Die konservative Regierung in Großbritannien hat die
Zeichen der Zeit erkannt und hat die Ehe geöffnet. Man
könnte hämisch behaupten: gerade weil sie konservativ
ist und die Ehe schätzt. Angesichts der Tatsache, dass
selbst Länder, in denen Konservative regieren, die Ehe
geöffnet haben, gibt es keine inhaltliche Begründung für
eine Nichtöffnung der Ehe. Ich gebe zu, dass Sie, Frau
Kollegin Winkelmeier-Becker, wirklich tapfer argumen-
tieren, und das über Jahre hinweg. Respekt! Es ist in Ih-
rer Fraktion sicherlich nicht einfach. Schließlich kenne
ich den einen oder anderen Ihrer Kollegen. Dafür ge-
bührt Ihnen höchster Respekt.


(Beifall der Abg. Dr. Karl-Heinz Brunner [SPD] und Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Trotzdem müssen Sie alle, meine Damen und Herren
von der Union, zur Kenntnis nehmen, dass die Lesben
und Schwulen in diesem Land auf das Schauspiel, das
seit 1998 andauert, keine Lust mehr und dafür kein Ver-
ständnis mehr haben und der Meinung sind, dass das,
was in Uruguay, Brasilien, Argentinien, Slowenien, Spa-
nien, Frankreich, Irland und Südafrika möglich ist, auch
in Deutschland möglich sein müsste.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Unter uns: Ich habe als Hamburger sehr viele
Freunde, die Mitglied in der Union sind. Diese sind
schwer geknickt. Es gibt gerade unter Schwulen und
Lesben sehr viele – ich weiß auch nicht, warum –, die
sehr konservativ sind. Diese würden Sie, meine Damen
und Herren, gerne wählen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das muss ja nicht sein!)


– Natürlich muss das nicht sein. Aber man kann einmal
daran erinnern.


(Heiterkeit bei der SPD)


Weil Sie, meine Damen und Herren von der Union, die-
sen potenziellen Wählern vor jeder Wahl rechts und
links eine herunterhauen und ihnen mitteilen, dass sie
nicht gleichberechtigt sind, und deutlich machen, dass
Sie als Union weiterhin bereit sind, sie zu diskriminie-
ren, und zwar aus dem Grund, dass Frau Merkel ein be-
stimmtes Bauchgefühl hat, glaube ich, dass nichts daraus
wird, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Aber was Sie
vertreten, ist in der Sache falsch. Es gibt keine Argu-
mente gegen eine Öffnung der Ehe.
Ich könnte sehr viel dazu sagen, warum es richtig ist,
Schwule und Lesben gleichberechtigt zu behandeln. Ich
glaube, das versteht jeder hier. Ich verweise auf das
Grundgesetz und auch auf unseren Koalitionsvertrag, in
dem steht, dass wir Diskriminierung abbauen wollen.
Die Frage, die sich mir stellt, lautet: Warum in aller
Herrgotts Namen machen Sie es nicht?


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Antwort macht die Sache so peinlich. Wenn Sie
in der Union über die Öffnung der Ehe abstimmen wür-
den, dann würde die Mehrheit sogar zustimmen. Ihre
Wähler sind jedenfalls mehrheitlich für die Öffnung der
Ehe. Was Sie antreibt, sind rein taktische Erwägungen.
Das hat nichts mit inneren Überzeugungen zu tun. Es hat
nichts damit zu tun, dass Sie davon überzeugt sind, dass
Lesben und Schwule diskriminiert sein müssen. Es liegt
vielmehr daran, dass Sie sich in den letzten Jahren sehr
stark bewegt haben, von rechtskonservativ bis in die
Mitte. Sie sind inzwischen für die doppelte Staatsbürger-
schaft sowie für die Gleichberechtigung der Frau und für
Frauenquoten. Sie haben Atomkraftwerke abgeschaltet
und die Wehrpflicht abgeschafft. Sie bejubeln sogar die
Einführung des Mindestlohns. All das, was die Union
tut, führt dazu, dass sich ein Großteil ihrer Stammwähler
fragt: Warum soll ich diesen komischen Verein eigent-
lich noch wählen? – Mit dem, was Strauß, Dregger und
selbst noch Roland Koch vertreten haben, haben Sie
nichts mehr zu tun. Dazu haben wir tapfer beigetragen.
Wir sind gerne weiterhin bereit, solche Beiträge zu leis-
ten. Aber dass Sie es nun an Lesben und Schwulen aus-
lassen, weil Sie rechte und konservative Wähler nicht
verlieren wollen, ist unanständig; das geht nicht.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das muss ein Ende haben. Das muss auch Frau Merkel
begreifen; denn sie ist verantwortlich. Frau Merkel
bremst. Das nehmen wir ihr persönlich übel. Deswegen:
Geben Sie die Abstimmung frei!


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810912900

Nächster Redner ist der Kollege Helmut Brandt,

CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird jetzt ein schwerer Gang!)



Helmut Brandt (CDU):
Rede ID: ID1810913000

Überhaupt nicht, Herr Beck. – Herr Präsident! Meine

sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kahrs, das Pult
ist heil geblieben. Ihre Handkantenschläge waren ge-
nauso wenig überzeugend wie Ihre Rede.


(Beifall bei der CDU/CSU – Johannes Kahrs [SPD]: Wenn das der Maßstab Ihrer Politik ist!)






Helmut Brandt


(A) (C)



(D)(B)

Seitdem die Iren diesen Volksentscheid durchgeführt
haben, wird diese Debatte wieder – leider nicht sachlich,
sondern hysterisch – geführt. Anders kann man das nicht
bezeichnen, auch das nicht, was Sie heute hier abliefern.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Ablehnung ist hysterisch!)


Das ist aber dieses Themas gar nicht würdig. Ich weiß
auch nicht, ob Sie wollen – das Thema der Aktuellen
Stunde lautet „Ehe für alle“ –, dass sich die Leute in die-
ser Art und Weise artikulieren. Ich frage mich: Hätten
wir heute diese Debatte auch, wenn die Iren so wie die
Kroaten abgestimmt hätten? Die Kroaten haben 2013 ge-
nau das gegenteilige Ergebnis in der Volksabstimmung
erzielt, nämlich eine Ablehnung.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann hätten Sie eine Aktuelle Stunde beantragt! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum haben Sie damals keine Aktuelle Stunde beantragt? – Gegenruf des Abg. Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: Das unterscheidet uns!)


Sie führen immer wieder an, dass angeblich bei Um-
fragen, die es geben mag, die Mehrheit der Bevölkerung
für diese Gleichstellung ist. Dazu muss ich sagen: Ich
habe erhebliche Zweifel.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Dann machen wir ein Referendum!)


Die Zweifel habe ich auch deswegen, weil ich seit die-
sem Entscheid in Irland – wahrscheinlich auch die ande-
ren Kolleginnen und Kollegen – eine Vielzahl von Zu-
schriften bekommen habe, die genau den gegenteiligen
Eindruck erwecken. Dann kommt es so weit, Herr Beck,
dass es Leute gibt, die mir schreiben, dass sie sogar
Angst haben, offen einzuräumen, für die Beibehaltung
der Ehe zu sein, weil sie sonst automatisch von Leuten
wie Ihnen, Herr Beck, in eine rechte, homophobe oder
welche Ecke auch immer geschoben werden. Sie diskri-
minieren diese Leute, die ihre Meinung zum Ausdruck
bringen wollen, nicht umgekehrt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Johannes Kahrs [SPD]: Das ist peinlich, Herr Brandt! Sie sollten sich schämen! – Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Ich weiß, dass Sie, Herr Beck und Herr Kahrs, gerne
dazwischenrufen. Aber nicht der, der am lautesten
schreit, hat recht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Johannes Kahrs [SPD]: Das stimmt! Nicht unbedingt!)


– Bei Ihnen stimmt es in dem Fall genau nicht, dass Sie
recht haben.

Man sollte diese Debatte ohne diese Emotionen und
mit Sachlichkeit führen.


(Johannes Kahrs [SPD]: Ich hoffe, dass es ehrlich ist!)

Da wir unter uns sind, wie Sie, Herr Kahrs, gesagt ha-
ben: Ich stehe ganz eindeutig dafür, die Ehe in der jetzi-
gen Form beizubehalten und nicht für gleichgeschlecht-
liche Paare zu öffnen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wollen sie auch nicht abschaffen! Da haben Sie etwas missverstanden!)


Deshalb, Frau Lay, empfinde ich die Debatte auch kei-
neswegs als unangenehm. Ich bin froh, dass ich dieses
Bekenntnis hier frank und frei abgeben kann. Ich hoffe,
dass das auch in Zukunft weiter möglich sein wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es mag auch sein, dass es keine Legaldefinition für
den Begriff der Ehe gibt, aber – das hat die Kollegin
Winkelmeier-Becker schon ausgeführt – es gibt


(Johannes Kahrs [SPD]: Ein Bauchgefühl!)


eine Historie, und es gibt viele Gründe kultureller und
religiöser Art, die zu dem Ehebegriff geführt haben, so
wie wir und ich ihn verstehen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es sollte einmal ein Muslim an diesem Pult stehen!)


Das hängt natürlich auch damit zusammen – man
kann das drehen und wenden, wie man will –, dass die
klassische Ehe von Mann und Frau, wenn auch nicht im-
mer – leider –, in der Regel dazu führt, dass man sich
fortpflanzt.


(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Staatsministers Michael Roth)


– Wer hat das gerufen? Sie schämen sich dafür, ja? Ich
möchte Sie bitten, sich dafür zu entschuldigen. Den Zwi-
schenruf „Und was ist mit der Bundeskanzlerin?“ bei
dieser Aussage halte ich für eine Unverschämtheit. Ich
bitte, zu prüfen, ob das nicht gerügt werden muss.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es gibt eben diesen Unterschied, und es gibt das, was
ich hochhalten möchte.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Widerspruch von der Regierungsbank!)


Jetzt kommen diese Drohungen und auch die Falsch-
aussagen, die ich auch von Ihrer Seite, meine Damen
und Herren, heute wiederholt in diesem Raum gehört
habe.


(Johannes Kahrs [SPD]: Argumentativ ziemlich schwach! Wie wäre es mit Inhalten?)


Wenn Sie der saarländischen Ministerpräsidentin Dinge
in den Mund legen, die sie so nicht gesagt hat, dann halte
ich das für eine Frechheit.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sie gesagt hat, ist eine Frechheit!)






Helmut Brandt


(A) (C)



(D)(B)

Ich möchte mit der gleichen Deutlichkeit sagen, dass
ich ihre Aussage unterstütze, dass nämlich immer über-
legt werden muss, wo das Ende einer möglichen Ent-
wicklung ist. Darauf hinzuweisen, ist, glaube ich, legi-
tim.


(Zuruf der Abg. Mechthild Rawert [SPD])


Lassen Sie mich zum Schluss aus einer Zuschrift ei-
nes Wählers Folgendes zitieren: „Auch Iren können ir-
ren.“ Ich glaube, sie haben sich geirrt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Außer Ressentiments nichts zu bieten! Kein einziges Argument in Ihrer Rede!)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810913100

Ich möchte darauf hinweisen, dass zwar immer Zwi-

schenrufe gemacht werden können, nach unserer Ge-
schäftsordnung allerdings nicht von der Regierungs-
bank.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn ein Regierungsmitglied Zwischenrufe machen
möchte, dann kann es dieses tun: als Abgeordneter, aber
nicht von der Regierungsbank. Das ist unsere Vereinba-
rung.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich übernehme seinen Zwischenruf!)


Nächster Redner ist der Kollege Harald Petzold für
die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Mechthild Rawert [SPD])



Harald Petzold (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810913200

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Lie-
ber Kollege Brandt, natürlich sollen Sie hier im Deut-
schen Bundestag Ihre Meinung sagen können


(Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: Aha!)


und auch für Ihre Positionen werben können. Darum
geht es doch gar nicht. Es geht nur darum, dass Sie zum
Beispiel den Kolleginnen und Kollegen in Ihrer eigenen
Fraktion und den Kolleginnen und Kollegen in der SPD-
Fraktion, die offensichtlich eine ganz andere Meinung
als die Spitzen ihrer eigenen Fraktionen haben – der Kol-
lege Kahrs hat es ja hier dargestellt –, die Möglichkeit
einräumen, hier für ihre Position zu werben und dement-
sprechend dann auch abstimmen zu können.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen auch von meiner Seite zu Beginn meiner
Rede in der Aktuellen Stunde zum Thema „Ehe für alle“
die Forderung: Geben Sie diese Abstimmung frei. Wenn
Sie das nicht wollen, dann lassen Sie einen Volksent-
scheid zu dieser Frage zu. Dann werden Sie sehen, dass
Sie die Meinungsführerschaft in der Gesellschaft mit Ih-
ren Positionen, was die Ehe anbelangt, leider verloren
haben.

Ich sage Ihnen auch klar und deutlich: Die Umfragen
belegen vor allen Dingen, dass es für junge Leute eine
ganz zentrale Frage von Gerechtigkeit in dieser Gesell-
schaft ist, dass es keine Diskriminierung mehr gibt und
dass Respekt für alle Lebensweisen bekundet wird und
dass niemand mehr ausgegrenzt und diskriminiert wird.
Das sollten wir zur Kenntnis nehmen. Dem sollten Sie
sich hier im Bundestag endlich öffnen.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Mechthild Rawert [SPD])


Als meine Fraktion am Anfang dieser Woche diese
Aktuelle Stunde beantragt hat, war ich mir nicht sicher,
ob das zum gegenwärtigen Zeitpunkt tatsächlich das op-
timale Mittel ist, mit dem Gegenstand umzugehen.


(Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Ist es nicht, Herr Kollege!)


Der Kollege Jens Spahn hat sich sinngemäß in der Presse
geäußert: Was im katholischen Irland möglich ist, sollte
doch auch bei uns möglich sein.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das war überhaupt nicht aufgeregt oder hysterisch, son-
dern das ist einfach richtig.


(Beifall des Abg. Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE])


Ihr Generalsekretär Peter Tauber hat auf seiner Face-
book-Seite eine Umfrage initiiert, die eine überwälti-
gende Mehrheit für die Öffnung der Ehe gebracht hat.
Ich finde, das ist überhaupt nicht hysterisch. Das ist legi-
tim, und es hat Sie sozusagen mit der gesellschaftlichen
Realität konfrontiert.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Berliner CDU hat angekündigt, dass sie in dieser
Frage einen Mitgliederentscheid herbeiführen will. Was
ist daran hysterisch? Es ist einfach ein legitimes und de-
mokratisches Mittel. Es wird Ihnen zeigen, dass in Ber-
lin – der Kollege Luczak wird mich wahrscheinlich be-
stätigen – inzwischen viel weiter gedacht wird als in der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: In Köln auch! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Denken ist da verboten!)


Leider gibt es die „Oberbremser“ in der Union wie
Frau Kramp-Karrenbauer, Herrn Kauder oder Herrn de
Maizière, diesmal getarnt als Bedenkenträger. Ich muss
sagen: Das, was Frau Kramp-Karrenbauer gesagt hat
– egal ob das jetzt richtig zitiert worden ist oder nicht –,


(Helmut Brandt [CDU/CSU]: Nicht egal!)






Harald Petzold (Havelland)



(A) (C)



(D)(B)

ist den sogenannten besorgten Bürgern viel näher als ei-
nem tatsächlichen, sachlichen Austausch über diese The-
matik in der Gesellschaft.


(Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Das war blanke Hysterie!)


– Genau, das war blanke Hysterie.

Ich sage Ihnen voraus: Es ist ein sinnloser Abwehr-
kampf, den Sie hier führen. Nicht nur die Umfragen in
Deutschland belegen das, sondern auch die Politik in
vielen anderen Ländern. Der Kollege Kahrs hat sie auf-
gezählt. Ich könnte die Aufzählung ergänzen. Zu dieser
Aufzählung gehören Länder, von denen man es nie im
Leben für möglich gehalten hätte: Tschechien, Slowe-
nien


(Johannes Kahrs [SPD]: Südafrika!)


– Südafrika, genau – und eben auch das katholische Ir-
land. Dazu kommen 36 Bundesstaaten der USA. Wir er-
warten zu Beginn des Sommers eine Entscheidung des
Supreme Court der USA. Wir sind fest davon überzeugt,
dass die Ehe gleichgeschlechtlicher Paare auch in den
USA als verfassungsgemäß beurteilt wird. Und dann
werden Sie sehen, verehrte Kolleginnen und Kollegen
von der CDU/CSU: Der Kaiser ist nackt.


(Johannes Kahrs [SPD]: Nein! Das ist kein erfreuliches Bild! Keine Bilder!)


Da können Sie machen, was Sie wollen. Sie haben kein
sachliches Argument mehr gegen die Öffnung der Ehe.


(Beifall bei der LINKEN)


Deswegen sage ich Ihnen: Lassen Sie sich von den
Kolleginnen und Kollegen in Ihrer Fraktion, die bei den
vergangenen CSDs Grußworte gehalten haben, doch ein-
fach einmal erzählen, wie das ist, wenn man für seine
Position ausgebuht wird.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Selber auf den CSD gehen!)


Sie können nicht beantworten, warum Sie nicht die
Gunst der Stunde nutzen. Die Kanzlerin würde von den
Teilnehmerinnen und Teilnehmern der CSDs auf Händen
getragen. Ich befürchte sogar, die Mehrheit meiner eige-
nen Anhänger wäre darunter. Aber das wäre mir recht,
damit Sie endlich Ihre Position ändern. Nutzen Sie die
Gunst der Stunde, die neuen Mehrheiten in der Gesell-
schaft. Wenn Sie eine Bewegung schon nicht mehr ver-
hindern können, dann sehen Sie wenigstens zu, dass Sie
an ihre Spitze kommen, und öffnen Sie die Ehe für
gleichgeschlechtliche Partnerschaften.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: An die Spitze schaffen sie es nicht mehr!)


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810913300

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Karl-Heinz

Brunner, SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD):
Rede ID: ID1810913400

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen

und Kollegen! Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Im
Vorgriff auf diese Aktuelle Stunde habe ich überlegt, ob
ich den Einstieg in meine Rede über den Begriff „Vorur-
teile“ wählen soll, aber, Kollege Brandt, nach Ihrem
Wortbeitrag hier in diesem Hohen Hause fällt mir dies
deutlich leichter.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage dies deshalb, weil ich, wie eine Kollegin der
Grünen, am vergangenen Wochenende in Kiew war, als
die ukrainischen Schwulen und Lesben versucht haben,
als ein Häufchen Aufrechter im Land eine Gay Pride Pa-
rade – nicht bunt, nicht mit irgendwelchen Federboas,
sondern ganz anständig – als Demonstration für Men-
schenrechte durchzuführen,


(Johannes Kahrs [SPD]: Was hast du gegen Federboas?)


und ich zusammen mit den 250 Demonstrantinnen und
Demonstranten von rund 1 000 Polizisten bewacht wer-
den musste, um überhaupt an einem öffentlichen Platz
fernab des Zentrums stehen zu können, während ein
Mob von vorurteilsgeprägten Rechten versucht hat, auf
die Menschen einzuschlagen. Dass ich in meinem Alter
noch so schnell laufen kann, wenn man verfolgt wird,
hat mich gewundert.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nach diesem Eindruck kehrt man dann nach Deutsch-
land zurück – man hat überlebt, weil man nicht verprü-
gelt wurde; der Kollege Beck hat vor ein paar Jahren lei-
der nicht das Glück gehabt, so schnell laufen zu können,


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bin einfach nicht sportiv!)


und kein Postamt gefunden, wo er sich verstecken
konnte – und denkt sich: Schön zu wissen, dass wir in
Deutschland sind, dass es keine Gefahr für Leib und Le-
ben gibt, dass es hier eine Mehrheitsgesellschaft gibt, die
Minderheiten respektiert.

Ironischerweise hatte ich gedacht, dass ich nach mei-
ner Rückkehr am Montag als Erstes einen Brief vorfin-
den würde mit dem Inhalt: Schön, dass du wieder gesund
zurück bist. Schön, dass du dich für die Rechte der
Schwulen eingesetzt hast. Schön, dass du hier etwas
tust. – Was lag stattdessen auf dem Tisch? Ein Schreiben
eines angehenden Priesters, der sich wohl so wie die
Teilnehmer des Shitstorms der letzten Wochen durch die
Mitunterzeichnung des Aufrufs im Spiegel provoziert
fühlte und der die Homo-Ehe, wie er sie bezeichnete, mit
den Rassegesetzen der Nazis und Ähnlichem verglich.





Dr. Karl-Heinz Brunner


(A) (C)



(D)(B)

Normalerweise und eigentlich schmeiße ich solchen
Mist sofort in den Papierkorb. Aber angesichts dieser
Penetranz, auch der Penetranz, mit der in unserer Region
in letzter Zeit Leserbriefe geschrieben werden, war ich
der Meinung: Nein, wir müssen endlich sagen, was die
Mehrheit der Menschen denkt, was sie will, was richtig
und anständig ist.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Anständig ist die Ehe für alle, anständig ist nicht Dis-
kriminierung. Doch das ist in diesem Lande nicht immer
Realität. Wenn man sich einmal anschaut, wie man sich
auf den Sportplätzen, auf den Schulhöfen dieses Landes
oder in manchen Familien heute noch sehr oft verhält,
wo der Begriff „schwule Sau“ als nett und schick ange-
sehen wird und blöde Kommentare, die unter die Gürtel-
linie zielen, nur Schmunzeln hervorrufen, dann weiß
man: Bei uns besteht zwar keine Gefahr für Leib und Le-
ben, aber Gefahr für die Seele und Psyche von jungen
Menschen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Weil dies nicht gut ist, weil wir Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten dies erkannt haben und weil das
in diesem Land nicht sein darf, haben wir im Koalitions-
vertrag vereinbart – ich habe es ausgedruckt, damit man
nicht sagt, es stehe etwas anderes drin –:

Wir werden darauf hinwirken, dass bestehende
Diskriminierungen von gleichgeschlechtlichen Le-
benspartnerschaften und von Menschen aufgrund
ihrer sexuellen Identität in allen gesellschaftlichen
Bereichen beendet werden.

Punkt!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb verstehe ich manche der Aufregungen und
manche Ablehnung der Ehe für alle aus folgenden Grün-
den überhaupt nicht:

Erstens. Noch bestehende bürokratische Unterschiede
zwischen Ehe und Lebenspartnerschaften sind künstlich
und willkürlich.

Zweitens. Gestatten Sie mir den Gebrauch des Begrif-
fes: Früher hatten wir Rosa Listen. Heute haben wir mit
dem Stempel „Lebenspartnerschaftsurkunde“ den Ver-
merk, anhand dessen jeder draußen weiß, welch sexuelle
Orientierung der Mieter, der Eröffner eines Bankkontos
oder von etwas anderem hat. Dies geht jedoch nieman-
den etwas an – weder den Staat noch andere.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU])


Drittens. Ich bin der festen Überzeugung, dass Politik
führen und Richtung weisen muss. Sie muss Farbe be-
kennen sowie Motor der Gleichstellung sein.
Nicht zuletzt wollen wir Verträge – auch den Koali-
tionsvertrag – ernst nehmen; nicht nur bei der Maut.
Deshalb sage ich: Setzen wir den Koalitionsvertrag um –
nicht mehr, auch nicht weniger. Beenden wir – so, wie
wir es vereinbart haben – Diskriminierungen in allen ge-
sellschaftlichen Bereichen.

Das Folgende sage ich an den Kollegen Kauder ge-
richtet. Liebe Frau Winkelmeier-Becker, teilen Sie es
ihm – genauso wie der Kanzlerin – mit. Ich bin mir si-
cher und kann Ihnen mit der Kollegin Sütterlin-Waack,
die immer noch aufrecht und standhaft auf diesem Ge-
biet arbeitet, versprechen: Wir kriegen die Ehe für alle
sehr schnell hin!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Beenden wir also die unterschiedliche Behandlung
zwischen Lebenspartnerschaft und Ehe. Geben wir den
Kindern in unserer Gesellschaft Geborgenheit. Die Kin-
der brauchen Familien. Sie brauchen sie nicht nur am
Sonntag, sondern von Montag bis Sonntag, die ganze
Woche über. Dort, wo Kinder sind, muss auch eine Fa-
milie sein. Dabei ist es egal, ob zwei Frauen, zwei Män-
ner oder eine Frau und ein Mann die Eltern sind: Kinder
brauchen Geborgenheit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])


Ich glaube, lieber Herr Kauder und liebe Zauderer in
der Union: Wir wären der Zustimmung der Mehrheit der
Deutschen und dieses Hauses gewiss. Wäre es nicht
schön, wenn wir das hinbekämen?

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1810913500

Der Kollege Volker Beck spricht jetzt für Bündnis 90/

Die Grünen.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810913600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es geht in

dieser Debatte nicht um juristisches Klein-Klein, son-
dern um eine Grundsatzfrage. Es geht um gesellschaftli-
chen Respekt gegenüber einer Minderheit. „Alle Men-
schen sind frei und gleich an Würde und Rechten
geboren.“ – Das ist Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung
der Menschenrechte. Wer gleiche Rechte verweigert,
verweigert auch gleiche Würde.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


So nehmen die Lesben und Schwulen in Deutschland
diese Debatte wahr. Sie nehmen diesen Menschen mit
Ihrem harten Festhalten an einer Minderheitsmeinung
und der Geiselnahme des gesamten deutschen Parlamen-
tes für Ihre Position die Würde, die Anerkennung und





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)

den Respekt, den sie verdient haben und den die Verfas-
sung auch für sie so will.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Was führen Sie dafür ins Feld? Die Kanzlerin sagt:
Ich tue mich mit der völligen Gleichstellung schwer. –
Im Präsidium der CDU soll sie es ein bisschen näher
ausgeführt und gesagt haben, es gebe einen Unterschied
zwischen der Ehe, die zwischen Mann und Frau ge-
schlossen wird, und der Lebenspartnerschaft von zwei
Menschen gleichen Geschlechts.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Da hat sie recht! Da gibt es auch einen Unterschied!)


– Ja, da hat sie recht! – Und wie ist das mit den Unter-
schieden im demokratischen Rechtsstaat? Lesen Sie ein-
mal Artikel 3 Grundgesetz. Unser Grundgesetz weiß um
die Verschiedenheit der Menschen. Es zählt sogar ganze
Litaneien von Kategorien auf, nach denen man die Men-
schen in Gruppen unterscheiden kann, und sagt dann:
Diese Unterscheidungen dürfen keine Abstriche bei der
Gleichheit vor dem Gesetz rechtfertigen.

Im demokratischen Rechtsstaat ist es so, dass Sie Un-
gleiches nur dann ungleich behandeln dürfen, wenn Sie
dafür ein legitimes Ziel haben und wenn diese Ungleich-
behandlung erforderlich und angemessen bezogen auf
das Ziel ist. Dies sagt der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte im Rahmen ständiger Rechtsprechung.
Das sagt auch das Bundesverfassungsgericht so.

Es ist eben nicht so, wie Ihre Leute in den Talkshows
immer erzählen, dass man Gleiches gleich und Unglei-
ches ungleich behandeln müsse. Das Gegenteil ist der
Fall. Gleiches muss man nicht gleich behandeln. Das ist
schon gleich.


(Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD])


Ungleiches muss man gleich behandeln, wenn man
keinen guten Grund hat, unterschiedliche Rechte an die
Differenz zu knüpfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Das ist Demokratie, das ist Rechtsstaatlichkeit, und das
ist eine Politik des Respekts. Die geht Ihnen leider voll-
kommen ab.

Dann wird mit der Tradition und der Geschichte oder
gar der Religion argumentiert; mein Fraktionsvorsitzen-
der hat schon das richtige Zitat gebracht. Was gibt die
Tradition als Rechtsquelle her bei den Menschenrechten
von Lesben und Schwulen? Bis 1969 wurde Homosexu-
alität unter erwachsenen Männern mit dem Strafrecht
verfolgt. 50 000 Männer haben ihre Existenz in dieser
Republik bis 1969 verloren aufgrund von strafrechtlicher
Verfolgung nach § 175 Strafgesetzbuch. Ist es dann in
einer solchen Rechtssituation von Relevanz, was 1949
jemand zu dieser Frage im Zivilrecht gedacht hat? Das
war eine Frage, die gar nicht denkbar war, nicht diskuta-
bel. Deshalb: Das Eherecht verändert sich, wie wir in die
Gesellschaft und zu den Menschen schauen.
Das Verfassungsgericht hat es doch schon längst ge-
macht. Aber immer gegen Sie. In den 90er-Jahren hat
das Verfassungsgericht in der Entscheidung zum Kind-
schaftsrecht gesagt: Auch Kinder in nichtehelichen
Lebensgemeinschaften bilden mit ihren Eltern eine Fa-
milie, und zwar eine Familie nach Artikel 6 des Grund-
gesetzes. 2013 hat das Bundesverfassungsgericht das
Gleiche im Urteil zur Sukzessivadoption über die
lebenspartnerschaftliche Familie gesagt. Wenn sich die
Familie in Artikel 6 GG wandeln kann, dann kann sich
die Ehe in Artikel 6 GG genauso wandeln.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Sie müssen mir schon einmal erklären, warum ausge-
rechnet in der deutschen Verfassung, die eigentlich als
Negation auf die Barbarei des Nationalsozialismus ge-
schrieben wurde, stehen soll, dass man eine Minderheit
nachhaltig diskriminieren soll? Wenn das in anderen de-
mokratischen Verfassungen – in Südafrika, Argentinien,
Uruguay, in den USA und den Niederlanden, in Spanien,
Portugal, Irland, Dänemark – überall anders ist, müssen
Sie mir das einmal erklären. Der Wortlaut gibt gar nichts
her. Sie behaupten aber, diese Art von Menschenverach-
tung gegenüber der homosexuellen Minderheit sei in
unsere Verfassung eingeschrieben. Das kann historisch
nicht der Fall sein. Das ist vom Wortlaut her nicht der
Fall, und das gibt auch die Rechtsprechung des Bundes-
verfassungsgerichtes nicht her. Ganz im Gegenteil: Das
Verfassungsgericht hat jeden Schritt zur Gleichberechti-
gung seit 2005 selber auf den Weg bringen müssen.

Gehen Sie voran. Beenden Sie die Geiselhaft der
Mehrheit des Deutschen Bundestages und des Bundes-
rates. Lassen Sie den Respekt, den unsere Bevölkerung
gegenüber der lesbischen und schwulen Minderheit hat,
endlich in einem Gesetzesbeschluss zum Ausdruck kom-
men. Geben Sie die Ehe frei.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810913700

Vielen Dank, Volker Beck. – Einen schönen Tag von

meiner Seite, Ihnen und den Gästen auf der Tribüne!

Nächster Redner, dem ich zu seiner Eheschließung
gratulieren möchte, ist Dr. Stefan Kaufmann für die
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Stefan Kaufmann (CDU):
Rede ID: ID1810913800

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere
von den Linken! Das Ziel, das Sie mit der heutigen
Debatte verfolgen, ist klar: Sie wollen uns, Sie wollen
die Union vorführen. Dabei ist es kein Geheimnis, dass
es in dieser Union unterschiedliche Positionen zum
Thema „Ehe für alle“ gibt. Das kann auch in einer gro-
ßen Volkspartei gar nicht anders sein. Sie wissen auch,
dass Sie derzeit in der Sache mit dieser Debatte über-
haupt nichts erreichen. Am Ende provozieren Sie mögli-

(B)






Dr. Stefan Kaufmann


(A) (C)



(D)(B)

cherweise sogar mehr Widerstand, als Ihnen um der Sa-
che willen lieb sein müsste.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die ersten Redebeiträge haben schon gezeigt, wie
emotional diese Debatte geführt wird: hier im Plenum,
aber auch draußen in der Bevölkerung. Mein dringender
Wunsch wäre daher, dass wir auf beiden Seiten die
Debatte erst einmal versachlichen, Emotionen herunter-
fahren, Verletzungen vermeiden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Vor Ihnen steht jemand, der in Partei und Gesellschaft
für eine Öffnung der Ehe wirbt.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Ja, es verletzt, wenn von manchen Gegnern der Eindruck
erweckt wird, der Weg von der Öffnung der Ehe für
gleichgeschlechtlich Liebende zu anderen unerwünsch-
ten Verbindungen sei nicht weit. Ja, es verletzt, wenn
Sätze in Mails oder Diskussionen mit den Worten begin-
nen: „Ich habe ja nichts gegen Homosexuelle, aber …“
Dann folgt häufig: „… müsst ihr das immer zum Thema
machen?“, „… jetzt ist auch mal genug mit Gleichstel-
lung“, „… es ist halt nicht normal.“ – Doch auf der ande-
ren Seite verletzt es genauso, wenn eine unglückliche
oder vielleicht auch unbedachte Äußerung eines Kolle-
gen, der ehrlich um eine Position bei diesem Thema
ringt, in einem Shitstorm aus der Community endet.


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Ja, genau!)


Das gilt im Übrigen auch für die mitunter aggressive
Rhetorik von Kollegen aus der Opposition.


(Beifall bei der CDU/CSU – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Und aus der Koalition!)


Apropos „normal“: Ja, es ist nur eine Minderheit, die
gleichgeschlechtlich liebt – nach Schätzungen bis zu
5 Prozent. Aber zu dieser Minderheit gehören allein in
Deutschland – wenn Sie mal rechnen – bis zu 4 Millio-
nen Menschen. Diese 4 Millionen Menschen haben El-
tern, Geschwister, Verwandte, Kollegen und Freunde,
die mit ihnen fühlen und solidarisch sind. Das erklärt
vielleicht auch, warum diese gesellschaftliche Debatte
so schwierig ist und so emotional geführt wird.

Ja, am Ende mag es in rechtlicher Hinsicht nur um
eine Begrifflichkeit gehen. Doch wenn man in Formula-
ren oder Bewerbungen wahrheitsgemäß „verpartnert“
angibt, weiß eben jede Behörde oder jeder Arbeitgeber
sofort, wie man liebt; Herr Brunner hat darauf hingewie-
sen. Viele wollen eben nicht sagen, dass sie verpartnert
sind. Sie wollen sagen, dass sie verheiratet sind, dass sie
Ehepartner sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie wollen das, was sie verbindet, Ehe nennen, weil sie
Ehe in ihrem Alltag erleben, weil das, was sie Tag für
Tag leben, für sie, ihre Familie und Freunde Ehe ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Johannes Kahrs [SPD]: Für dich ja auch! Für mich auch!)


Worum geht es denn in diesen Verbindungen? Es geht
um Verlässlichkeit, Vertrauen und Verantwortung. Das
ist der Kern der Ehe: gelebte Verantwortung.

Nun haben viele Kritiker einer Eheöffnung Sorge,
dass die Ehe als Institution entwertet wird; darum geht es
im Kern in dieser Debatte. Aber ist nicht genau das Ge-
genteil der Fall? Wird das Institut der Ehe nicht vielmehr
gestärkt? Sicher, eine gleichgeschlechtliche Ehe kann
nie auf eigene leibliche Kinder ausgerichtet sein. Wer
nun die Ehe vor diesem Hintergrund als eine ausschließ-
liche Verbindung von Mann und Frau definiert, hat die
Kulturgeschichte und die Tradition, ja sogar die entspre-
chend geprägte Rechtsprechung des Bundesverfassungs-
gerichts auf seiner Seite. Das, meine Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir in dieser
Debatte ernst nehmen – auch wenn es in Umfragen klare
Mehrheiten für eine Öffnung der Ehe gibt.

Im Übrigen wollen wir auch nicht vergessen: Wir
haben in den letzten 15 Jahren viel erreicht. Die Ent-
wicklung in Gesellschaft, Partei und Fraktion habe ich
als Betroffener in den letzten 15 bzw. 6 Jahren hautnah
miterlebt. Gewiss: Die Union war hierbei nicht die trei-
bende Kraft. Aber es ist das Verdienst der Union, liebe
Kolleginnen und Kollegen, dass wir der Diskussion
nicht aus dem Weg gegangen sind. Wir haben die kon-
servativen, die traditionell ausgerichteten Bürgerinnen
und Bürger bei dieser Debatte mitgenommen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dieser Aspekt kam mir in der bisherigen Debatte zu
kurz.

Lassen Sie mich dabei nur das Beispiel der Debatte
um eine Gleichstellung im Steuerrecht auf dem Bundes-
parteitag in Hannover nennen. Sie war eine zentrale
Wegmarke, die bei vielen in der Partei einen Prozess des
Umdenkens ausgelöst hat. Am Ende haben etliche Kol-
leginnen und Kollegen aus Überzeugung jene Wählerin-
nen und Wähler mitgenommen, die noch Probleme mit
der Vorstellung hatten, dass gleiche Liebe auch gleiche
Rechte und gleiche Pflichten mit sich bringen soll.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben doch gar nichts gemacht, bevor das Bundesverfassungsgericht Sie dazu gezwungen hat!)


Die Tatsache, lieber Kollege Beck, dass Großdemos wie
in Frankreich bei uns in Deutschland ausbleiben, zeigt,
dass hierzulande Toleranz und Akzeptanz mittlerweile
von weiten Teilen der Bevölkerung verinnerlicht wer-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dennoch, meine Damen und Herren, beschäftigt viele
Menschen die Frage: Wird hier nicht Ungleiches gleich





Dr. Stefan Kaufmann


(A) (C)



(D)(B)

behandelt? Da ist für mich entscheidend: Es wird
niemandem etwas weggenommen; es wird kein Kind
weniger geboren und keine Ehe weniger geschlossen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Daher ist für mich kein Widerspruch zu Artikel 6 des
Grundgesetzes zu erkennen; denn am besonderen Schutz
der Familie wird nicht gerüttelt. Welchen Geschlechts
die Partner einer Ehe zu sein haben, regelt das Grund-
gesetz nicht.

Zum Adoptionsrecht. Hier geht es nicht um das Recht
oder um einen Anspruch adoptionswilliger Paare, auch
nicht bei Heterosexuellen. Es geht ausschließlich um die
Frage, ob gleichgeschlechtliche Paare in eine Einzelfall-
prüfung einbezogen werden sollen oder nicht. Es geht
also in der Tat um das Kind und dessen Wohl, um das
Recht des Kindes auf die besten Eltern.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ich komme zum Schluss. Im Übrigen geht es auch
nicht darum, am Sakrament der Ehe zu rütteln. Aber es
muss das Recht des säkularen Staates sein, eine eigene
diskriminierungsfreie Definition der Ehe gesetzlich fest-
zuschreiben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, herz-
lich darum: Debattieren wir dieses Thema offen und
sachlich, und beschädigen wir das Anliegen nicht durch
falsch verstandene Hau-Ruck-Aktionen wie diese De-
batte heute.


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Ja!)


Nehmen wir uns die Zeit für die notwendige Diskussion,
und freuen wir uns, dass die Institution Ehe und die mit
ihr verbundenen Werte geradezu eine Renaissance erle-
ben. Dafür sollten wir dankbar sein.

Danke sehr.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Johannes Kahrs [SPD]: Schon ein bisschen lange her!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810913900

Vielen Dank, Dr. Kaufmann. – Nächster Redner ist

Sönke Rix für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Sönke Rix (SPD):
Rede ID: ID1810914000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es gehört zu dieser Debatte dazu, darauf hinzuweisen,
dass wir in den letzten Jahren viel erreicht haben. Ich
glaube, das muss man an dieser Stelle einmal sagen. Die
jetzige Situation hat mit der Diskriminierung, die es in
den vergangenen Jahrzehnten gegeben hat, natürlich
wenig zu tun. Wir haben erreicht, dass es eingetragene
Lebenspartnerschaften gibt. Wir haben eine Verbesse-
rung im Steuerrecht erreicht. Wir haben durchaus auch
dazu beigetragen, dass die gesellschaftliche Akzeptanz
von schwulen und lesbischen Paaren viel größer gewor-
den ist.

Es gibt Menschen, über die man früher gesagt hat, sie
würden sich in der Öffentlichkeit nie trauen, zuzugeben
oder zu sagen, dass sie als Mann mit einem Mann oder
als Frau mit einer Frau zusammenleben, die sich das
heute trauen. In diesen Bereichen haben wir viel erreicht.
Aber das haben wir politisch auch immer unterstützt.
Das haben wir auch immer mit politischen Maßnahmen
flankiert. Von daher sollten wir nicht aufhören, diesen
Weg weiterzugehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD)


Der gesellschaftliche Wandel und die damit verbun-
dene Zustimmung, dass ein Mann mit einem Mann oder
eine Frau mit einer Frau zusammenleben kann, kommen
nicht von ungefähr. Deshalb frage ich ganz leise und
vorsichtig in Richtung Union: Warum kann diese Diskri-
minierung nicht aufgehoben werden?

Wir haben vorhin gehört: Es ist keine Diskriminie-
rung.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!)


Man hat versucht, anhand verschiedener Argumente dar-
zulegen, dass es eigentlich keine Diskriminierung ist.
Aber es ist doch so: Wenn ich einer Minderheit etwas
vorenthalte, worauf sie laut Grundgesetz, laut unserer
Wertvorstellung, eigentlich ein Recht hat, dann ist das
eine Diskriminierung; denn ich entkoppele sie von ihrem
Recht. Deshalb müssen wir diese Diskriminierung been-
den, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Gerade wenn man dieses Thema in Bürgersprechstun-
den oder bei Veranstaltungen diskutiert, dann sind es
häufig nicht nur die – in Anführungsstrichen – „betroffe-
nen Menschen“, die zu mir kommen und sagen: „Jetzt
schafft endlich die Ehe für alle“, sondern es sind auch
die Angehörigen oder Freunde dieser Personen, die
sagen: Ich fühle doch, dass mein Sohn, meine Tochter,
mein Freund, meine Freundin, mein Bruder, meine
Schwester noch diskriminiert wird. Sie fragen mich: Wa-
rum diskriminiert ihr ihn noch? Er will doch einfach nur
heiraten. Er will mit seinem Partner deutlich das zeigen,
was seine Eltern durch eine Heirat gezeigt haben, näm-
lich dass sie Verantwortung füreinander übernehmen
wollen. – Diesen Wert sollten wir unterstützen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Johannes Kahrs [SPD]: Wir sollten sie unterstützen wie alle anderen auch!)


– Ja, diesen Wert sollten wir unterstützen. Aber wir ent-
halten ihnen ihr Recht vor, und sie fühlen sich dadurch
diskriminiert.

Laut einer Untersuchung ist es immer noch so, dass
sich über zwei Drittel der Betroffenen am Arbeitsplatz,
in Vereinen, in Verbänden, in der Öffentlichkeit, in der
Schule oder an der Universität diskriminiert fühlen. Es
ist auch so, dass „Du schwule Sau“ immer noch ein





Sönke Rix


(A) (C)



(D)(B)

Schimpfwort ist. Es ist auch immer noch so, dass diesen
Menschen mit Vorbehalten begegnet wird. Wenn wir sa-
gen, die Schwulen und Lesben haben ein Recht weniger,
nämlich das Recht, zu heiraten, dann unterstützen wir
diese Vorbehalte und heben sie eben nicht auf.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb ist meine ganz dringende Bitte: Nehmen wir das
ernst, was an Akzeptanz weit über die Grenzen eines
Teils dieses Hauses und weit über die Grenzen der ge-
sellschaftlichen Mehrheit hinaus vorhanden ist.

Wir müssen anerkennen, dass die Akzeptanz des hei-
ligen Begriffs – wenn man das an dieser Stelle sagen
darf – „Ehe für alle“ mittlerweile weit in die Kreise vor-
gedrungen ist, in denen wir das früher nicht für möglich
gehalten haben. Es wurde vorhin angesprochen: Einer
der höchsten christlichen Repräsentanten der evangeli-
schen Kirche streitet dafür. In der katholischen Kirche
wird darüber diskutiert. Es ist auch gut, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, dass bei Ihnen darüber diskutiert
wird.

Ich wünsche mir: Nehmen Sie die Argumente der
Menschen ernst, die sich diskriminiert fühlen. Suchen
Sie das Gespräch mit ihnen. Sagen Sie endlich: Ja, wir
wollen diese Diskriminierung aufheben. Wir wollen
nicht, dass ihr euch diskriminiert fühlt. Wir wollen für
euch die gleichen Rechte, deshalb geben wir die Abstim-
mung im Bundestag frei. Wir wollen, dass keiner diskri-
miniert werden kann wegen seiner Haltung zu diesem
Thema.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810914100

Vielen Dank, Herr Kollege Rix. – Nächster Redner:

Alexander Hoffmann für die CSU/CDU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Alexander Hoffmann (CSU):
Rede ID: ID1810914200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kollegin-

nen und Kollegen! Aufgabe der Politik ist es, einen ge-
sellschaftlichen Wandel zu begleiten. Es ist aber nicht
Aufgabe der Politik, die Gesellschaft zu verändern.


(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Johannes Kahrs [SPD]: Wer hat denn die Wehrpflicht abgeschafft?)


Gestatten Sie mir, dass ich unter dieser Überschrift drei
Aspekte aus der Debatte herausgreife:

Zunächst einmal ist ein gesellschaftlicher Wandel
spürbar. Er war spürbar, und er ist es noch – zum Glück,
sage ich da. Gleichgeschlechtliche Partnerschaften sind
in unserer Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit ge-
worden, sie sind in der Mitte der Gesellschaft angekom-
men. Diese gleichgeschlechtlichen Partnerschaften ver-
fügen mittlerweile – auch: glücklicherweise – über eine
Vielzahl von Rechten. Wenn man das einmal juristisch
betrachtet, sind eigentlich noch zwei Punkte offen: die
Frage der Volladoption und die Frage der Bezeichnung
als Ehe.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn man vom Asylverfahrensgesetz und vom Sprengstoffgesetz absieht!)


Dann wieder der Blick auf die Rolle der Politik: Auf-
gabe der Politik ist es, diesen Wandel auch weiter zu be-
gleiten; aber die Politik sollte sich davor hüten, in emoti-
onalen Debatten wie heute, die ideologisch geführt
werden, Gräben aufzuwerfen.


(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Da sage ich Ihnen ganz offen, Herr Beck, Herr Hofreiter,
Frau Lay: Wenn Sie meinen, dass Sie dieses Thema so
befördern können, dann halte ich Ihnen entgegen: Ich
bezweifle, dass Sie so ein guter Sachwalter der Interes-
sen von Homosexuellen sind,


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen Sie mir?)


und ich frage Sie, wo eigentlich Ihr Verständnis für die
Meinungsfreiheit ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Johannes Kahrs [SPD]: Der Kollege Beck war heute echt sachlich!)


Wenn man – das ist der zweite Aspekt – die Befür-
worter der Begrifflichkeit „Ehe“ auch für gleichge-
schlechtliche Partnerschaften fragt, warum, dann kommt
oft als Antwort: Wir wollen eine gleiche Rechtsstellung.
Wenn man dann erklärt, dass wir heute eigentlich bis auf
die von mir benannten Punkte glücklicherweise weitest-
gehend Gleichstellung haben – bis hin zur Sukzessiv-
adoption und zum Ehegattensplitting –, dann sind es die
allerwenigsten, die an dieser Forderung festhalten. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, blicken wir nun einmal auf
die beiden offenen Posten – so will ich es mal nennen –:

Zunächst einmal zur Frage der Volladoption.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gemeinsame Adoption!)


Wenn man mit Adoptionssachbearbeitern von Jugend-
ämtern spricht, dann bekommt man die Bestätigung,
dass diese Frage eine praktische Relevanz nicht flächen-
deckend in der Bundesrepublik hat. Aber in den Groß-
städten spielt sie vereinzelt tatsächlich eine Rolle. Man
bekommt aber – das muss man der Ehrlichkeit halber da-
zusagen – auch die Information, dass sich die Praxis zu
helfen weiß mit der, ich will es mal benennen, versetzten
Sukzessivadoption. Wichtig ist mir nur, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, dass wir die Debatte von der richtigen
Seite beginnen; denn die Debatte, auch um die Gleich-
stellung im Adoptionsrecht, muss immer mit der Über-
schrift „Wohl des Kindes“ beginnen.


(Mechthild Rawert [SPD]: Ich sage nur: Pflegeeltern!)






Alexander Hoffmann


(A) (C)



(D)(B)

Sie darf eben nicht beginnen mit dem Drang der Selbst-
verwirklichung der Adoptionswilligen – egal ob verhei-
ratet, alleinstehend oder verpartnert. Dann müssen wir
uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, vor Augen führen,
dass genau unter dieser Überschrift „Wohl des Kindes“
dem Grunde nach jeden Tag in Deutschland Personen
diskriminiert werden. Adoptionswilligen wird gesagt: Es
gibt keine Möglichkeit, weil die sozialen Verhältnisse zu
schlecht sind, weil die Wohnverhältnisse mangelhaft
sind, weil die Adoptiveltern vielleicht zu alt sind oder
die Vereinbarkeit von Beruf und Familie bei ihnen nicht
so gegeben ist wie bei anderen Antragstellern.


(Sönke Rix [SPD]: Weil glücklicherweise auch nicht so viele zur Adoption freigegeben werden! – Johannes Kahrs [SPD]: Und das ist in England alles anders?)


Nun – das ist der letzte Gesichtspunkt, den ich ins
Feld führen möchte – die Auseinandersetzung mit der
Begrifflichkeit „Ehe“: Ich bin der festen Überzeugung,
dass eine offene Gesellschaft sich nicht durch oberfläch-
liche Gleichmacherei auszeichnet,


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Gleiche Rechte“ hat nichts mit oberflächlicher Gleichmacherei zu tun!)


sondern sie zeichnet sich dadurch aus, dass wir Verschie-
denes auch verschieden bezeichnen: Männer sind Män-
ner, Frauen sind Frauen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Artikel 3 gebietet, sie gleich zu behandeln! Gutes Beispiel!)


Das ist in der Anrede und das ist im Vornamen oftmals
schon erkennbar.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben überhaupt nicht zugehört! Das habe ich Ihnen alles schon erklärt!)


Meine Damen, meine Herren, eine Ehe zwischen Mann
und Frau und eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft
sind etwas Unterschiedliches, schon aus biologischen
Gründen.


(Sönke Rix [SPD]: „Aus biologischen Gründen“? – Johannes Kahrs [SPD]: Lesen Sie mal die Rede vom Kollegen Beck!)


Weil immer wieder das Bundesverfassungsgericht be-
müht wird, sage ich Ihnen: Das bestätigt auch das Bun-
desverfassungsgericht. Deswegen will ich mit zwei Zita-
ten des Bundesverfassungsgerichts schließen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann lesen Sie die 2008er-Entscheidungen zum Transsexuellengesetz mal nach, Herr Kollege! Da ging es um die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare!)


– Auch dort wurde diese Entscheidung zitiert, Herr
Beck. Sie können es nachlesen.

Das Bundesverfassungsgericht spricht von einem
„Gebot, die Ehe als Lebensform zwischen einem Mann
und einer Frau zu schützen“. Es verwendet den folgen-
den Satz – ich zitiere –:

Zum Gehalt der Ehe, wie er sich ungeachtet des ge-
sellschaftlichen Wandels und der damit einherge-
henden Änderungen ihrer rechtlichen Gestaltung
bewahrt und durch das Grundgesetz seine Prägung
bekommen hat, gehört, dass sie die Vereinigung ei-
nes Mannes mit einer Frau zu einer auf Dauer ange-
legten Lebensgemeinschaft ist …

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der LINKEN: Norbert Geis ist weg!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810914300

Danke, Alexander Hoffmann. – Der letzte Redner in

dieser Debatte: Marcus Weinberg für die CDU/CSU-
Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1810914400

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Viele Menschen in diesem Land schauen
auf die heutige Debatte. Sie fragen sich: Welche Position
hat man? Wie argumentiert man inhaltlich? Sie fragen
aber auch: Wie offen ist man für andere Argumente?
Viele Menschen in diesem Land fragen auch: Sind der
Deutsche Bundestag und die Abgeordneten des Deut-
schen Bundestages in der Lage, eine kulturell gut ange-
legte Debatte zu führen?

Ich war heute Morgen um 6.23 Uhr in großer Sorge
– nicht, weil ich Johannes Kahrs angeblickt hätte; ich
kenne Johannes aus Hamburg gut –,


(Johannes Kahrs [SPD]: Um 6.23 Uhr? Marcus!)


weil ich mich gefragt habe, ob es uns in der heutigen De-
batte gelingen wird, zu beweisen, dass wir uns mit den in
der Öffentlichkeit momentan diskutierten Punkten ernst-
haft auseinandersetzen. Ich möchte den Rednern, allen
voran Sönke Rix, danken, die in dieser Debatte deutlich
gemacht haben, dass es für uns in den nächsten Wochen
und Monaten darauf ankommt, diese Debatte weiterzu-
führen.

Sie haben heute feststellen können, dass es bei der
Union verschiedene Positionen gibt. Über diese ver-
schiedenen Positionen haben wir geredet. Ich sage Ihnen
noch etwas: Ich bin stolz darauf, dass wir in der Union
eine offene Debatte über diese verschiedenen Positionen
führen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Johannes Kahrs [SPD]: Seit 15 Jahren!)


– Lieber Johannes, das mag daran liegen, dass wir als
große Volkspartei breite Schichten der Gesellschaft ab-
bilden müssen.


(Sönke Rix [SPD]: Wir kennen das mit dem Debattieren wohl gar nicht, was?)






Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)

Ich glaube, das ist gut so. Lieber Sönke, heute haben
Elisabeth Winkelmeier-Becker, Stefan Kaufmann und
ich gesprochen, drei Vertreter der sogenannten W 13,
also der „Wilden 13“, die damals für die steuerliche
Gleichstellung gekämpft haben. Ich bitte darum, egal
welche Position man hat, Folgendes zu berücksichtigen
– das wurde schon angesprochen –: Intoleranz kann man
nicht mit Intoleranz bekämpfen.


(Johannes Kahrs [SPD]: Das ist jetzt schwach!)


Ich habe ebenso wie viele andere Kolleginnen und Kol-
legen in den letzten Wochen gemerkt, wie sehr man
durch einen Shitstorm verletzt werden kann, der entsteht,
weil man eine etwas andere Position vertritt. Ich glaube,
es wird in den nächsten Wochen und Monaten darauf an-
kommen, bei diesem Thema eine vernünftige Debatten-
kultur an den Tag zu legen.

Jetzt zu vier Punkten, die aus meiner Sicht wichtig
sind:

Der erste Punkt ist der Stand der Gleichstellung. Die
Menschen in einer Lebenspartnerschaft haben wie die
Menschen in einer Ehe entschieden, nicht nur freiwillig
füreinander Verantwortung zu übernehmen, sondern sich
auch rechtlich verbindlich verpflichtet, füreinander ein-
zustehen. Sie übernehmen Verantwortung – mit Rechten
und Pflichten. Das Wertesystem unserer Gesellschaft
– das ist an dieser Stelle ganz klar definiert – beruht auf
genau dieser Verantwortungsübernahme mit Fürsorge und
Beistand. Daher ist es wichtig und richtig, dass der Staat
diese Verantwortungsübernahme fördert. Wenn Partner
füreinander Verantwortung übernehmen, darf kein Un-
terschied gemacht werden, gleich ob es sich um Mann
und Frau, Frau und Frau oder Mann und Mann handelt.
Es muss eine Gleichstellung geben, unabhängig von der
sexuellen Orientierung.

Eingetragene Lebensgemeinschaften werden mittler-
weile in fast allen Bereichen, die die Partner untereinan-
der betreffen, materiell-rechtlich mit der Ehe gleichge-
stellt,


(Johannes Kahrs [SPD]: Aber immer gegen euch! Wir mussten euch jedes Mal dazu zwingen!)


und zwar im Erbrecht, im Steuerrecht und in anderen
Rechtsfragen. Dafür haben sich auch bei uns in der
Union damals viele starkgemacht.


(Johannes Kahrs [SPD]: Nein! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann haben Sie sich starkgemacht? Wann gab es eine Initiative? Das ist jetzt aber dreist gelogen!)


Ungleichbehandlung und Bevormundung müssen abge-
stellt werden.

Das heißt für uns – damit komme ich zum zweiten
entscheidenden Punkt, den ich ansprechen möchte; er
wurde vorhin ebenfalls schon angesprochen –, dass wir
in der Diskussion über die Vergangenheit in der Bundes-
republik Deutschland Folgendes berücksichtigen müs-
sen: Der Umgang mit Homosexuellen in der Bundesre-
publik Deutschland ist ein schwarzer Fleck in der
deutschen Geschichte.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keine Rechtsänderung ohne Verfassungsgericht!)


Als Bundestagsabgeordnete haben wir die Verantwor-
tung, dafür zu sorgen, dass diese Geschichte aufgearbei-
tet wird und die Betroffenen rehabilitiert werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE] – Johannes Kahrs [SPD]: Ein lichter Moment!)


Ich glaube, im Herbst wird es an der Zeit sein, ein kon-
kretes Gesetzesvorhaben dazu zu initiieren.

Dritter Punkt: Alleinstellungsmerkmal. Zwischen Ehe
und eingetragener Lebenspartnerschaft gibt es rechtlich
nur noch zwei Unterschiede; sie wurden angesprochen.
Die Unterschiede betreffen das Recht zur Adoption und
den expliziten Schutz der Ehe durch das Grundgesetz.
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
sieht die Ehe als eine Verbindung von Mann und Frau
an; das ist in Europa eine seit Jahrhunderten geltende
Selbstverständlichkeit.


(Johannes Kahrs [SPD]: Nee, nee, nee!)


Das ist tatsächlich ein Alleinstellungsmerkmal: Die Ehe
unterscheidet sich von der eingetragenen Lebenspartner-
schaft dadurch, dass es die Möglichkeit gibt, Kinder zu
bekommen – die Möglichkeit.


(Ulli Nissen [SPD]: Das geht auch außerhalb der Ehe!)


Ich finde es übrigens verwerflich, wenn man Personen,
die keine Kinder haben, haben wollen oder bekommen
können, vorwirft – –


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das machen Sie gegenüber den Homosexuellen – und die haben zum Teil Kinder! Da ist das Verfassungsgericht schon schlauer als Sie!)


– Nein. – In diesem Zusammenhang halte ich das für dif-
famierend. Ich warne davor, solche Vergleiche – auch
vonseiten der Regierungsbank – weiter anzustellen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)


Kinder profitieren von der Verbindlichkeit der Bezie-
hung ihrer Eltern. Es ist grundsätzlich im Interesse von
Kindern, in einer stabilen Partnerschaft


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, aber das gilt bei zwei Lebenspartnern genauso!)


ihrer leiblichen Eltern beiderlei Geschlechts aufzuwach-
sen.





Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)

Die Tatsache, dass die Verbindungen zwischen Mann
und Frau und zwischen zwei gleichgeschlechtlichen
Partnern hier unterschiedlich sind, ist nicht diskriminie-
rend, sondern völlig wertneutral; denn zwischen diesen
rechtlichen Verbindungen ist zu unterscheiden.

Zweiter Punkt: Adoption. Ich finde es in diesem Zu-
sammenhang sehr wichtig, dass wir uns darüber austau-
schen – Frau Winkelmeier-Becker hat das angespro-
chen –, wie wir das Adoptionsrecht verändern können;


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wissen Sie was? Machen wir doch etwas ganz Einfaches: Geben wir einfach die Abstimmung hier frei! Dann hat sich die Sache!)


dabei geht es unter anderem um die Personen, die zu alt
oder zu arm sind oder gewisse Vorgaben nicht erfüllen.
Dann möchte ich aber auch ganz offen darüber diskutie-
ren, dass die weibliche und die männliche Rollenkon-
stellation für Kinder nicht unerheblich ist,


(Johannes Kahrs [SPD]: Was machen Sie denn bei Alleinerziehenden?)


sondern es ist soziologisch, pädagogisch und psycholo-
gisch schon wichtig, insbesondere mit Blick auf die Ent-
wicklungspsychologie, dass auch diese Rollenkonstella-
tion betrachtet wird.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist durch keine Empirie belegt! Das meint der Bauch von Herrn Weinberg!)


Hier sind wir übrigens erst am Anfang, auch in der For-
schung. Deswegen wird dies bei möglichen Änderungen
des Adoptionsrechts, über die man ja diskutieren kann,
berücksichtigt.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Studie Ihres eigenen Justizministeriums kommt zum gegenteiligen Befund!)


Grundsätzlich möchte ich zum Schluss betonen, dass
man diese Diskussion mit Verständnis für die jeweils an-
dere Sicht führen sollte. Es kann nicht sein, dass Politi-
kerinnen und Politiker, die nicht eins zu eins dem Main-
stream folgen, mit Häme und Intoleranz konfrontiert
werden. Ich bin bzw. wir sind der Meinung, dass man in
dieser Sache unterschiedlicher Auffassung sein kann und
dass man darüber diskutieren sollte, ohne zu diskrimi-
nieren, insbesondere nicht mit Blick auf die sexuelle
Orientierung. Wir in der Union führen diese Debatten,
wie in der Vergangenheit so auch in Zukunft. Auf diese
Diskussion freue ich mich.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sagen Sie dann zu Herrn Goppel, der gestern über Homosexuelle gesagt hat, sie hätten ein Problem mit ihrer Lebensweise?)


Das mag möglicherweise ein Unterschied zwischen der
offenen Diskussionskultur innerhalb einer großen Volks-
partei und denjenigen sein, die meinen, alles schon zu
wissen.
Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810914500

Vielen Dank, Herr Weinberg. – Damit ist die Aktuelle

Stunde beendet.


(Johannes Kahrs [SPD]: Besser ist es!)


Wie ich sehe, findet jetzt ein Platzwechsel statt. Ich
bitte Sie, ihn zügig zu vollziehen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Stärkung der Versorgung
in der gesetzlichen Krankenversicherung

(GKV-Versorgungsstärkungsgesetz – GKV-VSG)


Drucksache 18/4095

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Gesundheit (14. Ausschuss)


Drucksache 18/5123


(8. Ausschuss)


Drucksache 18/5124

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(14. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Wöl-
lert, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion DIE LINKE

Wohnortnahe Gesundheitsversorgung durch
bedarfsorientierte Planung sichern

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald
Terpe, Maria Klein-Schmeink, Kordula
Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gesundheitsversorgung umfassend ver-
bessern – Patienten und Kommunen stär-
ken, Strukturdefizite beheben, Quali-
tätsanreize ausbauen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald
Terpe, Maria Klein-Schmeink, Elisabeth
Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Mehr Transparenz der Selbstverwaltung
im Gesundheitswesen

Drucksachen 18/4187, 18/4153, 18/1462,
18/5123

Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen ein
Änderungsantrag und ein Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke vor.





Vizepräsidentin Claudia Roth


(A) (C)



(D)(B)

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre und
sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.


(Unruhe)


Noch einmal: Die Debatte über die Ehe für alle ist be-
endet. Jetzt geht es um ein anderes Thema, nämlich um
die Krankenversicherung.

Ich eröffne die Debatte und gebe das Wort dem Bun-
desminister Hermann Gröhe.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Hermann Gröhe (CDU):
Rede ID: ID1810914600

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Umfragen
belegen: Die Menschen in unserem Land vertrauen dem
Gesundheitswesen. Sie wissen: Bei Krankheit, bei Pfle-
gebedürftigkeit, bei einem Unfall werden sie gut ver-
sorgt. Dies gilt dank eines solidarischen Gesundheitswe-
sens unabhängig vom Einkommen und unabhängig vom
Wohnort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was ist mit den Fachärzten?)


Wir spüren aber auch, dass sich die Menschen Sorgen
machen, ob das so bleibt, ob der medizinische Fortschritt
also auch weiterhin für alle zur Verfügung steht und
bezahlbar bleibt. Deswegen ist es wichtig, dass wir den
wirklichen Patientennutzen zum entscheidenden Maß-
stab des Fortschritts in diesem Bereich machen.

Die Menschen haben auch die Sorge, ob auch dies
gilt: unabhängig vom Wohnort eine gute Versorgung zu
finden. Damit bin ich bei einem zentralen Thema, näm-
lich der Versorgung im ländlichen Raum und der Frage,
ob es gelingt, auch hier eine gute ambulante und Kran-
kenhausversorgung sicherzustellen.

Ich komme gerade von einem Gespräch mit der
NRW-Landrätekonferenz. Da war das natürlich ein
Thema, und das ist auch längst nicht mehr nur ein
Thema in den noch wenigen Gebieten mit einer manifes-
tierten Unterversorgung, sondern kluge Kommunalpoli-
tikerinnen und -politiker schauen auf das Durchschnitts-
alter der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte und
bedenken die Sorgen, die mancher hat, einen Praxis-
nachfolger zu finden,


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tun wir schon lange!)


und prüfen, wie es in zehn Jahren aussehen wird und wo
sie dann stehen werden, wenn es ihnen nicht gelingt,
mehr Niederlassungen zu ermöglichen.

Wir stellen mit dem Versorgungsstärkungsgesetz,
über das wir heute entscheiden, wichtige Weichen, um
unser Gesundheitswesen fit für die Zukunft zu machen:


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Erstens. Wir stärken die Versorgung im ländlichen
Raum. Zweitens. Wir stärken die Rechte der Patientin-
nen und Patienten. Drittens. Wir stärken Innovation in
der Versorgung.

Zum Ersten. Ich habe erwähnt, dass den Kommunal-
politikern nicht nur die Unterversorgung Sorgen macht.
Deswegen ist es richtig, dass wir den Kassenärztlichen
Vereinigungen mit diesem Gesetzentwurf die Möglich-
keit einräumen, mit Versorgungsstrukturfonds überall im
Land Anreize für eine Niederlassung zu schaffen. Das
zeigt, dass wir es mit dem Leitbild der niedergelassenen
Ärztin bzw. des niedergelassenen Arztes als Rückgrat
der ambulanten Versorgung ernst meinen.

Solche Anreize in unterversorgten Gebieten werden
durch Strukturfonds bereits heute geschaffen, und zwar
so, dass es vor Ort dann auch passt. Einmal ist es ein Sti-
pendium, das mit der Verpflichtung verbunden ist, später
als niedergelassene Ärztin bzw. als niedergelassener
Arzt in einem konkreten Raum tätig zu werden. In einem
anderen Fall sind das Hilfen bei der Niederlassung und
bei der Übernahme einer Praxis. Das können aber auch
Vergütungsanreize bei besonders nachgefragten Tätig-
keiten sein, etwa bei Hausbesuchen in Räumen mit gro-
ßen Entfernungen.

Solche Möglichkeiten wird es zukünftig überall in
unserem Land geben. Überall werden Strukturfonds die
Möglichkeit schaffen, solche tatsächlichen Niederlas-
sungsanreize zu schaffen. Das ist ein klares Bekenntnis
zur Freiberuflichkeit und zur Selbstverwaltung, das mit
der Erwartung verbunden ist, dass der Sicherstellungs-
auftrag konkret umgesetzt wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir tragen auch dem Umstand Rechnung, dass junge
Medizinerinnen und Mediziner zunehmend sagen: Wir
wollen mehr Formen gemeinschaftlicher Berufsaus-
übung. Deswegen sieht unser Gesetzentwurf verbindli-
che Reformen zur Unterstützung von Praxisnetzwerken
und mehr Möglichkeiten für Medizinische Versorgungs-
zentren – beispielsweise auch bestehend aus einer Arzt-
gruppe, zum Beispiel den Hausärzten – vor.

Schließlich – um nur beispielhaft Dinge zu erwähnen –
stärken wir die Weiterbildung im Bereich der All-
gemeinmedizin und auch – einem Änderungsantrag der
Koalitionsfraktionen zufolge – im Bereich der grund-
versorgenden Fachärzteschaft durch eine entsprechend
attraktivere Gestaltung der Weiterbildungsstellen.

Wer über Unterversorgung redet, muss auch über
Überversorgung reden. Das hat die Gemüter in den letz-
ten Wochen natürlich erhitzt. Da ist manches gesagt wor-
den, was – mit Verlaub – schlichter Unsinn war.

Wer etwa gegen Bedarfsplanung und Feststellung von
Überversorgung polemisiert, der muss auch bekennen,
wer in diesem Land die Verantwortung für die Bedarfs-
planung trägt. Das ist nämlich die Selbstverwaltung.
Deswegen beauftragen wir sie – die Kritik aus diesem
Bereich ernst nehmend –, diese Bedarfsplanung bis Ende
2016 zu überprüfen und gegebenenfalls neu festzulegen.





Bundesminister Hermann Gröhe


(A) (C)



(D)(B)

Auch bei einer Überversorgung oberhalb von
140 Prozent werden wir keineswegs vom Rasenmäher
sprechen und auch keine zentralistischen Vorgaben aus
Berlin machen, sondern vor Ort muss in Zulassungs-
ausschüssen entschieden werden, ob eine aufgegebene
Praxis weiter erforderlich ist. Dann bleibt sie selbstver-
ständlich erhalten. Kein Angebot, das wirklich nötig ist,
wird gestrichen, sondern vor Ort wird entschieden.
Wenn wir aber nicht einen moderaten und an der Versor-
gungswirklichkeit orientierten Abbau der Überversor-
gung angehen, dann werden wir nicht erfolgreicher ge-
gen drohende Unterversorgung sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Zum Zweiten. Wir stärken die Rechte der Patientin-
nen und Patienten. Das war das nächste Aufregerthema:
die Terminservicestellen. Die Debatte war insofern ty-
pisch, als wir schnell dabei sind, zwischen Alarmismus –
alles ist schrecklich – und Schönfärberei – es gibt gar
kein Problem – hin und her zu pendeln. Tatsache ist: Wir
sind in der Versorgung mit Facharztterminen besser als
viele unserer Nachbarn. Tatsache ist aber auch: Es ist
keine kleine Minderheit der gesetzlich Versicherten, die
immer wieder klagt, dass sie zu lange auf einen Termin
warten muss.

Selbstverständlich schränkt eine Terminservicestelle
nicht die Freiheit der Arztwahl ein. Das ist purer Unsinn.
Wer zu seiner Ärztin und seinem Arzt gehen will und da-
für eine längere Wartezeit in Kauf nimmt, dem ist dies
unbenommen. Wer aber Hilfe braucht, hat in Zukunft ei-
nen verlässlichen Ansprechpartner, der für die Vermitt-
lung eines Facharzttermins in zumutbarer Entfernung
oder, wenn das nicht möglich ist, auch für eine fachärzt-
liche Untersuchung oder Behandlung im Krankenhaus
Sorge trägt.

Es wird viel lamentiert und manche Anzeige geschal-
tet. Die fixen Sachsen haben es einfach gemacht, und
siehe da: Es funktioniert, sogar ohne dass wir es vorge-
schrieben haben. Deswegen bin ich sicher: Schon bald
wird diese Stärkung der Patientenrechte in diesem Land
selbstverständlich sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Um Patientenrechte geht es auch, wenn wir mit einem
strukturierten Zweitmeinungsverfahren für besonders
mengenanfällige Operationen in Zukunft sicherstellen
– damit das klar ist –: Eine notwendige Operation wird
durchgeführt. In manchen Fällen ist es aber klug, wenn
sich ein besonders qualifizierter Kollege bzw. eine Kol-
legin ein Bild macht und eine Zweitmeinung mit beson-
derer Expertise zur Verfügung stellt, und zwar nicht als
Verpflichtung, sondern als Angebot, auf das die Patientin
und der Patient hinzuweisen ist. Auch das ist eine Stär-
kung von Patientenrechten.

Schließlich geht es um die Stärkung der Innovation.
Wir sind eine älter werdende Gesellschaft. Mehrfacher-
krankungen und chronische Erkrankungen fordern ver-
stärkt das Zusammenspiel über Sektorengrenzen in unse-
rer Gesundheitsversorgung. Wir haben zu lange Mauern
zwischen den Sektoren gebaut. Wir müssen jetzt Brü-
cken bauen. Das wird die Aufgabe eines Innovations-
fonds sein, der gerade die sektorübergreifende Versor-
gung ermöglicht, befördert, Anreize schafft und mit
einer entsprechenden Versorgungsforschung begleitet
und damit einen Beitrag dazu leistet, unser Gesundheits-
wesen fit zu machen.

Das Letztgenannte ist ein Beispiel dafür – das sage
ich angesichts der Debatte in den letzten Tagen –, dass
wir keineswegs als Große Koalition einfach abstrakt
mehr Geld in irgendein System geben. Vielmehr sind un-
sere Reformen, ob es um Prävention, Krankenhaus-
reformen oder E-Health geht, stets mit Anregungen und
Incentives für eine Modernisierung unseres Gesund-
heitswesens verbunden, das heute das Vertrauen der
Menschen in diesem Land hat, es aber auch zukünftig
verdient. Dafür stellen wir heute wichtige Weichen.

Ich bitte Sie um Zustimmung zu dem Gesetzentwurf.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810914700

Vielen Dank, Hermann Gröhe. – Nächste Rednerin:

Birgit Wöllert für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Birgit Wöllert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810914800

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer auf der Tribüne!
Sie haben drei Schwerpunkte genannt, Herr Minister.
Lassen Sie uns zunächst einmal fragen, wie es tatsäch-
lich mit der nachhaltigen Versorgung in allen Teilen un-
seres Landes aussieht und was am Ende bei Ihrem
Gesetz herauskommt. Es geht nämlich nicht um ein Wei-
ter-so, sondern darum, die Gesundheitsversorgung über-
all zu sichern. Sie ist aber nicht mehr überall gesichert.

Lassen Sie mich kurz etwas zu Ihrem Ziel und Ihrer
Problemstellung sagen. Sie beziehen sich darauf, dass
wir mit dem GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiter-
entwicklungsgesetz, also dem Gesetz zur gesetzlichen
Krankenversicherung, im Januar 2014 nachhaltige
Strukturen geschaffen haben, die eine bessere Versor-
gung ermöglichen. Ich frage mich: Ist das Ignoranz oder
Wunschdenken? Die Spitzenverbände der Krankenkas-
sen sagen für 2016 eine Steigerung der Beitragssätze um
0,1 oder 0,2 Prozentpunkte voraus, die diesmal nur von
den Versicherten zu tragen ist. 0,1 Prozentpunkte sind
1,2 Milliarden Euro. Das können Sie ausrechnen. Bis
2019 werden gar Steigerungen um 0,5 bis 1 Prozent-
punkte prognostiziert. Vielen Dank auch, dass jetzt die
Versicherten ihre Strukturen selbst finanzieren müssen,
und das auch noch mit zweifelhaftem Erfolg.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zweiter Punkt: Terminservicestellen. Diese hat die
Linke seit 2010 gefordert. Das ist völlig okay. Auch ich
finde, dass die Sachsen flink waren. Sie haben das seit
Ende vergangenen Jahres. Das war in der Presse und
heute früh im Morgenmagazin Thema. Im Gegensatz zu
dem Kollegen von der FDP, der gestern bei den Fachärz-





Birgit Wöllert


(A) (C)



(B)

ten meinte, dass das gar nicht nötig sei und – darauf
haben sie ja angespielt – die freie Arztwahl einschränke,
haben die Patientinnen und Patienten bewiesen, dass sie
viel Grips haben. Sie haben nämlich vorher beim Arzt
ihres Wunsches nachgefragt und sind nicht gleich zur
Terminservicestelle gelaufen. Die Sachsen waren auch
noch so klug, das an die Überweisung eines Hausarztes
oder einer Hausärztin zu binden, der die Dringlichkeit
– sie wird in drei Kategorien eingeteilt – zu entnehmen
ist. Danach bemisst sich die Schnelligkeit der Vermitt-
lung. Das ist eine durchaus vernünftige Regelung. Das
muss ich an dieser Stelle sagen.

Wo ich ins Grübeln komme, ist, dass das bei den
Fachärzten auf einmal gemeinsam mit der AOK geht;
denn es gibt eine zusätzliche Honorierung. Das lässt
mich nachdenken.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Jens Spahn [CDU/CSU]: Nennt sich Kapitalismus!)


Drittens: Abbau von Überversorgung. Man kann es ja
wirklich fast schon nicht mehr hören. Wer legt eigentlich
fest, wann über- und unterversorgt ist? Wir brauchen uns
doch gar nicht über 110 oder 140 Prozent zu unterhalten.
Es muss endlich eine vernünftige Grundlage für eine or-
dentliche Bedarfsplanung hergestellt werden.


(Beifall bei der LINKEN – Hilde Mattheis [SPD]: Lesen!)


Dazu gehört die Infrastruktur. Neben Alter und Ge-
schlecht sind ferner zu berücksichtigen die Sozialstruk-
tur der Bevölkerung und die Morbidität. Ich nenne Ihnen
ein Beispiel aus Potsdam. Potsdam hat eine Überversor-
gung an Kinderärztinnen und Kinderärzten; sie haben ei-
nen Versorgungsgrad von 163,3 Prozent. Trotzdem wird
den jungen Frauen bei der Schwangerenberatung gesagt:
Besorgen Sie sich im Umland von Potsdam eine Kinder-
ärztin oder einen Kinderarzt, bevor Ihr Kind geboren
wird. Sie bekommen sonst keinen rechtzeitig für die
Früherkennungsuntersuchung. – Wie geht denn das zu-
sammen? Gar nicht. Dazu steht in Ihrem Gesetzentwurf
aber nicht viel.

Nächster Punkt: Zweitmeinungsverfahren. Das ist
erstens jetzt schon möglich, und zweitens reduzieren Sie
das im Gesetz auf bestimmte notwendige, mengenanfäl-
lige Operationen. Das heißt, Sie schränken es ein. Wir
wollen aber grundsätzlich ein Zweitmeinungsverfahren
bei schweren Erkrankungen. Zum Beispiel muss eine
Patientin oder ein Patient auch bei einer Chemotherapie
oder bei radiologischen Therapien eine Zweitmeinung
einholen können. Warum denn eigentlich hier nicht? Ein
Zweitmeinungsverfahren nur zur Kostenreduzierung ist
an dieser Stelle falsch.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Nächste sind die spezialisierten Behandlungszen-
tren für Menschen mit Behinderung. Da sagen wir: Ja,
bei besonderen Bedarfen. Aber wir werden genau
schauen, ob Sie gleichzeitig vorantreiben, was schon
längst überfällig ist, nämlich den barrierefreien Ausbau
der gesundheitlichen Versorgung, damit die Zugänge für
alle Menschen gesichert sind. Auf deren Kosten darf das
nicht gehen.


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810914900

Frau Kollegin, Sie denken an die Redezeit?


Birgit Wöllert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810915000

Ich komme sofort zum Schluss. – Warum enthalten

wir uns nun doch bei Ihrem Gesetzentwurf?


(Zurufe von der CDU/CSU: Aha!)


Ein paar kleine Pünktchen sind enthalten, bei denen ich
noch Hoffnung habe – ich bin mir da aber nicht sicher –,
zum Beispiel die Strukturfonds und der Innovations-
fonds. Wir werden sehen – wir werden das sehr kritisch
begleiten –, ob das wirklich in die Versorgungsforschung
und in neue Versorgungsformen fließt. Denn Sie haben
den Kreis derjenigen, wer sich alles aus dieser Kasse be-
dienen können soll, ja schon wieder erweitert.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810915100

Danke, Frau Kollegin Wöllert. – Nächster Redner für

die SPD ist Dr. Karl Lauterbach.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rudolf Henke [CDU/CSU])



Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1810915200

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Zunächst einmal zögere ich ein bisschen
mit meiner Kritik, Frau Wöllert. Ich habe nämlich mit
Genugtuung gehört – das findet meine Zustimmung –,
dass Sie sich enthalten wollen. Das ist ein wichtiger
Schritt nach vorne, dafür danke ich Ihnen.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er ist auch nicht ganz verständlich, der Schritt!)


– Nein, die Enthaltung war sachlich begründet, und das
muss man anerkennen. – Aber ich möchte auf die von
Ihnen beklagte fehlende Parität eingehen. Dass wir mit
diesem Gesetz den Zusatzbeitrag in der Größenordnung
von einem Zehntel Beitragssatzpunkt im nächsten Jahr
erhöhen müssen, bedeutet für den klassischen Rentner
im Durchschnitt 1 Euro pro Monat. Wäre der Zusatz-
beitrag paritätisch gezahlt worden, hätte das eine Netto-
differenz von 50 Cent ausgemacht.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat uns Daniel Bahr auch immer vorgerechnet! Das war aber nicht gut! – Gegenruf des Abg. Jens Spahn [CDU/CSU]: Schön, dass Sie sich daran noch erinnern!)


So sehr ich es für richtig halte, zur Parität zurückzu-
kehren – das ist auch langfristig ein sozialdemokrati-
sches Ziel –, so darf man doch nicht den Eindruck erwe-
cken, als ob es hier zu hohen Zusatzbeiträgen käme. Wir

(D)






Dr. Karl Lauterbach


(A) (C)



(D)(B)

verbessern die Versorgung in vielen Bereichen. Wir ver-
einfachen viele bürokratische Verfahren. Wir bilden
mehr Hausärzte aus. Wir erleichtern die Einrichtung von
Medizinischen Versorgungszentren. Wir regeln den An-
spruch auf ein Zweitmeinungsverfahren. Wir verkürzen
die Wartefristen für einen Termin beim Facharzt. Im
Rahmen des Entlassmanagements gibt es eine neue Leis-
tung für diejenigen, die aus dem Krankenhaus entlassen
werden und keine sofortige Anschlussbehandlung ha-
ben. All diese neuen Leistungen bauen wir auf, und zwar
für 1 Euro für den Durchschnittsrentner im Monat. Ich
glaube, diese Investitionen sind das wert. Wir stehen hier
für eine Verbesserung der Versorgung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich glaube, dass das Gesetz seinen Namen verdient.
Es ist tatsächlich ein Gesetz der Versorgungsstärkung.
Dabei wird an vielen Stellschrauben gleichzeitig ge-
dreht, und zwar auf eine unbürokratische Art, die gleich-
zeitig sehr wirksam ist. Das Gesetz halte ich auch hand-
werklich für gelungen. Ich will dafür ein paar Beispiele
bringen.

Wir haben die Bedarfsplanung – wo ist ein Bedarf ge-
deckt, und wo ist er nicht gedeckt? – angepasst. Wir ma-
chen die Bereiche kleinräumiger. Was nutzt – sage ich
einmal – ein zu 100 Prozent gedeckter Bedarf, wenn der
Bezirk so groß ist, dass es Unter- und Überversorgung
nebeneinander gibt, wenn ein Stadtteil total überversorgt
und ein anderer Stadtteil unterversorgt ist? Das ist das
bisherige Problem.

Betrachten wir einmal ganz Deutschland als Versor-
gungsbereich: Dabei würde festgestellt, dass die Versor-
gung bei 100 Prozent läge und es kein Problem gäbe.
Die Tatsache, dass wir die Versorgungsbereiche kleiner
machen, wird zu einer Veränderung bei den Arztsitzen
führen. Das ist im Prinzip das, was wir hier wollen.
Diese Art von Bedarfsplanung ist aus meiner Sicht ein
wesentlicher Schritt nach vorne, den wir immer gefor-
dert haben. Wir machen die Bezirke, in denen der Ver-
sorgungsbedarf gemessen wird, kleiner.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich glaube, dass die Vermittlung eines Arzttermins in-
nerhalb der Vier-Wochen-Frist durch die Terminservice-
stellen ein wichtiger Schritt zum Abbau der Zwei-
klassenmedizin ist. Es ist klar: Der Privatversicherte
bekommt den Facharzttermin immer sofort. Er ist ein
gern gesehener Gast bei fast jedem Facharzt und wird
leider oft auch mit Leistungen behandelt, die er gar nicht
benötigt. Für denjenigen aber, der noch keinen Arztkon-
takt hatte, der aber wegen einer Erkrankung, die er nicht
einschätzen kann, in Sorge ist, ist der erste Facharztter-
min oft von größter Bedeutung. Diesen sollte er inner-
halb von vier Wochen bekommen. Wenn dieser Termin
im ambulanten Sektor nicht angeboten werden kann,
muss man auch ins Krankenhaus ausweichen können,
was zum Beispiel in Sachsen nach wie vor nicht der Fall
ist. Wie gesagt: Das ist ein wesentlicher Schritt nach
vorne, ein Schritt in Richtung Abbau der Zweiklassen-
medizin.
Wir haben den Kommunen die Möglichkeit gegeben,
selbst Medizinische Versorgungszentren einzurichten.
Diese Zentren können auch so aufgebaut sein, dass dort
Hausärzte und nicht nur Facharztgruppen zusammenar-
beiten. Das ist sehr viel leichter gestaltbar und leichter
organisierbar. Auch das ist ein wesentlicher Schritt in
Richtung einer besseren hausärztlichen Versorgung.
Hinzu kommen die Ausbildungsangebote, die wir für
Hausärzte und versorgungsnahe Fachärzte geschaffen
haben. Sie haben auch die Tausende von Stellen gar
nicht erwähnt, die wir schaffen, um für eine bessere
Hausarztausbildung zu sorgen.


(Birgit Wöllert [DIE LINKE]: Hätte ich gern getan, aber ich hatte nur fünf Minuten Redezeit!)


Wir führen Chronikerprogramme für Menschen mit
Rückenleiden und Depressionen ein, zwei große Volks-
krankheiten, von denen immer mehr Menschen betroffen
sind. Bisher gibt es in Deutschland keine evidenzbasierte
Chronikerversorgung. Die Einführung dieser Pro-
gramme ist aus meiner Sicht ebenfalls handwerklich gut
gemacht.

Wir führen das Zweitmeinungsverfahren ein. Man
kann zwar sagen: Das ist überall notwendig. Aber wir
fangen mit den Krankheiten an, bei denen wir wissen,
dass es sich um mengenanfällige Leistungen handelt.
Übrigens, Frau Wöllert, bei der Krebsversorgung wird
die Zweitmeinung auch jetzt schon bezahlt. Wenn Sie im
Rahmen einer Chemotherapie oder einer onkologischen
Untersuchung eine Zweitmeinung benötigen, wird auch
jetzt schon die Zweimeinung bezahlt.


(Birgit Wöllert [DIE LINKE]: Aber ihr schränkt das ein! Das war der Punkt!)


Es gibt andere Bereiche, in denen es nicht so ist, aber Ihr
Beispiel war hier nicht zielführend.

Zum Abschluss – ich sehe, meine Redezeit ist schon
abgelaufen –: Man darf nicht vergessen, dass wir die
Hochschulambulanzen fördern. Die Hochschulambulan-
zen versorgen in Deutschland zum Teil die schwersten
und die teuersten Fälle, machen im Durchschnitt mit die-
sen Fällen aber immer einen Verlust. Das heißt, wir be-
strafen in Deutschland im Moment eine Struktur, auf die
wir dringend angewiesen sind. Auch das beseitigen wir.

Ich könnte das breit ausführen. Meine Kolleginnen
werden das tun; ich werde es nicht. Ich sage: Ich könnte.
Ich weiß, dass ich das nicht darf. Nichtsdestotrotz
schließe ich mit meinem letzten Satz: Es ist ein Gesetz,
das ich wie folgt bezeichnen würde: Das ist nicht eine
spektakuläre umstrittene Maßnahme, die jeder kapiert
und an der man sich reiben kann – ich weiß nicht, woran
ich jetzt konkret denke –, sondern es ist ein Gesetz mit
vielen Einzelmaßnahmen, die in der Fachwelt unumstrit-
ten sind und die wir gegen die Lobbywiderstände im
System durchsetzen konnten.

Ich danke für die Aufmerksamkeit und bitte um Zu-
stimmung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810915300

Vielen Dank, Karl Lauterbach. – Nächste Rednerin:

Maria Klein-Schmeink für die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Viel hilft nicht immer viel. Ich glaube, das ist
in der vorangegangenen Rede sehr deutlich geworden.
Man kann viele, viele Detailregelungen auf einem Hau-
fen schaffen, nämlich ein Gesetz mit fast 180 Änderun-
gen, und trotzdem den Weg verlieren und die eigentli-
chen Aufgaben, die es zu bewältigen gilt, nicht angehen.
Genau das ist mit diesem Versorgungsstärkungsgesetz
passiert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Birgit Wöllert [DIE LINKE])


Das will ich Ihnen ganz deutlich machen. Was ist die
zentrale Herausforderung, die wir in unserem Gesund-
heitswesen haben? Wir haben einen demografischen
Wandel zu bewältigen. Wir haben heute die Situation,
dass 20 Prozent aller Versicherten 80 Prozent aller Leis-
tungen abfragen, und das ist die Gruppe der Älteren und
der mehrfach Erkrankten. Genau diese Gruppe wird sich
in den nächsten 15 Jahren ungefähr verdoppeln.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das wissen wir doch!)


Das ist die große Herausforderung, die wir zu bewälti-
gen haben, und ich finde kaum eine Regelung, die dem
hier gerecht wird. Das ist das eine.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Alle!)


Zweitens. Genau diese Gruppe braucht nicht ein Mehr
an einzeln agierenden Hausärzten oder Fachärzten,
sondern sie braucht etwas anderes: Sie braucht gut abge-
stimmte Behandlungswege, sie braucht örtliche Struk-
turen, die leicht erreichbar sind, sie braucht Gesundheits-
berufe, Ärzte, Krankenhäuser, die gut miteinander
kooperieren und den Behandlungsweg für diese Patien-
ten abstimmen und ein Geflecht schaffen, auf das sich
die Patienten verlassen können, in dem sie gut aufgeho-
ben sind und gut behandelt werden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das fängt beim Hausarzt an!)


Auch das wäre eine Aufgabenstellung, die wir angehen
müssten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was tun Sie dagegen, dass wir in Deutschland Welt-
meister im Besuch einer Arztpraxis sind, dass uns in die-
ser Arztpraxis dann aber gerade einmal acht Minuten zur
Verfügung gestellt werden? Auch das muss sich ändern.
Ich sehe keine einzige Regelung, die in diese Richtung
gehen würde. Das ist genau die Grundkritik, die wir an
diesem Gesetz haben: Wir geben hier nicht die Antwor-
ten, die eigentlich notwendig wären, um unser Gesund-
heitssystem zukunftsfest zu machen und dafür zu sorgen,
dass die Patientinnen und Patienten die Behandlung und
die Unterstützung finden, die sie in Zukunft brauchen
werden.

Wenn wir uns die Einzelregelungen ansehen, die alle
genannt worden sind, dann stellen wir schnell fest: Sie
klingen gut. Aber was steht tatsächlich dahinter? Es gab
ein Landärztegesetz. Was ist tatsächlich in Bewegung
gesetzt worden, um mehr Ärzte in den ländlichen Raum
und in die unterversorgten Gebiete zu bekommen?
Mit Ihrer Bedarfsplanung, wie Sie sie jetzt angelegt ha-
ben, werden Sie das nicht erreichen. Einen Auftrag an
den G-BA zu vergeben, der schon vor zwei Jahren nicht
in der Lage war, eine vernünftige Planung hinzubekom-
men, ist nicht die Lösung des Problems. Da müssen wir
weitergehen, und das wissen Sie eigentlich auch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der Sachverständigenrat hat Ihnen deutlich ins
Stammbuch geschrieben, was zu tun wäre. Wir müssten
die Grundlagen dafür legen, dass wir eine sektorüber-
greifende Planung schaffen könnten, sodass wir die am-
bulante und die stationäre Versorgung und den Pflege-
bereich gemeinsam bedenken und vor Ort Lösungen
schaffen könnten, um die Versorgung zu verbessern. In
einen solchen Weg müssten wir investieren. Da reicht es
nicht, ein kleines Töpfchen mit einem Volumen von
300 Millionen Euro bereitzustellen, mit dem Sie dann
neue Versorgungsmodelle anschieben wollen. Da brau-
chen wir mehr. Rot-Grün hat schon vor zehn Jahren ei-
nen viel größeren Topf bereitgestellt, um neue Versor-
gungsformen voranzubringen. Genau das hätte es nun
auch gebraucht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie reden davon, die Belange von Patienten besser zu
berücksichtigen. Eine der zentralen Gruppen, die
schlecht versorgt sind in unserem ansonsten guten Ge-
sundheitswesen, sind die Menschen mit Behinderung.
Was haben Sie hier getan? Von 180 Regelungen bezie-
hen sich gerade einmal fünf auf diese Personengruppe.
Etliches von dem, was wir in unserem Antrag aufzeigen,
haben Sie nicht berücksichtigt.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Wider besseres Wissen?)


Ich hoffe, dass wir bei den nächsten Gesetzen weiter-
kommen und dass Sie dann einige unserer Anregungen
aufnehmen. Aber nun klafft auch hier eine große Lücke.
Sie gehen viel zu kleine Schritte. Wir müssten mehr tun,
um zum Beispiel Barrierefreiheit tatsächlich zu realisie-
ren.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810915400

Auch die Redezeit!


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zum Schluss will ich durchaus ein versöhnliches
Wort sagen. Der Druck, den wir mit unseren vielen Klei-
nen Anfragen im Bereich der Psychotherapie ausgeübt
haben, hat immerhin dazu geführt, dass Sie den Mut ge-





Maria Klein-Schmeink


(A) (C)



(B)

funden haben, tatsächlich in neue Versorgung zu inves-
tieren


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Nur durch Sie?)


und die Richtlinien so zu erweitern, dass wir zu einer
Akutsprechstunde und zu ganz neuen Formen der wohn-
ortnahen Versorgung kommen. Wir haben nun die
Chance, die elend langen Wartezeiten zu reduzieren. Ich
gestehe Ihnen zu, dass das eine Verbesserung ist. Aber
viele andere Sachen gehen uns in der Tat nicht weit ge-
nug.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810915500

Vielen Dank, Maria Klein-Schmeink. – Der nächste

Redner: Jens Spahn für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Jens Spahn (CDU):
Rede ID: ID1810915600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Im Grunde geht es bei diesem Gesetz – genauso wie bei
einigen anderen, über die wir in den letzten Jahren bera-
ten haben – um die Frage, wie wir in Zukunft die medizi-
nische bzw. die ärztliche Versorgung im ländlichen
Raum sowie in bestimmten Stadtteilen sicherstellen kön-
nen. Dass es dabei auch um bestimmte Stadtteile geht,
geht oft unter. Ein Beispiel: In Berlin-Charlottenburg
gibt es die meisten Kinderärzte, aber in Marzahn die
meisten Kinder. Ähnliches gilt für viele andere Städte.
Es gibt große Unterschiede in der Versorgung innerhalb
der Städte, aber vor allem auch im Vergleich zum ländli-
chen Raum. Wenn wir sehen, dass ein Großteil der Haus-
ärzte im Schnitt 55 Jahre und älter ist, dann wissen wir,
was in fünf, zehn oder zwölf Jahren passiert, wenn diese
Ärzte ihre Praxen aufgeben: Sie suchen Nachfolger, fin-
den aber keine. Wenn wir heute die Weichen nicht rich-
tig stellen, dann wird es schwierig mit der ärztlichen
Versorgung im ländlichen Raum. Deswegen ist dieses
Gesetz – in Fortsetzung weiterer Gesetze, die wir zuvor
verabschiedet haben – eines der wichtigsten Gesetze für
die Infrastruktur im ländlichen Raum.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Dazu braucht es – das muss man ehrlich zugeben; das
haben Sie ebenfalls anerkannt – einen Instrumentenkas-
ten. Es wird nicht die eine Maßnahme, nicht den einen
Hebel geben, den man umlegen muss, und dann sind die
Probleme gelöst. Man könnte denken, dass es mehr
Ärzte auf dem Land geben würde, wenn nur die Bezah-
lung besser sein würde. Aber Geld alleine löst das Pro-
blem offenkundig nicht. In Mecklenburg-Vorpommern
ist die Kassenärztliche Vereinigung gar nicht mehr in der
Lage, all das Geld an die Ärzte auszuschütten. Man
könnte als Hausarzt dort richtig gut verdienen. Trotzdem
lassen sich derzeit viel zu wenige Hausärzte in Mecklen-
burg-Vorpommern nieder. Das zeigt: Es geht nicht nur
um Geld, sondern auch um Rahmenbedingungen und
Arbeitsbedingungen. Deswegen geht es in diesem
Gesetz auch um folgende Fragen: Was ist mit dem Not-
dienst? Hat der Hausarzt auf dem Land zwei-, dreimal
Notdienst am Wochenende, während sein Kollege in ei-
ner großen Stadt nur einmal im halben Jahr Notdienst
leisten muss?


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch schon längst geregelt!)


Es geht außerdem um die Frage der vernetzten
Zusammenarbeit. Wir fördern Praxisnetze sowie die
Zusammenarbeit von ambulanter und stationärer Versor-
gung, von niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern
in der Versorgung. Es geht auch um die Zusammenarbeit
mit anderen Gesundheitsberufen. So können entspre-
chend ausgebildete Pflegekräfte Routinehausbesuche
machen und dabei Blutdruck messen und Verbände anle-
gen, um die Ärzte zu entlasten und durch diese Art der
Zusammenarbeit die Versorgung zu verbessern. Dieses
Bündel an Maßnahmen macht den Wert des Gesetzes
aus. Wenn man ehrlich ist, suchen Sie doch nur das Haar
in der Suppe, das es Ihnen ermöglicht, abzulehnen; denn
Sie wissen genau, dass vieles von dem, was wir vorha-
ben, gut und richtig ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich will zwei Themen aufgreifen, die bereits genannt
wurden. Das eine ist die Zeit des Wartens auf einen
Facharzttermin. Wir alle wissen aus den Debatten vor
Ort: Das ist mit Abstand das größte Aufregerthema im
deutschen Gesundheitswesen. Natürlich kann ich darauf
verweisen, dass man beispielsweise in Schweden und
Holland sechs, acht oder sogar zwölf Monate auf einen
Facharzttermin warten muss. Man vergleicht sich aber
nicht mit den Schweden und den Holländern, sondern
mit dem Nachbarn, der Beamter ist und übermorgen ei-
nen Termin hat, weil er privat versichert ist.

In diesem Vergleich – der eine hat einen Termin in
zwei Tagen, der andere muss wochenlang warten – liegt
zu Recht ein großes Aufregungspotenzial. Deswegen
– ich hoffe, das hat die Ärzteschaft nach anfänglichen
Widerständen auch erkannt – gibt es ein gemeinsames
Interesse aller im Gesundheitswesen Verantwortlichen,
von Ärzten, von uns in der Politik und von allen ande-
ren, die mitgestalten, dass wir dieses Aufregerthema
endlich abräumen, indem wir den Patienten ein verlässli-
ches Angebot machen und ihnen einen verlässlichen An-
sprechpartner bieten, an den sie sich wenden können,
wenn sie die Überweisung zu einem Facharzt haben. Das
ist eine Servicestelle, die sie über Telefon oder über eine
App erreichen können – auch das wird in Zukunft mög-
lich sein –, um zeitnah einen Termin zu bekommen, um
die Versorgung besser zu organisieren oder eine Behand-
lung im Krankenhaus möglich zu machen. Dem Patien-
ten ist es am Ende, wenn er dringend einen Arzt braucht,
egal, welcher Arzt ihn behandelt. Er will zeitnah einen
Arzt in der Nähe haben, egal ob er im Krankenhaus ist
oder ob es ein niedergelassener Arzt ist. Genau diesem
Interesse des Patienten tragen wir mit unserer Regelung
Rechnung. Das wissen eigentlich auch Sie, und das
könnten Sie an der Stelle einmal würdigen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


(D)






Jens Spahn


(A) (C)



(D)(B)

Jetzt zur Zweitmeinung, Frau Kollegin Wöllert, weil
Sie das angesprochen haben. Sie sagten, es gehe nur um
Kostenreduktion.


(Birgit Wöllert [DIE LINKE]: Vor allem!)


Da vergessen Sie einen wichtigen Aspekt. Was nützt es
Ihnen als Patient, wenn Sie qualitativ super operiert wur-
den – wir sehen richtigerweise auch eine Ergebnisquali-
tät bei Operationen und Behandlungen im Krankenhaus
vor –, diese Operation aber unnötig war? Jede Operation
ist auch immer eine potenzielle Gefährdung des Patien-
ten. Deswegen geht es bei diesem Thema nicht nur um
Kostenreduktion. Im Gegenteil: Es geht um eine gute
Behandlung des Patienten, und es geht darum, ihn vor
unnötigen Gefahren zu bewahren. Deswegen ist die Re-
gelung, die wir vorsehen, nämlich ein strukturiertes
Zweitmeinungsverfahren anzubieten, insbesondere in
den Bereichen, bei denen man vermuten darf, dass es
auch ökonomische Interessen für mehr Behandlungen
und Operationen gibt, ein wichtiges Angebot für den Pa-
tienten, ihn zu schützen. Auch das sollten Sie nicht
kleinreden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie haben gerade spannenderweise auf die Kosten-
steigerung hingewiesen; das ist etwas Neues für die
Linke. Sie haben gerade zum ersten Mal in einer gesund-
heitspolitischen Debatte, wenn ich einmal die letzten
zwölf Jahre, die ich überblicken kann, nehme, erkannt,
dass Mehrausgaben irgendjemand bezahlen muss. Sie
haben zum ersten Mal gemerkt, dass, wenn man zusätzli-
ches Geld für die Versorgung ausgibt, das natürlich am
Ende irgendjemand bezahlen muss.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Das ist doch Quatsch!)


Ich gratuliere jedenfalls zu der Erkenntnis. Die haben
wir bisher von der Linkspartei in diesem Hohen Haus
noch nicht vernommen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Birgit Wöllert [DIE LINKE]: Was denken Sie, was wir gedacht haben? Sterntalersystem?)


Sie fordern nur immer mehr Leistungen, mehr Ausga-
ben, immer mehr, mehr, mehr; aber damit, dass das je-
mand bezahlen muss, haben Sie sich bisher nicht be-
schäftigt. Insofern gratuliere ich zu diesem Schritt.

Ja, Sie haben recht: Natürlich führt das, was wir nach
unserem GKV-Versorgungsverstärkungsgesetz tun, im
Moment im Krankenhausbereich, in der Palliativversor-
gung zu Mehrausgaben. Aber mit diesen Mehrausgaben
– das haben wir gerade für dieses Gesetz dargelegt, und
das werden wir in den nächsten Wochen auch für die
Krankenhäuser diskutieren – wollen wir vor allem Struk-
turen verändern. Wir wollen dahin kommen, dass wir
Schritt für Schritt die Versorgung effizienter machen und
sie da, wo es noch Lücken gibt, besser machen.

Meine feste Überzeugung ist, dass Sie, wenn Sie nicht
einfach nur mehr Geld in das System geben, sondern die
Ausgaben mit Strukturveränderungen verknüpfen und
am Ende eine effizientere und bessere Versorgung des
Patienten hinbekommen, dann auch Akzeptanz bei den
Versicherten haben, wenn diese ein wenig mehr be-
zahlen müssen; denn in Wahrheit wissen die Menschen
doch – wir sollten es ihnen jedenfalls ehrlich sagen; Sie
tun das leider nicht immer –, dass es, wenn wir in einer
älter werdenden Gesellschaft eine gute, hochwertige Ge-
sundheitsversorgung wollen, in den nächsten Jahren teu-
rer wird. Ich habe den Eindruck, die Menschen sind be-
reit, das zu bezahlen, wenn wir es ihnen ehrlich sagen
und wenn wir ihnen vor allem erklären können, wofür
wir dieses Geld ausgeben. Genau das tun wir mit den
entscheidenden Weichenstellungen in diesem Gesetz.
Schön, dass Sie das endlich erkannt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810915700

Herr Kollege, war das jetzt das Schlusswort?


Jens Spahn (CDU):
Rede ID: ID1810915800

Nein, ich habe noch ein bisschen.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810915900

Ja, Sie haben noch ein paar Sekunden. Ich frage Sie,

ob Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung zulassen
wollen.


Jens Spahn (CDU):
Rede ID: ID1810916000

Na klar.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810916100

Dann bitte, Frau Klein-Schmeink.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie sprachen gerade davon, dass es in der Bevölke-
rung und bei den Versicherten große Akzeptanz dafür
gibt, dass man mehr Geld bezahlen muss, wenn man
auch in Zukunft gut versorgt sein will. Ich glaube, das
würden hier im Raum alle bestätigen. Aber diese Akzep-
tanz hängt sehr eng damit zusammen, dass man das Ge-
fühl hat, dass es auf der einen Seite gerecht zugeht und
auf der anderen Seite alles getan worden ist, dass die
Versorgung auch in Zukunft gut sein wird. Dazu gehört
unter anderem, dass die Versorgungseinrichtungen gut
erreichbar sind.

Die Große Koalition hat gesetzlich geregelt, dass
sämtliche Kostensteigerungen im Gesundheitswesen al-
lein von den Versicherten zu tragen sind; das war eine
grundlegende Veränderung. Deshalb wird es in relativ
kurzer Zeit zu deutlich höheren Zusatzbeiträgen kom-
men, die nur von den Versicherten zu zahlen sind. Halten
Sie das durch, und werden Sie in der Lage sein, bis Ende
der Wahlperiode genau diesen Weg zu gehen? Sind Sie
sicher, dass Sie gemeinsam mit Ihrem Koalitionspartner
durchsetzen wollen, dass es Kostensteigerungen bis zu
1,5 Prozent nur zulasten der Versicherten geben wird?
Oder kommt es am Ende nicht doch zu Leistungsein-
schränkungen? Werden Sie also nicht mehr den Mut ha-





Maria Klein-Schmeink


(A) (C)



(D)(B)

ben, das, was notwendigerweise zu tun ist, tatsächlich
durchzusetzen?


Jens Spahn (CDU):
Rede ID: ID1810916200

Diese Frage war trotz ihrer Länge in gewisser Weise

eine Suggestivfrage.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810916300

Auch das ist erlaubt.


Jens Spahn (CDU):
Rede ID: ID1810916400

Auch das ist erlaubt; das stimmt. – Ich will trotzdem

versuchen, darauf einzugehen. Schließlich bringen Sie
diese Gedanken immer wieder vor.

Wir haben die Kassen mit der Finanzierungsreform,
die wir im letzten Jahr durchgeführt haben, wieder in ei-
nen Preiswettbewerb miteinander eintreten lassen. Die-
ser Wettbewerb hat es möglich gemacht, dass seit 1. Ja-
nuar letzten Jahres etwa 20 Millionen Deutsche weniger
Beitrag zahlen als vorher.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der Wettbewerb der Kassen untereinander hat dazu ge-
führt, dass die Kassen einen niedrigeren Beitrag genom-
men haben, nämlich nur den, den sie tatsächlich brauch-
ten.

Ja, wir haben den Arbeitgeberanteil festgeschrieben.
Wir haben damit übrigens fortgesetzt, was Rot-Grün
2004 richtigerweise schon einmal gemacht hat. Dieses
Vorgehen ergab sich aus der Erkenntnis, dass steigende
Lohnnebenkosten die Arbeit in Deutschland verteuern,
dass also auch steigende Gesundheitskosten, die in einer
älter werdenden Gesellschaft zwangsläufig sind, den
Faktor Arbeit und damit die Schaffung von Arbeitsplät-
zen in Deutschland teurer machen. Es war ein Kompro-
miss – wie gesagt, so etwas gab es schon unter Rot-Grün –,
zu sagen: Wir schreiben zur betriebswirtschaftlichen
Planbarkeit für die Unternehmen den Arbeitgeberanteil
fest – im Moment sind es 7,3 Prozent – und lassen die
künftigen Kostensteigerungen in den Zusatzbeitrag ein-
fließen, der dem Wettbewerb ausgesetzt ist und dadurch
nach unten reguliert werden soll.

Wie man damit in Zukunft umgeht, wird eine der gro-
ßen Fragen der Gesundheitspolitik werden; da haben Sie
recht. Wir nutzen diese Legislatur, in der wir noch Über-
schüsse und Rücklagen haben, um genau die Struktur-
veränderungen im Krankenhausbereich, in der flächen-
deckenden Versorgung, in der Zusammenarbeit von
ambulanter und stationärer Versorgung herbeizuführen,
über die wir gerade diskutiert haben. Wir wollen mit
dem zusätzlichen Geld effizientere Strukturen schaffen,
um im nächsten Schritt – das wird sicherlich ein Thema
ab 2016/2017 werden, auch in der programmatischen
Auseinandersetzung, die dann zu führen ist – darüber zu
reden – das werden wir alle tun müssen –, wie wir künf-
tige Kostensteigerungen finanzieren. Ich glaube nicht,
dass es richtig ist, am Ende alle Kostensteigerungen bei-
tragsfinanziert zu decken. Man wird über andere Mo-
delle reden müssen. Der Krankenversicherungsbeitrag
wird nach allen Hochrechnungen irgendwann in den
nächsten zehn Jahren den Rentenversicherungsbeitrag
überholen. Spätestens dann wird es ganz andere politi-
sche Debatten geben. Aber es ist schön, dass Sie diese
Frage stellen. Das macht nämlich deutlich, dass Forde-
rungen nach immer mehr nicht angezeigt sind, sondern
dass es im Kern darum gehen muss, das Geld effizient
auszugeben.

Helfen Sie bei der Umsetzung dieses Gesetzes mit.
Suchen Sie nicht das Haar in der Suppe, wie Sie es ge-
rade getan haben, um zu begründen, warum Sie bei der
Abstimmung mit Nein stimmen. Helfen Sie jetzt mit,
Versorgung effizienter zu machen, und bringen Sie sich
dann, und zwar jenseits Ihres Schlagworts, das Sie bei
dieser Gelegenheit immer verwenden, in der Finanzie-
rungsdebatte in dem Wissen ehrlich ein, dass steigende
Beiträge die Arbeit in Deutschland teurer machen. 2016,
2017, 2018, wenn wir all diese Debatten wieder führen
werden, geht es darum, wie wir Gesundheit in Deutsch-
land in Zukunft finanzieren wollen. Denn eines ist sicher
– dabei bleibe ich –: Eine gute, qualitativ hochwertige
Versorgung wird in einer älter werdenden Gesellschaft
Geld kosten. Die Menschen wüssten das, wenn wir es ih-
nen häufiger ehrlich sagen würden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist denn die Strukturreform?)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810916500

Vielen Dank, Herr Kollege Spahn. – Nächster Red-

ner: Harald Weinberg für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Harald Weinberg (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810916600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zunächst ein Wort zu Herrn Lauterbach und zu Herrn
Spahn: Es ist ja eine schöne Rechnung, die Sie da ange-
stellt haben. Aber wenn man sich die Gesetzesvorhaben
insgesamt anschaut – das hat Ihnen ja auch der GKV-Spit-
zenverband, also der Spitzenverband der gesetzlichen
Krankenversicherungen, schon vorgerechnet –, dann
muss man sagen, dass der Zusatzbeitrag von jetzt durch-
schnittlich 0,8 Prozent relativ zügig auf etwa 1,8 Prozent
steigen wird. Dann reden wir nicht über einen Betrag in
der Größenordnung von 50 Cent, Herr Lauterbach, son-
dern über einen Betrag von 50 Euro.


(Beifall bei der LINKEN)


Da ist man durchaus in einer ganz anderen Region, und
das ohne Überlastungsausgleich und ohne Parität.

Ich möchte noch einmal auf das GKV-Versorgungs-
stärkungsgesetz insgesamt eingehen und es kurz bewer-
ten. Es ist ja ähnlich wie bei der Echternacher Springpro-
zession: drei Schritte nach vorne, zwei zurück. Man
kann das an ein paar Beispielen deutlich machen.

Erstens. Praxisstilllegungen in überversorgten Regio-
nen; das macht ja erst einmal Sinn. Wir waren zunächst
bei einem Wert von 110 Prozent Überversorgung, dann
haben die Ärzteverbände gegen Praxisstillegungen op-





Harald Weinberg


(A) (C)



(D)(B)

poniert, und am Ende ist dann ein Wert von 140 Prozent
herausgekommen. Das heißt also, das Vorhaben ist sozu-
sagen reduziert worden.

Zweitens. Ein geregeltes Zweitmeinungsverfahren
– davon war schon die Rede – ist eigentlich eine gute Sa-
che. Aber es bleibt nach wie vor die Frage: Warum ei-
gentlich nur bei mengenmäßig relevanten Eingriffen,
also bei Eingriffen, bei denen man im Wesentlichen die
Ökonomie im Blick hat? Warum will man dies im Prin-
zip eher wie eine Kostendämpfungsmaßnahme anwen-
den?

Drittens. Die Nutzenbewertung von Medizinproduk-
ten ist ebenfalls eine gute Sache; aber es stellt sich die
Frage: Warum nur bei teuren und neuen Produkten und
nicht bei allen Hochrisikoprodukten in diesem Bereich?


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Letzter Punkt: Regelungen zur Haftung von Hebam-
men. Die Folgebehandlungskosten aus der Haftpflicht
herauszunehmen, ist ebenfalls nur halb gut. Eine grund-
legende Lösung in Form eines Härtefallfonds oder eines
Haftungsfonds für alle Gesundheitsberufe wäre deutlich
besser.

Fazit insgesamt: Jeweils drei Schritte vor, zwei zu-
rück, aber immerhin in Teilen durchaus in die richtige
Richtung. Das erkennen wir an. Deswegen haben wir für
uns gesagt: Wir werden uns bei der Abstimmung über
dieses Gesetz enthalten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810916700

Danke, Herr Kollege. – Nächste Rednerin: Hilde

Mattheis für die SPD.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Hilde Mattheis (SPD):
Rede ID: ID1810916800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich kann ja verstehen, dass die Opposition ein Problem
damit hat, wie der Kollege Spahn sagte, das Haar in der
Suppe zu finden, oder, wie ich es sagen würde, uns zu
diesem guten Versorgungsqualitätsgesetz zu beglück-
wünschen; denn dieses Gesetz, verehrte Kollegin, ver-
dient wirklich den Namen, den es trägt: GKV-Versor-
gungsstärkungsgesetz.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich glaube, dass die Bevölkerung mitbekommt, was
wir in diesem Gesetz regeln: dass es nämlich darum
geht, in unterversorgten Gebieten Anreize zu setzen, da-
mit ein Arzt dort hinkommt, und auch eine neue Be-
darfsplanung aufzulegen, und zwar eine Bedarfsplanung,
die nicht nur Köpfe zählt, sondern bei der es darum geht,
die Lebenssituation der Menschen zu erfassen, den de-
mografischen Wandel und die sozialen Strukturen zu-
grunde zu legen. Ich kann Ihnen sagen, werte Kollegin:
Würden Sie dieses Gesetz vorlegen, könnten Sie vor lau-
ter Kraft gar nicht laufen.


(Widerspruch der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich bin froh, dass die Linke anerkennt, was wir in die-
ser Richtung Richtiges machen und dass wir nicht nur
die Bedarfsplanung im Auge haben. Wir müssen auch
Anreize für junge Ärzte setzen, zum Beispiel indem sie,
wenn sie sich fünf Jahre in einem unterversorgten Gebiet
niederlassen, einen Vorteil haben. Ja, es ist richtig, sol-
che Anreize zu schaffen oder nach dem Vorbild der
Kompetenzzentren in Baden-Württemberg und anderen
Bundesländern zu sagen: Lasst uns doch die jungen
Leute, die Medizin studieren, für den Hausarztberuf be-
geistern. – Was uns darüber hinaus besonders am Herzen
liegt, ist, die Entlassung aus den Krankenhäusern zu ver-
bessern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Helmut Heiderich [CDU/CSU])


Es ist nicht hinzunehmen, dass Menschen, die zum Wo-
chenende oder in schwierigen Situationen entlassen wer-
den, zur Apotheke laufen müssen, sich bei den Heilmit-
teln umtun müssen usw.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810916900

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage?


Hilde Mattheis (SPD):
Rede ID: ID1810917000

Ich würde gerne weiterreden.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber bedauerlich!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810917100

Gut.


Hilde Mattheis (SPD):
Rede ID: ID1810917200

An diesen Schwerpunkten erkennt die Bevölkerung,

welche Versorgungsverbesserung das Gesetz mit sich
bringt.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gibt es bei uns alles schon!)


Wir haben auch vereinbaren können, dass es bei der
pflegerischen Übergangsversorgung einen Leistungsan-
spruch gibt. Wenn Menschen – und der demografische
Wandel beschäftigt uns ja alle – noch nicht nach Hause
gehen können, aber keine Einstufung in eine Pflegestufe
haben, wird es demnächst eine Leistungshinterlegung
geben. Auch das Zweitmeinungsrecht wurde schon viel-
fach angesprochen. Was ist daran falsch? Es sichert die
Patientinnen- und Patientenrechte. Das Gesetz wird
durch Folgendes durchgängig bestimmt: Es werden Ver-
sorgungsstrukturen verbessert, die Patientenrechte ge-
stärkt und Innovationen unterstützt.

Dazu zählt auch die Finanzierungsseite; darüber wer-
den wir mit Sicherheit eine Debatte führen müssen. Karl
Lauterbach hat unsere Haltung schon angedeutet. Ich





Hilde Mattheis


(A) (C)



(D)(B)

kann nur sagen: Parität ist ein wichtiges Ziel für uns So-
zialdemokratinnen und Sozialdemokraten.


(Beifall bei der SPD)


Wir werden mit dem Krankenhausreformpaket und mit
allem, was wir im Bereich Prävention und zum Thema
„Palliativmedizin und Hospiz“ machen, die nächsten
Bausteine setzen.

Ich darf auch ein kleines Lob aussprechen; es kommt
uns nicht immer deutlich von den Lippen. Ich glaube, für
die Bevölkerung haben wir mit diesem Gesetz und mit
dem, was wir noch in harter Arbeit auf den Weg bringen
werden, eine wichtige Grundlage in Bezug auf Versor-
gungssicherheit und Versorgungsqualität geschaffen.
Wir werden diesem Gesetz nicht nur mit ganzem Herzen
und vollster Überzeugung zustimmen, sondern es auch
in die Wahlkreise tragen. Sie werden ja in den Wahlkrei-
sen mit genau diesen Fragen bombardiert. In Zukunft
werden Sie Antwort geben können: Ja, der Hausarzt
bleibt in einem unterversorgten Gebiet. Das unterstützen
wir; er kommt dahin. Ja, wir werden mit Blick auf die
Ausbildung eine Reform hinbekommen. – Alle diese
Fragen werden Sie dann beantworten können. Vielleicht
können Sie auch einfach sagen: Diese Koalition hat auch
ein klein wenig Gutes gemacht.

Ich danke Ihnen für Ihre Enthaltung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Helmut Heiderich [CDU/ CSU]: Und der Minister war erfolgreich!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810917300

Danke, Hilde Mattheis. – Die nächste Rednerin:

Elisabeth Scharfenberg für Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Herr Minister! Sehr geehrte Kolle-
ginnen und Kollegen! Das Gesetz, dessen Entwurf heute
zur Abstimmung steht, soll die gesundheitliche Versor-
gung bedarfsgerecht und flächendeckend sicherstellen.
Ich denke, das ist eine Herausforderung, der wir uns un-
bedingt stellen müssen.

Wir alle werden älter. Es wird mehr Menschen mit
mehreren Erkrankungen gleichzeitig geben. Das Ge-
sundheitssystem muss sich den geänderten Bedürfnissen
und auch den Ansprüchen der Patientinnen und Patien-
ten in Bezug auf mehr Lebensqualität anpassen. Da sehe
ich nicht – so wie Sie – die Ärzte ganz vorne, sondern
die Gesundheitsberufe. Menschen mit chronischen Er-
krankungen, multimorbide Menschen brauchen neben
medizinischer Behandlung auch Hilfen zum Leben. Sie
brauchen Präventionsmaßnahmen sowie aktivierende
Maßnahmen, die den Krankheitsverlauf verlangsamen
und die Lebensqualität erhöhen. Das leisten nicht allein
die Ärzte. Besonders die Pflege muss hier eine viel grö-
ßere Rolle spielen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Pflege ist nahe dran an den Menschen, und sie bleibt
auch bei ihnen. Sie kann den Pflegebedarf am besten
einschätzen. Das sollte sie auch eigenständig tun. Sie
sollte auch bestimmte ärztliche Tätigkeiten ausüben dür-
fen. Dazu bedarf es besserer Kooperationen zwischen
den Angehörigen der verschiedenen Gesundheitsberufe.
Mit dem Standesdünkel muss jetzt endlich Schluss sein.
Es braucht endlich Substitution statt Delegation. Die
Pflege kann nämlich viel mehr, als sie darf.

Es braucht eine angemessene Ausbildung, um koope-
rativ und verantwortlich handeln zu können. Das Gesetz
zur Zusammenlegung der Pflegeausbildungen – dabei
werden Altenpflege, Krankenpflege und Kinderkranken-
pflege zusammengeführt – ist hier genau das falsche Si-
gnal.


(Mechthild Rawert [SPD]: Quatsch!)


Inhalte aus drei Ausbildungen werden in der gleichen
Zeit vermittelt, die früher für eine Ausbildung vorhan-
den war. Dabei wird zwangsläufig Wissen auf der Stre-
cke bleiben. In einer alternden Gesellschaft brauchen wir
aber spezifisches Wissen. Das schafft auch endlich Au-
genhöhe mit den Ärzten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es findet sich auch eine Regelung zur Versorgung mit
Hebammenhilfe im Gesetzentwurf. Das klingt zunächst
folgerichtig; denn in Ihrem Koalitionsvertrag behaupten
Sie:

Die Sicherstellung einer flächendeckenden Versor-
gung mit Geburtshilfe ist uns wichtig.

Was Sie dann aber vorschlagen, wird keine flächende-
ckende Versorgung mit Geburtshilfe sicherstellen, Ihr
Ziel in allen Ehren. Die Haftpflichtprämien für Hebam-
men sollen durch den sogenannten Regressverzicht ge-
senkt werden. Dazu sollen Kranken- und Pflegekassen
künftig die Behandlungskosten für Kinder mit Ge-
burtsschäden nicht mehr bei der Hebamme oder ihrer
Versicherung einfordern können. Dadurch könnten die
Versicherungen tatsächlich Kosten einsparen, um die
20 Prozent. Das sind genau die 20 Prozent, um die die
Haftpflichtprämie zum 1. Juli steigen wird.

Sie verkleinern diese ohnehin schon nicht sehr üppige
Einsparung weiter. Wenn ein Geburtsschaden grob fahr-
lässig verursacht wurde, können die Kassen ihre Be-
handlungskosten für ein geschädigtes Kind weiterhin zu-
rückfordern. Was wird nun passieren? Das liegt doch auf
der Hand. Die Kassen werden in jedem Fall alles daran-
setzen, der betreffenden Hebamme grobe Fahrlässigkeit
nachzuweisen. Damit steigen die Anwaltskosten und der
Verwaltungsaufwand. Die Haftpflichtprämien für Heb-
ammen werden so jedenfalls nicht gesenkt. Der Regress-
verzicht bringt überhaupt nichts, er ist eine reine Alibi-
maßnahme. Das hat die wichtige Arbeit der Hebammen
wirklich nicht verdient.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Birgit Wöllert [DIE LINKE])







(A) (C)



(D)(B)


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810917400

Vielen Dank, Kollegin Scharfenberg. – Nächste Red-

nerin: Karin Maag für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Karin Maag (CDU):
Rede ID: ID1810917500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Scharfenberg, ich glaube, für die Hebammen wer-
den wir mit diesem Gesetz mehr tun, als wir ursprüng-
lich erwarten konnten. Ich bin sicher, dass die Hebam-
men in Deutschland vernünftig und gerecht behandelt
werden.


(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mal sehen!)


Der Schwerpunkt dieses Gesetzentwurfs liegt aber
nicht bei den Hebammen. Uns war wichtig, Deutschland
im Hinblick auf die ärztliche Versorgung zukunftsfest zu
machen. Das ist uns mit dem Versorgungsstärkungsge-
setz absolut gelungen. Wir haben den guten Entwurf des
Ministeriums im parlamentarischen Verfahren weiter
verbessert. Wir haben Patienten, Kassen, Körperschaften
und Verbände um ihre Meinung gebeten. Wir haben dis-
kutiert, Argumente eingebracht, abgewogen, verworfen
und aufgenommen. Ich denke, wir haben einen runden
Gesetzentwurf geschaffen. Die Aufregerthemen, die hier
schon genannt wurden, wurden geglättet. Wir haben dem
G-BA aufgegeben, die Bedarfsfragen lebensnah, arzt-
gruppenspezifisch und kleinräumig weiterzuentwickeln.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habt ihr 2012 schon nicht geschafft! Das werdet ihr jetzt auch nicht schaffen!)


Wir sind bei der Überversorgung zur Kannregelung zu-
rückgekehrt und verlangen erst ab einem Versorgungs-
grad von 140 Prozent, dass der Zulassungsausschuss ei-
nen Arztsitz nicht nachbesetzt. Das verhindert vor allem
unnötige Bürokratie – das war uns wichtig – beim Zulas-
sungsausschuss.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird zu nichts führen!)


Falls eine Nachbesetzung ansteht, Herr Weinberg, wer-
den weiterhin 12 000 Praxen von den Zulassungsaus-
schüssen auf ihre Versorgungsrelevanz hin überprüft. Ich
glaube also, wir haben einen wunderbaren Kompromiss
gefunden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Gelungen ist uns auch die Abwägung bei der ambu-
lanten spezialfachärztlichen Versorgung. Hier war mir
die Zusammenarbeit von ambulant und stationär tätigen
Rheumatologen ein gutes Beispiel. So stelle ich mir üb-
rigens innovative Gesundheitspolitik vor. Mit dem Ver-
zicht auf die schwere Verlaufsform bei onkologischen
und rheumatischen Erkrankungen können Patienten jetzt
auch nach Auslaufen einer Übergangsregelung weiter in
der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung – sek-
torenübergreifend übrigens, Frau Klein-Schmeink –

(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch mini!)


versorgt werden.

Zu den Terminservicestellen haben wir das Wesentli-
che herausgearbeitet. Wir haben selbstverständlich Wert
darauf gelegt, dass gute regionale Ideen – das Land Sach-
sen wurde als Beispiel genannt – umgesetzt werden, was
eine zügige Terminvergabe angeht. Das ist uns sehr will-
kommen. Jedenfalls erhalten jetzt alle Patienten – unab-
hängig ob privat oder gesetzlich versichert – innerhalb
von vier Wochen einen Facharzttermin.

Bei allem war uns eine Botschaft ganz wichtig: Der
Patient steht immer im Mittelpunkt. Die Patienten – da-
rauf will ich hinweisen – profitieren von diesem Gesetz,
zum Beispiel durch neue, innovative Versorgungsfor-
men. Wir führen einen Innovationsfonds ein, mit dem
wir außerhalb der Regelversorgung 300 Millionen Euro
jährlich für die Förderung sektorenübergreifender Ver-
sorgungsformen und für die Versorgungsforschung ein-
setzen. Die Patienten mit schweren und komplexen
Krankheitsbildern profitieren davon, dass wir die Hoch-
schulambulanzen öffnen. Der Zugang zur Spitzenmedi-
zin wird den Patienten dadurch erheblich erleichtert.

Es geht nicht nur um Teilhabe, sondern auch um eine
qualitativ hochwertige Behandlung. Neue Methoden, bei
denen Medizinprodukte mit hoher Risikoklasse zum
Einsatz kommen, werden systematisch einem fristge-
bundenen Bewertungsverfahren unterzogen. Wir gehen
damit den guten Weg weiter, den wir mit dem AMNOG
eingeschlagen haben.

Die Patienten profitieren auch vom Entlassmanage-
ment. Krankenhäuser können jetzt bei der Entlassung die
Arzneimittel verschreiben, die Heil- und Hilfsmittel ver-
ordnen, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung selber aus-
stellen. Die Suche nach dem niedergelassenen Arzt am
Freitagnachmittag nach der Entlassung aus dem Kranken-
haus hat für unsere Patienten jetzt ein Ende. Ich glaube,
schon allein das ist ein zentraler Fortschritt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Patienten kön-
nen die Verbesserungen nur dann nutzen, wenn es wei-
terhin den Arzt vor Ort gibt. Wir werden aber nur dann
ärztlichen Nachwuchs gewinnen, wenn wir das berufli-
che Umfeld mit den Vorstellungen der Studenten und der
jungen Ärzte von der eigenen Work-Life-Balance in Ein-
klang bringen und Regulierungen nur dort vornehmen,
wo sie notwendig sind, sie also auf das ausdrücklich
Notwendige begrenzen. Wir haben die Rahmenbedin-
gungen extrem verbessert: Es wird mindestens 7 500 zu-
sätzliche Stellen im Rahmen der Weiterbildung in der
Allgemeinmedizin geben; das wurde genannt. Die fach-
ärztliche Grundversorgung liegt uns genauso am Herzen;
hier sind es 1 000 zusätzliche Stellen. Die Angst vor Re-
gressen ist zwar eher ein psychologisches Hemmnis,
weil schon in der Vergangenheit 98 Prozent der Ärzte
nicht in Regress genommen wurden; aber wir haben die
bundeseinheitlichen Vorgaben für die Wirtschaftlich-





Karin Maag


(A) (C)



(D)(B)

keitsprüfung aufgegeben. Es wird regionale Vereinba-
rungen geben.

Frau Klein-Schmeink, wir entlasten die Ärzte, indem
wir die delegierte ärztliche Leistung qualifizierter Fach-
kräfte erstmals gesondert vergüten. Das heißt, wir geben
den Ärzten die Zeit für das Gespräch mit den Patienten
zurück.


(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat das denn mit der Delegation zu tun?)


Viele der jungen Ärzte wollen im Team arbeiten. Fach-
gleiche MVZs sind möglich. Wir sichern die Vergütung
für anerkannte Praxisnetze. Auch dort wird der Teamge-
danke gefördert.

Ich bin zutiefst davon überzeugt, Frau Klein-
Schmeink, dass uns ein ausnehmend gutes Gesetz gelun-
gen ist, das Ausdruck einer zukunftsgerichteten Gesund-
heitspolitik ist.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie vor drei Jahren auch schon gesagt!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810917600

Vielen Dank, Frau Kollegin Maag. – Nächster Redner

in der Debatte: Dirk Heidenblut für die SPD.


(Beifall bei der SPD)



Dirk Heidenblut (SPD):
Rede ID: ID1810917700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Liebe Zuhörerinnen! Liebe Zuhörer! Nein, sofort
werden wir mit diesem Gesetz die unverantwortlich lan-
gen Wartezeiten im Bereich der Psychotherapie natürlich
nicht abschaffen. Aber das Gesetz zeigt den absehbaren
Zeitraum auf, in dem das gelingen kann. Das liegt daran,
dass wir in konsequenter Abarbeitung unseres Koali-
tionsvertrages an ganz vielen Stellen zeitgleich anpa-
cken, um die Frage des Bedarfs in den Griff zu bekom-
men. Vor dem Hintergrund kann ich nur sagen: Hier
machen wir viel, und das wird auch viel bewirken. Da
bin ich mir ganz sicher.


(Beifall bei der SPD – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist der einzige Bereich, den Sie uns zugestanden haben!)


– Ja, ich will gerne zugeben, dass das zugestanden
wurde.

Ich will nur drei Aspekte nennen.

Zunächst nehmen wir den Bedarf in Angriff, der na-
türlich eines der Kernprobleme ist. Auch wenn immer
wieder gesagt wird: „Na ja, das hatten wir ja schon ein-
mal versucht“ – den Versuch darf man nicht aufgeben.
Ich bin mir ganz sicher: An dieser Stelle wird das funk-
tionieren, weil alle begriffen haben: Gerade im Bereich
Psychotherapie gibt es ausreichend Expertise. Jeder
weiß, dass der Bedarf für diesen Bereich nie ordentlich
ermittelt worden ist. Da müssen wir heran, das muss an-
gepasst werden. Wir geben auch vor, wie wir es wollen,
nämlich an Sozial- und Morbiditätsstruktur orientiert,
und das Ganze auch noch kleinräumig.


(Beifall bei der SPD)


Wir nehmen die Psychotherapie-Richtlinie in Angriff.
Auch das ist wichtig; denn natürlich kann man auch im
Bereich der Leistungserbringung noch eine Menge be-
wirken. Wir werden – ich will nur einen Punkt aufgrei-
fen – Sprechstunden einrichten, um die Akutversorgung
deutlich besser in den Griff zu bekommen. Wir wollen,
dass derjenige, der akut etwas hat, einen schnellen Zu-
gang zu Hilfe erhält. Wir wollen auch die Therapie steu-
ern. Es ist doch nur folgerichtig, zu sagen: Wenn die
Richtlinie geändert ist, dann müssen entsprechende Än-
derungen bei den Terminservicestellen vorgenommen
werden. Denn es kann doch nicht sein, dass ich in der
Sprechstunde erfahre, ich bekomme eine Therapie, aber
dann dauert es wieder sechs Monate. Nein, auch hier
muss geregelt sein, dass eine Therapie nach vier Wochen
begonnen werden kann. Es ist völlig richtig, dass wir
auch an dieser Stelle handeln.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Last, but not least: Wir verändern auch die Arbeits-
möglichkeiten direkt in den Praxen; denn wir schaffen
gerade im Psychotherapiebereich deutlich bessere An-
stellungsverhältnisse, sodass zum Beispiel die Möglich-
keit besteht, sich für Jobsharing zu entscheiden. Das
wird für die Patientinnen und Patienten viel bringen,
weil das mehr Kapazität schafft. Aber es wird auch – die
Work-Life-Balance wurde angesprochen – den Berufs-
einstieg erleichtern. Das wird dazu führen, dass mehr
Menschen Zugang zu diesem Beruf finden. – Wir haben
also in zwei Bereichen hervorragende Ansätze gefunden.

Vor diesem Hintergrund kann ich nur sagen: Wir
schaffen mit diesem Gesetz gerade im Bereich der Psy-
chotherapie sehr gute Möglichkeiten, endlich zuzupa-
cken. Wir erwarten vom G-BA, dass das alles schnell,
zügig und zielgerichtet und im Sinne der Patientinnen
und Patienten umgesetzt wird.


(Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD])


Auch wenn viel manchmal nicht viel hilft, eines ist klar:
Nix hilft gar nix, und Nein ist am Ende nix.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810917800

Vielen Dank, Herr Kollege Heidenblut. – Nächster

Redner: Reiner Meier für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Reiner Meier (CSU):
Rede ID: ID1810917900

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem
GKV-Versorgungsstärkungsgesetz liegt uns heute ein
ausgewogenes Gesamtpaket vor. Für uns von der Union





Reiner Meier


(A) (C)



(D)(B)

steht eines fest: Der freiberufliche Arzt ist und bleibt
eine zentrale Säule der gesundheitlichen Versorgung in
unserem Land.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Auch im Krankenhaus!)


– Auch im Krankenhaus.

Wir haben erreicht, dass Arztpraxen in überversorgten
Gebieten künftig erst bei einem Versorgungsgrad von
140 Prozent aufgekauft werden sollen. Das ist auch rich-
tig; denn mit dieser Regelung lassen wir der Selbst-
verwaltung die notwendigen Handlungsspielräume
und fokussieren den Blick auf die stark überversorgten
Regionen. Dabei bleibt es auch weiterhin bei den gelten-
den Ausnahmen, die einen Praxisaufkauf ausschließen.
Hierzu ist schon viel gesagt und auch geschrieben wor-
den. Deshalb möchte ich mich nur auf einen Punkt kon-
zentrieren.

Künftig gibt es eine Privilegierung für junge Ärzte,
die nach dem Studium fünf Jahre lang in einem unterver-
sorgten Gebiet arbeiten. Möchte ein solcher Arzt eine
Praxis weiterführen, so darf diese nicht aufgekauft wer-
den. Dadurch machen wir die ärztliche Tätigkeit in un-
terversorgten Regionen deutlich attraktiver;


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


denn die Entscheidung, die Ballungszentren zu verlas-
sen, wird dadurch nicht zu einer Einbahnstraße. Im Ge-
genteil: Ein junger Arzt, der weiß, dass er sich mit einer
Tätigkeit auf dem Land seine Bewegungsfreiheit nicht
nur erhält, sondern sogar verbessert, wird viel eher bereit
sein, die Großstadt zu verlassen.

Keine Ungleichbehandlung sollte es allerdings bei der
Bereinigung der ärztlichen Vergütung geben. Wir mei-
nen, dass ein gerechter Modus weder Ärzte, die am Se-
lektivvertrag teilnehmen, noch Ärzte, die am Kollektiv-
vertrag teilnehmen, bevorzugen darf; das haben wir im
Ausschuss übrigens auch deutlich gemacht und zu Proto-
koll gegeben.

Meine Damen und Herren, leider gibt es in Deutsch-
land Regionen, in denen der ambulante Bereich die Ver-
sorgung derzeit nicht vollständig gewährleisten kann.


(Zuruf von der LINKEN: Genau!)


Hierfür – jetzt komme ich zu Ihnen – erfüllen Kranken-
häuser seit Jahren eine wichtige Versorgungsfunktion.
Aus diesem Grund haben Krankenhäuser in unterver-
sorgten Gebieten künftig einen Anspruch auf Zulassung
zur ambulanten Behandlung – solange und soweit es er-
forderlich ist. Unser Leitbild bleibt aber auch weiterhin
die Versorgung durch den niedergelassenen Arzt. Wir
haben deshalb eine verpflichtende Überprüfung der Zu-
lassung, alle zwei Jahre, eingeführt.


(Birgit Wöllert [DIE LINKE]: Das ist genau der Punkt!)


Das verschafft einerseits den Krankenhäusern genügend
Planungssicherheit und andererseits den Ärzten faire Be-
dingungen für die Niederlassung in einer solchen Re-
gion.
Auch das Entlassmanagement verbessern wir. Wir
verzahnen den ambulanten und den stationären Bereich.
Dazu haben wir die Möglichkeit der Krankenhäuser aus-
geweitet, dem Patienten bei der Entlassung die notwen-
digen Leistungen zu verordnen, und zwar so lange, bis
der ambulante Bereich die Nachsorge übernehmen kann.
Zudem verbessern wir an dieser Stelle die Kooperation
zwischen Kranken- und Pflegeversicherung. Besonders
Patienten, die zum Wochenende entlassen werden, eröff-
nen wir dadurch einen reibungsloseren Übergang in die
ambulante Weiterversorgung.

Lassen Sie mich abschließend noch kurz zum Innova-
tionsfonds kommen. Meine Damen und Herren, Innova-
tion ist keine Frage von Sektoren oder Einrichtungen,
sondern von Fortschritt und Nutzen für den Patienten. Es
kommt deshalb nicht mehr darauf an, wer eine Innova-
tion vorschlagen darf, sondern wie gut die Innovation ist.
Bei der Gestaltung des Förderverfahrens haben wir uns
für höhere Transparenz und Objektivität eingesetzt. So
gibt ein Expertenbeirat zu jedem Vorhaben eine Empfeh-
lung ab, die der Innovationsausschuss berücksichtigen
muss. Von der Empfehlung darf der Ausschuss nur dann
abweichen, wenn er dies schriftlich ausführlich begrün-
det. Dieses Verfahren sichert, dass die Förderentschei-
dung stets transparent und nachvollziehbar ist. Darüber
hinaus muss jedes aus dem Innovationsfonds geförderte
Vorhaben zum Beispiel im Internet veröffentlicht wer-
den. Ich bin überzeugt, dass der Innovationsfonds ein
wirksames Instrument sein wird, das schon in kurzer
Zeit zahlreichen Patienten spürbare Verbesserungen
bringen wird.

Meine Damen und Herren, Henry Ford hat einmal ge-
sagt:

Zusammenkommen ist ein Beginn, zusammenblei-
ben ist ein Fortschritt, zusammenarbeiten ist Erfolg.

In diesem Sinne darf ich mich bei den Kolleginnen und
Kollegen im Gesundheitsausschuss für die konstrukti-
ven, zumeist auch zielführenden Beratungen bedanken
und Sie heute um die Zustimmung zu diesem Gesetzent-
wurf bitten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810918000

Vielen Dank, Herr Kollege Meier. – Die letzte Redne-

rin in dieser Debatte: Sabine Dittmar für die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Karin Maag [CDU/CSU])



Sabine Dittmar (SPD):
Rede ID: ID1810918100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Der Gesetzentwurf zum GKV-Versorgungs-
stärkungsgesetz hat in den parlamentarischen Beratun-
gen mit 56 Änderungsanträgen den letzten Schliff be-
kommen, sodass wir heute ein Gesetz vorlegen, das die
Rahmenbedingungen für eine Sicherstellung der flä-
chendeckenden ärztlichen Versorgung weiter flexibili-
siert und entbürokratisiert, den Zugang zur medizini-





Sabine Dittmar


(A) (C)



(D)(B)

schen Versorgung verbessert, das Leistungsangebot für
Versicherte erweitert und mit dem Innovationsfonds
neuen sektorenübergreifenden Versorgungsmodellen und
der Versorgungsforschung einen neuen Schub verleiht.

Kolleginnen und Kollegen, als ich 1987 mein Medi-
zinstudium begann, war mir sehr schnell klar, dass ich
als Allgemeinärztin arbeiten möchte.


(Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD])


Leider entscheiden sich heute immer weniger junge
Ärztinnen und Ärzte für den Hausarztberuf. In vielen
Regionen spüren wir diesen Mangel, genauso wie auch
Defizite in der fachärztlichen Versorgung. Deshalb war
es mir so wichtig, dass wir im GKV-Versorgungsstär-
kungsgesetz der Förderung der Weiterbildung einen
neuen Impuls geben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Anzahl der zu fördernden Stellen im Bereich der
Allgemeinmedizin erhöhen wir um 50 Prozent auf
7 500. Außerdem haben wir, was ebenfalls sehr wichtig
ist, eine Vergütung entsprechend einer tarifvertraglichen
Vergütung im Krankenhaus vorgegeben. Weitere 1 000
Stellen für grundversorgende Fachärzte kommen hinzu.

Für mich war es ein besonders wichtiges Anliegen,
die Qualität und Attraktivität der Weiterbildung zu ver-
bessern. Viele weiterzubildende Ärztinnen und Ärzte
fühlen sich in der Praxis draußen alleingelassen. Ihnen
fehlt die Rückkoppelung, der Austausch mit anderen,
wie er im klinischen Bereich üblich ist. Deshalb war es
richtig, die Möglichkeit zu eröffnen, 5 Prozent der För-
dersumme für die Unterstützung von Einrichtungen zu
verwenden, die genau diesen Austausch ermöglichen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die bei Universitäten angesiedelten Kompetenzzentren,
wie wir sie aus Baden-Württemberg oder Hessen ken-
nen, sind dafür ganz sicher ein Vorbild.

Auch die Rahmenbedingungen für die ambulante Tä-
tigkeit haben wir weiter flexibilisiert und den Bedürfnis-
sen angepasst; dazu ist schon einiges gesagt worden. Wir
wissen, dass die jungen Ärztinnen und Ärzte im Team
arbeiten wollen, geregelte Arbeitszeiten haben möchten,
dass die Work-Life-Balance eine große Rolle für sie
spielt. Diesen Wünschen kommen wir entgegen, indem
wir kooperative Versorgungsformen, medizinische Ver-
sorgungszentren und Praxisnetze weiter stärken und ent-
bürokratisieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


All dies ist aber vergebliche Liebesmüh – das habe
ich in der ersten Lesung schon betont –, wenn es uns
nicht gelingt, die Medizinstudentinnen und Medizinstu-
denten für die ambulante ärztliche Tätigkeit zu begeis-
tern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich bin froh, dass es am 8. Mai 2015 endlich zu einem
ersten Treffen der Gesundheits- und Wissenschaftsmi-
nister von Bund und Ländern kam und der Startschuss
für den „Masterplan Medizinstudium 2020“ gefallen ist;
denn es ist dringend notwendig, dass wir die Zulassungs-
kriterien anpassen und die Studieninhalte versorgungs-
orientierter gestalten.

Lassen Sie mich abschließend auf einen weiteren
Punkt eingehen, in den ich sehr viel Herzblut stecke und
über den heute schon viel diskutiert wurde. Die Sachver-
ständigen in der Anhörung und der Sachverständigenrat
haben unisono auf diesen Punkt hingewiesen. Es geht
um die Weiterentwicklung der Bedarfsplanung. Eine Be-
darfsplanung, die den realen Versorgungsplan abbildet,
ist das zentrale Steuerungselement, wenn es um die
gerechte Verteilung von Ärztinnen und Ärzten geht. Die
derzeitige Bedarfsplanung wird diesem Anspruch
nicht gerecht. Aus diesem Grund ist es richtig, dass wir
den G-BA beauftragen, bis Ende 2016 die Bedarfspla-
nung zu überarbeiten und dabei die Faktoren Sozial- und
Morbiditätsstruktur und Demografie verstärkt zu berück-
sichtigen.

Natürlich ist es auch notwendig, dass wir sektoren-
übergreifend planen. Dafür haben die Länder mit § 90 a
SGB V – gemeinsames Landesgremium – bereits ein In-
strument an der Hand. Dieses Instrument nutzen sie aber
nicht so, wie sie es nutzen könnten; auch das ist in der
Anhörung angesprochen worden. Wir werden einen
Blick darauf haben. Notfalls muss man bei § 90 a SGB
V nachjustieren, um die Wirkung zu verbessern.

Wichtig ist, dass wir jetzt einen ersten Schritt unter-
nehmen. Ich teile den Pessimismus der Opposition nicht.


(Mechthild Rawert [SPD]: Von einem Teil!)


Ich glaube, wir kommen ein gutes Stück voran. Ich bin
davon überzeugt, dass wir heute einen guten Gesetzent-
wurf zur Abstimmung vorlegen. Es geht um ein Gesetz,
das den Versicherten, den Patientinnen und Patienten
draußen wirklich nützt.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810918200

Vielen Dank, Frau Kollegin Dittmar. – Ich schließe

die Aussprache.

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Stär-
kung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversi-
cherung. Zu dem Gesetzentwurf liegt uns eine persönli-
che Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung von
Rudolf Henke vor.1)

Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Buch-
stabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/
5123, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 18/4095 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Linken auf
Drucksache 18/5125 vor, über den wir zuerst abstimmen
werden. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer

1) Anlage 2





Vizepräsidentin Claudia Roth


(A) (C)



(D)(B)

stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Änderungs-
antrag ist bei Zustimmung der Linken, bei Gegenstim-
men von CDU/CSU und SPD und bei Enthaltung von
Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Ich bitte nun diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt da-
für? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenom-
men. Sie haben es gesehen: CDU/CSU und SPD haben
dafür gestimmt, die Grünen haben dagegen gestimmt,
und die Linken haben sich enthalten.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD,
bei Gegenstimmen vom Bündnis 90/Die Grünen und bei
Enthaltung der Linken angenommen.

Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/5126. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist
abgelehnt. Es gab Zustimmung von den Linken, Enthal-
tung vom Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen
von CDU/CSU und SPD.

Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlungen des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksa-
che 18/5123 fort.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/4187 mit dem Ti-
tel „Wohnortnahe Gesundheitsversorgung durch bedarfs-
orientierte Planung sichern“. Wer stimmt für die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung des Ausschusses ist angenommen. Zugestimmt ha-
ben CDU/CSU und SPD, abgelehnt haben die Linken,
und enthalten haben sich Bündnis 90/Die Grünen.

Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 18/4153 mit dem Titel „Gesund-
heitsversorgung umfassend verbessern – Patienten und
Kommunen stärken, Strukturdefizite beheben, Quali-
tätsanreize ausbauen“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zu-
gestimmt hat die Große Koalition, also CDU/CSU und
SPD, Gegenstimmen gab es von den Grünen und Enthal-
tung von den Linken.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 18/1462 mit dem Titel „Mehr Transparenz der
Selbstverwaltung im Gesundheitswesen“. Wer stimmt
für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, und
es gab Gegenstimmen vom Bündnis 90/Die Grünen und
von den Linken.
Damit haben wir die Gesundheitspolitik für heute ge-
schafft. Ich danke den Gesundheitspolitikerinnen und
-politikern recht herzlich und lade sie ein, hierzubleiben,
wenn wir über das Thema „Exportüberschüsse abbauen“
reden. Ansonsten bitte ich, die Plätze zu tauschen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Schlecht, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Exportüberschüsse abbauen – Wende in der
Lohnpolitik einleiten

Drucksache 18/4837
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre viel,
aber keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort an
Michael Schlecht für die Linken.


(Beifall bei der LINKEN)



Michael Schlecht (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810918300

Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und

Herren! Die deutsche Wirtschaft verkaufte 2014 Waren
und Dienstleistungen im Wert von 190 Milliarden Euro
mehr ans Ausland,


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist ein großer Erfolg!)


als sie aus dem Ausland bezog. Das ist der viel gefeierte
Exportüberschuss, der manche mit großem Stolz erfüllt.


(Beifall des Abg. Max Straubinger [CDU/ CSU])


Was bedeutet das aber real? Sitzt Deutschland nun auf
einem großen Geldsack? Nein. Das bedeutet nur, dass
sich das Ausland bei Deutschland weiter verschuldet hat.
2014 lieh Deutschland dem Ausland weitere 190 Mil-
liarden Euro, um deutsche Waren zu kaufen. Der Geld-
sack besteht aus nichts anderem als aus Forderungen an
das Ausland.

Nimmt man den Leistungsbilanzüberschuss, in dem
zusätzlich Einkommens- und Vermögensübertragungen
berücksichtigt werden, hinzu, dann betrug der Über-
schuss im letzten Jahr sogar 220 Milliarden Euro. Selbst
das Riesenreich China kam nur auf 115 Milliarden Euro.
Auch das ist für einige vermeintlich ein großer Erfolg,
aber das hat nur die Verschuldung des Auslandes gegen-
über Deutschland erhöht.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das waren Arbeitsplätze!)


Seit dem Jahr 2000 haben sich die deutschen Export-
überschüsse auf mittlerweile 1,8 Billionen Euro sum-
miert, weil es seit 2000 kein einziges Jahr mit einem De-





Michael Schlecht


(A) (C)



(D)(B)

fizit gegeben hat. Am Ende dieses Jahres werden es
2 Billionen Euro sein. Das sind 2 000 Milliarden Euro,
die Deutschland ans Ausland verliehen hat, um seinen
Export zu finanzieren. Ursache für diese ungleiche Ent-
wicklung ist die desaströse Lohnentwicklung hier in
Deutschland. Im Vergleich zum Jahr 2000 sind die Real-
löhne heute kaum höher als damals. Das ist in allen an-
deren Ländern anders. Dort hat es zumindest halbwegs
anständige Lohnerhöhungen gegeben.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie steigen wieder!)


Die Binnennachfrage hier in Deutschland wurde in
diesen 15 Jahren stranguliert. Damit wuchsen die Im-
porte viel schwächer als die Exporte, die durch das
Lohndumping – vor allen Dingen in den Jahren 2000 bis
2010 – auch noch zusätzlich gestärkt worden sind. Des-
halb gibt es diese Auseinanderentwicklung.

Wie nachhaltig ist das Ganze?


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Sehr nachhaltig!)


Gar nicht. Wirtschaftsminister Gabriel – wir haben das
hier mehrfach erlebt – und andere halten Exportüber-
schüsse weiterhin für unverzichtbar. Das heißt nur, dass
erstens die Schulden des Auslandes bei uns dauerhaft
weiter gesteigert werden und dass er zweitens dem Aus-
land nie die Chance geben will, die Schulden, die es bei
uns hat, an uns zurückzuzahlen. Gabriel ist letztlich be-
reit, die Waren und Dienstleistungen im Wert von dem-
nächst 2 Billionen Euro dem Ausland eines Tages fak-
tisch zu schenken. Wenn es nämlich nie die Möglichkeit
gibt, dass das Ausland seine Schulden zurückzahlt, dann
wird es am Ende irgendeine Form von Schuldenstrei-
chung geben, und das ist nichts anderes, als dass man es
dem Ausland im Grunde genommen schenkt.

Damit dieser Handel vernünftig – ohne Schenkungs-
maßnahmen – funktioniert, müsste Deutschland eigent-
lich Defizite im Außenhandel machen, um die Verschul-
dung des Auslandes bei uns zu senken. Dann würde
endlich auch die Situation beendet, dass Deutschland un-
ter seinen Verhältnissen lebt. Das ist ja der eigentliche
Skandal, der mittlerweile kaum noch bekannt ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Die eigentlichen Ursachen für die Verschuldung –
zum Beispiel in Griechenland – liegen sehr deutlich bei
uns hier in Deutschland. Auch wenn die deutsche Regie-
rung den Griechen und anderen Sozial- und Lohnkür-
zungen ohne Ende aufherrscht, werden die Schulden die-
ser Länder damit nicht beseitigt. Notwendig ist ein Ende
der unfairen deutschen Wirtschaftspolitik, die mittler-
weile zuweilen imperialistische Züge trägt.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Übrigen verstößt die Bundesregierung mit dem
beständigen Leistungsbilanzüberschuss gegen deutsches
Gesetz. Das Stabilitätsgesetz von 1967 schreibt nämlich
einen langfristig ausgeglichenen Außenhandel vor. Die
damaligen Autoren – Schiller und Franz Josef Strauß,

(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist das!)


den manche von der rechten Seite hier ja kennen – ver-
standen damals noch etwas von Wirtschaft.


(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang StrengmannKuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das sind Kenntnisse, die auf der rechten Seite des Hau-
ses mittlerweile in weiten Teilen verloren gegangen sind.

Dabei wäre die Lösung so einfach: massive Reallohn-
erhöhungen durch Stärkung der Gewerkschaften, bessere
Bedingungen für Tarifauseinandersetzungen, Verbot der
Leiharbeit und massives Zurückdrängen des Miss-
brauchs von Werkverträgen und der Befristungen. Es ist
nämlich vollkommen klar: Mit Menschen, die unter sol-
chen Verhältnissen arbeiten müssen, lassen sich keine
besonders guten Streiks führen oder zumindest Streik-
drohungen aufbauen, die eine Voraussetzung für ver-
nünftige Lohnerhöhungen sind.


(Beifall bei der LINKEN)


Mit einem massiven Investitionsprogramm von
100 Milliarden Euro könnten öffentliche Investitionen
zur Stärkung der Binnennachfrage durchgeführt werden.
Dazu gehört im Übrigen auch, dass in den Auseinander-
setzungen um die Erzieher und Sozialberufe den Kolle-
ginnen und Kollegen in diesen Berufen eine deutliche
Aufwertung ihrer Arbeit zugestanden wird.

Das alles stützt die Konjunktur, schafft Jobs, macht
Menschen wohlhabender, steigert die Importe und besei-
tigt auf Dauer den unhaltbaren Zustand, dass Deutsch-
land den Banker der Welt spielt, was immer mit der Ge-
fahr verbunden ist, dass das Geld nicht zurückgezahlt
wird und praktisch alles verschenkt wird.

Kommt es nicht zu einer Umkehr, dann wird der Tag
kommen, an dem die anderen Länder aufwachen, sich
wehren und eines Tages eine Troika einsetzen, die die
Aufgabe haben wird, die deutsche Wirtschaftspolitik zu
überwachen, damit in Deutschland der verheerende Au-
ßenhandelsüberschuss endlich durch eine massive Stär-
kung der Binnennachfrage abgebaut wird.

Aber so weit muss es nicht kommen. Es besteht die
Chance, dass es vorher ein Einsehen gibt und es zu einer
anderen Wirtschaftspolitik kommt. Wir werden uns je-
denfalls nach wie vor massiv dafür einsetzen.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810918400

Vielen Dank, Herr Kollege Schlecht. – Nächster Red-

ner in der Debatte: Dr. Andreas Lenz für die CDU/CSU-
Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Andreas Lenz (CSU):
Rede ID: ID1810918500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Schlecht, die gute Nachricht zu Beginn Ihrer Rede: Die





Dr. Andreas Lenz


(A) (C)



(D)(B)

Daten, die Zahlen und Fakten, die Sie genannt haben,
stimmen. Die Einordnung fällt aber etwas unterschied-
lich aus.

Sie als Linke fordern in Ihrem Antrag: Exportüber-
schüsse abbauen. Die deutschen Außenhandelsüber-
schüsse führen laut Ihrem Antrag zu einer beständig an-
wachsenden Verschuldung anderer Länder, insbesondere
der Euro-Partner. Lassen Sie mich eines gleich zu Be-
ginn sagen: Für die Staatsverschuldung eines Landes ist
immer nur die jeweilige Regierung verantwortlich und
sonst niemand.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat gar nicht von Staatsverschuldung geredet!)


Unsere Außenhandelsüberschüsse sind ein Zeichen
der hohen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirt-
schaft. Sie kritisieren dies. Deutsche Unternehmen, da-
runter zahlreiche kleine und mittelständische Unterneh-
men, sind in vielen Bereichen Weltmarktführer, und
zwar nicht wegen ihres angeblichen Lohndumpings,
sondern wegen ihrer qualitativ hochwertigen Produkte.
Darauf können wir stolz sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Von der deutschen Wettbewerbsfähigkeit profitieren
im Übrigen auch die anderen EU-Länder. 58 Prozent al-
ler deutschen Importe stammen aus den EU-Mitglied-
staaten. Das schafft Beschäftigung und Wohlstand nicht
nur bei uns, sondern auch in den anderen EU-Ländern.
Es lässt sich überdies feststellen, dass der Anteil der
deutschen Exporte an Länder außerhalb der Euro-Zone
zunehmend wächst. So beträgt der Anteil der Handels-
überschüsse außerhalb der Euro-Zone 156 Milliarden
Euro, also 72 Prozent. Es schadet also nicht, auch hier
eine europäische Perspektive einzunehmen. Die Euro-
Zone als Ganzes betrachtet konnte sogar einen Handels-
bilanzüberschuss erzielen.

Es muss auch noch einmal betont werden, dass die
Kommission für Deutschland gerade keine zukunfts-
und stabilitätsgefährdenden Ungleichgewichte festge-
stellt hat. Deutschland hat 2014 einen Handelsbilanz-
überschuss von 7,7 Prozent. Der Grenzwert liegt bei
6 Prozent.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was heißt Überschuss? Deutschland verstößt gegen Kriterien der Europäischen Union!)


Es handelt sich laut Kommission zwar um Ungleichge-
wichte, aber nicht um exzessive Ungleichgewichte.

Sie fragen zudem in Ihrem Antrag, warum die Kom-
mission Außenhandelsdefizite anders behandelt als
Überschüsse. Das liegt daran, meine Damen und Herren,
dass das eine Überschüsse und das andere Defizite sind.
Im Übrigen wäre es wohl besser, die Maastricht-Krite-
rien strenger zu überprüfen, als sich auf außenwirtschaft-
liche Ungleichgewichte zu fokussieren. Sie meinen – so
heißt es wörtlich in Ihrem Antrag –, dass der deutsche
Außenhandelsüberschuss die zentrale Ursache für die
anhaltende Euro-Krise sei. Das kann doch nicht Ihr Ernst
sein. Hier verkennen Sie wieder einmal ganz gehörig Ur-
sache und Wirkung.

Die Staatsschuldenkrise in einigen Ländern des Euro-
Raums ist hausgemacht. Strukturreformen und Eigenver-
antwortung sind der Schlüssel zur Überwindung der
Krise. Gerade die EZB-Politik, also auch die solidari-
sche Haltung der Euro-Partner und die Euro-Rettungs-
politik, trägt im Übrigen massiv zur Erhöhung des deut-
schen Außenhandelsüberschusses bei.

Der Euro verlor durch die EZB-Zinspolitik im letzten
Jahr über 10 Prozent seines Wertes. Dadurch wird natür-
lich die Preisattraktivität deutscher Waren im Ausland
gesteigert. Ebenso trägt der niedrige Ölpreis zu geringe-
ren Importausgaben und dadurch natürlich auch zu höhe-
ren Überschüssen bei.

Das Jahresgutachten des Sachverständigenrates zur
Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage betont
im Übrigen ausdrücklich, dass keine Maßnahmen ergrif-
fen werden sollten, die allein darauf abzielen, den deut-
schen Leistungsbilanzüberschuss zu reduzieren. Vielleicht
lesen Sie sich das auch einmal durch. Sie schreiben – und
Sie sagten es auch gerade –, dass Deutschland gegen das
Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums
der Wirtschaft von 1967 verstößt. Professor Feld, Leiter
des Walter-Eucken-Instituts an der Uni Freiburg, wähnt
hingegen Deutschland so nah am magischen Viereck aus
hoher Beschäftigung, angemessenem Wirtschaftswachs-
tum, stabilem Preisniveau und außenwirtschaftlichem
Gleichgewicht wie noch nie in der Geschichte der Bun-
desrepublik. Es handelt sich also wieder einmal um ei-
nen Versuch der Geschichtsfälschung durch Sie.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach Quatsch! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben selbst gesagt, dass es über 7 Prozent sind!)


Sie bemängeln in Ihrem Antrag die zu geringe Bin-
nennachfrage. Wir hatten 2014 einen Bruttolohnzu-
wachs von 3,2 Prozent und einen Reallohnzuwachs von
1,6 Prozent. Das ist die größte Zunahme seit 2010. Auch
die verfügbaren Einkommen sind erheblich gestiegen.
Die Zahl der Beschäftigten steigt in 2015 voraussichtlich
um 170 000. Damit stehen wir vor einem erneuten Be-
schäftigungsrekord. 2015 werden 42,8 Millionen Men-
schen erwerbstätig sein. Das sind so viele wie noch nie
in der Geschichte der Bundesrepublik. Auch darauf kön-
nen wir stolz sein.

Mehr als 3,5 Millionen Menschen haben seit 2005 ei-
nen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz aufge-
nommen. Deutschland hat im Hinblick auf die Europa-
2020-Ziele in den Bereichen Beschäftigung, Bildung
und Armutsbekämpfung alle Zielwerte übererfüllt. So
lag die Erwerbstätigenquote für die 20- bis 64-Jährigen
mit 78,1 Prozent in 2004 deutlich über der Zielmarke
von 75 Prozent. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist
zwischen 2008 und 2012 um 40 Prozent gesunken. Be-
sonders stark stieg dabei der Anteil der Beschäftigung
von ausländischen Mitbürgern. Diese trugen im letzten





Dr. Andreas Lenz


(A) (C)



(D)(B)

Jahr zu annähernd 40 Prozent des Beschäftigungswachs-
tums bei, im Übrigen ganz ohne Einwanderungsgesetz.

Für dieses Jobwunder brauchen wir auch weiterhin ei-
nen flexiblen und aufnahmefähigen Arbeitsmarkt. Trotz
der hohen Flexibilität unseres Arbeitsmarktes stieg das
Vertrauen in die Jobsicherheit auf ein Rekordniveau.
91 Prozent der Arbeitnehmer halten ihren Arbeitsplatz
für sicher. Flexibilität und Vertrauen müssen also kein
Gegensatz sein. Mit Ihrem Antrag würden wir all das für
die Menschen in Deutschland Erreichte aufs Spiel set-
zen. Deshalb lehnen wir ihn ab.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810918600

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat

Dr. Strengmann-Kuhn von der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist wirklich erschreckend, wie stark die wirtschaftli-
che Kompetenz der Union in den vergangenen Jahren
gesunken ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Zurufe von der CDU/ CSU: Oh!)


Ich habe selten so viel ökonomischen Unsinn in einer
Rede gehört wie gerade eben. Deswegen will ich versu-
chen, das Problem der außenwirtschaftlichen Ungleich-
gewichte zu beschreiben.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Entwicklungshilfe ist das jetzt! – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Die verstehen das nicht!)


In der Tat steht es ja nicht grundlos im Stabilitäts- und
Wachstumsgesetz der damaligen Großen Koalition.

Man muss sich vorstellen, was passiert, wenn man
permanent mehr produziert als konsumiert – das heißt
außenwirtschaftliches Ungleichgewicht –, für eine Firma,
für eine Person oder für einen Landwirt. Es ist ökono-
misch nicht gesund, wenn man mehr produziert, als man
selber konsumieren kann. Man scheffelt immer nur mehr
Vermögen, aber das macht nur dann Sinn, wenn man das
Vermögen irgendwann wieder aufbraucht und in Kon-
sum umsetzt. Dauerhafter Überschuss ist ökonomisch
nicht sinnvoll, und er ist nicht gut für eine Volkswirt-
schaft. Das sollten Sie einsehen.

Der zweite Punkt ist, dass man auch die andere Seite
betrachten muss. Wenn wir einen Überschuss haben,
dann geht es rechnerisch gar nicht anders, als dass es auf
der anderen Seite ein genauso hohes Defizit gibt. Des-
wegen müssten in der Europäischen Union die Grenzen
für Überschuss und Defizit eigentlich gleich hoch sein,
weil es rein rechnerisch auch das Gleiche ist. Aber mit
dem Rechnen haben Sie offensichtlich Schwierigkeiten.

Weil Vermögen auf der einen Seite immer das Defizit
auf der anderen Seite ist, bedeutet das: Wenn wir hier
Vermögen aufbauen und dafür bei den anderen ein Defi-
zit entsteht, also mehr konsumiert als produziert würde,
dann ist das ein Problem, das Sie auch mit Blick auf
Griechenland kritisieren. Die Menschen in Griechenland
haben über ihre Verhältnisse gelebt, während wir unter
unseren Verhältnissen gelebt haben. Die Folge eines De-
fizits ist Verschuldung. Unsere Güter werden dadurch
bezahlt, dass anderswo Schulden aufgehäuft werden. In-
sofern hat Herr Schlecht recht, wenn er sagt, dass dies
eine der Ursachen der Krise ist, in der wir uns im Mo-
ment befinden.

Auf diese Problematik haben wir schon des Öfteren in
Anträgen hingewiesen. Ich muss allerdings sagen, dass
ein reiner Fokus auf die Löhne zu einfach ist.


(Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Der erste Weg zur Erkenntnis!)


Die Betrachtung muss hier breiter ausfallen. Es ist si-
cherlich richtig: Die Ausweitung des Niedriglohnsektors
ist ein Problem. Das war zwar ein Ziel der Agenda 2010.
Aber man muss deutlich sagen: Das war ein Fehler.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das ist, wie gesagt, nur eine von mehreren Ursachen.

Im Zusammenhang mit der Agenda 2010 sage ich:
Die Flexibilisierung war durchaus richtig. Viele wichtige
Leute in der Fraktion, etwa der damalige sozialpolitische
Sprecher, der vorne sitzt, haben schon damals einen
Mindestlohn gefordert. Der damalige Umweltminister
hatte parallel zur Einführung der Agenda 2010 einen
Mindestlohn gefordert. Auch unser Parteivorsitzender in
der Zeit der rot-grünen Regierung, Reinhard Bütikofer,
hat damals einen Mindestlohn gefordert. Das wäre eine
notwendige flankierende Maßnahme zur Agenda 2010
gewesen.

Auch bei der Deregulierung sind wir ein Stück zu
weit gegangen. Wir haben in den letzten Jahren viele
Vorschläge vorgelegt, wie man diese Deregulierung
nicht komplett zurückdreht, sondern sie verbessert. Des-
wegen haben wir sowohl die Einführung des Mindest-
lohns als auch das Tarifautonomiestärkungsgesetz unter-
stützt. Das waren beides Forderungen, die wir seit Jahren
erheben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind dabei noch lange nicht am Ende. Wir sind
für die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung. Wir
sind für Maßnahmen gegen den Missbrauch von Werk-
verträgen. Aber am Beispiel Leiharbeit kann man den
Unterschied zwischen uns Grünen und Ihnen von der
Linksfraktion deutlich machen.

Wir halten die Leiharbeit für ein wichtiges Instru-
ment, um den Unternehmen mehr Flexibilität zu ermög-
lichen. Sie wollen die Leiharbeit abschaffen. Wir wollen
Flexibilität ermöglichen. Gleichzeitig aber müssen Leih-





Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(A) (C)



(D)(B)

arbeiter fair bezahlt werden. Das heißt Equal Pay ab dem
ersten Tag, nicht erst, wie es die Große Koalition vorhat,
nach neun Monaten. Equal Pay muss ab dem ersten Tag
gelten, verbunden mit dem Flexibilitätsbonus. Dann
wäre es ein vernünftiges und flexibles Instrument mit
entsprechender sozialer Sicherheit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es fehlen in Ihrem Antrag ganz viele wichtige Punkte.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810918700

Herr Strengmann-Kuhn, lassen Sie eine Zwischen-

frage zu?


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ja, gerne.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810918800

Bitte.


Alexander Ulrich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810918900

Herr Kollege Strengmann-Kuhn, Sie haben eben am

Beispiel Leiharbeit den Unterschied zwischen Bünd-
nis 90/Die Grünen und der Linken dargestellt. Ich frage
Sie: Worin bestünde denn der Unterschied zwischen uns,
wenn all das, was Sie als Vorteil bezeichnen, durch sach-
lich begründete Befristungen möglich wäre? Läge dann
nicht der Unterschied darin, dass diejenigen, die unter ei-
nen Tarifvertrag fielen, eine vernünftige, gleiche Bezah-
lung erhielten?


(Beifall bei der LINKEN – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso? Gleiche Bezahlung bei Equal Pay haben wir auch!)



(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich möchte jetzt ein Stück weit grundsätzlich werden.
Erinnern wir uns an den Arbeitsmarkt in Deutschland
vor 15 oder 20 Jahren. Dieser Arbeitsmarkt war einer der
am stärksten regulierten Märkte in Europa mit den ent-
sprechenden Problemen. Deswegen war, wie gesagt, die
Flexibilisierung an dieser Stelle richtig. Es war auch ver-
nünftig, verschiedene Möglichkeiten der Flexibilisie-
rung einzuführen. Das gilt auch für Befristungen, die un-
seres Erachtens begründet werden müssen. Deswegen
fordern wir die Abschaffung der sachgrundlosen Befris-
tung.

Auch die Leiharbeit kann sowohl für die Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer als auch für die Unterneh-
men eine gute Wahl sein. Das hängt von der ökonomi-
schen Situation und auch von der Person ab. Es gibt
durchaus Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer, ins-
besondere besser verdienende – das gebe ich zu –, die es
sehr sinnvoll und auch spannend finden, in verschiede-
nen Betrieben zu arbeiten. Wie gesagt, diese Tätigkeit
muss dann auch entsprechend bezahlt werden. Weil das
eher eine höhere Qualifikation erfordert, sagen wir, dass
es an dieser Stelle einen Flexibilitätsbonus geben
müsste.
Nun zu den Punkten, die in Ihrem Antrag fehlen. Da
meine Redezeit langsam abläuft, kann ich nur noch
Stichworte nennen.

Wenn wir die Exportüberschüsse abbauen wollen,
dann heißt das nicht, dass wir die Exporte reduzieren
wollen, sondern wir wollen die Importe steigern. Das
heißt, wir brauchen Umverteilung und in der Tat mehr
Nachfrage. Das betrifft aber nicht nur die Löhne, son-
dern wir müssen insbesondere geringe Einkommen stär-
ken durch bessere Armutsbekämpfung. Wir müssen die
Grundsicherung verbessern, wir müssen den Regelsatz
erhöhen, und wir müssen die Kinderarmut bekämpfen.
Es ist ein Skandal, dass Kinder bei uns immer noch ein
Armutsrisiko sind. Wir müssen dafür sorgen, dass so-
wohl abhängig Beschäftigte als auch Selbstständige von
ihrer Arbeit leben können. Das sind Punkte, die neben
der Lohnarbeit bewirken, dass durch sie die Nachfrage
steigen würde.

Wir müssen auf der anderen Seite auch eine Umver-
teilung am oberen Ende der Skala betrachten. Wir müs-
sen vor allen Dingen hohe Vermögen stärker besteuern.
Was in Ihrem Antrag komplett fehlt, ist die europäische
Ebene. Darüber könnte ich weitere fünf bis zehn Minu-
ten reden. Wir brauchen eine europäische Koordinierung
der Wirtschafts- und Lohnpolitik. Das Europäische Se-
mester und die Punkte, die darin schon enthalten sind
und noch verbessert werden könnten, fehlen in Ihrem
Antrag komplett. Darüber könnte man noch lange reden.

Wenn man dies zusammenfasst, dann würde ich sa-
gen: Die Probleme sind durchaus richtig beschrieben,
die Forderungen in Ihrem Antrag sind aber völlig platt.
Teilweise wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810919000

Herr Strengmann-Kuhn, Sie müssen zum Schluss

kommen.


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zentrale Punkte fehlen. So wird das noch nichts mit
der Regierungsfähigkeit, aber das kommt vielleicht
noch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810919100

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Dr. Hans-

Joachim Schabedoth von der SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD):
Rede ID: ID1810919200

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine lieben Kolle-

ginnen und Kollegen! Stellen Sie sich einmal folgende
Szene vor: Das Kind kommt mit dem Stolz aus der
Schule heim, die beste Klassenarbeit geschrieben zu ha-
ben, doch die Eltern wollen diesen Stolz nicht teilen. Sie
beklagen auch noch, das eigene Kind habe durch seine
Spitzenleistung die Messlatte für die Arbeitsleistung al-
ler anderen nach oben verschoben.





Dr. Hans-Joachim Schabedoth


(A) (C)



(D)(B)

Nach der Lektüre des vorliegenden Antrags der
Linkspartei frage ich mich: Hatten Sie solche Eltern?


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der LINKEN)


– Trotzdem, damit müssen Sie fertigwerden. – Ihre
Sorge finde ich schon ein wenig verwunderlich. Warum
sind es ausgerechnet die Exporterfolge der deutschen
Wirtschaft, die Sie heute zum Anlass nehmen, um Ihre
im Parlamentswochenrhythmus übliche Alarmismussi-
rene erschrillen zu lassen? Was stört Sie an den deut-
schen Exporterfolgen? Sie behaupten, diese Export-
überschüsse seien maßgeblich auf das Lohndumping in
Deutschland zurückzuführen. Das ist nicht nur ein
schlechtes Argument, das ist ein sehr schlechtes Argu-
ment. Das kann man nicht ernst nehmen, und Sie werden
sich schon fragen lassen müssen, ob Sie noch recht bei
Trost sind, wenn Sie mit abgebauten Exportüberschüs-
sen eine Wende in der Lohnpolitik einleiten wollen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Eine solche Wende gäbe es tatsächlich, und zwar Rich-
tung Südpol.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: IG Metall! Mamma mia!)


Die deutsche Wettbewerbsfähigkeit beruht keines-
wegs auf Lohndumping. Wer das sagt, der erzählt Un-
sinn. Gerade die Arbeitskosten in der Exportindustrie
liegen in der Spitzengruppe. Die Löhne tun dies auch.
Die deutschen Exporterfolge erklären sich durch die Fä-
higkeit, im Qualitätswettbewerb mit den Konkurrenten
besser zu sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Spezialisierte Kundenwünsche können passgenauer er-
füllt werden. Im globalen Innovationswettbewerb ver-
fügt die deutsche Wirtschaft über eine fast einmalige
Basis an gut ausgebildeten Fachkräften. Wir haben in
Deutschland eine breit aufgestellte, mittelständisch ge-
prägte Produktionsbasis, die im internationalen Wettbe-
werb ihre Innovationsführerschaft und ihre Einzigartig-
keit bislang noch – ich komme noch darauf zurück –
behaupten konnte.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Deshalb werden gerade in der deutschen exportorientier-
ten Industrie Spitzeneinkommen gezahlt, die sich auch
im europäischen Vergleich sehen lassen können. Wieso
reden Sie hier von Billiglöhnen? Von Billiglöhnen zu
sprechen, ist wirklich dummes Zeug, oder – wenn Sie es
höflicher haben wollen – kontrafaktisch.

Ich kann den Antragstellern nur in einem Punkt fol-
gen. Es wäre in der Tat keine gute Situation, wenn sich
der Wohlstand eines Landes auf Dauer nur auf seine
Exporterfolge stützen würde. Stabiles Wachstum und
nachhaltige Sicherung des sozialen Fortschritts sowie
der ökonomischen und ökologischen Erfolge kann es
ohne eine Vitalisierung der Binnennachfrage und hinrei-
chende Investitionen in die soziale und die industrielle
Infrastruktur nicht geben. Das ist relativ unstrittig. Der
Antrag der Linksfraktion liefert dazu keine Offenbarung,
sondern strapaziert eine Binsenweisheit, die zudem mit
mangelhaften Schlussfolgerungen behaftet ist. Sie bieten
uns nichts, was uns in der Sache weiterhelfen könnte. Sie
können doch nicht wirklich erwarten, dass deutsche
Politiker dazu aufrufen: Völker dieser Welt, kauft weni-
ger Güter aus deutscher Produktion und deutsche Dienst-
leistungen, damit unsere Handelsbilanz wieder in Ord-
nung kommt.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Verkauft uns mehr!)


Sollen wir denn dem deutschen Konsumenten wirklich
empfehlen, statt Autos aus der inländischen Produktion
lieber die Wagen aus China, Indien oder Griechenland zu
kaufen?

Wenn sich die deutschen Exporterlöse vermindern,
weil beispielsweise die Sanktionen gegen Russland grei-
fen, dann mag das noch in Ihr falsches Konzept passen;
denn auch das verändert die Handelsbilanz. Aber was Ihr
Votum zur Steigerung der Binnennachfrage betrifft, hät-
ten Sie Ihre Argumente aus schwarz-gelben Regierungs-
zeiten besser den Realitäten von heute angepasst.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810919300

Herr Schabedoth, lassen Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Ernst zu? – Ich will in diesem Zusammenhang
nur darauf hinweisen, dass nach jetzigem Stand die De-
battenzeit bis 23 Uhr dauert. Ich bitte, das ein bisschen
im Blick zu haben, wenn es um die Entscheidung geht,
ob eine Zwischenfrage gestellt werden soll oder nicht.
Ich glaube, es wäre nicht gut, wenn wir hier um 23 Uhr
mit nur noch vier oder fünf Kollegen sitzen würden. Ich
bitte, das ein bisschen im Blick zu haben.


Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD):
Rede ID: ID1810919400

Bei meiner Debattenzeit liege ich bei fünf Minuten.

Ich will die mir verbleibenden sechs Minuten nicht ganz
ausschöpfen.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810919500

Dann lassen Sie es.


Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD):
Rede ID: ID1810919600

Aber vielleicht provoziert mich Herr Ernst dazu,

meine gesamte verbleibende Redezeit in Anspruch zu
nehmen.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810919700

Herr Ernst.


Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810919800

Lieber Achim, da wir uns 30 Jahre kennen, bleibe ich

beim Du. Vorhin wurde das Stabilitätsgesetz erwähnt.
Dieses Gesetz wurde damals nicht von den Linken im
Bundestag beschlossen – wir waren damals gar nicht da-





Klaus Ernst


(A) (C)



(D)(B)

bei –, sondern von den Sozialdemokraten und der CDU/
CSU einschließlich Herrn Strauß, die offensichtlich in
Kenntnis dessen, was ökonomische Ungleichgewichte
weltweit und für das jeweilige Land bedeuten, zu dem
Ergebnis gekommen sind: Es ist Ziel staatlicher Wirt-
schaftspolitik, ausgeglichene Handelsbilanzen zu errei-
chen. – So steht es in diesem Gesetz. Waren all diejeni-
gen, die das Gesetz beschlossen haben, nach deiner
Ansicht Trottel? Genau das schließe ich aus deinem Dis-
kussionsbeitrag.

Dass in der Exportindustrie die höchsten Löhne ge-
zahlt werden, ist sicherlich unstrittig; so schlau sind wir
auch. Aber die Lohnentwicklung in der Bundesrepublik
Deutschland hat nach 14 Jahren Stagnation letztendlich
dazu beigetragen, dass die Binnennachfrage so gering
war, dass wir weniger im Ausland kaufen konnten und
die Defizite der anderen Länder verursacht haben. Ein
außenhandelswirtschaftliches Gleichgewicht bedeutet
doch, dass man so viel importiert, wie man exportiert;
das gilt auch für die Leistungsbilanz. Genau das findet in
der Bundesrepublik Deutschland nicht statt. Angesichts
dessen könnte man zu dem Ergebnis kommen – genau
das hat der Kollege Schlecht angesprochen –, dass wir
unsere Importe durch eine entsprechende Lohnpolitik so
weit befördern müssen, dass wir wieder zu einem wirt-
schaftlichen Gleichgewicht kommen. Oder bist du der
Auffassung, dass dieses Ziel im Stabilitätsgesetz über
Bord geworfen werden muss? Dann würde ich die Re-
gierung aber bitten, ein entsprechendes Gesetz einzu-
bringen; denn noch gilt das Stabilitätsgesetz.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD):
Rede ID: ID1810919900

Kollege Ernst, das Stabilitätsgesetz enthält mehrere

Komponenten. Dort steht unter anderem, dass die staatli-
che Politik Sorge tragen muss, dass Vollbeschäftigung


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Preisstabilität!)


und eine auskömmliche Preisstabilität herrschen. Das al-
les muss man miteinander verbinden. Das macht die
Kunst des Regierens aus. Dass man bei einem Parameter
unter der Zielmarke liegt und bei einem anderen Parame-
ter darüber, ergibt sich aus der Dynamik des sogenann-
ten magischen Vierecks. Ausgerechnet Sie thematisieren
zwar die Leistungsüberschüsse, nicht aber die Tatsache,
dass es noch immer 2 Millionen Arbeitslose gibt. Das
verwundert mich; denn unsere Leistungen auf dem Ar-
beitsmarkt hängen auch damit zusammen, dass die Wa-
ren, die wir produzieren, internationale Wertschätzung
erfahren. So werden die Kapazitäten der deutschen Wirt-
schaft ausgelastet und Arbeitsplätze in unserem Land ge-
sichert. – Wenn Sie sich wieder hinsetzen, kann ich noch
weitere Ausführungen dazu machen. Ich habe noch vier
Minuten Redezeit.

Kollege Ernst und alle, die zuhören: Starke Gewerk-
schaften und einsichtsvolle Arbeitgeber haben mit ihren
letzten Lohnabschlüssen der Binnenkonjunktur erhebli-
chen Auftrieb verschafft. Das kann man doch wohl sa-
gen. Das relativ stabile Preisniveau hat die Massenein-
kommen noch nachfragewirksamer gemacht. Man mag
es für ökologisch bedenklich halten, aber die gesenkten
Ausgaben für unsere Importe von Erdöl haben die Bin-
nennachfrage zusätzlich belebt, aber die Bilanz ver-
schlechtert.

Nicht zuletzt hat der von uns realisierte Mindestlohn
Millionen Menschen in diesem Jahr die größte Einkom-
mensverbesserung ihres bisherigen Berufslebens ge-
bracht. Was das millionenfach für den Binnenmarkt be-
deutet, dazu will ich nicht wiederholen, was von
sozialdemokratischer Seite schon bei vielen anderen De-
battenanlässen gesagt worden ist.

Aber noch ein Wort zur Belebung der öffentlichen In-
vestitionstätigkeit. Auch in dieser Beziehung gilt eigent-
lich nie: Genug ist genug. Man kann immer noch mehr
tun. Aber was schon getan worden ist, ist mehr als nichts
und kann sich jedenfalls sehen lassen. Kritik scheint mir
hier nur ratsam, wenn es nach dem Muster geht: Das
noch Bessere ist stets der Feind des schon Guten. Das
gilt im Übrigen auch für die Einkommen der abhängig
Beschäftigten. Sie verdienen wirklich jeden Euro mehr.
Aber – das ist meine Mahnung an die Linkspartei – über-
lassen wir es doch weiterhin den Tarifvertragsparteien,
dazu das richtige Maß von Branche zu Branche zu fin-
den.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich vertraue hier
den Tarifvertragspartnern und ihrer Regulierungskompe-
tenz mehr als jeder Beschlussvorlage der Linkspartei.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Du warst auch schon klüger!)


Was an rechtlichen Rahmensetzungen notwendig ist,
um die Tarifbindung zu sichern, das werden wir immer
wieder gerne, auch ohne Ihre Mahnung, auf die Höhe der
Zeit bringen. Vergessen Sie nicht: Jedes Mehr an Ein-
kommen muss irgendwann einmal verdient oder umver-
teilt werden – das ist alles nicht so einfach –, bevor es
nachfragewirksam werden kann und vielleicht auch
– auch das ist kein Gesetz – importstimulierend zur Gel-
tung kommen könnte.

Der vorliegende Antrag und seine Begründung igno-
rieren, dass über deutsche Wettbewerbsfähigkeit und
Arbeitsplatzsicherheit nicht im Kosten-, sondern im
Qualitätswettbewerb entschieden wird. Jeder deutsche
Exportverlust schlägt in der europäisch verflochtenen
Wirtschaft auf die europäischen Partner zurück. Die
Wende in der Lohnpolitik ließe sich dann wohl noch
schwerer realisieren.

Die eigentlichen Gefahren für den deutschen und eu-
ropäischen Wohlstand sowie für außenwirtschaftliche
Stabilität verkennen Sie. Die liegen darin, dass wir geo-
politische Unsicherheiten haben. Das Welthandelsvolu-
men ist schon seit Anfang dieses Jahres reduziert. Die
Bremsspuren merken Sie auch beim deutschen Export.
Das ist keine gute Entwicklung. Die von Ihnen so vehe-
ment kritisierte aktuelle Exportstärke ergibt sich nie im
Selbstlauf.





Dr. Hans-Joachim Schabedoth


(A) (C)



(D)(B)

Dazu will ich noch einen Gedanken äußern. Die ein-
zigartige deutsche Wertschöpfungskette zwischen tradi-
tionsreichen und zugleich modernen, wissensbasierten
Industrien könnte zerreißen. Statt uns über aktuelle Ex-
porterfolge aufzuregen, sollten wir doch lieber gemein-
sam darüber nachdenken, wie wir durch das staatliche
Engagement, am besten in europäischen Absprachen, die
deutsche Leistungsfähigkeit bei der Energiewende aus-
bauen und besser nutzen können.

Es stellt sich auch die Frage: Was muss heute getan
werden, um die ökologische und soziale Nachhaltigkeit
der industriellen Produktion zu fördern und zu verbes-
sern? Wirtschaftsminister Gabriel muss man dabei nicht
zum Jagen tragen. Das wäre auch etwas schwer.


(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Er hat zusammen mit den Industriegewerkschaften und
den Wirtschaftsverbänden ein Bündnis für Industrie ins
Leben gerufen. Ziel dieses Bündnisses ist es, die Wand-
lungsprozesse der modernen Arbeitswelt so zu fördern
und zu gestalten, dass gutes Arbeiten und gutes Leben
ein festes Fundament finden, statt zu erodieren. Allen
Akteuren ist dabei hoffentlich vor Augen, dass das auch
mehr Teilhabe der abhängig Beschäftigten an den Ent-
scheidungsprozessen und an den Produktionsergebnis-
sen bedeutet.

Noch hat die deutsche Industrie beste Voraussetzun-
gen, den Klimawandel zu bewältigen, Energie- und Res-
sourceneffizienz zu steigern, moderne Übertragungs-
netze und Infrastrukturen aufzubauen und die gesamte
Industriestruktur ökologisch und zukunftstauglich zu
machen. Noch ist die deutsche Industrie in der Poleposi-
tion bei der Nutzung der Chancen, die uns mit der weite-
ren Digitalisierung bei der Produktion von Gütern und
Dienstleistungen ins Haus stehen. Die aufgelaufenen In-
vestitionsdefizite, die wir alle miteinander zu Recht be-
klagen, könnten durch nachholendes Engagement noch
ausgeglichen werden.

Das Ziel, bei der Elektromobilität Antreiber statt Ge-
triebener zu sein, ist immer noch erreichbar – noch. Wer
die Arbeitsplätze von morgen sichern will, wer ökono-
mische mit sozialen und ökologischen Fortschritten ver-
binden will, der sollte besser nicht über die Exporter-
folge der deutschen Wirtschaft jammern. Stattdessen
sollten wir alles tun, um unsere wirtschaftliche Leis-
tungsfähigkeit zu erhalten,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


und das nicht nur, um tatsächlich eine Wende in der
Lohnpolitik zu ermöglichen, sondern auch, um die euro-
päische Wirtschaft zu stärken – das hängt auch damit zu-
sammen – und in der globalen Wirtschaft als sozial ver-
antwortlicher Akteur gefragt und geschätzt zu bleiben.
Diese Chance haben wir.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810920000

Vielen Dank. – Als letzter Redner in dieser Debatte

hat Andreas Lämmel von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.


(Michael Schlecht [DIE LINKE]: Das ist der Wirtschaftsexperte!)



Andreas G. Lämmel (CDU):
Rede ID: ID1810920100

Na ja, Herr Schlecht, zumindest habe ich noch keinen

Kontakt zur Staatlichen Plankommission gehabt, wo Sie
Ihren Vortrag vielleicht hätten halten können. – Frau
Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Der Kollege Schabedoth hat es eigentlich schon deutlich
gemacht: Deutschland ist wieder Exportweltmeister. Das
ist eine Leistung, auf die wir stolz sein können. Das ist
eine Leistung der deutschen Wirtschaft. Daran gibt es
erst einmal überhaupt nichts schlechtzureden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Man darf nicht vergessen: 25 Prozent aller Arbeits-
plätze in Deutschland hängen vom Export ab, Herr
Schlecht. Wenn Sie den Export jetzt sozusagen künstlich
zurückschrauben wollen, dann müssen Sie eben auch
den Arbeitnehmern klarmachen, dass ein paar weniger
von ihnen die Möglichkeit haben, arbeiten zu gehen,
weswegen sie zu Empfängern staatlicher Transferleis-
tungen werden. Es ist eine widersinnige Rechnung, die
Sie hier aufmachen.

340 000 Unternehmen in Deutschland exportieren.
Circa 680 000 Unternehmen in Deutschland importieren.
Man kann sehen: Das Exportgeschäft umfasst nicht bloß
zehn große Konzerne, sondern ist ein Qualitätsmerkmal
der breit aufgestellten deutschen Wirtschaft. Die Export-
quote unserer Produkte liegt bei ungefähr 40 Prozent.
Das heißt, 60 Prozent der bei uns hergestellten Produkte
werden im Inland verbraucht, 40 Prozent gehen ins Aus-
land.

Meine Damen und Herren, trotz dieser Exportstärke
und obwohl wir wieder Exportweltmeister sind, muss
man konstatieren: Der Anteil des deutschen Exports am
Welthandel ist rückläufig. Unser Anteil am Welthandel
liegt bei 7,8 Prozent, also bei knapp 8 Prozent. Das wa-
ren einmal über 11 Prozent, und zwar 1991. Das ist also
noch keine 25 Jahre her.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es hat sich in China etwas getan! Dass wir Exportweltmeister sind heißt ja nicht, dass wir der Überschussweltmeister sind!)


Man kann sehen: Das Handelsvolumen in der Welt ins-
gesamt dehnt sich immer mehr aus. Obwohl wir Export-
weltmeister sind, geht unser Anteil am Welthandel ins-
gesamt zurück.

Das Hauptproblem aus meiner Sicht ist eigentlich die
Statistik. Wie wird die Statistik denn aufgestellt? Darauf
sind Sie überhaupt nicht eingegangen, obwohl Sie mei-
nen, Sie seien Wirtschaftswissenschaftler, Herr Schlecht.
Sie wissen natürlich genau, dass die alte Exportstatistik
eine Statistik ist, die man vielleicht vor 40 Jahren erfun-





Andreas G. Lämmel


(A) (C)



(D)(B)

den hat, als man die Prozesse noch relativ genau be-
schreiben konnte. Heute gibt es verschiedene Effekte,
die in diese Statistik bisher überhaupt nicht eingegangen
sind.

Das ist zum einen der Globalisierungseffekt. Ich will
es einmal an dem sogenannten Veredelungseffekt deut-
lich machen. Deutschland kauft weltweit Rohstoffe, weil
es, wie Ihnen vielleicht bekannt ist, ein relativ rohstoff-
armes Land ist. Wir machen daraus Produkte, veredeln
diese Rohstoffe sozusagen und verkaufen natürlich zu
einem Preis, der höher ist als der, zu dem die Rohstoffe
eingekauft worden sind; denn diese Produkte sind ein
Ergebnis unserer gesamten Wertschöpfung. Schon gibt
es im Prinzip einen Exportüberschuss. So einfach ist die
Rechnung.

Ich komme auf den sogenannten Intra-Firm Trade zu
sprechen. Dabei geht es um die Verrechnung von Leis-
tungen innerhalb von Konzernen. Das wird ja am Bei-
spiel der Flugzeug- oder der Automobilindustrie ganz
besonders deutlich. Da werden im Prinzip innerhalb des
Konzerns Teile mehrmals über die Grenzen geschickt, in
verschiedenen Verarbeitungszuständen, in verschiede-
nen vormontierten Einheiten. Jedes Mal sind das Leis-
tungen, die in die Exportstatistik eingehen.

Der Witz an der ganzen Sache ist dann – das ist die
Grundlage für die statistische Berechnung –, dass in dem
Land, wo der letzte wesentliche Bearbeitungsgang er-
folgte, das Produkt zu 100 Prozent in die Statistik ein-
geht. In der Automobilproduktion geht sozusagen jedes
Fahrzeug, das beispielsweise in Wolfsburg fertiggestellt
wird – dabei ist es ganz egal, ob die Plattform aus Bratis-
lava geliefert wird, ob die Teile aus Mladá Boleslav oder
aus Spanien kommen –, letztendlich bei uns in die Statis-
tik ein. Schon allein an dieser Behandlung der Aus-
tauschprozesse zwischen den einzelnen Ländern können
Sie sehen, dass die Statistik in Wirklichkeit nur noch in
Teilen aussagekräftig ist.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist alles völlig irrelevant!)


Wenn Sie einmal weitergeschaut hätten, Herr Schlecht,
dann hätten auch Sie das festgestellt. Aber es geht Ihnen
ja nicht darum, eine sachliche Aufklärung zu betreiben,
sondern darum, Ihre Parolen zu verkaufen. Das hat Herr
Schabedoth eins a seziert. Daran konnte selbst Herr
Ernst mit seiner langen Frage nichts mehr ändern.

Handel führt insgesamt – es gilt ja, wie Sie wissen: ist
der Handel noch so klein, bringt er immer etwas ein – zu
steigendem Wohlstand in der Welt; das müssen wir erst
einmal festhalten. Deswegen sind wir natürlich auch
stark an weltweitem freien Handel interessiert.

Nun sagen Sie: Der Exportüberschuss ist maßgeblich
auf Lohndumping zurückzuführen. Herr Schabedoth hat
schon ausführlich darauf geantwortet. Ich will Ihnen ein-
mal sagen: 53 Prozent der Überschüsse in der Exportsta-
tistik entfallen auf fünf Länder. Welche sind das? Der
größte Exportüberschuss wird gegenüber der USA er-
wirtschaftet – eines der ärmsten Länder der Welt; die
werden an den Krediten, die sie uns da geben müssen,
fast pleitegehen. Dann kommen an zweiter Stelle das
Vereinigte Königreich, an dritter Stelle Frankreich und
an vierter Stelle Österreich. Die Vereinigten Arabischen
Emirate sind das Land mit dem fünfgrößten Exportdefi-
zit gegenüber Deutschland. Die Länder, die Sie uns ein-
reden wollen – Griechenland, Spanien und Portugal –,
fallen in der Exportstatistik überhaupt nicht ins Gewicht,
weil deren Handelsvolumen so gering ist. Weil die grie-
chische Wirtschaft so schwach ist, exportiert sie kaum.
Das ist doch ein Grund, warum in Griechenland der
Staatsbankrott vor der Tür steht. Wenn man sich mehr
leistet, als erwirtschaftet werden kann, dann kann man
das nur über Kredite finanzieren, aber nur so lange, wie
ihnen noch jemand etwas gibt. Insofern steht auch diese
Argumentation auf völlig wackligen Beinen.

Dann steht in Ihrem Antrag: „Es besteht dringender
Handlungsbedarf, die Überschüsse … zu reduzieren.“
Da kommen wir dann wieder auf die DDR. Das heißt
also, Sie wollen Quoten verordnen. Sie sagen dann den
340 000 exportierenden Betrieben: Ihr baut jetzt 10 Pro-
zent der Beschäftigten ab; denn ihr müsst euren Export
um 10 Prozent reduzieren. – Das ist doch die Logik, die
aus Ihrem Antrag resultiert. Das ist so absurd, dass man
nur sagen kann: Dass wir diese Anträge hier nun zum
wiederholten Mal diskutieren müssen, ist eigentlich ver-
tane Zeit.

Vielleicht ist Ihnen eines in der Exportstatistik auch
nicht aufgefallen: Wenn Sie sich die genau anschauen,
dann werden Sie feststellen, dass der Überschuss zum
Beispiel schon deswegen stark schwankt, weil den größ-
ten Posten in der Importstatistik Deutschlands die Ener-
gieimporte ausmachen, also Gas und Öl. Und mit jeder
Preisänderung, ohne dass sich da ganz grundsätzlich et-
was ändert, ändert sich zum Beispiel der importierte
Wert und der Überschuss wird größer oder kleiner. Inso-
fern ist dieser Antrag überflüssig,


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Hans-Joachim Schabedoth [SPD])


und wir brauchen, Herr Schlecht, das auch nicht zum
fünften Mal zu diskutieren.

Ich glaube, wir sind uns hier in der Koalition einig
– Herr Schabedoth hat es noch einmal deutlich gemacht –:
Wir sind stolz darauf, was in Deutschland geleistet wird,
und wir werden alles tun, damit diese Exportkraft erhal-
ten bleibt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810920200

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich

die Debatte.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4837 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall, und die Überweisung ist
so beschlossen.





Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung und Land-
wirtschaft (10. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und SPD

Gesunde Ernährung stärken – Lebensmit-
tel wertschätzen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Karin
Binder, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Gute Lebensmittel für eine gesunde Er-
nährung

– zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole
Maisch, Friedrich Ostendorff, Harald Ebner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gute Ernährung für alle

Drucksachen 18/3726, 18/3730, 18/3733,
18/5008

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in der
Aussprache hat die Kollegin Katharina Landgraf von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Warten Sie bitte noch einen Moment, bis alle Kolle-
ginnen und Kollegen Platz genommen haben und Ruhe
eingekehrt ist. – Bitte, Frau Landgraf.


Katharina Landgraf (CDU):
Rede ID: ID1810920300

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den
Tribünen! Mit Genehmigung der Präsidentin darf ich be-
sonders die Zuhörer aus meinem Wahlkreis begrüßen. Es
passiert mir zum ersten Mal, dass Besucher aus meinem
Wahlkreis bei einer Rede von mir anwesend sind. Also
schön, dass ihr da seid!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Jetzt zum Thema: Grundsätzliche und umfangreiche
Erläuterungen zu dem Debattenthema „gesunde Ernäh-
rung“ will ich uns hier ersparen; denn wir haben in die-
sem Hohen Hause schon mehr als genug darüber disku-
tiert und auch gestritten.

Wir beschließen heute über den Antrag der Koali-
tionsfraktionen, dem durchaus alle Abgeordneten zu-
stimmen könnten. Denn wir alle wollen – das will jeder
auf seine Weise und aus seinem Blickwinkel –, dass stär-
ker auf gesunde Ernährung geachtet und der Wert der
Lebensmittel mehr geschätzt wird. Nur der Weg dorthin
wird unterschiedlich interpretiert und dementsprechend
grundverschieden gestaltet.

Meine Damen und Herren, wir als Union wollen das
Ziel ganz gewiss nicht auf einer Woge neuer Paragrafen
und Verbote erreichen. Verbote sind nicht hilfreich, we-
der für die Produzenten noch für die Verbraucherinnen
und Verbraucher.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Denn wir alle wissen: Verbote provozieren nur die Krea-
tivität, sie zu umgehen. Außerdem ist Ernährung doch
für jeden einzelnen Menschen eine Existenzfrage. Es ist
seine persönliche Angelegenheit, die er mit seinem eige-
nen Verstand erfassen und bewältigen muss. Das gilt
auch für die Genussfrage: Es ist gut, wenn man weiß,
wie viel man sich gönnen kann, um zum Beispiel auch
einmal ohne Reue etwas Süßes zu genießen. Jeder Ein-
zelne sollte also motiviert werden, für sich und seinen
Körper das Beste zu tun, und sollte frei entscheiden kön-
nen, was das ist. Das ist also eine Sache des Bewusst-
seins und des Wissens. Hier liegt der Handlungsansatz
für die Politik. Wir wollen, dass die Bürger freie Ent-
scheidungen für eine gesunde Lebensweise treffen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dazu brauchen wir in unserem Land eine ganz be-
stimmte Atmosphäre und gesellschaftliche Leitbilder für
eine bewusste Lebensführung; denn der Zusammenhang
zwischen falscher Ernährung und der Entstehung ernäh-
rungsbedingter Krankheiten muss jedem klar sein – in
der Öffentlichkeit und besonders auch an den Stammti-
schen in unserem Land. Diese Kausalität kann in einer
großen Vielfalt und allgemeinverständlich in den Me-
dien sowie in Bildung und Erziehung – meinetwegen
auch gebetsmühlenartig – dargestellt werden.

Dahinter steht nicht nur ein zutiefst humanitäres An-
liegen. Es geht dabei auch um klare, berechenbare Fak-
ten, nämlich um die Kosten, die durch ernährungsbe-
dingte Krankheiten entstehen. Diese Kosten sind ein
Problem und ein Thema für die gesamte Solidargemein-
schaft. Da kann sich niemand wegducken und nichts da-
von wissen wollen. Wir sprechen da alle an: die Unter-
nehmen der Ernährungswirtschaft insgesamt und jeden
Einzelnen, der für sich und andere Verantwortung trägt.
Den Krankenkassen wie auch dem gesamten medizini-
schen und gesundheitlichen Bereich spreche ich da oh-
nehin ganz bestimmt aus der Seele.

Als Landwirtschaftspolitikerin werbe ich für eine
nachhaltigere und effizientere Partnerschaft mit der Ge-
sundheitspolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Da gibt es ja schon vielfältige Kooperationen, zum Bei-
spiel die Strategien der Initiative IN FORM, deren Um-
setzung in Arbeitsteilung zwischen dem Landwirt-
schaftsministerium und dem Gesundheitsministerium
realisiert wird. Da laufen zurzeit verschiedene Projekte
in entsprechenden Projektphasen. Hier brauchen wir
eine Verstetigung, die wir möglicherweise mit einer ent-





Katharina Landgraf


(A) (C)



(D)(B)

sprechenden Umsetzung des neuen Präventionsgesetzes
erreichen können. Ich hoffe, die beiden Staatssekretärin-
nen haben zugehört. Es handelt sich übrigens um zwei
Staatssekretärinnen aus dem Gesundheitsministerium;
das möchte ich meinen Besuchern noch sagen.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen dazu eine permanente Finanzierung der
generationsübergreifenden Aufklärungs- und Bildungs-
arbeit, die dafür notwendig ist. So etwas erwarten alle
Partner, die hier aktiv sind. Und deren Zahl ist groß.

Eine wichtige Rolle sollte aus meiner Sicht die Bun-
deszentrale für gesundheitliche Aufklärung spielen, bei-
spielsweise in der Partnerschaft mit der Bundesanstalt
für Landwirtschaft und Ernährung. Und: Wir sollten be-
reits jetzt überlegen, in welcher Weise die seit 2008 lau-
fende nationale Strategie zur gesunden Ernährung nach
2017 zu einem gesamtgesellschaftlich getragenen Pro-
zess umgestaltet werden kann.

Wir haben mit diesem Antrag einen Kompass, der den
Weg zum Ziel klar aufzeigt. Wir fangen nicht bei null an.
Wir haben in den Ministerien weit geöffnete Tore für un-
ser gemeinsames Anliegen, die gesunde Ernährung zu
stärken und die Lebensmittel mehr wertzuschätzen. Bei
der Wertschätzung der Lebensmittel sind wir schon
lange auf einem guten Weg, zum Beispiel mit der Aktion
„Zu gut für die Tonne“ – übrigens die meistgenutzte App
der Bundesregierung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Stimmen Sie also, verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen, dem Antrag der Koalitionsfraktionen zu.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810920400

Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, als

nächste Rednerin hat die Kollegin Karin Binder von der
Fraktion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Karin Binder (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810920500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren auf den

Tribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über die
Hälfte der Erwachsenen und jedes siebte Kind in
Deutschland sind übergewichtig. Ein knappes Viertel der
Erwachsenen und 6 Prozent der Kinder sind sogar von
Fettleibigkeit betroffen. Das erkläre ich hier nicht zum
ersten Mal. Das sind die Folgen von zu viel Zucker, Fett
und Salz, den Lockmitteln der modernen Lebensmittel-
industrie. Das Ergebnis sind dicke Profite und dicke
Menschen statt gesunde Ernährung. Und das Überge-
wichtsproblem nimmt unaufhaltsam zu. Damit nehmen
auch Krankheitsbilder wie Diabetes Typ 2, Herz-Kreis-
lauf-Erkrankungen, aber auch soziale Ausgrenzung und
psychische Belastungen zu. Ernährungsbedingte Krank-
heiten kosten das Gesundheitssystem in Deutschland
bald 25 bis 30 Milliarden Euro im Jahr.

Wir müssen also feststellen: Die hochgepriesenen
Maßnahmen der Bundesregierung blieben bisher völlig
wirkungslos. Meine Damen und Herren, mit Broschüren
und Informationskampagnen werden wir Übergewicht
nicht bekämpfen.


(Beifall bei der LINKEN)


Herr Minister Schmidt, nehmen Sie das Problem endlich
ernst. Statt wirksame Maßnahmen durchzusetzen, lädt
die Bundesregierung die Schuld bei den Verbraucherin-
nen und Verbrauchern ab. Man müsse sich nur richtig er-
nähren und mehr bewegen, so die Haltung im Hause
Schmidt.

Die Wirklichkeit aber sieht so aus: fröhlich bunte
Frühstücksflocken, die zur Hälfte aus Zucker und Fett
bestehen; Kinderfruchtjoghurt, der mehr Zucker enthält
als eine Limonade, dafür aber gänzlich frei von Früchten
ist; für Zwischenmahlzeiten werben Promis für Süßes
und Salziges; im Sportverein fördern Softdrink-Herstel-
ler das nächste Jugendturnier. Für Kinder ist es schwer,
sich diesen ständigen Verlockungen zu entziehen. Die
Schulkantine bietet leider viel zu oft verkochtes Ge-
müse, Nudelpampe und lauwarme Kartoffeln und – wie
Anfang der Woche bei einer Wallraff-Reportage aufge-
deckt wurde – verschimmeltes Obst und Gammelfleisch.
Dass nach dem Kantinenfrust jede Werbung für Süßes
und Fettes verfängt, ist kein Wunder.

Kinder stehen auch nicht ohne Grund im Mittelpunkt
der Marketingstrategen. Die am Küchentisch der Eltern
erlernten Essgewohnheiten behalten wir oft unser Leben
lang. Das überträgt sich auf die Auswahl von Produkten
und Marken. Deshalb wird heute auch das Essen in der
Familie massiv durch Werbebotschaften beeinflusst.
Auch wenn die Kinder schon im Bett sind, werden El-
tern, Großeltern und ältere Geschwister weiter bearbei-
tet, den Kleinen doch mal „was Gutes“ zu gönnen. Da-
mit muss Schluss sein!


(Beifall bei der LINKEN)


Wir müssen Kinder vor Werbung für dickmachende Pro-
dukte schützen.

Die Ernährung hat bei Minderjährigen enormen Ein-
fluss auf deren Wachstum und ihre geistige Entwicklung.
Ausgewogene Ernährung und gesundes Essverhalten
spiegeln sich in besseren Schulnoten und besserem so-
zialem Verhalten wider. Übergewichtige Kinder fallen
beim Sport zurück und werden nicht selten gehänselt
und ausgegrenzt. Wenn Spitzensportler für Schokocreme
und Chips werben, wird Kindern nicht klar, dass ihre
Idole falsche Vorbilder sind,


(Beifall bei der LINKEN)


da sie einen doppelt so hohen Kalorienbedarf haben wie
ihre kleinen Fans.

Wir dürfen der Zunahme des Übergewichtsproblems
gerade bei Kindern nicht tatenlos zusehen. Die Politik
hat die Pflicht, einen guten Start ins Leben durch ge-





Karin Binder


(A) (C)



(D)(B)

sunde Ernährung zu ermöglichen. Dazu muss aber auch
die Ernährungswirtschaft in die Schranken verwiesen
werden.


(Zuruf von der SPD: Genau!)


Die Ernährungswirtschaft und die Lebensmittelindustrie
reden das Problem klein. In einem Brief der Zuckerin-
dustrie wurden wir Abgeordnete jüngst darüber belehrt,
warum die Verwendung von weniger Zucker in Lebens-
mitteln Augenwischerei sei. Zucker würde dann meist
nur durch andere Kohlenhydrate wie Stärke oder Mehl
ersetzt, und damit bliebe die Kalorienzahl doch fast
gleich. Ja, danke! Meine Damen und Herren, da werde
ich langsam sauer.

Die Linke fordert deshalb: Lebensmittelwerbung, die
sich an Kinder und Jugendliche richtet, ist zumindest
konsequent einzuschränken. Die Finanzierung einer
hochwertigen und flächendeckenden Kita- und Schul-
verpflegung muss durch den Bund sichergestellt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Verbindliche Qualitätsstandards für Gemeinschaftsver-
pflegung müssen definiert werden. Wir fordern, dass die
Nährwertampel eingeführt wird, um verbraucherfreund-
liche und vergleichbare Lebensmittelinformationen hin-
sichtlich einer gesundheitsorientierten Ernährung zu er-
möglichen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Und wir müssen die Einflussnahme der Lebensmittelin-
dustrie auf Erziehungs- und Bildungsinhalte unterbin-
den.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Das gilt auch für Projekte der Bundesregierung, zum
Beispiel für die Plattform Ernährung und Bewegung,
peb, bei der die Lebensmittelindustrie am Tisch sitzt und
ihre Ansagen macht.

Wir sagen: Am Küchentisch, im Klassenzimmer und
im Sportverein müssen Eltern, Lehrer und Trainer das
Sagen haben und nicht die Lobbyisten.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810920600

Vielen Dank. – Damit hat jetzt die nächste Rednerin

das Wort: Jeannine Pflugradt von der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Jeannine Pflugradt (SPD):
Rede ID: ID1810920700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau
Landgraf, ich bin der Meinung, wir können hier gar nicht
oft genug über gesunde Ernährung reden. Wir unter-
scheiden uns vielleicht in diesem einen Punkt; aber das
ist gar nicht schlimm.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Jedes sechste Kind zwischen sieben und zehn Jahren
gilt in Deutschland als übergewichtig. Das Ernährungs-
verhalten der Kinder erscheint unausgereift. Vor allem
nach der Einschulung geht die Gewichtskurve bei vielen
Kindern zu steil nach oben. Eine Studie des Robert-
Koch-Instituts zeigt, dass ab der ersten Klasse immer
mehr Kinder übergewichtig werden. In den Jahren nach
der Einschulung steigt der Anteil übergewichtiger Kin-
der von 9 auf 15 Prozent, und der Anteil adipöser Kinder
steigt sogar auf 6,4 Prozent. Die Betroffenen leiden nicht
nur unter den schon angesprochenen körperlichen Fol-
gen, sondern oft auch unter seelischen Schwierigkeiten,
etwa einem schwachen Selbstwertgefühl oder Mobbing
durch Gleichaltrige. Neueste wissenschaftliche Erkennt-
nisse zeigen, dass der Verzehr von zuckerhaltigen Ge-
tränken neben zu wenig Schlaf und Bewegungsmangel
eine der Hauptursachen von Übergewicht bei Kindern
und Jugendlichen ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


In diesem Zusammenhang freue ich mich, dass das
Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft
um Bundesminister Schmidt an der Ausgestaltung eines
nationalen Qualitätszentrums für Kita- und Schulernäh-
rung arbeitet. Wenn ich richtig informiert bin, soll hierzu
Ende Juni, also in wenigen Tagen, ein erster Entwurf
vorgelegt werden.


(Willi Brase [SPD]: Sehr richtig!)


Ich bin gespannt darauf, wie dieses Zentrum die Ver-
netzungsstellen Schulverpflegung in ihrer Arbeit ergänzt
bzw. unterstützt und welchen Beitrag die Deutsche Ge-
sellschaft für Ernährung leisten kann. Gleichzeitig appel-
liere ich erneut an alle Bundesländer, ihre Vernetzungs-
stellen mit eigenen finanziellen Mitteln auszustatten, um
eine mögliche Förderung des Bundes nach 2017 zu ge-
währleisten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich denke, alle Fraktionen sind sich einig, dass eine
ausgewogene Ernährung eine wichtige Basis für ein gu-
tes und gesundes Leben eines jeden Menschen ist. In
Deutschland ist in den vergangenen Jahren eine Zu-
nahme von ungesundem Ernährungsverhalten und be-
sonders Bewegungsmangel festzustellen, in deren Folge
die Anzahl der übergewichtigen Menschen leider zu-
nimmt. Glauben Sie mir, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, ich weiß, wovon ich spreche, auch wenn man das
aufgrund meiner Kleidung heute vielleicht nicht so sieht.


(Zurufe von der SPD sowie von Abgeordneten der CDU/CSU: Oh! Oh! – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Du siehst super aus!)


– Danke, das wollte ich doch nur hören.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)






Jeannine Pflugradt


(A) (C)



(D)(B)

Es ist für uns von besonderer Wichtigkeit, dass gegen
den Anstieg ernährungsbedingter Krankheiten aktiv vor-
gegangen wird, und gerade die Kinder und Jugendlichen
müssen besonders in den Fokus gerückt werden.

In ihrem Antrag plädieren die Koalitionsfraktionen
für verpflichtende Qualitätsstandards bei der Kita- und
Schulverpflegung, in öffentlichen Kantinen sowie in
Pflegeheimen und Krankenhäusern. Darüber hinaus for-
dern wir ein Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel in
Grundschulen und Kitas


(Beifall bei der SPD)


sowie süßigkeitenfreie Kassenzonen in Supermärkten.
Das finde ich – hier spreche ich als Mutter – fantastisch.
Zudem muss die Wirtschaft mit einer nationalen Reduk-
tionsstrategie für Zucker, Fett und Salz in Fertigproduk-
ten in die Pflicht genommen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir möchten nicht nur ausschließlich an die Verbrau-
cher appellieren, ihr Verhalten zu verändern, sich gesün-
der und bewusster zu ernähren und sich vor allem auch
mehr zu bewegen. Es geht uns vielmehr darum, die Rah-
menbedingungen für eine gesunde Ernährung zu verbes-
sern, damit alle Menschen und gerade alle Kinder eine
Chance auf ein gutes und gesundes Leben erhalten. Ich
begrüße daher auch die Anstrengungen, die im Rahmen
des Präventionsgesetzes und einer nationalen Präven-
tionsstrategie unternommen werden, um das Ernäh-
rungsverhalten aller Menschen in den Vordergrund eines
gesunden Lebensstils zu stellen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Um Kindern und Jugendlichen Obst und Gemüse
schmackhaft zu machen, hat die Europäische Union
2009 ein Schulobst- und -gemüseprogramm in den Mit-
gliedstaaten eingeführt. Mit dem Programm werden
jährlich europaweit 150 Millionen Euro Gemeinschafts-
beihilfe für die Mitgliedstaaten bereitgestellt. Deutsch-
land stehen davon pro Schuljahr circa 20 Millionen Euro
zur Verfügung. Für das laufende Schuljahr hat Deutsch-
land 22,8 Millionen Euro beantragt und auch erhalten.
25 Prozent der Kosten müssen durch die Mitgliedstaaten
aufgebracht werden, die restlichen 75 Prozent werden
von der Europäischen Union übernommen. Neun Bun-
desländer – leider nur neun – nehmen derzeit an diesem
Programm teil.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das ist ein Jammer!)


– Genau, ein Riesenjammer ist das.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Im Januar 2014 legte die Europäische Kommission
den Vorschlag für ein neues Schulprogramm vor. Dieser
Vorschlag sieht die Zusammenlegung des bisherigen
Schulobst- und -gemüseprogramms mit dem Schul-
milchprogramm auf Basis der beschlossenen Mittel für
das Haushaltsjahr 2014 vor. Leider hat sich bis heute be-
züglich einer Entscheidung nichts getan. Das EU-Parla-
ment hat sich zwar vor zwei Wochen erneut für die Zu-
sammenlegung ausgesprochen und fordert auch eine
Erhöhung der Mittel für das Schulmilchprogramm auf
100 Millionen Euro, aber noch sind die Mitgliedstaaten
sehr weit von einer gemeinsamen Position entfernt. Wie
auch immer die Beratungen auf EU-Ebene ausgehen
werden: Außer Frage steht, dass separate Anpassungen
bei den Programmen gemacht werden müssen, um die
geforderte Ernährungsbildung zunehmend im Unterricht
zu etablieren. Ich hoffe außerdem, dass die bürokrati-
schen Zugangshürden für diese EU-Programme verein-
facht werden und sich künftig alle Bundesländer daran
beteiligen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Natürlich können solche Programme nicht allein die
Verhältnisse der Menschen und das Verhalten der Kinder
bezüglich einer ausgewogenen Ernährung ändern, vor
allem, weil sie mit Sicherheit nicht alle erreichen. Mögli-
cherweise initiieren sie aber ein Umdenken, anstelle ei-
nes Schokoriegels lieber einmal einen Apfel oder eine
Möhre zu essen – nicht immer, aber vielleicht immer öf-
ter. Hier sind kleinere Schritte gefragt, und niemand darf
das Gefühl haben, zur gesunden Ernährung gedrängt
bzw. gezwungen zu werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Dazu macht unser Koalitionsantrag einen ersten Auf-
schlag.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810920800

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Nicole

Maisch von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.


Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810920900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Gäste auf den Tribünen! Papier ist geduldig. Der Antrag,
den uns die Koalitionsfraktionen vorgelegt haben, und
die bisherige Debatte darüber sind das beste Beispiel.
Sie haben sehr viele gute und richtige Sachen aufge-
schrieben. Einige der Forderungen würden wir sofort un-
terschreiben, bei anderen hätte ich jedoch Zweifel. Ich
glaube, die Quengelkasse stählt im Zweifelsfall auch
mal Mutter und Kind: Wenn man das ein-, zweimal
durchgemacht hat, dann hat man vielleicht auch in der
Erziehung was erreicht. Das kann ich jetzt so aus meiner
Erfahrung sagen; aber darüber kann man ja noch mal re-
den.

Sie haben also sehr viel guten Text geschrieben; aber
Ihr Handeln passt überhaupt nicht dazu. Deshalb werden
Sie von uns keine Zustimmung zu Ihrem Antrag bekom-
men.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der SPD: Oh! – Dieter Stier [CDU/ CSU]: Schade!)






Nicole Maisch


(A) (C)



(D)(B)

Die Ernährungspolitik, die Sie und Ihr Minister hier ab-
feiern, das ist ein Budenzauber, das ist eine Mogelpa-
ckung. Ich will Ihnen das an drei Beispielen belegen.

Sie fordern in Ihrem Antrag eine nationale Reduk-
tionsstrategie. Sie fordern die Regierung auf, „eine na-
tionale Strategie zu erarbeiten für die Reduktion von
Zucker, Fetten und Salz in Fertigprodukten“. Dieses An-
liegen ist richtig. In anderen Ländern hat das auch Er-
folge gezeitigt. Allerdings stehen Ihre eigenen Leute null
dahinter. Ich hatte das Vergnügen, mit einer Vertreterin
der Union bei der Wirtschaftsvereinigung Alkoholfreie
Getränke über dieses Thema zu diskutieren. Und wer
sagte: „Zuckerreduktion in Limonaden ist der letzte
Quark“? Die Vertreterin der CDU. Ich habe das Gleiche
mit Ihnen auch im Ausschuss diskutiert, habe den Staats-
sekretär Bleser gefragt, wie er das denn findet: Reduk-
tion von Salz, Zucker, Fetten in verschiedenen Fertig-
produkten? Auch der Staatssekretär sagte: Nein, das sei
überhaupt nicht sein Ding, das finde er schlecht. – Da
frage ich mich doch: Wenn das bei Ihnen keiner will,
warum schreiben Sie das dann in den Antrag? Das passt
doch irgendwie nicht zusammen. Das finde ich schon ein
bisschen absurd.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Karin Binder [DIE LINKE])


Dabei ist so eine Strategie eigentlich etwas Tolles.
Die Finnen haben dadurch, dass sie ihren Salzkonsum
reduziert haben, die Anzahl von Herz-Kreislauf-Erkran-
kungen reduziert. Wir in Deutschland haben ähnliche Er-
fahrungen gemacht: Sie erinnern sich vielleicht noch an
diese widerlich zuckrigen Kindertees, von denen Klein-
kinder Karies vorne an den Zähnen bekamen. Da hat
man Rezepturen geändert. Das Problem, nämlich der
Karies bei Kleinkindern, ging zurück. Da könnte man
weitermachen. Aber wenn die rechte Seite des Saals
nicht will, dann kann Elvira Drobinski-Weiß die tollsten
Sachen in diese Anträge schreiben, es wird nichts Ver-
nünftiges dabei rauskommen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Karin Binder [DIE LINKE])


Zweites Beispiel: Lebensmittelverschwendung. Da
haben Sie das Nichtstun Ihrer eigenen Regierung schon
in den Antrag reingeschrieben. Sie schreiben nämlich:

Wir bekräftigen die Forderungen aus dem Antrag


– Ihrem Antrag –

vom 16. Oktober 2012 …

Auf Deutsch: Die letzten paar Jahre ist nicht so viel pas-
siert; deshalb schreiben Sie einfach alles, was Sie damals
schon gefordert haben, noch einmal in einen Bundes-
tagsantrag. Ich finde das ein bisschen peinlich. Seit 2012
sind jetzt schon einige Jahre ins Land gegangen. Natür-
lich machen Sie nette Sachen: irgendwelche Restebeutel,
die man sich aus dem Restaurant mit nach Hause neh-
men kann, und es gibt die Rezepte-App.
All das finden wir gut; aber wir erwarten auch, dass
Sie sich für das einsetzen, worauf sich der gesamte Bun-
destag gemeinsam verständigt hat, nämlich verbindliche
Ziele zur Abfallreduktion in Gastronomie, in Handel, in
Erzeugung und Verarbeitung. Hier haben wir noch nichts
gesehen. Hier hat Ihr Minister mehr oder weniger die
ganze Sache ausgesessen. Das kann es nicht sein!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind bald 10 Milliarden Menschen auf diesem Pla-
neten. Da können wir es uns nicht leisten, gute Lebens-
mittel wegzuwerfen. Ihr Minister hat hier wenig auf die
Kette gekriegt. Das finde ich durchaus kritikwürdig.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Drittes Beispiel: Schulessen. Ich finde alles, was Sie
zum Thema Schulessen aufgeschrieben haben, zumin-
dest diskussionswürdig und das meiste sogar gut. Schul-
kinder brauchen besseres Essen; das ist ganz klar. Aber
in der Realität haben Sie es doch bisher nicht einmal hin-
bekommen, die Finanzierung der Schulvernetzungsstel-
len dauerhaft zu sichern. Es gibt einen aktuellen, ein-
stimmigen VSMK-Beschluss, vom 8. Mai 2015, also
noch nicht so lange her. Die Länder wollen wissen: Wie
soll es weitergehen mit der Finanzierung? Was ist das
Förderkonzept? Wie lange ist die Förderdauer? Wie viel
Geld gibt es wirklich vom Bund? Bleibt es bei den lä-
cherlichen 15 Prozent, oder wird hier mal ein bisschen
mehr Butter bei die Fische gegeben? – Wer so große Re-
den schwingt über bessere Ernährung, über dicke Kin-
der, über die Kosten, die durch Fehlernährung auf unser
Gesundheitssystem zukommen, der müsste auch einmal
ein bisschen mehr Geld lockermachen als die läppischen
paar Cents, die Sie pro Schulkind und Jahr ausgeben.


(Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Was macht Baden-Württemberg, wo die Grünen regieren?)


So kann es nicht bleiben! Da kann man auch nicht erwar-
ten, dass die Opposition hier jubelt, wenn Sie solche An-
träge vorstellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Karin Binder [DIE LINKE])


Meine Damen und Herren, ich finde dieses Ministe-
rium ist jetzt wirklich nicht mit Themen überfrachtet.
Die kniffligen Themen des Verbraucherschutzes haben
Sie an die SPD abgeschoben; das heißt, digitale Welt, Fi-
nanzen und so weiter macht alles Herr Maas. Die GAP-
Reform ist mehr oder weniger durch. Es sollte also doch
möglich sein, dass der Minister während seines Arbeits-
tages eine vernünftige Ernährungspolitik auf die Reihe
kriegt. Es ist jetzt Zeit da, in die Puschen zu kommen,
was zu machen; denn die Probleme sind doch da. Wir
müssen dafür sorgen, dass jedes Kind in diesem Land
vernünftiges Essen in der Schule und in der Kita be-
kommt. Wenn Sie das hinbekommen, stimme ich Ihren
Anträgen, die Sie für diesen Bereich stellen, auch zu.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Oh! Bravo!)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810921000

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Gitta

Connemann von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Gitta Connemann (CDU):
Rede ID: ID1810921100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer von

Ihnen war schon einmal in der Alten Pinakothek in Mün-
chen?


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich!)


– Ich hätte mir etwas mehr Zustimmung gewünscht. –
Dort hängt das Gemälde „Das Schlaraffenland“. Es zeigt
drei Männer unter einem Baum. Sie öffnen nur den
Mund, und schon gibt es Milch, Wein und Fleisch. Essen
und Trinken im Überfluss, und zwar für alle – im
16. Jahrhundert erschien dies den Menschen wie das
Paradies.

Und heute? Für 800 Millionen Menschen auf der Welt
bleibt das ein Traum; denn sie hungern. Täglich sterben
nach wie vor 10 000 Kinder auf der Welt, weil sie nicht
genug zu essen haben. Die Zahl wird kleiner. Wir finden
aber, dass kein Kind an Hunger sterben sollte.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Und hier? In unserem Land gibt es Lebensmittel im
Überfluss: gesund, sicher, bezahlbar. Dies verdanken wir
ganz leistungsfähigen Landwirten, ganz leistungsfähigen
Herstellern und übrigens auch Händlern.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir dürfen sagen: Was für ein Segen ist es, dass wir in
diesem Land leben. – Aber spüren wir dies noch? Wohl
kaum. Die Zahlen zeigen, dass das Gefühl für den Wert
von Lebensmitteln verloren gegangen ist. Beweis gefäl-
lig? Jeder Bundesbürger wirft im Jahr 82 Kilogramm
Lebensmittel fort. Das bedeutet hochgerechnet auf alle
Privathaushalte in Deutschland: 6,7 Millionen Tonnen
Lebensmittel. Das ist eine Zahl, die fassungslos macht.
Für meine Fraktion, für die CDU/CSU-Fraktion, kann
ich sagen: Lebensmittel sind zu gut für die Tonne.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wer Lebensmittel wegwirft, verschwendet Nahrung,
verschwendet Energie, verschwendet Geld und ver-
schwendet Ressourcen.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Dann machen Sie doch was!)


Glücklicherweise hat sich schon einiges getan. Unser
Ministerium sorgte mit der Aktion „Zu gut für die
Tonne“ für die Initialzündung. Seitdem gibt es nicht nur
eine öffentliche Diskussion, sondern erstmalig auch ein
Problembewusstsein für dieses Thema, das zuvor von
niemandem angefasst worden ist. Auch die Aktion
„Restlos genießen“ ist erfolgreich angelaufen. Die Res-
taurantbesitzer bieten ihren Gästen an, ihre Reste mit
nach Hause zu nehmen. All das sind kleine Bausteine,
aber es sind Bausteine zur Bekämpfung eines Riesenpro-
blems. An dieser Stelle danke ich unserem Minister
Christian Schmidt für seinen Einsatz und dafür, dass er
an dieser Stelle nicht lockerlässt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Natürlich gibt es noch viel zu tun. Beispiel gefällig?
Familienpackungen. Familienpackungen und Single-
haushalte passen einfach nicht zusammen. Da sind Reste
vorprogrammiert. Ein Teil muss im Müll landen. Wir
brauchen kleinere Verpackungsgrößen für Alleinste-
hende, gerade bei Frischprodukten. Das Angebot ist
mager. Deswegen fordern wir in unserem Antrag die
Bundesregierung auf, mit der Wirtschaft zu vereinbaren,
dass sie ihr Angebot diesbezüglich verbessert.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Willi Brase [SPD])


Oder der Preis. Ohne Zweifel ist die Bezahlbarkeit
von Lebensmitteln eine soziale Frage. Aber es gibt aus
meiner und unserer Sicht einen Unterschied zwischen
preiswert und verramschen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ein Beispiel gefällig? In dieser Woche wirbt ein großer
Discounter: 400 Gramm Hackfleisch für 1 Euro. Ich
sage Ihnen: Das ist pervers.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nicht jeder Preiskrieg muss zu Ende geführt werden.
Hier steht der Handel in der Verantwortung, aber auch
der Verbraucher, der so etwas erwirbt.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann tu doch was dagegen, Mensch! Wir können doch nicht nur die Welt bejammern!)


Meine Damen und Herren, es gibt in diesem Haus
Fraktionen, die an dieser Stelle gerne nach dem Gesetz-
geber rufen, nach künstlichen Mindestpreisen, nach Zu-
satzsteuern. Die Kollegin Binder hat das eindrucksvoll
bewiesen,


(Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, hat sie eigentlich nicht!)


und auch die Kollegin Maisch. Dies lehnen wir ab. Wir
schreiben den Menschen nicht vor, was sie in ihren Ein-
kaufswagen legen sollen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat sie doch gar nicht getan!)


Der Bürger soll selbst entscheiden, was er isst und wie er
isst. Er will das übrigens auch; das hat die Reaktion auf
den Veggie-Day eindrucksvoll bewiesen.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810921200

Frau Connemann, lassen Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Maisch zu?


Gitta Connemann (CDU):
Rede ID: ID1810921300

Ja, sehr gerne.






(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810921400

Bitte.


Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810921500

Frau Kollegin Connemann, Sie haben gesagt, ich

hätte in meiner Rede Mindestpreise und Sondersteuern
gefordert. Können Sie belegen, welche Mindestpreise
und welche Sondersteuern sowie wann und wo ich das in
meiner Rede gesagt haben soll?


Gitta Connemann (CDU):
Rede ID: ID1810921600

Ich habe nicht gesagt, dass Sie Mindestpreise gefor-

dert haben,


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch! Das haben Sie gesagt!)


sondern ich habe gesagt, dass Fraktionen in diesem Haus
danach gerufen haben, zum Beispiel die Kollegin
Binder,


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Sie haben „Maisch“ gesagt!)


und sehr deutlich auf die Preisbildung, aber auch auf ge-
setzliche Regulierungen eingegangen sind. Ich weise an
dieser Stelle nicht nur auf den Veggie-Day hin, sondern
auch auf die von Ihnen auf dem letzten Bundesparteitag
der Grünen mitbeschlossene Veggie-Steuer.


(Abg. Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] nimmt wieder Platz)


– Ich bin noch nicht fertig. – Die Grünen wollen durch
diese Besteuerung den Verbrauch von Fleisch reduzie-
ren. Das ist für mich eine Bevormundung und Gänge-
lung, die es in sich hat, liebe Frau Kollegin Maisch.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Für mich auch!)


Das lehnen wir ab. Wir lehnen auch Strafsteuern auf
Zucker, Fett oder Salz ab. Es gibt nämlich kein per se
schlechtes Lebensmittel. Die Dosis macht bekanntlich
das Gift.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht im Antrag doch gar nicht drin! Das steht in keinem Antrag! – Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keiner hat das gesagt!)


Hier hilft nur Wissen, Wissen, Wissen; die Kollegin
Mortler wird darauf noch eingehen.

Dass unsere Bürger staatliche Gängelung ablehnen,
zeigte übrigens auch die Diskussion über einen anderen
Punkt unseres Antrags:


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Kehr doch mal zum Antrag zurück!)


über die quengelfreien Kassen ohne Süßigkeiten. Als der
Eindruck entstand, wir wollten diese gebieten, war der
Gegenwind aus der Bevölkerung sehr groß – übrigens zu
Recht; denn auch hier wollen wir Wahlfreiheit. Deshalb
plädieren wir für Familienkassen. Süßigkeiten gehören
ohne Frage dazu, aber nicht als Lockmittel in jede War-
teschlange; denn Kinder greifen zu, ohne nachzudenken.
Hier wollen wir Eltern eine echte Alternative bieten,
eine Alternative auf freiwilliger Basis.

Wir nehmen die Verbraucher ernst. Deshalb lehnen
wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion übrigens auch ein
Mittel, das hier wiederholt angesprochen wurde, ab: die
Ampelkennzeichnung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Karin Binder [DIE LINKE]: Ja, ja!)


Der Verbraucher ist nicht so dumm, wie Sie ihn immer
darstellen. Dass die Ampelkennzeichnung, wie sie in
England gelebt wird, am Ende ein Rohrkrepierer ist,
zeigt die Tatsache, dass die Europäische Union inzwi-
schen ein entsprechendes Vertragsverletzungsverfahren
eingeleitet hat, und zwar aus zwei Gründen: Der eine
Grund ist, dass dies ein Eingriff in den Binnenmarkt ist.
Aber das viel wichtigere Argument ist – das ist der
andere Grund für die Europäische Union –: Hier findet
tatsächlich eine Täuschung des Verbrauchers statt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Denn am Ende ist auch das Olivenöl mit Rot gekenn-
zeichnet, und der Verbraucher, der sich etwas Gutes tun
will, greift dann vielleicht zu einem anderen Produkt.
Oder aber es kommt zu einer anderen Täuschung, wie
mir vor kurzem ein Kollege aus England bestätigte. Er
sagte: Inzwischen ist es so, dass Lebensmittel mit der
Kennzeichnung Rot bei unseren Verbrauchern als lecker
gelten. – Das ist eine Fehlsteuerung. Da hilft nur Wissen,
Wissen, Wissen, das wir deshalb in den Mittelpunkt un-
seres Antrags gestellt haben.

Wir haben mit dem Bild von Bruegel begonnen. Am
Ende ist ein Schlaraffenland auch Synonym für
Übermaß und Völlerei. Das Einzige, was an dieser Stelle
hilft, ist, den Verbraucher ernst zu nehmen und ihn auf-
zufordern, ihn darin zu bestärken, sich zu bewegen und
sich gesund zu ernähren. Das wollen wir mit diesem
Antrag tun.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810921700

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin

Elvira Drobinski-Weiß das Wort.


(Karin Binder [DIE LINKE]: Erst noch eine Kurzintervention, bitte!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810921800

Okay. Entschuldigung, das habe ich übersehen.


Karin Binder (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810921900

Liebe Frau Kollegin Connemann, ich muss jetzt,

glaube ich, eines klarstellen: Weder Öl noch Butter oder
sonstige Grundstoffe in Nahrungsmitteln werden einen





Karin Binder


(A) (C)



(D)(B)

roten Punkt bekommen; das ist völliger Unsinn. Es geht
um heute produzierte Fertiglebensmittel, und es geht um
industriell gefertigte Lebensmittel, die viele Bestandteile
enthalten, sodass die Menschen nicht mehr wissen, wie
viel von was drin ist. Darum geht es, und das soll ge-
kennzeichnet werden, damit man auch bei einem Ein-
kauf, für den man nur wenig Zeit zur Verfügung hat,
schnelle Vergleichsmöglichkeiten hat. Deshalb soll es
die Angaben zu Nährwerten und eine Kennzeichnung
mit den Farben Rot, Gelb und Grün geben.

In diesem Parlament soll keine Volksverdummung
stattfinden, sondern es soll klar gesagt werden, um was
es geht: Es geht um industriell gefertigte Nahrungs-
mittel. Hier haben die Menschen heute einfach ein Infor-
mationsproblem. Darum geht es.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte auch noch einen anderen Punkt anspre-
chen: Sie haben unter anderem von einer Sondersteuer
und von Mindestpreisen gesprochen. Das trifft auf uns
überhaupt nicht zu. Die Linke hat in keinem Zusammen-
hang irgendeine weiter gehende Besteuerung von Le-
bensmitteln gefordert. Im Gegenteil: Wir wollen, dass
die Mehrwertsteuer auf die Schulverpflegung endlich
heruntergesetzt wird. Eine Mehrwertsteuer von 19 Pro-
zent auf die Schulverpflegung ist völliger Blödsinn. Es
geht uns da eher um die Reduzierung dieser Steuer und
nicht um die Erhebung von neuen Steuern.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810922000

Frau Connemann hat das Wort zur Gegenrede.


Gitta Connemann (CDU):
Rede ID: ID1810922100

Frau Kollegin Binder, mir ist bewusst, dass es immer

wehtut, sich von Träumen zu verabschieden. Das zeigt
auch Ihr jetziges Petitum für die Lebensmittelampel. Da-
bei betrachten Sie Folgendes nicht:

Erstens. Es geht nicht nur um industriell gefertigte
Lebensmittel, sondern die Ampel gibt Aufschluss über
die Inhaltsstoffe. So viel Ehrlichkeit sollten Sie an dieser
Stelle schon zulassen.

Zweitens. Sie ignorieren das entsprechende Plädoyer
der Europäischen Union vollkommen. Es ist nicht nur
meine Wahrnehmung gewesen, sondern auch Ihnen
sollte nicht entgangen sein, dass die Europäische Union
sehr deutlich gesagt hat, dass hier die Gefahr einer Ver-
brauchertäuschung besteht. Deswegen hat die Europäi-
sche Union – nicht ich – ein Vertragsverletzungsverfah-
ren gegen England eingeleitet.

Ich bitte Sie einfach, das zur Kenntnis zu nehmen;
denn am Ende bringt es nichts, an Träumen festzuhalten,
die sich einfach als falsch erweisen, und das ist unter an-
derem die Lebensmittelampel.


(Beifall bei der CDU/CSU – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Das macht der Dobrindt bei der Pkw-Maut auch! – Karin Binder [DIE LINKE]: Das werden wir noch sehen!)


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810922200

Frau Elvira Drobinski-Weiß von der SPD-Fraktion,

Sie haben das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Elvira Drobinski-Weiß (SPD):
Rede ID: ID1810922300

Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-

nen und Kollegen! Sehr verehrte Zuschauerinnen und
Zuschauer auf den Tribünen! Zu dem Gegenwind in Be-
zug auf die „quengelfreien“ Kassen: Wir haben hier ganz
andere Rückmeldungen bekommen. Uns haben Eltern
geschrieben: Wunderbar, endlich können wir jetzt auch
einmal in aller Ruhe einkaufen gehen, ohne dass unsere
Kleinen uns nerven, dass sie etwas haben wollen.

Genauso wie Sie habe auch ich in der letzten Woche
Post bekommen, und zwar von der Zuckerwirtschaft.
Mit Blick auf die Debatte heute wollte man mich darauf
hinweisen, dass auch die Zuckerwirtschaft Initiativen
begrüßt, mit denen die Gesundheit verbessert und Über-
gewicht reduziert wird. Dafür halte man Aufklärung
über eine gesunde Lebensweise für wichtig. Außerdem
würde man dazu ja auch schon einen Beitrag leisten. –
Ja, das glaube ich sofort.

Sorgen bereitet der Zuckerwirtschaft allerdings unser
Vorhaben, mit einer Reduktion von Zucker in Lebens-
mitteln präventiv tätig zu werden. Aha, wie überra-
schend! Mir bereitet es eher Sorgen, dass wir trotz der
zahllosen Aufklärungs- und Informationskampagnen,
die es seit Jahren gibt, den Anstieg chronischer Erkran-
kungen wie Diabetes – gerade auch bei Kindern und
Jugendlichen – immer noch nicht gestoppt haben


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


und dass es sehr vielen Menschen nach wie vor schwer-
fällt, sich ausgewogen und gesund zu ernähren, selbst
wenn sie wissen, wie es geht, und es auch wollen. Viel-
leicht fragen Sie sich auch einmal selbst.

Das liegt vor allem daran, dass die Lebensrealität vie-
ler Menschen tagtäglich und beharrlich selbst gegen die
besten Vorsätze arbeitet. Das wollen wir ändern. Wir
wollen es den Verbraucherinnen und Verbrauchern leich-
ter machen, sich gesund zu ernähren. Wir wollen eben
keine Verhaltensvorschriften machen, wie es hier gerade
eben schon ausgeführt worden ist, sondern wir wollen
die Lebensverhältnisse so gestalten, dass die gesunde
Wahl zu einer leichteren Wahl wird. Deswegen fordern
wir in unserem Antrag unter anderem auch eine natio-
nale Strategie zur schrittweisen Reduktion von Zucker,
Salz und Fetten in Fertiglebensmitteln.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In anderen Ländern sind damit schon beeindruckende
Erfolge erzielt worden. Das wurde bereits angesprochen.
In Großbritannien beispielsweise hat die Regierung mit
der Lebensmittelwirtschaft vereinbart, den Salzgehalt in
verschiedenen Lebensmitteln Schritt für Schritt zu sen-
ken. Tatsächlich hat sich der Salzgehalt innerhalb einiger
Jahre deutlich verringert, und das Risiko der Bevölke-
rung für Schlaganfälle und Herzerkrankungen ist um





Elvira Drobinski-Weiß


(A) (C)



(D)(B)

40 Prozent gesunken, und zwar ohne dem Absatz der
Unternehmen zu schaden.

In Deutschland hat das Ernährungsministerium vor
einigen Jahren schon einen Anfang gemacht. Es hat
nämlich mit der Wirtschaft vereinbart, herzschädigende
Transfette in Lebensmitteln zu reduzieren. Ergebnis: Der
Transfettgehalt in vielen Lebensmitteln ist seitdem ge-
sunken. Es funktioniert also, und es wird auch für Salz
und Zucker funktionieren. Wir müssen das Vorhaben nur
ehrgeizig genug angehen. Die Zuckerwirtschaft werden
wir dafür voraussichtlich nicht gewinnen, aber damit
kann ich leben.

Hoffnung macht mir dagegen, dass beispielsweise in
Großbritannien die Supermarktkette Tesco angefangen
hat, den Zuckergehalt in Kindergetränken zu reduzieren.
Dort hat offensichtlich jemand die Zeichen der Zeit er-
kannt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


In Großbritannien hat man allerdings auch erkannt:
Wirklich gut funktioniert das alles langfristig nur, wenn
jemand, zum Beispiel ein Ministerium oder eine Be-
hörde, zentral das Zepter in der Hand hält, den Dialog
organisiert und für einheitliche Berichte sorgt. Dann sind
faire Wettbewerbsbedingungen gegeben; dann machen
alle mit.

Natürlich wird es mitunter komplex werden. Natür-
lich werden wir darauf achten müssen, dass nicht nur ein
ungünstiger Nährstoff durch einen anderen ersetzt wird,
sondern dass ausgewogenere und vollwertigere Nah-
rungsmittel das Ziel der Reduktionsstrategie sind. Denn
es geht nicht allein um Kalorien, sondern um bessere
und trotzdem schmackhafte Lebensmittel.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Natürlich soll es auch weiterhin Schokolade und Limo-
nade geben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber auf vermeintlich gesundes Müsli für Kinder, das in
Wahrheit doppelt so süß ist wie Kekse, oder auf eine
Fertigsuppe, die allein den täglichen Salzbedarf deckt,
können wir alle sicher gut verzichten.

Kurzum: Vor uns liegt eine nicht ganz leichte Auf-
gabe. Aber ich finde, es ist an der Zeit, sie endlich anzu-
gehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810922400

Vielen Dank. Damit ist auch die letzte Sorge um die

Schokolade genommen. – Jetzt hat die Kollegin Marlene
Mortler von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Marlene Mortler (CSU):
Rede ID: ID1810922500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

vor allem liebe Kollegen! Bundesbildungsministerin
Johanna Wanka hat in der Bild am Sonntag das Schul-
fach Alltagswissen gefordert.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Auch Grundkenntnisse richtiger Ernährung und im Ko-
chen gehören für sie dazu.

Agenturen wie dpa, AFP und KNA griffen die Bot-
schaft auf und streuten sie weit. Ich glaube, das ist gut
so. Denn Ministerin Wanka trifft einen wunden Punkt,
den unser Antrag behandelt. Auch wenn manches Life-
style-Magazin neue Essgewohnheiten zum Glaubenssatz
erhebt, zeigen Umfragen: Strikt nach Kriterien wie ve-
gan oder weizenfrei ernährt sich nur eine Minderheit.
Wir sehen vielmehr die Kenntnisse über gesunde und
ausgewogene Ernährung schwinden, und das, während
das Angebot an Produkten zunimmt.

Immer weniger Menschen wissen, was sie zu sich
nehmen, was im Fertigprodukt enthalten ist und was ihr
Körper braucht, um gesund oder gar fit zu sein, von
Kochkenntnissen ganz zu schweigen. Der englische
Koch Jamie Oliver urteilte gar: Kochen ist eine lebens-
wichtige Fähigkeit, die wir verloren haben.

Auch wenn uns das nicht schmeckt: Das kleine Ein-
maleins gesunder Ernährung wird heute in vielen Fami-
lien nicht mehr weitergegeben. Das Ergebnis: Fehlernäh-
rung ist inzwischen – wir haben es gehört – ein
schwergewichtiges Problem. Während dies Teile der Op-
position gar zum Verbotsschwert etwa beim Fleischkon-
sum greifen lässt, setzen wir auf Aufklären statt Gän-
geln.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Mündiger Verbraucher ist niemand von Geburt an.
Das muss man erst werden. Deswegen sind mir zwei
Forderungen unseres Antrages besonders wichtig.

Erste Forderung. Wir brauchen regelmäßige Ernäh-
rungsbildung in unseren Schulen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Mir ist völlig klar: Schule kann, wie die Präsidentin der
Kultusministerkonferenz Kurth auf Wankas Vorstoß ges-
tern konterte, den Eltern nicht alles abnehmen. Das
stimmt. Aber dennoch: Was gehört dort auf die Agenda,
wenn nicht das Grundlagenwissen über unsere elemen-
tarste Lebensgrundlage überhaupt, die Nahrung? Dies
gilt umso mehr, wenn dieses Wissen zu Hause niemand
mehr vermitteln kann, weil er es im schlimmsten Fall
selbst nicht mehr besser weiß. Diese Wissensvermittlung
funktioniert in der Schule. Bei uns in Bayern etwa ist Er-
nährungsbildung fächerübergreifend verankert. Zudem
startete im Mai gerade erst wieder das Projekt „Land-
frauen machen Schule“.

Damit komme ich zur zweiten Forderung des Antra-
ges. Wir müssen Kindern und Jugendlichen die Möglich-
keit geben, mehr über den Ursprung ihrer Nahrung zu er-





Marlene Mortler


(A) (C)



(D)(B)

fahren. Wissen ist Grundlage für Wertschöpfung und für
Wertschätzung. Gerade unsere Bäuerinnen und Bauern
haben es verdient, dass man mehr über ihre Arbeit weiß.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Denn wer weiß heute noch, wie Kartoffeln wachsen und
was man braucht, damit ein Acker Früchte trägt? Wer
weiß noch, was der Bauer braucht, damit er am Ende den
Teller mit guten Produkten füllen kann?

Es gibt bereits eine Vielzahl guter Angebote. Wahl-
weise haben das BMEL, das BMG, das BMBF und das
BMU den Hut auf. Das heißt: Unser Ministerium, das
BMEL, hat Rückgriff auf renommierte und gute Adres-
sen wie die BLE – ich verkürze hier wegen der Zeit –,
das BfR, das BVL, also das Bundesamt für Verbraucher-
schutz und Lebensmittelsicherheit, den AID und die
DGE, das Gesundheitsministerium auf das Robert-
Koch-Institut und die Bundeszentrale für gesundheitli-
che Aufklärung, das Forschungsministerium auf das
Deutsche Institut für Ernährungsforschung in Potsdam-
Rehbrücke und das BMU auf das Umweltbundesamt.

Deshalb ist abschließend meine Vision für die Zu-
kunft, die Zuständigkeit in einem Ressort zu bündeln.
Die Aufgabe lohnt; denn eine gesunde Ernährung sichert
national langfristig die Gesundheit unserer Verbraucher,
und international ist sie ein Schlüssel zur Nachhaltigkeit
ländlicher Entwicklung und zur Ernährungssicherung.
Deshalb werbe ich für unseren Antrag.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810922600

Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich

schließe die Debatte.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Ernährung und Land-
wirtschaft auf Drucksache 18/5008.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktio-
nen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/3726 mit
dem Titel „Gesunde Ernährung stärken – Lebensmittel
wertschätzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Da-
mit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der
Koalition gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen worden.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/3730 mit dem Titel „Gute Lebensmittel
für eine gesunde Ernährung“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Damit ist diese Beschlussempfehlung
ebenfalls angenommen worden mit den Koalitionsstim-
men gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke, bei Ent-
haltung der Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
18/3733 mit dem Titel „Gute Ernährung für alle“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist diese Be-
schlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition ge-
gen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-
haltung der Stimmen der Fraktion Die Linke ebenfalls
angenommen worden.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schade! Das war ein Fehler!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
ordnungspunkt 9 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Keul, Agnieszka Brugger, Katharina Dröge, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Eckpunkte für ein Rüstungsexportkontrollge-
setz

Drucksache 18/4940
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Auswärtiger Ausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erste
Rednerin Katja Keul von der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.


Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810922700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Alle, die schon einmal Fragen zu Rüstungs-
exporten eingereicht haben, kennen die Standardantwort
der Bundesregierung. Bei den Sozialdemokraten dürfte
die Erinnerung daran noch frisch sein. Für die anderen
will ich sie noch einmal verlesen. Die Standardantwort
lautet:

Über die Erteilung von Genehmigungen für Rüs-
tungsexporte entscheidet die Bundesregierung im
Einzelfall und im Lichte der jeweiligen Situation
nach sorgfältiger Prüfung unter Einbeziehung au-
ßen- und sicherheitspolitischer Erwägungen.
Grundlage hierfür sind die „Politischen Grundsätze
der Bundesregierung für den Export von Kriegs-
waffen und sonstigen Rüstungsgütern“ aus dem
Jahr 2000 und der „Gemeinsame Standpunkt des
Rates der Europäischen Union vom 8. Dezember
2008 betreffend gemeinsame Regeln für die Kon-
trolle der Ausfuhr von Militärtechnologie und Mili-
tärgütern“.

Antwortende.





Katja Keul


(A)



(D)(B)

Es ist zunächst einmal erfreulich, dass sich bis heute
alle Bundesregierungen immer wieder auf die unter Rot-
Grün im Jahr 2000 ins Leben gerufenen Grundsätze be-
rufen.


(Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Sehen Sie mal!)


Darin steht nämlich viel Richtiges.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Entscheidend sollen unter anderem die Menschen-
rechtslage im Empfängerland und die Gefahr innerer
Repression sein. Da wir uns alle so wunderbar einig
sind, schlagen wir Ihnen heute vor, diese Grundsätze als
Gesetz zu beschließen, wie sich das für ein Parlament
gehört.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist als Gesetzgeber unsere Aufgabe, die Rechtsgrund-
lagen für die Genehmigungsentscheidungen der Exe-
kutive zu schaffen. So machen wir das in allen anderen
Bereichen auch. Die Voraussetzungen für eine Bau-
genehmigung stehen schließlich im Baugesetzbuch und
nicht in irgendwelchen freiwilligen Selbstverpflich-
tungserklärungen.

Leider findet sich in den Gesetzen, auf deren Grund-
lage über Rüstungsexporte entschieden wird, nicht ein
einziges Wort zu den Menschenrechten im Empfänger-
land. Weder das Außenwirtschaftsgesetz noch das
Kriegswaffenkontrollgesetz enthalten auch nur den ge-
ringsten Hinweis auf die außen- und sicherheitspoliti-
schen Kriterien. Deshalb schlagen wir Grünen Ihnen
heute vor, die richtigen und wichtigen Kriterien für Rüs-
tungsexporte aus den Politischen Grundsätzen und auch
aus dem Gemeinsamen Standpunkt der EU endlich in
das Außenwirtschaftsgesetz und das Kriegswaffenkon-
trollgesetz aufzunehmen und somit eine klare gesetzge-
berische Entscheidung zu treffen, nach der sich die Bun-
desregierung dann im Einzelfall richten kann.

Das gäbe uns zusätzlich die Gelegenheit, das eine
oder andere Kriterium zu präzisieren. Ich denke zum
Beispiel an den Begriff der Spannungsgebiete. Denn am
Ende hilft keine noch so verbindliche gesetzliche Grund-
lage, wenn diese nicht auch justiziabel ist, das heißt, von
Gerichten zu überprüfen ist. Das setzt zwei Dinge vo-
raus:

Erstens. Es muss gegen eine erteilte Genehmigung
eine Klagebefugnis geben. Klagen kann in der Regel
aber nur, wer persönlich in seinen subjektiven Rechten
verletzt ist. Da es in Deutschland zwangsläufig nieman-
den gibt, der von Waffenexporten in seinen subjektiven
Rechten verletzt ist, schlagen wir Ihnen den Weg über
eine Verbandsklage vor.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zweitens. Die erteilten Genehmigungen müssen
bekannt gemacht werden, damit man sie überprüfen
kann. In dieser Hinsicht hat es in dieser Legislatur-
periode durchaus einige kleine Fortschritte gegeben. Die
Mitteilungen im Anschluss an die Sitzungen des Sicher-
heitsrates sind deutlich zeitnäher, als es der jährliche
Bericht gewesen ist. Leider geben aber auch diese Mit-
teilungen nur einen fragmentarischen Einblick in die Ge-
nehmigungspraxis, da die Mehrheit der Genehmigungen
gar nicht vom Sicherheitsrat selbst, sondern auf der Ar-
beitsebene bzw. vom Bundesamt für Wirtschaft und
Ausfuhrkontrolle erteilt wird. Außerdem sind diese
neuen Zwischeninformationen eher als spartanisch zu
bezeichnen. Man kann nicht einmal erkennen, ob es sich
um Genehmigungen nach dem Außenwirtschaftsgesetz
oder nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz handelt. Das
ist aber wichtig, da zwischen diesen Genehmigungen
Monate, wenn nicht Jahre liegen können.

Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Im Februar 2012
stellte die Firma Krauss-Maffei Wegmann eine Voran-
frage für den Verkauf von Kampfpanzern des Typs Leo-
pard an Katar. Der Bundessicherheitsrat beriet darüber
im Juli 2012, und Krauss-Maffei Wegmann erhielt an-
schließend, am 6. August, einen positiven Vorbescheid
des Auswärtigen Amtes.

Über solche Vorbescheide bekommen wir als Parla-
ment leider überhaupt keine Informationen, obwohl auf
deren Grundlage später immer die Genehmigung erteilt
wird. Am 6. März 2013, also acht Monate nach dem Vor-
bescheid, wird man sich handelseinig, und Katar unter-
schreibt den Kaufvertrag. Am nächsten Tag geht der An-
trag beim Wirtschaftsministerium ein, und am 26. März
liegt die Genehmigung nach dem Kriegswaffenkontroll-
gesetz vor.

Sie fragen sich, warum das so schnell geht? Kein Pro-
blem: Der Sicherheitsrat hatte ja bereits ein Jahr zuvor
entschieden – informell, versteht sich. Es findet dann
keine weitere Prüfung der außen- und sicherheitspoliti-
schen Kriterien mehr statt.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Interessant!)


Mit der Vorlage der Genehmigung ist der Deal perfekt,
und Krauss-Maffei Wegmann macht selbst proaktiv
Pressearbeit zu dem Vorgang.

Nur die Bundesregierung hält es nach wie vor für an-
gebracht, das Parlament darüber nicht zu informieren.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich!)


Auch im jährlichen Rüstungsexportbericht 2013 taucht
dieser Panzerexport im Wert von immerhin 1,8 Milliar-
den Euro bis heute nicht auf. Angeblich könne man diese
Genehmigung nicht aufführen, da der Kaufpreis nicht
bekannt sei. Der werde ja immer erst mit der späteren
AWG-Genehmigung erfasst, die erst dann erteilt werde,
wenn die Lieferung ansteht, also wieder Jahre später. Da
sollen wir als Parlament doch wirklich für dumm ver-
kauft werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Immerhin ist der Wert des Geschäfts in dem Antrag des
exportierenden Unternehmens angegeben, und er ist au-
ßerdem noch in der vorzulegenden Endverbleibserklä-

(C)






Katja Keul


(A) (C)



(D)(B)

rung aufgeführt. Hier muss die Informationspolitik ge-
genüber dem Parlament noch deutlich nachgebessert
werden, und auch das wollen wir in einem Rüstungs-
exportkontrollgesetz verbindlich festschreiben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das Gesetz soll künftig auch eine echte Endverbleibs-
kontrolle, also sogenannte Post-Shipment-Kontrollen,
verbindlich vorschreiben. Die Ressortzuständigkeit wird
vom Wirtschaftsministerium auf das Auswärtige Amt
übertragen, und der Bundessicherheitsrat, der seit Franz
Josef Strauß ohne jede gesetzliche Grundlage existiert,
wird aufgelöst.

Sie sehen, unsere Eckpunkte enthalten jede Menge gu-
ter Vorschläge, mit denen Sie sich die eingangs erwähnte
Standardantwort künftig ersparen können. Völlig unbeant-
wortet bleibt allerdings nach wie vor, was die Bundesregie-
rung eigentlich geritten hat, einem menschenverachtenden
Regime wie Katar, für dessen 200 000 Staatsbürger über
1 Million Gastarbeiter als Dienstboten und Bauarbeiter
versklavt werden, ausgerechnet 62 deutsche Kampfpan-
zer zu genehmigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Versklavt? Sie wissen nicht, was versklavt ist!)


Es bleibt zu hoffen, dass es nicht die gleichen Motive
waren wie die der FIFA, dorthin eine Fußballweltmeis-
terschaft zu vergeben, und hoffen wir, dass die Kampf-
panzer nicht gerade gebraucht werden, wenn unsere
Sportler dort über den Rasen laufen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Oh je!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810922800

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Andreas

Lämmel das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Andreas G. Lämmel (CDU):
Rede ID: ID1810922900

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Frau Keul, die Schlussbemerkung hat wieder
einmal Ihren ganzen Redebeitrag völlig entwertet. Ich
meine, Sie haben gut begonnen, da Sie noch einmal auf
die von Rot-Grün beschlossenen Grundsätze für Rüs-
tungsexporte verwiesen haben, nach denen wir uns heute
noch richten. Es hat Sie stolz gemacht und uns auch,
dass diese Grundsätze offensichtlich so weise verfasst
worden sind, dass sie heute noch Gültigkeit haben kön-
nen. Deshalb stützt die Bundesregierung ihre Entschei-
dungen noch auf genau diese Grundsätze, die damals un-
ter rot-grüner Regierung erlassen worden sind.

Sie haben vielleicht nicht ganz klar herausgearbeitet,
dass jede Rüstungsexportgenehmigung eine Einzelfall-
entscheidung ist. Es gibt also keine Pauschalgenehmi-
gung, sondern über jeden einzelnen Fall muss beraten
werden. Je nach Art des Rüstungsexportantrages muss
nach dem Außenwirtschaftsgesetz oder dem Kriegswaf-
fenkontrollgesetz entschieden werden; das Ganze ist
aber auf jeden Fall genehmigungspflichtig. Wenn Sie
sich mit der Genehmigungspraxis des BAFA auseinan-
dersetzen, dann wissen Sie eigentlich, dass viele Güter,
die noch nicht einmal zu den Dual-Use-Gütern gehören
und nur im Verdacht stehen, auch militärisch genutzt
werden zu können, der Pflicht zur Exportgenehmigung
unterliegen und dass viele Unternehmen große Probleme
haben, Güter in verschiedene Länder auszuführen.

Die Prüfung und die Genehmigung der Ausfuhr von
Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern unterliegen
letztendlich dem Bundessicherheitsrat. Dieser tagt ge-
heim. Den Vorsitz hat die Bundeskanzlerin inne. Ein
weiteres Mitglied des Bundessicherheitsrates, der über
die Rechtmäßigkeit der Exporte wacht, ist zum Beispiel
der Vizekanzler. Er hat in den letzten Monaten bewiesen,
dass er für eine etwas restriktivere Genehmigungspraxis
ist. Die weiteren Mitglieder des Bundessicherheitsrates
sind die Bundesministerinnen und Bundesminister der
Verteidigung, des Auswärtigen, des Innern, der Justiz,
der Finanzen, der Minister für Wirtschaft und Energie
– in diesem Fall der Vizekanzler – sowie der Minister für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Die
Aspekte aus all diesen Ministerien fließen letztendlich in
die Entscheidung ein. Nicht zuletzt ist der Chef des Bun-
deskanzleramts zu nennen. Der Regierungssprecher und
der Generalinspekteur der Bundeswehr nehmen eben-
falls an den Sitzungen des Bundessicherheitsrates teil.


(Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das beruhigt mich jetzt!)


Es handelt sich hier also nicht um einen formalen Akt,
wie das von Ihnen oft verkürzt dargelegt wird, sondern
um ein anspruchsvolles Verfahren. Es besteht kein An-
spruch auf Erteilung einer Ausfuhrgenehmigung.


(Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wäre ja auch noch schöner!)


Auch dazu sagen Sie oft nur die halbe Wahrheit. Tat-
sächlich sind zahlreiche Gesetze und Vereinbarungen zu
beachten, zum Beispiel das Kriegswaffenkontrollgesetz
– das haben Sie selbst erwähnt –, das in § 6 eindeutig be-
sagt, dass Genehmigungen zwingend versagt werden
müssen, wenn die Gefahr besteht, dass Kriegswaffen bei
einer friedensstörenden Handlung, insbesondere bei ei-
nem Angriffskrieg, verwendet werden. Das Gesetz ent-
hält also ganz klare Regelungen.

Die Regelungen im Außenwirtschaftsgesetz über die
Erteilung der Ausfuhrgenehmigung für Rüstungsgüter
sind ebenfalls eng gefasst. Es gibt außerdem den Verhal-
tenskodex der Europäischen Union für Waffenausfuhren,
dessen Kriterien ebenfalls in die Entscheidungsfindung
einfließen. Letztendlich gibt es die Prinzipien der OSZE
zur Regelung des Transfers konventioneller Waffen.
Auch diese Prinzipien finden bei der Erteilung einer
Ausfuhrgenehmigung ihren Niederschlag.

Der Hauptteil der Rüstungsexporte Deutschlands geht
in EU-Länder bzw. an NATO-Partner, also in Partnerlän-





Andreas G. Lämmel


(A) (C)



(D)(B)

der, die in einer gemeinsamen Wertegemeinschaft und
Verteidigungsgemeinschaft organisiert sind. Selbst die
Genehmigung dieser Exporte wird sehr restriktiv ge-
handhabt. Wenn Sie dies immer weiter einengen, dann
wird das dazu führen, dass kein Antrag mehr gestellt
wird,


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das wäre doch schön!)


weil niemand mehr Lust hat, mehrere Jahre darauf zu
warten, dass eine Genehmigung erteilt wird. Dann wür-
den die deutschen Produzenten als unzuverlässig gelten.
Wenn sie diesen Ruf erst einmal haben, dann können sie
ganz schnell in wirtschaftliche Schwierigkeiten kom-
men. Die IG Metall hat im letzten Jahr einen langen
Brief in Sachen Sicherheits- und Rüstungsindustrie an
die Mitte des Deutschen Bundestags geschrieben und
deutlich darauf hingewiesen, dass hier Gefahr im Verzug
ist, wenn die Restriktionen wesentlich drastischer ge-
fasst werden.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das wäre besser!)


Sie sollten mit den Gewerkschaftsfunktionären in Ihrer
Partei einmal darüber reden, dass viel davon abhängt, ob
die Restriktionen zunehmend verschärft werden.

Die beiden zentralen Merkmale deutscher Rüstungs-
politik sind seit Jahrzehnten konstant. Es ist ein großer
Vorteil, dass man sich schon im Vorhinein darauf verlas-
sen kann, dass man nur dann einen Antrag zu stellen
braucht, wenn man überhaupt eine Chance hat.

Deutsche Rüstungsgüter sind gefragt, weil die Quali-
tät sehr hoch ist. Was für Autos und Elektrogeräte gilt,
gilt genauso zum Beispiel für U-Boote, für Schiffe oder
für Panzer. Bei den Gewehren scheint es im Moment ein
bisschen schwierig zu sein.


(Jan van Aken [DIE LINKE]: Wie kann man Panzer mit Kühlschränken vergleichen?)


Wir liefern keine Rüstungsgüter in Konfliktgebiete.


(Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit wann das denn? – Zurufe von der LINKEN)


Frau Keul, noch einige Worte zur Mitwirkung des
Parlaments bei der Ausfuhrgenehmigung. Wir haben
mehrfach in der letzten Legislaturperiode und in dieser
Legislaturperiode darüber diskutiert. Zuerst einmal muss
man sagen: Das Bundesverfassungsgericht hat klar for-
muliert, dass die Mitgestaltung des Parlaments bei die-
sen Entscheidungen eigentlich nicht nötig ist. Deswegen
ging die ganze Diskussion darum – das wissen Sie ganz
genau –, wie man das Parlament zeitnah besser über die
Dinge informieren kann, die im Bundessicherheitsrat ge-
nehmigt wurden.

Das hat sich in dieser Legislatur deutlich verbessert.
Der Rüstungsexportbericht muss viel zeitnaher abgelie-
fert werden, nämlich vor Beginn der parlamentarischen
Sommerpause. Ich bin gespannt, ob Sie in den neuen Be-
richt noch vor der Sommerpause einen Blick werfen
oder ob Sie sich die Lektüre erst danach gönnen. Dann
haben wir im Herbst jedes Jahres einen Zwischenbericht
für das erste halbe Jahr des laufenden Jahres. Das erhöht
die Transparenz über das, was genehmigt worden ist,
schon sehr deutlich. Nach jedem dieser Berichte haben
wir eine Diskussion hier im Parlament, sodass aus unse-
rer Sicht sich die Transparenz im letzten Jahr deutlich
verbessert hat.

Abschließend ist zu sagen: Wir brauchen in Deutsch-
land eine intakte Sicherheits- und Verteidigungsindus-
trie. Die muss wettbewerbsfähig sein, und sie muss wei-
terhin die Möglichkeit haben, an Spitzentechnologien zu
forschen und diese zu entwickeln. Wenn wir nicht mehr
den Bedarf in unserem eigenen Lande haben, bleibt
letztendlich nur der viel gescholtene Export. Wir haben
schon in der vorletzten Debatte gehört, welche Auffas-
sung Sie zur deutschen Exportstärke haben. Deshalb
wundert es mich nicht, dass dazu von Ihnen nichts Neues
kommt.

Ich kann nur sagen: Wir brauchen dieses Gesetz nicht.
Wir haben einen Weg zu mehr Transparenz und zu mehr
Information des Parlaments beschritten. Ich denke, das
ist genau der Weg, den wir auch weiter gehen sollten.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810923000

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Jan van Aken

von der Fraktion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Jan van Aken (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810923100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Oh

Mann, Herr Lämmel, Sie haben hier neun Minuten über
Waffenexporte geredet. In Ihrer Rede waren so viele
Fehler, dass ich mindestens 20 Minuten bräuchte, um die
alle aufzuzählen.


(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Um nur einmal einen Punkt aufzugreifen: Sie behaup-
ten hier einfach, dass der allergrößte Teil der deutschen
Rüstungsexporte in die EU-Länder geht.


(Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: NATO!)


Sie haben überhaupt keine Ahnung. Über 60 Prozent der
deutschen Waffenexporte gehen mittlerweile an Länder
außerhalb der NATO,


(Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Über zwei Drittel!)


obwohl in diesen Politischen Grundsätzen steht, dass das
die riesengroße Ausnahme sein soll. Über 60 Prozent!
Das haben Sie von der CDU verbrochen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Jan van Aken


(A) (C)



(D)(B)

Jetzt haben die Grünen ihren Antrag zu Waffenexpor-
ten vorgelegt, den wir in ungefähr der gleichen Version
vor drei Jahren hier schon einmal diskutiert haben. Ich
finde, das ist jetzt eine gute Gelegenheit, Bilanz zu zie-
hen, auch über anderthalb Jahre Tätigkeit des Rüstungs-
exportministers Gabriel. Der war mit dem Ziel angetre-
ten – das hat er jedenfalls damals gesagt –, deutsche
Waffenexporte drastisch zu reduzieren. Er hat im Januar
2014 ein schönes Interview gegeben, woraus ich zitieren
möchte. Gabriel sagte wörtlich:

… wenn man die Waffen in die falschen Regionen
gibt, kann es zu einem Geschäft mit dem Tod wer-
den. …


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Dr. Ute Finckh-Krämer [SPD])


Keine Waffen an Länder, in denen Bürgerkrieg
herrscht. Auch Unrechtsregimen sollte man keine
Waffen verkaufen.

Das ist total richtig so.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Problem ist, dass die Realität des Herrn Gabriel
leider ganz anders aussieht. Nehmen wir Saudi-Arabien.
Ich meine, da sind wir uns doch alle einig, selbst mit
Herrn Lämmel, dass das ein Unrechtsstaat ist, oder?
Schauen wir uns einmal an, dass unter Herrn Gabriel im
Januar 2015, in nur einem Monat, Rüstungsexporte im
Wert von 110 Millionen Euro nach Saudi-Arabien ge-
nehmigt worden sind – in nur einem Monat an den Un-
rechtsstaat Saudi-Arabien! Das ist ein schmutziges Ge-
schäft, und das wissen auch Sie von der SPD.


(Beifall bei der LINKEN – Dagmar Ziegler [SPD]: Und Sie wissen auch, dass das alte Verfahren waren!)


Nicht einmal die Tatsache, dass dann Anfang des Jah-
res die Saudis angefangen haben, Krieg zu führen – die
bombardieren im Jemen, übrigens auch mit deutschen
Waffen –,


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Na und?)


hat dazu geführt, dass die Exporte eingestellt werden.
Selbst nach Beginn der saudischen Bombenangriffe im
Jemen haben Sie von der SPD und der CDU Rüstungs-
exporte nach Saudi-Arabien genehmigt. Das ist genau
das, was Gabriel „Geschäft mit dem Tod“ genannt hat.
Das macht er jetzt jeden Tag: Ein Geschäft mit dem Tod.
Ich frage mich immer, ob Sie von der SPD nicht anders
wollen oder ob Sie nicht anders können. Ich meine, Frau
Merkel regiert ja auch noch mit, und sie ist voll dabei,
wenn Waffen verkauft werden sollen, jetzt gerade wieder
nach Ägypten.

Fakt ist: Im ganzen Jahr 2014 mit dem Rüstungs-
exportminister Gabriel ist der größte Teil der deutschen
Rüstungsexporte in Drittländer gegangen. Acht der zehn
Hauptempfängerstaaten sind nicht NATO-Staaten. Das
ist die Realität, Herr Lämmel. Der müssen Sie sich ein-
mal stellen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Punkt ist jedoch: Wenn wir das wirklich ändern
wollen, dann brauchen wir endlich klare und einfache
Regeln. Änderung geht nicht mit vielem Hin und Her
und Wenn und Aber, sondern wir brauchen klare und
einfache Verbote. Da bin ich jetzt bei dem Antrag der
Grünen.

Eines vorweg: Ich bin völlig bei Ihnen, dass wir end-
lich ein Gesetz zur Kontrolle von deutschen Rüstungs-
exporten brauchen. Das ist richtig. Was ich aber nicht
verstehe, ist: Warum wollen Sie in das Gesetz nur das hi-
neinschreiben, was im Moment sowieso schon gilt?


(Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben doch selber begründet, dass es nicht gilt!)


Warum wollen Sie nur die Politischen Grundsätze in
ein Gesetz überführen? Ich weiß, dass die Politischen
Grundsätze Ihnen naheliegen. Sie haben sie selbst vor
15 Jahren mit aufgestellt. Aber die Politischen Grund-
sätze erlauben, dass sogar Panzer nach Katar geliefert
werden, sie erlauben, dass Panzer nach Saudi-Arabien
geliefert werden, sie erlauben Exporte an Menschen-
rechtsverletzer.

Das Problem ist doch, dass Rot-Grün damals einen
ganz großen Ermessensspielraum in den Politischen
Grundsätzen verankert hat. Deswegen sagen wir: Diese
Politischen Grundsätze sind heute wie ein großes Scheu-
nentor, durch das weiter und weiter deutsche Waffen in
alle Welt geliefert werden. Deswegen reichen uns diese
Grundsätze auf gar keinen Fall.


(Beifall bei der LINKEN – Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist gut!)


Ich möchte einmal eine Sache klarstellen. Sie schrei-
ben in Ihrem Antrag, dass die Politischen Grundsätze
von allen politischen Lagern akzeptiert werden. Nein,
ich akzeptiere diese Grundsätze nicht. Auch die Linke
akzeptiert sie nicht, eben weil sie sämtliche Waffen-
exporte, selbst die nach Katar, selbst die nach Saudi-
Arabien, erlauben.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Von mir aus können alle Waffenexporte – das wissen
Sie – sofort verboten werden.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810923200

Lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Keul zu?


Jan van Aken (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810923300

Ja.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810923400

Frau Keul, bitte.


Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810923500

Vielen Dank für die Zulassung der Frage. – Irgendwie

sehe ich jetzt doch einen Widerspruch; denn Sie haben
am Anfang Ihrer Rede deutlich gemacht, dass die Politi-





Katja Keul


(A) (C)



(D)(B)

schen Grundsätze der Bundesregierung gerade nicht ein-
gehalten werden. Darin steht nämlich: In der Regel ist
nur an EU- und NATO-Staaten zu exportieren und nur in
wenigen Ausnahmefällen überhaupt an Drittstaaten.

Wir haben in den letzten Jahren aber erlebt – das ist
sowohl im Rüstungsexportbericht 2013 als auch im Rüs-
tungsexportbericht 2014 festgehalten –, dass der Anteil
der Exporte in Drittstaaten dermaßen angestiegen ist,
dass er heute die Regel ist; dorthin gehen sogar über
50 Prozent der exportierten Waffen. Das zeigt doch deut-
lich, dass die Politischen Grundsätze der Bundesregie-
rung, wie sie im Jahr 2000 aufgeschrieben worden sind,
schlichtweg ignoriert werden. Man bekennt sich zu ih-
nen zwar, weil sie schön klingen, aber am Ende ignoriert
man sie. Das ist der Grund, warum wir sagen: Wir wol-
len diese Grundsätze gesetzlich verankern, damit ihre
Einhaltung endlich eingeklagt werden kann.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Jan van Aken (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810923600

Nein, Frau Keul. Sie wissen doch genau, was darin

steht. Darin steht: Waffenexporte an Drittstaaten werden
nicht genehmigt, es sei denn, dass besondere außen- und
sicherheitspolitische Interessen dagegenstehen. – Das
heißt, in jedem Einzelfall wird entschieden und in jedem
Einzelfall werden diese Grundsätze – leider – tatsächlich
eingehalten. Es dürfen sogar Panzer mitten in ein
Kriegsgebiet an Menschenrechtsverletzer exportiert
werden, wenn die sicherheitspolitischen Interessen im
Einzelfall dafürsprechen.

Insofern haben Sie recht: Es ist völliger Wahnsinn,
dass in der Summe über 60 Prozent der Waffenexporte
an Drittstaaten gehen, obwohl diese Grundsätze in jedem
Fall eingehalten werden. Ich finde, das ist der Moment,
wo wir alle hier uns einmal eingestehen müssen, dass
das Prinzip der Politischen Grundsätze, egal ob sie ge-
setzlich verankert sind oder nicht, nicht funktioniert.
Selbst unter Rot-Grün – ich glaube Ihnen, dass Sie die
Waffenexporte damals reduzieren wollten – sind die
Waffenexporte trotz der Politischen Grundsätze gestie-
gen. Es funktioniert so einfach nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Von mir aus können alle Waffenexporte – das wissen
Sie alle – sofort verboten werden. Aber ich bin ja halb-
wegs Realist. Ich glaube, das dauert noch ein paar Jahre.
Aber das Mindeste, das wir jetzt durchsetzen müssten,
und zwar sofort, sind drei Dinge:

Erstens: keine Exporte mehr von Kleinwaffen, keine
Sturmgewehre, keine Maschinenpistolen, keine Panzer-
fäuste.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Zweitens: klare Regeln, dass es keine Waffenexporte
mehr an Menschenrechtsverletzer gibt.

Drittens: kein Steuergeld für Waffenexporte, keine
Hermesbürgschaften für Waffenexporte.


(Beifall bei der LINKEN)

Das alles sind Dinge, bei denen ich mich die ganze
Zeit frage: Liebe Grünen, warum können Sie sich nicht
endlich einmal dazu durchringen, wenigstens Verbote
von Kleinwaffenexporten zu fordern. Ich verstehe ein-
fach nicht, warum Sie an diesen wischiwaschiweichen
Regelungen aus der Vergangenheit festhalten wollen.

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
überhaupt keine Waffen mehr exportieren sollte; aber
das wissen Sie jetzt ja.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810923700

Als nächster Redner hat Bernd Westphal von der

SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Bernd Westphal (SPD):
Rede ID: ID1810923800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Der Export von Sicherheits- und Rüstungsgü-
tern bedeutet nicht gleich Krieg. Dieser Export geschieht
in Deutschland nach klaren Regeln und hohen Maßstä-
ben. Die Politischen Grundsätze – sie wurden ja eben
schon genannt – beruhen auf dem Artikel 26 des Grund-
gesetzes. Das ist ja auch durch das Bundesverfassungs-
gericht bestätigt worden. Weiterhin gelten das Außen-
wirtschaftsgesetz und das Kriegswaffenkontrollgesetz.
Jede Exportanfrage wird im Einzelnen überprüft, abge-
wogen, und erst dann wird entschieden. Eine Genehmi-
gung wird nur dann erteilt, wenn keine Menschenrechts-
verletzungen stattfinden und nachgewiesen werden
können. Sie wird auch nicht erteilt, wenn Krisen in Emp-
fängerländern sich dementsprechend entwickeln.


(Zuruf der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])


Gerade für Staaten außerhalb der NATO und der EU sind
die Regeln besonders streng; denn die Bundesregierung
erteilt nur in Ausnahmefällen Genehmigungen für Rüs-
tungsexporte an Drittstaaten


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 60 Prozent!)


und betreibt keine Exportpolitik nach wirtschaftlichem
Interesse. Bei Entscheidungen über Exporte in soge-
nannte Drittstaaten sind die im Jahr 2000 beschlossenen
Rüstungsexportrichtlinien immer noch Grundlage für
das Handeln der Bundesregierung.

Frau Keul, ich sage Ihnen: Das hat sich bewährt.

Ebenso wurde in den Koalitionsverhandlungen aus-
drücklich festgelegt, dass diese Politischen Grundsätze
weiterhin verbindlich sind. Es gilt der Grundsatz der
Selbstbindung der Verwaltung bei der Anwendung der
entsprechenden Regeln des Außenwirtschaftsgesetzes
und des Kriegswaffenkontrollgesetzes. Auf den Gemein-
samen Standpunkt der EU für Rüstungsexporte wird in
den Politischen Grundsätzen ebenfalls Bezug genom-
men. Diese sind demensprechend gültig.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Grünen fordern
in ihrem Antrag zudem, dass das Bundeskabinett in Zu-





Bernd Westphal


(A) (C)



(D)(B)

kunft alle sensiblen Entscheidungen trifft. Wir vertreten
dagegen die Auffassung, dass im Bundessicherheitsrat
sowieso alle für eine solche Entscheidung zuständigen
Minister vertreten sind. Wofür bedarf es dann bei einer
solchen Entscheidung des Gesamtkabinetts? Das ist kein
effizientes Regierungshandeln, wenn am Kabinettstisch
alle Minister solche Vorlagen behandeln. Was hat zum
Beispiel der Landwirtschaftsminister damit zu tun?


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Eine Menge!)


Der Kern des Vorschlags der Grünen besteht in der
Forderung nach einem Verbandsklagerecht. Falls dieses
eingeführt würde, könnte es in vielen Fällen bei Ent-
scheidungen über Rüstungsexporte zu langwierigen Ge-
richtsverfahren kommen. Dies wäre zum Beispiel auch
bei Entscheidungen der Bündnispartner zur Unterstüt-
zung der kurdischen Regionalregierung ein Problem ge-
wesen. Ohne die Waffenlieferungen an die Peschmerga
würden wahrscheinlich die vom IS verfolgten Jesiden
heute nicht mehr existieren, und das ist nicht unser Ziel.


(Beifall des Abg. Dr. Franz Josef Jung [CDU/ CSU])


Die Bundesregierung hat sich für eine restriktive Poli-
tik bei Exporten von Rüstungsgütern ausgesprochen.
Dies ist im Koalitionsvertrag fest verankert, und die
Zahlen für das erste Halbjahr 2014 unterstreichen dies.
Im Berichtszeitraum entfielen circa 60 Prozent – das ent-
spricht einem Wert von 1,2 Milliarden Euro – der
Genehmigungen allein auf U-Boote, Fregatten und Pa-
trouillenboote. Ich kann nicht erkennen, dass diese Waf-
fen dort eingesetzt werden können, um zum Beispiel die
eigene Bevölkerung zu drangsalieren.


(Inge Höger [DIE LINKE]: Fregatten sind Kriegsschiffe!)


Bei Exporten sind die legitimen Sicherheitsinteressen
eines Empfängerlandes zu berücksichtigen. Boote wer-
den unter anderem zum Schutz von Hoheitsgewässern
auf internationalen Seewegen benötigt. Nicht jedes Rüs-
tungsgut trägt automatisch zur Eskalation einer Situation
bei oder ist eine potenzielle Bedrohung für die heimische
Bevölkerung. Bei den Staaten in der Golfregion handelt
es sich um souveräne Staaten mit eigenen außen- und si-
cherheitspolitischen Interessen. Diese Staaten nehmen
ihre legitimen Aufgaben wahr, ihr eigenes Recht und ihr
eigenes Land zu schützen, zum Beispiel gegen Terroris-
mus.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810923900

Lassen Sie eine Zwischenfrage zu, Herr Westphal?


Bernd Westphal (SPD):
Rede ID: ID1810924000

Ja, sicher.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vielen lieben Dank, Herr Kollege Westphal, dass Sie
die Frage zulassen. – Sie sprechen ja gerade von den le-
gitimen außen- und sicherheitspolitischen Interessen der
Empfängerländer. Jetzt ist es ja so gewesen: Vor ein paar
Jahren ist Saudi-Arabien mit Panzern in das Nachbar-
land Bahrain einmarschiert, um dort den friedlichen
Aufstand im Rahmen des Arabischen Frühlings zu unter-
drücken. Saudi-Arabien ist ja ein großer Empfänger von
deutschen Rüstungsexporten. Halten Sie das für legitime
außen- und sicherheitspolitische Interessen, die von
deutscher Seite aus mit Rüstungsexporten unterstützt
werden sollen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Bernd Westphal (SPD):
Rede ID: ID1810924100

Das sind nicht unbedingt Panzer. Man muss sich ganz

genau angucken, welche Dinge dorthin geliefert werden.
Es handelt sich auch um viele Dinge aus dem Sicher-
heitsbereich. Das kann zum Beispiel ein Zaun mit
Sicherheitssystemen sein, der die Grenzen von Saudi-
Arabien schützt, der auch unter den Export von
Rüstungs- und Sicherheitsgütern fällt. Es ist sicherlich
legitim, solche Dinge an dieses Land zu liefern.


(Inge Höger [DIE LINKE]: Panzer!)


Im ersten Halbjahr 2014 wurden Einzelausfuhrgeneh-
migungen für Waren im Wert von 2,2 Milliarden Euro
erteilt. Das ist immerhin ein Rückgang um 700 Millio-
nen Euro. Rund zwei Drittel des Gesamtwertes betrafen
Genehmigungen für Lieferungen an sogenannte Dritt-
staaten, vor allem an Israel, Singapur, Südkorea und
Brunei. Allein auf die Genehmigung der Lieferung eines
U-Bootes nach Israel entfällt zum Beispiel ein Wert von
600 Millionen Euro.

Bei den Exportgenehmigungen für Kleinwaffen und
Kleinwaffenteilen an Drittländer ist eine erhebliche Ab-
nahme von 18 Millionen Euro auf 1,4 Millionen Euro zu
verzeichnen. Mit Ausnahme von Indonesien sank die
Zahl der Genehmigungen im Vergleich zum ersten Halb-
jahr 2013. Der Wert der Genehmigungen war bei den
eben genannten Ländern ebenfalls rückläufig.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bezüglich der
Forderung nach einer ausführlichen Unterrichtung des
Parlaments wurden hier schon einige Dinge gesagt. Ich
denke, es kommt dem Wunsch des Parlamentes entge-
gen, dass wir schon jetzt viele Berichte zeitnah bekom-
men. Der Rüstungsexportbericht wird zeitnah zweimal
im Jahr veröffentlicht. Bisher vergingen bis zur Veröf-
fentlichung bis zu eineinhalb Jahre.

Die Entscheidung des Bundessicherheitsrates muss
innerhalb von zwei Wochen an den Wirtschaftsausschuss
des Bundestages berichtet werden. Das ist bereits Praxis.
Damit wurde die Geheimhaltungspraxis bei Exporten
von deutschen Rüstungsgütern sowie bei Rüstungs- und
Beschaffungsprojekten für die Bundeswehr beendet.

Deutschland verfolgt nicht das Ziel eines offensiven
Verkaufs von Wehrtechnik. Rüstungs- und Verteidi-
gungsgüter werden nicht eingesetzt, um weltweit Kon-
flikte zu erzeugen oder anzuheizen.





Bernd Westphal


(A) (C)



(D)(B)


(Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind der viertgrößte Rüstungsexporteur der Welt!)


Sie dienen dem Frieden und der Durchsetzung von Men-
schenrechten, der Sicherheit von Regionen und dem be-
rechtigten Schutz von Menschen.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glauben Sie doch selbst nicht!)


Und sie helfen vor allem, geschützte Räume zum Bei-
spiel für den Einsatz von Hilfskräften zu garantieren.


(Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In Saudi-Arabien!)


Das wird weiterhin im Fokus unserer Politik stehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810924200

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Helmut

Nowak von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Helmut Nowak (CDU):
Rede ID: ID1810924300

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Grünen
fordern in ihrem Antrag strengere Kontrollen und mehr
Transparenz. Dabei ist die Genehmigung von Rüstungs-
exporten schon heute bis ins Detail geregelt und streng
überwacht. Für den gesamten Handlungsprozess beste-
hen bereits strikte Vorgaben. Das gilt insbesondere für
Drittländer. Eine Ausfuhr wird nur in Ausnahmefällen
gestattet.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 60 Prozent!)


Im weltweiten Vergleich hat Deutschland seit vielen Jah-
ren die restriktivste Praxis in Bezug auf Genehmigungen
bis hin zum letztendlichen Verbleib der Rüstungsgüter,
also bis zu der Zeit nach der Nutzung.


(Zuruf der Abg. Inge Höger [DIE LINKE])


In ihren Entscheidungen richtet sich die Bundesregie-
rung maßgeblich nach den Politischen Grundsätzen der
Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und
sonstigen Rüstungsgütern. Diese wurden übrigens im
Jahr 2000 – das ist schon mehrfach genannt worden –
von der rot-grünen Regierung beschlossen, und das war
auch gut so.

Auch die jetzige Koalition bekennt sich im Koali-
tionsvertrag ausdrücklich zu diesen Dingen. Die darin
enthaltenen Genehmigungskriterien für Exporte sind
durch Aufnahme als Ermessensleitlinie bereits verbind-
lich. Sie bedürfen daher keiner weiteren Einbindung in
das Gesetz.

Als rechtliche Basis dienen der Bundesregierung das
Außenwirtschaftsgesetz, die Außenwirtschaftsverord-
nung und das Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaf-
fen. Laut dieser Gesetze bzw. Verordnung wird bei der
Ausfuhr aller Rüstungsgüter eine Genehmigung benö-
tigt.

Es wird grundsätzlich keine Genehmigung erteilt,
wenn auch nur der „hinreichende Verdacht“ besteht, dass
die Bevölkerung des Empfängerlandes interner Repres-
sion oder sonstiger Menschenrechtsverletzungen aus-
gesetzt ist. Zudem wird das Verfahren bei den Genehmi-
gungsprozessen durch den Verhaltenskodex der
Europäischen Union für Waffenausfuhren sowie durch
die Prinzipien zur Regelung des Transfers konventionel-
ler Waffen der OSZE geregelt. Der Bundessicherheitsrat
trifft die abschließende Entscheidung. Wie im Koali-
tionsvertrag vereinbart, unterrichtet die Bundesregierung
den Deutschen Bundestag und damit die Öffentlichkeit.
Dadurch wird Transparenz gegenüber Parlament und
Bürgerinnen und Bürgern entsprechend den festgelegten
Berichtspflichten sichergestellt.

Bereits im Frühjahr 2014 stufte das Bundesverfas-
sungsgericht die in diesem Zusammenhang durchge-
führte Informationspraxis als verfassungsgemäß ein. Da-
her sehe ich auch hier keine Anknüpfungspunkte für die
gestellten Forderungen.

Der Export von Gütern der Sicherheits- und Verteidi-
gungsindustrie in Deutschland ist somit bereits streng
geregelt, reglementiert, und die damit einhergehende In-
formationspraxis ist rechtlich verankert. Insbesondere
eine weitere Verschärfung ist daher an dieser Stelle nicht
erforderlich. Zusätzliche Restriktionen brächten die
deutsche Sicherheitswirtschaft dagegen in eine durchaus
prekäre Lage. Schon jetzt müssen die deutschen Unter-
nehmen fürchten, aus der internationalen Sicherheits-
kooperation verdrängt zu werden, da sie im globalen
Ansehen zunehmend an Verlässlichkeit einbüßen. Bei
internationalen Rüstungsmessen werben ausländische
Hersteller bei der Präsentation ihrer Produkte inzwi-
schen mit „German free“, was bedeuten soll, dass auf
deutsche Bauteile und deutsches Know-how verzichtet
wurde. Verzichtet wurde deshalb, weil kein Vertrauen
mehr in eine langfristig angelegte Zusammenarbeit be-
steht. Und das, sehr geehrte Damen und Herren, ist eine
wirklich besorgniserregende Entwicklung.

Die deutsche Rüstungsexportpolitik war immer eine
Politik der Selbstbeschränkung. Wir setzen damit inter-
nationale Standards und gehen mit gutem Beispiel vo-
ran. Alles ist genau und transparent geregelt. In präzisen
Einzelfallüberlegungen wird etwa erörtert: Wer erhält
die Güter? Zu welchem Zweck? Was passiert mit dem
Gerät nach der Nutzungsphase? – Glauben Sie, dass das
in irgendeinem anderen Land ähnlich gehandhabt wird?
Ich zumindest kenne keines.


(Jan van Aken [DIE LINKE]: Dann informieren Sie sich einmal! Das liegt daran, dass Sie keine Ahnung haben!)


Beschränkungen dürfen aber nicht durch immer wei-
tere Verschärfungen dazu führen, dass bei uns ganze In-
dustriebereiche vernichtet werden. Firmen bekämen
nicht mehr genügend Aufträge, Zehntausende Ange-
stellte verlören ihren Arbeitsplatz, was gleichzeitig ein
Ende von Entwicklung und Produktion von Sicherheits-





Helmut Nowak


(A) (C)



(D)(B)

gütern in Deutschland bedeuten würde, oder die Unter-
nehmen sähen sich gezwungen, ins Ausland abzuwan-
dern. In beiden Fällen gingen damit der dauerhafte
Verlust des entsprechenden technischen Know-hows so-
wie hochqualifizierter Arbeitsplätze einher. Die Folge
wäre eine erhebliche Schwächung der außen- und sicher-
heitspolitischen Handlungsfähigkeit Deutschlands. Wir
wären abhängig von Importen und würden somit weni-
ger Kontrolle über unsere eigene nationale Sicherheit be-
sitzen, und dies in einer Zeit, in der Krisen und Kriege
mittlerweile direkt vor unserer Haustür stattfinden.

Es ist aber eine Kernaufgabe staatlichen Handelns,
die Sicherheit seiner Bürger und die seiner Bündnispart-
ner zu garantieren. Hierzu zählen Frieden und Stabilität
im Inland sowie eine wirksame Landesverteidigung. Wir
dürfen dabei auch nicht übersehen, dass sich viele
NATO-Staaten bei der Sicherung ihrer Länder auch auf
deutsche Technologie verlassen. Aber auch viele Staa-
ten, die nicht Mitglied des Nordatlantischen Bündnisses
sind, vertrauen bei ihrer Landesverteidigung auf deut-
sches Know-how. Soll Deutschland den anderen Län-
dern verwehren, sich dafür einzusetzen, ihre Landes-
grenzen auch mit deutscher Technologie zu sichern und
das Leben, das Hab und Gut der eigenen Bevölkerung zu
schützen?

Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, eines ist
doch auch klar: Eine noch weitere Beschränkung von
Rüstungsexporten bis hin zur totalen Aufgabe, wie sie
gefordert wird, würde den weltweiten Handel von Rüs-
tungsgütern in keiner Weise stoppen, nicht einmal quan-
titativ verändern. Unsere Exporte würden dann lediglich
von anderen Ländern übernommen werden, deren Kon-
trollen und Anforderungen wesentlich geringer ausfal-
len – von der Berücksichtigung der Menschenrechtslage
ganz zu schweigen.

Ich sage, mit zusätzlichen Verschärfungen der Gesetz-
gebung im Bereich der Rüstungsexportkontrolle errei-
chen wir keines der von Ihnen gewünschten Ziele. Wir
wollen unsere wettbewerbsfähigen Unternehmen und
Technologien im Inland fördern. Wir wollen bei der
Kontrolle von Rüstungsexporten weltweit Standards set-
zen und mit gutem Beispiel vorangehen. Wir wollen un-
seren Bürgern eine wirksame Landesverteidigung garan-
tieren. Wir wollen anderen Ländern dieselbe sichere und
stabile Landesverteidigung nicht verwehren. Daher ist
es, entgegen Ihrem Ansinnen, dringend notwendig, die
deutsche Sicherheits- und Verteidigungsindustrie weiter-
hin nachhaltig zu stärken. Ihrem Antrag können wir des-
halb nicht zustimmen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810924400

Vielen Dank. – Nächste Rednerin für die SPD-Frak-

tion ist die Kollegin Ute Finckh-Krämer.


(Beifall bei der SPD)


Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD):
Rede ID: ID1810924500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Alle
14 Minuten stirbt auf der Welt ein Mensch durch eine
Kugel aus einer Waffe von Heckler & Koch – das hat die
„Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!“ ausge-
rechnet. Angesichts dessen, was über Jahrzehnte an
deutschen Waffen in Umlauf gekommen ist, fürchte ich,
dass sie recht hat.

Jürgen Grässlin schreibt in seinem Buch Schwarzbuch
Waffenhandel, dass täglich im Durchschnitt etwa
2 000 Menschen auf der Welt durch Waffengewalt ster-
ben, die meisten davon – rund 95 Prozent – durch Klein-
waffen. Deswegen ist nicht nur für die SPD, sondern
auch für die Organisationen, die sich zu Recht und mit
großem Engagement gegen Rüstungsexporte einsetzen,
das Thema „Kleinwaffenproliferation und Kleinwaffen-
exporte“ seit Jahren das entscheidende.

An diesem Punkt ist in diesem Jahr tatsächlich etwas
passiert: Einerseits gab es eine öffentliche Anhörung im
Petitionsausschuss, weil die „Aktion Aufschrei – Stoppt
den Waffenhandel!“ eine Petition auf den Weg gebracht
hatte, die 90 000 Unterschriften erhalten hat. Zu dieser
Anhörung ist Sigmar Gabriel selber gekommen. Er hat
ganz deutlich gesagt, dass aus seiner Sicht als Wirt-
schaftsminister – ich glaube, da hat er für die ganze
SPD-Fraktion gesprochen – Waffenexporte kein Mittel
der Industrieförderung sind, Rüstungsforschung auch
kein Grund dafür ist, Waffenexporte zu genehmigen,
sondern dass, wenn überhaupt, nur andere Kriterien – da
hat er sich auf die Rüstungsexportrichtlinie bezogen –
herangezogen werden dürfen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810924600

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Vogler?


Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD):
Rede ID: ID1810924700

Ja, gerne.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810924800

Bitte schön, Frau Kollegin Vogler.


Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810924900

Liebe Kollegin Finckh-Krämer, vielen Dank, dass Sie

meine Zwischenbemerkung zulassen. Ich freue mich,
dass Sie so ausführlich über die „Aktion Aufschrei –
Stoppt den Waffenhandel!“ und über die Aktivitäten zur
Begrenzung von Kleinwaffenexporten sprechen. Ich
würde einfach mal nachfragen wollen: Wie passt es,
wenn die SPD hinter diesen Aktivitäten steht und auch
der Wirtschaftsminister angeblich alles dafür tun will,
dass der Handel mit Kleinwaffen nicht mehr Bestandteil
der Wirtschaftspolitik ist, ins Bild, dass der Staatssekre-
tär im Wirtschaftsministerium Uwe Beckmeyer im Fe-
bruar dieses Jahres, und zwar unmittelbar nach dem Red
Hand Day, an dem wir gegen den Einsatz von Kindersol-
daten demonstriert haben, im Rahmen einer Reise nach
Indien, einem Land, in dem Kinder für gewalttätige Aus-





Kathrin Vogler


(A) (C)



(D)(B)

einandersetzungen rekrutiert werden, eine umfangreiche
Wirtschaftsdelegation zu Rüstungs- und Sicherheitstech-
nologien bei sich gehabt hat, in der unter anderem die
Firma Heckler & Koch vertreten war? Die Kollegin Par-
lamentarische Staatssekretärin Brigitte Zypries hat die-
sen Vorgang in der Fragestunde des Bundestages als
Rüstungsförderung „by the way“ bezeichnet. Ist es so,
dass die SPD – den Eindruck konnte man auch bei der
Rede Ihres Kollegen aus dem Wirtschaftsbereich be-
kommen – es nach außen hin so darstellt, als ob sie Rüs-
tungsexporte gar nicht so gut findet und wirklich etwas
dagegen unternehmen und sie transparenter gestalten
will, tatsächlich aber heimlich Wirtschaftsdelegationen
zur Förderung des Kleinwaffenhandels in Ländern wie
Indien begleitet, und das unmittelbar nach dem Red
Hand Day?


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD):
Rede ID: ID1810925000

Liebe Kathrin Vogler, das, was Uwe Beckmeyer als

Parlamentarischer Staatssekretär macht, basiert nicht auf
einem Beschluss der SPD-Fraktion. Insofern wäre ich
froh, wenn diese Frage an ihn gerichtet würde und nicht
an mich.

Was ich referieren kann – das kommt ebenfalls aus
dem Wirtschaftsministerium, aber nicht von Uwe
Beckmeyer –, sind die neuen „Grundsätze der Bundes-
regierung für die Ausfuhrgenehmigungspolitik bei der
Lieferung von Kleinen und Leichten Waffen, dazugehö-
riger Munition und entsprechender Herstellungsausrüs-
tung in Drittländer“ vom 18. März dieses Jahres. Darin
sind einige der Forderungen aufgegriffen, die von Orga-
nisationen wie der „Gemeinsamen Konferenz Kirche
und Entwicklung“ oder von der „Aktion Aufschrei –
Stoppt den Waffenhandel!“ geäußert worden sind – ich
zitiere Punkt 6 –:

Der Exportgrundsatz „Neu für Alt“ wird grundsätz-
lich bei Genehmigungen von Kleinen und Leichten
Waffen angewendet. Das heißt: staatliche Empfän-
ger von Kleinen und Leichten Waffen haben grund-
sätzlich eine Verpflichtungserklärung dahingehend
abzugeben, dass sie die durch die Neubeschaffung
zu ersetzenden Kleinen und Leichten Waffen ver-
nichten. … Die Bundesregierung trägt dafür Sorge,

– so geht es weiter im Text –

dass die Umsetzung des Exportgrundsatzes „Neu
für Alt“ sowie dessen Variante „Neu, Vernichtung
bei Aussonderung“

– sie wird dazwischen geschildert –

überwacht wird.

Ein weiterer Punkt dieser Grundsätze, die übrigens im
Internet auf der Seite des Wirtschaftsministeriums öf-
fentlich zugänglich sind, ist der Punkt 9, bei dem es um
die Kennzeichnung von Kleinen und Leichten Waffen
geht, weil der Weiterverkauf bzw. die unkontrollierte
Weitergabe eines der großen Probleme bei Kleinen und
Leichten Waffen ist. Unter Punkt 9 heißt es:
Kleine und Leichte Waffen sind mit Kennzeichen
zu versehen, die leicht erkennbar, lesbar, dauerhaft
und nach Maßgabe der technischen Möglichkeiten
wiederherstellbar sind. Die umfassende Kennzeich-
nung von in Deutschland hergestellten Kleinen und
Leichten Waffen wird rechtsverbindlich geregelt
und erfolgt unter Berücksichtigung internationaler
Verpflichtungen.

Unter Punkt 10 heißt es schließlich – hoffentlich wird
er sich in Zukunft hilfreich auswirken –:

Die Bundesregierung bekräftigt in diesem Zusam-
menhang, dass überschüssige Kleine und Leichte
Waffen im Verantwortungsbereich der Bundeswehr
grundsätzlich vernichtet werden.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810925100

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Keul?


Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD):
Rede ID: ID1810925200

Ja.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810925300

Bitte schön. – Vielleicht darf ich vorher noch einmal

darauf aufmerksam machen, dass die Zwischenfragen
oder Zwischenbemerkungen immer kurz und präzise
sein sollten, damit eine ebenso kurze und präzise Ant-
wort möglich ist.


Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810925400

Ich werde das berücksichtigen. – Frau Finckh-

Krämer, Sie zitieren aus diesem glorreichen Papier. Ich
möchte deshalb nachfragen, ob Sie mir einen Punkt nen-
nen können, der in irgendeiner Weise neu ist. Alle diese
Punkte, die Sie eben genannt haben – Punkt 6: „Neu für
Alt“, Punkt 9: „sind zu kennzeichnen“, Punkt 10: „be-
kräftigen wir“ –, stehen seit Jahren wortwörtlich so in den
Rüstungsexportberichten, einschließlich: „Wir werden
keine Waffenlizenzen an Drittstaaten genehmigen“. – Das
steht alles wortwörtlich seit Jahren in den Berichten. Wo
in diesen Grundsätzen ist auch nur irgendein Komma
neu?


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD):
Rede ID: ID1810925500

Neu ist zumindest, dass es eine Absichtserklärung der

Bundesregierung ist, die in der letzten Legislaturperiode
vielleicht nicht ganz so – das hat die SPD in der Opposi-
tion zu Recht kritisiert – eingehalten wurde. Jetzt wird
sie noch einmal in zehn knappen und präzisen Punkten
festgelegt. Letztlich ist es – das kann man so formulieren –
eine Bekräftigung, dass man die etwas lockerere Geneh-
migungspraxis der letzten Legislaturperiode nicht mehr
haben möchte.

Bernd Westphal hat eben schon aus dem Zwischenbe-
richt über die Rüstungsexporte im ersten Halbjahr 2014
zitiert, der im Herbst veröffentlicht wurde. Dort ist ge-
genübergestellt, wie viele Kleinwaffen im ersten Halb-
jahr 2013, also unter Schwarz-Gelb, in NATO- bzw. EU-





Dr. Ute Finckh-Krämer


(A) (C)



(D)(B)

Länder oder in Länder außerhalb der EU bzw. NATO
und gleichgestellte Länder exportiert wurden. Hier sind
die Zahlen drastisch zurückgegangen. Übrigens enthält
dieser Bericht in der Anlage eine vollständige Liste über
die „Genehmigungen von Kleinwaffen für Drittländer
im ersten Halbjahr 2014 (endgültige Ausfuhren)“. Man
kann also nachlesen, in welche Länder im ersten Halb-
jahr 2014 exportiert wurde.

Aus meiner persönlichen Sicht ist jede Kleinwaffe,
die exportiert wird, eine zu viel. Andererseits haben etli-
che in diesem Haus – auch von Ihrer Partei, soweit ich
weiß – diversen VN-Missionen zugestimmt. In Anlage 7
zu diesem Zwischenbericht sind auch einzelne Exporte
in VN-Missionen aufgeführt. Das sollten Sie dann unter
Umständen mal intern diskutieren.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gegen VN-Missionen haben wir überhaupt nichts! Damit haben wir kein Problem!)


– Eben, genau. Aber wenn man Waffenlieferungen in
VN-Missionen akzeptiert, kann man nicht ganz so
grundsätzlich argumentieren, wie man das kann, wenn
man auch VN-Missionen ablehnt.

Was ich noch wichtig finde und was ich allen hier im
Raum noch mitgeben möchte: Vorgestern ist das Frie-
densgutachten 2015 erschienen. Viele von uns, die wir in
den zuständigen Ausschüssen sind, haben inzwischen
mit den Herausgeberinnen und Herausgebern Gespräche
geführt. Der Bundestag ist ja auch ein Gremium, das ge-
legentlich dazulernt; auch die Bundesregierung lernt ge-
legentlich dazu. Deswegen möchte ich zum Schluss
noch einmal daran erinnern, was im Friedensgutachten
in der Stellungnahme der Herausgeberinnen und Heraus-
geber zu Waffenexporten steht. Sie sagen ganz klar, dass
Waffenlieferungen an Konfliktparteien ein ungeeignetes
Mittel sind, um Völkermord und Verbrechen gegen die
Menschlichkeit zu verhindern, und sie kommen als Ex-
perten für Friedens- und Konfliktforschung zu dem
Schluss, dass auch Waffenlieferungen an vermeintliche
Stabilitätsanker wie zum Beispiel Saudi-Arabien abzu-
lehnen sind, weil sie zu einer friedlichen Entwicklung
der Region nichts beitragen.

Ich hoffe, dass wir in einem weiteren Diskurs mit den
Expertinnen und Experten, die das Friedensgutachten
herausgeben, zu weiteren Erkenntnissen in Bezug auf
Waffenlieferungen kommen und dass sich dann noch
weitere Änderungen über den Bereich der Kleinwaffen
hinaus ergeben.

Danke schön.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810925600

Vielen Dank. – Damit sind wir am Ende der Ausspra-

che.

Unstrittig ist die Überweisung der Vorlage auf Druck-
sache 18/4940 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse.
Strittig ist die Federführung. Die Fraktionen der
CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Aus-
schuss für Wirtschaft und Energie. Die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen wünscht die Federführung beim Aus-
wärtigen Ausschuss.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der
Überweisungsvorschlag gegen die Stimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen von den übrigen Fraktionen ab-
gelehnt worden.

Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor-
schlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Feder-
führung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Überwei-
sungsvorschlag ist mit den Stimmen von CDU/CSU-
und SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktionen
Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
internationalen Sicherheitspräsenz in Kosovo
auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999)

des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Tech-
nischen Abkommens zwischen der internatio-
nalen Sicherheitspräsenz (KFOR) und den
Regierungen der Bundesrepublik Jugosla-
wien (jetzt: Republik Serbien) und der Repu-
blik Serbien vom 9. Juni 1999

Drucksache 18/5052
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich bitte jetzt, die Plätze einzunehmen. Die Kollegin
Vogler und die Kollegin Finckh-Krämer können viel-
leicht draußen weiterreden. – Danke.

Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierung
erhält das Wort Bundesminister Dr. Frank-Walter
Steinmeier.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich weiß nicht, ob Sie es alle wissen: Ges-
tern war Tag des Peacekeepers. Wir haben gestern als





Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (C)



(D)(B)

Bundesregierung neun junge Frauen ausgezeichnet – ei-
nige waren bei der Veranstaltung dabei, unter anderem
Frau Finckh-Krämer –, die in unterschiedlichen Peace-
keeping-Aktionen in der Welt unterwegs sind. Unter ih-
nen war eine Frau, die vom Podium aus erzählt hat, dass
sie vor vielen Jahren bei EULEX, auf dem Balkan, im
Kosovo, angefangen hat und heute mit anderen europäi-
schen Richtern dabei ist, im Kosovo das höchste Gericht
aufzubauen. Sie hat gesagt, nicht alles sei vollständig,
nicht alles so, wie wir uns das wünschen, aber man
komme voran.

Wenn man sich die verschiedenen Berichte all derjeni-
gen, die in Peacekeeping-Operationen unterwegs waren,
auch derjenigen, die auf dem Balkan waren, anschaut,
dann kommt einem vieles von dem in Erinnerung, was
man schon verdrängt hat: blutige Auseinandersetzungen,
Menschenrechtsverletzungen, Instabilität, Krieg und
Bürgerkrieg. Das alles ist erst wenige Jahre her.

KFOR, eine Operation, über die wir uns hier im Deut-
schen Bundestag jedes Jahr unterhalten, geht jetzt ins
16. Jahr. Manch einer mag fragen: Wenn das schon
16 Jahre dauert, ist das dann eigentlich noch sinnvoll?
Ich will das mit einem eindeutigen Ja beantworten, ge-
rade weil mir noch vor Augen ist, wie es am Anfang war,
wie viel Instabilität und Unsicherheit auf dem westlichen
Balkan vorhanden war. Ich weiß, was sich verändert hat,
seit wir dem westlichen Balkan insgesamt eine europäi-
sche Perspektive haben anbieten können.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass viele Staaten
in der Region sicherer und stabiler geworden sind, ist
eben auch das Verdienst der deutschen Soldatinnen und
Soldaten im Rahmen von KFOR.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir wissen, dass positive Entwicklungen in einem Staat
des westlichen Balkans stabilisierende Konsequenzen
auch für die Nachbarstaaten haben. Das ist in einer eth-
nisch so eng verflochtenen Region wie dem westlichen
Balkan notwendigerweise so. Ich will ausdrücklich sa-
gen: Unsere Soldatinnen und Soldaten haben dazu einen
entscheidenden Beitrag geleistet. Dafür gebührt ihnen
Dank und unsere ganze Anerkennung.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es geht nicht nur um KFOR und den Einsatz der Sol-
datinnen und Soldaten. Wenn man genauer hinschaut,
stellt man fest, dass sich trotz aller Unvollständigkeit
und trotz aller Gründe, zu klagen, zwischen den Staaten,
die miteinander im Konflikt lagen und nach wie vor un-
terschiedliche Interessen haben, etwas bewegt. Das wird
etwa deutlich, wenn wir auf das Verhältnis zwischen
Serbien und Kosovo schauen: Sie bewegen sich mit viel
Mühe und Kompromissbereitschaft, jedenfalls von Zeit
zu Zeit, aufeinander zu. Sie haben ihr Verhältnis grund-
legend neu geregelt. Im Wege der Normalisierungsver-
einbarung, die zur Umsetzung ansteht, hat sich die Be-
ziehung zwischen diesen beiden Ländern durchaus
verbessert. Das gilt auch für den Norden des Kosovo; ich
bin mir sicher, der eine oder andere von Ihnen war vor
kurzem dort. Dort gibt es immerhin einheitliche Polizei-
strukturen und legitimierte Kommunalverwaltungen.

Das ist mehr als ein Schritt nach vorne. Aber es fehlt
natürlich noch vieles. Wir reden – ich bin gerade erst
dort gewesen – mit den Kosovaren und den Serben über
die Einrichtung eines kosovo-serbischen Gemeindever-
bandes. Diesbezüglich gibt es noch einige Dinge zu klä-
ren. Wir reden darüber, wie die Energieversorgungs- und
Telekommunikationsbeziehungen zwischen Serbien und
dem Kosovo geregelt werden können. All das ist Gegen-
stand der Normalisierungsvereinbarung. Das ist aber
noch nicht umgesetzt.

Wir dürfen nicht nachlassen. Wir dürfen nicht nach-
lassen in unserem politischen Druck, aber wir dürfen
auch nicht nachlassen in unseren Bemühungen, dort Si-
cherheit und Stabilität zu gewährleisten. Deshalb brau-
chen wir KFOR nach wie vor. Deshalb bitten wir Sie um
die Fortsetzung des Mandats.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir tun das nicht – ich hoffe, das versteht keiner
miss – nur aus reinster Nächstenliebe. Europa hat auch
eigene Interessen. Wir haben Interesse an einer sicheren
und stabilen Nachbarschaft auf dem westlichen Balkan.
Weil das so ist, verfolgen wir die Geschehnisse in unter-
schiedlichen Staaten nicht nur mit Interesse, sondern
manchmal auch mit Unruhe.

Mit Unruhe verfolge ich in diesen Tagen etwa die
Entwicklung in Mazedonien. Ich habe heute Morgen mit
EU-Kommissar Hahn gesprochen, der sich redlich be-
müht, dort schlichtend zwischen den Streitparteien tätig
zu werden. Aber es sind fragile Beziehungen zwischen
den verschiedenen ethnischen Gruppen. Der Rückfall
des Landes ist jedenfalls nicht ausgeschlossen, wenn die
politisch Verantwortlichen ihrer Verantwortung nicht ge-
recht werden.

In der vergangenen Woche schien es so zu sein, als ob
wir einen Schritt weiter wären. Es schien so zu sein, dass
der Weg hin zu Neuwahlen in einem überschaubaren
Zeitraum geebnet ist. Diese Woche haben Gespräche da-
rüber stattgefunden, wie man den Zeitraum bis zum
Stattfinden von Neuwahlen so gestaltet, dass alle ethni-
schen und politischen Gruppierungen bei diesen Wahlen
eine faire Chance haben. Diese Gespräche sind gestern
nicht gut gelaufen. Ich hoffe, dass wir sie in allernächster
Zeit wiederholen können. Ich hoffe auch, dass der Mi-

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1810925700
Wer sich auf dem
westlichen Balkan auf den Weg nach Europa begibt und
hofft, dort anzukommen, der wird diesen Weg nur dann
erfolgreich gehen können, wenn er seine Verantwortung
zur Wahrung demokratischer und rechtsstaatlicher Struk-
turen wirklich wahrnimmt.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt Licht und Schatten auf dem westlichen Bal-
kan; das hatte ich gesagt. Vorübergehend Licht gab es je-
denfalls mit Blick auf Bosnien. Wir hatten dort über





Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (C)



(D)(B)

viele Jahre eine völlig blockierte innenpolitische Situa-
tion. Sie haben gesehen, dass ich versucht habe, gemein-
sam mit dem britischen Außenminister eine Initiative zu
starten, um die bosnischen Entitäten und die politischen
Parteien in Bosnien-Herzegowina wieder miteinander
ins Gespräch zu bringen, indem wir sie davon wegge-
bracht haben, die schwierigsten Fragen dieses Gemein-
wesens, etwa die Reform der Verfassung, zu Anfang zu
lösen, und sie ermutigt haben, sich zunächst einmal den
sozioökonomischen Notwendigkeiten zu stellen und ein
gemeinsames Reformprogramm auf den Weg zu brin-
gen. Da jedenfalls scheint es Fortschritt zu geben. Ich
hoffe, dass die Republik Srpska diesen Prozess nicht er-
neut blockiert. Dieser Fortschritt wäre jedenfalls eine
Voraussetzung dafür, dass der Rückstand, den Bosnien-
Herzegowina auf dem europäischen Weg erlitten hat
– auch kraft eigenen Versagens –, nach und nach aufge-
holt wird.

Mein wichtigstes Beispiel, wenn ich in dieser Region
unterwegs bin, ist immer Kroatien. Das Land ist seit Jah-
ren Mitgliedstaat der Europäischen Union. Kroatien ist
einen Weg gegangen, der diesem Land nicht leichtgefal-
len ist. Es gibt Länder wie Montenegro, die auf einem
ähnlichen Weg sind und erkannt haben, dass sie sich
selbst bewegen müssen, wenn der Zug in Richtung Eu-
ropa schleuniger fahren soll.

Ob das Ganze auch für Serbien gilt, müssen wir se-
hen. Mit Serbien sind wir zurzeit in intensiven Gesprä-
chen. Serbien wünscht die Eröffnung von Beitrittskapi-
teln. Der Deutsche Bundestag hat seine Erwartungen
dazu geäußert. Wir haben bei unseren letzten Gesprä-
chen in Serbien noch einmal deutlich gemacht, dass ein
signifikanter Fortschritt bei der Umsetzung der Normali-
sierungsvereinbarung für die Regierung eine der Voraus-
setzungen dafür ist, dass wir der Eröffnung von Beitritts-
kapiteln tatsächlich zustimmen können.

Dieser kurze Überblick über die Situation auf dem
westlichen Balkan mag zeigen: Es ist eine Region mit
viel Licht und Schatten, eine Region, die weiterhin un-
sere dringende Aufmerksamkeit verlangt. Verlangt ist
aber auch, dass wir unser Bemühen um Sicherheit und
Stabilität nicht aufgeben. Dafür brauchen wir KFOR;
deshalb noch einmal meine Bitte um Zustimmung.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810925800

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Alexander

Neu für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810925900

Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau

Präsidentin! Kanzlerin Merkel wird nicht müde, zu be-
haupten, Russland habe die europäische Friedensarchi-
tektur zerstört. Am 9. Mai dieses Jahres erklärte Frau
Merkel in Moskau:
Durch die verbrecherische und völkerrechtswidrige
Annexion der Krim hat die Zusammenarbeit … ei-
nen schweren Rückschlag erlitten.

Hierzu zwei Anmerkungen:

Erste Anmerkung. Welche europäische Friedensord-
nung meint Frau Merkel? Meint sie die Nichtumsetzung
der Charta von Paris? Meint sie das Verhindern der
Schaffung eines gemeinsamen europäischen Hauses auf
ökonomischer und sicherheitspolitischer Grundlage von
Lissabon bis Wladiwostok?

Beides sind im Übrigen Konzepte, die tatsächlich eine
europäische Friedensordnung hätten schaffen können
und die vermutlich auch die Konflikte in der Ukraine
und in Jugoslawien verhindert hätten. Stattdessen haben
wir eine Ausdehnung der NATO und der Europäischen
Union und NATO-Kriege auch in Europa – gegen Jugo-
slawien – gesehen.

Der Westen hatte seit 1991 die historische Chance,
der Welt die Tauglichkeit seiner eigenen Werte und zivi-
lisatorischen Standards unter Beweis zu stellen. Was ge-
schah? Man versagte. Die Verlockung von Macht und
geopolitischen Gewinnen wog schwerer als die friedens-
politische Vernunft. Merkels sogenannte Friedensord-
nung ist nichts anderes als eine vom Westen diktierte
Machtordnung, eine Machtordnung, die nicht mehr
funktioniert.


(Beifall bei der LINKEN)


Zweite Anmerkung. Es geht um Merkels Aussage der
völkerrechtswidrigen Annexion der Krim. Es lässt sich
darüber streiten, ob dies eine Annexion oder eine Sezes-
sion mit Beitritt zur Russischen Föderation war. Fakt ist:
Nimmt man das UN-Völkerrecht, das heißt die UN-
Charta, ernst, dann war die Aufnahme der Krim in die
Russische Föderation völkerrechtswidrig. Fakt ist aber
auch: Der Westen nimmt die UN-Charta seit langem sel-
ber nicht mehr ernst.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Leider!)


Die Einmischung des Westens in die inneren Angele-
genheiten eines Landes wird zum Normalfall; das ist
derzeit besonders in Syrien wieder zu sehen. In Jugosla-
wien – und später Serbien – wurden bis heute die meis-
ten westlichen Völkerrechtsbrüche begangen. Festzuhal-
ten ist: Die internationale Rechtsordnung wurde nach
1991 durch die westliche Machtordnung ersetzt. Aber:
Völkerrechtsbrüche schaffen Präzedenzfälle, und Präze-
denzfälle werden genutzt, wenn sich die Machtverhält-
nisse ändern.

Nun verschiebt sich die globale Machtordnung. Das
wiedererstarkte Russland nutzt diese Präzedenzfälle, und
damit ist der Krim-Fall nicht mehr so eindeutig eine
Völkerrechtsverletzung, wie vorgegeben, wenn man Prä-
zedenzfälle als Weiterentwicklung des Völkerrechts be-
greift, und das wird in der Politikwissenschaft und in der
Politik – auch in Deutschland – so formuliert.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine interessante Theorie!)






Dr. Alexander S. Neu


(A) (C)



(D)(B)

Im Land der Denker und Dichter


(Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Wer ist denn der Dichter in dieser Rede?)


– Denker – hat der deutsche Philosoph Immanuel Kant
in seinem berühmten Werk Zum ewigen Frieden die Ein-
mischung in innere Angelegenheiten als kriegsursäch-
lich bezeichnet. In seinen Aufzählungen der Konditio-
nen zur Schaffung des ewigen Friedens fordert Kant
– ich zitiere ihn –:

Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regie-
rung eines andern Staats gewalttätig einmischen.


(Beifall bei der LINKEN)


Dem ist nichts hinzuzufügen.

Die Frage ist doch: Warum durften sich die jugoslawi-
schen Teilrepubliken Slowenien, Kroatien und Bosnien
und die serbische Provinz Kosovo gewaltsam von Jugo-
slawien separieren, also das Selbstbestimmungsrecht ge-
waltsam über die territoriale Integrität und Souveränität
Jugoslawiens stellen? Warum dürfen die Serben das
nicht in Kroatien? Warum dürfen die Serben das nicht in
Bosnien oder in Nordkosovo? Warum dürfen das die
Südosseten, die Abchasen und die Ostukrainer nicht?
Warum dürfen die sich nicht selbstbestimmen?

Die Antwort ist völkerrechtlich nicht leistbar. Sie ist
banal: Es geht um Machtpolitik. Konkret: Der Westen
als Sieger des Kalten Krieges bestimmt selbstherrlich,
wer ein guter Separatist und wer ein schlechter Separa-
tist und somit Terrorist ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Die guten Separatisten stehen auf der richtigen Seite,
nämlich im Westen, und die übrigen halt auf der falschen
Seite. Die NATO-geführte KFOR ist für uns der Inbe-
griff einer neoimperialistischen Politik: von der Pro-
UCK-Kriegspartei über Nacht zur Friedenstruppe mit
UN-Mandat.


(Der Redner hält ein Foto hoch)


– Schauen Sie sich einmal dieses wunderbare Bild an,
auf dem alle Ganoven drauf sind: Wesley Clark,
SACEUR, sein Stellvertreter Michael Jackson und
Hashim Thaci. Das sind alles Ihre Freunde während des
Krieges. Das zeigt die große Nähe der NATO und wie
sich die NATO für die kosovo-albanische Sezession her-
gegeben hat. Das ist ein Bild, das tausend Worte spricht.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Das glaubst du doch wohl selbst nicht!)


Wir, die Linke, fordern ein Ende dieser rechtszerstö-
renden Doppelstandardpolitik, und daher lehnen wir den
KFOR-Antrag ab.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810926000

Nächster Redner ist Philipp Mißfelder, CDU/CSU-

Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1810926100

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!

Liebe Kollegen! Herr Neu, was soll ich dazu sagen? Mir
fällt es jetzt wirklich schwer, das, was Sie gesagt haben,
einzuordnen.


(Widerspruch bei der LINKEN)


Man kann auf manche Argumente von Herrn Gehrcke
oder von Herrn Dehm normalerweise ja noch reagieren,
aber bei Ihnen fällt es mir jetzt wirklich sehr schwer.

Ich möchte Ihnen nur eine Frage stellen – fühlen Sie
sich dadurch nicht zu einer Zwischenfrage provoziert,
die Sie meinetwegen aber auch stellen können; ich lasse
sie zu –: Was ist denn bitte Ihre Alternative zu dem, was
Sie gerade vorgetragen haben? Sie tun so, als ob KFOR
ein Kampfeinsatz wäre, der einer Invasion gleichkommt.


(Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Das ist es doch auch!)


– Nein, das ist es nicht. KFOR ist eine friedenssichernde
Maßnahme. Wir hätten uns als Unionsfraktion ge-
wünscht, dass wir heute sagen können: Das Mandat en-
det. – Wir hatten sogar zwischendurch eine Entwick-
lung, in der es danach aussah. Allerdings hat sich der
Balkan – der Minister hat es gerade gesagt – leider in
eine andere Richtung entwickelt.

Wir haben – ich weiß nicht, ob man darüber berichten
darf, aber ich setze das Einverständnis meiner Kollegen
voraus – diese Woche im Auswärtigen Ausschuss aus-
führlich darüber diskutiert. Ich glaube, wir haben in die-
ser Frage selten so viel Einigkeit gehabt wie in dieser
Woche. Denn das, was gerade auf dem Balkan insgesamt
passiert – im Kosovo, in Bosnien, aber auch in Mazedo-
nien –, bleibt zehn Jahre hinter einer Entwicklung zu-
rück, die wir eigentlich schon erreicht hatten. Deswegen
ist das Mandat weiter notwendig.

Ich würde gerne sagen: Es läuft aus. – Aber wir kön-
nen es uns jetzt nicht leisten, die Soldaten abzuziehen,
weil der Gefährdungsgrad nach wie vor gegeben ist. Es
stimmt zwar, dass der Charakter des Mandats sich im
Laufe der Zeit etwas verändert hat. Aber heute ist die
Lage näher an eine Auseinandersetzung, sowohl poli-
tisch als auch im negativsten Fall militärisch, gerückt,
als wir es vor fünf Jahren vielleicht noch gedacht haben.

Was Mazedonien angeht, möchte ich dem Minister
beipflichten. Ich finde es richtig, dass die EU sich so
stark engagiert. Ich glaube, an dieser Stelle sind tatsäch-
lich auch wir gefordert, weil – das möchte ich als etwas
Positives werten – beide Seiten in Mazedonien sehr
großen Wert auf gute Beziehungen zu ihren Schwester-
parteien – damit meine ich nicht CDU/CSU oder SPD,
sondern die europäischen Schwesterparteien – legen.
Teilweise wird auch versucht, das zu instrumentalisie-
ren.

Was wir als starke Parlamentarier und Parteivertreter
dazu beitragen können, ist, glaube ich, die EU-Kommis-
sion zu unterstützen, indem wir darauf hinwirken, dass





Philipp Mißfelder


(A) (C)



(D)(B)

Mazedonien eine Technokratenregierung bekommt und
es Neuwahlen unter fairen und rechtmäßigen Bedingun-
gen gibt, um dadurch die Situation etwas abzukühlen.
Denn das, was wir vor ein paar Wochen erlebt haben
– unabhängig davon, wie das konkret zustande gekom-
men ist; es gibt viele Verschwörungstheorien und unter-
schiedliche Ansichten dazu –, war definitiv eine Aus-
einandersetzung militärischer Art, die entweder durch
Terror oder durch so große Verwerfungen innerhalb des
Landes entstanden ist, dass man in Mazedonien alar-
miert sein muss. Von Aussöhnung ist man sehr weit ent-
fernt.

Deshalb werbe ich dafür, dass wir versuchen, mög-
lichst auf die Bildung einer Allparteienregierung hinzu-
wirken – ich habe gerade von einer Technokratenregie-
rung gesprochen – oder den Prozess einzuleiten, von
dem der Minister gesprochen hat, einen Prozess, der
dazu führt, dass wieder Stabilität einkehrt. Die Sorge, die
ich bei der Forderung nach Neuwahlen habe, ist, dass es
dann wieder zu einem gegenseitigen Aufrüsten im Wahl-
kampf kommt – das meine ich nicht militärisch, sondern
medial und rhetorisch –, von dem man nur schwer wie-
der herunterkommt.

Hier muss ich – wir diskutieren ja oft über Griechen-
land – deutlich sagen: Das Verhalten unseres griechi-
schen NATO-Partners ist an dieser Stelle nicht akzepta-
bel.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


In einer solchen Phase in dem Namensstreit, in dem die
Amerikaner konkrete Lösungsvorschläge gemacht haben
– übrigens emotional zulasten der Mazedonier –, jeden
Vorschlag immer wieder abzulehnen, halte ich für unver-
antwortlich. Wenn man mit griechischen Politikern da-
rüber diskutiert, schwingt immer eine Drohung im
Raume mit. Sie sagen nämlich: Ihr müsst mit dem Pro-
blem dann halt fertig werden, dass die ausländischen
Kämpfer, die vom Balkan nach Syrien gezogen sind und
jetzt, bestens trainiert und motiviert, aus dem Levante-
Kampfgebiet zurückkehren, nicht wieder in den Balkan
einsickern; wir können dazu nichts beitragen.

Natürlich muss Griechenland etwas beitragen, und
zwar durch Grenzkontrollen und den Austausch der not-
wendigen nachrichtendienstlichen Informationen, damit
es dort nicht zu einem Terroristenverkehr von A nach B
kommt. Insofern müssen wir die Griechen wirklich er-
mahnen. Denn diese Drohung hat der griechische Vertei-
digungsminister sogar einmal in einer deutschen Zeitung
geäußert. Ich hoffe nicht, dass das der Grund ist, dass
diese Auseinandersetzung in Mazedonien stattgefunden
hat oder Kämpfer eingesickert sind. Es gibt Hinweise
darauf, dass es so sein könnte. Ich schließe an dieser
Stelle keine einzige Erklärung aus.

Frau Präsidentin, ich werbe für das Mandat und
komme zum Schluss meiner Rede.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810926200

Vielen Dank. Das ist vorbildlich. – Das Wort hat jetzt

die Kollegin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Wer wie ich wenige Tage, nachdem sich der Alb-
traum in Srebrenica abgespielt hatte und von der Batte-
riefabrik in Potocari etwa 7 000 männliche Kinder, junge
Männer und auch Frauen aus den Händen von Blauhelm-
soldaten in die Wälder entführt und dort ermordet wor-
den sind, vor Ort war, wer das sehr nah miterlebt hat, der
kann mit so einfachen Wahrheiten, Herr Neu, wie Sie sie
hier dargelegt haben, nicht umgehen. Denn es gibt zwei
Seiten. Es gibt einmal das „Nie wieder Krieg“ – da ha-
ben Sie recht –, aber die zweite Seite heißt: Nie wieder
Opfer.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Wir müssen uns damit auseinandersetzen, wie wir diese
Lehre für uns umsetzen. Denn das ist die zweite Lehre
aus der deutschen Geschichte mit der nationalsozialisti-
schen Aggression, mit der wir ganz Europa überzogen
haben.

Wir beraten seit 1999, also nun zum 16. Mal, dieses
KFOR-Mandat. Ich würde trotz der kurzen Zeit darum
bitten, dass wir nicht nur auf das Kosovo schauen. Es ist
nur ein Teil des Gebietes. Der Westbalkan ist miteinan-
der verbunden. Wir sollten tatsächlich sehr aufmerksam
beobachten, dass es in der Region stärker brodelt, als wir
es vor 20 Jahren vielleicht für möglich gehalten haben.
Wir alle waren davon ausgegangen, dass nach einer
Beruhigungsphase und mit dem Ausblick und der
Möglichkeit, den Weg nach Europa einzuschlagen, die
Staatenbildung und die Institutionenbildung schneller
vorangehen würden, dass Gewalt, Hass, Korruption und
fehlende Rechtsstaatlichkeit schneller überwunden wer-
den könnten, als es sich dann tatsächlich herausgestellt
hat.

Es gibt neue Hotspots. Während der Ministerpräsi-
dent Serbiens eine EU-orientierte Politik macht, fordert
der serbische Präsident das Kosovo für Serbien zurück.
In Bosnien-Herzegowina ist die Föderationsregierung
gerade wieder zerbrochen. Es gärt in der Republik
Srpska, weil Präsident Dodik um sein politisches Über-
leben kämpft. Mazedonien steuert unter einem Premier-
minister, der in seiner Politik immer repressiver wird
– der Journalismus gerät immer stärker unter Druck –,
immer tiefer in die Krise. Es gab die offene, gewalttätige
Auseinandersetzung in Kumanovo. Wir wissen bis zum
heutigen Tage nicht, was dort wirklich passiert ist. Aber
diese Gewalttat wird von vielen Seiten politisch instru-
mentalisiert, einmal ethnisch oder um die autoritären
Strukturen des Regimes noch stärker zu rechtfertigen.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810926300

Frau Kollegin Beck, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Neu?






(A) (C)



(D)

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Ja, bitte.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810926400

Bitte schön.


Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810926500

Frau Kollegin Beck, Sie sprachen vorhin von Opfern.

Sehen Sie auch die Opfer in der Ostukraine, verursacht
durch ukrainisches Militär, zivile Opfer, mehrere
Tausend? Sehen Sie die Opfer in Südossetien 2008? Se-
hen Sie die Opfer im Kosovo, die nach dem NATO-Ein-
marsch geflüchtet sind? Etwa 250 000 Serbinnen und
Serben und Roma sind nach Zentralserbien geflüchtet
und konnten bis heute nicht zurückkehren. Sehen Sie
auch diese Opfer? Warum plädieren Sie nicht dafür, dass
KFOR für ausreichend Sicherheit sorgt, damit auch
diese Opfer zurückkehren können?

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Ich bin im Augenblick etwas überfordert, diese Ver-
bindung zu sehen. Sie haben vollkommen recht: Opfer
müssen im politischen Zusammenhang gesehen werden.
Ich habe gerade mit meinem Kollegen darüber gespro-
chen: das Beispiel Vietnam. Der Einmarsch Vietnams in
Kambodscha – er war völkerrechtlich nicht eindeutig ge-
deckt, nicht durch ein UN-Mandat gedeckt – hat einem
unglaublichen Regime wie dem von Pol Pot ein Ende
bereitet. Diese Frage können Sie nur noch politisch ent-
scheiden. Das ist die Schwierigkeit, vor der wir als Poli-
tiker stehen. Wir müssen die Entscheidungen, die wir ge-
fällt haben, moralisch und ethisch verantworten.

Es gibt Recht und Völkerrecht. Es gibt auch eine Un-
terscheidung von Tätern, Aggressoren und Opfern. Es
war Hannah Arendt, die uns mit auf den Weg gegeben
hat, dass wir uns vor der Bewertung von Tatsachen nicht
wegschleichen können. Das ist der feste Grund, auf dem
wir stehen. Dabei brauchen wir dann das Völkerrecht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Kommen wir zurück zum Balkan. Die Situation auf
dem Balkan ist im Augenblick sehr fragil. Auch EULEX
hat es nicht ganz geschafft, sich von diesen schwierigen
Verhältnissen frei zu halten. Das politische Problem ist,
dass wir gegen die Perspektivlosigkeit der Menschen in
der Region ankämpfen, die das Gefühl haben: Wir wis-
sen nicht, ob wir hier eine Zukunft haben. – Das hat et-
was mit den Menschen zu tun, die unser Land erreichen.

Ich würde schon sagen: 20 Jahre, nachdem auf dem
Westbalkan die OSZE, die UN, die EU, viele NGOs und
unsere Stiftungen aktiv sind und unterschiedliche Stabi-
lisierungsabkommen in Kraft getreten sind, müssen wir
in einen Review-Prozess eintreten, nicht nur für die Poli-
tik des Auswärtigen Amtes, sondern auch für unsere Sta-
bilisierungspolitik auf dem Westbalkan.
Ich kann nur ganz deutlich sagen: Ich habe mir vor
20 Jahren vorgestellt, dass die Staatenbildung einfacher
und schneller vonstatten geht. Ich habe gedacht: Wenn
Menschen die Freiheit bekommen, wird der Schub, der
dadurch gesellschaftlich entsteht, größer sein. Insofern
lernen wir, dass Transformationsprozesse, die vor allen
Dingen die Beteiligung der Bürgergesellschaft und da-
mit die Freiheit für zivilgesellschaftliches Engagement
von unten brauchen, sehr viel Zeit benötigen. Wir wer-
den das auch in der Ukraine erleben, Herr Kollege Neu.

Ich meine nur, uns muss klar sein: Soldaten schaffen
keinen Frieden. Aber sie schaffen die Voraussetzungen
dafür, dass solche Prozesse überhaupt in Gang kommen;
denn unter Gewalt sind solche Prozesse nicht möglich.
Deswegen stimmen wir Grüne diesem Mandat zu.

Schönen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810926600

Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der

Kollege Dirk Vöpel.


(Beifall bei der SPD)



Dirk Vöpel (SPD):
Rede ID: ID1810926700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Morgen vor genau 16 Jahren hat der Deutsche
Bundestag zum ersten Mal die Beteiligung an der
NATO-geführten Operation KFOR beschlossen. Nach
dem Ende des Kosovokrieges haben wir uns also von
Beginn an an dieser multinationalen Mission beteiligt.

KFOR ist für die Bundeswehr bisher der längste Ein-
satz mit dem personell zweitgrößten Auslandskontin-
gent. Zurzeit sind 751 Bundeswehrangehörige vor Ort.
Mehr als 125 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten ha-
ben im Laufe der 16 Jahre im Kosovo ihren Dienst ge-
leistet. Sie haben durch ihren Einsatz wesentlich zur Sta-
bilisierung der gesamten Region beigetragen. Hierfür
möchte ich ihnen an dieser Stelle meinen Dank und
meine Anerkennung aussprechen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Den Erfolg der Mission kann man an der quantitati-
ven Entwicklung des Kräfteansatzes festmachen: Waren
zu Beginn noch mehr als 50 000 Soldaten notwendig,
um ein sicheres und stabiles Umfeld sowie Bewegungs-
freiheit im Kosovo zu gewährleisten, so konnte das Auf-
gabenspektrum von KFOR einschließlich der ergänzen-
den Aufgaben bei der Unterstützung des Aufbaus
selbsttragender Sicherheitsstrukturen im vergangenen
Jahr mit insgesamt etwa 5 000 Soldatinnen und Soldaten
abgedeckt werden. Aber auch die politischen Fort-
schritte bei der Normalisierung der Beziehungen zwi-
schen Kosovo und Serbien geben bei allen Schwierigkei-
ten einen begründeten Anlass zur Hoffnung, dass hier in
Zukunft eine weitere Reduzierung erfolgen kann.

Im Zuge der Umsetzung der Normalisierungsverein-
barung vom 19. April 2013 werden Schritt für Schritt die

(B)






Dirk Vöpel


(A) (C)



(D)(B)

serbischen Parallelstrukturen im Norden Kosovos aufge-
löst und in kosovarische Strukturen überführt, und es
wird ein einheitlicher Rechtsraum in ganz Kosovo her-
gestellt. Hierbei wurden bereits wichtige Erfolge erzielt.
Solange sich jedoch die Beziehungen zwischen Serbien
und Kosovo noch nicht nachhaltig stabilisiert haben, ist
eine weitere enge internationale Begleitung notwendig.

Nun zum deutschen Beitrag. Die nationale Personal-
obergrenze für die deutsche Beteiligung an KFOR soll
im kommenden Jahr unverändert bei 1 850 Soldatinnen
und Soldaten verbleiben. Damit können deutsche Streit-
kräfte im umfassenden Einsatz- und Fähigkeitsspektrum
gemäß den NATO-Anforderungen im zugesagten Um-
fang für die Operation bereitgestellt werden. Auf mögli-
che Lageänderungen kann weiterhin angemessen re-
agiert werden.

Mit der Einsatzkompanie KFOR im Rahmen des der-
zeitigen Kontingents, den deutschen Anteilen am Haupt-
quartier, insbesondere im Bereich der Aufklärung und
mit dem Einsatzlazarett, sowie Teilen der operativen Re-
serve stellt Deutschland für den KFOR-Einsatz wichtige
und von anderen Partnern nur eingeschränkt zur Verfü-
gung gestellte Fähigkeiten.

Mit dem seit 2014 gestellten Leiter des NATO Liai-
son and Advisory Teams besetzt Deutschland einen zen-
tralen und wichtigen Posten in der Begleitung des Auf-
baus der kosovarischen Sicherheitskräfte. Über die
Beratung der Kosovo Security Force durch die NATO
hinaus unterstützt Deutschland deren Aufbau mit Mate-
riallieferungen sowie durch die enge Zusammenarbeit
mit dem deutschen KFOR-Kontingent. Zusätzlich wer-
den auf bilateraler Basis die sicherheitspolitischen In-
strumente der militärischen Ausbildungshilfe und der
bilateralen Jahresprogramme seit 2011 für Kosovo ange-
boten und intensiv genutzt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Lage in der
Republik Kosovo ist grundsätzlich ruhig und stabil.
Dennoch kann nicht ausgeschlossen werden – meine
Vorredner haben einige Punkte angesprochen –, dass ein
unerwarteter Zwischenfall, räumlich und zeitlich be-
grenzt, zu einer Anspannung der Lage vor Ort führen
könnte. Deshalb ist die Fortsetzung des Mandats not-
wendig und sinnvoll.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810926800

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Peter Beyer,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Peter Beyer (CDU):
Rede ID: ID1810926900

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist noch
gar nicht lange her, Anfang dieses Monats, dass der
Papst in Sarajevo war. Er hat von einer Atmosphäre des
Kriegs gesprochen. Er hat dies auf die gesamte Weltlage
bezogen, aber an diesem Ort, in Sarajevo, kann man dies
durchaus auch als eine Mahnung verstehen angesichts
der offenen und unterschwelligen Spannungen in der Re-
gion des westlichen Balkans.

Es ist kein Geheimnis, und wir haben es heute schon
häufiger richtigerweise in der Debatte gehört, dass die
KFOR-Mission und die Soldatinnen und Soldaten an der
Grenze zwischen Kosovo und Serbien erforderlich sind.
Sie sind erforderlich für die Sicherheit und die Stabilität.
Die Sicherheit und die Stabilität, die die KFOR-Solda-
tinnen und -Soldaten dort bringen, ermöglichen erst die
schwierigen Prozesse, die im Rahmen der Normalisie-
rung des Verhältnisses zwischen Serbien und Kosovo in
diesem Spannungsgebiet erforderlich sind. Für ihre
wichtige Arbeit, die die Soldatinnen und Soldaten dort
leisten, sage ich einen ausdrücklichen und herzlichen
Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Gleichzeitig mahne ich aber auch an: Allzu häufig
schauen wir nur „bei Gelegenheit“ auf den westlichen
Balkan, zumeist dann, wenn einmal wieder etwas
Schlechtes passiert, was uns mit Sorge umtreibt, bei-
spielsweise die drohende massenhafte Auswanderung
aus dem Kosovo, unter anderem nach Deutschland. Es
ist für uns Zeit, zu erkennen, dass es mit dem bloßen
bürokratischen Abarbeiten des Acquis communautaire
schon lange nicht mehr alleine getan ist. Dass kein Miss-
verständnis aufkommt: Ich bin schon davon überzeugt,
dass es richtig war und nach wie vor richtig ist, eine Ein-
zelbetrachtung bei der Heranführung an die Europäische
Union sowie an europäische Standards und Strukturen
vorzunehmen. Spätestens jedoch die gewaltsamen Auf-
stände in Mazedonien im letzten Monat, die heute schon
mehrfach in der Debatte angesprochen wurden, sollten
uns wachrütteln. Ich will mich nicht an Spekulationen
darüber beteiligen, welche Hintergründe und Hintermän-
ner bei den kämpferischen Aufständen in Mazedonien
eine Rolle gespielt haben. Für mich steht jedenfalls fest,
dass die Akteure eine Erosion der relativen Stabilität in
der Region zum Ziel haben; das sollte uns mit Sorge er-
füllen. Das ist eine gefährliche Situation.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Die Europäische Union – ich meine ausdrücklich
nicht die Bürokraten in Brüssel, sondern die politische
Führung in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten – muss er-
kennen und handeln. Es bedarf des Entwurfs eines in die
Zukunft dieser europäischen Region gerichteten politi-
schen, strategischen Regionalplans mit dem Ziel, dauer-
haft Stabilität und Sicherheit in der Region zu etablieren.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang die Gele-
genheit nutzen, die fünf EU-Mitgliedstaaten, die noch
immer nicht das Kosovo als eigenständigen, souveränen
Staat anerkannt haben, aufzurufen, das Versäumte nach-
zuholen. Durch die Nichtanerkennung wird nicht allein
das Kosovo in seiner Entwicklung behindert, sondern
auch andere Länder der Region. Ich halte das für die





Peter Beyer


(A) (C)



(D)(B)

Europäische Union für einen untragbaren, ja beschämen-
den Zustand, der alsbald zu beenden ist.


(Beifall der Abg. Marieluise Beck [Bremen] – Beifall bei der CDU/CSU)


– Ja, da kann man applaudieren. Vielen Dank, Frau Kol-
legin Beck, das finde ich sehr nett von Ihnen. Das gilt
aber natürlich auch für die anderen.

Südosteuropa muss als Region wieder mehr in den
Fokus unserer Politik gelangen und auf der politischen
Prioritätenliste ein ganzes Stück weit nach oben rücken.
Natürlich bin ich mir der Überlagerung durch andere
Krisengebiete und andere politische Probleme auf der
Welt bewusst. Aber es ist unsere Aufgabe, ein stärkeres
öffentliches Bewusstsein zu schaffen und zu schärfen.
Ich habe die Befürchtung, dass wir sonst zulassen, dass
eine Krise mitten in Europa und sehr nahe an den Gren-
zen zu Deutschland entsteht. Die Folgen wären unabseh-
bar, und die Kosten – nicht nur finanzieller Art – wären
erheblich.

Wir beobachten in letzter Zeit verstärkt etwas, das
nicht neu ist, sondern – das weiß man, wenn man recher-
chiert und sich das noch einmal ins Gedächtnis ruft – seit
Jahren vorhanden ist. In letzter Zeit rückt verstärkt ins
Blickfeld, dass verschiedene Finanzierungsströme den
Neubau von Moscheen in Bosnien-Herzegowina, aber
auch in anderen Staaten der Region ermöglichen. Diese
Geldströme kommen aus Saudi-Arabien, den Emiraten,
dem Iran, dem Irak, auch aus der Türkei. Wir hören in
letzter Zeit mehrfach davon, dass es Geldprämien dafür
gibt, dass Frauen Kopftücher tragen und dass sich Män-
ner lange Bärte wachsen lassen. Zudem gibt es Geld für
den Besuch von Moscheen.

Radikale Islamisten des sogenannten „Islamischen
Staats“ rekrutieren junge Muslime im Kosovo und in an-
deren Ländern der Region. In den letzten zwei Jahren
kamen allein aus dem Kosovo über 200 Foreign Figh-
ters. Das ist eine bedrohliche Situation. Die Verspre-
chungen des „Islamischen Staats“ fallen auf den Nährbo-
den von 70 Prozent Jugendarbeitslosigkeit im Kosovo.
Es entsteht ein radikaler Islam in Europa. Wir, die Euro-
päer, müssen uns angesichts dieser Entwicklung fragen,
warum wir es eigentlich nicht schaffen, diesen jungen
Frauen und Männern eine attraktive Perspektive in ihrem
eigenen Land, eingebunden in euroatlantische Struktu-
ren, anzubieten.

Damit komme ich zur Visaliberalisierung. Ich weiß,
dass das in der Diskussion problematisch gesehen wird.
Aber es handelt sich um eine Ungerechtigkeit. Das Ko-
sovo ist das einzige Land in der Region, mit dem es noch
keine Visafreiheit gibt. Ich werbe dafür, dass wir uns
noch einmal damit befassen. Die Kriterien der Roadmap
sind allesamt vom Kosovo erfüllt worden.

Abschließend will ich noch einen Gedanken in die
Debatte einführen, den wir in der Westbalkan-Runde der
Unionsfraktion in der letzten Zeit ventiliert haben. Wir
haben uns darüber Gedanken gemacht, ob wir KFOR
nicht in Strukturen regionaler Verantwortung weiterent-
wickeln sollen. Wir haben die Idee, ein regionales,
NATO-geführtes Hauptquartier mit einer revolvieren-
den Kommandoführung zu etablieren. Das soll nichts
anderes heißen, als dass die Länder der Region Stück für
Stück zunehmend mehr eigene Verantwortung für die Si-
cherheit und Stabilität in der gesamten Region überneh-
men. Ich denke, das ist eine Idee, die es wert ist, weiter
diskutiert und verfolgt zu werden. Das muss unser Ziel
sein.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810927000

Vielen Dank. – Letzter Redner zu diesem Tagesord-

nungspunkt ist der Kollege Florian Hahn, CDU/CSU-
Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1810927100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Entwicklungen in den letzten Jahren in
der Region sind, optimistisch gesehen, ein Beispiel da-
für, dass die Europäische Union eine große Anziehungs-
kraft ausstrahlt und wichtige Impulse im Land und in der
Region setzt. Ohne die Aussicht, Verhandlungen über ei-
nen Beitritt im Falle Serbiens oder eine Assoziierung im
Falle des Kosovo aufzunehmen, wäre es nie zum Durch-
bruch in den Gesprächen zwischen Serbien und Kosovo
gekommen. Vor allem Serbien als EU-Beitrittskandidat
muss sich jetzt erst recht an den angestrebten Zielen
messen lassen und alles in seiner Macht Stehende tun,
um eine nachhaltige Stabilisierung im Norden des Ko-
sovo zu unterstützen. Der serbischen Regierung ist auch
ganz klar, dass ein Gelingen ihrer Kandidatur wesentlich
vom Dialog zwischen Belgrad und Pristina abhängt. Das
haben wir ihr klargemacht.

Neben den zahlreichen positiven Entwicklungen
muss aber auch ganz klar gesagt werden: Die Lage in der
Republik Kosovo ist zwar grundsätzlich ruhig und stabil;
allerdings bleibt das Eskalationspotenzial im serbisch
dominierten Norden des Kosovo weiterhin hoch. Leider
erkennen Serbien und auch fünf EU-Mitgliedsländer die
staatliche Unabhängigkeit des Kosovo nach wie vor
nicht an. Das ist sehr verdrießlich. Der Kollege Peter
Beyer hat das zu Recht gesagt. Auch der Zwischenfall
am 24. Mai erinnert an alte Zeiten im Kosovo. Unbe-
kannte haben eine EULEX-Patrouille beschossen. Es
kam zu Schäden an den geschützten Fahrzeugen mit fünf
Insassen, darunter im Übrigen auch ein deutscher Poli-
zist. Diese Insassen konnten Gott sei Dank unverletzt
das Auto verlassen. Es sind solche Rückschläge, die uns
zeigen, wie wichtig eine weitere Präsenz der KFOR-
Truppen ist.

Auch die Situation im angrenzenden Mazedonien
– darüber wurde ebenfalls schon gesprochen – hat das
Potenzial, die gesamte Region zu destabilisieren, da die
Bevölkerungsgruppen über die Landesgrenzen hinweg
ethnisch eng miteinander verbunden sind. Die schweren
Kämpfe nahe der Grenze zum Kosovo im letzten Monat





Florian Hahn


(A) (C)



(D)(B)

haben gezeigt, dass wir unerwartete Zwischenfälle, die
zu einer Anspannung der Lage führen, nicht ausschlie-
ßen können.

Die internationale Truppenpräsenz von KFOR bleibt
deshalb so lange nötig, bis die Sicherheitsorgane Koso-
vos, gegebenenfalls unterstützt durch die EU-Mission
EULEX, im Kosovo ein sicheres und stabiles Umfeld
aufrechterhalten können. Wir wissen, dass unsere militä-
rische Unterstützung und unsere sicherheitspolitische
Arbeit nur nachhaltig sein können, wenn wirtschaftliche
Kooperation und Entwicklungszusammenarbeit den
Weg flankieren.

Kosovo leidet zum einen noch immer unter der histo-
rischen Unterentwicklung aus der osmanischen Zeit und
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber auch unter
den Folgen der ökonomischen Marginalisierung unter
dem Milosevic-Regime. Die Wirtschaftsentwicklung
kann nicht mit dem überdurchschnittlichen Bevölke-
rungswachstum mithalten. Die Auswirkungen sind ver-
heerend, und das bekommen auch wir in Deutschland
deutlich zu spüren.

Die Flüchtlingswelle aus dem Kosovo hat sich mit
28 000 Asylbewerbern allein Anfang 2015 um das Sech-
zehnfache im Vergleich zum Vorjahr vergrößert. In einer
Zeit, in der Europa Ziel von Hundertausenden notleiden-
den Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten des Na-
hen Ostens und Afrikas ist, liegt es auf der Hand, dass
Deutschland diese Welle der Einwanderer aus dem
Kosovo und aus dem gesamten Balkan nicht auch noch
schultern kann. Wir müssen uns verstärkt daranmachen,
den Menschen in ihrer Heimat eine Perspektive zu bie-
ten. Bundesminister Dr. Müller hat deshalb bei seiner
Reise auf den Balkan betont, dass die Ursachen für die
Flucht aus dem Herkunftsland noch intensiver bekämpft
werden müssen. Hierfür gibt es bereits Zusagen von über
25 Millionen Euro allein im Jahre 2015.

Wenn wir also über die KFOR-Mission debattieren,
ist uns klar, dass dieses Mandat neben unserem entwick-
lungspolitischen Engagement für die Region ausschlag-
gebend ist. Es ist viel zu früh, den Kosovo und Serbien
auf sich allein zu stellen. Wir müssen die Länder auf ih-
rem ehrgeizigen Weg in die EU weiter unterstützen. Das
KFOR-Mandat muss ein weiteres Mal verlängert wer-
den.

Um auf den Debattenbeitrag von Frau Beck einzuge-
hen: Wir müssen weiterhin für ausreichend Luft im Ko-
sovo sorgen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810927200

Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/5052 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:

Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Halina Wawzyniak, Dr. Petra Sitte, Jan
Korte, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE sowie den Abgeordneten Tabea
Rößner, Dr. Konstantin von Notz, Renate
Künast, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des
Achten Gesetzes zur Änderung des Urheber-

(Leistungsschutzrechtsaufhebungsgesetz – LSR-AufhG)


Drucksache 18/3269

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Recht und Verbraucherschutz

(6. Ausschuss)


Drucksache 18/4987

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Martin Dörmann, SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)



Martin Dörmann (SPD):
Rede ID: ID1810927300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das heute in Rede stehende Leistungsschutzrecht für
Presseverleger wurde in der vergangenen Wahlperiode
von der schwarz-gelben Koalition beschlossen. Wie Sie
wissen, hat damals die SPD-Bundestagsfraktion gegen
das Gesetz gestimmt,


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Gute Entscheidung!)


wie ich finde, aus guten Gründen. Union und SPD haben
hier also eine gegensätzliche Auffassung. Dies ist der
Hintergrund dafür, dass wir uns im Koalitionsvertrag zu-
nächst darauf verständigt haben, die Wirkung des Geset-
zes zu überprüfen. Eine Evaluierung soll darüber Auf-
klärung bringen, wie das Gesetz wirkt und welche
Konsequenzen hieraus gezogen werden müssen. Da wir
uns in der Großen Koalition auf dieses Verfahren ver-
ständigt haben, werden wir den vorliegenden Gesetzent-
wurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ablehnen,
durch den die Aufhebung dieses Gesetzes bereits jetzt
herbeigeführt würde.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das ist ein gemeinsamer Gesetzentwurf!)


– Es handelt sich um einen gemeinsamen Gesetzentwurf
der Oppositionsfraktionen.

Dennoch möchte ich die heutige Debatte dafür nut-
zen, hier noch einmal darzulegen, warum die SPD-Frak-
tion dem Leistungsschutzrecht von Anfang an skeptisch
gegenüberstand und die getroffene gesetzliche Regelung
für problematisch hält.





Martin Dörmann


(A) (C)



(D)(B)


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann könnten wir es doch jetzt abschaffen!)


Ich will zunächst in Erinnerung rufen, was die Aus-
gangslage der seinerzeitigen Debatte war. Wir alle leben
in einer veränderten Medienwelt. Abos und Auflagen
von Tageszeitungen gehen zurück. Das Anzeigenge-
schäft im Printbereich ist teilweise sogar dramatisch ein-
gebrochen. Praktisch alle namhaften Titel haben gleich-
zeitig umfangreiche Internetportale aufgebaut, die
bislang ganz überwiegend kostenlos genutzt werden
können. Auch das Anzeigengeschäft ist stark in den On-
linebereich abgewandert, ohne dass hierdurch in der Re-
gel aber bereits schwarze Zahlen geschrieben werden.
Um auch in Zukunft guten Journalismus finanzieren zu
können, werden deshalb nach und nach Bezahlangebote
etabliert; denn gute Recherche kostet Geld, und Journa-
listinnen und Journalisten müssen für ihre kompetente
und für die Gesellschaft immanent wichtige Arbeit ange-
messen entlohnt werden. Bezahlangebote werden sich
aber nur dann auf Dauer durchsetzen können, wenn Ur-
heberrechte gewahrt und journalistische Inhalte nicht
von Dritten ohne Erlaubnis umfangreich genutzt werden.

Nun gibt es im Netz die sogenannten News-Aggrega-
toren und Harvester. Sie sammeln die Inhalte anderer
und bieten diese als eigene Dienstleistungen an, ohne
von den Rechteinhabern die Erlaubnis dafür zu haben.
Gemeint sind hier nicht die Suchmaschinen, die nur ei-
nige kurze Textschnipsel nutzen, sondern Plattformen,
die illegal ganze Artikel verwenden. Gegen diese
Rechtsverstöße in jedem Einzelfall erfolgreich vorzuge-
hen, hat sich für die Verlage als schwierig erwiesen;
denn Gerichte verlangen für jeden Artikel eine komplexe
Darstellung der Rechtekette. Das hat viele Prozesse aus
Sicht der Verlage unwirtschaftlich gemacht. Es geht also
im Kern nicht darum, dass es an Rechten fehlt, sondern
darum, dass die Rechtsdurchsetzung oftmals so schwie-
rig ist, dass diese Rechte ins Leere zu laufen drohen.

Gerade auch von Verlagsprotagonisten für ein Leis-
tungsschutzrecht wurde uns übrigens bestätigt, es gehe
im Kern um eine bessere Rechtsdurchsetzung bereits be-
stehender Urheberrechte. Die SPD-Bundestagsfraktion
hat sich, wie übrigens auch der Bundesrat, deshalb dafür
eingesetzt, Lösungen zu suchen, die eine bessere Rechts-
durchsetzung ermöglichen. Damit hätten wir uns viele
Folgeprobleme des jetzt diskutierten Gesetzes erspart.

Die schwarz-gelbe Koalition ist einen anderen Weg
gegangen. Nach vielen Pirouetten zu Beginn hat man
sich letztendlich entschieden, ein Leistungsschutzrecht
zu zimmern, das im Wesentlichen auf Suchmaschinenbe-
treiber ausgerichtet ist, eigentlich namentlich auf
Google. Wir haben das stets für einen falschen Ansatz
gehalten; denn Suchmaschinen üben eine wichtige Lot-
senfunktion im Netz aus. Sie bündeln und strukturieren
nämlich die dort vorhandenen vielfältigen Informationen
und machen sie so für die Nutzerinnen und Nutzer besser
zugänglich. Zugleich profitieren gerade auch die Zei-
tungsportale; denn es werden zusätzliche Leser auf ihre
Seiten gelenkt, durch die sich höhere Anzeigeneinnah-
men erzielen lassen.
Die beinahe monopolartige Stellung der Suchma-
schine von Google ist allerdings dann ein Problem, wenn
die Platzierung von Suchergebnissen nicht nach objekti-
ven Kriterien erfolgt, sondern womöglich von den Ge-
schäftsinteressen des Unternehmens mitbestimmt wird.
Deshalb ist es der richtige Weg, dass nun im Rahmen der
aktuellen Bund-Länder-Kommission zur Medienkonver-
genz darüber nachgedacht wird, ob und in welcher Form
es einer Regulierung von Suchmaschinen bedarf, um
Transparenz und Diskriminierungsfreiheit zu sichern.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das beschlossene
Leistungsschutzrecht hat aus meiner Sicht bislang vor al-
lem neue Rechtsunsicherheiten produziert, die nun übri-
gens gerichtlich geklärt werden müssen.


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist so bei Gesetzen!)


Fakt ist jedenfalls, dass Google nicht, wie eigentlich be-
absichtigt, an Presseverlage zahlt, sondern diese zu-
nächst ausdrücklich eingewilligt haben, dass Google
verlinken kann, ohne dafür zu zahlen. Stand heute hat
das Gesetz also aus meiner Sicht keines seiner Ziele er-
reicht, sondern vor allem dafür gesorgt, dass einige An-
wälte wahrscheinlich noch auf Jahre hinaus ein sicheres
Einkommen haben.


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann können wir es doch abschaffen!)


Von daher bin ich sehr gespannt, was die von der Koali-
tion vereinbarte Evaluierung ergibt.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Nichts anderes!)


Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810927400

Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke spricht

jetzt die Kollegin Wawzyniak.


(Beifall bei der LINKEN)



Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810927500

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen

und Kollegen! Es ist schon eine Weile her, dass wir hier
über den gemeinsamen Gesetzentwurf von Linken und
Bündnis 90/Die Grünen zur Abschaffung des Leistungs-
schutzrechtes für Presseverleger diskutiert haben. Seit
der ersten Lesung hat sich nichts geändert. Ich könnte
Ihnen also noch einmal erklären, dass das Leistungs-
schutzrecht mehr schadet als nützt. Ich könnte Ihnen
auch noch einmal erklären, warum dieses Leistungs-
schutzrecht nur Geschäftsmodelle der Verlage schützt
und nicht die eigentlichen Urheberinnen und Urheber.
Ich könnte Ihnen auch noch einmal erklären, warum
Suchmaschinen Verlagen nicht schaden, sondern nützen,
weil ihnen damit Nutzerinnen und bares Geld zugeführt
werden. All das könnte ich noch einmal erzählen, und
ich habe ernsthaft das Gefühl, dass ich Ihnen das tatsäch-
lich noch einmal erklären muss.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)






Halina Wawzyniak


(A) (C)



(D)

Denn anstatt zu schauen, was aufgrund dieses Gesetzes
wirklich abläuft, scheint gerade die Union für alle Argu-
mente unzugänglich zu sein, sich die Finger in die Ohren
zu stecken und zu sagen: Lalala, ich hör’ dich nicht. –
Man denkt sogar daran, diese Idee auch noch auf euro-
päischer Ebene einzuführen.


(Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Sehr gut! – Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was für ein Schwachsinn!)


– Das ist Schwachsinn; das hat auch die Anhörung, die
wir im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
durchgeführt haben, allen vor Augen geführt.

Die Mehrheit der anwesenden Sachverständigen hat
dargelegt, warum das Leistungsschutzrecht für Presse-
verleger schädlich ist. Mehrere Sachverständige mach-
ten darauf aufmerksam, dass das Gesetz so ungenau for-
muliert ist, dass erst Gerichte klären müssen, was
eigentlich genau drinsteht.


(Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Üblicher Weg!)


Diese rechtliche Klärung kann dann gut zehn Jahre dau-
ern.


(Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Das wird schneller gehen!)


Im schnelllebigen digitalen Bereich sind zehn Jahre eine
halbe Ewigkeit, und schon in der kurzen Zeit, in der das
Leistungsschutzrecht nun gilt, hatte es verheerende Aus-
wirkungen auf den Markt.

Elf Start-ups mussten bereits wegen der Leistungs-
schutzregelung in Deutschland aufgeben, erklärte Pro-
fessor Spindler in der Anhörung. Wie viele werden das
in zehn Jahren sein?, frage ich Sie, die Sie ja so innovati-
onsfreundlich sein wollen. Währenddessen schaut
Google seelenruhig zu, wie Konkurrenz bereits im Keim
erstickt wird. Aber Hauptsache, der Axel-Springer-
Verlag kann Geld dafür verlangen, dass Nutzerinnen und
Nutzer auf seine Webseiten geleitet werden. Die Absur-
dität des Leistungsschutzrechts für Presseverleger
brachte Professor Malte Stieper auf den Punkt: Kleinste
Textausschnitte sollen lizenzpflichtig sein, aber die kom-
plette Veröffentlichung eines Artikels an einer Litfaß-
säule wäre erlaubt. – Das ist nun wirklich absurd.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nun hat auch Spanien versucht, mit einem Leistungs-
schutzrecht für Presseverleger aktiv zu werden. Was ist
passiert? Google hat Google News in Spanien einge-
stellt. Die Nutzerzahlen der Onlinemedien brachen der-
art ein, dass dieselben Verlage, die zuerst darum gebeten
hatten, das Leistungsschutzrecht einzuführen, jetzt
darum betteln, dass es wieder abgeschafft wird. Auch
hierzulande scheint man sich der Leistung, die Google
erbringt, bewusst zu sein; sonst hätte man Google kaum
von der Lizenzzahlung ausgenommen. – Nach alledem
möchte ich jetzt genau wissen: Was nehmen Suchma-
schinen den Verlagen eigentlich weg? Nichts!
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Mir reicht das alles
aus, um das Leistungsschutzrecht sofort, und zwar mit
der Abstimmung, abzuschaffen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich brauche keine weitere Evaluation, auf die Union und
SPD laut ihrem Koalitionsvertrag noch warten wollen.
Die Große Koalition erweist sich als Bollwerk gegen
Innovation und für Rechtsunsicherheit. Es wird aber die
Zeit kommen, wo auch Sie merken, dass das Leistungs-
schutzgesetz Unsinn ist. Je eher, desto besser!


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Denn ein derart innovationsfeindliches Gesetz, das nur
Rechtsunsicherheit schafft und nichts an der Lage von
Urheberinnen und Urhebern verbessert, hat nichts ande-
res verdient als ein schnelles Ende. Wenn Sie mir nicht
glauben, dann lesen Sie im Bericht der Monopolkom-
mission „Herausforderung digitale Märkte“ die Rand-
nummer 287. Auch dort steht, dass das nicht mit gesetz-
geberischen Maßnahmen, sondern mit Wettbewerb geht.
Deshalb stimmen Sie heute einfach zu!


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810927600

Vielen Dank. – Nächster Redner für die CDU/CSU-

Fraktion ist Ansgar Heveling.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1810927700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn ich zu wählen hätte zwischen einem Land mit
einer Regierung, aber ohne Zeitung, und einem
Land mit Zeitung, aber ohne Regierung, dann
würde ich mich für das Land ohne Regierung ent-
scheiden.

Auf diese prägnante Formel brachte der dritte Präsident
der Vereinigten Staaten von Amerika, Thomas Jefferson,
sein Verständnis der Bedeutung von Zeitungen für die
Demokratie. Heute würden dem Hauptverfasser der
amerikanischen Unabhängigkeitserklärung wahrschein-
lich die Tränen in den Augen stehen, sollte er sich die Si-
tuation des Zeitungsmarktes in den Vereinigten Staaten
von Amerika anschauen. Die USA sind zwar noch nicht
ganz ein Land ohne Zeitungen; aber das Zeitungssterben
in der Fläche ist dort evident.

Wir wollen kein Land ohne Zeitungen sein. Deshalb
haben wir zum Schutz von Presseerzeugnissen ein Leis-
tungsschutzrecht für Presseverlage eingeführt. Wir
haben ein Recht und keine Rechtunsicherheit geschaf-
fen. Mit „wir“ meine ich in der Tat die christlich-liberale
Koalition der letzten Wahlperiode. Allerdings hat der
Bundesrat mit einer anderen politischen Färbung dieses
Gesetz in der letzten Wahlperiode gebilligt.


(Martin Dörmann [SPD]: Nein, das stimmt ja gar nicht!)


(B)






Ansgar Heveling


(A) (C)



(D)(B)

Zunächst ist festzustellen, dass das Leistungsschutz-
recht für Presseverlage in diesen Wochen spannende
Entwicklungen erlebt. Schauen wir zum einen nach Ös-
terreich. Dort wird das Parlament noch vor der Sommer-
pause die Einführung eines Leistungsschutzrechtes für
Presseverlage beschließen. Das Gesetz orientiert sich ex-
plizit an der deutschen Regelung. Allerdings werden bei
der Formulierung des Schutzgegenstandes sowie bei den
einzuräumenden Verwertungsrechten teilweise sogar
viel weiterreichende Ansätze als das deutsche Vorbild
vorgeschlagen.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Sie werden noch sehen, was sie davon haben!)


Zum anderen blicken wir nach Brüssel. Der für den di-
gitalen Binnenmarkt zuständige EU-Kommissar Günther
Oettinger denkt über die Einführung eines europäischen
Leistungsschutzrechtes nach. Neben Deutschland hat
auch Spanien bereits ein Leistungsschutzrecht einge-
führt. In Spanien hat Google daraufhin seinen Newsdienst
abgeschaltet. Diese Reaktion ist gerade ein Argument
für die Einführung eines EU-weiten Leistungsschutz-
rechtes; denn in der europaweiten Dimension könnte es
sich Google sicherlich nicht leisten, seinen Newsdienst
einfach abzuschalten.

In der EU-weiten Synopse können wir also feststel-
len, dass Deutschland mit der Einführung des Leistungs-
schutzrechtes eine Vorreiterrolle übernommen hat. Auch
deshalb werden wir den hier vorliegenden Gesetzent-
wurf der Oppositionsfraktionen heute ablehnen.

Aber bleiben wir noch einen Moment bei Google:
Eric Schmidt, Google-Chef, verlautbarte vor kurzem, er
fühle eine „moralische Verantwortung, um Nachrichten
beim Überleben zu helfen, ohne die die Demokratie
leiden würde“. Das klingt nachgerade etwas zynisch.
Würde Herr Schmidt tatsächlich die Bedeutung von Me-
dien für die Demokratie und Meinungsvielfalt anerken-
nen, die im Übrigen in Deutschland Verfassungsrang hat,
könnte er auch das Leistungsschutzrecht als geltende
Gesetzeslage akzeptieren. Stattdessen streut Google nun
in einer auf drei Jahre befristeten Initiative 150 Millio-
nen Euro über die europäische Verlagslandschaft als Ge-
schenk aus und ignoriert gleichzeitig geltendes Recht.
Google könnte mit den Verlagen ohne Weiteres die nöti-
gen Lizenzen abschließen, aus deren Einnahmen die
Verlage dann in digitale Innovation investieren könnten.
So aber setzt sich Google einfach über geltendes Recht
hinweg.

Aber auch aus weiteren Gründen werden wir dem
vorliegenden Gesetzentwurf nicht zustimmen. Zum ei-
nen steht die Evaluierung des Leistungsschutzrechtes
durch die Bundesregierung noch aus. Diese haben wir
vereinbart, und das werden wir abwarten. Zum anderen
ist im Laufe des Sommers zu erwarten, dass die Ent-
scheidung der Schiedsstelle beim Deutschen Patent- und
Markenamt über den dort vorgelegten Tarif der VG Me-
dia erfolgen wird. Dies ist im Übrigen der für Verwer-
tungsgesellschaften übliche Weg einer Tarifveröffentli-
chung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der Einführung
des Leistungsschutzrechtes für Presseverlage haben wir
eine ordnungspolitische Entscheidung getroffen. Diese
Entscheidung stellen wir als CDU/CSU nicht infrage.


(Beifall bei der CDU/CSU)


In seiner knapp zweijährigen Daseinsgeschichte steht
das Leistungsschutzrecht für Presseverleger noch am
Anfang seiner Entwicklung und Durchsetzung. Es ist
nicht untypisch im Urheberrecht, dass einzelne Aspekte
eines Gesetzes streitbehaftet sind. Deswegen müssen wir
die Klärung einzelner Rechtsbegriffe im Rahmen von
Schieds- und Gerichtsverfahren abwarten. Das ist der
natürliche Gang der Dinge. Auch die stattgefundene An-
hörung im Rechtsausschuss hat differenzierte Ergebnisse
erbracht. Diese Ergebnisse sprechen aber aus unserer
Sicht in keiner Weise dafür, das Leistungsschutzrecht für
Presseverlage aufzuheben.

Die Entwicklungen rund um das Leistungsschutzrecht
werden wir weiter mit Spannung und Interesse verfol-
gen. Den vorliegenden Gesetzentwurf werden wir heute
ablehnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810927800

Vielen Dank. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-

nen spricht jetzt Tabea Rößner.


Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810927900

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Das schwarz-gelbe
Leistungsschutzrecht muss weg“,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


dieser Satz kommt nicht von mir – könnte er aber auch –,
sondern vom ehemaligen SPD-Kanzlerkandidaten Peer
Steinbrück. Der Mann hatte zwar nicht immer recht, aber
hier schon. Das Leistungsschutzrecht für Presseverlage
ist ein so haarsträubender und kontraproduktiver Blöd-
sinn, dass es besser gestern als heute abgeschafft gehört.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Kommen auch Argumente oder nur Blödsinn?)


Nichts, was sich die Union und vor allem die Groß-
verlage von dem Leistungsschutzrecht versprochen ha-
ben, ist eingetreten. Es floss kein Geld, kein Cent, schon
gar nicht an die Urheberinnen und Urheber. Stattdessen
haben die Verlage unter dem Druck der schwindenden
Klickzahlen ausgerechnet Google eine Art Gratislizenz
erteilt und damit das Leistungsschutzrecht endgültig ad
absurdum geführt. Gleichzeitig streitet sich die Verwer-
tungsgesellschaft VG Media mit Google vor Gericht.
Andere, kleinere Aggregatoren wie Rivva haben ihren
Dienst vorsichtshalber stark eingeschränkt. Aus der IT-
Wirtschaft hört man, dass Unternehmen in Deutschland





Tabea Rößner


(A) (C)



(D)(B)

wegen der unsicheren Rechtslage keine neuen Ideen für
Content-Verwertung austesten wollen.

Ein Hang zur Besserwisserei liegt mir völlig fern;
aber es ist schon unglaublich, dass alles, aber auch wirk-
lich alles, wovor wir bei der Einführung gewarnt haben,
wahr geworden ist: Innovationsbremse, Rechtsunsicher-
heiten und eine Stärkung der großen Anbieter zulasten
der kleinen. Das Leistungsschutzrecht schafft das Ge-
genteil vom Versprochenen, und diesen gesetzgeberi-
schen Bumerang wollen Sie ernsthaft beibehalten.

Jetzt kommen Sie von der Koalition wieder mit dem
Argument, dass wir die Evaluation abwarten sollten;
Herr Dörmann hat es eben auch gesagt. Ich bin wirklich
kein ungeduldiger Mensch; aber auf die Evaluation war-
ten wir jetzt schon seit anderthalb Jahren vergebens.
Seien wir doch ehrlich: Evaluieren ist doch nichts ande-
res als ein Euphemismus für großkoalitionäres Aussit-
zen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Was genau soll denn überhaupt evaluiert werden? Die
Fakten liegen doch auf dem Tisch. Wenn etwas nicht
nützt, sondern nur schadet, dann braucht man es nicht.
Das sagt einem doch der gesunde Menschenverstand.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Falls der bei Ihnen nichts gilt – das würde einiges erklä-
ren –, dann überzeugen die Experten Sie ja vielleicht.
Sowohl in einem Fachgespräch des Ausschusses Digi-
tale Agenda als auch in der Anhörung zu unserem Ge-
setzentwurf im Rechtsausschuss wurde von der deutli-
chen Mehrheit der Experten die Abschaffung des
Gesetzes gefordert – nebenbei bemerkt: auch von Sach-
verständigen, die die Koalition eingeladen hatte –, von
den unzähligen kritischen Stellungnahmen im Vorfeld
einmal ganz abgesehen.

Ich fasse also zusammen: Die Fakten sprechen gegen
das Leistungsschutzrecht, der Menschenverstand tut es,
die Experten tun es, im Übrigen auch der Bundesrat; das
können Sie in einer Entschließung des Bundesrates
gerne nachlesen. Wir wollen es nicht. Die Verlage nut-
zen es nicht. Also: Korrigieren Sie einen großen Fehler
und schaffen Sie dieses Unglück endlich ab!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie der Abg. Edelgard Bulmahn [SPD])


Ich wende mich auch direkt an Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen der SPD. Heute müssen Sie Flagge zeigen.
In der vergangenen Legislaturperiode waren Sie noch
sehr geschlossen gegen das Leistungsschutzrecht. Und
nun? Es hat sich nichts an den Tatsachen geändert; aber
es braucht keinen Propheten, um zu wissen, dass Sie
auch heute leider nicht das Richtige tun werden. Mit
Verweis auf den Koalitionsvertrag und die Evaluation
akzeptieren Sie das Leistungsschutzrecht. Wie schon bei
der Vorratsdatenspeicherung sagen Sie auch hier vorher
das eine und machen dann doch das andere. Wie fühlt es
sich eigentlich an, der netzpolitische Dackel der Union
zu sein?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich präsentiere Ihnen ein allerletztes Argument gegen
das Leistungsschutzrecht. Heute Morgen haben wir in
diesem Haus passenderweise über den Bürokratieabbau
diskutiert. Ich denke, der gesamte Prozess rund um Snip-
pets, Verwertungsgesellschaften, Anhörungen, rechtli-
che Unklarheiten, Klagen und Gegenklagen hat gezeigt:
Sie sollten heute unserem Gesetzentwurf zustimmen und
für etwas weniger Bürokratie und Wahnsinn in diesem
Land sorgen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810928000

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Volker

Ullrich, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Volker Ullrich (CSU):
Rede ID: ID1810928100

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Der Schutz des geistigen Eigentums ist Aus-
prägung der Eigentumsgarantie des Grundgesetzes
und damit ein wesentliches Strukturmerkmal unserer
Wirtschaftsordnung. Das Leistungsschutzrecht für Pres-
severlage wurde nach langen und zugegebenermaßen in-
tensiven Debatten im Jahr 2013 eingeführt, um im sen-
siblen Bereich der Presse und Verlage die Urheberschaft
von Texten zu sichern und journalistische Arbeit zu wür-
digen.

Dabei geht es um mehr als nur den Schutz rein wirt-
schaftlicher Belange. Ein demokratisches und freiheitli-
ches Gemeinwesen muss ein lebendiges Interesse an ei-
ner funktionierenden Presselandschaft haben, welche die
Vielfalt der Meinungen bündelt und durch die Wahrneh-
mung öffentlicher Kontrolle zur Meinungsvielfalt und
Pluralität beiträgt. Eine solche Presselandschaft ist aller-
dings nicht zum Nulltarif zu haben. Qualität kostet, und
eine gute journalistische Arbeit hat zu Recht ihren Preis.
Es ist nicht gerecht, wenn diejenigen, die mit hohem
Aufwand eine Leistung erbringen, mit ansehen müssen,
wie andere davon profitieren, ohne dass der Urheber
selbst an der Verwertung beteiligt wird.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Der wird ja nicht beteiligt!)


Daher ist den Herstellern das Recht eingeräumt worden,
ihre Presseerzeugnisse zu gewerblichen Zwecken zu-
gänglich zu machen. Suchmaschinen sollen nach Bezah-
lung diese Presseerzeugnisse nutzen können, Überschrif-
ten und Textausschnitte sind frei. Diese Erwägung folgt
damit anderen Vermarktungsmustern im Bereich des
geistigen Eigentums. Diese grundsätzlichen Überlegun-
gen zur Einführung des Leistungsschutzrechtes im Jahr
2013 waren richtig. Sie sind es auch heute noch.





Dr. Volker Ullrich


(A) (C)



(D)(B)


(Zuruf von der LINKEN: Niemand klatscht! – Heiterkeit bei der LINKEN)


Ich möchte nicht verschweigen, dass das Leistungs-
schutzrecht zum Zeitpunkt der Verabschiedung umstrit-
ten war und wir auch heute eine kontroverse Debatte
führen. Es gibt auch hörenswerte Gründe, die eine an-
dere Richtung aufzeigen können. Jedenfalls spricht
gegen das Leistungsschutzrecht nicht, dass offene
Rechtsbegriffe existieren. Die Klärung unbestimmter
Rechtsbegriffe ist Kernaufgabe der Rechtsprechung. Die
Gerichte klären die konkrete Reichweite und die Gren-
zen des Leistungsschutzrechts anhand von Einzelfällen
unter Betrachtung aller Einzelheiten. Das ist gelebte Ge-
waltenteilung. Deswegen spricht im Ergebnis nichts da-
für, jetzt schon Ihrem Gesetzentwurf zu folgen.

Wir haben uns im Koalitionsvertrag darauf verstän-
digt, dass die Wirksamkeit des Leistungsschutzrechts in
dieser Periode evaluiert wird. Aber diese Evaluation ist
nicht beendet.


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann kommt sie denn?)


Es sind Gerichtsverfahren und Schiedsverfahren anhän-
gig. Diese sollten wir abwarten. Wir sollten uns mit die-
sem Thema befassen und die Erkenntnisse berücksichti-
gen. Erst klug überlegen, dann handeln, das ist der Kern
verantwortungsvoller Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wie auch immer diese ergebnisoffene Evaluation am
Ende des Tages ausgehen wird: Die Union steht zum
Schutz des geistigen Eigentums als grundsätzliches Ord-
nungsprinzip. Wir stehen zu einem modernen und taugli-
chen Urheberrecht im digitalen Zeitalter. Deswegen wer-
den wir für heute Ihren Gesetzentwurf ablehnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Und in 14 Tagen?)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810928200

Vielen Dank. – Damit sind wir am Ende der Debatte

angekommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grü-
nen zur Aufhebung des Achten Gesetzes zur Änderung
des Urheberrechtsgesetzes. Der Ausschuss für Recht und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/4987, den Gesetzentwurf der
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/3269 abzulehnen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-
Fraktion gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke
und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt, und mit dieser
Ablehnung entfällt laut unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der Multidimensio-
nalen Integrierten Stabilisierungsmission der
Vereinten Nationen in Mali (MINUSMA) auf
Grundlage der Resolution 2100 (2013) und
2164 (2014) des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen vom 25. April 2013 und 25. Juni
2014

Drucksache 18/5053
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann sind Sie damit einverstanden.

Bevor ich nun der Kollegin Bulmahn das Wort gebe,
möchte ich die Gäste aus Mali auf der Tribüne ganz
herzlich begrüßen, darunter zwei Mitglieder des Parla-
ments in Mali, die unserer Diskussion hier folgen. Herz-
lich willkommen!


(Beifall)


Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Edelgard Bulmahn.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810928300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Heute Mittag hatte ich ein hochinteressantes
Gespräch mit der malischen Delegation. Ein Teil der De-
legation nimmt jetzt an unserer Debatte teil. Die Delega-
tion besucht Deutschland, um sich über den deutschen
Föderalismus zu informieren, über die Art und Weise,
wie wir Macht- und Aufgabenteilung zwischen Bund,
Ländern und Kommunen in unserem Land organisiert
haben und wie die Verwaltungen tätig sind. Ich freue
mich sehr, dass wir die Möglichkeit haben, von unseren
Erfahrungen hier etwas mitzuteilen. Ich hoffe sehr, dass
dieser Besuch für Sie alle ein sehr ertragreicher und er-
folgreicher wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Julia Obermeier [CDU/CSU])


Vor gut einem Monat hatten meine Kollegin Bärbel
Kofler, noch ein weiterer Kollege und ich die Möglich-
keit, Mali selbst zu besuchen, auf Einladung des Präsi-
denten des malischen Parlaments. Das Ziel dieses Besu-
ches waren Verhandlungen und Gespräche über eine
engere Zusammenarbeit zwischen dem malischen Parla-
ment und dem deutschen Parlament, um das malische
Parlament auch in der Verbesserung seiner Arbeitsbedin-





Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)

gungen und damit auch der Arbeitsmöglichkeiten zu un-
terstützen.

In den Gesprächen, die wir in Mali mit Regierungs-
vertretern – darunter mit dem Premierminister –, mit vie-
len Parlamentarierinnen und Parlamentariern, aber auch
mit Vertretern unterschiedlicher politischer Gruppen und
mit zivilen Organisationen geführt haben, wurde immer
wieder deutlich, wie groß die Hoffnung der Menschen in
Mali auf den Friedensprozess ist und wie wichtig auch
die Unterstützung ist, die wir von unserer Seite aus in
Mali leisten.

Wenn man die Situation heute vergleicht mit dem
Mali am Abgrund, 2013, dann kann man sagen, dass in
den letzten zweieinhalb Jahren wirklich Erstaunliches,
viel erreicht worden ist. Es gibt zwar immer noch große
Herausforderungen, vor denen Mali steht – sowohl das
Parlament als auch die Menschen –, aber es gibt auch
enorme Fortschritte: die weitgehende Wiederherstellung
der territorialen Integrität des Staates, die Präsident-
schafts- und Parlamentswahlen – also die Rückkehr zur
demokratischen Ordnung –, eine deutliche Verbesserung
der Sicherheitslage, das Waffenstillstandsabkommen
von Kidal, aber vor allen Dingen auch der Friedenspro-
zess von Algier, der Abschluss des Vertrages für Frieden
am 15. Mai und die Bereitschaft und die Ratifizierung,
die jetzt am 20. Juni durch die Gruppen auch noch ge-
leistet werden wird, die diesen Friedensvertrag bisher
nicht unterschrieben haben. Das sind gewaltige Fort-
schritte, die in den letzten zweieinhalb Jahren erreicht
werden konnten.

Wir haben von deutscher Seite aus diese gewaltigen
Fortschritte unterstützt – und werden dies auch weiter
tun – durch die Bereitstellung von Entwicklungszusam-
menarbeit, durch die Unterstützung des Landes in seiner
kulturellen, wirtschaftlichen und auch sozialen Entwick-
lung.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, all das wäre
nicht möglich gewesen ohne die militärische Interven-
tion von Frankreich und ohne die VN-Mission
MINUSMA.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb ist Mali auch ein Beispiel dafür, dass eine apo-
diktische Ablehnung jeglicher militärischer Einsätze
– ich rede über VN-Missionen – oder ein apodiktisches
Gegenüberstellen von zivilen Missionen, zivilen Hilfe-
stellungen und Interventionen und militärischen der Sa-
che nicht gerecht wird. Sicher sind zivile Hilfestellung
und Unterstützung, ziviles Krisenmanagement immer
besser, wenn es diese Möglichkeit noch gibt; aber
manchmal brauchen wir auch ein militärisches Eingrei-
fen, damit wir überhaupt erst einmal wieder politische
Verhandlungen führen können und ein politischer Pro-
zess beginnen kann.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


MINUSMA ist eine VN-Mission, die erstens eine mi-
litärische Komponente enthält, um die Sicherheitslage
weiter zu stabilisieren und die Bevölkerung zu schützen,
die zweitens aber auch eine starke zivile und entwick-
lungspolitische Seite hat:


(Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU]: Vernetzte Sicherheit!)


indem die Mission die Umsetzung des Vertrages von Al-
gier unterstützt, indem die Dezentralisierung, die in die-
sem Vertrag niedergelegt worden ist, unterstützt wird, in-
dem der politische Dialog, die nationale Aussöhnung,
unterstützt wird und indem dafür Sorge getragen wird,
dass die Menschenrechte beachtet werden.

Ich glaube, dass dieser Einsatz, dass diese Mission
und das, was wir zusätzlich tun, zeigen, wie wichtig es
ist, dass wir bei einer wirklich massiven Krise in einem
Land, bei Bürgerkrieg oder bürgerkriegsähnlichen Ver-
hältnissen, einen multidimensionalen Ansatz wählen
– wir können das auch einen kohärenten Ansatz nennen –,
der neben dem militärischen Einsatz auch die zivilen
Elemente umfasst. Ich finde es schade, dass wir in den
Debatten oft nur über die militärische Mission sprechen,
aber nicht über die zivile Hilfe und Unterstützung, die
wir gleichzeitig leisten.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen auch in diesem Parlament ganzheitlich
denken und ganzheitlich agieren. Wir sollten den gesam-
ten Umfang der Missionen inklusive der Hilfestellungen
betrachten. Dann, glaube ich, wird deutlich, wie wichtig
es ist, dass wir uns engagieren, dass wir außenpolitisch
mehr Verantwortung übernehmen; denn so können wir
wirklich dazu beitragen, die Lebensverhältnisse in den
Ländern zu verbessern. So können wir den Menschen
eine neue Perspektive geben. So können wir sie dabei
unterstützen, diese Perspektive zu entwickeln. Deshalb
ist es richtig, dass wir uns neben dem militärischen Ein-
satz im Rahmen von MINUSMA auch an politischen
und sozialen und auch an Programmen zur Förderung
der wirtschaftlichen Entwicklung beteiligen.

Wir unterstützen im Übrigen auch das Parlament,
weil das Parlament eine ganz erhebliche Verantwortung
besitzt. Es hat eine wichtige Aufgabe und eine erhebli-
che Bedeutung für gutes Regieren in einem Land. Gele-
gentlich vergessen wir als Parlamentarier das. Dabei
müssten wir das aus eigener Erfahrung sehr gut wissen.
Deshalb will ich an dieser Stelle die Bedeutung der Zu-
sammenarbeit zwischen dem Deutschen Bundestag und
dem Parlament in Mali unterstreichen. Diese Zusam-
menarbeit bezieht sich nicht nur auf die Zusammenarbeit
zwischen den nationalen Parlamenten, sondern wir un-
terstützen Mali auch bei dem Aufbau und der Weiterent-
wicklung regionaler Parlamente und Verwaltungen. Da-
mit unterstützen wir das Land mit Blick auf eine gute
Regierungsführung.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Gute Regierungsführung ist die entscheidende Vo-
raussetzung dafür, dass ein Land eine friedliche und sta-





Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)

bile Entwicklung nimmt. Wie wichtig das ist, hat gerade
erst eine Umfrage gezeigt, die morgen den VN zur
Kenntnis gegeben wird. Nach dieser Umfrage sagen
70 Prozent der Bevölkerung Malis, dass die Sicherheits-
lage in Mali, dass friedliche, stabile Verhältnisse für sie
eine ganz große Bedeutung haben. Knapp 50 Prozent sa-
gen, dass ihnen die Arbeitslosigkeit, die soziale Ent-
wicklung insgesamt große Sorgen bereiten.

Deshalb unterstreiche ich zum Schluss noch einmal,
wie wichtig es ist, dass wir den kohärenten Ansatz, den
wir gewählt haben, fortsetzen. Die kulturelle Zusam-
menarbeit gehört im Übrigen auch dazu: Deutschland
unterstützt Mali bei der Restaurierung der wunderbaren
Bibliothek von Timbuktu. Auch das gehört dazu, weil
das ein wichtiger Teil der Geschichte und Tradition Ma-
lis ist.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810928400

Bei allem Engagement, Frau Bulmahn, Sie müssen

zum Schluss kommen.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1810928500

Ich plädiere deshalb ausdrücklich dafür, dieser Mis-

sion zuzustimmen. Wenn Sie das Land besuchen, wer-
den Sie selbst erleben, wie wichtig das ist. – Da geht mir
das Herz über, Frau Präsidentin. Ich hoffe, Sie sehen es
mir nach. – Ich bitte Sie sehr, der Fortsetzung dieser
Mission zuzustimmen, weil das für die Menschen in
Mali von ungeheurer Bedeutung ist.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810928600

Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke spricht

jetzt der Kollege Niema Movassat.


(Beifall bei der LINKEN)



Niema Movassat (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810928700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich

muss Ihnen sagen: Wir diskutieren hier über einen Bun-
deswehreinsatz in Mali, und es ist, wenn ich es richtig
sehe, niemand vom Auswärtigen Amt da. Das überrascht
mich schon ein bisschen, weil es natürlich dazugehört,
dass auch das Auswärtige Amt bei der Debatte im Parla-
ment dabei ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich muss sagen: Die Bilanz dieses Einsatzes der Bun-
deswehr ist schlecht. Der erste Grund dafür ist, dass das
Zivile zu kurz kommt. Eigentlich soll der Einsatz in Mali
ein Musterbeispiel für den vielgepriesenen vernetzten
Ansatz aus Bundeswehr, Polizeiausbildern und zivilen
Maßnahmen sein. Aber wo sind die deutschen zivilen
Beiträge im Rahmen von MINUSMA? Ich sehe bloß Mi-
litär:


(Edelgard Bulmahn [SPD]: Haben Sie keine Ohren, um zuzuhören?)

Bundeswehrsoldaten, die andere Soldaten ins Einsatzge-
biet fliegen und französische Kampfflugzeuge auftan-
ken, daneben Bundeswehrsoldaten, die malische Solda-
ten ausbilden. Die Probleme in Mali werden so nicht
gelöst. Schon deshalb ist der Einsatz abzulehnen.


(Beifall bei der LINKEN)


Der zweite Grund: Die Ursache für den Dauerkonflikt
im Land wird nicht angepackt. Armut und Perspektiv-
losigkeit im Norden Malis sind die Gründe dafür, dass
sich junge Menschen den Separatisten und Islamisten
anschließen. Diese locken mit Einkommen; da machen
100 Euro Sold schon den Unterschied. Übrigens: Den Is-
lamisten geht es wiederum weniger um den Glauben als
vielmehr um die attraktiven Handels- und Schmuggler-
routen. Der Militäreinsatz ändert nichts an diesen Kon-
fliktursachen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Probleme Malis lassen sich nur lösen, wenn die Ar-
mut, vor allem im Norden, bekämpft wird.

Dritter Grund für die schlechte Bilanz: Es gibt keinen
echten Dialog in Mali. Seit Jahren fordert die malische
Zivilgesellschaft einen nationalen Dialogprozess. Die-
ser wurde aber immer wieder hintertrieben. Auch die
Versöhnungskommission bleibt hinter den Erwartungen
der Zivilgesellschaft zurück. Die Friedensverhandlungen
in Algier sind von militärischer Logik bestimmt.


(Edelgard Bulmahn [SPD]: Fahren Sie doch einfach mal hin, und bilden Sie sich weiter!)


Dort dürfen mit der malischen Regierung nur die Grup-
pen verhandeln, die Waffen haben. Wer keine Waffen
hat, sitzt nicht am Tisch – also die gesamte Zivilgesell-
schaft. Wie soll es da eine nachhaltige Lösung geben?

Ein vierter Grund: Der wichtigste Partner, die ehema-
lige Kolonialmacht Frankreich, spielt ein falsches Spiel.
Es geht ihr um die reichen Rohstoffvorkommen und um
die wichtige geostrategische Lage. Die Rettung der Zi-
vilbevölkerung war nie das primäre Ziel der Interven-
tion. Frankreichs Interesse zeigt sich auch anhand der ei-
genen Militäroperation mit 3 000 Soldaten, von der wir
fast nichts wissen. Dazu hat Frankreich Mali ein Militär-
abkommen aufgedrückt, das dessen Souveränität mit Fü-
ßen tritt. Trotzdem kooperiert Deutschland auch weiter-
hin militärisch mit Frankreich – ein Unding.


(Beifall bei der LINKEN)


Fünfter Grund für das Scheitern: Die Strategie des
Einsatzes ist unlogisch. Bundeswehrsoldaten unterstüt-
zen die malische Regierung, um gegen die MNLA-Re-
bellen zu kämpfen. Diese Rebellen wiederum werden
von Frankreich unterstützt und von Saudi-Arabien mit
Waffen beliefert. Mit Frankreich ist Deutschland verbün-
det, an Saudi-Arabien liefert Deutschland Waffen. Das
ist keine Strategie. Das ist absurd.


(Beifall bei der LINKEN)


Sechster Grund. Trotz des Militäreinsatzes werden
die Rebellen immer stärker. Die Zahl ihrer Angriffe
nimmt zu. Zudem gibt es immer öfter Proteste gegen





Niema Movassat


(A) (C)



(D)(B)

MINUSMA. Denn seit kurzem versucht MINUSMA,
überall dort mit Gewalt Pufferzonen einzurichten, wo re-
gierungsnahe Milizen vorrücken. So sollen angeblich
Kämpfe verhindert werden. Viele Malier sehen darin
aber einen Schritt zur De-facto-Spaltung des Landes;
denn Rebellengebiete bleiben so in Separatistenhand.
Bei den Protesten dagegen Anfang des Jahres in Gao
schossen Blauhelme auf die Zivilbevölkerung. Es star-
ben mindestens drei Zivilisten. Soll das der Frieden sein,
der militärisch nach Mali gebracht wird?


(Edelgard Bulmahn [SPD]: Da war der Vertrag noch nicht unterschrieben!)


Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Es gibt immer
noch Zehntausende malische Flüchtlinge. Viele Men-
schen hungern. Es gibt also weder eine militärische noch
eine zivile Besserung der Lage. Sehen Sie es endlich ein:
Ihre Strategie in Mali ist gescheitert. Ziehen Sie die Bun-
deswehr ab!


(Beifall bei der LINKEN – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Ach was! Sie haben ja nicht mal eine Strategie!)


Mit der Verlängerung des Einsatzes werden weitere
6 Millionen Euro verpulvert. Ich sage Ihnen: Dieses
Geld wäre bei der humanitären Hilfe, beim Zivilen Frie-
densdienst, bei der Entwicklungszusammenarbeit we-
sentlich besser aufgehoben.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810928800

Vielen Dank. – Für die Bundesregierung erhält jetzt

der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)


D
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1810928900


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Kollegin Bulmahn hat wichtige Aspekte bereits an-
gesprochen und deutlich gemacht, aus welch guten
Gründen wir uns in Mali in vielfältiger Weise engagie-
ren. Was Sie gerade vorgetragen haben, Herr Kollege,
hat mit der wahren Situation in Mali nicht viel zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU – Niema Movassat [DIE LINKE]: Sagen Sie! Aber Sie verkennen die Realität!)


Worum es geht, sind fragile Staatlichkeit und sto-
ckende wirtschaftliche Entwicklung, die an vielen Stellen
Afrikas Probleme bereiten. Wir können dieser Gemenge-
lage nur begegnen sowohl durch eine Stabilisierung der
Sicherheitslage als auch durch die Stärkung der Verant-
wortung vor Ort, den Aufbau von Kapazitäten ziviler Si-
cherheitskräfte und durch Hilfe zur Selbsthilfe, natürlich
auch durch Mittel der Entwicklungszusammenarbeit, um
nur einige Handlungsfelder aufzuzeigen. Natürlich sind
wir auch im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit
in Mali aktiv; das ist gut so. Wir brauchen einen vernetz-
ten Ansatz, und genau um den geht es auch hier bei die-
sem Mandat. Wir beschreiten diesen Weg genau mit un-
seren internationalen Partnern in Afrika – und auch in
Mali.

Eine weiterhin volatile Sicherheitslage vor allem im
Norden des Landes führte im Zuge der immer noch
schwelenden Auseinandersetzungen immer wieder zu
gewaltsamen Übergriffen mit Todesopfern, und die
Spannungen halten weiter an. Daneben besteht eine ter-
roristische Bedrohung, die nur am Rande Bezug zum
politischen Verhandlungsprozess hat, abstrakt landes-
weit und eben besonders konkret im Norden des Landes.

Die Kollegin Bulmahn hat die Unterzeichnung des
Friedensabkommens am 15. Mai 2015 in Bamako ange-
sprochen. Das war in der Tat ein wichtiger Schritt auf
dem Weg zu einer politischen Konfliktlösung. Die mali-
sche Zentralregierung und Teile der Rebellengruppen
aus dem Norden sind in diesem Rahmen mit Unterstüt-
zung maßgeblicher internationaler Akteure zu einem ge-
meinsamen Ergebnis für ganz Mali gekommen.

Der vielseitige und vernetzte Ansatz internationaler
Organisationen in Mali ist von besonderer Bedeutung.
Es geht um Vernetzung einerseits der verschiedenen
politischen Ansätze – zivil und militärisch –, auf ziviler
Seite natürlich sowohl entwicklungspolitisch als auch di-
plomatisch, aber es geht eben auch um die verschiede-
nen Mandate, in denen wir uns einbringen und in denen
wir mit anderen Organisationen und Staaten zusammen-
arbeiten.

EUTM Mali, EUCAP Sahel Mali und MINUSMA
leisten neben weiteren nationalen und internationalen
Hilfsinitiativen gemeinsam einen wichtigen Beitrag zur
Stabilisierung nicht nur in Mali, sondern in der gesamten
Region. Dieses umfassende Engagement bleibt eine
Grundvoraussetzung für eine Verbesserung der Sicher-
heitslage in Mali und damit auch für die zur Stabilisie-
rung des Landes und in der Region nötigen Friedenspro-
zesse.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben unser En-
gagement bei EUTM Mali zu Beginn des Jahres ausge-
weitet und damit ein deutliches Signal gesetzt. Und
wenn es um die VN-Friedensmission MINUSMA und
um unsere Verlängerung des Mandats geht, dann ist das
eben auch ein wichtiger, ein bedeutender Teil dieses Sta-
bilisierungsprozesses in Mali und in der gesamten Re-
gion.

Und, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben das
Thema ja oft, wenn es um Defizite geht, die vorhanden
sind, und um Fortschritte, die es gibt, die Frage: Was da-
von hat eigentlich mit unserem Einsatz zu tun? Viele
Probleme, die es in Afrika gibt, haben nichts mit dem
Einsatz der internationalen Gemeinschaft zu tun. Nach
den friedlich verlaufenen freien und demokratischen
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen verfügt Mali
seit dem Jahr 2013 aber wieder über eine demokratisch
legitimierte Regierung, die sich den Reform-, Aufbau-
und Aussöhnungsprozess als wichtiges Ziel gesetzt hat.
Mit dem vorliegenden Mandat unterstützen wir genau
mit unseren europäischen und internationalen Partnern





Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe


(A) (C)



(D)(B)

diesen politischen Prozess und kommen der von uns an-
genommenen und gelebten sicherheitspolitischen Ver-
antwortung für die Region nach.

Das ist eben genau unser Beitrag, zu dem wir stehen
und den wir vor allem im Interesse der Menschen dieses
Landes – nicht in irgendeinem europäischen Interesse –
fortsetzen wollen. Darum geht es.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der Einsatz im Rahmen von MINUSMA bleibt Teil
eines umfassenden Engagements unseres Landes für Mali.
Wir beteiligen uns daran auch mit dem Einsatz von Kri-
senpräventionsmitteln, mit der Entwicklungszusammen-
arbeit, mit dem Ausstattungshilfeprogramm der Bundes-
regierung und mit der Ausbildung von Polizei- und
Sicherheitskräften im Rahmen der EU- und VN-Missio-
nen. Dieser integrierte multidimensionale Charakter von
MINUSMA spielt eine bedeutende Rolle, ebenso wie die
Vernetzung unseres nationalen politischen, gesellschaft-
lichen, auch zivil angelegten Engagements.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der Verlänge-
rung der deutschen Beteiligung an EUTM Mali ist be-
reits ein wichtiger Schritt vollzogen worden. Durch die
weitere Beteiligung unserer Soldatinnen und Soldaten an
MINUSMA machen wir einen weiteren Schritt in
Richtung eines verstärkten Engagements im Sinne von
Sicherheit und Stabilität in Mali und in der gesamten
Region. Deswegen bitte ich Sie herzlich um die Unter-
stützung des Antrags der Bundesregierung.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810929000

Vielen Dank. – Für Bündnis 90/Die Grünen erhält

jetzt Dr. Frithjof Schmidt das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Um es noch einmal klar zu sagen: Das
Eingreifen Frankreichs im Januar 2013 und das Zu-
rückdrängen der Islamisten, die aus dem Norden auf
die Hauptstadt Bamako vorgerückt sind, war richtig und
notwendig. Wir können uns alle noch gut daran erinnern,
dass die Menschen in den befreiten Orten gefeiert und
getanzt haben. Das war keine Inszenierung; das war
echt. Es war auch richtig, dann unter dem Mandat der
Vereinten Nationen eine Mission im Land einzurichten.
Es ist gut, dass sich Deutschland daran beteiligt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)


Diese UN-Mission hat zwar ganz maßgeblich zur Sta-
bilität in großen Teilen des Landes beigetragen, und Frau
Bulmahn hat zu Recht darauf hingewiesen, was dort an
zivilem Aufbau und Engagement geleistet wird – das ist
ganz wesentlich –, aber klar ist auch: Dauerhafter Frie-
den ist noch nicht erreicht worden. Da dürfen wir nichts
schönreden. In den letzten zwei Jahren hat es immer
wieder schwere Rückschläge gegeben. Noch letzte Wo-
che gab es im Norden schwere Kämpfe zwischen kon-
kurrierenden bewaffneten Gruppen, und mehrere Zehn-
tausend Menschen sind gerade vor diesen Kämpfen
geflohen und suchen den Schutz der UNO und die Hilfe
des UNHCR.

Die UN-Blauhelme sind schon mehrfach zwischen
die Fronten geraten. Sie haben in den letzten zwei Jahren
schon fast 50 Tote zu beklagen. Das heißt, dies gilt der-
zeit als einer der gefährlichsten UN-Einsätze. Das soll-
ten wir auch klar sagen, wenn wir fordern, die Bundes-
wehr soll an einem solchen Einsatz teilnehmen. Das ist
ein sehr gefährlicher Einsatz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber er trägt auch entscheidend dazu bei, die Voraus-
setzungen für eine politische Lösung der Konflikte im
Land zu schaffen, und darum geht es: eine dauerhafte
politische Lösung zu erreichen. Es gibt eben nicht nur
den Konflikt zwischen der Zentralregierung im Süden
und den Tuareg im Norden, sondern auch Konflikte zwi-
schen den verschiedenen bewaffneten Gruppen im Nor-
den. Es ist die zentrale Aufgabe, sie zusammenzubrin-
gen. Ich finde es absolut unsinnig, die Einbeziehung der
Zivilgesellschaft in Friedensprozesse gegen den Versuch
der UNO auszuspielen, in Algier diese bewaffneten
Gruppen zusammenzubringen und so Frieden zu stiften.
Es ist doch eine ganz unsinnige Diskussion, die da auf-
gemacht wurde.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)


Ohne die Präsenz und Vermittlung der UNO wird
kein Frieden in Mali zu erreichen sein. Es gibt die Hoff-
nung, dass wir dort Fortschritte machen können. Denn
die UNO hat es geschafft, den Friedensprozess zu initiie-
ren, und die Verhandlungen um einen Waffenstillstand
und den Friedensvertrag in Algier waren langwierig und
schwierig, aber jetzt ist ein neuer großer Schritt in die
richtige Richtung gelungen. Die Rebellenorganisation
CMA, die sehr wichtig ist und sich bisher nicht beteiligt
hatte, hat jetzt erklärt, dass sie dem Friedensvertrag bei-
treten wird, der schon im Mai zwischen anderen Grup-
pen geschlossen wurde. Das ist ein weiterer ganz wichti-
ger Schritt nach vorne in dieser sehr gefährlichen Lage,
die immer wieder so viele Opfer fordert.

Auch dieser Friedensvertrag ist sicher nicht perfekt,
aber er ist ein richtiger Schritt in die richtige Richtung.
Jetzt geht es um seine Umsetzung. Auch das wird ohne
die UNO und ihre Präsenz nicht gehen.

Deshalb möchte ich an die Adresse der Kolleginnen
und Kollegen von der Linken noch einmal deutlich sa-
gen: Ein Abzug der UNO in dieser Situation wäre auch
das Ende all dieser Friedenshoffnungen für lange Zeit.
Das zu fordern, ist unverständlich, und es ist übrigens
auch unverantwortlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)


Es gibt die Chance auf dauerhaften Frieden in Mali.
Wer diese Chance nutzen will, der muss diese UN-Mis-





Dr. Frithjof Schmidt


(A) (C)



(D)(B)

sion unterstützen und verlängern. Deswegen werbe ich
für die Zustimmung zu diesem Mandat.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1810929100

Vielen Dank. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesord-

nungspunkt ist die Kollegin Julia Obermeier, CDU/
CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Julia Bartz (CSU):
Rede ID: ID1810929200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Europäische Marineschiffe haben vergange-
nes Wochenende mehr als 4 000 Flüchtlinge aus Seenot
gerettet. Am Samstag haben allein die Fregatte „Hessen“
und der Versorger „Berlin“ 1 400 Menschen – darunter
145 Kinder – an Bord genommen. Etwa jeder dritte
Flüchtling, der im Mittelmeer gerettet wird, kommt aus
Mali. Weniger bekannt ist: 30 bis 40 Prozent der Flücht-
linge verhungern und verdursten auf dem Weg durch die
Sahara. Allein 270 000 Malier sind auf der Flucht: rund
140 000 in den Nachbarstaaten und 90 000 innerhalb
Malis.

Die Menschen fliehen vor Armut und Gewalt. Das
Pro-Kopf-Einkommen liegt bei 600 Euro im Jahr. Etwa
die Hälfte der Menschen lebt in Armut. Viele Malier fin-
den keine Arbeit und keine Perspektive für sich und ihre
Familie.

Auch ist die Sicherheitslage im Norden Malis nach
wie vor beunruhigend. Das ist auch deswegen so wich-
tig, weil im Norden Malis eine der drei Hauptrouten
durch die Sahara beginnt, auf denen der gesamte afrika-
nische Drogen-, Menschen- und Waffenhandel stattfin-
det. Deshalb macht es auch für uns in Deutschland einen
Unterschied, ob die Zugänge durch die Sahara von halb-
wegs funktionierenden staatlichen Strukturen kontrol-
liert werden oder ob hier Warlords, Schleusern und
Kriminellen Tür und Tor geöffnet ist. Deshalb engagie-
ren wir uns in Mali.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir tun dies auf mehreren Ebenen: mit Diplomatie,
mit Entwicklungszusammenarbeit und mit Sicherheits-
politik. Deutschland beteiligt sich an mehreren militäri-
schen Missionen der internationalen Gemeinschaft: an
der europäischen Ausbildungsmission EUTM Mali, an
der Polizeimission EUCAP und auch an der VN-Mission
MINUSMA, über die wir heute beraten.

MINUSMA verfolgt wichtige Ziele: Sicherheit und
Stabilität in Mali zu fördern und Zivilpersonen zu schüt-
zen. Ja, das deutsche Engagement im Rahmen der Ge-
samtoperation MINUSMA ist vergleichsweise klein,
aber es ist sinnvoll. Mit MINUSMA leisten wir einen
Beitrag, den politischen Dialog und die nationale Aus-
söhnung zu fördern. Wir fördern auch die Wiederherstel-
lung der staatlichen Autorität im gesamten Land.
Zudem unterstützt das Auswärtige Amt bereits seit
zwei Jahren das malische Versöhnungsministerium bei
den Bemühungen um ein Friedensabkommen. Mittler-
weile haben sich die malische Regierung und mehrere
Rebellengruppen auf ein Friedensabkommen verstän-
digt, dem am 20. Juni nun auch die wichtigen Rebellen-
gruppen aus der Tuareg-Region in Nordmali zustimmen
werden.

Deutschland ist auch in der Entwicklungszusammen-
arbeit in Mali tätig, und zwar als viertgrößter Geldgeber
weltweit. Dabei fördern wir Dezentralisierung und gute
Regierungsführung sowie die Wasserversorgung. Wir
geben Flüchtlingen Starthilfe und steigern die Erträge
der Landwirtschaft. Durch Bewässerungsprojekte kön-
nen 70 000 Bauern im Binnendelta des Niger pro Jahr
rund 130 000 Tonnen Reis ernten.

Wenn ich an Mali denke, denke ich auch immer an
den Truppenbesuch von Staatssekretär Markus Grübel
im Jahr 2014, den ich begleiten durfte. Dort haben wir
unter anderem die Bundeswehrsoldaten am Ausbil-
dungsstandort Bapho besucht. Dort haben uns die Kin-
der der malischen Soldaten sehr herzlich empfangen.


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann nicht wahr sein!)


Für diese Kinder wie für alle Bewohner Malis macht un-
ser Engagement einen Unterschied – und auch für uns in
Deutschland. Deshalb unterstützen wir den Antrag der
Bundesregierung.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810929300

Vielen Dank, Frau Kollegin Obermeier. – Damit sind

wir am Ende dieser Debatte. Interfraktionell wird Über-
weisung der Vorlage auf Drucksache 18/5053 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich habe vergessen, Ihnen einen schönen guten Abend
zu wünschen. Zu unseren Besuchern aus Mali auf der
Tribüne – sie gehen gerade – sage ich: Bonne soirée à
vous. – Au revoir.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe

(Augsburg)

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abge-
ordneten Heike Hänsel, Niema Movassat,
Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit der
Westafrikanischen Wirtschaftsunion dem
Bundestag zur Abstimmung vorlegen
Drucksache 18/5096
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)






Vizepräsidentin Claudia Roth


(A) (C)



(D)(B)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre und
sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Uwe Kekeritz von Bündnis 90/Die Grünen.


Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810929400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen

und Kollegen! Ich stelle Ihnen jetzt kurz einen Antrag
vor, der mit Ihrer Hilfe hoffentlich demnächst obsolet
sein wird. Mit dem Antrag beschreiten wir nicht die übli-
che traditionelle thematische Auseinandersetzung zwi-
schen Koalition und Opposition. Es geht vielmehr um
das Verhältnis der Verfassungsorgane zueinander, um
unser Demokratieverständnis als Abgeordnete und da-
rum, ob wir unsere verfassungsgemäßen Pflichten, die
uns die Wähler und Wählerinnen übertragen haben,
wahrnehmen oder nicht. Das ist keine Lappalie, sondern
eine entscheidende Frage.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Demnächst muss das Wirtschaftsabkommen mit der
Staatengemeinschaft ECOWAS ratifiziert werden. Doch
wer soll darüber entscheiden? Soll darüber das Kabinett
entscheiden oder das Parlament? Letztlich hat die Regie-
rung dem Abkommen im EU-Ministerrat schon zuge-
stimmt. Da es sich aber ohne Zweifel um ein gemischtes
Abkommen handelt – daran hat auch die Regierung
keinen Zweifel –, muss darüber nochmals abgestimmt
werden: hier im Bundestag.

Leider sieht das die Bundesregierung anders. Sie will
nochmals darüber abstimmen, aber nur im Kabinett. Da-
durch werden aber unsere parlamentarischen Beteili-
gungsrechte ausgehöhlt. Das entspricht auch nicht dem
Geist des Lissabon-Vertrags. Darin steht ganz klar:
Gemischte Abkommen verlangen eine zweite nationale
Abstimmung. – Ich sage: Das kann nur im Parlament
sein.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir haben diesbezüglich schon mehrere rechtliche
Bewertungen eingeholt. Wir wie auch Präsident
Lammert warten jetzt seit drei Monaten auf eine Bewer-
tung durch das Justizministerium. Aber die Bewertung
kommt komischerweise nicht, obwohl sie schon lange
fertig ist. Hier blockiert offensichtlich ein machtpoliti-
sches Faktum im Kanzleramt die Freigabe der Bewer-
tung. Was dahintersteckt, ist Ihrer Interpretation überlas-
sen.

Erinnern Sie sich eigentlich noch an die Auseinander-
setzung zum Thema „Beteiligungsrechte des Parlaments
in EU-Angelegenheiten“? Es ist nicht nur eine Schande,
dass das Gericht in Karlsruhe der Regierung sagen
musste, wie die Beteiligungsrechte des Parlaments zu
bewerten sind. Es ist und bleibt ein Skandal, dass die
Mehrheit im Parlament bereit war, ihre Rechte, aber
auch Pflichten an die Regierung abzutreten. Wir Abge-
ordnete haben kein Recht, uns aus der Verantwortung,
die wir durch unsere Wahl angenommen haben, zu steh-
len.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Es stellt sich die Frage, ob sich die Mehrheit des Parla-
ments auch in diesem Fall wieder ihrem Auftrag, Verant-
wortung zu übernehmen, einfach verweigert.

Welche Konsequenzen könnte es haben, wenn
Freihandelsverträge mit Afrika hier nicht verhandelt
werden? Was passiert eigentlich mit TTIP, CETA, TiSA
und anderen? Warum sollte über diese hier abgestimmt
werden, obwohl jeder von Ihnen schon in seinem Wahl-
kreis erklärt hat: TiSA und CETA sind überhaupt kein
Problem. Darüber wird doch hinterher im Parlament
abgestimmt. Damit sind die demokratischen Grund-
bedingungen erfüllt. – Sie sind gerade dabei, sich auf ei-
nen anderen Weg zu machen.

Der Antrag wandert nun in die Ausschüsse. Damit be-
steht für jeden genug Zeit, über seine parlamentarischen
Pflichten und Rechte einmal nachzudenken. Lassen Sie
sich von Ihren Fraktionsvorsitzenden bitte schön nicht
den Schneid abkaufen. Es geht um die Funktionsfähig-
keit des Parlaments, aber auch um die Rolle, die Sie in
diesem Parlament wahrnehmen müssen. Auch die Re-
gierung hat die hervorragende Chance, darüber nachzu-
denken. Um diesen Antrag und weitere Konsequenzen
einfach zu vermeiden, sollte sie dem Bundestag die Ab-
stimmung ermöglichen.

Ansonsten werden wir das Bundesverfassungsgericht
erneut anrufen. Ich bin davon überzeugt, dass das Bun-
desverfassungsgericht ganz im Sinne der Stärkung der
Beteiligungsrechte des Parlaments entscheiden wird.
Wir werden die Abstimmung über diesen Antrag notfalls
auch namentlich machen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810929500

Vielen Dank, Kollege Uwe Kekeritz. – Nächster Red-

ner ist Herr Huber für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall der Abg. Julia Obermeier [CDU/ CSU])



Charles M. Huber (CDU):
Rede ID: ID1810929600

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolle-

ginnen und Kollegen! Während wir hier institutionelle
Debatten führen, und zwar nicht erst seit gestern, sterben
woanders Menschen.

Ich möchte kurz auf die allgemeine Wahrnehmung
des afrikanischen Kontinents, zugegebenermaßen außer-
halb dieses Hauses, eingehen. Wenn in Westafrika Ebola
ausbricht, bricht in Ostafrika der Tourismus zusammen.
Wenn mich jemand anspricht und sagt: „Herr Huber, ich
freue mich, dass Sie sich für Afrika einsetzen, das ist ein
tolles Land“, dann sage ich: „Ja, das ist ein Kontinent,





Charles M. Huber


(A) (C)



(D)(B)

der hat 54 Länder, aber ansonsten stimmt alles.“ Geogra-
fisch liegen wir sehr nahe an Afrika. Von Dakar nach
Dschibuti bzw. nach Mombasa fliegt man siebeneinhalb
Stunden. Im Vergleich dazu: Von hier nach Portugal
fliegt man in drei Stunden. Das fällt den wenigsten Men-
schen auf.

Wenn es heißt: „Herr Huber, was sprechen die denn
für eine Sprache in Afrika? Die sprechen Dialekte, nicht
wahr?“, dann sage ich: „Ja, die sprechen Sprachen, denn
in Afrika hat man sich schon untereinander verständigt,
bevor die Kolonialmächte aufgetaucht sind.“ Meine
Damen und Herren, es mag provokativ klingen, diesen
Ansatz bzw. diese Analyse an Sie zu kommunizieren,
aber das ist die landläufige Wahrnehmung Afrikas.

Wenn wir ehrlich sind: Wir haben angefangen, Afrika
wirtschaftlich wahrzunehmen, als die Chinesen kamen.
Als die Chinesen kamen, hieß es: „Auf einmal sind die
Chinesen da, was machen denn die Chinesen in Afrika?“
Den Chinesen sind die Inder und die Brasilianer gefolgt.
Wenn Sie jetzt schauen, dann sehen Sie, dass auch die
Türken dort sind. Alle Leute sind da. Die Amerikaner sa-
gen: „Wir beteiligen uns am afrikanischen Boom.“ Die
Chinesen sagen: „Wir werden Afrika einen Kredit von
1 Billion zur Verfügung stellen.“ Ich frage mich: Wo
bleiben wir mit all diesen Debatten? Wie ist unsere
wahre Größe in Afrika? Ist die Größe, die wir hier im
Parlament diskutieren, tatsächlich auf dem Kontinent
real?

Wir wissen um Krisen und um Armut auf dem Konti-
nent, aber die wenigsten wissen im Zusammenhang mit
dem, was ich vorhin gesagt habe, dass es in Nigeria zu
einem Wirtschaftswachstum von 5,8 Prozent gekom-
men ist, trotz Ebola und Boko Haram, und zwar bei sin-
kenden Preisen auf dem extraktiven Sektor, sprich bei
sinkenden Erlösen aus dem Ölverkauf, von dem das
Land zum großen Teil lebt, und auf dem nichtextraktiven
Sektor, was auf eine Diversifizierung der Wirtschaft hin-
deutet. Die Diversifizierung der Wirtschaft ist eines der
wichtigsten Elemente, auf das wir – so glaube ich – bei
Ländern, die Probleme haben, hinweisen müssen.

Ich mache kurz einen Schwenk nach Ostafrika. In
Ostafrika, genauer gesagt in Äthiopien, hatten wir 2011
eine Inflationsrate von 40 Prozent. Wenn Sie nur ein
bisschen ein Volkswirtschaftler sind, dann können Sie
sich ausrechnen, was man für Importe zu zahlen hat.
Dieses Land hat binnen kürzester Zeit viel erreicht.
Heute beträgt zum Beispiel in Äthiopien die Inflations-
rate 7 Prozent.

Ich möchte Ihnen in Anbetracht dieser ganzen
Krisenszenarien absichtlich eine positive Entwicklung
kommunizieren, um klarzustellen und Ihnen klarzuma-
chen, wie wichtig die wirtschaftliche Entwicklung dieser
Länder ist. Wenn wir hier versuchen, Diskussionen lange
hinauszuzögern, dann denke ich nicht, dass dies im
Sinne der Afrikaner ist. Ich weiß nicht, welchen
Eindruck die malischen Kollegen gewonnen hätten,
wenn sie diese Diskussion über das Verfassungsgericht
etc. verfolgt hätten. Wir führen hier Grabenkämpfe, der
Kontinent steht unter einem demografischen Druck. Bis
zum Jahr 2050 werden wir eine Verdoppelung der Be-
völkerungszahl haben. Dann sind wir bei über 2 Milliar-
den, und 50 Prozent der Menschen werden Jugendliche
unter 18 Jahren sein.

Afrika: Was das Investitionsklima und die Investitio-
nen anbelangt, so hat sich die Situation stark verbessert.
Unter den weltweit zehn Ländern, die – was das Investi-
tionsklima anbelangt – signifikante Verbesserungen er-
reicht haben, sind sieben afrikanische Länder. Ich denke,
dass es Zeit ist, aus diesem Hause heraus nicht nur Mel-
dungen darüber hinauszusenden, was es an Afrika und
an dem Dialog mit Afrika – sei es wirtschaftlich oder
kulturell – auszusetzen gibt. Vielmehr müssen wir an die
Wirtschaft das Signal senden, dass wir in Afrika aktiv
sein können, dass wir erwartet werden und dass wir auch
aktiv sein müssen.

Wie gesagt, der afrikanische Kontinent steht unter
massivem ökonomischen Druck. Wer glaubt, dass es nur
darum geht, dass jeder Afrikaner jeden Tag eine Schale
Reis essen will, und dass die Jugend Afrikas sagt: „Wir
sind damit zufrieden, dass ihr in Europa super lebt, dass
bei euch alles hipp und cool ist, dass ihr tolle Autos und
gut gekleidete Mädchen habt“, der irrt. Der Mensch
funktioniert überall auf der Welt gleich. Wir alle kennen
den Spruch: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. –
Das sagen auch die afrikanischen Jugendlichen.

Lagos wird 2050 40 Millionen Einwohner haben. Ich
habe auch einmal Daressalam, die größte Stadt Tansa-
nias, besucht. Ich kenne zwar die aktuelle Zahl nicht,
aber auch dort wird sich die Bevölkerungszahl sicherlich
verdoppeln. Es gibt zudem den Klimawandel. Wir reden
über Handelshemmnisse, einseitigen Handel und die
Übervorteilung afrikanischer Länder sowie den Abbau
von Importzöllen. Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Wir ha-
ben endlose Debatten über Hühnerschenkel und Milch-
pulver geführt. Zur Klimaposition ist Folgendes zu sa-
gen: Die Menschen in Afrika besitzen keine neuen
Autos. Wenn Sie Addis Abeba in Äthiopien oder Accra
in Ghana besuchen, dann stellen Sie fest, dass Sie eine
Atemmaske brauchen, weil die alten Autos keine Kata-
lysatoren haben. Gleichzeitig wollen wir die Afrikaner
encouragieren, die Klimaziele zu erfüllen. Wie passt das
zusammen? Wenn die Importzölle wie geplant abgebaut
werden, dann können sich die Afrikaner neue Autos leis-
ten. Dann kann man in den genannten Städten wieder
frei atmen.


(Jan van Aken [DIE LINKE]: Herr Huber!)


Sie können natürlich beispielhaft auf die Hühner-
schlegel und das Problem verweisen, dass es keine funk-
tionierende Energieversorgung in Afrika gibt. Dazu kann
ich nur sagen: Die normale Bevölkerung kauft keine ein-
gefrorenen Hühnerschlegel im Supermarkt. Der Super-
markt ist das Einkaufszentrum für die Reichen, während
der Markt das Einkaufszentrum für die normale Bevöl-
kerung ist. Diese kauft ganze Hühner und schlachtet sie
daheim und nimmt keine Hühnerschlegel mit, die aus
China oder der Europäischen Union kommen.

Südafrika ist ein Produzent von Steinkohle. Wir ha-
ben ein Exportverbot in Bezug auf Steinkohlekraft-
werke, weil wir der Meinung sind, dass solche Kraft-





Charles M. Huber


(A) (C)



(D)(B)

werke dem Klima schaden. Das ist zwar richtig, aber die
Südafrikaner werden dann solche Kraftwerke aus China
importieren. Diese sind zwar billiger, werden aber wahr-
scheinlich unseren Umweltstandards erst recht nicht ge-
recht. Des Weiteren gebe ich zu bedenken: Wie können
wir den Südafrikanern, die unter einem eklatanten Ener-
giemangel leiden, die Energiegewinnung durch solche
Kraftwerke verbieten, wenn wir weiterhin solche Kraft-
werke betreiben?

Das Ansehen einer Kultur, das Ansehen von Men-
schen anderer Hautfarbe hängt stark mit der Perfor-
mance der Länder auf ökonomischer Ebene zusammen.
Wir haben erlebt, dass das Selbstbewusstsein junger
Menschen in unserem Land, die aus dem asiatischen
Raum, aus Indien oder der Türkei kommen, dadurch ge-
stiegen ist, dass sich ihre Ursprungsländer wirtschaftlich
entwickelt haben. Das gilt natürlich auch für die afrika-
nischstämmige deutsche Bevölkerung. Ich möchte Sie
bitten, weder den Wirtschaftsdialog noch die Entwick-
lung und die Stärkung des Selbstbewusstseins der Men-
schen in Afrika und in der afrikanischen Diaspora zu
blockieren. Entlassen Sie Afrika als Patienten aus dem
Krankenhaus!


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810929700

Denken Sie bitte an Ihre Redezeit.


Charles M. Huber (CDU):
Rede ID: ID1810929800

Ich komme zum Ende. – Bislang ist Afrika ein Pa-

tient, der zwischen Intensivstation und Freigang im Gar-
ten in Begleitung eines Arztes zu sehen ist. Afrika will
sich wirtschaftlich emanzipieren. Ich denke, wir müssen
eine Debatte über wirtschaftliche Kooperation nicht
komplizieren.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810929900

Nächste Rednerin zum Thema „Wirtschaftspartner-

schaftsabkommen mit der Westafrikanischen Wirt-
schaftsunion dem Bundestag zur Abstimmung vorlegen“
ist Heike Hänsel für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810930000

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Ich musste mich jetzt gerade doch dage-
gen wehren, dass ich nicht ganz von Ihnen, Herr Huber,
ins Koma geredet werde. Ich muss sagen: Bei dieser
Plauderrede muss man Ihnen einmal die Frage stellen,
ob Sie den Ernst der Lage eigentlich erkannt haben und
sich als Parlamentarier selbst ernst nehmen; denn wir
sprechen hier von nichts weniger als von unseren Betei-
ligungsrechten in Fragen und Angelegenheiten der Euro-
päischen Union. Wir kämpfen natürlich dafür, dass die
Bundesregierung nicht eigenmächtig anfängt, wie sie es
in vielen Bereichen getan hat, was zum Beispiel den Zu-
gang zu Dokumenten betrifft, unsere Beteiligungsrechte
zu beschneiden.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen sind wir heute hier. Die Handelsabkom-
men sind ganz klar als gemischte Abkommen zu sehen,
werden jetzt aber umgedeutet, um die Ratifikation im
Parlament zu umgehen. Damit werden auch die politi-
schen Debatten hierzu umgangen, die aber bitter nötig
sind bei den Themen, die wir hier auf der Tagesordnung
haben. Genau deswegen haben wir die Initiative der
Grünen unterstützt und einen gemeinsamen Antrag hier
eingebracht. Wir sind auf einem guten Weg, wie ich
sehe.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte aber etwas zu dem Inhalt und dazu sagen,
woran wir das festmachen. Es geht um die Ratifikation
der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit West-
afrika, der sogenannten EPAs. Diese könnten das TTIP
für Afrika werden. Deswegen ist ihre Bedeutung auch so
enorm.

Es geht jetzt um den Abbau von Schutzzöllen, die
sehr wichtig für den Aufbau eigener Industrien in den
afrikanischen Ländern wären, aber auch von Exportzöl-
len für Rohstoffe. Die EU hat ein großes Interesse daran,
weiterhin billig und noch ungehinderter an diese Roh-
stoffe zu kommen, die Ausbeutung voranzutreiben und
auch die Abhängigkeiten dadurch zu vertiefen. Wir spre-
chen im Grunde von einer neokolonialen Politik, die
jetzt über diese Handelsabkommen festgeschrieben wer-
den soll. Das lehnen wir ab. Darüber wollen wir disku-
tieren, und das wollen wir im Parlament dokumentieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Rahmen dessen haben wir im Moment auch die
afrikanischen Länder im Fokus, weil nämlich sehr viele
Flüchtlinge aus den afrikanischen Ländern kommen und
teilweise elendig im Mittelmeer ertrinken.


(Charles M. Huber [CDU/CSU]: Ja, mit Ihrer Politik werden es sicherlich weniger!)


Ich höre immer von der Bundesregierung, auch von
Entwicklungsminister Müller – er ist heute nicht da –,
gebetsmühlenartig: Wir wollen die Fluchtursachen be-
kämpfen. – Was sind denn die Fluchtursachen in den
afrikanischen Ländern? Die Fluchtursachen sind, dass
sie die eigenständige, selbstbestimmte Entwicklung
nicht gegen die Interessen zum Beispiel der EU und
nicht gegen die Handelspolitik der EU durchsetzen kön-
nen. Ich halte es für verlogen, wenn Entwicklungsminis-
ter Müller weiterhin von der Bekämpfung von Fluchtur-
sachen spricht, aber nicht Stellung bezieht und sich
eindeutig gegen diese Wirtschaftspartnerschaftsabkom-
men positioniert.


(Beifall bei der LINKEN)


Für uns ist es deswegen sehr wichtig, dass wir diese
Abkommen hier vorgelegt bekommen. Da wundert es
mich doch schon, dass man hier so lapidar darüber hin-
weggeht. Der wissenschaftliche Dienst des britischen
Parlaments hat ganz klar festgestellt, dass es sich um ge-





Heike Hänsel


(A) (C)



(D)(B)

mischte Abkommen handelt. Nicht nur Bundestagspräsi-
dent Lammert, sondern auch viele andere haben gesagt:
Wir müssen darüber hier im Parlament abstimmen. Da
kann ich von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD und der CDU, eigentlich nichts anderes erwar-
ten, als dass wir hier überparteilich an einem Strang zie-
hen; denn es geht darum, dass das Parlament die Bun-
desregierung kontrollieren soll.


(Beifall des Abg. Jan van Aken [DIE LINKE])


Das sind unsere Aufgaben. Wenn Sie hier nicht zu-
stimmen, dann brauchen Sie eigentlich gar nicht mehr
im Parlament vorbeizuschauen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810930100

Vielen Dank, Frau Kollegin Hänsel. – Letzter Redner

in dieser Debatte ist Dr. Sascha Raabe für die SPD.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Sascha Raabe (SPD):
Rede ID: ID1810930200

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Liebe Frau Hänsel, Ihre Angst kann ich
Ihnen nehmen. Auch Sie wissen, dass wir Sozialdemo-
kratinnen und Sozialdemokraten uns natürlich immer für
eine starke Parlamentsbeteiligung einsetzen.


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Und deshalb stimmen Sie zu?)


Sie wissen, wie der vorliegende Antrag und die heu-
tige Debatte zustande gekommen sind – wir beide sind ja
im selben Ausschuss –: Ich habe bereits im Oktober letz-
ten Jahres beim Entwicklungsministerium schriftlich an-
gefragt, ob das Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit
der Westafrikanischen Wirtschaftsunion, wenn es von
der EU als gemischtes Abkommen eingestuft wird, dem
Parlament zur Ratifikation vorgelegt wird. Daraufhin hat
m
Hans-Joachim Fuchtel (CDU):
Rede ID: ID1810930300
Wenn es ein gemisch-
tes Abkommen ist, wird es dem Parlament zur Ratifika-
tion vorgelegt.

Ich glaube, wir alle im Entwicklungsausschuss waren
ü
Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1810930400
Ja, dieses Abkommen ist zwar als gemischt
eingestuft; aber nur die Bundesregierung wird es ratifi-
zieren. – Ich betreibe hier im Bundestag seit 2002 auch
Handelspolitik: Ich wusste gar nicht, dass es diese Mög-
lichkeit gibt. Und deswegen habe ich daraufhin den Wis-
senschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages ge-
beten, ein Gutachten zu erstellen, das klärt, ob eine
solche Ratifizierung möglich ist. Der Antrag von Grünen
und Linken bezieht sich auf das Gutachten, das ich in
Auftrag gegeben habe. Insofern können Sie mir abneh-
men, dass auch wir von der SPD diese Frage sehr ernst
nehmen.

Dieses Gutachten kommt zu dem Schluss – er ent-
spricht eigentlich auch meiner Überzeugung –, dass Ar-
tikel 59 Absatz 2 Grundgesetz recht eindeutig in der
Frage ist, ob Verträge, die politische Beziehungen re-
geln, der Ratifikation durch ein Bundesgesetz bedürfen.
Ein Bundesgesetz kann natürlich nur der Gesetzgeber,
das Parlament, und nicht die Regierung erlassen.

Auch ich habe in den letzten Wochen und Monaten
gemeinsam mit Kollegen meiner Fraktion Gespräche mit
zwei Verfassungsjuristen geführt, die uns beraten. Sie
sind im Kern zu dem gleichen Ergebnis wie ich gekom-
men. Handelsverträge können heute nämlich nicht mehr
als rein gemeinschaftliche Politik betrachtet werden.
Aufgrund der politischen Bedeutung muss trotz der
Übertragung auf die EU-Ebene im Parlament beraten
und beschlossen werden.

Ich kann Ihnen, Herr Kekeritz, aber eine gute Nach-
richt übermitteln. Ich habe viele Gespräche mit unseren
Ministern geführt. Ich habe am Dienstag dieser Woche
von Sigmar Gabriel ein Schreiben bekommen, in dem er
sich persönlich dafür einsetzt, dass der Bundestag auf je-
den Fall einen Beschluss darüber fassen soll, der die Re-
gierung bindet, ob sie ratifiziert oder nicht. Ich finde, das
ist schon einmal ein erster wichtiger Schritt, weil wir da-
mit hier im Bundestag eine Debatte verbunden mit ei-
nem Votum, das die Regierung bindet, führen würden.
Eine solche Debatte wünschen Sie zu Recht.

Ein Wermutstropfen ist dabei gleichwohl, dass das
Grundgesetz so eine Lösung aus meiner Sicht leider
nicht vorsieht. Dort steht nämlich, dass die Ratifikation
in Form eines Bundesgesetzes erfolgen muss und nicht
durch einen einfachen Beschluss des Bundestages. Ein
solcher Beschluss wäre auch deshalb eine schwächere
Lösung, weil der Bundesrat nur durch die Verabschie-
dung eines Gesetzes beteiligt wird. Es tut mir leid, wenn
das Ganze jetzt ein bisschen fachjuristisch daherkommt.
Aber wenn wir diesen Antrag ernst nehmen, dann müs-
sen wir diese Feinheiten hier diskutieren.

Richtig ist aber auch, dass die Regierung ihre Auffas-
sung natürlich nicht aus Boshaftigkeit vertritt; vielmehr
gibt es Verfassungsressorts, in denen Beamte mit einer
anderen rechtlichen Auffassung arbeiten. Ich sage wohl-
gemerkt: eine andere Auffassung, als ich persönlich sie
habe. Ich würde mir wünschen, Herr Staatssekretär
Fuchtel, dass Sie mit dem federführenden Minister, mit
Herrn Müller, noch einmal sprechen, dass wir uns noch
einmal zusammensetzen, bevor dieser Antrag im Aus-
schuss beraten wird und bevor er im Plenum zum zwei-
ten Mal behandelt wird. Wir sollten auch noch einmal
mit dem Justizministerium reden.

Es geht hier ja nicht um die Frage, ob wir für oder ge-
gen dieses Abkommen sind; diese Frage behandeln wir
später. Ich denke, in dieser Frage kann man je nach Par-
teizugehörigkeit zu Recht verschiedene Positionen ver-
treten. Aber wir alle als Parlamentarier müssten ja, ob
wir der CDU, der CSU, der Linken, den Grünen oder der
SPD angehören, ein Interesse daran haben, dass die Par-
lamentsrechte stark bleiben.

Wir schaffen womöglich ein Präjudiz für die Zukunft;


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)






Dr. Sascha Raabe


(A) (C)



(D)(B)

denn wir betreten Neuland. Wenn wir als Parlament erst-
mals zulassen würden, dass die Ratifikation eines ge-
mischten Handelsabkommens nur auf Regierungsebene
erfolgt, kann es passieren, dass bei späteren Abkommen
eine ähnliche Einstufung vorgenommen wird. Das kön-
nen wir alle nicht wollen.

Ich sage aber auch ganz klar: Die Angst, was CETA
und TTIP betrifft, kann man sicherlich nehmen. CETA
und TTIP – das haben die Regierung und der federfüh-
rende Minister Sigmar Gabriel ganz klar gesagt – wer-
den ganz sicher dem Bundestag zur Ratifikation vorge-
legt.


(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Das heißt gar nichts! Das sollten wir am besten gar nicht beschließen!)


Ich bin Sigmar Gabriel auch dankbar – Sie wissen,
dass ich nicht immer einer Meinung mit meinem Wirt-
schaftsminister bin, auch wenn ich der SPD angehöre –,
dass er in Brüssel als einer der wenigen Minister einer
europäischen Regierung ganz klar sagt: Ich möchte, dass
diese Abkommen in Brüssel als gemischte Abkommen
eingestuft werden. Ich möchte, dass das Parlament da-
rüber debattiert und beschließt. – Da brauchen wir,
glaube ich, keine Angst zu haben. Aber wir dürfen nicht
nur an CETA und TTIP denken, sondern wir müssen
auch an die anderen Abkommen denken. Deswegen ist
es, glaube ich, richtig und wichtig, dass wir im Kern am
Ende parteiübergreifend zu einer Lösung kommen und
die Verfassungsressorts überzeugen, dass die Ratifika-
tion möglichst hier im Bundestag erfolgen soll. Ich
denke, Parlamentsrechte sollen stark bleiben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Christine Buchholz [DIE LINKE] und Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich glaube, es ist gut, dass wir uns hier auch generell
über Handelsabkommen beraten. Als Entwicklungspoli-
tiker wissen wir, dass Entwicklung nur durch fairen und
gerechten Handel möglich ist. Deswegen werden wir
hier sicherlich auch noch die Debatte führen, ob das Ab-
kommen mit der Westafrikanischen Wirtschaftsunion in
der jetzigen Form geeignet ist oder nicht und wie man es
gegebenenfalls verbessern kann. Im Prozess ist es im
Augenblick so, dass ja noch nicht einmal alle Vertrags-
partner unterzeichnet haben. Erst wenn das geschieht,
kommt es ins Europäische Parlament und danach zu uns,
sodass durchaus noch ein bisschen Zeit wäre.

Ich möchte aber an der Stelle noch eine Sache anmer-
ken, Herr Staatssekretär: Es gibt bereits das Abkommen
mit den karibischen Staaten. Das ist seit sechs Jahren
noch nicht ratifiziert, weil man wohl immer gewartet hat,
bis die Abkommen mit den afrikanischen Staaten ver-
handelt sind. Ich möchte Sie bitten, dass da jetzt keine
Fakten geschaffen werden und keine Ratifikation durch
die Regierung erfolgt, bevor wir die Grundsatzfrage ge-
klärt haben. Ich glaube, dass wir dann auf einem ver-
nünftigen Weg sind, wenn wir das hier ganz sachlich
miteinander bereden.
In diesem Sinne bin ich auch dankbar, dass der An-
trag uns die Gelegenheit gibt, darüber zu beraten. Die
SPD wird dann als Gesamtfraktion, nachdem wir das
noch einmal juristisch geprüft und bewertet haben, ent-
scheiden müssen, wie wir zu dem Antrag stehen. Ich
hoffe, dass er dann durch Regierungshandeln erledigt
sein wird und die Ratifikation bei gemischten Abkom-
men generell hier im Bundestag stattfindet, so wie das
Artikel 59 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz aus meiner Sicht
vorsieht.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810930500

Vielen Dank, Sascha Raabe. – Damit schließe ich die

Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/5096 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der „United Nations
Interim Force in Lebanon“ (UNIFIL) auf
Grundlage der Resolution 1701 (2006) vom
11. August 2006 und nachfolgender Verlänge-
rungsresolutionen des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen, zuletzt Resolution 2172

(2014) vom 26. August 2014


Drucksache 18/5054
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre und
sehe keinen Widerspruch. Ich meine, da hat ja noch nie
jemand widersprochen, wenn ich danach fragte. Diese
Frage könnten wir eigentlich auch weglassen, oder? –
Ich höre also keinen Widerspruch. Dann ist das jetzt so
beschlossen.


(Beifall des Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich eröffne die Aussprache. Niels Annen hat als Ers-
ter das Wort für die SPD.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Niels Annen (SPD):
Rede ID: ID1810930600

Einen schönen guten Abend, Frau Präsidentin! Meine

sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon erstaun-
lich, dass die Situation im Süden des Libanon heute rela-
tiv ruhig und stabil ist; denn noch 2006 war dieser Teil
des Landes erbittert umkämpft. Das ist ein Verdienst von
UNIFIL. Als nach dem Krieg zwischen Israel und der
Hisbollah 2006 das UN-Mandat für UNIFIL verabschie-
det wurde, konnte allerdings niemand von uns vorausse-
hen, dass es zu einem brutalen Krieg in Syrien kommen
würde, der mittlerweile ins fünfte Jahr geht und der den
Konflikt zwischen der Hisbollah und Israel so ein biss-
chen in Vergessenheit hat geraten lassen. Heute kämpfen
wesentliche Teile der Hisbollah im syrischen Bürger-
krieg, und die Aufmerksamkeit für diesen Konflikt hat
sich auch geografisch verschoben. Der Libanon leidet
wie kein zweites Land unter den enormen Belastungen
dieses Krieges. Wir haben auch in diesem Hause darüber
diskutiert: 4,2 Millionen Einwohner beherbergen mittler-
weile über 1 Million Flüchtlinge aus Syrien. Deshalb un-
terstützen wir den Libanon seit 2012 mit rund 250 Mil-
lionen Euro.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bekanntlich haben
die libanesischen Behörden die Errichtung von neuen
Flüchtlingslagern offiziell nicht zugelassen. Deswegen
verteilen sich die Flüchtlinge heute auf private Unter-
künfte und provisorische Zeltlager und leben dort unter
schwierigen, zum Teil auch skandalösen hygienischen
Bedingungen.

Die Hisbollah wiederum, die der große Protagonist
dieses Krieges war, hat die Vereinbarung von Baabda
aus dem Jahr 2012 gebrochen, die alle libanesischen Ak-
teure auf eine Politik der Nichteinmischung in Syrien
verpflichtete. Diese Politik der Nichteinmischung ist bis
heute die offizielle Politik der libanesischen Regierung.
Mit diesem Bruch der Vereinbarung stellt die Hisbollah
nicht nur das labile, sehr schwierige und komplexe
Gleichgewicht des Landes auf eine harte Bewährungs-
probe, sie provoziert darüber hinaus sunnitische Extre-
misten, den Kampf in den Libanon hineinzutragen. Wer
die Berichte verfolgt, weiß, dass dies keine theoretische
Debatte ist. Vielmehr findet das wirklich statt. Im Liba-
non sterben fast täglich Menschen, und das Land leidet
unter dieser Belastung.

Die Sicherheitslage insgesamt, nicht nur im Libanon,
verschärft sich. Ich glaube, wir müssen auch in den
nächsten Wochen und Monaten mit entsprechenden Vor-
fällen rechnen. So finden seit Mitte 2014 Kampfhand-
lungen in der Grenzregion zwischen Syrien und dem
Libanon statt. Wir beobachten das sorgfältig und aus-
führlich. Insbesondere im Norden der Bekaa-Ebene hat
sich die Lage zugespitzt. Das terroristische Bedrohungs-
potenzial ist seitdem deutlich gestiegen. Die Aufrechter-
haltung der öffentlichen Sicherheit bindet einen Großteil
der Kräfte der libanesischen Armee, die dafür weiterhin
die Unterstützung aller politischen Akteure in dem Land
benötigt. Schätzungen gehen davon aus, dass die dschi-
hadistischen Kräfte, von denen ich gesprochen habe, im
Nordosten der Bekaa-Ebene etwa über 3 000 gut ausge-
rüstete und ausgebildete Kämpfer verfügen.
Gerade vor diesem Hintergrund muss man auch mit
einer gewissen Genugtuung feststellen, dass es die liba-
nesischen Streitkräfte in den letzten Jahren mit Unter-
stützung aller Parteien im Libanon geschafft haben, ihre
Handlungsfähigkeit und Einsatzfähigkeit deutlich zu
verbessern. Die immer wieder drohende Spaltung ent-
lang konfessioneller Linien konnte bisher, meine sehr
verehrten Damen und Herren, verhindert werden.
Gleichwohl wissen wir – das muss man offen sagen –,
dass das keine neutrale Armee ist. Sie ist nicht frei von
politischen Einflüssen. Immer wieder gibt es auch Pro-
bleme bei der Benennung von wichtigen Kommandeu-
ren; entsprechende Auseinandersetzungen werden auf
höchster Regierungsebene im Libanon ausgetragen.

Vor zwei Jahren hat sich Saudi-Arabien bereit erklärt,
zu einer wesentlichen militärischen Stärkung der libane-
sischen Streitkräfte beizutragen. Im April dieses Jahres
traf die erste große Waffenlieferung ein. Sie hat dazu
beigetragen, dass Sicherheitsoperationen erfolgreich
durchgeführt wurden und die libanesische Armee weiter-
hin eine stabilisierende Funktion einnehmen kann. Und
auch die Bundeswehr, meine Damen und Herren, leistet
durch Ausbildung einen Beitrag dazu, dass die libanesi-
schen Streitkräfte diese Aufgabe bewältigen können. Der
Einsatz im Rahmen der militärischen Ausbildungshilfe
ist deswegen keine technische, sondern eine hochpoliti-
sche Frage. Diese Hilfe findet statt, und sie ist ein wich-
tiger Teil des hier zu diskutierenden Mandates.

Trotz der Verlagerung der Kampfhandlungen an die
syrisch-libanesische Grenze – ich habe davon gespro-
chen – bleibt die Stabilisierung der Waffenstillstandsver-
einbarung zwischen der Hisbollah und Israel von aller-
größter Bedeutung, auch in politischer Hinsicht. Wir
erinnern uns vielleicht ein wenig an die Situation im
Jahre 2006: Ein großer Teil der libanesischen Infrastruk-
tur – nicht nur Infrastruktur der Hisbollah im Süden des
Landes, sondern Infrastruktur im gesamten Land – ist ja
von den israelischen Angriffen zerstört oder in Mitlei-
denschaft gezogen worden. Deswegen war die Waffen-
stillstandsvereinbarung für die Menschen im Libanon
insgesamt von großer Bedeutung. Ohne UNIFIL hätten
wir heute eine andere Situation.


(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)


Ohne UNIFIL hätten wir auch nicht das, was wir ge-
meinhin den Drei-Parteien-Mechanismus nennen, näm-
lich einen Streitschlichtungsmechanismus, bei dem zwar
die beiden Seiten aus politischen Gründen – die beiden
Staaten erkennen sich ja gegenseitig nicht an, und es gibt
weiterhin einen Kriegszustand – nicht direkt, aber doch
indirekt miteinander reden. Bei der Markierung der ver-
einbarten Waffenstillstandslinie, der sogenannten Blue
Line – davon konnte ich mich persönlich überzeugen –,
leistet die Bundeswehr, leisten die Soldatinnen und Sol-
daten hochprofessionelle Arbeit, ebenso wie in der Mari-
timen Task Force. Und für diese nicht nur komplexe,
sondern auch gefährliche Arbeit gilt den Soldatinnen
und Soldaten unser aller Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Niels Annen


(A) (C)



(D)(B)

Dennoch, meine sehr verehrten Damen und Herren,
kann sich aus den immer noch anhaltenden Spannungen
jederzeit wieder ein Konflikt, möglicherweise sogar ein
Krieg entwickeln. Wir haben im Januar einen Zwischen-
fall gehabt, als ein Hisbollah-Konvoi von den israeli-
schen Streitkräften mit einer Rakete angegriffen wurde.
Sechs Kämpfer und ein iranischer Offizier kamen dabei
ums Leben. Zehn Tage später starben zwei israelische
Soldaten nach einem Vergeltungsangriff, der wiederum
mit Artilleriefeuer aus Israel beantwortet wurde. Ein
spanischer UNIFIL-Soldat hat dort sein Leben verloren.
Trotz dieser dramatischen Zuspitzung haben die Kon-
fliktlösungsmechanismen der UNIFIL am Ende funktio-
niert. Damit sie auch in Zukunft funktionieren, meine
sehr verehrten Damen und Herren, bitte ich um Zustim-
mung für dieses Mandat. Eines sollte uns doch in dieser
Debatte einen: Einen weiteren Krieg kann sich diese Re-
gion nicht leisten.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810930700

Vielen Dank, Niels Annen. – Nächste Rednerin in der

Debatte: Sevim Dağdelen für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1810930800

Verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen

und Kollegen! Die Bundesregierung feiert sich für den
Einsatz der Bundesmarine im Rahmen der UNIFIL-Mis-
sion vor der Küste des Libanon.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Sie „feiert sich“ wohl kaum!)


Mit 150 Bundeswehrsoldaten und einer verstärkten Aus-
bildung der Marine des Libanon soll der Waffenschmug-
gel in den Libanon unterbunden werden.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Haben wir unterbunden!)


– Ja. – In den zehn Jahren wurden dann auch keine Waf-
fen gefunden.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Sehen Sie!)


Aber fragen Sie sich nicht manchmal, ob die Bundes-
wehr hier nur Teil eines absurden Theaters ist? Denn ihre
Kontrollen kann sie ja nur auf Anforderung der Libane-
sen unternehmen. Fragen Sie sich nicht manchmal, ob
dies der Grund ist, warum außer ein paar Zigaretten nie
etwas gefunden wurde? – Aber lassen wir solche stören-
den Gedanken beiseite und nehmen wir einmal an, die
Bundeswehr ist so erfolgreich – wie Sie es ja immer sa-
gen –, dass sich keiner mehr traut, Waffen zu schmug-
geln. Im Libanon müssten in der Folge auch immer we-
niger Waffen in den Händen der Konfliktparteien zu
finden sein. Aber das trifft leider nicht zu; denn während
die Bundeswehr die Vordertür des Libanon bewacht,
steht die Hintertür an der Grenze zu Syrien sperrangel-
weit offen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sollen wir da auch hin?)


War Ziel der Mission, den Waffenschmuggel an die
Hisbollah zu unterbinden, so darf sie getrost als geschei-
tert gelten.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Hisbollah gilt mittlerweile als eine der am besten be-
waffneten Kräfte in der Region. Wer hier dann noch von
einem Erfolg des Einsatzes fabuliert, muss sich doch
wirklich fragen lassen, ob er nicht nach dem Motto vor-
geht: Dabei sein ist alles, das Ergebnis nichts.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Und selbiges gilt für die islamistischen Terrormilizen im
Libanon; denn diese sind mittlerweile auch bis an die
Zähne bewaffnet und warten laut eigener Aussage nur
auf grünes Licht aus Saudi-Arabien, um endlich loszu-
schlagen.

Muss es Ihnen nicht auch zu denken geben, dass,
während die Bundesmarine vor der Küste des Libanon
dümpelt, Ihr eigener NATO-Verbündeter Türkei mit sei-
nem autoritären Staatspräsidenten Erdogan verdeckt
Waffen an islamistische Terroristen liefert, die natürlich
auch in den Libanon gelangen? Wenn Sie den Waffen-
schmuggel unterbinden wollen: Warum schweigen Sie
dann eigentlich zu den Waffenlieferungen der türkischen
Regierung mithilfe des türkischen Geheimdienstes an
die islamistischen Verbände?


(Beifall bei der LINKEN)


Ich finde, es ist Zeit, dass Sie in diesem Punkt Ihr
Schweigen brechen und endlich Antworten geben oder
wenigstens begründen, warum dieses Schweigen so
lange dauert.

Statt immer mehr Auslandseinsätze der Bundeswehr
zu fordern, die im Übrigen von der Mehrheit der Bevöl-
kerung abgelehnt werden, müssen wir nach unserer Auf-
fassung zivil helfen. Wir müssen zum einen syrische
Flüchtlinge aus dem Libanon übernehmen. Ein Viertel
der Bevölkerung des Libanon sind mittlerweile Flücht-
linge. Was dagegen die Bundesregierung hier bisher ver-
anstaltet hat, ist eigentlich nur beschämend,


(Beifall bei der LINKEN)


wenn man sich nur einmal diese Kontraste vor Augen
führt. Der Libanon braucht zudem zivile Hilfe, auch da-
mit nicht noch mehr Menschen mit saudischem Geld für
die Terrorgruppen der al-Qaida vor Ort eingekauft wer-
den können.

Deshalb meine Bitte: Hören Sie endlich auf, die
Bevölkerung hinters Licht zu führen! Wer die Vordertür
bewacht und sich auch noch dafür feiert, während die
Waffen durch die Hintertür hereingetragen werden,
macht sich im besten Falle lächerlich, meine Damen und
Herren. Dieser Auslandseinsatz der Bundeswehr simu-
liert Handeln, folgt aber geopolitischen Motiven. Denn
das Vorhaben, Waffenschmuggel zu unterbinden, ist





Sevim Dağdelen


(A) (C)



(D)(B)

komplett gescheitert. Die Kräfte vor Ort sind stärker
denn je. Deshalb sagen wir: Wir lehnen diesen Einsatz
ab.


(Beifall bei der LINKEN – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Mensch! Das ist ja mal eine richtige Überraschung!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810930900

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner in der

Debatte für die Bundesregierung: Dr. Ralf Brauksiepe.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Niels Annen [SPD])


D
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1810931000


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten erfor-
dern leider unverändert unsere besondere Aufmerksam-
keit. Der Kollege Annen hat es, wie ich finde, mit sei-
nem Satz sehr treffend auf den Punkt gebracht: „Einen
weiteren Krieg kann sich diese Region nicht leisten.“ –
So ist es eben; denn die Konflikte in der Region, der
Vormarsch der Terrororganisation IS und große Flücht-
lingsströme bereiten der internationalen Gemeinschaft
– und damit auch uns – weiterhin große Sorgen.

Heute geht es insbesondere um den Libanon und da-
mit um ein Land, das im Schatten des syrischen Bürger-
kriegs steht und extrem unter der Last des Flüchtlings-
stroms leidet. Bis heute leistet UNIFIL einen besonderen
Beitrag zur Stabilisierung der Region. De facto ist sie ein
ganz entscheidender Stabilitätsfaktor, und das, obwohl
UNIFIL ursprünglich als reine Beobachtungsmission ge-
dacht war. Sie machte im Jahr 2006 den dauerhaften
Waffenstillstand zwischen Israel und dem Libanon erst
möglich, wenngleich die Situation in der Grenzregion
zwischen den beiden Ländern nach wie vor volatil ist.

Im letzten Mandatszeitraum kam es leider – der Kol-
lege Annen hat zu Recht darauf hingewiesen – auch wie-
der zu gewaltsamen Zwischenfällen an der Grenze mit
Israel. Nur aufgrund der schnellen Klärung des Sachver-
halts durch die Vereinten Nationen konnte eine gefährli-
che Eskalation vermieden werden. Libanon und Israel
– das ist der entscheidende Punkt, Kolleginnen und Kol-
legen – erkennen eben beide die stabilisierende Rolle
von UNIFIL an und begrüßen die Unterstützung der in-
ternationalen Gemeinschaft für diese VN-Mission. Die
schon angesprochenen Drei-Parteien-Gespräche sind
weiterhin das einzige Forum, in dem Israel und der Liba-
non unter Ägide der Vereinten Nationen miteinander
sprechen. Hier zeigt sich sehr deutlich, welche grundle-
gende Rolle UNIFIL weiterhin für die Stabilität in der
Region spielt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir reden hier ja
nicht über das Abkommen eines Staates mit Rebellen-
gruppen, sondern wir reden – das ist für uns ganz klar –
über zwei Völkerrechtssubjekte, Israel und den Libanon,
die vieles trennt, aber als einzige die Überzeugung eint,
dass UNIFIL einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung
der Region leistet. Die Vereinten Nationen stehen dahin-
ter, die Völkerrechtssubjekte Israel und Libanon stehen
dahinter. Wie abseitig muss man eigentlich stehen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, um hier daran etwas auszu-
setzen und das dann auch noch politisch bekämpfen zu
wollen?


(Widerspruch des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


Das ist schon etwas, womit man sich weit außerhalb der
internationalen Gemeinschaft positioniert.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich muss es hier für die ganz große Mehrheit des Hau-
ses nicht extra betonen: Wir feiern uns hier für nichts,
sondern wir sind dankbar dafür, dass wir erfolgreich hier
einen Beitrag leisten können. Wer hier mehrmals die
Frage der sogenannten Hintertür aufwirft, der muss sich
fragen, was er da denn machen will. Wir wollen nicht an
die Hintertür. Wir sind froh, dass wir erfolgreich an ei-
nem international mandatierten Einsatz teilnehmen kön-
nen, der dafür gesorgt hat, dass diese Region nicht mehr
durch Waffenlieferungen über See weiter destabilisiert
werden kann. Wer noch etwas anderes will, soll es sagen.
Wir stehen zu diesem Mandat und zu dem, was wir im
Rahmen dieses Mandats erfolgreich geleistet haben,
liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der LINKEN: Dafür feiern Sie sich!)


Wir beteiligen uns seit dem Jahr 2006 am Marineein-
satzverband von UNIFIL. Dazu gehört sowohl die
Unterstützung der libanesischen Regierung bei der Über-
wachung der seeseitigen Grenzen des Landes als auch
der Ausbau der Fähigkeiten der libanesischen Marine.
Dazu gehört auch, dass die deutschen Soldatinnen und
Soldaten diese Herausforderung professionell und sou-
verän meistern. Hierfür, insbesondere auch für die he-
rausragende Arbeit der letzten Jahre, liebe Kolleginnen
und Kollegen, verdienen sie unseren Dank.

Fast täglich finden auf der Korvette „Erfurt“ Ausbil-
dungsvorhaben mit den libanesischen Kräften oder den
internationalen Partnern auf See statt. Es wird gute
Arbeit geleistet, und sie hat politische Erfolge erzielt.
Das liegt im Interesse der Menschen in dieser schwer ge-
beutelten Region. Das ist es, worum es geht, worum es
uns auch politisch geht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Trotz aller Erfolge bleiben weiterhin große Heraus-
forderungen bestehen. Die libanesische Marine alleine
ist eben noch nicht in der Lage, ihre Seegrenzen selbst-
ständig zu überwachen. Neben dem unverändert hohen
Ausbildungsbedarf im Bereich der Instandsetzung fehlen
Schiffe und Boote für die libanesische Marine, und der
technische Zustand der verfügbaren Einheiten bleibt ver-
besserungswürdig. An diesen Defiziten gilt es, gezielt zu
arbeiten.

Gerade wegen der schwierigen Lage im Nahen Osten
ist die Stabilität des Libanon ein ganz wichtiger Bestand-





Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe


(A) (C)



(D)(B)

teil einer nachhaltigen und dauerhaften Friedensentwick-
lung in der Region. Die Vereinten Nationen wollen die-
sen Einsatz, und auch die beiden Konfliktparteien, die
Staaten Libanon und Israel, wollen diesen Einsatz. Es
geht jetzt darum, den Libanon, der durch die seit vier
Jahren andauernde Flüchtlingskrise besonders stark be-
lastet ist, zu unterstützen. Das wollen sowohl die libane-
sische als auch die israelische Regierung.

Gerade durch unseren vielfältigen und erfolgreichen
Einsatz bei UNIFIL werden wir als vertrauenswürdiger
Partner in der Region geachtet und geschätzt. Das ist
auch für die Zukunft wichtig. Deswegen bitte ich Sie na-
mens der Bundesregierung um Ihre Unterstützung für
den vorliegenden Antrag, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810931100

Vielen Dank, Kollege Brauksiepe. – Nächster Redner

in der Debatte: Omid Nouripour für Bündnis 90/Die
Grünen.


Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810931200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die

Kollegin Dağdelen hat einige richtige Punkte angespro-
chen, über die man noch reden muss. Es gibt viel zu
viele Waffen im Libanon, das ist völlig richtig. Es gibt
im Libanon viel zu viel Waffenschmuggel über Land,
auch das ist richtig. Es gibt große Bedenken in Bezug
auf die Position mancher Offizieller oder ganzer Institu-
tionen in der Türkei, wenn es um die Ausrüstung und die
Ausbildung von Dschihadis in Syrien geht. Das hat na-
türlich eine riesengroße Auswirkung auf den Libanon;
das ist völlig richtig.

Frau Kollegin Dağdelen, Sie haben gerade das Bild
bemüht: Wir bewachen die Vordertür, während durch die
Hintertür die Waffen reinkommen. Ich frage mich: Wie
viele Tausende Soldaten wollen Sie eigentlich vor die
Hintertür stellen, damit sie zugeht? Ich frage mich, ob
Sie die Vordertür jetzt auch noch aufmachen wollen; das
ist nämlich die zentrale Frage.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Ich will das nicht! Sie müssten das ja wollen!)


– Nein, das ist nicht nur unsere Aufgabe. Auch Sie müs-
sen irgendwann einmal erklären, wie Sie Probleme lösen
wollen. Sie können nicht einfach immer nur erklären,
was nicht geht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD – Zurufe der Abg. Sevim Dağdelen [DIE LINKE])


Bei allem Richtigen, was Sie beschrieben haben, bin
ich, ehrlich gesagt, für jeden Beitrag dankbar, durch den
versucht wird, den Waffenschmuggel in den Libanon ein
Stück weit zu verhindern.

Wir reden jetzt über eine Mission, die sich im neunten
Jahr befindet.

(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Es wäre besser, wenn Sie mit der Hisbollah reden würden!)


Man könnte denken, das ist Routine. In diesen Zeiten im
Nahen Osten eine erfolgreiche Friedensmission durchzu-
führen, die von beiden Konfliktparteien gewünscht und
akzeptiert wird, ist alles, nur nicht Routine. Auch deswe-
gen kann ich nur sagen: Dieser Einsatz ist zurzeit etwas
sehr Besonderes.

Es gibt im Übrigen noch zwei weitere Aspekte, die zu
berücksichtigen sind, wenn man über UNIFIL spricht,
über die Sie aber kein Wort verloren haben, Frau Kolle-
gin.

Das eine ist die Überwachung des Waffenstillstandes
sowie die Deeskalation an der Grenze zwischen Libanon
und Israel. Das ist von beiden Seiten auch so erwünscht.
Ich erinnere nur daran, dass ohne den Einsatz von
UNIFIL gerade im maritimen Bereich der Krieg im
Jahre 2006 nicht beendet worden wäre. Auch das sollte
man zur Kenntnis nehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Es gibt noch einen zweiten Aspekt, nämlich Ausbil-
dung und Stärkung der libanesischen Armee. Jeder Bei-
trag zur Stabilisierung des Libanon ist ein wichtiger, ge-
rade in Zeiten, in denen die Hisbollah nicht mehr nur,
wie damals, gegen Israel kämpft. Die Hisbollah hat
heute ein anderes regionales Selbstverständnis und ver-
letzt mit dem Einsatz in Syrien Tag für Tag den Frie-
densvertrag von Taif, und das alles im Lichte der großen
regionalen Auseinandersetzung zwischen Saudi-Arabien
und Iran, die in gegenseitiger Paranoia sehr viel Benzin
auf das Feuer in der Region gießen. Die beiden genann-
ten Aufgaben dürfen wir nicht vergessen: Die Grenz-
überwachung gehörte schon zur klassischen Mission. Es
gab Anfang dieses Jahres bewaffnete Auseinanderset-
zungen zwischen Israel und der Hisbollah: Sechs Hisbol-
lah-Kämpfer und zwei israelische Soldaten sind gestor-
ben; auch ein spanischer UNIFIL-Soldat verlor bei
einem durchaus gefährlichen Einsatz sein Leben. Das
heißt, wir reden über einen manifesten, weiterhin existie-
renden Konflikt, den man mit diesem Einsatz eindämmt.
Das darf man einfach nicht vergessen.

Die Bedeutung der zweiten Aufgabe liegt darin, dass
es nur eine einzige staatliche Institution im Libanon gibt,
die überkonfessionell Vertrauen in der Bevölkerung ge-
nießt. Das ist die Armee. Jeder Beitrag zur Stärkung der
Armee ist ein Beitrag zur Zurückdrängung der Milizen
der Hisbollah auf der einen Seite und der Milizen, die
Sie vorhin völlig zu Recht kritisiert haben, auf der ande-
ren Seite. Deshalb finde ich, dass es sich durchaus lohnt,
sich zu freuen, dass es vorangeht, wenn auch mit wahn-
sinnig langsamen Schritten und wenn das auch nur ein
kleiner Beitrag ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das ist aber widersprüchlich!)






Omid Nouripour


(A) (C)



(D)(B)

Wir müssen natürlich alles dafür tun, dass der syri-
sche Bürgerkrieg nicht übergreift und auch den Libanon
in den Strudel nach unten reißt.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Eine Illusion!)


Dafür müssen wir humanitäre Hilfe leisten. Es ist schon
sehr problematisch, dass bisher erst 20 Prozent der
Mittel, die die Vereinten Nationen als nötig veranschlagt
haben, geflossen sind. Es ist nämlich ein Riesenproblem,
dass mittlerweile für 70 Prozent der Flüchtlinge die Zahl
der Mahlzeiten pro Tag reduziert werden musste. Es ist
auch ein Riesenproblem, dass viele Kinder nicht mehr
zur Schule gehen können, weil den Familien das Geld
ausgeht. Die Wasserversorgung stellt ein immenses Pro-
blem für die Kommunen im Libanon dar, die Stromver-
sorgung kollabiert. All das ist katastrophal.

Wir müssen helfen, indem wir Flüchtlinge aufneh-
men; auch da haben Sie recht. Wir müssen aber auch da-
bei helfen, dass das Land politisch auf die Beine kommt
und dass die Institutionen auf die Beine kommen.
UNIFIL ist ein kleiner, aber sehr wichtiger Beitrag dazu.
Mit Militär löst man die Probleme im Libanon nicht pri-
mär; aber ohne militärischen Beitrag würde eine wich-
tige Institution im Land nicht stärker, sondern schwä-
cher. Deshalb wird meine Fraktion der Verlängerung des
Mandates für diesen Einsatz zustimmen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit und für die
Geduld.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810931300

Vielen Dank, Omid Nouripour. – Die letzte Rednerin

heute – voraussichtlich, in dieser Debatte auf jeden
Fall – ist Frau Obermeier von der CSU/CDU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU – Florian Hahn [CDU/CSU]: Das Beste am Schluss!)



Julia Bartz (CSU):
Rede ID: ID1810931400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Micheline Lattouf ist eine katholische Or-
densschwester. Sie lebt in der libanesischen Stadt Deir
al-Ahmar, 30 Kilometer von der syrischen Grenze ent-
fernt. In einer Winternacht vor drei Jahren klopften die
ersten muslimischen Flüchtlinge aus Syrien an ihre Tür.
Viele trugen nichts als ihre Kleider am Leib. Sie waren
vor Bombenangriffen aus ihrer syrischen Heimat geflo-
hen. Seither sind 8 000 Flüchtlinge in diese Stadt mit
10 000 Einwohnern gekommen. Sie leben in Zeltstädten
und Behelfsunterkünften. Es gibt keine staatliche Hilfe,
keine UN-Organisationen, keine großen NGOs. Die
Hilfe bleibt weitestgehend der Zivilgesellschaft überlas-
sen. Die Ordensschwester Micheline tut alles, was in
ihrer Macht steht. Sie kümmert sich um das Nötigste
– Decken, Wasser, Nahrung –, und sie organisiert Schul-
unterricht für die syrischen Kinder.
In vielen Städten des Libanon ist die Situation ähn-
lich. 1,2 Millionen registrierte Flüchtlinge aus Syrien
leben in diesem Land mit 4 Millionen Einwohnern. Der
Libanon hat die weltweit höchste Flüchtlingsquote. Die
Grenzen der Belastbarkeit sind längst überschritten: Das
Wasser ist knapp, die Nahrungsmittelpreise und die
Mieten steigen. Auch die Konkurrenz um die wenigen
Arbeitsplätze nimmt beständig zu. Wir wollen dem
Libanon in dieser schwierigen Situation beistehen. Das
Land darf nicht in den Sog des syrischen Bürgerkriegs
geraten.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ist doch längst geschehen!)


Wir müssen eine weitere Destabilisierung der Region
verhindern!

Deutschland unterstützt den Libanon auf verschiede-
nen Ebenen, zum Beispiel mit 250 Millionen Euro Ent-
wicklungsmitteln für humanitäre Hilfe, für die Wasser-
versorgung, für die Unterstützung der Flüchtlinge und
für die Kommunen, die diese Flüchtlinge aufnehmen.
Ohne Hilfe aus dem Ausland könnte der Libanon die
Flüchtlinge nicht versorgen. Es fehlt am Nötigsten, auch
am Essen. Es ist tatsächlich eine Katastrophe, dass dem
Welternährungsprogramm nun die Mittel für die Versor-
gung der syrischen Flüchtlinge ausgehen. Hier müssen
die internationale Gemeinschaft und die Europäische
Union mehr tun.

Die Versorgung der Flüchtlinge kann aber nur in ei-
nem sicheren Umfeld gewährleistet werden. Hierzu leis-
tet die UNIFIL-Mission einen wichtigen Beitrag. Seit
2006 sichern auch unsere Soldatinnen und Soldaten im
Rahmen der maritimen Komponente des Einsatzes die
Seegrenze Libanons. So wird Waffenschmuggel verhin-
dert. Darüber hinaus bilden die Bundeswehrsoldaten die
libanesische Marine aus, damit sie selbst für die Sicher-
heit der libanesischen Küste sorgen kann. Hierbei hat die
libanesische Marine bereits erkennbare Fortschritte er-
reicht. Bis zu 300 deutsche Soldatinnen und Soldaten
leisten somit einen wichtigen Beitrag zu dieser Mission.

Unser Kollege Ingo Gädechens betont immer zu
Recht: Die Marine bestreitet als die kleinste Teilstreit-
kraft der Bundeswehr einen beträchtlichen Teil der Ein-
sätze, ob im Mittelmeer oder am Horn von Afrika.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Dabei ist die Arbeitsbelastung der Soldatinnen und Sol-
daten enorm. Daher gilt an dieser Stelle mein Dank und
der Dank der CDU/CSU-Fraktion allen Angehörigen der
Marine, die diese hohe Einsatzbelastung professionell
schultern.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die UNIFIL-Mission ist ein Stabilitätsanker für den
Libanon. Wir stehen den Menschen im Libanon bei, so-
wohl der libanesischen Bevölkerung als auch den
Flüchtlingen aus Syrien.

Die Ordensschwester Micheline setzt sich mit ihrer
Flüchtlingsarbeit für Menschlichkeit und Frieden ein.





Julia Obermeier


(A) (C)



(D)(B)

Nur in einem stabilen Libanon können ihre und unsere
Hilfe Wirkung entfalten. Dazu leistet die Verlängerung
des UNIFIL-Mandats einen wichtigen Beitrag.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1810931500

Vielen Dank, Frau Kollegin Obermeier. – Ich schließe

die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/5054 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-
verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Rechtliche Klarstellung der Vertraulichkeit
von Äußerungen im Internet

Drucksache 18/2015
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss Digitale Agenda (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Kultur und Medien
Federführung strittig

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden1). –
Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Sie sind also da-
mit einverstanden.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/2015 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Arbeit
und Soziales. Die Fraktion Die Linke wünscht Federfüh-
rung beim Ausschuss Digitale Agenda.

Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs-
vorschlag der Fraktion Die Linke: Federführung beim
Ausschuss Digitale Agenda. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Der
Überweisungsvorschlag ist bei Zustimmung von den
Linken und von Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstim-
men von CDU/CSU und SPD abgelehnt.

Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor-
schlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Feder-
führung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer
stimmt dagegen? – Der Überweisungsvorschlag ist ange-

1) Anlage 3
nommen. CDU/CSU und SPD haben zugestimmt, Linke
und Grüne waren dagegen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union (21. Ausschuss) zu dem
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD

Das Europäische Semester stärken, besser
umsetzen und weiterentwickeln
Drucksachen 18/4426, 18/5071

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-
gie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord-
neten Katharina Dröge, Kerstin Andreae,
Manuel Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Nationales Reformprogramm 2015 – Wirt-
schaftspolitische Steuerung in der EU ernst
nehmen und Investitionen stärken
Drucksachen 18/4464, 18/4717

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden2). –
Sie sind damit einverstanden.

Tagesordnungspunkt 16 a. Wir kommen zur Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegen-
heiten der Europäischen Union zum Antrag der Frak-
tionen der CDU/CSU und der SPD. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/5071, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD auf Drucksache 18/4426 anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist angenommen. CDU/CSU und SPD haben dafür
gestimmt, Enthaltungen gab es bei den Grünen, und da-
gegen waren die Linken.

Tagesordnungspunkt 16 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wirtschaft und Energie zum Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/4717, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 18/4464 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist angenommen. CDU/CSU und SPD haben dafür ge-
stimmt, dagegen waren die Grünen, und die Linke hat
sich enthalten.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten
Tackmann, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Steuerfreie Risikoausgleichsrücklage für
Agrarbetriebe ab 2016
Drucksachen 18/3415, 18/4729

2) Anlage 4





Vizepräsidentin Claudia Roth


(A) (C)



(D)(B)

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden1). –
Wie ich sehe, sind Sie einverstanden.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/4729, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/3415 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Gibt es
Enthaltungen? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit
den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Grünen und bei
Gegenstimmen der Linken angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:

Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie
über alternative Streitbeilegung in Verbrau-
cherangelegenheiten und zur Durchführung
der Verordnung über Online-Streitbeilegung
in Verbraucherangelegenheiten

Drucksache 18/5089
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO

Auch diese Reden sollen zu Protokoll gegeben wer-
den2). – Auch damit sind Sie einverstanden.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 18/5089 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:

Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD

Zugang und Teilhabe ermöglichen – Die De-
kade für Alphabetisierung in Deutschland
umsetzen

Drucksache 18/5090
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden3). –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.

1) Anlage 5
2) Anlage 6
3) Anlage 7
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/5090 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Einverstanden? –
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Bertram, Yvonne Magwas, Michael Kretschmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Burkhard
Blienert, Marco Bülow, Martin Dörmann, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Zukunftsweisende Kulturpolitik im demogra-
fischen Wandel – Stärkung der Kultur im
ländlichen Raum

Drucksache 18/5091
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Innenausschuss
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden4). –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/5091 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ja. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Transparenzrichtlinie-Änderungs-
richtlinie

Drucksache 18/5010
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden5). –
Ich sehe, auch damit sind Sie einverstanden.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 18/5010 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

4) Anlage 8
5) Anlage 9





Vizepräsidentin Claudia Roth


(A) (C)



(B)

Wir sind am Schluss der heutigen Tagesordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 12. Juni 2015, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Den Rheinland-Pfälzern
und ihren Freundinnen und Freunden wünsche ich noch
einen schönen Ausgang des Abends.